Herausforderung Biomedizin: Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis [1. Aufl.] 9783839419465

Der biomedizinische Fortschritt wirft Fragen auf, die einer vertieften sozialwissenschaftlichen Reflexion bedürfen: Wie

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German Pages 368 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung. Der Alltag der Biomedizin – Interdisziplinäre Perspektiven
Einführung zu diesem Band
I ZUR FUNKTION DER REFLEXION DER BIOMEDIZIN
Gesellschaftliche, rechtliche und ethische Implikationen der Biomedizin. Zu der Rolle und den Aufgaben von ELSI-Begleitforschung
Risiko und Verfahren. Zur Legitimationsfunktion der Ethik am Beispiel von Ethik-Komitees und Ethikkommissionen der Arzneimittelforschung
II LEGITIMATIONSMUSTER IM BIOMEDIZINISCHEN DISKURS
Tradierte Aussagesysteme. Psychiatrie und Biomedizin als Diskurs und politische Praxis
Das Spiel des Lebens. Die Menschwerdung des Embryos mit den Mitteln der Sprache
Die ›Durchbrüche‹ der Stammzellforschung und ihre Folgen
III ZUM VERSTÄNDNIS VON KRANKHEIT UND GESUNDHEIT
Epistemische Dreiecksbeziehungen. Überlegungen zur Ko-Konstruktion von Krankheit, Individuum und Gesellschaft
Der vermessene Geist. Das Gedächtnis als biopsychologisches Konstrukt
Die Unterscheidung zwischen krankheitsbezogener und ›wunscherfüllender‹ Medizin – aus wissenschaftstheoretischer Sicht
IV BIOMEDIZIN ALS INSTRUMENT DER WUNSCHERFÜLLUNG?
Biopolitik in Zeiten des Enhancements. Von der Normalisierung zur Optimierung
Verführung zur Grenzüberschreitung. Liberale Utopien des Enhancements
Enhancement als Problem der soziologischen Medikalisierungsforschung
V NEUE HERAUSFORDERUNGEN UND HANDLUNGSOPTIONEN FÜR ÄRZTE UND PATIENTEN
Der Arzt als Gesundheitsingenieur? Wissenschaft, Technik und das Schicksal der Autonomie
Der Arzt in der prädiktiven genetischen Beratung: ein Gesundheitsingenieur?
Prädiktives genetisches Wissen und individuelle Entscheidung. Eine topologische Skizze
Pathologisierung, Hospitalisierung und Technisierung der letzten Lebensphase. Zum biomedizinischen Umgang mit dem Sterben
Autorinnen und Autoren
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Herausforderung Biomedizin: Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis [1. Aufl.]
 9783839419465

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Sascha Dickel, Martina Franzen, Christoph Kehl (Hg.) Herausforderung Biomedizin

Band 14

Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).

Sascha Dickel, Martina Franzen, Christoph Kehl (Hg.)

Herausforderung Biomedizin Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Christoph Kehl Satz: Sascha Dickel Projektleitung: Martina Franzen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1946-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Einleitung Der Alltag der Biomedizin – Interdisziplinäre Perspektiven Alfons Bora, Regine Kollek | 11 Einführung zu diesem Band

Sascha Dickel, Martina Franzen, Christoph Kehl | 43

I ZUR FUNKTION DER REFLEXION DER BIOMEDIZIN Gesellschaftliche, rechtliche und ethische Implikationen der Biomedizin Zu der Rolle und den Aufgaben von ELSI-Begleitforschung

Christoph Rehmann-Sutter | 49 Risiko und Verfahren Zur Legitimationsfunktion der Ethik am Beispiel von Ethik-Komitees und Ethikkommissionen der Arzneimittelforschung

Elke Wagner, Gina Atzeni | 67

II LEGITIMATIONSMUSTER IM BIOMEDIZINISCHEN DISKURS Tradierte Aussagesysteme Psychiatrie und Biomedizin als Diskurs und politische Praxis Rolf van Raden | 89 Das Spiel des Lebens Die Menschwerdung des Embryos mit den Mitteln der Sprache Julia Diekämper | 111 Die ›Durchbrüche‹ der Stammzellforschung und ihre Folgen Martina Franzen | 129

III ZUM VERSTÄNDNIS VON KRANKHEIT UND G ESUNDHEIT Epistemische Dreiecksbeziehungen Überlegungen zur Ko-Konstruktion von Krankheit, Individuum und Gesellschaft Stefan Beck | 157 Der vermessene Geist Das Gedächtnis als biopsychologisches Konstrukt Christoph Kehl | 183 Die Unterscheidung zwischen krankheitsbezogener und ›wunscherfüllender‹ Medizin – aus wissenschaftstheoretischer Sicht Peter Hucklenbroich | 205

IV BIOMEDIZIN ALS I NSTRUMENT DER W UNSCHERFÜLLUNG ? Biopolitik in Zeiten des Enhancements Von der Normalisierung zur Optimierung Peter Wehling | 233 Verführung zur Grenzüberschreitung Liberale Utopien des Enhancements Sascha Dickel | 251 Enhancement als Problem der soziologischen Medikalisierungsforschung Fabian Karsch | 267

V NEUE HERAUSFORDERUNGEN UND HANDLUNGSOPTIONEN FÜR ÄRZTE UND P ATIENTEN Der Arzt als Gesundheitsingenieur? Wissenschaft, Technik und das Schicksal der Autonomie Günter Feuerstein | 285

Der Arzt in der prädiktiven genetischen Beratung: ein Gesundheitsingenieur? Nils B. Heyen | 301 Prädiktives genetisches Wissen und individuelle Entscheidung Eine topologische Skizze Anne Brüninghaus | 317 Pathologisierung, Hospitalisierung und Technisierung der letzten Lebensphase Zum biomedizinischen Umgang mit dem Sterben Uwe Krähnke | 333 Autorinnen und Autoren | 361

Vorwort

Der vorliegende Sammelband stellt sich der Aufgabe, Wechselwirkungen zwischen biomedizinischen Diskursen, Praktiken und Technologien aus einem sozialwissenschaftlich informierten Blickwinkel zu rekonstruieren. Dabei wird nach einem Standpunkt jenseits gängiger bioethischer Grundsatzdebatten und medizinkritischer Positionen gesucht, ein Bemühen, das die hier versammelten Autoren trotz ihrer unterschiedlichen wissenschaftlichen Ausrichtung miteinander verbindet. Ihre Beiträge rücken gesellschaftliche Verschiebungen in den Blick, die sich eher unbemerkt und schleichend vollziehen: Sie lenken den Fokus auf die Funktion der biomedizinischen Begleitforschung, die Bedeutung von Krankheitskonzepten und die Rekonstruktion von Legitimationsmustern im biomedizinischen Diskurs; sie werfen einen kritischen Blick auf die sogenannte Wunschmedizin und machen neue Herausforderungen für Ärzte und Patienten sichtbar. Die einzelnen Artikel gehen auf die interdisziplinäre Konferenz »Biomedizin – Gesellschaftliche Deutungsmuster und soziale Praxis« vom Oktober 2009 zurück, die vom gleichnamigen Promotionsschwerpunkt des Evangelischen Studienwerks e.V. Villigst veranstaltet wurde. Nachwuchswissenschaftler und namhafte Experten kamen in Villigst zusammen, um über aktuelle Ansätze, Resultate und Perspektiven der biomedizinischen Begleitforschung in Deutschland zu diskutieren. Dieser Austausch hat in den Beiträgen konkrete Spuren hinterlassen. Wir schulden deshalb nicht nur unseren geduldigen Autoren herzlichen Dank, sondern darüber hinaus allen Teilnehmern der Tagung, im Besonderen aber den Initiatoren und Mitgliedern des Promotionsschwerpunktes »Biomedizin«. Die intensiven Diskussionen, die wir vor, während und nach der Tagung mit Professor Alfons Bora, Professor Regine Kollek, Anne Brüninghaus, Nils Heyen, Fabian Karsch, Marco Silvestric, Uta Wagenmann und besonders Hürrem TezcanGüntekin führten, haben diesen Band inhaltlich und formal entscheidend geprägt. Zu guter Letzt sind wir dem Evangelischen Studienwerk e.V. Villigst zu

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Dank verpflichtet, das uns organisatorisch und finanziell bei der Durchführung der Konferenz unterstützt hat, sowie der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und dem Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt (FSP BIOGUM) der Universität Hamburg, welche durch ihren finanziellen Beitrag die vorliegende Publikation ermöglicht haben. Wir hoffen, dass das Ergebnis dieser gemeinsamen Anstrengungen nicht nur einen Überblick über dieses hochaktuelle Feld gibt, sondern vielleicht sogar die Selbstreferenz der medizinischen, politischen und bioethischen Diskurse an der einen oder anderen Stelle fruchtbar zu irritieren vermag. Berlin und Frankfurt, Juli 2011 Sascha Dickel, Martina Franzen, Christoph Kehl

Einleitung Der Alltag der Biomedizin – Interdisziplinäre Perspektiven A LFONS B ORA , R EGINE K OLLEK

T ECHNIKVISIONEN – D EUTUNGSMUSTER SOZIALE P RAXIS

UND

Wissenschaft und Technik sind wesentliche Triebfedern gesellschaftlicher Modernisierung und Innovation. Die moderne Medizin stand von Beginn ihrer Entwicklung an in enger Beziehung zu technologischen Neuerungen. Medizinischer Fortschritt ist heute ohne die fortlaufende Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis und ohne die Entwicklung immer neuer technischer Verfahren kaum denkbar. Zugleich provozieren Wissenschaft und Technik – oftmals gerade aufgrund ihrer unbestreitbaren und unverzichtbaren Erfolge – immer wieder Konflikte um mögliche unerwünschte Folgen und Fragen hinsichtlich der langfristigen ethischen und sozialen Effekte ihres regelhaften Einsatzes. Mit der medizinischen Biotechnologie vollzieht sich heute ein erneuter Innovationsschub in der medizinischen Forschung, aber auch in der klinischen Praxis. Neben Problemen ethischer Natur, die an zahlreichen Stellen in Wissenschaft und Gesellschaft und in großen öffentlichen Debatten thematisiert werden, ruft der genannte Technologieschub aber auch eher unbemerkt sich vollziehende Veränderungen in der medizinischen Alltagspraxis, im Verhältnis von Ärzten und Patienten sowie in den gesellschaftlichen Deutungsmustern von Gesundheit, Krankheit, Subjektivität und Körperlichkeit hervor. Umgekehrt entstehen neue Diskurse, aus denen selbst solche Deutungsmuster erst hervorgehen. Man denke an Interessenkoalitionen, die unter dem Motto öffentlicher und privater Gesundheitsvorsorge etwa auf dem Gebiet der public health genetics oder der Forschung mit Biobanken aktiv sind. Hier werden, so kann man jedenfalls vermuten, Legitimationsmuster und Leitbilder für Technologieschübe in der gesellschaftlichen

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Kommunikation erzeugt und erprobt. Dieses komplexe Wechselspiel zwischen technologischer Innovation und gesellschaftlicher Legitimation, das durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen in beiden Richtungen gekennzeichnet ist, bringt soziale Deutungsmuster und Technologien in enger sozialer Koproduktion hervor. Diese These wird im vorliegenden Beitrag in einigen Details entfaltet. Unser Ziel ist es dabei, das Forschungsfeld »Biomedizin – Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis« als Gegenstand interdisziplinärer Forschung zu skizzieren und relevante Themenfelder auf diesem Gebiet zu identifizieren. Mit diesem eher in Form eines Überblicks gehaltenen Beitrag versuchen wir in gewisser Weise und ohne Vollständigkeitsanspruch, einen systematischen Rahmen für andere Beiträge des Bandes anzubieten. Aus der oben erwähnten Wechselwirkung zwischen Technikinnovation, sozialen Deutungsprozessen und Alltagspraxen entstehen sowohl ethische Problemlagen als auch Fragen der politischen und rechtlichen Regulierung von Technik. Diese weitreichenden und zukunftsrelevanten Fragen stehen hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Behandlung vor dem Hintergrund einerseits einer elaborierten ethischen Debatte und andererseits einer etablierten interdisziplinären Wissenschafts- und Technikforschung. Konzeptionell knüpft dieser Beitrag an diese beiden etablierten Traditionen an und führt sie unter Berücksichtigung der neuen Problemlagen in der biomedizinischen Entwicklung weiter. Er basiert auf der Beobachtung, dass sich gegenwärtig eine Diffusion biotechnischer Innovationen in den medizinischen Alltag vollzieht, und auf der darauf aufbauenden Hypothese, dass dadurch ganz neue Fragen jenseits der breit diskutierten ethischen Problemlagen aufgeworfen werden – Fragen, die mit zunächst vielleicht kleinformatig erscheinenden, möglicherweise aber sehr weit reichenden Veränderungen dieses Alltags zusammenhängen. Fünf mögliche Themenfelder, die am Ende des Beitrags diskutiert werden, ergeben sich aus diesem Zugang: Entgrenzung von Krankheit/Gesundheit, Perfektibilität von Körper/Person, öffentliche Legitimation und technologische Innovation, Professionalität und Beruf und soziale Gerechtigkeit und politische Regulierung.

E THISCHE K ONTROVERSEN UND GESELLSCHAFTLICHE R EGULIERUNG Die Debatte um die möglichen ethischen und normativen Implikationen gen- und biotechnischer Innovationen hat die Entwicklung der modernen biomedizinischen Forschung von Anfang an begleitet. Als sich mit den Fortschritten des Humangenomprojektes und den damit einhergehenden technologischen Ent-

E INLEITUNG

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wicklungen die Anwendungen der Bio- und Gentechnik in der Humanmedizin konkreter abzeichneten, gewann diese Debatte jedoch eine neue Dynamik. Dabei wurde das Interesse an ethischer Reflexion nicht nur von Kritikern der wissenschaftlich-technischen Entwicklung artikuliert, sondern auch von deren Promotoren selber. In Reaktion darauf wurden zunächst in den USA, bald darauf aber auch in anderen Ländern Gelder zur Förderung der ethischen, sozialen und rechtlichen Begleitforschung bereitgestellt und sogenannte ELSI-Programme (ethical, legal and social implications) etabliert, welche die wissenschaftlichen und normativen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Konsequenzen biomedizinischer Entwicklungen untersuchten.1 Die im Rahmen dieser Forschung behandelten Fragen stehen zumeist in direktem Bezug zu bio- und medizintechnischen Innovationen, und zwar in erster Linie zu solchen, die in Konflikt zu traditionellen Normen und gewachsenen Strukturen der menschlichen Selbstwahrnehmung und des menschlichen Selbstverständnisses treten. Zu nennen sind hier beispielsweise genetische Eingriffe in die menschliche Keimbahn oder das Klonen. Obwohl die technische Realisierung dieser sich zumeist noch im experimentellen Stadium befindlichen Entwicklungen überwiegend in weiter Ferne liegt und fraglich ist, ob sie überhaupt gelingen wird, sind viele der sich in diesem Zusammenhang stellenden ethischen Grundsatzfragen umfassend bearbeitet worden. So liegt beispielsweise zum Status des menschlichen Embryos ein umfangreicher, kaum noch überschaubarer Korpus ethisch-philosophischer Veröffentlichungen vor, zu dem neue Gesichtspunkte und Argumente nur noch schwer hinzuzufügen sind.2

1

Den Programmen zur Erforschung der ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen moderner biotechnologischer und -medizinischer Entwicklungen wurde zumeist ein bestimmter Anteil (ca. 3 bis 5 Prozent) der für die Bio- und Gentechnologie bestimmten Forschungsförderungsmittel gewidmet.

2

Zu nennen sind hier aus dem deutschen Sprachraum beispielsweise Rainer Beckmann/Mechthild Löhr: Der Status des Embryos. Medizin – Ethik – Recht, Würzburg 2003; Peter Dabrock/Jens Ried (Hg.): Therapeutisches Klonen als Herausforderung für die Statusbestimmung des menschlichen Embryos, Paderborn 2005; Gregor Damschen/Dieter Schönecker (Hg.): Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, Berlin 2002; Norbert Hoerster: Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay. Stuttgart: Reclam 2002; Carmen Kaminsky: Embryonen, Ethik und Verantwortung, Tübingen 1998; Monica Koechlin Büttiker: Schranken der Forschungsfreiheit bei der Forschung an menschlichen Embryonen. Basel 1997; Hartmut Kreß: Menschenwürde im modernen Pluralismus, Hannover 1999; Reinhard Merkel: For-

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Intensiv bearbeitet worden sind weiterhin Entwicklungen, durch die existierende ethische Konflikte in der Medizin verschärft werden. Auf dem Gebiet der Präimplantationsdiagnostik wurde beispielsweise aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht, welche Möglichkeiten und Probleme sich aus den sprunghaft angewachsenen Möglichkeiten der genetischen Diagnostik in Kombination mit der Reproduktionsmedizin bzw. der künstlichen Befruchtung ergeben. Zu den hier diskutierten Themen gehören unter anderen die Eugenik oder die schleichende Entwicklung einer »Designerkind«-Mentalität, aber auch die Implikationen, die sich aus diesen Entwicklungen insbesondere für Frauen ergeben.3 Ein weiterer Schwerpunkt der Forschung sind Fragen, die sich im Zusammenhang mit der genetischen Diagnostik von Erbkrankheiten stellen. Thematisch fokussieren entsprechende Arbeiten vor allem auf die genetische Beratung, auf Fragen der Selbstbestimmung, der adäquaten Information oder der Wahrnehmung genetischer Risiken.4 Im Vordergrund standen dabei zunächst vor allem die individuellen Aspekte und Konsequenzen dieser Entwicklungen; erst in den letzten Jahren rückten weiter gehende Untersuchungen zu den Implikationen biomedi-

schungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, München 2002; Thomas Wabel (Hg.): Grenzen der Verfügbarkeit. Menschenwürde und Embryonenschutz im Gespräch zwischen Theologie und Rechtswissenschaft, Dortmund 2004. Diese Liste lässt sich um viele Veröffentlichungen aus der internationalen Diskussion erweitern. 3

Vgl. unter anderem Regine Kollek: Präimplantationsdiagnostik. Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, Tübingen 2000; Hille Haker/Deryck Beyleveld, (Hg.): The Ethics of Genetics in Human. Procreation. Aldershot 2000; Ellen Kuhlmann: »Gen- und Reproduktionstechnologien: Ein feministischer Kompass für die Bewertung«, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Teil III, Theorie, Methoden, Empirie, Heidelberg 2008, S. 617– 622.

4

Vgl. unter anderem Matthias Kettner: Beratung als Zwang, Frankfurt/M. 1998; Hannes Friedrich/Karl-Heinz Henze: Eine unmögliche Entscheidung, Berlin 1998; Günter Feuerstein/Regine Kollek: »Risikofaktor Prädiktion. Unsicherheitsdimensionen diagnostischer Humanexperimente am Beispiel prädiktiver Brustkrebstests«, in: Jahrbuch Wissenschaft und Ethik, Berlin 2000, S. 91–115; Silja Samerski: Die verrechnete Hoffnung. Von der selbstbestimmten Entscheidung durch genetische Beratung, Münster 2002; Wolfram Henn/Hans-Joachim Schindelhauer-Deutscher: »Kommunikation genetischer Risiken aus der Sicht der humangenetischen Beratung: Erfordernisse und Probleme«, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 50 (2007), S. 174–180.

E INLEITUNG

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zinischer Techniken für das Gesundheitssystem,5 die Gesellschaft6 und die kulturelle Entwicklung7 in das Zentrum des Interesses. Als vorläufiges Fazit der bisherigen ELSI-Forschung lässt sich deshalb näherungsweise festhalten, dass bislang vor allem die grundsätzlichen ethischen Fragen, die sich im Kontext bereits etablierter oder sich entwickelnder biomedizinischer Techniken ergeben, intensiv bearbeitet worden sind. Vergleichbares gilt für die unmittelbaren individuellen Konflikte und Konsequenzen, die sich aus der Anwendung moderner biomedizinischer Techniken, insbesondere der Humangenetik und der Reproduktionsmedizin ergeben. Zu finden sind sowohl deduktive Ansätze, die sich um die Ableitung von Handlungsempfehlungen aus allgemeinen Prinzipien bemühen, als auch induktive Ansätze, die von individuellen Präferenzen oder Entscheidungen in konkreten oder fiktiven Konfliktsituationen ausgehen. Auch wenn viele der durch die Technikentwicklung in der Biomedizin aufgeworfenen Grundsatzfragen durch die Ergebnisse dieser For-

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Günter Feuerstein/Regine Kollek/Thomas Uhlemann: Gentechnik und Krankenversicherung. Neue Leistungsangebote im Gesundheitssystem, Baden-Baden: Nomos 2002; Regine Kollek et al.: Pharmakogenetik: Implikationen für Patienten und Gesundheitswesen. Anspruch und Wirklichkeit der ›individualisierten Medizin‹, Baden-Baden 2004; Els Geelen/Ine Van Hoyweghen/Klasien Horstman: »Making genetics not so important: Family work in dealing with familial hypertrophic cardiomyopathy«, in: Social Sciences and Medicine 72 (2010).

6

Petra Gehring: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt/M. 2006; Thomas Lemke: Die Polizei der Gene: Formen und Felder genetischer Diskriminierung, Frankfurt/M. 2006; Regine Kollek/Thomas Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt/M. 2008; Sigrid Graumann: Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte, Frankfurt/M. 2011.

7

Zum Beispiel Theresa Marteau/Martin Richards (Hg.): The Troubled Helix. Social and Psychological Implications of the New Human Genetics, Cambridge 1996; Sigrid Weigel: Genealogie und Genetik: Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte, Berlin 2002; Martin Döring/Jörg Zinken: »The Cultural Crafting of Embryonic Stem Cells: The Metaphorical Schematisation of Stem Cell Research in the Polish and French Press«, in: metaphorik.de 8 (2005), S. 6–33; Stefan Beck: Verwandtschaft machen. Reproduktionsmedizin und Adoption in Deutschland und der Türkei, Münster 2007; Jörg Niewöhner/Christoph Kehl/Stefan Beck (Hg.): Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft, Bielefeld 2008; Sonja Palfner: Gen-Passagen: Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen, Bielefeld 2009.

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schungen nicht abschließend geklärt worden sind, sind sie dennoch klarer hervorgetreten. Vor diesem Hintergrund ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit bioethischen Fragen zurzeit einer Reihe von Herausforderungen ausgesetzt, die sich in zwei Komplexen zusammenfassen lassen: •



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Es zeichnet sich ab, dass die praktische Umsetzung bioethischer Prinzipien mit spezifischen Problemen konfrontiert ist, die sowohl in der Konstruktion dieser Prinzipien selber, als auch in dem damit verbundenen Anspruch liegen, Handlungsempfehlungen für konkrete ethische Konfliktfälle zur Verfügung zu stellen. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass bei der konkreten Anwendung abstrakter ethischer Regeln ein erheblicher Interpretationsspielraum existiert. Zwar hat sich dieser Mangel an inhaltlicher Konkretheit im Management konfliktträchtiger Innovationen teilweise durchaus als Vorteil erwiesen.8 Dennoch kann dieser Spielraum im konkreten Fall dazu führen, dass hinsichtlich der Geltung spezifischer bioethischer Normen für bestimmte Entscheidungen große Unsicherheiten bestehen. Ethische Richtlinien verbleiben im Allgemeinen und tragen deshalb den Problemen, die sich in der konkreten medizinischen Praxis aufgrund deren sozioökonomischer und institutioneller Rahmenbedingungen ergeben, nur begrenzt Rechnung. Zum anderen erweisen sich bioethische Vorgaben bei der effizienten Implementierung biomedizinischer Techniken in Forschung und Praxis oft als hinderlich. Beispielsweise ist es zwar praktikabel, einzelne Ratsuchende in der humangenetischen Praxis umfassend über Art, Umfang und Konsequenzen einer genetischen Untersuchung aufzuklären. In populationsgenetischen Forschungsprojekten, in denen größere Bevölkerungsgruppen zum Ausgangspunkt umfassender genetischer Analysen werden, sind die Grenzen der für Information und Beratung zur Verfügung stehenden Ressourcen jedoch schnell erreicht. Der Umstand, dass es keine Ethik im Sinne eines einheitlichen und allgemein akzeptierten Werte-Systems gibt, ruft immer deutlichere Folgeprobleme hervor. Zum einen existieren schon innerhalb des westlichen Kulturraumes unterschiedliche und konkurrierende Konzepte, die sich in ihren Aussagen und Empfehlungen teilweise diametral gegenüberstehen. Zum anderen führt die

Günter Feuerstein/Regine Kollek: »Flexibilisierung der Moral. Zum Verhältnis von biotechnischen Innovationen und ethischen Normen«, in: Claudia Honnegger/Stefan Hradil/Franz Traxler (Hg.): Verhandlungen des deutschen Soziologentages. Grenzenlose Gesellschaft? Kongressband Teil 2 des Freiburger Kongresses der DGS, ÖGS und SGS. Opladen 1999, S. 559–574.

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Globalisierung biotechnischer und biomedizinischer Aktivitäten dazu, dass auch andere als abendländische Moralkonzeptionen ihren Anspruch auf Gültigkeit bei der Bewertung biomedizinischer Aktivitäten artikulieren und bei den Bestrebungen, weltweit gültige Regeln für die biomedizinische Forschung und Praxis zu schaffen, berücksichtigt werden müssen.9 Über die relative Abstraktheit hinaus sind ethische Aussagesysteme also auch aufgrund der herrschenden Pluralität für die Lösung komplexer Problemlagen der modernen Medizin nur begrenzt instruktiv. Beide Entwicklungen führen dazu, dass sich die Schwerpunkte der ELSIForschung derzeit verlagern. Zum einen stellt sich hier – wie in der BioethikDebatte generell – in theoretischer Hinsicht die Frage, wie die systematische Differenz zwischen universalem Anspruch der Ethik und ihrer lokalen Einbettung überwunden werden kann. In forschungspraktischer Perspektive wächst damit das Interesse daran, die Bedeutung lokaler normativer Kontexte und individueller Problemlagen für bioethische Entscheidungen empirisch genauer zu untersuchen. Dabei geraten zum anderen auch die konkreten sozialen, ökonomischen und institutionellen Gegebenheiten, unter denen biomedizinische Forschung und Praxis im Alltag stattfinden, verstärkt in den Blick. Gefragt wird nach den Bedingungen der Möglichkeit einer an ethischen Normen orientierten medizinischen Praxis, nach den institutionellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für qualitativ hochwertige biomedizinische Behandlungen und Dienstleistungen. Gefragt wird aber auch nach den konkret sich zeigenden Konsequenzen der derzeit in breiterem Umfang stattfindenden Etablierung biomedizinischer Techniken und Verfahren – nicht nur für die unmittelbar beteiligten Akteure, sondern auch für das Gesundheitswesen und für die Gesellschaft als Ganzes. In das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken also Fragen, die jenseits bioethischer Grundsatzdebatten, aber auch jenseits der auf das Individuum zentrierten Themen der Medizinethik liegen. Sie richten sich auf die technisch induzierten und gesellschaftlich vermittelten Neuinterpretationen von Gesundheit und Krankheit und auf die dadurch angestoßenen Veränderungen in der Selbstwahr-

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Beispielsweise hat die UNESCO zwei Deklarationen verabschiedet, in denen Prinzipien für den Umgang mit dem menschlichen Genom und mit genetischen Daten niedergelegt sind. Darüber hinaus befasst sich die 2003 verabschiedete »Declaration on Bioethics and Human Rights« mit ethischen Prinzipien, die bei der Anwendung der Erkenntnisse der modernen Lebenswissenschaften auf den Menschen in Anschlag zu bringen sind.

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nehmung der Patienten und in der Gestaltung des Arzt-Patient-Verhältnisses. Eine Medizin, die dem Leitbild der Individualisierung folgt und sich immer stärker an persönlichen Bedürfnissen und der individuellen genetischen Ausstattung und Reaktionsfähigkeit der Patienten orientieren will, provoziert nicht nur wissenschafts- und medizintheoretische Fragen, sondern auch solche nach der notwendigen Ausbalancierung zwischen wachsenden individuellen Ansprüchen und gesellschaftlicher Solidarität im Gesundheitswesen.10 Nicht zuletzt stellen sich vor diesem Hintergrund auch Fragen nach der räumlichen und zeitlichen Reichweite der Verantwortung im Rahmen einer medizintechnischen Entwicklung, deren Wirkungen global und generationenübergreifend sind.

T ECHNIKGENESE UND T ECHNIKFOLGEN : B IOMEDIZIN ALS TECHNOSCIENCE Die skizzierte Entwicklung ethischer Diskurse verweist auf die Diffusion technischer Innovationen in die verschiedensten Bereiche des Alltags und wirft dort vor allem neue Fragen nach dem gesellschaftlichen Umgang mit biomedizinischen Technologien auf. Damit sind Perspektiven eröffnet, die traditionell unter den Stichworten »Technikgenese-Forschung« und »Technikfolgenabschätzung« verhandelt worden sind. Bemerkenswert an der momentanen Entwicklung ist eine starke Konvergenz dieser beiden Sichtweisen. Mit der modernen Biotechnologie ist, wie mit keiner Technik zuvor, der Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Entwicklung von Techniken (häufig aus der sogenannten Grundlagenforschung heraus) und deren späterer praktischer Anwendung aufgehoben worden, bei der sich erst konkrete Folgen verwirklichen. Beide Bereiche lassen sich für die Biowissenschaften heute empirisch kaum mehr trennen. Damit konvergieren Technikgenese und Technikfolgen auf bisher nicht bekannte Weise. Der Begriff technoscience soll auf diese Konvergenz hinweisen. Unter dem Stichwort »Technikgenese« wird seit einigen Jahrzehnten die Frage nach den Leitbildern, den Deutungsprozessen und den Funktionsweisen gesellschaftlicher Selektion von Techniklinien bearbeitet. Ausgangspunkt dieser

10 Günter Feuerstein et al.: Irreführende Leitbilder. Zum Mythos der Individualisierung durch pharmakogenetische Behandlungskonzepte. Ethik in der Medizin 15 (2003), S. 77–86; Mechtild Schmedders et. al: »Individualized Pharmacogenetic Therapy: A Critical Analysis«, in: Community Genetics 6 (2003), S. 114–119; Bärbel Hüsing et al.: »Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem«, in: TAB-Arbeitsbericht Nr. 126, Berlin: Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag 2008.

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Arbeiten ist die Einsicht, dass technologische Innovationen nicht einem quasi naturwüchsigen Prozess der selbst tragenden Evolution von Techniken entspringen, sondern, wie zahlreiche Forschungen inzwischen gut dokumentiert haben, einem sozialen Selektionsprozess, der sich in kognitiver Hinsicht in epistemic communities11 und in organisatorischer Hinsicht in national oder global gespannten Innovationsnetzwerken12 abspielt. Dieser Selektionsprozess wird wesentlich durch kulturell verankerte Leitbilder geprägt, in denen sich kognitive und normative Elemente zu einer Vorstellung ›gültiger‹ – das heißt wissenschaftlich fundierter und normativ akzeptierter – Technik zusammenfügen.13 Charakteristisch für Biotechnologie allgemein und Biomedizin im Besonderen ist dabei, dass hier durch die wissenschaftlich-experimentelle Rekonstruktion eines Naturprozesses zugleich seine technische Reproduzierbarkeit unter Beweis gestellt wird. In diesem Sinne werden wissenschaftliche Fragestellungen gleichzeitig als technologische Projekte konzipiert. Oft spricht man, wie gesagt, in diesem Zusammenhang von technoscience.14 Auf den Punkt gebracht wird diese

11 Ludwik Fleck: Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Basel 1935; Hans-Jörg Rheinberger: »Experimental Systems: Historiality, Deconstructions, and the ›Epistemic Thing‹«, in: Science in Context 7 (1994), S. 65–81; Karin Knorr-Cetina: Epistemic Cultures – How the Sciences Make Knowledge. Cambridge 1999. 12 Uli Kowol/Wolfgang Krohn: »Innovation und Vernetzung«, in: Johannes Weyer (Hg.), Soziale Netzwerke, München 2000, S. 135–160. 13 Meinolf Dierkes: »Organisationskultur und Leitbilder als Einflußfaktoren der Technikgenese. Thesen zur Strukturierung eines Forschungsfeldes«, in: Verbund sozialwissenschaftliche Technikforschung. Mitteilungen, H. 3 (1988), S. 49–62. Zur Funktion von Leitbildern in der Biomedizin vgl. die Analysen von Günter Feuerstein/ Regine Kollek/Mechtild Schmedder/Jan van Aken: »Irreführende Leitbilder. Zum Mythos der Individualisierung durch pharmakogenetische Behandlungskonzepte«, in: Ethik in der Medizin 15 (2003), S. 77–86; und M. Schmedders et. al: »Individualized Pharmacogenetic Therapy«. 14 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1991; Donna Haraway: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature. New York 1991; vgl. zum Wandel der Wissenschaft auch Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons (Hg.): Wissenschaft neu denken: Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist 2004; Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001; Markus Schmidt: Synthetic biology: the technoscience and its societal consequences, Dordrecht 2009.

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Entwicklung neuerdings unter dem Begriff der »Synthetischen Biologie«, die explizit »ingenieurwissenschaftliche Prinzipien« verfolgt und dabei biologische Systeme wesentlich verändern und mit synthetisch chemischen Komponenten zu neuen Einheiten kombinieren will.15 Darüber hinaus suchen sich neue Techniken und Substanzen, die zunächst im Rahmen wissenschaftlicher Forschung entwickelt und experimentell dargestellt worden sind, rasch klinische Anwendungen und Märkte. Umgekehrt motiviert die Nachfrage nach neuen Arzneimitteln und diagnostischen Verfahren die biomedizinische Forschung und orientiert sie an gesellschaftlichen Bedarfen. Die Wahrnehmung der engen Verknüpfung zwischen Wissenserzeugung und Technikgenese hat dazu geführt, dass auch die sozialen und kognitiven Prozesse und Kontexte der biomedizinischen Wissensproduktion in das Blickfeld der Technikund Technikgenese-Forschung gerückt sind. Dies bedeutet vor allem, dass sich Fragen der Bewertung und Regulierung möglicher Technikfolgen in unmittelbarem Zusammenhang mit den geschilderten Prozessen der Technikgenese stellen. Technikfolgen sind nicht mehr nur gewissermaßen isolierte, in der Zukunft liegende und durch Entscheidungen einer außerwissenschaftlichen Praxis induzierte Ereignisse, sie werden vielmehr direkt durch Prozesse der Technikgenese, durch die Innovationsnetzwerke, deren interne Ressourcen- und Machtverhältnisse und durch die sozialen Deutungsmuster in Gang gesetzt, die sich im Kontext der Technikentstehung durchsetzen. Paradoxerweise realisieren sie sich teilweise bereits schon vor der breiten Implementation einer technologischen Innovation, da beispielsweise die regulativen Voraussetzungen dafür oft schon vorher geschaffen und wirksam werden müssen. Aus dieser gesellschaftlichen Bedeutung von Technikfolgen erwächst der Stellenwert von technology assessment. Während es dabei anfangs vorrangig um Folgenforschung ging, stehen heute Verfahren der Ermöglichung von Technikimplementation und Konfliktlösung im Vordergrund. Als Technikfolgenabschätzung und -bewertung (TA) wird eine seit Ende der 1960er Jahre eingesetzte Form der Konfliktlösung und Politikberatung bezeichnet.16 Sie ist ur-

15 DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft): Synthetische Biologie. Stellungnahme (Gemeinsam mit acatech und Leopoldina), Weinheim 2009, S. 8. 16 Frieder Naschold: Technologiekontrolle durch Technologiefolgenabschätzung. Entwicklung, Kontroversen, Perspektiven der Technologiefolgenabschätzung und -bewertung, Köln 1987; Raban Graf von Westphalen: Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe, München 1988; Thomas Petermann (Hg.): Technikfolgenabschätzung als Technikforschung und Politikberatung, Frankfurt/M. 1991; Johannes Weyer (Hg.): Theorien und Praktiken der Technikfolgenabschätzung, München 1994; Wal-

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sprünglich in den USA entwickelt und mittlerweile in vielen Staaten auf unterschiedliche Weise in die Politikprozesse integriert worden.17 Zusammengefasst enthält das Konzept einer Technikfolgenabschätzung mindestens folgende Komponenten:18 Frühwarnung des politischen Systems, umfassende Analyse auf wissenschaftlichem Gebiet, Entscheidungsorientierung und Partizipation der betroffenen Kreise. Technikfolgenabschätzung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie unterschiedliche gesellschaftliche Beobachtungsweisen und Systemreferenzen in ein Verfahren integriert. Neue Technologien stellen die Gesellschaft vor Probleme, die seit einigen Jahrzehnten mit dem Begriff des Risikos verbunden werden.19 Dabei handelt es sich zum einen um materielle bzw. physische, und zum anderen um immaterielle, soziale und moralische Risiken. Neuartig an dieser Situation ist weniger das quantitative Ausmaß von Gefährdungen – dieses mag in früheren Gesellschaften sogar relativ höher gewesen sein als in der modernen –, sondern vielmehr die Zurechnung dieser Gefahren auf gesellschaftliches Verhalten. Als problematisch für die Gesellschaft werden vor allem jene Gefahren empfunden, die gesellschaftlich verursacht sind. Von gesellschaftlich erzeugten Technologien ausgehende Gefährdungen erzeugen aufgrund ihrer diskursiv vermittelten Antizipation tendenziell stärkeren Problemdruck als unvermeidbare und zumeist ohne lange Vorwarnungen hereinbrechende Naturkatastrophen. Und in diesem Sinne bergen Wissenschaft und Technik Risiken für jedes Individuum, für soziale Gruppen und Minderheiten, für die heutige Gesellschaft als ganze wie auch für zukünftige Generationen. Diese Risikopotenziale ergeben sich nicht allein aus den immer vorhandenen Missbrauchsmöglichkeiten oder aus der Gefahr von Unfällen und Katastrophen, die wohl unvermeidlich sind, sondern sie beruhen vor allem auf dem reibungslosen Funktionieren der Technologien und können eben deshalb in

demar Baron: Technikfolgenabschätzung: Ansätze zur Institutionalisierung und Chancen der Partizipation, Opladen 1995; Armin Grunwald: Technikfolgenabschätzung – Eine Einführung. Berlin 2002. 17 Vgl. A. Grunwald: Technikfolgenabschätzung, S. 114ff. 18 Gotthard Bechmann: »Frühwarnung – die Achillesferse der Technikfolgenabschätzung (TA)?«, in: Armin Grunwald/Hartmut Sax (Hg.), Technikbeurteilung in der Raumfahrt. Anforderungen, Methoden, Wirkungen, Berlin 1994; Bernhard Gill: »Folgenerkenntnis. Science Assessment als Selbstreflexion der Wissenschaft«, in: Soziale Welt 45 (1994), S. 430–453. 19 Ulrich Beck: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.

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die von Perrow so genannten »normalen Katastrophen« münden.20 Diese letztgenannte Möglichkeit erhält zusätzliche Relevanz im Falle der technosciences, die den Schritt vom Labor zur technischen Realisation – und damit gewissermaßen die »Normalisierung« von Technologien – extrem verkürzen. Angesichts dieser Potenziale stellt Technikfolgenabschätzung den Versuch dar, kognitive und evaluative Fragen in einem möglichst frühen Stadium der Technikgenese zu bearbeiten. Kognitive Fragen betreffen die wissenschaftlichtechnischen Grundlagen und die Entwicklungspotenziale einer konkreten Technik (»Was wissen wir? Was können wir?«). Sie verlangen wissenschaftliche Fachkenntnisse, um beispielsweise die mögliche Entwicklung einer im Entwicklungsstadium befindlichen Technologie einigermaßen zuverlässig beurteilen zu können.21 Evaluative Fragen betreffen die Dimensionen des Normativen und des Voluntativen. In normativer Hinsicht ist zu klären, welche moralischen, ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen gegeben sind bzw. in welche Richtung diese angesichts zu erwartender Technikinnovationen weiter zu entwickeln wären (»Was dürfen wir? Was sollen wir?«). In voluntativer Hinsicht geht es um die Frage, mit welchen Verfahrensweisen und in welchen Arenen kollektiv bindende Entscheidungen in einem pluralistischen politischen Gemeinwesen erzeugt werden können (»Was wollen wir?«). Die Idee des technology assessment hat dabei seit ihren Anfängen einen Wandel von einem ingenieurwissenschaftlichen22 oder expertenbasierten Modell hin zu komplexeren Vorstellungen durchlaufen, die stärker auf interdisziplinäre, netzwerkförmige und partizipationsorientierte Konzepte hinauslaufen. In kognitiver Hinsicht ist dabei vor allem eine veränderte Beobachtung der Zeitdimension von Bedeutung: Man unterstellt nicht mehr ohne Weiteres eine berechenbare und damit voraussagbare Zukunft, sondern geht viel eher von entscheidungsbzw. pfadabhängigen und damit in bestimmter Weise unbekannten und offenen Zukünften aus. Da sich prinzipiell jedes Ereignis als Entscheidung oder Folge einer solchen beschreiben lässt, heißt das vor allem, dass man nicht Nichtentscheiden kann. Man gerät damit nolens volens in ein Spannungsverhältnis zwischen aktuellem Entscheidungszwang und nachfolgender Begründungs- bzw.

20 Charles Perrow: Normale Katastrophen: die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Frankfurt/M. 1987. 21 Wolfgang van den Daele et al.: Grüne Gentechnik im Widerstreit. Modell einer partizipativen Technikfolgenabschätzung zum Einsatz transgener, herbizidresistenter Pflanzen, Weinheim 1996. 22 Vgl. hierzu die Richtlinie 3780 zur Technikbewertung des Vereins Deutscher Ingenieure.

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Rechtfertigungsverpflichtung. Diese Begründungsverpflichtung kann angesichts offener Zukünfte nicht mehr ohne Weiteres durch quasi extrapolierende Berechnungen im Zeitpunkt des Entscheidens vorwegnehmend eingelöst werden. Vielmehr sieht man sich nun mit dem Risiko des Entscheidens als solchem konfrontiert.23 Damit wird zugleich deutlich, dass die evaluative Beschreibung von Erfolg/Misserfolg eines Verhaltens bereits eine Entscheidung über die Bewertungskriterien enthält, die in einer pluralen Gesellschaft mangels normativer und evaluativer Letztbezüge ebenfalls risikobehaftet ist (vgl. dazu oben Abschnitt 2). Dies ist der Hintergrund, vor dem in den letzten Jahrzehnten expertenbasierte Modelle der Technikfolgenabschätzung zunehmend unter Druck geraten sind. In kognitiver wie in evaluativer Hinsicht konnten diese zwar einige, keineswegs aber alle – und vor allem nicht die zentralen – Probleme der Technikfolgenabschätzung und -bewertung lösen.24 Expertokratische Modelle wurden zugunsten solcher aufgegeben, die versuchen, aus der entscheidungstypischen Risikolage und der Pluralität von Akteuren und Perspektiven Verfahren des Umgangs mit neuen Verfahrenslösungen zu entwickeln. Das Stichwort lautet hier »partizipatorische Technikfolgenabschätzung«.25 Aus der TA-Perspektive geht es dabei nicht mehr um Kontrolle, sondern um dialogische Prozesse der Technikgestaltung zwischen Forschung und Entwicklung, Regulierung und betroffener Öffentlichkeit. Technology assessment wird deshalb heute allgemein als ein Aspekt von Technikgestaltung und Innovation angesehen.26 Beide Aspekte der Technikforschung, die gesellschaftlichen TechnikLeitbilder und die Frage des Umgangs mit unbekannten Technikfolgen, konvergieren, wie dieser kurze Überblick zeigt, in der Frage nach dem Zusammenhang von Technikvisionen und sozialer Praxis im Kontext der technoscience Biomedizin. Angesichts der Diffusion der Technik in den gesellschaftlichen Alltag so-

23 Alfons Bora (Hg.): Rechtliches Risikomanagement. Form, Funktion und Leistungsfähigkeit des Rechts in der Risikogesellschaft, Berlin 1999. 24 Alfons Bora: Ökologie der Kontrolle. Technikregulierung unter der Bedingung von Nicht-Wissen. In: Christoph Engel/Jost Halfmann/Martin Schulte (Hg.): Wissen, Nichtwissen, unsicheres Wissen. Baden-Baden 2002, S. 253–275. 25 Gabriele Abels/Alfons Bora: Demokratische Technikbewertung, Bielefeld 2004. 26 Vgl. Alfons Bora: »Wissenschaftliche Politikberatung und die disziplinären Grundlagen der Wissenschaft«, in: Alexander Bogner/Karen Kastenhofer/Helge Torgersen (Hg.), Inter- und Transdisziplinarität im Wandel? Neue Perspektiven auf problemorientierte Forschung und Politikberatung. Baden-Baden 2011, S. 25–55; Alfons Bora: »Technikfolgenabschätzung – Ein utopisches Projekt?«, in: Margret Kraul/PeterTobias Stoll (Hg.), Wissenschaftliche Politikberatung. Göttingen 2011, S. 189–206.

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wie der sachlich und sozial begrenzten Steuerungsleistung von Ethiken im alltäglichen Umgang mit Technikinnovationen treten neue Fragen in den Vordergrund. Unter der Bedingung von technoscience gewinnen technisch induzierte und gesellschaftlich vermittelte Deutungsmuster von Gesundheit und Krankheit und die damit einhergehenden Veränderungen in der Selbstwahrnehmung der Patienten und in der Gestaltung des Arzt-Patient-Verhältnisses zunehmend an Bedeutung.

K ONZEPTIONELLER AUSGANGSPUNKT RELEVANTE F RAGESTELLUNGEN

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Genese und Folgen biomedizinischer Innovationen sind auf der empirischen Ebene unauflöslich miteinander verknüpft.27 Um die dabei operierenden Rückkopplungsschleifen zwischen Veränderungen in der Praxis und den sozialen Deutungsmustern grundlegender Kategorien geht es im vorliegenden Kontext. Unilineare Modelle, welche lediglich eine Verbindung zwischen der Technik und ihren Folgen ziehen, sind angesichts der Komplexität von Innovationsnetzwerken nicht adäquat.28 Umgekehrt leiden isolierte Leitbildanalysen gewissermaßen an einer kulturalistischen Verkürzung der Problemsicht. Statt solcher isolierter Betrachtungsweisen ist vielmehr von einer Wechselwirkung auszugehen, die es in detaillierten Untersuchungen allerdings noch genauer zu erforschen und zu verstehen gilt. Weiterhin geht es nicht oder nur am Rande um öffentlich auffällige, gewissermaßen exzeptionelle Technologien wie beispielsweise das Klonen oder verändernde Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Vielmehr hat die Biomedizin inzwischen einen Grad an technischer Reife und sozialer Einbettung erreicht, der sie zunehmend zum festen Bestandteil der ärztlichen Praxis und des medizinischen Alltags werden lässt. Dies macht es erforderlich, gerade diejenigen Alltagsroutinen zum Forschungsgegenstand zu erheben, die sich eher subtil und unauffällig etablieren und welche die Lebenswelt und das Selbstverständnis von Akteuren nicht unberührt lassen. Das betrifft vor allem die bereits etablierten

27 Siehe die einleitenden Abschnitte dieses Artikels. Zusätzlich ließe sich dies auch anhand der Ergebnisse der Innovationsforschung – ebenso wie früher bereits aus der Implementationsforschung – belegen. Genese und Folgen sind in Innovationsspiralen rückkoppelnd miteinander verbunden; Holger Braun-Thürmann: Innovation, Bielefeld 2005. 28 U. Kowol/W. Krohn: »Innovation und Vernetzung«.

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Techniken, aber auch solche, die – wie etwa das genetic enhancement – bislang noch nicht oder erst ansatzweise praxisrelevant geworden sind. Die Wechselwirkungen zwischen Deutungsmustern und alltäglicher sozialer Praxis sollen im Folgenden in aller Kürze anhand von fünf Themenfeldern beispielhaft dargestellt werden. Dabei wird jeweils auch auf weiterführende Fragen bzw. bestehenden Forschungsbedarf hingewiesen. Veränderungen im Verständnis von Gesundheit und Krankheit Ein möglicher Einfluss der neuen biomedizinischen Erkenntnisse und Techniken auf das Verständnis von Gesundheit und Krankheit wurde schon früh thematisiert, bislang aber nur in Einzelfällen systematisch bearbeitet. Die zu diesen Themenfeldern vorliegenden Beiträge thematisieren entsprechende Entwicklungen unter verschiedenen Stichworten. Unter dem Begriff der Genetisierung29 werden Prozesse diskutiert, in deren Zusammenhang genetischen Erklärungsmustern bei der Beschreibung normaler und pathologischer Prozesse des menschlichen Körpers und zunehmend auch des menschlichen Verhaltens eine wichtigere Rolle zugeschrieben wird und psychosoziale Faktoren dabei in den Hintergrund treten. Heuristisch wird das Konzept der Genetisierung aber auch verwendet, um die Wechselwirkungen zwischen Genetik, Medizin, Gesellschaft und Kultur zu untersuchen.30 Es richtet die Aufmerksamkeit auf konzeptionelle Fragen wie die Anwendung genetischer Begriffe zur Beschreibung gesundheitlicher und gesellschaftlicher Probleme, auf institutionelle Fragen wie das Entstehen einer bioethischen Expertenkultur und auf die Transformation individueller und sozialer Verhaltensweisen unter dem Einfluss genetischen Wissens und genetischer Technologien, wie zum Beispiel auf sich verändernde Sichtweisen der menschlichen Identität, sozialer Beziehungen und individueller Verantwortung.31 Zu der Auseinandersetzung mit diesen Fragen liegen zum einen eine Reihe von Abhandlungen vor, die den Themenkomplex vor allem aus theoretischer Perspektive und kontrovers behandeln.32 Wenig

29 Abby Lippman: »The geneticization of health and illness: implications for social practice«, in: Endocrinologie 29 (1991), S. 85–90. 30 Henk A. ten Have: »Genetic advances require comprehensive bioethical debate«, in: Croatian Medical Journal 44 (2003), S. 533–537. 31 R. Kollek/T. Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. 32 Vgl. unter anderem Roger Hoedemaekers/Henk A. ten Have: »Geneticization: the Cyprus paradigm«, in: Journal of Medical Philosophy 23 (1998), S. 274–287; Henk A. ten Have: »Genetics and culture: the geneticization thesis«, in: Medicine, Health Care

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untersucht ist bisher jedoch, wie sich der Prozess der Genetisierung von Krankheiten und deren Deutungen konkret in der Praxis und in Bezug auf einzelne Krankheiten oder Verhaltensweisen vollzieht. Hier liegt ein weitgehend unbearbeitetes Feld für empirische Untersuchungen, das außerordentlich interessante Ergebnisse verspricht. Ein Problem der Diskussion um die moderne Genetik und um die Prozesse der Genetisierung liegt darin, dass in der ethisch-philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion oft davon ausgegangen wird, dass das genetische bzw. medizinische Wissen mehr oder weniger unbestritten ist und biomedizinische Sachverhalte eindeutig beschreibt. Aktuellen wissenssoziologischen Ansätzen zufolge ist jedoch auch biomedizinisches Wissen das Ergebnis eines komplexen Herstellungsprozesses, der nicht nur durch wissenschaftliche Präferenzen und apparative Techniken, sondern auch durch spezifische Vorannahmen, soziale Praktiken und gesellschaftliche Selektion geprägt ist. Den Prozessen dieser laufenden Produktion medizinischen bzw. genetischen Wissens wurde bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt, sodass zur wissenssoziologischen Rekonstruktion der Herausbildung genetisch definierter Krankheitsbilder derzeit nur vereinzelte Arbeiten vorliegen.33 Wenig bearbeitet sind bisher auch Aspekte von Genetisierungsprozessen, die sich aus der weitergehenden technischen Entwicklung wie der Konvergenz zwischen elektronischer Datenverarbeitung und avancierter Genomanalyse auf der Ebene von Individuen und Populationen ergeben.34 Die einschlägigen Stichworte wären hier unter anderem Gen-

and Philosophy 4 (2001), S. 295–304; Alan M. Hedgecoe: »Reconstructing geneticization: a research manifesto«, in: Health Law Journal 7 (1999), S. 5–18; Alan M. Hedgecoe: »Schizophrenia and the narrative of enlightened geneticization«, in: Social Studies of Science; 31 (2001), S. 875–911; Ann Kerr: »Giving up on geneticization: a comment on Hedgecoe’s ›Expansion and uncertainty: cystic fibrosis, classification and genetics‹«, in: Sociology of Health and Illness 26 (2004), S. 102–106; discussion S. 107–109. 33 Alan M. Hedgecoe: »Expansion and uncertainty: cystic fibrosis, classification and genetics«, in: Sociology of Health and Illness 25 (2003), S. 50–70; Eric Hall: »The ›geneticisation‹ of heart disease: a network analysis of the production of new genetic knowledge«, in: Social Science and Medicine 60 (2005), S. 2673–2683. Zu den neueren Untersuchungen hierzu gehört Marko Silvestric: Voraussetzungen und Konsequenzen molekularer Diagnostik des Mammakarzinoms, Stuttgart 2011. 34 Robert Mitchell/Catherine Waldby: »National Biobanks: Clinical Labour, Risk Production and the Creation of Biovalue«, in: Science, Technology and Human Values 35 (2010), S. 330–355.

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Chips und Biobanken. Lohnenswert erscheinen in diesem Zusammenhang auch Untersuchungen, die sich der Frage des genetischen Determinismus nach dem Humangenomprojekt widmen.35 Auch wenn in der biomedizinischen Diskussion die Bedeutung einzelner Gene mittlerweile relativiert wird, ist zu fragen, ob der Primat der genetischen Kausalität tatsächlich aus der modernen Biologie verschwunden ist, oder ob er nicht komplexeren Modellen Platz gemacht hat, in denen genetische Kausalität in neuer Weise reformuliert wird. Ein weiterer Begriff, unter dem die Konsequenzen der modernen Genetik diskutiert werden, ist der der Entgrenzung von Gesundheit und Krankheit. Thematisiert werden damit vor allem spezifische Wirkungen, die sich im Zusammenhang mit der prädiktiven genetischen Diagnostik entfalten. Dazu gehört das Entstehen einer neuen Gruppe von Personen mit riskierter Gesundheit bzw. »gesunde Kranke«.36 Obwohl einige der möglichen Folgen dieses neuen Status vor allem hinsichtlich seiner psychologischen, aber auch arbeits- und versicherungsrechtlichen Implikationen bereits bearbeitet sind, wurden seine Auswirkungen auf das Gesundheitswesen noch wenig untersucht. Wie lassen sich Vor- und Nachteile einer lebenslangen Prävention, die aufgrund einer festgestellten Krankheitsdisposition angezeigt sein kann, gegeneinander abwägen? Welche Ansprüche auf präventive Behandlung können aus einem solchen Status abgeleitet werden? Welche Pflichten und Verantwortlichkeiten zur Prävention können Trägern von Krankheitsdispositionen auferlegt werden? Praktisch nicht untersucht sind in diesem Zusammenhang auch neuere Entwicklungen, bei denen es nicht mehr (nur) um die Feststellung einzelner genetischer Risikofaktoren geht, sondern um die Erstellung individueller genetischer Profile. Aus ihnen sollen nicht nur Krankheitsprognosen abgeleitet werden, sondern sie sollen zukünftig

35 Ludger Honnefelder/Peter Propping (Hg.): Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen? Köln 2001; Thomas Lemke: Mutationen des Gendiskurses: Der genetische Determinismus nach dem Humangenomprojekt, in: Leviathan 30 (2002), S. 400–425; Evelyn Fox Keller: »Genetischer Determinismus und das ›Jahrhundert der Gene‹«, in: Ludger Honnefelder et al. (Hg.), Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen, Berlin 2003, S. 15–26. 36 Wolfgang Henn: Der DNA-Chip – Schlüsseltechnologie für ethisch problematische neue Formen genetischen Screenings? Ethik in der Medizin 10 (1998), S. 128–137; Regine Kollek: »Was heißt schon gesund? Zur Transformation des Krankheitsbegriffes durch genetische Diagnostik«, in: Thorsten Braun/Marcus Elstner (Hg.), Gene und Gesellschaft, Heidelberg 1999; Regine Kollek/Günter Feuerstein: »Wenn aus Gesunden Noch-Nicht-Kranke werden«, in: Frankfurter Rundschau, Dokumentation vom 17.7.1999, S. 10.

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auch Entscheidungen über Lebensstil, Prävention und Therapie informieren.37 Zeichnet sich im Zusammenhang mit diesen erweiterten Möglichkeiten der prädiktiven genetischen Diagnostik und der genetischen Differenzialdiagnostik eine neue Welle der Medikalisierung von Gesundheit – also von körperlichen Zustandsbeschreibungen – ab, die nicht durch Befindlichkeitsstörungen, sondern konstitutionelle biochemische Merkmale charakterisiert sind? Oder sind es nur überzogene Erwartungen an die Aussagekraft solcher Tests, die entsprechende Befürchtungen nähren?38 Besonders in Bezug auf den zuletzt genannten Aspekt erscheint es lohnenswert zu untersuchen, in welcher Beziehung hier soziale Deutungsmuster und technologische Entwicklungen stehen und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Das Verhältnis zwischen zurückhaltender wissenschaftlicher Einschätzung der medizinischen Bedeutung solcher Tests einerseits,39 und hohen wirtschaftlichen Erwartungen an diese Innovationen andererseits verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Ein weiteres Stichwort, unter dem die Veränderungen in der Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit im Kontext von Genetisierungsprozessen diskutiert werden, ist das der Biopolitik. Die in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren entstandenen Untersuchungen40 gehen der Frage nach, in welcher Weise das neue biomedizinische Wissen um genetische Risiken zur Selbstdisziplinierung und zur Entstehung neuer Verantwortlichkeiten der Betroffenen führt. Im

37 Vgl. unter anderem Margaret R. Spitz/Xifeng Wu/Gordon Mills: »Integrative epidemiology: from risk assessment to outcome prediction«, in: Journal of Clinical Oncology 23 (2005), S. 267–275; Scott D. Grosse et al.: »Population screening for genetic disorders in the 21st century: evidence, economics, and ethics«, in: Public Health Genomics 13 (2010), S. 106–115. 38 David Melzer/Ron Zimmern: »Genetics and medicalization«, in: British Medical Journal 324 (2002), S. 863–864. 39 Nationaler Ethikrat: Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen. Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung des Wissens über Erkrankungsrisiken. Stellungnahme, Berlin 2005. 40 Vgl. unter anderem Thomas Lemke: Mutationen des Gendiskurses: Der genetische Determinismus nach dem Humangenomprojekt, in: Leviathan 30 (2002), S. 400–425; Kathrin Braun: Menschenwürde und Biomedizin, Frankfurt/M. 2000; Günter Feuerstein/Regine Kollek: »Vom genetischen Wissen zum sozialen Risiko: Gendiagnostik als Instrument der Biopolitik«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament« (2001), S. 26–33; Wolfgang van den Daele (Hg.): »Biopolitik. Biomacht und soziologische Analyse«, in: Leviathan Sonderheft 23/2005; Thomas Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik, Berlin 2007.

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Anschluss daran ist schließlich auch nach den Implikationen zu fragen, die genetische Deutungsmuster für die Herausbildung neuer Körper- und Selbstkonzepte haben. Vielfach wird in der Genetisierung von Gesundheit und Krankheit eine fundamentale Wende in unserem Verständnis der menschlichen Natur gesehen; es wird vermutet, dass sich die Selbstwahrnehmung des Menschen durch diese Entwicklung grundlegend ändern wird: Von einem moralischen Wesen, dessen Charakter, Handeln und Verhalten weitgehend durch die soziale und kulturelle Umgebung geprägt sind, werden wir dieser Einschätzung zufolge in unserer Wahrnehmung im Wesentlichen zu einem biologischen Wesen transformiert, dessen Schicksal »in den Genen« liegt.41 Diese Konstruktion einer neuen Selbstdefinition wird zumindest von Teilen der biomedizinischen Fachgemeinschaft gestützt, häufig aber auch zum (unreflektierten) Ausgangspunkt geistes- und sozialwissenschaftlichen Argumentierens. In kritischer Auseinandersetzung mit einem solchen Naturalismus unterstreichen nicht nur wissenssoziologische Ansätze seit Langem die soziale Konstruiertheit von Naturkategorien, sondern fordert zunehmend auch die Wissenschaftstheorie eine »kulturalistische Wende«.42 Sie geht davon aus, dass auch die Natur- bzw. Biowissenschaften als gesellschaftliche Praxen Bestandteil unserer Kultur sind; ihre Geltungsansprüche stehen nicht außerhalb der Kultur, sondern bleiben kulturimmanenten Rationalitätsnormen unterworfen. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich nicht nur, aber besonders für wissenschaftssoziologisch und -theoretisch interessierte Naturwissenschaftler eine Fülle von interessanten Projekten zur Dekonstruktion naturaler Kategorien. Entsprechende Untersuchungen können unter anderem auf den Analysen aufbauen, die vor dem Hintergrund der feministischen Theoriediskussion entstanden sind,43 die aber in Hinblick auf die neueren Entwicklungen im Diskurs um die Gen- und Biotechnologie der kritischen Überprüfung und Weiterführung bedürfen.

41 Howard L. Kaye: »Are we the sum of our genes?«, in: Wilson Quarterly 16 (1992), S. 77–84, hier S. 77. 42 Dieter Hartmann/Peter Janich (Hg.): Die kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankfurt/M. 1998. 43 Vgl. unter anderem D. Haraway: Simians, Cyborgs and Women; Emily Martin: Die Frau im Körper: Weibliches Bewußtsein, Gynäkologie und die Reproduktion des Lebens, Frankfurt/M. 1989; Ellen Kuhlmann/Regine Kollek (Hg.): Konfiguration des Menschen. Biowissenschaften als Arena der Geschlechterpolitik, Opladen 2002.

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Optimierung von Gesundheit und Steigerung menschlicher Fähigkeiten Im Zuge der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung biomedizinischer Innovationen eröffnet sich über die verbesserte Diagnose und Behandlung von Krankheiten hinaus nicht nur die Möglichkeit einer Optimierung von Gesundheit durch Krankheitsprävention, sondern auch die Verbesserung und Steigerung menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten. Diskutiert wird diese Entwicklung im angelsächsischen Sprachgebrauch unter dem Begriff des Enhancements, der sich mittlerweile auch in der deutschsprachigen Diskussion eingebürgert hat.44 Nachdem mit dem Fortschreiten gentechnischer Eingriffsmöglichkeiten auch die gezielte technische Veränderung der menschlichen Keimbahn in den Bereich des Möglichen rückte, wurde das Enhancement vor allem im Blick auf die Veränderung der genetischen Konstitution des Menschen, das heißt im Blick auf Keimbahnveränderungen diskutiert.45 Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts hat sich die Diskussion in verschiedene Richtungen hin ausdifferenziert. Zum einen ist deutlich geworden, dass die Optimierung bzw. Steigerung menschlicher Fähigkeiten nicht nur mithilfe genetischer Techniken, sondern auch auf anderem Wege, beispielsweise durch Medikamente, verfolgt werden kann.46 Zu den technischen Möglichkeiten zur Steigerung der menschlichen Be-

44 Eric T. Juengst: »What does enhancement mean?«, in: Erik Parens (Hg.), Enhancing human traits. Ethical and social implications, Washington DC 1998, S. 29–47; Erik Parens: »Is better always good? The enhancement project«, in: ders. (Hg.), Enhancing human traits. Ethical and social implications, Washington DC: 1998, S. 1–28; Sheldom Krimsky: »The psychosocial limits on human germline modifications«, in: Gregory Stock/John Campbell (Hg.): Engineering the human germ line. An exploration of the science and ethics of altering the genes we pass to our children, New York 2000, S. 104–107; John Harris: Enhancing Evolution: The Ethical Case of Making Better People, Princeton/Oxford 2007; Nikolaus Knoepffler/Julian Savulescu (Hg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik. Freiburg 2009. 45 Vgl. unter anderem Enquetekommission des Deutschen Bundestages, Wolf-Michael Catenhusen/HannaNeumeister (Hg.): Chancen und Risiken der Gentechnologie. Frankfurt/M., New York 1988. 46 Henry Greely et. al.: »Towards responsible use of cognitive-enhancing drugs by the healthy«, in: Nature 456 (2008), S. 702–705.

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findlichkeit oder Leistungsfähigkeit gehören viele schon heute in der medizinischen Praxis angewandte Arzneimittel.47 Perspektivisch ist auch mit der Entwicklung von Medikamenten zu rechnen, die genetisch bedingte oder assoziierte Dispositionen wie beispielsweise die Neigung zur Übergewichtigkeit an ihrer Entfaltung hindern. All diese Medikamente sind an der relativ unscharfen Grenzlinie zwischen Zivilisationskrankheit und lifestyle angesiedelt. Ihre Entwicklung wird zum Teil durch Motive angetrieben, die in einem gesellschaftlich als erstrebenswert angesehenen Lebensstil liegen. In diesem Sinne handelt es sich dabei um lifestyle-Drogen, die auf gesellschaftliche Normen von Leistungsfähigkeit und Anerkennung zurückgehen und dabei unmittelbar ein psychisches und soziales Bedürfnis nach Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden befriedigen. Sie dienen im weiteren Sinne auch dazu, mit medizinischen Mitteln die (potenziellen) gesundheitlichen Schäden und Risiken zu kompensieren, die durch den ungesunden Lebensstil eines Individuums entstanden sind oder verstärkt werden.48 Eine von vielen sich aufdrängenden Fragen ist die nach der Abgrenzung zwischen Medikamenten, die der Behandlung einer akuten oder chronischen Erkrankung dienen und solchen, die einen ungesunden Lebensstil kompensieren oder Leistung und Befindlichkeit steigern. Auch die Sicherstellung einer genetisch individualisierten Prävention gehört zu den Entwicklungen, deren gesellschaftliche Implikationen bislang kaum erforscht sind. Denn wenn für lifestyle-beeinträchtigende Veranlagungen eine genetische Diagnostik verfügbar wird, öffnet sich ein völlig neuer Markt für eine medikamentöse Prävention, die überwiegend nicht auf die Verringerung von Krankheitsrisiken, sondern die Erhaltung der Gesundheit zielt.49

47 Neben Viagra und anderen potenzsteigernden Arzneien geht es dabei vor allem um Mittel wie Xenical, das die Fettverdauung reduziert, Reductil, das Sättigungsgefühle erzeugt und so zur Vermeidung von Gewichtszunahmen beiträgt, Propecia, das gegen Haarverlust eingesetzt wird, oder Prozak, das Depressionen reduziert bzw. Glücksgefühle erzeugt, aber auch Ritalin, das vor allem bei Kindern, aber auch Erwachsenen zur Aufmerksamkeitssteigerung eingesetzt wird. 48 Günter Feuerstein/Regine Kollek/Thomas Uhlemann: Gentechnik und Krankenversicherung. Neue Leistungsangebote im Gesundheitssystem, Baden-Baden 2002. 49 Pionierarbeit geleistet hat in diesem Zusammenhang das britische KosmetikUnternehmen Body Shop, das als eines der ersten genetische Tests zur Untersuchung der Metabolisierungs- und Entgiftungsfähigkeiten des menschlichen Körpers angeboten hat. Heute ist die Fülle entsprechender Angebote vor allem über das Internet nahezu unüberschaubar geworden.

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Radikalisiert wird der Präventionsgedanke im Zusammenhang mit der pränatalen Diagnostik (PND) und der Präimplantationsdiagnostik (PID); hier geht es nicht mehr um die Vermeidung von schädlichen physikalischen und sozialen Umwelteinflüssen, sondern um die von ›riskanten‹ Genotypen. Zu untersuchen wäre hier die fluktuierende Grenze zwischen Krankheitsvermeidung und der Selektion erwünschter genetischer Ausstattungen, die in der Selektion von ›helper babies‹, die als Stammzellspender für erkrankte Geschwister dienen sollen, bereits ihren Anfang, aber sicher noch kein Ende gefunden hat. Das Stichwort PID leitet über zur Reprogenetik.50 Dieser Begriff charakterisiert die konzeptionelle und handlungspraktische Konvergenz von zwei biotechnischen bzw. -medizinischen Entwicklungslinien: der molekularen, durch die Fortschritte des Humangenomprojektes informierten Genetik, und der Reproduktionsmedizin, mit deren Hilfe menschliche Embryonen in vitro erzeugt werden können und damit für weiter gehende Manipulationen verfügbar sind. Zwar ist es heute noch nicht möglich, genetische Eingriffe an solchen Embryonen (und damit auch deren Nachkommenschaft) gefahrlos vorzunehmen. Durch die Stammzelltechnologie und das Klonen hat die Entwicklung der wissenschaftlichtechnischen Voraussetzungen für solche Eingriffe jedoch wichtige Impulse erhalten. Nunmehr kann jede Körperzelle nicht nur relativ problemlos in der Zellkultur genetisch verändert und selektiert, sondern durch die Technik des auf Kerntransfer basierenden Klonens prinzipiell auch in einen – genetisch manipulierten – menschlichen Embryo transformiert werden. Damit und auch mit den Entwicklungen der Synthetischen Biologie rücken die Möglichkeit des molekularen Enhancements und die permanente Verankerung von »Designergenen« in den menschlichen Körper in den Bereich des Möglichen. Jenseits der Überlegungen hinsichtlich der technischen Kontrollierbarkeit solcher Eingriffe und der bereits ausführlich bearbeiteten und nach wie vor kontroversen Fragen, die die Forschung an menschlichen Embryonen betreffen, geht es in neueren Diskussionen um die möglichen Zielsetzungen solcher Eingriffe. Zu unterscheiden wären beispielsweise Steigerungen der physischen, der psychischen und der kognitiven Eigenschaften eines Menschen.51 Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, reichen von den Konsequenzen genetisch gesteigerter Sauerstoffaufnahme und damit der physischen Leistungssteigerung von Athleten auf das System des Sports, über die Auswirkungen der Etablierung

50 Lee M. Silver: Remaking eden. Cloning and beyond in a brave new world, New York 1997. 51 Regine Kollek: »Reprogenetics: visions of the future«, in: Encyclopedia of the Human Genome, London 2003.

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psychischer Resistenzen gegenüber widrigen Umweltbedingungen bis hin zu den Folgen der genetischen Verankerung einer verbesserten Konkurrenzfähigkeit in einer Gesellschaft, in der bestimmte Formen von Intelligenz in hohem Maße mit sozialem und beruflichem Erfolg korrelieren. Obwohl die meisten der in diesem Kontext diskutierten Möglichkeiten (noch) im Bereich des Fiktiven liegen – es ist nicht absehbar, wann und ob sie überhaupt realisierbar sein werden – ist das Enhancement ein Thema, das seit Jahren mit vergleichsweise großer Intensität diskutiert wird. Unter anderem deshalb stellt sich die Frage nach den Motiven und Triebkräften, die hinter dem Bedürfnis nach Leistungssteigerung und Perfektion stehen. Zu untersuchen wären hier nicht nur die parallel zu den technischen Möglichkeiten sich entwickelnden sozialen Erwartungshaltungen und Normen, sondern vor allem auch die kulturellen Wurzeln, die die entsprechenden Visionen und Bedürfnisse speisen. Zu befragen wären beispielsweise religiöse und pädagogische Quellen, welche die Bestrebungen zu einer – wenn auch nicht technisch vermittelten – ›Verbesserung‹ des Menschen aus ganz anderen Motivlagen heraus schon immer befördert haben. Wie machen sich die neuen Technologien solche alten Sehnsüchte zunutze? Wie setzen sie auf kulturell verankerte Vorverständnisse von Gesundheit und Krankheit, aber auch von Vererbung, Mutterschaft und Vaterschaft? Zudem wäre auch zu fragen, was ›Verbesserung‹ oder Enhancement vor dem Hintergrund unterschiedlicher sozialer Wertungen menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten überhaupt bedeuten kann. Zu untersuchen wären weiterhin Phänomene wie die seit einiger Zeit zu beobachtende weltweite »Transhumanisten«-Bewegung, deren Mitglieder offensiv die Weiterentwicklung von Möglichkeiten zum Enhancement propagieren und ideologisch flankieren.52 Die sich hier findenden Diskussionen illustrieren, wie in einer weltweiten Diskursgemeinschaft neue Deutungsmuster von Gesundheit und Krankheit geschaffen werden und wie der Körper und das Selbst zum Projekt und zur Herausforderung für die aktive, sich im Physischen verankernde Selbstgestaltung werden. Legitimationsmuster öffentlicher Diskurse Die Biomedizin ist in mehrfachem Sinne eine öffentliche Angelegenheit. Zum einen ist sie – jedenfalls in einzelnen Facetten – Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen in den Massenmedien. Zum anderen ist sie Gegenstand von Interessenkoalitionen und Aushandlungen in der Politik, also bei der Erzeugung

52 Vgl. http://www.transhumanism.org (letzter Zugriff am 6.1.2011).

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kollektiv bindender Entscheidungen. Schließlich ist sie auch eine Frage allgemein verbindlicher normativer Regelungen, seien sie ethischer, seien sie rechtlicher Natur. In allen genannten Dimensionen geht es immer auch um die öffentliche gesellschaftliche Legitimation der Technik selbst und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihr. Das Problem der Legitimation strukturiert daher im Wesentlichen die Diskurse in den genannten öffentlichen Arenen. Öffentliche Debatten spielen sich, wie gesagt, in den Massenkommunikationsmedien, daneben aber auch in politischen Arenen ab, in denen gesundheits-, technik-, rechts- und wissenschaftspolitische Weichenstellungen vorbereitet und vorgenommen werden. Was die Debatte in den Medien betrifft, so liegen hier etliche Studien vor bzw. werden im Rahmen von Dissertationsprojekten (unter anderem auch am IWT) vorbereitet, die jedoch – meist inhaltsanalytischer Natur – zunächst kaum mehr als eine semantische Bestandesaufnahme bieten. Ohne Zweifel ist dies ein wichtiger erster Schritt in der Rekonstruktion öffentlicher Debatten.53 Theoretisch und praktisch bedeutsamer sind dann aber vor allem die argumentative Funktion und das Zusammenspiel einzelner Stränge dieser öffentlichen bzw. politischen Diskussion. In dieser Debatte lassen sich, zunächst rein analytisch und zu heuristischen Zwecken, drei Diskurse beschreiben – ein Forschungs-Diskurs, ein Diskurs der öffentlichen Gesundheitsvorsorge sowie ein Diskurs der Individualmedizin –, die mit ihren Kommunikationsstrukturen jeweils aneinander gekoppelt sind und eben dadurch, wie uns scheint, auch machtpolitische Effekte hervorrufen könnten. Diese drei Diskurse können wie folgt charakterisiert werden: •

Forschungs-Diskurs: Dessen Gegenstände/Themen sind unter anderem Biobanken, populationsgenetische Daten, die Suche nach genetischen Faktoren für seltene, zumeist durch die Veränderung in einem Gen bedingte, aber auch für häufige, multifaktoriell verursachte Krankheiten sowie die Modellierung von Beziehungen zwischen genetischen und der Umwelt entstammenden Krankheitsursachen mit der Möglichkeit der Stratifizierung von Risikogruppen. Das in diesem Diskurs zum Tragen kommende Legitimationsmuster baut auf die Erweiterung des Grundlagenwissens über verbreitete Krankheiten und verspricht damit eine mögliche Verbesserung der Grundlage öffentlicher Gesundheitsvorsorge und individualmedizinische Verbesserungen hin-

53 Vgl. die Arbeiten von Jürgen Gerhards/Mike Steffen Schäfer: »Öffentliche Debatten über Humangenomforschung in Deutschland und den USA im Vergleich«, in: GENOMXPRESS, Informationen aus der deutschen Genomforschung, 2 (2003), S. 15–16.

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sichtlich Früherkennung, Diagnose und Therapie. Sein Bezug zu anderen Diskursen besteht in der Übernahme von individualmedizinischen Argumenten einerseits und solchen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge (Public Health) andererseits. Auch auf dem Gebiet der Populationsgenetik wird in diesem Sinne auf einen Forschungsbedarf verwiesen, sofern es nicht um reine Grundlagenforschung geht. Es werden also diejenigen Forschungsansätze mit Legitimationen gekoppelt, die eine Verbesserung der öffentlichen Gesundheitspolitik (zum Beispiel risikogruppenspezifische Vorsorgemaßnahmen, Früherkennung, Beratung usw.) bzw. der individuellen Versorgung versprechen.54 Diskurs der öffentlichen Gesundheitsvorsorge: Seine Gegenstände/Themen sind das Screening der Bevölkerung, das Neugeborenen-Screening, Beratungsangebote sowie die Ausbildung von Gesundheitspolitikern und Medizinern. Vorsorge und Überwachung fließen hier recht zwanglos ineinander. Das Legitimationsmuster, das dieser Kommunikationsstrang bietet, besteht in der verbesserten Entdeckung von Risikogruppen im präventiven Einsatz von »genetischem Wissen« und dadurch in einer möglichen Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Gesamtbevölkerung – so jedenfalls das Versprechen. Was das jedoch bedeutet – Diagnose und Beratungsangebote oder Zwangsscreening – wäre genauer zu untersuchen. Die hier vorfindlichen Legitimationsargumente stützen sich einerseits auf den Forschungsdiskurs: Weil Forschung nötig ist, sind gegebenenfalls Bevölkerungs-Screenings erforderlich. Die Forschung wiederum – so die Begründung – ist sinnvoll und ertragreich, weil sie Hinweise auf Stratifizierungen und damit Prognosemöglichkeiten gibt. Flankierend werden implizit auch individualethische Gesichtspunkte geltend gemacht: Auch für die öffentliche Gesundheitsvorsorge ist das Argument notwendig, dass es im Einzelfall tatsächlich reale Möglichkeiten der Diagnose, Prävention und Therapie gibt, sonst stellt sich sofort wieder die Frage, wozu die öffentliche Beschäftigung mit dem Thema dienen sollte. Diskurs der Individualmedizin: Seine Gegenstände/Themen sind Diagnose, Therapie und Prävention bezogen auf einzelne Patienten. Dazu gehört auch die (hier ausgeklammerte) humangenetische Beratung. Praxisrelevant sind derzeit vor allem Gentests und die Subklassifikation von Krankheiten aufgrund von Genexpressionsprofilen, während sich Möglichkeiten der Genthe-

54 Angela Brand/Heiner Brand/Tobias Schulte in den Bäumen: »The impact of genetics and genomics on public health«, in: European Journal of Human Genetics 16 (2008), S. 5–13.

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rapie allenfalls abzuzeichnen beginnen. Die Legitimationsform, die dieser Diskurs anbietet, stützt sich auf die Möglichkeiten verbesserter individueller Behandlung und Vorsorge. Im Unterschied zu den anderen Diskursen bezieht sich der individualmedizinische nur auf sich selbst (Individualrechte im ArztPatient-Verhältnis). Das heißt, er benötigt keine Legitimation aus den anderen Diskursen. Das Arzt-Patient-Verhältnis ist nicht instrumentalisierbar für externe Zwecke; es kann, soweit es intakt ist, als solches weder der Forschung noch dem Gemeinwohl dienen und von dort her irgendeine Art von Legitimation beziehen. Eine strukturelle Verknüpfung dieser Diskurse ergibt sich aus den erwähnten legitimationstheoretischen Argumenten. Eine Legitimation für public health genetics im Sinne einer Vorsorge mittels des Einsatzes genetischer Erkenntnisverfahren und genetischen Wissens über Krankheitsrisiken und für populationsgenetische Forschung basiert am Ende auf der allein individualmedizinisch relevanten Erwartung, dass dieses Wissen zur Diagnose und Behandlung einer Krankheit bei individuellen Patienten tatsächlich eingesetzt werden kann. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist oder in absehbarer Zeit erfüllbar erscheint, tragen die Begründungen für bestimmte Forschungsaktivitäten (Biobanken, Bevölkerungsscreening). Auf dem Gebiet der Legitimationsdiskurse liegen bislang kaum systematische Studien vor. Basierend auf den Untersuchungen zu den oben skizzierten Themenfeldern könnten hier insbesondere Arbeiten angestrebt werden, die einerseits an die sogenannten governmentality studies55 anschließen, andererseits aber auch direkte Bezüge zu den im Folgenden beschriebenen normativen Problemen im öffentlichen Diskurs aufweisen. Die Analyse der öffentlich bzw. in bestimmten Politikarenen kommunizierten Leitbilder führt dann, wenn die hier skizzierten Vermutungen sich als tragfähig erweisen, zurück zur Frage nach den in der Alltagspraxis zu erwartenden Implikationen für Ärzte und Patienten. Hier sind vor allem diejenigen zu nennen, die sich im Kontext der sogenannten »individualisierten Medizin« ergeben. Es wird deshalb ein wichtiges Projekt sein, sich empirisch diesen medizinischen Praktiken, dem Handeln von Medizinern im Alltag, ihrer Kommunikation mit Patienten am Krankenbett und in der ambulanten Praxis zuzuwenden und zu eruieren, ob und gegebenenfalls welche Veränderungen sich dort im Zuge der »Genetisierung« und genetischen Individualisierung von Medizin beobachten lassen.

55 Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000; Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität, Frankfurt/M. 2004, 2 Bände.

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Professionalität und Arzt-Patient-Beziehungen in Praxis und Ausbildung Aus den bislang diskutierten Themenlinien ergibt sich die Frage, in welcher Weise und mit welchen Folgen der Einsatz von biomedizinischer Technologie die Individualmedizin verändert. Um diese Frage beantworten zu können, ist ein professionalisierungstheoretischer Blick auf die konstitutiven Bedingungen ärztlichen Handelns in der individualmedizinischen Alltagspraxis erforderlich. Ärztliches Handeln wird von der soziologischen Theorie geradezu als Prototyp professionalisierten Handelns beschrieben. Mit Professionalisierung wird dabei im Unterschied zum umgangssprachlichen Begriffsgebrauch und in Abgrenzung von anderen Formen beruflicher Tätigkeit eine ganz spezifische Form der Problemlösungskapazität bezeichnet, die stellvertretend und gleichzeitig in Kooperation mit dem Patienten (respektive Mandanten oder Klienten) ins Werk gesetzt wird. Der Begriff »Profession« bezeichnet eine Gruppe von Akteuren, die sich gegenüber anderen durch die Fähigkeit auszeichnen, wissenschaftliches Wissen in praktische, typischerweise fallbezogene Handlungskompetenz zu übersetzen. Professionen umfassen Tätigkeiten, die erstens die Fähigkeit zur Anwendung spezifischer kultureller und intellektueller Kompetenzen implizieren, die zweitens eine formalisierte Ausbildung sowie die institutionalisierte Evaluation der Ausbildung wie der Ausgebildeten voraussetzen und die schließlich drittens institutionalisierte Mechanismen zur sozial verantwortlichen Nutzung solcher Kompetenzen benötigen. Als Beispiele werden meist juristische, medizinische und andere therapeutische Tätigkeiten genannt. Wichtig ist vor allem zu sehen, dass Professionals sich kategorial von Technokraten oder Bürokraten unterscheiden. Während die Fähigkeiten der Letztgenannten vornehmlich im Anwenden einmal gelernter Schemata bestehen, zeichnet sich professionelles Handeln durch einen spezifischen Fallbezug aus. Unter Verwendung wissenschaftlichen Wissens wird in Kooperation mit dem Patienten dessen lebenspraktisches Problem bearbeitet. Dabei gibt der Patient – und das ist das Prekäre an dieser Konstellation – seine Handlungsautonomie in Bezug auf den fraglichen Fall an den Professional ab, der insoweit gewissermaßen stellvertretend für den Patienten agiert.56 Insofern besteht seine Kompetenz typischerweise nicht in der schemati-

56 Ulrich Oevermann: »Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns«, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hg.), Pädagogische Professionalität, Frankfurt/M. 1996, S. 70–182. Diese Übertragung von Handlungsautonomie im sogenannten »Arbeitsbündnis« steht nicht im Gegensatz zu der in der bioethischen Diskussion stets re-

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schen (in Oevermanns Worten: technokratischen) Anwendung quasi ›fertigen‹ Wissens, sondern in der fallbezogenen Problemlösung, die wissenschaftliche Kompetenz und praktisches Wissen erfordert. Rudolf Stichweh legt deshalb in seiner Professionstheorie den Schwerpunkt nicht so sehr auf die professionelle Übertragung einmal erworbenen (akademischen) Wissens und dessen Anwendung in anderen Bereichen, sondern sehr viel stärker auf die Resonanz wechselseitigen Beobachtens.57 Die technologische Entwicklung der Biomedizin wirft Fragen in allen drei oben erwähnten Aspekten professionellen Handelns auf: Erstens stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise das praktische ärztliche Handeln durch technologische Innovationen tangiert ist. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von technokratischem und professionellem Handeln wäre vor allem zu untersuchen, ob und inwiefern durch die sich abzeichnenden, in hohem Maße verwissenschaftlichten biomedizinischen Diagnose- und Therapieansätze sich ein eher technokratisches Bild des Patienten, seines Gesundheitszustandes und entsprechender ärztlicher Handlungsformen abzuzeichnen beginnt. Zu diesem Zwecke wären empirische Studien im Bereich konkreter Arzt-Patient-Interaktionen erforderlich, die sich etwa den folgenden Fragestellungen widmen: Wie verändert biomedizinisches Wissen das professionelle Handeln der Mediziner durch gesteigerte »Technokratisierung« (Stichworte Autonomieverlust, De-Professionalisierung)? Wie verändert die zunehmende Standardisierung entsprechender Diagnose- und Therapieverfahren die Qualifikationsanforderungen (Professionalisierungsanforderungen) nicht nur im Sinne von mehr Wissenserwerb, sondern auch im Sinne von Autonomieanforderungen im Umgang mit technologischen Möglichkeiten? Wie nehmen Mediziner solche Veränderungen wahr und inwiefern sind sie dabei durch ihre insti-

klamierten Entscheidungsautonomie des Patienten. Konstitutiver Bestandteil der Kooperation zwischen Professional und Patient ist gerade die Klärung der Grenzen dieser Autonomie. Nicht der Patient, sondern der Arzt kennt die aufgrund einer Diagnose zur Verfügung stehenden therapeutischen Optionen. Er wird aber – sofern diese Optionen weitreichende Folgen haben – im Rahmen der die Autonomie des Patienten sichernden Aufklärungspflicht die Letztentscheidung über den Fortgang der Behandlung beim Patienten belassen. Interessant wird es vor diesem Hintergrund insbesondere sein, die bioethischen Autonomiepostulate noch einmal vor dem Hintergrund der professionssoziologischen Diskussion zu prüfen. Wie sehen konkrete Ausprägungen der hier skizzierten Kompetenzverteilung angesichts der vorher diskutierten Veränderungen in der Biomedizin dann im Detail aus? 57 Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen, Frankfurt/M. 1994.

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tutionellen Rahmenbedingungen (Arbeitsbedingungen, öffentliche Bedingungen der Finanzierung von Gesundheit, Leitlinien, Gebührenordnungen etc.) auf ein »technokratisches« Handlungsmodell verwiesen? Zweitens ist zu fragen, ob und in welcher Weise die in den verschiedenen Themensträngen angesprochenen Probleme in angemessener Weise in den Prozess medizinischer Professionalisierung im universitären Ausbildungsgang integriert sind. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, in welchen Formen Professionalität überhaupt lehrbar und abprüfbar ist. Außerdem verschieben sich gerade durch technologische Innovationen momentan die Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen. Hier wird es aus wissenschaftssoziologischer Sicht interessant zu beobachten sein, ob und wie das Professionalisierungsproblem unter sich verändernden akademischen Rahmenbedingungen bearbeitet wird. Schließlich – und dieser Punkt stellt eine Verknüpfung mit dem folgenden Abschnitt her – ist zu untersuchen, ob und in welcher Weise die soeben skizzierten möglichen Veränderungen Resonanz in den Institutionen des Gesundheitssystems, in den professionspolitischen Organisationen und bei den Patientenverbänden erzeugen. Hier tauchen die eingangs erörterten ethischen und normativen Fragen auf der Ebene konkreter Regulierung professionellen Handelns wieder auf. Es ist zu vermuten, dass eine ›Genetisierung‹ der öffentlichen Gesundheitsvorsorge jedenfalls nicht zwangsläufig auch die Versorgung von Patienten verbessern wird. Vielmehr müssten nach den hier entwickelten Hypothesen weitere professionstheoretisch relevante Faktoren hinzukommen. Normative Fragen Einleitend wurde auf die allgemeine Janusköpfigkeit technologischer Innovationen hingewiesen. Diese unauflösbare Verknüpfung von Fortschritt und Bedrohung, Chancen und Risiken wird, wie wir zu zeigen versucht haben, in besonderem Maße in der modernen, biotechnisch forcierten Medizin sichtbar. Als technoscience, das heißt als besonders eng gekoppelte Verbindung von wissenschaftlicher Grundlagen- und technologischer Anwendungsorientierung, verknüpft sie in neuer Form soziale Deutungsmuster und technologische Innovationen, ist sie einem sehr raschen Wandel unterworfen und wirft eben deswegen fortlaufend neue normative Fragen auf. Sie fordert insofern in besonderer Weise zu Gestaltung und Innovation auch in rechtlicher, politischer und ethischer Hinsicht auf. Einerseits sind mit der Diffusion biomedizinischer Innovationen in die Alltagspraxis nicht unerhebliche Hoffnungen auf Qualitätsverbesserungen in der medizinischen Versorgung verbunden. So verspricht man sich in der Individual-

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diagnostik und Therapie unter anderem die Präzisierung von Krankheitsbildern, eine Verringerung von Fehldiagnosen, zielgenauere und nebenwirkungsärmere Therapieformen, die Verringerung von Fehlbehandlungen, die Früherkennung von Personen mit genetischen Risiken sowie Chancen für individuelle Maßnahmen der Prävention. Die öffentliche Gesundheitsvorsorge hofft auf eine frühere Erkennung von spezifischeren Risikofaktoren und -profilen von Einzelpersonen und Personengruppen, eine bessere Gewichtung von verhaltens- und umweltbezogener Prävention, die Vermeidung von ›Fehlprävention‹, eine Neubestimmung von Präventionsformen (Primär-, Sekundär-, Tertiärprävention), die Vermeidung oder Reduktion der Exposition bei genetischer Disposition, effektivere Massenscreenings, Verringerung der Effekte genetischer Ungleichheit, zielgruppenspezifischere Versorgungsplanung und eine Präzisierung sektoraler Aufgaben der Gesundheitsversorgung. Andererseits stellen sich, wie in den vorangegangenen Abschnitten bereits angedeutet, neue Fragen nach den Implikationen der technoscience Biomedizin. Angesichts der ökonomisch bedingten Ungleichheiten, die sich im Zuge von Medikalisierung und Individualisierung abzeichnen, ist etwa nach der Verfügbarkeit der Angebote, dem allgemeinen und gleichen Zugang zu ärztlichen Leistungen zu fragen. Dies gilt sowohl innerhalb der nationalen Gesundheitssysteme als auch in verschärfter Form in globalen Zusammenhängen. Hier haben in letzter Zeit etwa die Diskussionen um HIV-Medikamente das Ausmaß globaler Ungleichheit und die Dimension internationaler Gerechtigkeit sichtbar werden lassen. Vergleichbare Probleme werden sich mit der Biomedizin in vermehrter Zahl stellen. Zurzeit zeichnet sich ein Trend zur Privatisierung und gleichzeitigen – oft über das Internet vermittelten – Internationalisierung gendiagnostischer Leistungen ab. Sowohl im Hinblick auf geschützte Individualgüter (Persönlichkeitsrechte und Datenschutz) als auch im Hinblick auf ordnungsrechtlich relevante Maßstäbe der Qualitätssicherung könnte dies problematisch werden, da die in vielen Fällen grenzüberschreitend angebotenen Tests sich eventuell der klassischen nationalstaatlichen Kontrolle zunächst entziehen. Die Folgen für staatliche Gesundheitspolitik und für die Sozialversicherungssysteme sind möglicherweise weitreichend. Die neuen diagnostischen und therapeutischen Optionen, die sich abzeichnen, berühren verstärkt Fragen des Rechts auf (Nicht-)Wissen, auf informierte Wahl der Behandlungsmethode, auf Sicherstellung adäquater Formen der genetischen Beratung bzw. individuellen Risikokommunikation (möglicherweise Arztvorbehalt) sowie auf Freiwilligkeit des Angebots (vor allem auch mit Blick auf Dritte, bspw. Arbeitgeber, Versicherungen). Die Rolle der sozialen Umgebung der Patienten (Familiensysteme als Entscheidungsträger) und deren rechtlich-

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normative Konsequenzen stellt ein weiteres Untersuchungsfeld dar. Im Übrigen sind auch denkbare Trends zu eugenischen Praktiken, Perfektionsansprüche bei der Reproduktion und die mögliche Erosion von Werten Untersuchungsgegenstände, die dann im Zusammenhang mit regulativen Aspekten des Rechts und der Ethik zu erörtern wären. In rechtlich-politischer Hinsicht ist im Kontext des seit Februar 2010 gültigen Gendiagnostikgesetzes beispielsweise zu überlegen und zu untersuchen, ob die Qualität von genetischen Interventionen durch Zertifizierungsmaßnahmen von Gentests und Gentestanbietern tatsächlich sichergestellt werden kann. Sozialwissenschaftliche und juristische Analysen können bei der Bearbeitung der Frage kooperieren, welche Instrumente und Formen der umfassenden öffentlichen und behandlungsbezogenen Aufklärung der Bevölkerung angestrebt werden können und sollen. Zum Beispiel ließe sich untersuchen, ob und gegebenenfalls wie im Arzt-Patient-Verhältnis durch entsprechende Ausgestaltung der GKV-Leistungskataloge sichergestellt werden kann, dass zertifizierte genetische Angebote für alle gleichermaßen zugänglich sind. Klare Regelungen des Rechts auf Nichtwissen und die informierte Wahl der Behandlungsmethode wären zu diskutieren. Im Zusammenhang mit Individualisierung und Medikalisierung sind veränderte Anspruchskonstellationen von Bedeutung. Ergeben sich aus Fortschritten in der Stammzelltechnologie Ansprüche auf ein ›helper baby‹ oder (etwa bei der Organlebendspende) an konkrete andere? Erleben wir – worauf einzelne Stimmen in der Ethikdebatte bereits hinzudeuten scheinen – das Entstehen einer »seitenverkehrten Verantwortungsethik«?58 Bisher hatten Solidarität mit und Nichtdiskriminierung von Kranken/Patienten einen hohen Stellenwert. Jetzt geht es um Verschiebung von Verantwortungslasten auf genetisch Belastete. Im Extremfall kann sich sogar eine Art von Sozialpflicht zur Offenbarung genetischer Daten oder auch zur Teilnahme an Bevölkerungsstudien etablieren, wenn dies nach Maßgabe wissenschaftlicher Expertise erforderlich ist, um neue genetische Prädispositionen ausfindig zu machen, die nur durch Massenuntersuchungen identifiziert werden können. Populationsgenetische Forschung berührt neben den üblichen forschungsethischen Fragen weitergehende Werte und Rechte, die öffentlich geschützt sind. Im Falle der Biobanken ist dies die freiwillige Teilnahme und informierte Zustimmung (informed consent), deren Reichweite und Bedeutung hier in neuer Weise infrage gestellt werden. Hinzu kommen Fragen des Datenschutzes, der öffentlichen Kontrolle, der Verfügbarkeit über Daten und Forschungsergebnisse, aber auch Fragen der Grenzen überschreitenden Forschung, die, wie eingangs

58 G. Feuerstein/R. Kollek: »Risikofaktor Prädiktion«.

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schon erläutert wurde, jenseits der Ebene ethischer Grundsatzdebatten angesiedelt sind aber dennoch nach normativen Antworten verlangen.59 Biobanken werfen neue rechtliche Fragen auf, die noch nicht abschließend geklärt sind. Ansatzpunkte zur Behandlung einzelner Probleme (Schutz der Persönlichkeitsrechte, Datenschutz) wurden in der Praxis bereits entwickelt, sollten jedoch evaluiert und gegebenenfalls verbessert werden. Schließlich werden sich im Zuge der Verbreitung biomedizinischer Innovationen Implikationen für die öffentliche Gesundheitsvorsorge ergeben. Zwar sind die tatsächlichen Möglichkeiten von Präventionsmaßnahmen und ihre Effizienz noch äußerst unklar, gleichwohl gibt es Stimmen, die einen gezielten Einsatz insbesondere genetischer Verfahren und Erkenntnisse auf diesem Gebiet fordern. Dabei tauchen, wie erwähnt, Fragen auf, die einer normativen Bearbeitung bedürfen. Diese betreffen die informierte Zustimmung und Freiwilligkeit (»Zwangs-Vorsorge« und persönliche Autonomie), die aktive Beratung, die Rolle der Familie in krankheits- bzw. gesundheitsbezogenen Entscheidungsprozessen, die Sozialdisziplinierung abweichenden Verhaltens, die Konflikte zwischen individuumsbezogenem Autonomierespekt und gesellschaftlichem Gesamtnutzen/Gemeinwohl sowie zwischen erzwungener Information und dem Recht auf Nichtwissen. Für politische Handlungsoptionen sind außerdem relevant: die derzeit zu beobachtende Privatisierung gendiagnostischer Angebote, die oben angesprochene Frage der öffentlichen Qualitätskontrolle und der Regulierung öffentlich zugänglicher Angebote sowie die Frage der öffentlichen Kommunikation und partizipativer Formen der Technikbewertung. Nicht zuletzt sind nahezu alle zuvor genannten Aspekte auch in der Aus- und Weiterbildung der Ärzte von Bedeutung. Hier sind Synergien zwischen professionalisierungstheoretischen Studien und normativen Analysen gut vorstellbar. Die normativen Aspekte der technoscience Biomedizin, darauf hatten wir eingangs schon hingewiesen, liegen nicht mehr so sehr im Bereich ethiktheoretischer Grundsatzfragen, auch wenn diese immer wieder mit thematisiert werden. Der Schwerpunkt aller Überlegungen liegt vielmehr, wie der eher kursorische Überblick zeigen sollte, auf Detailfragen der politischen, rechtlichen und ökonomischen Regulierung. Die hier versammelten Beiträge tragen wertvolle Einzelbausteine zu dieser alles in allem komplexen und übergreifenden Thematik gesellschaftlicher Deutungsmuster und der sozialen Praxis der Biomedizin zusammen.

59 Lösungsansätze hierzu finden sich beispielsweise in Nikolaus Forgó et al.: Ethical and Legal Requirements for Transnational Genetic Research, München 2010.

Einführung zu diesem Band S ASCHA D ICKEL , M ARTINA F RANZEN , C HRISTOPH K EHL

Die Struktur des Bandes orientiert sich an dem einleitend von Alfons Bora und Regine Kollek skizzierten Forschungsprogramm und gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil wird nach der sozialen Funktion von Bioethik und biomedizinischer Begleitforschung gefragt. Christoph Rehmann-Sutter reflektiert in seinem Beitrag »Gesellschaftliche, rechtliche und soziale Implikationen der Biomedizin: Zu der Rolle und den Aufgaben von ELSI-Begleitforschung« die Erfahrungen und Diskussionen um die ELSI-Programme des Humangenomprojekts, um sie aus politisch-philosophischer Sicht zu analysieren. Er plädiert für eine kritische Selbstbeobachtung dieser Forschung jenseits eines technologischen Determinismus. Mit »Risiko und Verfahren. Zur Legitimationsfunktion der Ethik am Beispiel von Ethik-Komitees und Ethikkommissionen der Arzneimittelforschung« beleuchten Elke Wagner und Gina Atzeni, auf welche Weise riskante Entscheidungen mithilfe des Labels der Ethik legitimiert werden. Dabei ist es gemäß ihrer These gerade die Unbestimmtheit dieses Labels, die es unterschiedlichen Perspektiven ermöglicht, aufeinander Bezug zu nehmen. Im zweiten Teil rekonstruieren die Autoren, wie wirkmächtige anthropologische und andere Deutungsmuster das medizinische Feld mit quasi-selbstverständlichen Handlungszielen ausstatten. Rolf van Raden beleuchtet aus historischer Perspektive zentrale Diskursstrategien, die aktuelle politische Auseinandersetzungen über gendiagnostische Verfahren strukturieren. Sein Beitrag »Tradierte Aussagesysteme. Psychiatrie und Biomedizin als Diskurs und politische Praxis« schlägt dabei den Bogen von der Psychiatrie des frühen 20. Jahrhunderts zur aktuellen Humangenetik. Julia Diekämper wendet sich in »Das Spiel des Lebens. Die Menschwerdung des Embryos mit den Mitteln der Sprache« dem Beispiel Fortpflanzungsmedizin zu. Anhand von populären Printmedien zeigt ihre diskursanalytische Studie, wie das öffentliche Reden über die Ein-

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flussnahme auf die menschliche Fortpflanzung wirkmächtig wird. Das spannungsreiche Verhältnis von Wissenschaft und Massenmedien greift Martina Franzen in ihrem Beitrag »Die ›Durchbrüche‹ der Stammzellforschung und ihre Folgen« auf. Am Fall der Stammzellforschung untersucht sie das Wesen wissenschaftlicher Durchbrüche und die Rolle wissenschaftlicher Zeitschriften im Medialisierungsprozess. Im dritten Teil des Sammelbands werden aktuelle biomedizinische Entwicklungen ausgeleuchtet, die tradierte Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit verändern. Stefan Beck fragt in »Epistemische Dreiecksbeziehungen: Überlegungen zur Ko-Konstruktion von Krankheit, Individuum und Gesellschaft« nach den Vorstellungen des Sozialen und den Konzepten des Individuums, die in verschiedenen Krankheitskonzepten impliziert sind. Er stellt Überlegungen dazu an, wie die Medizin den Zusammenhang zwischen Umwelt und Körper, zwischen Pathologischem und Sozialem konstruiert. Die Konstruktion des Gedächtnisses als epistemisches Objekt ist das Thema des Beitrags von Christoph Kehl. Seine historische und diskursive Analyse mit dem Titel »Der vermessene Geist: Das Gedächtnis als biopsychologisches Konstrukt« zeigt auf, dass die Psychologie, ihre Instrumentarien und Konzepte einen elementaren Bestandteil der Biologisierungsdynamik bilden, die verschiedene Gedächtnispathologien erfasst hat. In »Die Unterscheidung zwischen krankheitsbezogener und ›wunscherfüllender‹ Medizin – aus wissenschaftstheoretischer Sicht« analysiert Peter Hucklenbroich die Ziele der Medizin und die darauf basierenden Behandlungskriterien. Er kommt zu dem Schluss, dass vieles, was heute unter dem Begriff der wunscherfüllenden Medizin verhandelt wird, den genuinen Zielen der Krankenversorgung zuzurechnen ist. Hucklenbroichs Beitrag leitet über zum vierten Teil, in dem medizinische Versprechungen einer Perfektionierung des Menschen im Rahmen des Enhancement-Diskurses thematisiert werden. Hier wird geprüft, inwiefern die medizinische Logik von neuen gesellschaftlichen Erwartungsmustern überlagert wird. Peter Wehling analysiert in »Biopolitik in Zeiten des Enhancements: Von der Normalisierung zur Optimierung« die symbolisch-legitimatorische Dimension des biopolitischen Technisierungsprojekts human enhancement. Dabei geht er von der These aus, dass über den ›Erfolg‹ von Technisierungsprojekten nicht allein auf der Ebene funktionierender Artefakte, sondern auch auf der Ebene diskursiver Durchsetzung und argumentativer Überzeugungskraft entschieden wird. In »Verführung zur Grenzüberschreitung. Liberale Utopien des Enhancements« untersucht Sascha Dickel eben diese diskursiven Strategien. Er zeigt auf, wie sich Enhancement-Befürworter als rationale Aufklärer positionieren und aus der Perspektive einer imaginären Zukunft die Gegenwart defizitär erscheinen lassen.

E INFÜHRUNG ZU DIESEM B AND

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Der Beitrag »Enhancement als Problem der soziologischen Medikalisierungsforschung« von Fabian Karsch spannt eine Brücke vom Enhancement-Diskurs zur sozialen Praxis biomedizinischer Optimierung. Seine Erörterungen thematisieren die Entgrenzung der professionellen medizinischen Praxis im Hinblick auf eine ›wunscherfüllende‹ Medizin, die eigentlich als ›wunschgenerierende‹ Medizin aufgefasst werden müsse. Die Beiträge im fünften Teil schließlich gehen der Frage nach, ob und wie sich die Rollen von Arzt und Patient unter den Bedingungen ökonomischen Handlungsdrucks und angesichts des biomedizinischen Fortschritts verändern. Die Fallstudien machen sowohl neue Probleme als auch neue Handlungsmöglichkeiten sichtbar. Den Auftakt macht Günter Feuerstein in »Der Arzt als Gesundheitsingenieur? Wissenschaft, Technik und das Schicksal der Autonomie«. Er beschäftigt sich mit der aktuellen Krise der traditionellen Arztrolle, mit Spielarten und Fiktionen der Autonomie von Arzt und Patient und der Wiederkehr des Paternalismus. Im Anschluss daran widmet sich Niels Heyen aus professionalisierungstheoretischer Perspektive dem ärztlichen Handeln in der prädiktiven genetischen Beratung. Sein Beitrag »Der Arzt in der prädiktiven genetischen Beratung: ein Gesundheitsingenieur?« verweist auf die inhärenten Spannungen, die charakteristisch für diese Form des Beratungsgesprächs sind. Auch Anne Brüninghaus untersucht in »Prädiktives genetisches Wissen und individuelle Entscheidung: Eine topologische Skizze« die Implikationen der prädiktiven Gendiagnostik. Ihr Fokus liegt auf den Ratsuchenden, deren Entscheidung für oder gegen eine gendiagnostische Untersuchung häufig schwierige persönliche und manchmal lebenskritische Situationen zugrunde liegen. Aus bildungstheoretischer Sicht rekonstruiert sie anhand eines empirischen Beispiels die individuellen Entscheidungswege und stellt diese als biographische Entscheidungstopologien dar. In »Pathologisierung, Hospitalisierung und Technisierung der letzten Lebensphase. Zum biomedizinischen Umgang mit dem Sterben« diagnostiziert Uwe Krähnke eine Unfähigkeit des medizinischen Systems, das die Rolle des Arztes auf Heilung festlegt, mit der finalen Lebensphase adäquat umzugehen. Vor dem Hintergrund der zu beobachtenden biomedizinischen Pathologisierung Sterbender wagt er die Prognose, dass sich Sterbebegleitung langfristig aus dem System der medizinischen Krankenbehandlung auslagern wird.

I Zur Funktion der Reflexion der Biomedizin

Gesellschaftliche, rechtliche und ethische Implikationen der Biomedizin Zu der Rolle und den Aufgaben von ELSI-Begleitforschung C HRISTOPH R EHMANN -S UTTER

Aus politisch-philosophischer Sicht stehen im Verhältnis zwischen biomedizinischer Forschung und Gesellschaft zwei Funktionen von sozialwissenschaftlicher und ethischer Begleitforschung im Vordergrund: erstens die Arbeit an der Akzeptabilität biomedizinischer und biotechnologischer Innovationen und zweitens die Einlösung des Versprechens der Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft. Diese These soll in diesem Kapitel entwickelt werden. Ich greife auf die Erfahrungen und Diskussionen um die ELSI-Programme des Humangenomprojekts zurück, um daraus Folgerungen abzuleiten, die auch für andere Bereiche der Biomedizin außerhalb der DNA-Sequenzierung tragfähig sein sollen. Ich gehe davon aus, dass biomedizinische Innovationen normativ und politisch relevant sind, weil sie (wie alle Technologie) mehr sind als verbesserte Mittel zu vorgegebenen Zwecken. Da die Instrumente gleichzeitig die Bedingungen verändern, unter denen Menschen zusammenleben, vermag die bloße Instrumentalität von Biotechnologien ihre lebensweltliche Bedeutung nicht abzubilden.1 Akzeptabilität soll unterschieden werden von Akzeptanz. Akzeptanz muss empirisch erhoben werden und ist ein Maß für die faktische (oder erhoffte) Bereitschaft der Gesellschaft, bestimmte technologische Angebote in ihre Lebenswelten zu inkorporieren. Akzeptabilität hingegen ist ein normativer Begriff und meint die Fähigkeit oder die Würdigkeit bestimmter technologischer Angebote, als Bestandteil der Lebenswelten akzeptiert zu werden. Faktisch akzeptierte Technologien müssen nicht unbedingt immer akzeptabel sein. Ein Beispiel ist

1

Vgl. Alfred Nordmann: Technikphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008, Kap. 2.

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heute die Verbrennung fossiler Treibstoffe. Umgekehrt können grundsätzlich akzeptable Technologien dennoch auf Ablehnung stoßen. Ein Beispiel sind an Nachhaltigkeit orientierte, sozialverträgliche und ökologisch ›sichere‹ gentechnologisch veränderte Nutzpflanzen in Europa. Akzeptabilität zu ermitteln, erfordert eine Handlungsperspektive. Diese zu eröffnen, bedarf ebenfalls empirischen Wissens: Wissen über die relevanten Details der Situationen, in denen Menschen sich befinden können. Sie bedarf aber auch der ethischen Reflexion im Bezug auf technologische Risiken.2 Der Fortschrittsanspruch der Wissenschaft kann als ein Versprechen gedeutet werden, das an die Vertrauenswürdigkeit ihrer Entwicklungsziele gebunden ist. Vertrauenswürdigkeit kann nur erreicht werden, wenn die Ziele an die Bedürfnisse der Gesellschaft rückgekoppelt bleiben und sich nicht durch Sachzwänge oder Zufälle autonom verselbstständigen. Die Reflexion und die Rückkoppelung sind Aufgaben einer Begleitforschung, die von den in biomedizinischen Institutionen gebündelten Interessen unabhängig ist. Institutionsinterne Annahmen darüber, was für die Menschen in der Gesellschaft gut ist, bleiben abhängig vom gewählten institutionellen Bezugssystem, von einer gewählten Ideologie oder einer bestimmten, vorab als gültig angenommenen umfassenden Perspektive auf das, was ein »gutes Leben« ausmacht.3 Deshalb sind sie als Orientierung nicht anspruchsvoll und nicht zuverlässig genug, um im Rahmen einer öffentlichen Beratung die Freiräume zu schaffen, in denen eine Gesellschaft im Bezug auf Technologien handlungsfähig wird. Ich werde zuerst die Zielsetzungen verschiedener Phasen der ELSI-Programme des Humangenomprojekts beleuchten, sodann die wichtigsten kritischen Einwände diskutieren, die gegen die ELSI-Forschung vorgebracht wurden. Meinen eigenen Vorschlag für eine Neu-Justierung von ELSI-Begleitforschung entwickle ich auf der Grundlage einer erweiterten sozialwissenschaftlichen Sicht auf die Biotechnologien jenseits des technologischen Determinismus, im Rahmen eines Modells von Governance.

2

»The question of acceptability of risk involves freedom as well as justice«, aus: Mary Douglas: Risk acceptability according to the social sciences, London 1985, S. 10.

3

Ich gehe von einem liberalen Politikverständnis aus, das Wert auf die Freiheit der Einzelnen und Gruppen legt, ihre eigenen umfassenden Vorstellungen des guten Lebens zu entwickeln. Vgl. Katharina Beier: Zwischen Beharren und Umdenken. Die Herausforderung des politischen Liberalismus durch die moderne Biomedizin, Frankfurt/M. 2009.

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G ESELLSCHAFT ?

Zwei Jahre nach der Fertigstellung der ersten kompletten menschlichen Genomsequenz (2003) erschien 2005 im Journal of the American Medical Association (JAMA) ein Kommentar zu den Versprechungen der Genomik für die biomedizinische Forschung. Die Autoren waren Alan E. Guttmacher und Francis S. Collins, ihres Zeichens Vizedirektor und Direktor des National Human Genome Research Institute der National Institutes of Health, das für das amerikanische Humangenomprojekt verantwortlich war. Im Bezug auf das Verhältnis der Genomik zur Gesellschaft räumten sie der Untersuchung der »ethical, legal, and social implications« (ELSI) eine unverzichtbare Bedeutung ein. Interessant ist das Bild, das Guttmacher und Collins verwenden, um ihre Sicht der Aufgabe von ELSI-Forschung zu beschreiben: »The wisdom of the traditional watchwords primum non nocere applies to the societal implications of genomics at least as much as to its health implications.«4 Primum non nocere (lat.: zuerst einmal nicht schaden) ist ein zentrales Prinzip der traditionellen ärztlichen Ethik und das Bild für die Genomik-Gesellschaft-Beziehung ist demzufolge die Beziehung zwischen Ärztin (respektive Arzt) und Patient: Wie die Ärztin primär darauf achten soll, dem Patienten gesundheitlich nicht zu schaden, soll auch die Genomik primär darauf achten, der Gesellschaft nicht zu schaden. Um vorausschauend herauszufinden, wo Schäden drohen könnten, und um rechtzeitig Strategien zu ihrer Vermeidung oder Linderung zu entwickeln, brauche es die ELSIForschung. Gehört aber zu den hauptsächlichen Aufgaben der Begleitforschung die Schadensvermeidung? Und was suggeriert dieser Vergleich? Mit der Übertragung werden auch eine Bedürfnisstruktur und eine normative Konfiguration mit übertragen: Der Patient ist krank und bedürftig oder könnte es werden. Er hat der Ärztin einen Behandlungsauftrag erteilt, weil er hofft, dass sie ihm in der Krankheit helfen oder ihn vor ihr bewahren kann. Aber welches Leiden hat die Gesellschaft, worauf die Genomik5 die Antwort wäre? Es ist eher umgekehrt, dass sich das Forschungsfeld der Genomik seine nützlichen Anwendungen erst suchen musste. Aufgrund der von vielen Zufällen beeinflussten Wissenschaftsgeschichte ist es so gekommen, dass zum Beginn des 21. Jahrhunderts ein Bereich der Genomik entstand, der zweifellos ein großes Potenzial für medizinische Fort-

4

Alan E. Guttmacher/Francis S. Collins: »Realizing the Promise of Genomics in Biomedical Research«, in: Journal of the American Medical Association 294 (2005), S. 1399–1402.

5

Die Genomik steht hier stellvertretend für viele Entwicklungen in der Biomedizin.

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schritte birgt. Aber die Gesellschaft hat nicht wirklich danach gefragt. Es gibt nichts, was dem Behandlungsauftrag in der Ärztin-Patienten-Beziehung entsprechen könnte. Entsprechend suggeriert der Vergleich, dass eine grundsätzliche Legitimität der genetischen Fortschritte bestünde, so wie es grundsätzlich legitim ist, dass die Medizin den Patienten nach ihren Möglichkeiten Hilfe anbietet, und dies nicht nur, wenn sie darum bitten. In der Medizin kommt es darauf an, das Arrangement zwischen Patient und Ärztin, das aus dem Leiden auf der einen Seite und dem Können auf der anderen Seite entsteht, nicht auszunützen. Wenn ein Arzt eine unerprobte Behandlung versucht, muss er darauf achten, dem Patienten, der seine Einwilligung aus Hoffnung und Vertrauen gibt, immerhin nicht zu schaden (primum non nocere!). Guttmacher und Collins behandeln die Genomik, um ein anderes Bild zu finden, wie eine Art Supertanker, der zielgerichtet die Meere durchsticht, aber schwerfällig zu steuern ist und einen langen Bremsweg hat. Der Supertanker braucht kluge Steuerleute und vielfältige Informationen über Wetter und über die Position anderer Schiffe, Eisberge etc., um Havarien zu vermeiden. Ich will das von Guttman und Collins gezeichnete Bild des Verhältnisses zwischen Genomik und Gesellschaft das Supertanker-Modell nennen, ohne das Bild überstrapazieren zu wollen. ELSI hat darin die Rolle von klugen, aber beauftragten und in diesem Sinne abhängigen Navigatoren.

Z IELE

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Wenn wir die Ziele anschauen, die 1998 für die Förderung der ELSI-Forschung des Humangenomprojekts vorgegeben wurden, erinnert einiges an das Supertanker-Modell. Für die Dauer von fünf Jahren wurden sie folgendermaßen formuliert:6 • • •

6

Examine the issues surrounding the completion of the human DNA sequence and the study of human genetic variation. Examine issues raised by the integration of genetic technologies and information into healthcare and public health activities. Examine issues raised by the integration of knowledge about genomics and gene-environment interactions into non-clinical settings.

Francis S. Collins et al.: »New Goals for the U.S. Human Genome Project: 1998– 2003«, in: Science 282 (1998), S. 682–689.

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• •

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Explore ways in which new genetic knowledge may interact with a variety of philosophical, theological, and ethical perspectives. Explore how socioeconomic factors, gender, and concepts of race and ethnicity influence the use and interpretation of genetic information, the utilization of genetic services, and the development of policy.

Es sollte also untersucht werden, welche ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Probleme durch die Sequenzierung des menschlichen Genoms, die Erfassung genetischer Variationen und durch Gentechnologien am Menschen entstehen können, welche Probleme sich für die medizinische Versorgung und das öffentliche Gesundheitswesen und auch für nicht-klinische Settings ergeben. Es sollte untersucht werden, wie das neue genetische Wissen mit verschiedenen philosophischen, theologischen und ethischen Perspektiven interagiert. Und es sollte der Einfluss studiert werden, den sozioökonomische Faktoren, das Geschlecht und die ethnische Zugehörigkeit auf die Anwendung, das Verständnis und die Interpretation genetischer Information sowie die Nutzung genetischer Services und die Entwicklung von Steuerungsinstrumenten haben.7 Der Schwerpunkt wurde auf die möglichen Folgeprobleme einer Entwicklung gelegt, die als solche feststand und im Hinblick auf seine gesellschaftliche Wünschbarkeit nicht hinterfragt werden sollte. Im Jahr 2003, nach dem Abschluss des Sequenzierungsprojekts, hat das Human Genome Research Institute neue »grand challenges« der Genomforschung für die nächsten Jahre definiert. Darin finden sich auch neue Ziele für die ELSIForschung:8 (1) Intellectual property issues surrounding access to and use of genetic infor-

mation; (2) Ethical, legal and social factors that influence the translation of genetic in-

formation to improved human health;

7

Vgl. den Kommentar von Nikola Biller-Andorno: »Das ELSI-Programm des U.S.amerikanischen Humangenomprojekts – neue Perspektiven für die Medizinethik?«, in: Ethik in der Medizin 13 (2001), S. 243–252.

8

Francis S. Collins et al.: »A vision for the future of genomics research«, in: Nature 442 (2003), S. 835–847. Die hier abgedruckten Ziele für ELSI ab 2003 sind der Website des National Human Genome Research Institute entnommen: »ELSI Research Program«, vgl. http://www.genome.gov/10001618 vom 19.5.2010. Am 11.3.2011 wurde eine erweiterte Liste von »ELSI Research Priorities and Possible Research Topics« publiziert (www.genome.gov/27543732).

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(3) Issues surrounding the conduct of genetic research; (4) Issues surrounding the use of genetic information and technologies in non-

health care settings; (5) The impact of genomics on concepts of race, ethnicity, kinship and individ-

ual and group identity; (6) The implications, for both individuals and society, of uncovering genomic

contributions to human traits and behaviors; (7) How different individuals, cultures and religious traditions view the ethical

boundaries for the uses of genomics. Bemerkenswert an dieser Auflistung ist, dass die ursprünglichen ELSI-Ziele in wesentlichen Punkten ausgeweitet und präzisiert wurden. Aber nach wie vor herrscht die Auffassung vor, dass die ELSI-Forschung der Genomik bei ihrer möglichst sozialverträglichen und ethisch korrekten Realisierung und Anwendung helfen soll: So sollten die Fragen des geistigen Eigentums und der Patentierung von genetischer Information geklärt werden. Ein besonderer Fokus sollte auf der Übersetzung (translation) der Genomik in die Klinik liegen. Es sollte weiter untersucht werden, welche Fragen sich in der Durchführung genetischer und genomischer Forschung ergeben. Die Verwendung genetischer Informationen außerhalb des Gesundheitswesens sollte studiert werden, insbesondere die Auswirkungen der Genomik auf Rasse, Ethnizität, Verwandtschaft und die Konzeptionen des Individuums und der Gruppenidentitäten. Es sollten Erkenntnisse darüber generiert werden, wie sich das Wissen in Bezug auf die genetischen Anteile in der Verursachung von menschlichen Eigenschaften und des Verhaltens sowohl für die Einzelnen wie für die Gesellschaft auswirkt. Und es sollte des Weiteren aufgeklärt werden, wie verschiedene kulturelle Gruppen und religiöse Traditionen die ethischen Grenzen bei der Verwendung von genetischen Informationen sehen. Aus einer unabhängigen Perspektive stellt sich die Frage, ob diese Ziele die ELSI-Forschung nicht allzu sehr einengen und auf ›dienstbare‹ Projekte beschränken. Geht kritisches Potenzial verloren, wenn man diese Ziele in der Projektförderung umsetzt? Oder ist ein gewisser Pragmatismus am Platz, der realistischerweise davon ausgeht, dass genomisches Wissen tatsächlich produziert wird, dass die Gesellschaften tatsächlich mit den Auswirkungen der Verfügbarkeit genetischer Informationen konfrontiert sind und durch sie tief greifende Veränderungen erfahren? Es kann ja Sinn machen und auch aus ethischen Gründen wichtig sein, danach zu suchen, wie man den Bereich der Genomik möglichst nützlich, lebensförderlich, gerecht und sozialverträglich realisieren kann. Damit ist nicht ausgeschlossen, zusätzlich auch kritisch-sozialwissen-

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schaftliche und philosophische Forschungen zur Biomedizin zu unternehmen, die diese Vorgaben infrage stellen.

K RITIK

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ELSI

Ob kritisch-sozialwissenschaftliche Forschung im Rahmen von ELSIProgrammen tatsächlich stattfinden kann, hängt nicht zuletzt auch von der Offenheit und Inklusivität der Forschungsförderung ab. Denn oft sind Forschungsvorhaben im ELSI-Bereich nicht nur von denkerischer Leistung abhängig, sondern auch von Fördermitteln. In manchen Ländern wurden nach dem Vorbild der USA entsprechende Programme errichtet, die sich zunächst mit der Genomik, dann aber auch mit anderen Forschungsprogrammen wie der Systembiologie, der Synthetischen Biologie oder den Nanowissenschaften beschäftigten (unter anderem in Kanada, Deutschland, Österreich, Großbritannien, den Niederlanden, auch auf EU-Ebene). Die Steuerung der Mittelvergabe ist ein klassisches Instrument der Forschungssteuerung. Die Soziologin Hilary Rose hat schon 1998 ihre Bedenken ausgedrückt, dass die organisierten technology assessment und ELSI-Programme zu einer forschungsfreundlich gedämpften (muted) sozialwissenschaftlichen Forschung führen, die engagiert-kritische Sozialforschung ausschließt.9 Sheila Jasanoff hat die Lage in der Regulierungsdebatte international verglichen und festgestellt, dass an die Sozialwissenschaften die Erwartung herangetragen wurde, den Bioingenieuren dabei zu helfen »to make biotechnology happen«.10 Helge Torgersen schrieb in einem kritischen Rückblick auf die Rolle der Sozialwissenschaften im ELSI-Bereich 2009: »At worst, they met naïve demands from some stakeholders to render technologies accepted that other stakeholders would not deem acceptable.«11

9

Hilary Rose: »Social Criticism and the Human Genome Programme: Some Reflections on the Limits of a Limited Social Science«, in: Peter Glasner/Harry Rothman (Hg.), Genetic Imaginations. Ethical, Legal and Social Issues in Human Genome Research, Aldershot (1998), S. 115–130.

10 Sheila Jasanoff: »Product, process or programme: three cultures and the regulation of biotechnology«, in: Martin W. Bauer (Hg.), Resistance to new technology. Cambridge 1995, S. 311–331. Vgl. ihre detaillierte Studie: Sheila Jasanoff: Designs on Nature. Science and Democracy in Europe and the United States, Princeton 2005. 11 Helge Torgersen: »Synthetic biology in society: learning from past experience?«, Systems and Synthetic Biology 3 (2009), S. 9–17, hier S. 15. Vgl. aus der Sicht der NanoELSI-Diskussion Erik Fisher: »Lessons learned from the Ethical, Legal and Social

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Deshalb richten sich die Bedenken, die gegenüber der Bioethik erhoben wurden, auch an die interdisziplinär angelegten ELSI-Programme. In der BioethikDebatte ging es darum, ob Bioethik nur eine Legitimitätsbeschafferin (»Feigenblatt«) sei für eine Forschung, die dann »ethisch geprüft« in moralische Tabubereiche vordringen kann.12 Es ist offensichtlich, dass der Komplex aus Biomedizin, pharmazeutischer und biotechnologischer Industrie auf Argumente angewiesen ist, welche die Unbedenklichkeit von Anwendungen unterstreichen, damit sie einen leichteren Eingang in die Märkte finden. Wer Akzeptanz sucht, ist darauf angewiesen, mögliche Bedenken, Einwände und soziale Nebeneffekte frühzeitig zu erkennen, um sich präventiv zu verhalten. Dieses Anliegen ist zwar interessengeleitet, muss sich aber nicht negativ auswirken. Denn eine weniger umsichtige Vermarktung von Produkten ist sowohl für den Anbieter wie auch für die Gesellschaft riskanter. Wenn dies überzeugen kann, ist das Kriterium nicht, ob ELSI-Forschung den Interessen der Biomedizin nützt oder ihnen entgegenwirkt, sondern ob ELSIForschung inhaltlich unabhängig ist, gerade wenn sie die Interessenträger berät. ELSI-Forschungsprogramme im Stil des Humangenomprojekts kann man als groß angelegte Bitte um Beratung verstehen. Wenn die ELSI-Forschenden auf diese Bitte eingehen, ist das Erste, was sie den Ratsuchenden erklären müssen, dies: Nur eine inhaltlich unabhängige Beratung, die sich an der Wahrheit orientiert und auch die unangenehmen Zusammenhänge aufzeigt, ist für sie nützlich; eine gefällige Beratung mag zwar kurzfristig angenehmer sein, führt aber in die Irre und kann deshalb auch nicht in ihrem wohlverstandenen Interesse liegen. Aber dennoch ist es aus gesellschaftlicher Perspektive unbefriedigend, wenn ELSI die Interessen, denen sie nützt, als Prämisse unhinterfragt annehmen müsste. Das wäre eine Verengung der Perspektive, die gewiss nicht im allgemeinen Interesse sein kann. Die kritische Frage ist deshalb, ob ELSI genügend unabhängig ist, um Forschungsfragen radikal genug zu stellen, nicht nur, ob sie bei den Antworten unabhängig ist. Fragt sie zu wenig radikal, ergibt sich nur der Schein von Akzeptabilität. ELSI-Aktivitäten wären dann doch eine Art soziales Schmiermittel für eine möglichst nebenwirkungsfreie und reibungslose Umsetzung von Forschung und Technologie.

Implications program (ELSI): Planning societal implications research for the National Nanotechnology Program«, in: Technology in Society 27 (2005), S. 321–328. ELSI soll nicht ein »mere public relations shield« für die Technologieentwicklung sein, die vor gesellschaftlicher Kritik schützt und als ein policy tool ineffizient ist. 12 Dazu Rouven Porz/Christoph Rehmann et al. (Hg.): Gekauftes Gewissen? Zur Rolle der Bioethik in Institutionen, Paderborn 2007.

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Wenn die Radikalität von Fragen beinhaltet, auch die Forschungs- und Entwicklungsstrategien der Lebenswissenschaften selbst in ihrem Entstehungsprozess hinterfragen zu können, muss man in der Kaskade der Technologieentwicklung entsprechend höher ansetzen. Dafür wurde ein neues Schlagwort gefunden: upstream engagement. In diesem Begriff spiegelt sich, dass Begleitforschung nicht erst die Übersetzung der Grundlagenforschung in die Praxis ›begleiten‹ soll, wenn schon feststeht, was überhaupt wie angewendet werden soll. In einem Memorandum des britischen partizipativen Think Tank Demos13 unterschieden James Wilsdon und Rebecca Willis 2004 drei Phasen des öffentlichen Engagements: (1) Public understanding of science (PUS) sollte die Wissenschaft in der Öffentlichkeit besser erklären. (2) From deficit to dialogue: Zunehmend wurde erkannt, dass die Annahme einer informierten Wissenschaft und einer nur teilweise informierten Öffentlichkeit einem partnerschaftlichen Dialog hinderlich ist. Das »Defizitmodell« der Öffentlichkeit stellt diese als ignorant dar. Es geht davon aus, dass allein wissenschaftliches Wissen für die Technologiebewertung relevant ist, und hat unterschlagen, dass es ebenfalls lebensweltliches Wissen gibt, das für die Bewertung unverzichtbar ist. Auch die Wissenschaft muss diesbezüglich lernbereit sein. Statt zu mehr gegenseitigem Verständnis führte diese Situationsdefinition zu einer antagonistischen Lage. (3) Moving engagement upstream: Konstruktive und proaktive Debatten über die Zukunft der Technologien sollen bereits in einem Stadium geführt werden, wenn die wesentlichen Entscheidungen über ihre Entwicklung getroffen werden, noch bevor sich polarisierte Positionen in der Gesellschaft verhärten und verselbstständigen. Auch Paul Rabinow und Gaymon Bennett haben in Bezug auf Synthetische Biologie nach einem »Post-ELSI«-Typ von Begleitforschung gerufen, der sich durch upstream engagement und durch eine vertiefte Reflexion auf das in der Kultur vorhandene begriffliche und methodische »equipment« zur Auseinandersetzung mit Innovation und Biotechnologien auszeichnet.14 Dies geschieht vor dem Hintergrund der sozialwissenschaftlich fundierten Kritik am sogenannten technologischen Determinismus, der die Lebenswissenschaften als von der Gesellschaft losgelöst betrachtete. Es ist nicht so, dass sich Wissenschaft und Technologie zuerst in einem gesellschaftlich neutralen Raum in einer für die Gesellschaft unkontrollierbaren Eigendynamik entwickeln, und

13 James Wildson/Rebecca Willis: See-through Science. Why public engagement needs to move upstream. London: Demos 2004 (zugänglich unter http://www.demos.co.uk/ files/Seethroughsciencefinal.pdf vom 17.6.2010). 14 Paul Rabinow/Gaymon Bennett: Ars Synthetica: Designs for Human Practice, Houston 2009, Kap. 7.1.

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ihre Anwendungsmöglichkeiten sodann in die Gesellschaft hinaus entlassen. Arie Rip und René Kemp bezeichneten diese simplifizierende Ansicht vom Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Gesellschaft als »cannonball view of the impact of technology«.15 Wie die Science and Technology Studies (STS) zeigen, sind Wissenschaft und Gesellschaft in mannigfacher Hinsicht interdependent und es findet in soziotechnischen Systemen zwischen verschiedenen Akteuren tatsächlich eine Koproduktion von Wissen und Technologie statt. Die faktischen Pfade der technologischen Entwicklung hängen sowohl von wissenschaftsinternen als auch externen Faktoren ab: Finanzierungsanreize, gesetzliche Rahmenbedingungen, prospektive Heilungsbedürfnisse, wirtschaftliche Chancen, kulturell geprägte Deutungen und Interessenlagen etc. Die Wissenschaftsforscherin Deborah Johnson fasste dies so zusammen: »Scientists and engineers look at nature through a lens of human interests and human-made theories and concepts; engineers build things that fit into particular social and cultural contexts.«16 Wenn ELSI-Programme von der Annahme ausgehen, dass Wissenschaft und Gesellschaft in wesentlichen Hinsichten interdependent sind, müssen sich auch der in ihrer Forschung sich materialisierende ›Blick‹ und ihr Methodenkanon ändern. »›Learning‹ no longer means avoiding conflicts.«17 Wenn mit Fragen, die nach diesen Vorschlägen ›gemeinsam‹ definiert werden sollen, nicht nur die Fragen der ELSI-Forschung selbst gemeint sein sollen, sondern auch die Fragen, denen sich die naturwissenschaftliche Forschung widmen soll, stellen sich jedoch strukturelle Probleme. Es würde nämlich eine viel größere Bereitschaft der naturwissenschaftlichen und medizinischen Architekten der Forschungsprogramme voraussetzen, außerwissenschaftliche und außermedizinische Überlegungen in ihre Entscheidungen mit einzubeziehen, die ihr Verständnis dessen, was »opportun« und »möglich« ist, ergänzen. In einem international kompetitiven Umfeld braucht es sehr starke Anreize, damit sich diese Vorschläge, so sehr sie theoretisch einleuchten, auch praktisch umsetzen lassen. Dort ist vor allem relevant, Forschungsmöglichkeiten auszunützen, sobald sie

15 Arie Rip/René Kemp: »Technological Change«, in: Steve Rayner/Elizabeth L. Malone (Hg.), Human Choice and Climate Change. Vol. 2. Resources and Technology, Columbus, Ohio 1998, S. 327–399, hier S. 387. 16 Deborah G. Johnson: »Ethics and technology ›in the making‹: an essay on the challenge of nanoethics«, Nanoethics 1 (2007), S. 21–30, hier S. 24. Zu STS vgl. den Sammelband von Donald MacKenzie/Judy Wajcman (Hg.): The social shaping of technology, Buckingham, 2. Aufl. 1999. 17 Torgersen: Synthetic, S. 15.

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sich bieten. Es gilt als eher hinderlich, diese Möglichkeiten zuvor noch mit sozialwissenschaftlicher Begleitforschung abzugleichen.18 Auf der anderen Seite gab es auch Kritik von Advokaten des SupertankerModells, die den ELSI-Forschern mangelnde Effizienz, Redundanz, schlechte Koordination und zu geringe Stringenz vorwarfen. »Insbesondere viele Mediziner und Naturwissenschaftler seien [...] enttäuscht, dass ELSI nicht rasch genug zu verbindlichen und institutionsübergreifenden Handlungsorientierungen, z.B. in Form von national oder gar international verbindlichen Leitlinien, geführt habe.«19 Dies mag auf den ersten Blick überraschen, weil verbindliche Normen ja Freiheitseinschränkungen bedeuten. Warum können die Mediziner und Naturwissenschaftler überhaupt daran interessiert sein, sich durch verbindliche, institutionsübergreifende Normen einbinden zu lassen?

ELSI

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R AHMEN

EINES

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Wenn man Wissenschaft, Technologie und Innovation (WTI) in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext betrachtet, wird dieser Zusammenhang leichter verständlich. Eine Koexistenz von Forschung, Unternehmen, Medizin und öffentlichen Institutionen im Rahmen einer stabilisierten gesellschaftlichen Ordnung erleichtert es den Partnern, die für WTI nötigen Allokationsentscheidungen über Arbeitszeit, Geld und andere Ressourcen zu treffen. Rechtssicherheit und Berechenbarkeit von sozialer Akzeptanz sind auch für die Interessenträger von WTI wesentliche Faktoren. Helga Nowotny und Giuseppe Testa haben diese Prozesse der Stabilisierung aus einer forschungspolitischen Perspektive beschrieben und als »Sozialtechniken« bezeichnet. Unter die Sozialtechniken fällt nur nicht die ältere Institution des Rechts, sondern auch Steuerungsinstrumente unterhalb und oberhalb des Staats, die in der neueren Politikwissenschaft als Governance beschrieben werden. Innerhalb der Governance-Strategien heben Nowotny und Testa die Bioethik als spezialisiertes Instrument hervor, das es ermöglicht, in ausreichend flexiblen Gesprächsarrangements über Werte zu verhandeln. Der politische Wert und die Funktion der Bioethik machen sie laut Nowotny und Testa zu einer effektiven »Währung der globalen moralischen

18 Zum anspruchsvollen Vorschlag von Rabinow und Testa vgl. ausführlicher Christoph Rehmann-Sutter: »The ambivalent role of bioethics: two diagnoses«, in: BioSocieties 5 (2010), S. 399–402. 19 Biller-Andorno: Das ELSI-Programm, S. 246.

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Ökonomie«.20 Indem ELSI als eine interdisziplinär erweiterte und durch empirische sozialwissenschaftliche Evidenz abgestützte Bioethik aufgefasst werden kann, kann sie in dieselbe biopolitische Kategorie eingeordnet werden. ELSI erfüllt also eine Funktion innerhalb von Governance. Diese Rolle kann besser oder schlechter erfüllt werden. Nach dem bisher Gesagten ist klar, dass ELSI sich in der Auslegung ihrer eigenen Funktion nicht damit begnügen kann, Partikularinteressen zu dienen. Zur Beurteilung sind dann aber zunächst die Maßstäbe zu klären, die aus ethischer Sicht für diese Rolle von ELSI im Rahmen von guter Governance gelten sollen. Was ist mit dem oft vage gebrauchten Begriff der »Governance« gemeint? Ich schließe mich der Definition von Catherine Lyall und Joyce Tait an, die für unseren Zusammenhang gut passt: »Governance« is seen as implying a move away from the previous government approach (a top-down legislative approach which attempts to regulate the behaviour of people and institutions in quite detailed and compartmentalised ways) to governance (which attempts to set the parameters of the system within which people and institutions behave so that self-regulation achieves the desired outcomes), or put more simply, the replacement of traditional »power over« with contextual »powers to«.21

Es geht darum, die Parameter der Systeme, in denen die an der WTI beteiligten Individuen und Institutionen sich verhalten, so zu setzen oder zu verschieben, dass durch Selbststeuerung wünschbare Ergebnisse erzielt werden. Die Perspektive auf Governance bezieht alle Ebenen in die Betrachtung ein, in denen solche Parameter verändert werden könnten: nicht nur die staatliche Regierungsebene, sondern zum Beispiel auch gesundheitspolitische Anreizstrukturen, Rahmenbedingungen der Märkte, soziale und kulturelle Faktoren, die zur Bedürfniskonstruktion der Individuen ausschlaggebend sind usw. Dazu gehören auch die Rahmenbedingungen, die multinationale Konzerne und transnationale Kollabo-

20 Helga Nowotny/Giuseppe Testa: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter. Frankfurt/M. 2009, S. 97; das Zitat stammt von Brian und Charlotte Salter. 21 Catherine Lyall/Joyce Tait: »Shifting Policy Debates and the Implications of Governance«, in: Catherine Lyall/Joyce Tait, New Modes of Governance. Developing an Integrated Policy Approach to Science, Technology, Risk and the Environment, Aldershot 2005, S. 3–17, hier S. 3. Vgl. im selben Band den Beitrag von Perry 6, »The Governance of Technology«, S. 19–44.

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rationen an ihren Standorten antreffen.22 Die Governance-Perspektive ist eine umfassende Perspektive auf gesellschaftliche Steuerungsmechanismen, unabhängig davon, ob sie staatlich sind, national oder global, ob sie demokratischer Kontrolle unterliegen oder andere Ebenen der Gesellschaft einbeziehen. Das Kriterium ist bloß, ob Steuerungsmechanismen tatsächlich stattfinden und ob es Einflussmöglichkeiten gibt. In der Governance-Perspektive können strukturelle Differenzen zwischen den verschiedenen Funktionssystemen aber auch verwischt werden. Nowotny und Testa haben auf einige dieser Risiken aufmerksam gemacht:23 (1) Macht und Machtgefälle werden zugunsten einer pragmatisch-emergentistischen Perspektive tendenziell ausgeblendet, die davon ausgeht, dass sich Lösungen aus dem Zusammenspiel der verschiedenartigen Kräfte ergeben. (2) Die Differenz zwischen Entscheidungsträgern und den von Entscheidungen Betroffenen wird dadurch eingeebnet, dass alle als potenzielle Partizipationsteilnehmer betrachtet werden. (3) Die grundsätzlich angenommene Reversibilität von Entscheidungen banalisiert die teilweise existenzielle Bedeutung der einmal getroffenen Entscheidungen für die Betroffenen. (4) Nicht alle Akteursysteme sind demokratisch organisiert. (5) Deliberation und Aushandeln werden wichtiger als Abstimmungen mit der Mehrheitsregel, was zur Abkoppelung der Arenen der Governance von den Arenen der repräsentativen Demokratie beiträgt. Unterschiede zwischen den verschiedenen Ordnungssystemen sollen durch die Partizipation von ELSI keineswegs eingeebnet, sondern gerade herausgearbeitet werden können. Es spielt zum Beispiel eine wichtige Rolle, wie weit die demokratischen Prozesse, die im Rahmen des Staates entwickelt sind, durch die anonyme Macht der Shareholder, durch oligarchische Steuerung und autoritäre Strukturen, wie sie in der Industrie vorherrschen, konkurrenziert oder sogar ausgehebelt werden. Dem stehen aber neben der explizit kontextuellen Perspektive auch folgende Vorteile gegenüber: (1) Der Ethikdiskurs spielt für die komplexen und oft präzedenzlosen Aushandlungsprozesse eine unerwartet große Rolle. Dieser ist naturgemäß ein wesentlicher Teil von ELSI. (2) Governance fördert grundsätzlich öffentliche Räume, in denen jeweils alle an einem Thema Beteiligten als stakeholders zusammentreffen. ELSI arbeitet grundsätzlich in die gleiche Richtung, nämlich diejenigen Arenen auszumachen, in denen sich Gestaltungschancen ergeben. Es geht darum, die Steuerungen für die Beteiligten und Betroffenen

22 Vgl. für transnationale Forschungszusammenarbeit zwischen europäischen und chinesischen Partnern die Empfehlungen des EU-FP 6 Projektes BIONET, http://www.bio net-china.org, letzter Zugriff am 5.6.2011. 23 Nowotny und Testa, Die gläsernen Gene, S. 92–95.

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transparenter zu machen. Dies trägt dazu bei, für die wichtigen Entscheidungen, welche die biomedizinische Praxis strukturieren, öffentliche Räume zu schaffen.24 Wichtig ist, dass sich ELSI nicht blind in Steuerungsprozesse einbeziehen lässt, sondern ihre Rolle reflektiert spielt, indem sie sich auch selbst beobachtet. Das hat nun die wichtige Konsequenz, dass sie auf sich selbst auch eine Governance-Perspektive errichten muss. Sie muss verfolgen, wie sie in den Steuerungsmechanismen vorkommt, wo sie Einfluss ausübt, und wo sie durch andere Kräfte benutzt wird.

Z IELE

VON

ELSI

Im Supertanker-Modell waren die zentralen, ethisch relevanten Ziele von ELSI die Schadensvermeidung und die sozialverträgliche Integration der biotechnologischen und biomedizinischen Praxis in gesellschaftliche Strukturen. In einer kontextuellen Governance-Perspektive können diese Ziele nur begrenzt überzeugen, weil sie an die Prämissen der sich in WTI verkörpernden Interessen gebunden bleiben. Sie verdecken einige der wichtigsten, für die reflektierte Gestaltung von Praxis einflussreichen Steuerungsebenen, die upstream liegen, und konzentrieren die Aufmerksamkeit zu stark darauf, die Technikentwicklung durch normative Filter (gewoben aus moralischen und rechtlichen Normen) in akzeptable Bahnen zu lenken. Stattdessen tritt in der kontextuellen Sicht die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft in den Vordergrund, die, wie wir gesehen haben, durch die Perspektive von Governance sowohl verdünnt als auch gestärkt werden kann. ELSI kann so konfiguriert werden, dass sie an den Bedingungen arbeitet, welche die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft unterstützen und robuster machen. Governance soll nicht eine blinde Selbstorganisation im Sinn von Zufällen, Sachzwängen und Partikularinteressen sein, sondern eine nach wünschbaren Zielen eingerichtete Selbststeuerung, die für die Menschen, die in verantwortlichen Positionen sind, Achtsamkeit und Verantwortung ermöglichen und den Menschen, die von ihren Auswirkungen betroffen sind, zum Wohl gereicht. Dazu kann ELSI beitragen, wenn sie entsprechend aufgestellt ist. Handlungsfähigkeit

24 Die Erzeugung von Öffentlichkeit ist eine anspruchsvolle Aufgabe und, wie ich an anderer Stelle argumentiert habe, ein inhärentes Ziel der ethischen Begleitforschung, vgl. Christoph Rehmann-Sutter: »Bioethical Decisions and the Public Sphere: A Cross-Cultural Perspective«, in: Brigitte Nerlich/Richard Elliott/Brendon Larson (Hg.), Communicating Biological Sciences. Surrey 2009, S. 75–91.

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beinhaltet, umsichtige, informierte Entscheide zu finden, sich in Kommunikationen vernetzen zu können und die dafür nötigen Freiräume inne zu haben. Dies gilt ebenso für kollektive als auch für individuelle Akteure. Es wäre aber ein idealistisches Bild, wenn man annehmen würde, dass im Rahmen von WTI alle Akteure mit ähnlicher Macht und Umsicht ausgestattet sind. Es ist unvermeidbar, dass Akteure, die in Wissenschaft und Technologieentwicklung tätig sind, in einigen für das Ergebnis nicht unwesentlichen Bereichen einen bedeutenden Vorsprung haben, indem sie über mehr Wissen verfügen und mehr Prozesse beeinflussen können als andere. Die medizinischen Wissenschaften werden zwar auch von den tatsächlichen und potenziellen Patienten mitgestaltet, aber dafür, welche Angebote einem Kranken in der Akutsituation zur Verfügung stehen und empfohlen werden, sind doch nicht sie selbst verantwortlich. Dies wird so bleiben, trotz der Anstrengungen zu einem vermehrten upstream engagement und der Partizipation von Patientenverbänden in der Forschungsplanung. Deshalb kann es bei der ELSI-Begleitforschung nicht nur darum gehen, Freiräume zu schaffen, in denen Entscheidungen umsichtiger gefällt werden können. Es muss auch darum gehen können, dass diese Freiräume nicht durch fait accomplis gefährdet werden, die aus dem Vorsprung von WTI entstehen. Freiräume, die erst vor vollendeten Tatsachen eröffnet werden sollen, können keine Freiräume sein. Aus dieser Überlegung heraus ergibt sich ein Ziel für die ELSIForschung: die Arbeit an der Akzeptabilität biotechnologischer Innovationen. Akzeptabilität beinhaltet auch die prozedurale Gerechtigkeit, also die Fairness der Verfahren. Als normativer Begriff verlangt die Akzeptabilität – anders als die empirische Akzeptanz – die Legitimität des zu akzeptierenden Inhaltes. Legitimität ist eine moralisch berechtigte Autorität, die von den Betroffenen und Beteiligten ebenso anerkannt wird wie von den Interessenträgern. Akzeptabilität ist somit, wie schon eingangs definiert, zu verstehen als die Fähigkeit oder Würdigkeit bestimmter biotechnologisch-biomedizinischer Angebote, als Bestandteil der Lebenswelt akzeptiert zu werden. Wenn sie akzeptabel sind, werden Innovationen von den Teilnehmenden als »gut«, »hilfreich«, »empowering«, »verantwortlich« etc. angesehen. Ein Faktor, der die Akzeptabilität fördert, ist die Teilnahme an den Auswahlverfahren, die zum Angebot führen. Eine Hypothese ist, dass sich upstream engagement in den WTI-Linien akzeptabilitätsfördernd auswirkt. Dies ist deshalb plausibel, weil sich die Situation für die Betroffenen und Beteiligten verändert, wenn sie frühzeitig an Entscheidungen partizipieren konnten. Partizipieren im Sinn von Mitredenkönnen ist nicht nur eine sozialtechnische Strategie, sondern bedeutet, als Partner anerkannt zu werden, dessen Perspektive wichtig genom-

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men wird und dessen Stimme zählt. Es gibt einen zweiten Aspekt. Die Wissenschaft versteht sich als Generator von Fortschritt. Innovation ist nur deshalb etwas Positives, weil sie in irgendeiner relevanten Weise nicht nur neu, sondern besser ist als das Bisherige. ›Fortschritt‹ durch Wissenschaft ist aber zunächst bloß ein Versprechen. Es gibt ein neuzeitliches Fortschrittsideal, das aber zum weltanschaulichen Überbau gehört und sich nicht bei allen WTI-Bereichen einlösen lässt. Es lässt sich zum Beispiel darüber streiten, ob die Entwicklung von Atomwaffen ein Fortschritt der Menschheit darstellt. Dass das Versprechen überhaupt eingelöst werden kann, setzt die Vertrauenswürdigkeit der Ziele voraus, welche die Innovatoren leiten. In der Idee des Fortschritts durch Wissenschaft und Technologie, auch des biomedizinischen Fortschritts, steckt also eine Vertrauensklausel. Sie besagt, dass die Ziele, nach denen Innovationsprozesse vorangetrieben werden, mit wirklichen Bedürfnissen von Betroffenen harmonieren bzw. auf die Lösung wirklicher Probleme ausgerichtet sind. Die Gesellschaft hat dann gute Gründe, der wissenschaftlichen Einschätzung der gesellschaftlichen Bedürfnisse und des zu erwartenden Nutzens zu vertrauen, wenn (und nur wenn) die wissenschaftsinterne Einschätzung dessen, was für die Gesellschaft gut ist, zutrifft und in Harmonie steht mit einer unabhängigen Einschätzung der gesellschaftlichen Probleme und Bedürfnisse. Eine WTI, die ihre Bedürfnisse, die sie stillen will, zuerst schaffen muss, kann diese Vertrauensklausel kaum erfüllen – außer, sie hat ein gutes Argument, das zeigt, dass die Menschen ein zwar noch unerkanntes, aber dringendes Problem haben, das sie lösen müssen. Diese Situation bestand zum Beispiel beim sogenannten Klimawandel: Er wurde von Wissenschaftlern allererst entdeckt und musste dann gegen Widerstände ausgewiesen werden. Wenn sich Zieleinschätzungen durch Sachzwänge ergeben haben, auf Zufälle zurückzuführen sind oder sich verselbstständigen, verlieren sie die Vertrauenswürdigkeit. Um die Vertrauenswürdigkeit von Zielen aber zuverlässig prüfen zu können, müssen die Ziele an die Bedürfnisse und Problemlagen rückgekoppelt werden. Diese Rückkoppelung auf die nötigen Wissensgrundlagen zu stellen, ist ein zweites, ethisch zentrales Ziel von ELSI-Begleitforschung. Dadurch hilft sie, den versprochenen ›Fortschritt‹ durch WTI auch einzulösen. Die Wissenschaft kann so in einem gesellschaftlichen Kontext, der von weltanschaulichen Differenzen und moralischen Konflikten gekennzeichnet ist, eher vertrauenswürdig werden. Dieses zweite Ziel ist, wie auch die Akzeptabilität von Innovation, für alle Partner, auch für die WTIInteressenträger selbst, wichtig und einsehbar. Für beide ELSI-Ziele ist es förderlich, wenn Probleme, Konflikte, Nebeneffekte und Komplikationen früh erkannt werden können. »Foresight« (Früherkennung) ist eine anerkannte Funktion und findet sich in den Zielen vieler bestehen-

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der ELSI-Programme. Ebenso ist es sowohl für die Akzeptabilität von Innovation und für die Vertrauenswürdigkeit der Ziele förderlich, wenn die Prozesse möglichst transparent, öffentlich und partizipativ gestaltet werden. Die Förderung von Partizipationsverfahren gehört auch zu den Zielen vieler bestehender ELSI-Programme. Das Gesundheitswesen, worauf WTI in der Biomedizin ausgerichtet ist, stellt ein in mehrfacher Hinsicht spezielles Handlungs- und Akteursgefüge dar. »Foresight studies perceive the healthcare system as a self-contained system, developing solutions for patients who do not interact with these developments.«25 Die nicht interagierenden Patienten sind aber häufig in existenzieller Weise abhängig vom Gesundheitswesen, das mit der Erhaltung des Lebens und der Gesundheit und folglich mit Grundbedürfnissen und fundamentalen Funktionsfähigkeiten der Menschen befasst ist.26

K ONKLUSION ELSI-Begleitforschung ist sehr prominent in der Rolle einer Vermittlerin zwischen Lebenswissenschaften und Gesellschaft installiert worden. Ihre Rolle, Ziele, Arbeitsweise, Zusammenarbeitsformen, ihr begriffliches und methodisches Equipment und ihre politischen Aufgaben können nicht für selbstverständlich genommen werden und bleiben laufend kritisch zu klären. Die Konfigurierung von ELSI setzt eine Interpretation der ethischen und gesellschaftlichen Problematik der biomedizinischen Forschung bereits voraus, zu der sie in ihrer bestimmten Konfigurierungsform Lösungen entwickeln soll. ELSI-Forschung, die sich jenseits des technologischen Determinismus aufhält, kann sich an einer problemsensitiven Koproduktion von Wissenschaft und Gesellschaft beteiligen. Sie arbeitet problembezogen und mit gesellschaftlichem Realitätsbezug. Sie bezieht Steuerungsfragen auf allen Ebenen (governance) und Orientierungsfragen ein (Ethik), ist aber nicht gleichbedeutend mit angewandter Moral- und Rechtsphilosophie. Um ihre Rolle und Aufgaben zu klären, bedarf es

25 Thomas Reiss/Joyce Tait: »Life Science Innovation: Policy and Foresight«, in: Catherine Lyall/Joyce Tait (Hg.), New Modes of Governance, S. 69–87, hier S. 80. 26 Mit »Funktionsfähigkeit« übersetze ich den englischen Ausdruck »capabilities« in Martha Nussbaums Liste der zehn »basic human capabilities«. Diese müssen in jedem politischen System in einem Maß ermöglicht sein, damit ein Leben in menschlicher Würde möglich ist. Vgl. Martha Nussbaum: Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, Harvard 2006.

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zunächst einer sorgfältigen sozialwissenschaftlichen Analyse ihres Problembereichs und eine Überwindung der Moralisierung der Debatten, die zum Teil zu einer einseitigen Problemwahrnehmung führen. Sie kann zur Konfliktvermeidung und -lösung beitragen. Wenn sie sich selbst bei der Arbeit und in ihrer Wirkung kritisch beobachtet (»reflexive ELSI« aus kritisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive), kann sie einen Beitrag zu einer sozialen Reflexivität im Bezug auf Forschung leisten. Sie kann mithelfen, die Voraussetzungen zu schaffen, auf denen auch die Diskurse um die moralischen und rechtlichen Grenzen der Biomedizin umsichtiger werden.27

27 Ich danke den Herausgebern dieses Bandes und Janina Soler Wenglein für Hinweise zur Verbesserung des Textes.

Risiko und Verfahren Zur Legitimationsfunktion der Ethik am Beispiel von EthikKomitees und Ethikkommissionen der Arzneimittelforschung E LKE W AGNER , G INA A TZENI

In der jüngeren Vergangenheit sind zunehmend häufiger ethisierte Entscheidungsgremien implementiert worden, die auf der Grundlage interdisziplinärer Zusammenarbeit über heikle Fragen und unsichere Entscheidungslagen befinden sollen. Der vorliegende Beitrag stellt die Frage nach der Legitimationsfunktion der Ethik für derartige Verfahren. Was leistet die Ethik für die Praxis der Entscheidungsfindung? Diese Frage wird der Beitrag aus einer praxeologischen Perspektive anhand empirischer Daten aus zwei unterschiedlichen, ethisierten Verfahrensmodellen bearbeiten. Zugrunde gelegt werden einerseits Daten aus vier klinischen Ethik-Komitees von Kliniken unterschiedlicher Trägerschaft im Bundesgebiet,1 andererseits Daten zu Ethikkommissionen des Arzneimittelrechts.2

1

Das verwendete empirische Datenmaterial hierzu entstammt dem DFG-Projekt »Klinische Ethik-Komitees: Weltanschaulich-konfessionelle Bedingungen und kommunikative Strukturen ethischer Entscheidungen« (Leitung: Prof. Dr. Armin Nassehi, Prof. Dr. Reiner Anselm, Prof. Dr. Michael Schibilsky†), das im Zeitraum von Juli 2003 bis August 2004 in soziologischer und theologischer Zusammenarbeit entstanden ist. Vier klinische Ethik-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland wurden untersucht. Der Auswertung liegen 64 narrative Interviews mit Mitgliedern klinischer Ethik-Komitees und 74 Beobachtungsprotokolle von Sitzungen klinischer Ethik-Komitees zugrunde. Die Daten wurden nach den gängigen wissenschaftlichen Regeln transkribiert und anonymisiert.

2

Das hier verwendete Datenmaterial entstand unter soziologischer Mitarbeit am DFGProjekt »Paternalismus als Grundlagenproblem der Moralphilosophie und des Rechts«

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Es sei bereits der Befund vorweggenommen, dass sich die Ethik in den von uns beobachteten Verfahrensformen jeweils unterschiedlich praktisch etabliert. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob es nicht eine gemeinsame Funktion gibt, die die Bezugnahme auf das Label »Ethik« für die unterschiedlichen Typen ethischer Beratungsorgane erfüllt. Die Argumentation erfolgt in vier Schritten. Nach einer kurzen Darstellung des praxeologischen Zugangs zum empirischen Material soll dessen Analyse zum Tragen kommen. Die Ethik klinischer Ethik-Komitees wird dabei anhand von Beobachtungsprotokollen vorgestellt, die aus der Teilnahme an Sitzungen klinischer Ethik-Komitees entstanden sind, die Ethik der Forschungsethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes (AMG) wird anhand von Experteninterviews herausgearbeitet. In einem abschließenden vierten Schritt fragen wir nach den Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Funktion der Ethik für verfahrensmäßig organisierte Entscheidungsfindungsprozesse.

K ONTEXTE

PRAKTISCHER

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Betrachtet man die derzeitige Landschaft institutionalisierter Ethikberatung in Deutschland, muss man Einrichtungen bioethischer Politikberatung einerseits und Beratungs- und Entscheidungsgremien, die in konkreten Fragen bio- bzw. medizinethischer Konfliktfälle tätig werden, andererseits unterscheiden. Während hinsichtlich ihrer Aufgabenstellung, Organisationsform und rechtlichen Verfassung große Unterschiede zwischen den genannten Gremien bestehen,3 fällt ins Auge, dass alle Gremien interdisziplinär besetzt sind. Zudem wird stets, und zwar in unterschiedlichen Zusammenhängen, »Ethik« als auszeichnendes Label der Verfahrensform herangezogen. Wir fragen deshalb: Was leistet das

(Leitung: Prof. Dr. Ulrich Schroth, Prof. Dr. Willhelm Vossenkuhl). Neun Experteninterviews mit Mitgliedern von Forschungs-Ethikkommissionen in Bayern wurden 2006 durchgeführt. Die Daten wurden ebenfalls nach den gängigen wissenschaftlichen Regeln transkribiert und anonymisiert. 3

Zur genaueren Abgrenzung der genannten Gremien vgl. Christian von Dewitz/ Friedrich C. Luft/Christian Pestalozza: »Ethikkommissionen in der medizinischen Forschung«. Gutachten im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland für die EnquêteKommission »Ethik und Recht in der modernen Medizin« des Deutschen Bundestages, 15. Legislaturperiode, 2004; Bernd Krippner/Arnd Pollman: »Bioethik-Kommissionen in Deutschland – ein Überblick«, in: MenschenRechtsMagazin 3 (2004), S. 239–260.

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Label der Ethik für die genannten Verfahrensformen? Zu den praktischen Diskursen über bioethische respektive medizinethische Fragestellungen existiert auch ein theoretischer Diskurs, der von einer akademischen Theorie angewandter Ethik geführt wird. Auf zahlreichen Symposien4 und in Publikationen5 wird aus theoretischer Sicht über riskante Fragen ethischer Entscheidungsfindung diskutiert. Dieser theoretische Diskurs bleibt dabei teilweise bemerkenswert unverbunden zur Empirie, obwohl er doch explizit einen Beitrag zur Lösung empirischer Fragen leisten möchte.6 Wir möchten mit unserem Beitrag die Legitimation dieses theoretischen Diskurses nicht in Abrede stellen, doch zu bedenken geben, dass innerhalb der akademisch orientierten Theorie einer angewandten Ethik offenbar ganz eigenständige Probleme gelöst werden, die mit dem praktischen ethischen Diskurs, der zum Beispiel in einem Krankenhaus geführt wird, nur sehr lose – wenn überhaupt – verbunden erscheint.7 Worauf wir abzielen, ist vielmehr ein Plädoyer dafür, auch den theoretischen Diskurs über Ethik hinsichtlich seiner Problembezüge zu befragen. Es ist hier nicht der Ort, dies durchzuführen, es sei jedoch auf die soziologische Einsicht verwiesen, dass es bei der soziologischen Analyse des Labels der Ethik nicht darum geht, einen vereinheitlichenden Begriff von Ethik zu erarbeiten, also auf eine Art Essenz des

4

Vgl. etwa nur die über den Newsletter der Akademie für Ethik in der Medizin angekündigten Veranstaltungen unter http://www.aem-online.de.

5

Vgl. etwa exemplarisch: Stefan Schulz/Klaus Steigleder (Hg.): Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2006; Matthias Kettner: Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt/M. 2004; Marcus Düwell/Klaus Steigleder (Hg.): Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2003; Matthias Kettner (Hg.): Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt/M. 2000.

6

Dazu, dass der bioethische Diskurs angewandter Ethik bisweilen nicht nur unverbunden zur Empirie bioethischer Entscheidungspraxis, sondern auch zu den Traditionen des eigenen Fachs steht, vgl. Gina Atzeni/Friedemann Voigt: »Religion und Theologie in bioethischen Kommissionen. Eine interdisziplinäre Untersuchung zu Berufstheologen in ethischen Diskursen«, in: Friedemann Voigt (Hg.), Religion in bioethischen Diskursen. Interdisziplinäre, internationale und interreligiöse Perspektiven, Berlin, New York 2010.

7

Die Reaktion auf diese Kritik seitens der Sozialwissenschaften, aber auch auf die Erfahrung mangelnder wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit (v. a. an Publikationsorten mit hohem »Impact-Faktor«), firmiert in der philosophischen Medizinethik unter dem Begriff »empirische Ethik«. Zur Entwicklung und Idee, zu den unterschiedlichen Strömungen und den Grenzen empirischer Ethik vgl. Bert Muschenga: »Was ist empirische Ethik?«, in: Ethik in der Medizin 21 (2009), S. 187–199.

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Ethischen abzustellen. Vielmehr geht es darum, vor dem Hintergrund der gegenwartsbasierten Herstellung von ethisierten Praktiken zu fragen, welche Funktion der Verweis auf Ethik erfüllen kann. Was ethisch ist, ist nicht einfach gegeben oder wird quasi hinter dem Rücken der Akteure durch eine vereinheitlichende Struktur eingeführt. Was ethisch ist, muss sich vielmehr praktisch bewähren vor einem Publikum und in einem Setting, in dem Praktiken immer auch ganz anders verlaufen könnten. Wenn wir uns für Ethik interessieren, plädieren wir dafür, sich den konkreten Ort anzusehen, an dem sich ethisierte Redeweisen und Kommunikationsformen, ethisierte Praktiken, einstellen. Erst über den Blick auf den konkreten Ort des Ethischen kann dann auch eine Aussage über die Funktion des Ethischen getroffen werden. Ethische Probleme sind nicht einfach da – sie müssen erzeugt werden, was je nachdem, in welchem Rahmen sie sich bewegen, auf unterschiedliche Weise geschieht. Methodisch gesprochen haben wir, orientiert an dem Instrumentarium der Grounded Theory, zweierlei Fragen an das Material gestellt: Zunächst ging es darum herauszuarbeiten, welche spezifischen Praktiken des Ethischen sich jeweils darstellen und kontextspezifisch plausibilisieren. In einem zweiten Schritt stellte sich die Frage nach funktionaler Äquivalenz. Über den Vergleich unterschiedlicher Praktiken des Ethischen lässt sich herausarbeiten, welche Funktion der Ethik in diesen praktischen Kontexten zukommen kann und wie sie sich als spezifisches Problemlösungsmuster bewährt.

D IE E THIK KLINISCHER E THIK -K OMITEES : AUTHENTISCHES S PRECHEN UND S TILFRAGEN Klinische Ethik-Komitees wurden seit 1997 in der Bundesrepublik auf Initiative der konfessionellen Krankenhausverbände in Kliniken implementiert.8 Die Ref-

8

Im Jahr 2000 gaben in Deutschland 30 Kliniken in konfessioneller Trägerschaft an, ein Ethik-Komitee eingerichtet zu haben. Drei Jahre später wurden in 59 Kliniken klinische Ethik-Komitees gezählt, darunter acht in nichtkonfessioneller und 51 in konfessioneller Trägerschaft. Alfred Simon/Erny Gillen: »Klinische Ethik-Komitees in Deutschland. Feigenblatt oder Hilfestellung in Konfliktsituationen?«, in: Dietrich Engelhardt/Volker von Loewenich/Alfred Simon (Hg.): Die Heilberufe auf der Suche nach ihrer Identität, Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin, Frankfurt/M., Münster2000, S. 151–157; Matthias Kettner: »Ethik-Komitees. Ihre Organisationsformen und ihr moralischer Anspruch«, in: Frank Benseler et. al. (Hg.), Erwägen – Wissen – Ethik, Stuttgart 2005, S. 3–16.

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lexionsliteratur zu klinischen Ethik-Komitees weist der ethischen Fallberatung im Gremium drei Aufgaben zu: die Klinische Ethikberatung im Einzelfall, die Entwicklung von Leitlinien und die Fort- und Weiterbildung von Mitarbeitern des Krankenhauses.9 Diese Entwicklung stellt einen Anschluss an die USamerikanische Situation dar, wo schon seit längerer Zeit Ethik-Komitees in Krankenhäusern eingerichtet wurden. Angelehnt an die Tradition des medizinethischen Diskurses in den Vereinigten Staaten10 und der dortigen Etablierung ethischer Verfahren in Kliniken11, sollen zunehmend auch in der Bundesrepublik Ethik-Komitees in Krankenhäusern dazu beitragen, die Vormacht ärztlicher Expertise einzudämmen und symmetrische Strukturen zwischen Krankenhausmitarbeitern zu etablieren. In der Regel setzen sich Ethik-Komitees aus Ärzten, Pflegekräften, Klinikseelsorgern, Mitgliedern der Krankenhausverwaltung, externen Experten wie professionellen Ethikern und Juristen sowie einem Laien als eigenständigem Mitglied zusammen, dessen Rolle in der Praxis oftmals vom Patientenfürsprecher der Klinik besetzt wird. Paradigmatisch gesprochen orientieren sich klinische Ethik-Komitees in der Bundesrepublik zumindest implizit an der Diskursethik Jürgen Habermas’. Diese sieht eine verfahrensmäßige Organisation von Meinungen vor, die sich im Diskurs auf gleicher Augenhöhe zu einem gemeinsam geteilten, besten Argument verknappen.12 Zwar versucht sich eine an der Praxis klinischer Ethik-Komitees ausgerichtete Perspektive von der Festlegung auf eine bestimmte ethische Theorie abzugrenzen, greift aber dabei gleichsam auf die Einsicht der Diskurstheorie in die verfahrensmäßige und interdisziplinäre Organisation von ethischer Argu-

9

Alfred Simon: »Klinische Ethikberatung in Deutschland. Erfahrungen aus dem Krankenhaus Neu-Mariahilf in Göttingen«, in: Berliner Medizinethische Schriften, Beiträge zu ethischen und rechtlichen Fragen der Medizin 36, Dortmund 2000, S. 11; Deutscher Evangelischer Krankenhausverband/Deutscher Katholischer Krankenhausverband: Ethik-Komitees im Krankenhaus, Freiburg 1997.

10 Albert R. Jonsen: The Birth of Bioethics, New York, Oxford 1998; David J. Rothman: Strangers at the bedside. A history of how law and bioethic transformed medical decision making, New York 1991. 11 Stuart F. Spicker (Hg.): The Healthcare Ethics Committee Experience. Selected readings from HEC-Forum, Florida 1998; Raymond DeVries/Janardan Subedi: Bioethics and society: constructing the ethical enterprise, New Jersey 1998; Christian Lilje: Klinische ›ethics consultation‹ in den USA: Hintergründe, Denkstile und Praxis, Stuttgart 1995. 12 Jürgen Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983.

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mentation zurück. So heißt es etwa in einer Satzung: »Das Ethik-Komitee bevorzugt keine bestimmte Ethik-Theorie im Sinne etwa der Diskursethik, der Prinzipienethik oder des Utilitarismus. Vielmehr liegt der Arbeit des Komitees eine bestimmte ethische Verfahrensweise zugrunde, die offen ist für verschiedene Theorien zur Begründung moralischen Verhaltens.« Dennoch scheint sich eben diese verfahrensmäßige Form der Ethik den Einsichten der Diskursethik zu verdanken. In einer weiteren Satzung heißt es etwa: »Die Methodik der Auseinandersetzung des KEK [klinischen Ethik-Komitees, Anm. der Autorinnen] mit ethischen Fragestellungen hat diskursiven Charakter. Dieser dient dem Ziel, durch unterschiedliche Perspektiven verschiedener Berufsgruppen und Hierarchien zu einer möglichst ausgewogenen und fundierten Wertentscheidung zu kommen. Dabei bemüht sich das KEK um Konsens.«

Über den verfahrensmäßig organisierten Diskurs auf gleicher Augenhöhe sollen unterschiedliche Stellungnahmen einem gemeinsamen Konsens zugeführt werden. Während die Habermas’sche Perspektive auf Ethik begründete Meinungen und einen Meinungsstreit um das bessere Argument erwarten lassen würden,13 zeigt sich der praktische Diskurs innerhalb klinischer Ethik-Komitees hingegen in alternativer Gestalt.14 Hier sind es weniger Argumente und ein Meinungsstreit, der sich abbildet, als Wahrnehmungsfragen, die in den Mittelpunkt geraten. Sichtbar werden authentische Sprecher, die ihr Selbstverständnis weniger aus begründeten Meinungen erlangen als vielmehr über das individuelle Erleben eines eindimensional verlaufenden Krankenhausalltages.15 Dies zeigt etwa folgen-

13 Habermas geht von Diskursteilnehmern aus, »die über die Fähigkeit verfügen, an Argumenten teilzunehmen« (Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, S. 99). Es geht in dem von Habermas konzipierten Diskurs, über den sich Ethik ausdrückt, darum, »Beiträge zur Argumentation zu leisten und eigene Argumente zur Geltung zu bringen« (ebd.). 14 Es geht hier explizit nicht darum theoretisch zu prüfen, inwiefern die Praxis der ethisierten Verfahren mit der Diskurstheorie Jürgen Habermas’ übereinstimmt, sondern vielmehr um einen praxeologischen Zugang zum Thema Ethik, dem auffällt, dass sich ethische Praxen einerseits auf Habermas diskurstheoretische Konzeption von Ethik beziehen, andererseits aber eine alternative Umgangsweise mit dem Thema Ethik sichtbar machen. 15 Elke Wagner: »Operativität und Praxis. Der systemtheoretische Operativitätsbegriff am Beispiel ethischer Medizinkritik«, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa

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der Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll zur Sitzung eines klinischen EthikKomitees: »Der Arzt und Frau Oberärztin Kant scheinen sich in ihrer Debatte darüber, inwieweit man mit Patienten als Arzt kommunizieren kann, zu einigen. Man wisse nie, ob man seitens des Patienten verstanden worden sei, lautet der Konsens. Kant: ›Manche wollen auch nichts verstehen. Sie lehnen die Therapie und die Diagnose ab.‹ Kraft würden genau diese Patienten kosten, die sich sozusagen dumm stellen und fragen würden: ›Wie Chemotherapie? Ich? Ne, ich fahr jetzt zur Uni.‹ – ›Das ist das, was mühsam ist‹, so Kant. Genau für solche Fälle würde man jemanden auf Station benötigen, der das Team betreut. Die Kinderärztin stimmt Kant zu. Kant: ›Wir sind am Ende unserer emotionalen Kräfte.‹ Die Kinderärztin bestärkt Kant. Manchmal sei man emotional so betroffen, dass es einem die Handlungsfähigkeit völlig nehme.« (T-EH-3, Z. 171–197)

Diese authentische, emotionale Rede ersetzt einen argumentativen Diskurs und die Suche nach dem rational besten Argument, was man etwa im Anschluss an die Habermas’sche Diskurstheorie für den ethischen Diskurs im Komitee erwarten könnte. Habermas geht von einer Diskursivierung der Vernunft über den rationalen Austausch von Argumenten und von guten Gründen aus. Eben diese Auseinandersetzung über Gründe erweist sich für die Beschreibung des kritischen Diskurses im klinischen Ethik-Komitee als eher sperrig. Hier geraten weniger rationale Argumente als Gefühlslagen in den Blick, deren Authentizität kaum im Verweis auf einen besseren Grund abgesprochen werden könnte. Es kommt durch den spezifisch ethischen Diskurs nicht zu einer Verknappung von Gründen und zur Erzeugung von Meinungen, sondern vielmehr zum Ausdruck unterschiedlicher Gefühlslagen, die nebeneinander her bestehen und denen nicht widersprochen werden kann: »Gisela Kant (Gynäkologin): Im Juni sei eine 63-jährige Frau als Patientin (Krebs) auf Station gekommen. Die Frau komme aus einer intakten Familie. Die Schmerzen der Krebspatientin seien so stark gewesen, dass sie den Wunsch nach Sterbehilfe geäußert habe. ›Ich will nicht an Kabeln sterben, eigentlich zu Hause. Keine Chemotherapie‹, sei der Wunsch der Patientin gewesen, so Gisela Kant (Gynäkologin). ›Das habe ich eine Nacht überschlafen‹, erklärt Kant den Komitee-Mitgliedern ihr Vorgehen. – Die Patientin habe auch im Weiteren den Wunsch zu sterben (also den Wunsch nach Abbruch der The-

Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt/M. 2008, S. 432–448.

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rapie) geäußert. ›Ich fühlte mich damit überfordert‹, sagt Kant und sie wirkt auch während ihres Berichts noch immer emotional berührt von dem Fall.« (T-EH-1, Z. 129ff.)

Die Gynäkologin verwandelt einen zunächst medizinischen Fall in einen ethischen Fall, indem sie auf Emotionen und Gefühlslagen verweist. Der medizinisch beste Grund, nämlich die Therapie durchzuführen, wird damit destruiert. Über den Verweis auf emotionale Betroffenheit wird das Problem, einen ethischen Fall darzustellen, gelöst. Dies geht auch aus folgendem beobachteten Beratungsfall hervor: »Herbert Heinze (Pfleger) illustriert daraufhin den Ablauf einer Visite: [...] Der Patient sei in einem sehr schlechten Zustand gewesen, den die Ärzte aber nicht gesehen hätten. So hätten die Pflegenden den Patienten ganz bewusst entkleidet und so dem medizinischen Blick freigegeben. Dies habe eine Kehrtwende in der Behandlung eingeleitet, sagt Herbert Heinze. Die junge Ärztin sagt darauf Herbert Heinze bestätigend: ›Den Patienten, also den Menschen, schaut keiner an.‹ Bei einer Visite würde ein Drittel der anwesenden Ärzte auf den Bildschirm sehen, ein weiteres Drittel auf die Drainage und ein letztes Drittel in die Akten. Petra Stern (Medizinerin, Moderatorin) sagt: ›Das kann man auch nicht ständig bei jedem machen.‹ Dieser Einwand motiviert offenbar auch andere Café-Besucher zur Äußerung ihrer Bedenken. Anna Breil (Theologin) hält das Vorgehen von Herbert Heinze augenscheinlich für nicht sonderlich sensibel. Sie sagt: ›Manche Patienten empfinden das als unangenehm. Es ist eine Frage der Würde.‹ Darauf meint Heinze, dass der Patient im geschilderten Fall narkotisiert war. Petra Stern sagt: ›In dem Fall war es eine gute Maßnahme.‹« (T-HB-19, Z. 180–201)

Die Erzeugung eines ethischen Falles gelingt hier über die Generierung von Betroffenheit. Wiederum sind es nicht Argumente, die in den Diskurs eingeführt werden, sondern Gefühlslagen und emotionale Stimmungsbilder. Ethik zeigt sich hier nicht im rationalistischen Modus von bestreitbaren Meinungen und Informationsfragen, sondern eher in Wahrnehmungsfragen. Schließlich geht es den Mitgliedern klinischer Ethik-Komitees nicht um die Etablierung einer Betroffenengemeinschaft im Krankenhaus, sondern um eine Veränderung der Wahrnehmung des Patienten. Dieser soll als legitimer Sprecher in der Organisationspraxis implementiert werden. Es fällt auf, dass innerhalb des Diskurses immer wieder auf Stilfragen abgestellt wird, um diese Implementation zu erreichen: »Hof (Mediziner, Komitee-Vorsitzender) [...] fasst die aus seiner Sicht offenbar ausschlaggebenden Ursachen für Probleme im modernen Krankenhaus zusammen: ›Es wird nicht ausreichend miteinander geredet, Personen und Fragen nicht ernst genommen.‹ All-

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gemein herrsche im Krankenhaus ein ›Kommunikationsdefizit‹. Dies allein sei indes noch nicht problematisch, findet Hof: ›Mangelhaft entwickelte Kommunikationskultur ist per se kein ethisches Problem.‹ Es seien eher Organisationsprobleme, die den Klinikalltag zum Problem werden ließen. ›Welche Rolle spielt eigentlich der Patient? Ist er nur eine Diagnose, ein Fall? Oder ein Mensch mit Würde, mit Recht auf Unversehrtheit?‹« (T-WG-17, Z. 66–80)

Zwar wird das Kommunikationsdefizit im Krankenhaus hier als Organisationsproblem ausgewiesen. Die Rede des Arztes nimmt also darauf Bezug, dass sich die medizinische Rede nicht aus subjektiven Gründen, sondern systematisch gegen eine Symmetrisierung von Sprechern sperrt. Es geht um strukturelle Probleme. Dennoch wird die Lösung der Problematik in einer veränderten Kommunikationskultur gesehen, in der anders (mehr?) miteinander gesprochen werden kann. Der gute Stil besteht dann darin, über bestehende Kommunikationsprobleme zu reflektieren und eine Form zu finden, die die Asymmetrie des Medizinischen16 nicht zu umgehen, zumindest aber zu ergänzen versucht. Es geht darum – und dies wird auch über die Form der Betroffenheit sichtbar –, dass Patienten und Angehörige unabhängig von der Entscheidungshoheit des Mediziners als Personen konstituiert werden, die auf gleicher Augenhöhe mit dem Arzt kommunizieren können sollen. Es handelt sich nicht einfach um medizinisch zu behandelnde Körper, sondern um Menschen »mit Würde, mit Recht auf Unversehrtheit« (T-WG-17, Z. 80). Dass es sich um Ethik handelt, wird dann über Stilfragen sichtbar gemacht, wie sich an den Verhandlungen eines EthikKomitees über die Ausgestaltung ihrer schriftlichen Beschlussfassung ablesen lässt – das ethische Problem besteht hier nicht nur im Abbruch der medizinischen Behandlung einer 69-jährigen Patientin für das Pflegepersonal, sondern auch darin, wie der Fall schriftlich für ein Publikum sichtbar gemacht wird: »Grün (Theologe) plädiert dafür, in die Beschlussfassung aufzunehmen, dass der Anblick der 69-jährigen Patientin für die Pflege eine Belastung gewesen sei. Willi Winkel (Mediziner) beschwichtigt – diese Belastung sei nun einmal Bestandteil des Pflegeberufs. Löwe (Theologe, Moderator) meint: ›Das bekommt auch die Tochter. Das kann man nicht machen.‹ Dresel (Pfleger) sagt, dass es vielleicht ja auch Pflegende gegeben habe, die froh über die Entscheidung des Therapieabbruchs waren. Willi Winkel sagt: ›So etwas braucht man doch nicht extra vermerken. Es gibt eben manche Dinge, die macht man lieber als andere.‹ Löwe meint: ›Der Patient ist wichtig. Deshalb schreiben wir das nicht rein.‹ Das

16 Irmhild Saake: »Die Performanz des Medizinischen. Zur Asymmetrie in der ArztPatienten-Interaktion«, in: Soziale Welt 54 (2003), S. 223–254.

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heißt wohl, der Patient ist wichtiger als die Einwände der Pflegenden. Ulf Grün erklärt ein wenig resigniert auf all diese Einwände: ›Ich frage mich, warum ich mit manchen Leuten stundenlang geredet habe.‹ Hierauf sagt nun keiner mehr etwas.« (T-EH-9, Z. 28–43)

Zusammenfassend lässt sich für die Ethik klinischer Ethik-Komitees sagen, dass sie sich in ihrem Selbstverständnis durchaus der Habermas’schen Diskursethik zumindest implizit verschreiben. Im praktischen Vollzug stellt sich dann aber eine alternative Art von Sätzen ein. Anstelle von Informationsfragen, über die ein Meinungsstreit entbrennen könnte, rücken Wahrnehmungsfragen in den Mittelpunkt. All das, was den vernünftigen Krankenhausalltag ausmacht – eingespielte Routinen und Handlungsabläufe –, wird problematisiert vor dem Hintergrund des authentischen Erlebens dieser Organisationsroutinen. Das Ethische wird dann einerseits über Betroffenheit hergestellt und löst sich andererseits in Stilfragen auf. Es geht nicht um Argumente, sondern um Stilformen des Umgangs.

F ORSCHUNGSETHIKKOMMISSIONEN DES AMG: S ACHLICHE E THIK UND DIE GUTE B EHÖRDE Die Ethikkommissionen des Arzneimittelrechts begutachten Forschungsprojekte, die Medikamente bzw. Wirkstoffe auf deren Verträglichkeit und Wirksamkeit am Menschen testen. Diese Genehmigungsbehörden sind ebenfalls interdisziplinär zusammengesetzt. Es bilden jedoch die Mediziner die deutlich größte Gruppe, wobei in den meisten Fällen neben Fachärzten unterschiedlicher Richtungen auch Pharmakologen, Rechtsmediziner und Biometriker/Statistiker vertreten sind. Des Weiteren nehmen ein Mitglied mit der Befähigung zum Richteramt sowie ein Ethikexperte teil. Die Vorgaben für Letzteren sehen meist einen Akademiker mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet der Ethik in der Medizin vor, was in der praktischen Ausprägung vom Klinikseelsorger über einen Philosophieprofessor bis zu einem Arzt mit medizinethischer Zusatzausbildung reichen kann. Dieser Typ Kommission hat sich zunächst als Reaktion auf zunehmende externe wie interne Kritik unethischen ärztlichen Handelns als Selbstkontrollorgan entwickelt. Die Generalversammlung des Weltärztebundes legte 1964 in Helsinki einen Katalog ethischer Grundsätze vor, der bei der Durchführung medizinischer Forschung am Menschen als Leitlinie dienen sollte. Die revidierte Deklaration von Helsinki von 1975 sah dann eine Beratung des forschenden Arztes durch ein unabhängiges Gremium als Voraussetzung für die Forschung am

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Menschen vor. Nur langsam vollzog sich der Übergang vom ärztlichen Selbstkontrollorgan zum behördlichen Entscheidungsgremium.17 Erst mit der 12. AMG-Novelle aus dem Jahr 2004 ist die Ethikkommission »[...] zu einer eigenständigen arzneimittelrechtlichen Genehmigungsbehörde geworden, die aufgrund eines umfänglichen medizinisch-pharmakologisch und juristischen Prüfprogramms gegenüber Außenstehenden – dem antragstellenden Sponsor – hoheitlich tätig wird, indem sie Verwaltungsakte erlässt«18. Die Voten der Kommissionen sind nun rechtlich bindend, sie stellen Verwaltungsakte dar, die ein Forschungsvorhaben (zumindest dessen legale Durchführung) verhindern können. Die Prüfung folgt dabei gesetzlich klar vorgegebenen Kriterien. Neben einer positiven Einschätzung des Risiko-Nutzen-Verhältnisses und der Sicherstellung der informierten und freiwilligen Teilnahme der Versuchsperson an der Studie muss für hinreichend Daten- und Versicherungsschutz für die Probanden gesorgt sein, damit die Kommission ihre Genehmigung erteilt. Hinsichtlich dieser klar umrissenen Entscheidungskriterien scheint es zunächst unplausibel, nach der Ethik dieses Kommissionstyps zu fragen. In Interviews mit Mitgliedern von Ethikkommissionen zeigt sich jedoch, dass der Verweis auf Ethik hier eine eigene Form annimmt, wodurch er wichtige Funktionen für das Verfahren erfüllt. Es fällt auch hier auf, dass es zwar keinerlei theoretische Grundlagen für die Verhandlungen der Ethikkommissionen gibt, die Idee der Habermas’schen Diskursethik scheint hier jedoch ebenfalls, zumindest implizit, als Leitbild zu fungieren: »Also vielleicht noch folgendes, nicht, was ich äh eine wirklich gute Sache finde an an der Ethik- ich kenn ja andere Ethikkommissionen nicht, aber ich finde bei uns ist es so, dass wir kaum also wenn’s hochkommt in den zwei Jahren ein oder zweimal nach Mehrheit entschieden haben. [I: Mhm] Und sonst immer versucht haben einen Konsens herzustellen. Und ich find das eigentlich ne gute Sache, das haben wir auch in der Geschäftsordnung so geregelt, dass man zunächst mal probiert, einen Konsens herzustellen und die Mehrheitsentscheidung - - nur äh genommen wird, wenn man feststellt, es ist ausdiskutiert und ein Konsens lässt sich nicht herstellen. Und das find ich eigentlich auch ein angemessenes Verfahren für eine Ethikkommission, [I: mhm] denn eigentlich sollte das ethische

17 Florian Wölk: »Zwischen ethischer Beratung und rechtlicher Kontrolle – Aufgabenund Funktionswandel der Ethikkommissionen in der medizinischen Forschung am Menschen«, in: Ethik in der Medizin 14 (2002), S. 252–269; Volker Schlette: »Ethik und Recht bei der Arzneimittelprüfung – Landesrechtliche Ethik-Kommissionen nach der 12. AMG-Novelle und die unfreiwillige Vorreiterrolle des Landes Berlin«, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 7 (2006), S. 785–588. 18 V. Schlette: »Ethik und Recht bei der Arzneimittelprüfung«, S. 785.

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Argument zählen und nicht äh das Prinzip: wir sind zwar die Dümmern dafür samma die Mehran.« (Roth, Z. 866–876)

Die Aufgabenstellung, der rechtliche Rahmen sowie die ausschließliche Besetzung mit Akademikern bedingen in den Ethikkommissionen jedoch eine deutlich andere praktische Umsetzung dieses diskursiven Ideals, als wir sie für die KEKs dargestellt haben. Es geht für die Mitglieder der Ethikkommission nicht darum, konflikthafte Alltagsprobleme und hierarchiebedingte Verständigungsschwierigkeiten kommunikativ zu verflüssigen, sondern darum, konkrete, rechtlich bindende und folglich anfechtbare Behördenentscheide zu erlassen. Grundlage dieser Entscheidungen bilden umfangreiche Forschungsanträge, deren Komplexität nur durch spezialisiertes Expertenwissen zu erfassen ist. Der Stil der Verhandlung wird von den Mitgliedern als sachlich beschrieben. Folgender Interviewausschnitt zeigt ein Beispiel, wie sich einem Mediziner ein problematisches Versuchsdesign darstellt: »[…] Jetzt muss man also zeigen, dass, das, die Coxibe supergut sind - - aber die Vergleichstherapie wahnsinnig riskant. Und wie macht man das? - - Frag ich immer meine Studenten, wie macht man das? Man macht des so, dass man die Vergleichstherapie so macht, dass jeder n Loch im Bauch kriegt. Also sind da Studien vorgelegt worden, wo man gesagt hat, wir haben hier unser neues Coxib und des vergleichen wir jetzt über 12 Monate und die Vergleichsgruppe die kriegt die Höchstdosis fix dosiert über 12 Monate. Und da weiß man des halt also nur wenn se n Ledermagen haben oder so was, ne. [...] Und solch- eine dieser Studien ist eben [...] in unserem Wirkungsbereich nicht durchgeführt worden, weil wir uns nicht anfreunden konnten mit diesem Konzept der fixen Höchstdosis. Das fanden wir ethisch - - -nicht vertretbar.« (Guth, Z. 258–272)

Sachliche Argumente bestimmen die Begründung, warum ein bestimmter Versuch (nicht) genehmigt wird. Interessant ist jedoch, dass der Befragte sich nicht damit begnügt, die medizinische Bedenklichkeit der dargestellten Forschungsidee zu konstatieren, vielmehr reformuliert er seine Expertise laienverständlich im Modus der Ethik. Auch in den Ethikkommissionen liegt das Ethische eines Forschungsantrags nicht per se auf der Hand, es wird von den beteiligten Experten stets aufs Neue hergestellt. Anstatt authentisches Erleben gegenüber professionellen, also sachlichen Positionen kritisch in Stellung zu bringen, wie wir es für die KEKs gezeigt haben, fungiert das medizinisch-ethische Argument hier über die professionelle Perspektive als ethisches Argument. Die körperliche Integrität der Versuchsperson stellt das Bezugsproblem der medizinischen Expertise als ethische Expertise im Kommissionsverfahren dar. Diese Orientierung an

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professionsspezifischen Leitwerten lässt sich auch für wissenschaftliche und juristische Argumente und in ähnlicher Form auch für die Argumente der Ethikexperten beobachten.19 Wissenschaftliche Argumente biometrischer bzw. statistischer Natur gewinnen ihre ethische Dimension über die laienverständliche Problematisierung von Versuchsdesigns, welche die Möglichkeit vermissen lassen, gesicherten Erkenntnisgewinn zu erzielen. Von den juristischen Mitgliedern der Ethikkommissionen wird die eigene professionelle Perspektive, die sich über den Schutz von Persönlichkeitsrechten definiert, im Modus der Ethik reformuliert. Das ethische Problem liegt für den Juristen in der Abwägung konfligierender Grundrechte gegeneinander. Nicht zuletzt präsentieren auch Ethikexperten ihren eigenen ethischen Zugang zum Thema. Wenngleich in der Praxis oft von Theologen vertreten, zeichnet sich diese Position jedoch keineswegs durch spezifisch christliche oder normative Argumentationsmuster aus, sondern rückt besonders die Verständlichkeit der Probandenaufklärung für Nicht-Mediziner, Nicht-Wissenschaftler, Nicht-Juristen in den Mittelpunkt.20 Trotz aller Divergenz zu den kommunikativen Praxen klinischer Ethik-Komitees zeigt sich also auch hier, dass sich das Ethische in Stilfragen ausformulieren lässt: Wie gelingt es eigentlich unterschiedlichen Experten, sich so aufeinander einzustellen, dass sie miteinander ins Gespräch kommen und ihre hier tatsächlich als Argumente ausgewiesenen Sichtweisen einer gemeinsamen Lösung zugeführt werden können? Man könnte also sagen, dass es gerade vor dem Hintergrund des Vorliegens eines relativ strikten rechtlichen Rahmens für die ForschungsEthikkommissionen funktional ist, auf Ethik abzustellen. Die Ethik scheint es den Beteiligten zu ermöglichen, trotz der Komplexität der jeweils eigenen Perspektive für den Entscheidungsfindungsprozess auch noch das wahrnehmen zu können, was andere Perspektiven hierfür einzubringen haben.

19 Gina Atzeni/Elke Wagner: »Ethik als institutionalisierte Dauerreflexion. Das Beispiel Ethik-Komitees und Ethik-Kommissionen der Arzneimittelforschung«, in: HansGeorg Soeffner (Hg.), Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008, Wiesbaden, CD-ROM. 20 G. Atzeni/E. Wagner: »Ethik als institutionalisierte Dauerreflexion«; Bijan FatehMoghadam/Gina Atzeni: »Ethisch vertretbar im Sinne des Gesetzes – Zum Verhältnis von Ethik und Recht am Beispiel der Praxis von Forschungs-Ethikkommissionen«, in: Silja Vöneky/Cornelia Hagedorn/Miriam Clados/Jelena von Achenbach (Hg.), Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht – Interdisziplinäre Untersuchungen, Berlin, Heidelberg 2008, S. 115–144.

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Die Ethik der Ethikkommissionen entfaltet sich nicht über normative Kriterien oder über authentisches Einfühlen, sondern über professionelles Expertenwissen. Man sieht, dass das sachliche Faktum im Kommissionsverfahren offenbar allein durch die laienverständliche Explikation eines medizinischen, wissenschaftlichen oder juristischen Experten als ethisches Argument funktioniert – ohne den Zwischenschritt einer ethischen Begründung im philosophischen oder normativen Sinne. Aus der Perspektive angewandter akademischer Ethik erscheint dies dann vielleicht als ethisch defizitär; soziologisch interessiert jedoch vielmehr, warum das Dargebotene im konkreten Kontext der Ethikkommissionen plausibel ist und welche Folgen die Rekonstruktion sachlicher Argumente im Modus der Ethik für die am Verfahren beteiligten Experten hat. Einen Anhaltspunkt hierzu bietet folgender Interviewausschnitt: »Wir sind unserem Gewissen unterstellt, also wir sind nicht, wir unterstehen äh äh nicht irgendeinem anderen Organ, also andersherum wir sind frei in unserer Entscheidung und entscheiden nur nach bestem Wissen und Gewissen. [I: Mhm] Letzten Endes durch unser Gewissen da, Ausschlaggebende. – Und - - - da ist äh liegen letztlich die meisten auf einer ähnlichen äh äh Linie, wenn klar ist, amal was Sache ist [I: Ja], da muss ma zuerst mal eben feststellen, wie hoch sind denn in etwa die Risiken, was sind die Vorteile, kann man etwas zumuten oder nicht, dann wird darüber diskutiert und dann – äh schlussend – da gibt’s schon leichte Unterschiede zwischen einzelnen, aber dann einigt man sich doch im Allgemeinen auf ein Vorgehen. Und erkennt: Das kann man noch machen, oder kann man machen und das nicht. Da gibt’s dann zwischen den Mitgliedern eben Diskussionen, am Ende aber doch häufig eine häufig, nicht immer, nicht immer eine Linie.« (Pohl, Z. 370– 380)

Wenngleich den Kommissionsmitgliedern der rechtliche Status der Ethikkommissionen bewusst ist und dieser sehr kritisch thematisiert wird, scheint sich über die Ethisierung des behördlichen Entscheidungsverfahrens ein Stil der Verhandlungen zu etablieren, der die – ehrenamtlich arbeitenden – Mitglieder ganz anders an das Verfahren bindet, als dies etwa in einer Behörde, die der Begutachtung von Bauvorhaben dient, zu erwarten wäre. In erster Linie gelingt es durch die Ethisierung von Sachlichem – und damit explizit nicht dessen Suspendierung – in den Ethikkommissionen Anschlussfähigkeit für unterschiedliche professionelle Logiken herzustellen und die Behörde, die die ForschungsEthikkommission aufgrund ihres rechtlichen Status ist, als gute Behörde auszuweisen, die keine Routine-, sondern Gewissensentscheidungen fällt.

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»Mhm – n großer Teil der Bedenken – äh hat mich zunächst mal sehr überrascht und ich hatte n bisschen Zeit um des einzusehen, aber es ist schon auch richtig ähm wendet sich darauf ob die Studie überhaupt auch wissenschaftlichen Nutzen bringen kann wirklich [...]: Also wenn jetzt zum Beispiel von der Statistik ähm viel zu wenig Patienten eingeschlossen sind, dass man eigentlich aufgrund dieser kleinen Patientenzahl gar keine wirklich äh tragfeste Aussage hat. Dann erheben wir auch Bedenken. Dann sag ma da wern Patienten eingespannt und belästigt - - - seh ich jetzt auch so, is wirklich auch n ethisches Problem da Leute zu belästigen und nachher hat man gar keinen Erkenntnisfortschritt ge. [...]« (Haferstroh Z. 179–191)

Dies geschieht freilich nicht im Sinne einer entdifferenzierenden Aufhebung der Funktionslogiken. Die Akzeptanz der Argumente wird auch hier, wie die Erklärung des Theologen zeigt, eher stilistisch über ihre Nachvollziehbarkeit als ethisch legitime Position erreicht. Dies ist insbesondere dann als spezifische Leistung zu betrachten, wenn man sich andere Kontexte vor Augen führt, in denen das Aufeinanderprallen unterschiedlicher professioneller Perspektiven zu unversöhnlichen Konflikten führt. »Und des is eine Ethikkommission ähm, die äh muss ich sagn äh, menschlich äh sehr sehr gut arbeitet, wir sehen uns zwar nie und kennen uns privat nicht, aber in der Kommission es sagt jeder wie er dazu steht, es wird diskutiert [I: mhm] äh de es wird auch angenommen, wenn man mit seiner Einstellung sozusagen nicht reüssiert und die andern ne andre ham. Es wird genau hingehört, was jemand hat, wie gsagt, zu sagen hat. Ich habe mir dann auch mal erlaubt, den Juristen als spitzfindig zu bezeichnen (lacht) was er mir fast übel genommen hat, aber es hatte dann immerhin zur Auswirkung, dass er äh im Zug noch ein zweiseitiges Schreiben verfasst hat, warum und wieso. Also verstehn Sie, man befruchtet sich gegenseitig zum Wohle der Studie und der Kommission [I: mhm] äh und man lernt sehr viel draus.« (v. Ring, Z. 535–544)

Die Argumentationslogiken bleiben zwar weiterhin disparat, geredet wird jedoch über das Gleiche: ethische Probleme in Forschungsanträgen. Wenngleich dargestellt wurde, dass hier zumindest implizit die Idee einer diskursiven Verständigung, eines zwanglosen Zwangs des besseren Arguments für das ethische Selbstverständnis der Kommissionen leitend ist, folgt deren Entscheidungspraxis hingegen sehr wohl Zwängen. Jenen Zwängen nämlich, die der rechtliche Rahmen vorsieht, der eine behördliche Entscheidung verlangt und klare Entscheidungskriterien definiert:

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»Also eh klar, der Mediziner kommt jetzt eigentlich mit dem Ansatz her, also n Arzneimittel kann doch bloß was was pharmakologische Wirkung hat – sein [I: mhm] und Zimt hat keine pharmakologische Wirkung, also deswegen äh Zimt kein Arzneimittel. Und ich komm mit dem Ansatz, ja gut, wenn d- Zimt in Kapseln verabreicht wird, um positiv auf Herz-Kreislauf-Krankheiten äh einzuwirken, dann – is völlig egal, ob er objektiv die Wirkung hat, entscheidend ist, dass es dazu verabreicht wird, ja.« (Jung, Z. 223–229)

Das Beispiel zeigt einen fast als klassisch zu bezeichnenden Konflikt zwischen einer medizinischen Perspektive, die sich für die faktische Wirkung einer Substanz auf den Organismus interessiert, und einer juristischen Perspektive, welche die Intention der Verabreichung als relevantes Kriterium und die sich hieraus ableitenden versicherungstechnischen Notwendigkeiten in den Vordergrund rückt. Eine sachliche Aushandlung der beiden Positionen findet im Rahmen der Ethikkommissionen nicht statt – nicht das bessere Argument, sondern das gesetzlich Gebotene setzt sich durch. In den Ethikkommissionen des AMG gelingt es einer sachlichen Ethik einerseits, die verschiedenen sachlich-disparaten Perspektiven auf Forschungsanträge als wechselseitig geltungsberechtigt zu präsentieren, gleichzeitig verdeckt die ethisierte Form zumindest teilweise das rigide und seltsam anmutende rechtliche Korsett, das anfechtbare Verwaltungsakte von ehrenamtlichen Mitgliedern erstellen lässt. Trotz aller Divergenz der sich bis hierhin abzeichnenden ethischen Praxen bleibt zu fragen, welche gemeinsamen Bezugspunkte sich ablesen lassen, wenn es um Ethik im praktischen Kontext geht.

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FUNKTIONALE U NTERBESTIMMTHEIT L ABELS DER E THIK

Ethik als Begriff findet sich aktuell in unterschiedlichsten Formen sozialer Praxis wieder. Die Zunahme bereichsspezifischer Ethiken demonstriert diesen Zusammenhang.21 Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, warum es hierzu gekommen ist. Was macht die Ethik so anschlussfähig? Wir wollen eine

21 Vgl. Alexander Bogner/Wolfgang Menz/Wilhelm Schumm: »Ethikexpertise in Wertkonflikten. Zur Produktion und politischen Verwendung von Kommissionsethik in Deutschland und Österreich«, in: Renate Mayntz et al. (Hg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld 2008, S. 243–268; Wolfgang Krohn: »Funktionen der Moralkommunikation«, in: Soziale Systeme 5 (1999), S. 313–338.

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mögliche Antwort auf diese Frage vor dem Hintergrund der eben dargestellten Analyse erläutern. Ethik als leerer Signifikant Die Pluralität der Anschlüsse in Bezug auf Ethik scheint zumindest einen Hinweis darauf zu geben, dass es sich bei der praktischen Ethik um ein relativ offenes Format handelt, das nahezu überall verwendet werden kann. Sie erweist sich, so lautet unsere These, in der Praxis als funktional unterbestimmt. Die hier vorgenommene Analyse hat gezeigt, dass es in ethisierten Praktiken nicht darum geht, an systematische Ethiken der (angewandten) Philosophie anzuschließen. Der Verweis auf Ethik löst vielmehr ganz eigene, praktische Probleme. Ähnlich einem Label nimmt Ethik hier die Gestalt eines Rahmens an, der Vergleichsarrangements für unterschiedliche Publika eröffnet; die Unterbestimmtheit des Labels ermöglicht dann eine universale Zitierbarkeit. Wir möchten diesen Zusammenhang an das anschließen, was Ernesto Laclau mit dem Begriff des leeren Signifikanten22 bezeichnet hat. Der leere Signifikant dient Laclau zunächst als Lösung für das Problem, die Einheit des Systems im System darzustellen zu können.23 Ethik als leerer Signifikant erweist sich als gemeinsamer Knotenpunkt des Diskurses einerseits, so ließe sich mit Stäheli formulieren, »als besonders bedeutungsreich [...], kann aber nur funktionieren [...], weil er zunehmend von jeglicher Bedeutung entleert wird«24. Das Label der Ethik bündelt einen praktischen Diskurs, ohne direkt auf bestimmte Bedeutungsinhalte abzuzielen. Was Stäheli in Auseinandersetzung mit Laclau am Beispiel von Schönheit herausarbeitet, lässt sich tatsächlich wortwörtlich auf das Label der Ethik übertragen: »Indem Schönheit zu einer Kommunikation wird, die fast ausschließlich als spezifische Mitteilungsweise (und nicht als Information) relevant wird, schafft sie den Raum, in dem Information prozessiert werden kann, d.h. unterschiedliche Vorstellungen von Schönheit kommuniziert werden können.«25 Aus der solchermaßen sich abbildenden Unterbestimmtheit des Labels der Ethik lässt sich gleichermaßen seine Zitierbarkeit in diversen Kontexten erklären.

22 Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz, Wien 1996, S. 65ff. 23 Hiermit ist bei Laclau zunächst nur das System der Sprache gemeint. 24 Urs Stäheli: »Die Kontingenz des Globalen Populären«, in: Soziale Systeme 6 (2000), S. 85–110, hier S. 94. 25 Ebd., S. 96.

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Effekte der Ethisierung Die Effekte des ethisierten Diskurses zeigen sich in der Medizin in der Promotion von Wahrnehmungsfragen, in der Symmetrisierung von Publika und in der Stabilisierung von Entscheidungen über Mechanismen der Destabilisierung. Mit dem Hinweis auf die Promotion von Wahrnehmungsfragen durch Ethisierung ist Folgendes gemeint: Der Prozess der informationellen Entleerung von Ethik lenkt den Blick auf die Materialität der Kommunikation selbst. Das Ethische rückt die Form der Kommunikation selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.26 Irmhild Saake und Dominik Kunz fassen entsprechend den Effekt der Ethisierung von Diskursen als ethische Sensibilisierung und meinen damit Folgendes: »Unter dem Begriff der ›ethischen Sensibilisierung‹ soll [...] eine Selbstbeschreibung der Mitglieder von ethischen Diskursen verstanden werden, bei der [...] die Reversibilität jedweden Arguments zugunsten einer Kultur der reversiblen Argumente behauptet wird.«27 Wenn es um praktische Ethik geht, dann gerät neben dem sachlichen Argument die Darstellungspraxis der Diskursbeteiligten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wie Saake und Kunz herausarbeiten, orientiert sich diese ethisierte Darstellungspraxis vordringlich nicht am Austausch von Argumenten per se, sondern darüber, dass der eigene Geltungsanspruch nur einer neben anderen ist:28 »Ethische Sensibilisierung stellt sich auf diese Weise als ein Verfahren dar, das von der Macht der Vernunft distanziert [...]. In der Gegenwart

26 Siehe hierzu etwa auch die Beobachtungen von Julia Inthorn zu den hier behandelten Klinischen Ethik-Komitees aus theologischer Perspektive: »Die Mitglieder der EthikKomitees nehmen [...] abwechselnd die verschiedenen Sichtweisen der Beteiligten ein, in der Regel ohne sie zu bewerten. Vielmehr wird den unterschiedlichen Sichtweisen ein eigenständiger Stellenwert zugeschrieben.« (Julia Inthorn: »Die Ethik Klinischer Ethik-Komitees – eine Rekonstruktion«, in: Reiner Anselm (Hg.), Ethik als Kommunikation. Zur Praxis Klinischer Ethik-Komitees in theologischer Perspektive, Göttingen 2008, S. 153–175, hier S. 157). 27 Irmhild Saake/Dominik Kunz: »Von Kommunikation über Ethik zu ›ethischer Sensibilisierung‹: Symmetrisierungsprozesse in diskursiven Verfahren«, in: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006), S. 41–56, hier S. 41. 28 Hierzu wiederum die Einschätzung von Inthorn: »Der dargestellte Wertekonsens [im Klinischen Ethik-Komitee, Anm. der Autorinnen] ist [...] nicht im Sinne eines Habermasschen Konsens zu verstehen. Die geteilten Werte lassen sich empirisch rekonstruieren, sind aber nicht das Ergebnis diskursiver Verständigung und werden innerhalb der Ethik-Komitees beispielsweise nicht auf ihre Universalisierbarkeit hin überprüft.« (Inthorn: »Die Ethik Klinischer Ethik-Komitees«, S. 169).

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des Argumentierens gerinnt die Überzeugungskraft [...] [von] Expertise zu einer unerträglichen Asymmetrie.«29 Nichts anderes sei hier konstatiert mit dem Ausweis des Ethischen als eine Verschiebung von Informations- zu Wahrnehmungsfragen. Wenn es um Ethik in praktischen Diskursen geht, rückt neben dem informationellen Gehalt des Arguments selbst die Form der Kommunikation ins Blickfeld. Das heißt, dass selbst wenn argumentiert wird, das spezifisch Ethische sich immer dann zeigt, wenn gefragt wird, wie sich diese Argumente zueinander verhalten. Ein weiterer Effekt, der sich aus der Unterbestimmtheit des Labels der Ethik ergibt, ist die Symmetrisierung der am Verfahren beteiligten Sprecher. Dies beobachtet etwa Bogner: »Ethisierung erzwingt Laienbeteiligung; sie lädt zum Mitreden ein, weil die Meinungen als Meinungen Geltung haben – und nicht durch ethisches Spezialwissen unterfüttert werden müssen [...]. Damit bringt Ethisierung eine tendenzielle Grenzauflösung zwischen Experten und Laien zum Ausdruck bzw. forciert diese.«30 In den von uns untersuchten Verfahren zeigte sich zwar gerade keine Auflösung von Perspektiven und keine Tendenz zur DeProfessionalisierung, sichtbar wurde aber, dass das ethisierte Verfahren die beteiligten unterschiedlichen Perspektiven tatsächlich auf gleicher Augenhöhe versammeln kann – selbst im Falle der Forschungs-Ethikkommissionen müssen zumindest medizinische Laien gehört werden. Schließlich stellt sich über die Ethisierung von Entscheidungsfindungsprozessen eine bemerkenswerte Praktik der Stabilisierung von Entscheidungen über deren vorgängige Destabilisierung durch Verfahrensformen ein. Bogner beobachtet in seiner Studie zu nationalen Ethikräten ein ähnliches Moment und fasst dieses begrifflich als »generalisierte […] Dissenserwartung«31, die mit der Ethisierung von Diskursen einhergehe. Diese Dissenserwartung des Ethischen stellt Bogner der juristischen Rede gegenüber, die eher auf die Schließung von Diskursen abziele: »In ethischen Fragen scheint ein vergleichbarer Schließungsmodus der Konflikte, z. B. durch nationale Ethikräte, nicht möglich. Ethik-

29 I. Saake/D. Kunz: »Von Kommunikation über Ethik zu ›ethischer Sensibilisierung‹«, S. 44. 30 Alexander Bogner: »Ethisierung und die Marginalisierung der Ethik. Zur Mikropolitik des Wissens in Ethikräten«, in: Soziale Welt 60 (2009), S. 119–137, hier S. 129. Vgl. auch Wolfgang van den Daele: »Streitkultur. Über den Umgang mit unlösbaren moralischen Konflikten im Nationalen Ethikrat«, in: Dieter Gosewinkel/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit, WZB-Jahrbuch 2007, Berlin 2007, S. 357–384, hier S. 362. 31 A. Bogner: »Ethisierung und die Marginalisierung der Ethik«, S. 128.

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räte haben weder die formale Autorität noch die Glaubwürdigkeit, Ethikfragen verbindlich zu regeln; sie glauben selbst nicht an die Überlegenheit ihrer Empfehlungen. In der Praxis verdoppeln sie lediglich den real existierenden Dissens. Die Schließung des Wertkonflikts wird damit zur politischen Aufgabe. Kurz: Es gibt im Fall des Rechts Konsenserwartungen, die dauerhaften Dissens illegitim machen und die Überwindung des Dissenses nur mithilfe juristischer Methoden legitim erscheinen lassen.«32 Während die Ethik zu einer immer weitergehenden Öffnung des Diskurses führt, schließen rechtliche Semantiken Diskurse und führen sie einer Entscheidungsfindung zu. In der rechtlich durchaus schwierigen Situation, in der ehrenamtliche Mitglieder der Forschungs-Ethikkommissionen bindende Behördenentscheide erlassen, kompensiert die Ethisierung von Argumenten die Unsicherheit der konkreten Entscheidungssituation und ermöglicht so selbst im Horizont des Ungewissen die Festlegung auf eine gemeinsame Position. Eine Gesellschaft, die sich ethisierte Verfahren zumutet, setzt sich mehrerlei Dingen aus: Sie konfrontiert sich offen mit der Unbestimmtheit von Entscheidungslagen. Sie reagiert hierauf mit Demokratisierung, insoweit als Entscheidungsfindungsprozesse durch unterschiedliche Publika ergänzt werden. Damit manifestiert sie den Eindruck, dass der Plausibilität einzelner Expertisen nicht ohne Weiteres zu trauen ist. Die von Schelsky noch angezweifelte Institutionalisierung der Dauerirritation scheint inzwischen als probates Mittel in einer Gesellschaft zu gelten, die unterschiedliche Kontexte und Publika kennt, die sich gegenseitig irritieren.

32 Ebd., S. 132.

II Legitimationsmuster im biomedizinischen Diskurs

Tradierte Aussagesysteme Psychiatrie und Biomedizin als Diskurs und politische Praxis R OLF VAN R ADEN

E INLEITUNG Die Frage danach, welche Maßnahmen der Staat im Namen der Gesundheit erlauben, unterstützen und ergreifen darf, ist in der politischen Auseinandersetzung über biomedizinische Entwicklungen zentral. Was darf der Staat von seinen Bürgerinnen und Bürgern verlangen? Und welche Aufgaben soll er seinen Ärztinnen und Ärzten zuschreiben? Die Debatte darüber ist keinesfalls neu, sondern lässt sich sowohl in der Geschichte der Medizin als auch in der Geschichte der politischen Denksysteme über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart nachverfolgen. Im Jahr 1984 setzte der Deutsche Bundestag die erste Enquête-Kommission zu den »Chancen und Risiken der Gentechnologie« ein, die in ihrem Abschlussbericht pränatale Diagnostik und genetische Beratung grundsätzlich begrüßte, solange sie freiwillig sowie nondirektiv erfolgen und solange sich dadurch »keine ›eugenisch‹ bestimmte Abtreibungspraxis«1 etabliere. Gentransfer in somatische menschliche Zellen sei eine »grundsätzlich vertretbare Therapieform«2. Gentechnische Eingriffe in die menschliche Keimbahn sowie menschliches Klonen sollten dagegen strafrechtlich verboten werden, forderte die Kommission.3 Während sich die biomedizinischen Techniken rasant weiterentwickelten, setzte sich auch die politisch-parlamentarische Auseinandersetzung fort – unter

1

Deutscher Bundestag, Drucksache 10/6775 (06.01.1987), S. XI.

2

Vgl. ebd., S. XV.

3

Vgl. ebd., S. XVI.

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anderem in zwei weiteren Enquête-Kommissionen zu »Recht und Ethik in der modernen Medizin«4. Mit dem Embryonenschutzgesetz, dem Stammzellgesetz und seit Anfang des Jahres 2010 auch mit dem Gendiagnostikgesetz gelten inzwischen einige Vorschriften, die biomedizinische Forschungen und Anwendungen regulieren. Gleichwohl ist insbesondere das Verhältnis von postulierten Individualrechten und behaupteten gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen weiter ein Feld der politisch-juristischen Auseinandersetzung. Dass die faktischen Rechtsnormen auch bei gleichbleibend gültigen Gesetzestexten einer Wandlung unterliegen, zeigte etwa das Urteil des Bundesgerichtshofs im Juli 2010, welches die Präimplantationsdiagnostik (PID) trotz der einschlägigen Bestimmungen des Embryonenschutzgesetzes in Einzelfällen für zulässig erklärte.5 Insgesamt ist heute in der Rede über gendiagnostische Verfahren ein liberaler Modus vorherrschend: Zwang soll verhindert, Möglichkeiten sollen genutzt werden. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diese Debatten diskurshistorisch zu kontextualisieren. Denn die politischen Auseinandersetzungen über Biomedizin werden längst nicht nur von aktuellen Forschungsergebnissen befeuert und angetrieben. Sie sind auch untrennbar in Diskurse eingebunden, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. So verweisen etwa einige Kritikerinnen und Kritiker der PID auf die Selektion und die Tötung von vorgeblich ›lebensunwertem Leben‹ in der NS-Zeit. Jedoch greift eine historische Perspektive zu kurz, die sich auf den Vergleich mit dem Nationalsozialismus beschränkt und entweder Ähnlichkeiten postuliert oder sie in Abrede stellt. So spielten sich Auseinandersetzungen, wie sie heute in Bezug auf die Humangenetik und in den Neurowissenschaften geführt werden, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Umfeld einer damals neuen und hoch innovativen medizinischen Disziplin ab, die ähnlich wie die Humangenetik heute den Anspruch hatte, eine exakte Erblichkeitsforschung zu entwickeln: die Psychiatrie. Unter Einbeziehung dieser historischen Perspektive geht es im Folgenden darum, zentrale Diskursstrategien auszumachen, mit denen über Gesundheit und Krankheit in ihrer politischen Dimension gesprochen wurde und wird. Mit Bezug auf die diskurstheoretischen Konzepte der Biopolitik und der Gouvernementalität soll auf die strukturellen Gemeinsamkeiten, aber vor allem auch auf die diskursiven Wandlungen von der alten psychiatrischen hin zur neuen biomedizinischen Rede eingegangen werden. Grundlage ist dabei die Annahme, dass sich im Rahmen dieser Prozesse Machtverhältnisse nicht nur abbilden, sondern sich auch konstituieren – Verhältnisse,

4

Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/9020 (14.05.2002) sowie 15/5980 (06.09.2005).

5

Vgl. BGH-Urteil des 5. Strafsenats vom 6.7.2010 – 5 StR 386/09.

T RADIERTE A USSAGESYSTEME

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in denen sich die Wahrnehmungsmuster und Plausibilitätsketten begründen, die sowohl Grundlage für konkrete Gesetzgebungsverfahren als auch darüber hinaus für bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sind.6

P OLITISCHE ADMINISTRATION VON G ESUNDHEIT : Z WEI P ARLAMENTSBESCHLÜSSE , ZWEI M ODELLE Im Jahr 2009 fanden der Deutsche Bundestag und das Europäische Parlament zwei Antworten auf Fragen der politischen Regulierung von biomedizinischen Techniken, wie sie unterschiedlicher kaum ausfallen konnten. Am 23. April wurde in Straßburg vom EU-Parlament ein umstrittener Bericht über seltene Krankheiten verabschiedet.7 Nur einen Tag später stimmte der Bundestag in Berlin endgültig über das Gendiagnostikgesetz8 ab. Die zeitliche Nähe der Entscheidungen wirkt wie ein Brennglas, unter dem die beiden völlig unterschiedlichen Politikansätze in Bezug auf die gesellschaftliche Regulation von Gesundheit sichtbar werden. Auf der einen Seite steht der Beschluss des Europäischen Parlaments. Unter Vorsitz des griechischen Biochemikers und EU-Parlamentariers Antonios Trakatellis hatte der Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit eine Vorlage mit Empfehlungen für eine europäische Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten erstellt. Das Ziel des ins Auge gefassten Programms ist es, die Verbreitung von 5.000 bis 8.000 seltenen Krankheiten einzudämmen. Von jeder dieser Krankheiten seien zwar nur sehr wenig Menschen betroffen, zusammengenommen – so erklärte der Bericht – erkrankten an ihnen jedoch sechs bis acht Prozent der europäischen Bevölkerung. Der vom EU-Parlament verabschiedete Bericht sorgte für einiges Aufsehen, weil er den Mitgliedsstaaten nahelegt, mit bestimmten Maßnahmen Einfluss auf

6

Zum Methodenvorschlag der Kritischen Diskursanalyse, die diesem Ansatz zugrunde liegt, vgl. Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster, 5. Auflage 2009 sowie Siegfried Jäger/Jens Zimmermann, Lexikon Kritische Diskursanalyse. Eine Werkzeugkiste, Münster 2010.

7

Vgl. Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23.04.2009 zu dem Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für eine europäische Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten (KOM(2008)0726 – C6-0455/2008 – 2008/0218(CNS)).

8

Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (GenDG), Bundesgesetzblatt I/2009 Nr. 50, S. 2529–2538.

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das persönliche Reproduktionsverhalten ihrer Bevölkerungen zu nehmen. Der von dem Ausschuss vorbereitete Antragsentwurf sah vor, »Bemühungen zu unterstützen, um seltene Erbkrankheiten zu verhindern, die schließlich zur Ausmerzung dieser seltenen Krankheiten führen werden«9. Nach heftigen Diskussionen wurde das Ziel der EU-weiten »Ausmerzung« (in der englischen Fassung des Antrags: eradication) seltener Erbkrankheiten aus dem Empfehlungskatalog gestrichen, bei politischen »Bemühungen [...], um seltene Erbkrankheiten zu verhindern«10 ist es jedoch geblieben. Die bevölkerungspolitische Logik im Beschlusstext lautet: Um vererbbare Krankheiten zu verhindern, müsse Vererbung verhindert werden. Deshalb empfiehlt der Parlamentsbeschluss den EUMitgliedsstaaten die »genetische Beratung der als Überträger der Krankheit fungierenden Eltern«11. Außerdem rät der Bericht »gegebenenfalls und unbeschadet der bestehenden nationalen Rechtsvorschriften und stets auf Freiwilligkeit beruhend« zur »Auswahl gesunder Embryos vor der Implantation«12 – also zur Präimplantationsdiagnostik im Namen der Volksgesundheit. Soweit der Beschluss am 23. April 2009 in Straßburg. Das nur einen Tag später in Berlin verabschiedete Gendiagnostikgesetz hat wie der EU-Bericht das Verhältnis der Politik zu medizinisch-genetischen Untersuchungen und Beratungen zum Thema – und zwar angesichts aktueller Analyseverfahren, die in der Lage sind, Prädispositionen für bestimmte Krankheiten lange vor ihrem eventuellen Auftreten zu diagnostizieren. Im Gegensatz zu den europäischen Empfehlungen geht es bei dem im Bundestag verabschiedeten Gesetz allerdings nicht darum, im Zweifelsfall Menschen durch genetische Beratung dazu zu bewegen, sich nicht fortzupflanzen, weil sie unter Umständen kranke Nachkommen zeugen könnten. Im Gegenteil stärkt das Gesetz die Rechte des Individuums gegenüber der Gesellschaft: Erstmals verbrieft es neben einem Recht auf Wissen über mögliche genetische Dispositionen auch ein Recht auf Nichtwissen. Es verbietet außerdem genetische Untersuchungen bei ungeborenen Kindern in Bezug auf Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter ausbrechen. Anstatt also wie der EUAusschuss für Volksgesundheit zusätzliche genetische Untersuchungen einzufordern, setzt es verhältnismäßig restriktive Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit medizinische Gendiagnostik zulässig ist: So dürfen die Untersuchun-

9

Änderungsantrag 24 vom 04.03.2009 zum Entwurf eines Berichts über eine europäische Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten (PE420.052v01-00).

10 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments im Bereich seltener Krankheiten, siehe FN 7, Empfehlung an die Mitgliedsstaaten Abs.1, Nr. 5a (neu). 11 Ebd. 12 Ebd.

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gen seit Inkrafttreten des Gesetzes nur nach einer verpflichtend ergebnisoffenen Beratung über die Chancen, Risiken und über die Aussagekraft der Gendiagnose durchgeführt werden. Folgt nach der Beratung im Vorfeld einer Untersuchung keine ausdrückliche und schriftliche Einwilligung des Betroffenen, ist die Untersuchung illegal und kann sogar mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden. Ebenso strafbar sind seither genetische Analysen, die vom genehmigten Untersuchungszweck abweichen sowie vorgeburtliche genetische Untersuchungen an Embryos, wenn sie zu anderen als bestimmten eng umrissenen medizinischen Zwecken durchgeführt werden.13 Der eine Parlamentsbeschluss empfahl also zusätzliche genetische Untersuchungen, der andere schränkte die Zulässigkeit von medizinisch indizierten Genanalysen ein. Oberflächlich betrachtet ist das der zentrale Unterschied zwischen beiden legislativen Entscheidungen. Bei einem genaueren Blick auf die verabschiedeten Texte lassen sich jedoch noch viel tiefer gehende Differenzen nachweisen – allen voran, dass ihnen zwei konträre Konzepte von Krankheit zugrunde liegen. Im EU-Papier ist Krankheit etwas, was die Gesamtgesellschaft in statistischen Prozentsätzen belastet: So sind laut dem Bericht Maßnahmen gegen die 5.000 bis 8.000 seltenen Krankheiten deswegen geboten, weil sie zusammengenommen sechs bis acht Prozent der Bevölkerung betreffen.14 Diese statistische Häufigkeit, das wird im Text betont, ist der Grund für das politische Handeln. Auch die Definition des Gegenstands wurde bevölkerungsstatistisch bestimmt: Es geht um Krankheiten, die nicht häufiger als bei fünf von 10.000 Menschen in der Europäischen Union auftreten.15 Der Bericht geht also von einem Krankheitsbegriff aus, der sich demografisch definiert. Ganz anders beim Gendiagnostikgesetz: Hier geht es nicht um den Schutz des Kollektivs vor statistischen Gefahren, sondern, wie schon Paragraf 1 festschreibt, um eine »staatliche Verpflichtung« zum »Schutz der Würde des Menschen«16. Daraus leitet sich ab, dass das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auch für die eigenen genetischen Daten gelten muss, und dass niemand aufgrund von genetischen Eigenschaften benachteiligt werden darf. Das Ziel dieser Politik ist also das im Singular adressierte Individuum, nicht die abstrakt-statistisch bestimmte Bevölkerung. Dem Gesetz liegt damit ein Krankheitsverständnis zugrunde, das Krank-

13 Vgl. GenDG §15 u. §25. 14 Vgl. Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments im Bereich seltener Krankheiten, siehe FN 7, Erwägung 4. 15 Vgl. ebd., Erwägung 2. 16 GenDG §1.

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heit als individuelles Leiden der Betroffenen versteht. Im Gegensatz dazu geht es in dem EU-Papier um ein Public-Health-Konzept, in dem es Aufgabe der Ärzte ist, nicht nur Individuen, sondern Bevölkerungen zu heilen. Die Proteste gegen den EU-Bericht waren laut und aufgeregt. In einem gemeinsamen Papier erklärten Mitglieder der Europäischen Volkspartei, der Liberalen und der Grünen Europafraktion: »Es sollte unser Ziel sein, Patienten zu helfen, die unter seltenen Erkrankungen leiden, und nicht die Patienten ›auszurotten‹.«17 Die Entscheidung darüber, was zu tun sei, wenn Erbkrankheiten in einer Familie auftreten, solle nicht von der Politik vorgegeben werden, forderte die überparteiliche Initiative weiter. »Die Entscheidung, ein Kind auch dann zu bekommen, wenn es behindert ist oder an einer Erbkrankheit leidet, sollte respektiert und solidarisch unterstützt werden.«18 Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe erklärte in einem Brief an die Mitglieder des Europäischen Parlaments, die Formulierungen im Antrag ließen »einen Dammbruch befürchten, nach welchem nicht mehr die Behandlung des von einer seltenen Krankheit betroffenen Menschen, sondern die Eugenik im Zentrum der Bekämpfung seltener Krankheiten stehen könnte«19. Weiter formulierte der diakonische Fachverband: »Begriffe wie ›Ausmerzung seltener Erbkrankheiten‹ (5a) lassen Assoziationen an Verbrechen zu, von denen sich die demokratischen Rechtsstaaten seit 1945 entschieden distanziert haben. ›Genetische Beratung‹ (a), die als Mittel zur Verhinderung und schließlich ›Ausmerzung‹ seltener Krankheiten dienen soll, ist nicht ergebnisoffen und setzt Betroffene unter einen unverantwortlichen gesellschaftlichen Druck. [...] Kein Parlament darf Vorstellungen wie die ›Ausmerzung‹ bestimmter erblicher Dispositionen zur Maxime staatlichen Handelns erklären und genetische Beratung in den Dienst staatlicher Präventionsprogramme stellen. Deutsche Mitglieder des Europäischen Parlaments sind in besonderem Maße aufgerufen, sich solchem Gedankengut entschieden zu widersetzen.«20 Die Europäische Gesellschaft für Humangenetik hatte sich bereits zwei Tage zuvor in einem dringenden Appell an die Abgeordneten gewandt, in dem sie in aller Deutlichkeit formulierte: »[...] ›eradicating‹ rare diseases by stimulating certain reproductive choices as a public health strategy is not acceptable from the

17 Peter Liese: »Europaabgeordnete gegen ›Ausrottung‹ von seltenen Krankheiten durch ›Selektion‹« Presseinformation vom 22.4.2009. 18 Ebd. 19 Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V.: Schreiben an die deutschen Abgeordneten zu den Änderungsanträgen von Antonios Trakatellis, 22.4.2009. 20 Ebd.

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professional standard of human genetics in Europe.«21 Genetische Beratungen müssten in jedem Fall nicht-direktiv erfolgen, also kein Ziel in Bezug auf das Ergebnis der Beratung haben: »The importance of non-directiveness in reproductive issues is a central characteristic of human genetics after the atrocities committed in the name of eugenics in the first half of the twentieth century.«22 Der direkte oder indirekte Bezug auf die Eugenik des Nationalsozialismus strukturiert insbesondere in Deutschland die Bioethik-Debatten. Seit den 1990er Jahren betonen Fürsprecher von Public-Health-Politiken andererseits verstärkt humanitäre Ziele der genetischen Forschung sowie eine mögliche Steigerung der Lebensqualität auf biomedizinischer Grundlage. In einer diskurshistorischen Studie hat Dorothee Obermann-Jeschke die Rede von einer ›neuen‹ Eugenik in Bezug auf biomedizinische Praktiken kritisch untersucht.23 Dabei macht sie eine erste Phase der Eugenik-Debatte in der Nachkriegszeit in den 1970er Jahren aus, in der sich – erst Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – die überwiegende Mehrheit der Molekulargenetiker von der Vision distanziert habe, steuernd in die menschliche Evolution einzugreifen. Statt auf genetisches Enhancement und auf die Manipulation von Keimzellen richteten sich demnach die Bestrebungen seit dieser Zeit darauf, genetische Diagnoseverfahren und eine somatische Gentherapie zu entwickeln, die keine erblichen Veränderungen zur Folge haben. Kritikerinnen und Kritiker der Humangenetik betonten dagegen schon zu diesem Zeitpunkt, dass auch genetische Diagnoseverfahren eugenische Wirkungen haben könnten, etwa durch die Selektion bestimmter Keimzellen. Dabei, so Obermann-Jeschke, habe auf beiden Seiten eine Identifikation des Eugenik-Begriffs mit den NS-Verbrechen stattgefunden. Dass es vorher und nachher andere eugenische Praktiken gegeben habe, denen es ebenso um die Verbesserung des menschlichen Erbguts durch menschliche Eingriffe ging, sei in der Auseinandersetzung weitgehend unberücksichtigt geblieben.24 Das habe sich erst in den 1990er Jahren geändert, als der bis dahin gültige Konsens, eugenische Verbesserung moralisch zu diskreditieren, in Frage gestellt worden sei: Nun seien in der öffentlichen Debatte über Humangenetik Stimmen zu hören gewesen,

21 European Society of Human Genetics: Urgent reaction European action rare diseases, 20.4.2009. 22 Ebd. 23 Vgl. Dorothee Obermann-Jescke: Eugenik im Wandel: Kontinuitäten, Brüche und Transformationen. Eine diskursgeschichtliche Analyse, Münster 2008. 24 Vgl. ebd., S. 20–27.

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die eine liberale, humanitäre und auf Freiwilligkeit beruhende Eugenik im Namen der Lebensqualität forderten.25 Obermann-Jeschke vollzieht in ihrer Studie die Kontinuitäten, Brüche und Transformationen im Eugenik-Diskurs von Charles Darwin und Francis Galton bis in die jüngste Vergangenheit nach. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse möchte ich auf eine Traditionslinie hinweisen, die anders als der häufig vorgetragene Bezug auf die Eugenik des Nationalsozialismus in aktuellen BiomedizinDebatten kaum eine Rolle spielt, obwohl sich strukturell aufeinander bezogene Diskursformationen nachweisen lassen.

P SYCHIATRIE

UND

B IOPOLITIK

Im ausgehenden 19. Jahrhundert begann die psychiatrische Forschung, sich als biologische Fachrichtung zu begreifen. Dabei wurde ihr eine ähnlich große öffentliche und politische Aufmerksamkeit entgegengebracht wie der Biomedizin zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Psychiatrie etablierte sich damals als erneuerte Wissenschaft, indem sie nicht nur bestimmte Formen abweichenden Verhaltens zum Wahnsinn erklärte, sondern auch durchsetzen konnte, diesen Wahnsinn als organisch bedingte Krankheit zu verstehen. Dass die Ursache für pathologisiertes Verhalten im Körper lokalisiert werden konnte, hatte weitreichende Konsequenzen sowohl für die medizinisch-politischen Diskurse als auch für die ärztliche Praxis; und zwar in einem Ausmaß, das in jüngster Vergangenheit vielleicht lediglich von der sogenannten ›Entschlüsselung‹ des menschlichen Genoms erreicht worden ist.26 Zur Analyse solch komplexer Zusammenhänge von wissenschaftlichen Aussagen und medizinischen Praktiken sowie politischen Legitimationsmustern und ihren Machteffekten entwickelte Michel Foucault ein diskurstheoretisches Handwerkszeug. In den 1970er Jahren formulierte er eine Machttypologie, mit der anhand einer Geschichte der Aussage- und Denksysteme verschiedene Formen des Regierens und Regiertwerdens systematisch zu unterscheiden sind. Dabei stellte Foucault der Machttechnik des souveränen Herrschens sowie der Dis-

25 Vgl. ebd., S. 27–35. 26 Um den wissenschaftlichen Gehalt zu beschreiben, wäre der Begriff der ›Sequenzierung‹ des menschlichen Genoms weit treffender. Die verbreitete Rede von der ›Entschlüsselung‹ der Gene, die dem Humangenomprojekt im Jahr 2001 gelungen sei, verweist auf die tiefgreifende gesellschaftliche Wirkung des diskursiven Ereignisses.

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ziplinarmacht27 mit der Bio-Macht einen dritten Machttypus an die Seite, dessen Auftreten er in der Mitte des 18. Jahrhunderts ausmachte: »Nach dem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend, wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungs-Menschen richtet.«28 Mit diesem Machttypus habe sich eine neue effektive Organisationsform von Herrschaft etabliert: »Es handelt sich um eine Technologie, die nicht durch individuelle Dressur, sondern durch globales Gleichgewicht auf etwas wie Homöostase zielt: auf die Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren. Mithin [...] um eine Technologie, in der die Körper durch die biologischen Gesamtprozesse ersetzt werden.«29 Der Begriff der Biopolitik bezeichnet in dieser Prägung also nicht primär die politische Auseinandersetzung mit den zunehmend bedeutsameren Biowissenschaften, so wie er mitunter verstanden wird. Unter Biopolitik ist in diesem Kontext viel grundsätzlicher die Weise zu verstehen, »in der man seit dem 18. Jahrhundert versuchte, die Probleme zu rationalisieren, die der Regierungspraxis durch die Phänomene gestellt wurden, die eine Gesamtheit von als Population konstituierten Lebewesen charakterisieren: Gesundheit, Hygiene, Geburtenziffer, Lebensdauer, Rassen«30. Nach diesem Verständnis zeichnet sich Biopolitik im

27 Unter Disziplinarmacht verstand Foucault die Macht, nicht nur einzelne Körper, sondern Körper und Seele in gleichem Maße durch Unterwerfung nützlich zu machen. Dabei handle es sich um moderne Organisationsformen des Verhaltens von Individuen, die im 17. Jahrhundert zur allgemeinen Herrschaftsform geworden sei: »Sie unterscheiden sich von der Sklaverei, da sie nicht auf dem Besitz des Körpers beruhen; das ist ja gerade die Eleganz der Disziplin, daß sie auf ein so kostspieliges und gewaltsames Verhältnis verzichtet und dabei mindestens ebenso beachtliche Nützlichkeitseffekte erzielt.« Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, S. 176. Anders als die souveräne Macht, die auf der zumindest zeitweisen physischen Präsenz eines Souveräns beruhte, kann die Disziplinarmacht nicht mit einer Institution identifiziert werden. Die Disziplinargesellschaft beruht demnach vielmehr auf einer Mikrophysik der Macht, in der die Beherrschten selbst die Machtverhältnisse stabilisieren. 28 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–1976), Frankfurt/M. 2001, S. 286. 29 Ebd., S. 294. 30 Michel Foucault: »Die Geburt der Biopolitik«, in ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. III, Frankfurt/M. 2003, S. 1020.

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Vergleich zu den politischen Praktiken der anderen Machttypen dadurch aus, dass es sich um eine ›positive‹ Machttechnik handelt, die die unterworfenen Subjekte nicht primär ausbeutet und schwächt, sondern die Lebenskräfte der Bevölkerung stärkt und organisiert. Das alte Recht der Souveränität, »sterben zu machen oder leben zu lassen« sei mit der Bio-Macht durch das umgekehrte Recht ergänzt worden, nämlich »leben zu machen und sterben zu lassen«31. Biopolitik in diesem Sinn ist, wie es Maria Muhle zusammenfasst, eine »Technik der Macht, die durch Förderung, Steigerung und Unterstützung des Lebens dasselbe regiert«32. Dabei bedient sich die Biopolitik, so Foucault, Praktiken der Medizin und der Hygiene, aber vor allem auch statistischen und demografischen Verfahren, durch welche die Bevölkerung erfasst und in ihrer politischen Dimension eigentlich erst konstituiert wird. Damit einher gehe die Zuschreibung von Normalität bzw. Anormalität, zwei Kategorien, die sowohl in medizinischen als auch in sozialen Kontexten zunehmend wirkmächtig wurden. Foucault untersuchte die Genese der integrativen Verschränkung von den auf das Individuum gerichteten Disziplinartechniken und den auf das Kollektiv gerichteten biologischen Regulationstechniken anhand der Geschichte der Psychiatrie. So nahm er an, dass sich im 19. Jahrhundert zwei psychiatrische Großtechniken zur Regulation der menschlichen Triebe herausgebildet hätten: einerseits die auf das Individuum gerichtete Psychoanalyse und andererseits die auf die kollektive Verbesserung des Triebsystems ausgerichtete Eugenik.33 Ein zentraler Schnittpunkt, an dem sich die Disziplinarmacht und biopolitische Praxis ganz konkret und materiell überlagern, stelle das Sexualitätsdispositiv dar: In der Sexualität trifft sich demnach die individuelle Formung und Disziplinierung des Körpers mit politischen Praktiken der Bevölkerungsregulation.34 Mit dieser Beobachtung erklärte Foucault, weshalb medizinische Praktiken, die sich auf die menschliche Sexualität und damit auf das Reproduktionsverhalten richten, in der Politik der vergangenen zwei Jahrhunderte eine so große Rolle gespielt haben. Durch eine solche Perspektive eröffnet sich gleichzeitig der Blick auf diskurshis-

31 M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 284. 32 Maria Muhle: Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem, Bielefeld 2008, S. 10. 33 Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974– 1975), Frankfurt/M. 2003, S. 176. 34 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983, S. 140–153. Vgl. dazu auch M. Muhle: Genealogie der Biopolitik, S. 30–38.

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torische Zusammenhänge, in welchen auch aktuelle legislativ-administrative Maßnahmen analysierbar werden.

D IE E RFINDUNG DER P SYCHIATRIE ALS MODERNE W ISSENSCHAFT Während Genetik, Biomedizin und Lebenswissenschaften in jüngster Vergangenheit wiederholt zu den Leitwissenschaften der kommenden Jahrzehnte erklärt worden sind, schickte sich Mitte des 19. Jahrhunderts die Psychiatrie an, eine entsprechende gesellschaftliche Funktion einzunehmen. Dass sie dabei medizinische Konzepte popularisierte, die inhaltlich als Vorläufer moderner biomedizinischer Vorstellungen angesehen werden können, wird dabei wenig beachtet. Im Jahr 1811 wurde der weltweit erste Lehrstuhl für »Psychische Therapie« in Leipzig mit Johann Christian August Heinroth besetzt, einem von den geistigen Strömungen der Romantik geprägten Mediziner und Pädagogen. Die romantische Psychiatrie sah psychische Störungen noch als Erkrankungen der gesamten, aber individuellen Person an und kritisierte die übersteigert rationalistische Suche nach überindividuellen Naturgesetzen. Bei Heinroth stand die Krankheit in einer engen Beziehung zur persönlichen Schuld: Seelische Krankheiten waren demnach die Folge eines sündhaften Lebenswandels. Will man den epistemischen Bruch zeitlich verordnen, in dem sich das psychiatrische Wissen grundsätzlich umstrukturierte, dann ist dieser Zeitpunkt gut 30 Jahre später anzusetzen, und zwar um 1845 mit der Veröffentlichung der Arbeiten und Lehrbücher des Psychiaters und Internisten Wilhelm Griesinger. Griesinger popularisierte zur Mitte des 19. Jahrhunderts, also gut 50 Jahre vor Sigmund Freud,35 das erste Triebmodell der deutschsprachigen Psychiatrie – und zwar auf neuropsychiatrischer Grundlage. »Irresein« definierte Griesinger als »anormales Verhalten des Vorstellens und Wollens«36, das lediglich als Symptom auf eine organische Pathologie hinweise. Geisteskrankheiten galten fortan als Gehirnkrankheiten. Eine der wohl weitreichendsten Folgen der Durchsetzung dieser biopsychiatrischen Erklärungsmuster war, dass abweichendes und zum Wahnsinn erklärtes Verhalten für die psychiatrische Medizin erblich wurde. An die Erblichkeit schloss sich wiederum die Rede über die »erbliche Belastung« an

35 Vgl. Sigmund Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt/M. 1999, S. 27–159. 36 Wilhelm Griesinger: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, Stuttgart 1845, S. 1.

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– ein Begriff, der seine zentrale Bedeutung dadurch gewann, dass er zwei Vorstellungen amalgamierte, die fortan kaum noch getrennt gedacht werden konnten: Nicht nur war das Individuum durch eine Erbkrankheit belastet, sondern gleichzeitig handelte es sich auch um eine Belastung des Gesellschaftskollektivs.37 Das zeigte sich nicht nur in den Schriften der Psychiater, sondern auch in dem Interesse der Kriminologie für das medizinisch-psychiatrische Wissen von der erblichen Belastung.38 In Anlehnung an die großen Degenerationstheorien der Psychiater Benedict Morel und Valentin Magnan spielte der Begriff der »Entartung«, also der erblichen pathologischen Abweichung, bereits 1880 in Heinrich Schüles einflussreichem »Handbuch der Geisteskrankheiten«39 eine zentrale Rolle für die Genese von Geisteskrankheiten. Wie eng die wissenschaftliche Vorstellung von der pathologischen Degeneration vormals medizinische Fragen an eine soziale Praxis band, die man heute als Public-Health-Konzept bezeichnen würde, wird paradigmatisch in Emil Kraepelins Vortrag »Zur Entartungsfrage«40 aus dem Jahr 1908 deutlich. Degeneration und Entartung waren für den bekannten Psychiater keine rein biologischen Begriffe, sondern mit ihnen wurden einerseits soziale Verhältnisse biologistisch gedeutet, andererseits aber auch kulturell-soziale Entwicklungen als Ursache für biologische Veränderungen beschrieben. So beklagte Kraepelin das »rasche und stetige Anwachsen der anstaltsbedürftigen Geisteskranken«41 und identifizierte die moderne Großstadt als »eine Brutstätte der Paralyse und des Alkoholismus«42. Noch schlimmer als die unmittelbare Wirkung der modernen Kulturkrankheiten sei jedoch »die durch sie verursachte Keimschädigung, die eine Entartung ganzer Geschlechter bedingen kann«43. Um die für die gesamte Abstammungsgemeinschaft gefährliche Vererbung aufhalten zu können, forderte Kraepelin umfangreiche Untersuchungen, in

37 Für eine diskursanalytische Einzelstudie, die anhand eines paradigmatischen Falls diese diskursive Verknüpfung in Zeitungsartikeln, Gutachten und psychiatrischen Texten nachverfolgt, vgl. Rolf van Raden: Patient Massenmörder. Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse, Münster 2009. 38 Vgl. Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002, S. 340–344. 39 Heinrich Schüle: Handbuch der Geisteskrankheiten (=Bd. 16 von Ziemssens Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie), Leipzig, 2. Aufl. 1880. 40 Emil Kraepelin: »Zur Entartungsfrage«, in: Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 31/19NF (1908), S. 745–751. 41 Ebd., S. 745. 42 Ebd., S. 746. 43 Ebd.

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denen die Bevölkerung mindestens einer Großstadt und eines Landbezirks lückenlos medizinisch-statistisch erfasst werden sollte. Es sei schließlich die Aufgabe der Irrenärzte, das Volk und die Regierungen auf die Gefahr hinzuweisen und »ihnen zugleich die Wege zu zeigen, die zur Gesundung unserer Rasse beschritten werden müssen«44. Emil Kraepelin nahm hier paradigmatisch eine Umformulierung der ärztlichen Ethik vor: Nicht die Heilung des einzelnen Menschen, sondern die Heilung des Volkskörpers war in dieser Vorstellung die zentrale Aufgabe des Arztes. Die Forderung nach einer ärztlich-statistischen Erfassung ganzer Landstriche machte gleichzeitig den erweiterten Gestaltungsanspruch der modernen Medizin deutlich. Dieser Anspruch wurde unter anderem dadurch plausibilisiert, dass die Ärzte angeblich erbliche und entartungsbedingte Krankheiten am Individuum für unheilbar erklärten und sich deshalb der Heilung des Kollektivs zuwendeten. Darin manifestierte sich auch ein massiver politischer Gestaltungsanspruch der psychiatrischen Medizin. Die Folge waren intensive Debatten über eine Reform der Irrengesetzgebung, in denen die Psychiater erweiterten Zugriff auf potenziell Geisteskranke forderten. Indem sich die Ärzte für den Volkskörper zuständig fühlten, war die medizinische Rede zu einer politischen geworden, die auch in den Massenmedien der Zeit offensiv vorgetragen wurde. Es ist ein typisches Kennzeichen dieser medizinisch-politischen Rede, dass in ihr das Wohl des einzelnen Individuums nur dann einen Platz hatte, wenn es eng verknüpft mit der Gesundheit des Kollektivs verstanden wurde.45 Als lediglich ein Beispiel für die brutale Konsequenz dieser kollektivistischen Vorstellungen sei ein Artikel des Karlsruher Mediziners und Psychologieprofessors Willy Hellpach genannt. Er forderte im Jahr 1913 in der Süddeutschen Zeitung46, die Gesellschaft müsse sich kriminell gewordenen Geisteskranken entledigen: »Uns scheint es ein Mißverstehen des Begriffes der

44 Ebd. 45 Zur Verfasstheit der medizinischen Diskurse um 1900 und der Reichweite der psychiatrischen Konzepte vgl. Karen Nolte: Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt/M. 2003, sowie Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914), Frankfurt/M. 1999. 46 Das am 16.09.1913 zum ersten Mal erschienene Morgenblatt für nationale Politik und Volkswirtschaft hatte eine national-konservative Ausrichtung und ist nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Münchener Nachkriegsgründung der Verleger August Schwingenstein, Edmund Goldschagg und Franz Josef Schöningh aus dem Jahr 1945.

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Humanität, geradezu eine Verflüchtigung seines sittlichen Inhaltes zu bedeuten, wenn man ihn auf die bedingungslose Fristung jede[r] einmal vorhandenen, sei es noch so wertlosen, ja wertfeindlichen Individualexistenz zuspitzt.«47 Hellpach trug eindringlich den Vorschlag vor, schuldunfähige geisteskranke Gewalttäter sollten in Zukunft nicht mehr freigesprochen, sondern totgesprochen werden. Nur so könne die Gesellschaft die Gefahr eindämmen, welche sich aus der Krankheit für das Kollektiv ergebe. Bei dieser Veröffentlichung des Nervenarztes Hellpach handelt es sich um ein Beispiel für die Expansivität des medizinischen Diskurses. Die Rede der Psychiater war bereits längst aus dem Bereich wissenschaftlicher Spezialdiskurse herausgetreten und beeinflusste die politischsozialen Debatten der Zeit maßgeblich.48

D ISKURSIVE T RANSFORMATIONEN : D IE NEUE F REIWILLIGKEIT Ginge es lediglich um die Beschreibung von Ähnlichkeitsbeziehungen, wäre an dieser Stelle schon ein Großteil der Arbeit erledigt. So hatte der Aufstieg der modernen Biowissenschaften eine ähnliche Biologisierung von gesellschaftlichmedialen Debatten zur Folge wie der Aufstieg der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Weiter lässt sich zeigen, dass die Psychiater des 19. Jahrhunderts ähnliche Diskursstrategien nutzten wie etwa biologisch-medizinische Forscher, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen größeren politisch-sozialen Einfluss ihrer Disziplinen einfordern: Ein Großteil der gesellschaftlich wirkmächtigen diskursiven Interventionen der Wissenschaftler richteten sich damals wie heute auf zwei Gebiete – einerseits auf die Kriminalität und andererseits auf die menschliche Fortpflanzung. Dabei beschränken sich diese Entwicklungen freilich nicht

47 Willy Hellpach: »Freisprechung oder Totsprechung?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.9.1913. 48 Der Mediziner Hellpach, der sich 1913 für die Tötung von gefährlichen Kranken zum Schutz des Gesellschaftskollektivs einsetzte, machte eine politische Karriere. Neun Jahre später, im Jahr 1922, wurde er für die Deutsche Demokratische Partei zum badischen Minister für Kultur und Unterricht ernannt. Weitere zwei Jahre später war er der Staatspräsident von Baden. Im Gegensatz etwa zu Karl Bindings und Alfred Hoches bekannter Veröffentlichung über »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« aus dem Jahr 1920 sieht die Geschichtswissenschaft in Hellpach keineswegs einen gedanklichen Vorläufer der Nationalsozialisten, sondern im Gegenteil einen liberalen und demokratischen Politiker.

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allein auf das Gebiet der Biomedizin im engeren Sinne. Die Repopularisierung von genetischen Vererbungsvorstellungen in Alltagsdiskursen wird flankiert von öffentlichen Äußerungen aus dem Bereich der Neurowissenschaften. Einer der Protagonisten im Rahmen dieses Diskurses ist der Bielefelder Professor für Physiologische Psychologie Hans Markowitsch, der mit seiner populärwissenschaftlichen Buchveröffentlichung »Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens«49 für einiges Medienecho sorgte. Im Jahr 2007 machte er sich im Spiegel für eine Ersetzung von Strafgerichtsprozessen durch medizinischneurologische Untersuchungen stark: »In der Praxis erlebe ich häufig, dass Richter dem Gutachter folgen. Wenn man das weiterdenkt, könnte herauskommen, dass man das Gericht eigentlich nicht mehr braucht. Gutachter würden auch reichen.«50 Er begründet diesen Anspruch mit aktuellen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, durch die sich die biologische Ursache für Verbrechen erkennen lasse: »Meiner Ansicht nach ist jedes kriminelle Verhalten bedingt durch etwas Pathologisches. In mittelferner Zukunft wird man möglicherweise sehen, dass sich alle Hirne von Mördern mindestens in einer Determinante von Hirnen aller Nicht-Mörder unterscheiden und dass genau diese biologischen Abweichungen bedingen, dass jemand mordet.«51 Die Verschränkung der Vorstellungen von Anomalie, Krankheit und Verbrechen ähnelt der psychiatrischen Rede, die 100 Jahre zuvor vernehmbar war. Der Versuch, in Debatten über Kriminalität zu intervenieren und sie zu einem biologischen Phänomen zu erklären, wurde ebenfalls im Bereich der modernen Genetik vorgenommen52, jedoch nicht annähernd mit einer so großen Wirkung wie in den Neurowissenschaften. Für die öffentliche Gesundheitsvorsorge hat sich die Genforschung dagegen bereits recht erfolgreich zuständig erklärt, wie etwa die Etablierung des Deutschen Zentrums für Public Health Genomics (DZPHG) im Jahr 2006 an der Fachhochschule Bielefeld belegt. Insbesondere auf EU-Ebene, wo sich die Forscherinnen und Forscher im von der Europäischen Kommission finanzierten Public Health Genomics European Network (PHGEN) organisieren, spielt die Genetik als auf das Gesellschaftskollek-

49 Hans Markowitsch/Werner Siefer: Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens, Frankfurt/M. 2007. 50 »Neuronen sind nicht böse«, Streitgespräch mit Hans Markowitsch und Jan Philipp Reemtsma, in: Der Spiegel, 31 (2007), S. 122. 51 Ebd., S. 121. 52 Vgl. Gregory Bock/Jamie Goode (Hg.): Genetics of Criminal and Antisocial Behaviour, Chichester 1996.

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tiv ausgerichtete Vererbungslehre in der Gesundheitspolitik eine zunehmend wichtigere Rolle. Im Rahmen der public health genomics wird die genetische Prognose von Krankheitswahrscheinlichkeiten grundsätzlich als eine Maßnahme zum Wohle der Gesamtbevölkerung verstanden. Dabei ist die Rede über die Verantwortbarkeit von genetisch indizierten politischen Maßnahmen von Anfang an ein Teil des interdisziplinären Forschungsansatzes. Die ethische Bewertung vollzieht sich im Kern über die Dichotomie zwischen Gemeinwohl und Persönlichkeitsrechten. Diese spezifische Ausformulierung der ethischen Rede wird etwa an einem Gutachten aus dem Jahr 2004 sichtbar, das die spätere Leiterin des Deutschen Zentrums für Public Health Genomics Angela Brand zusammen mit Bioethikern im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung verfasste. Das Gutachten konstatiert »einen möglichen Konflikt zwischen individuumsbezogenem Autonomieaspekt und gesellschaftlichem Gesamtnutzen und Gemeinwohl«53, der im Rahmen der public health genomics verantwortungsvoll aufgelöst werden müsse. Zu diesem Zweck formulierten die Gutachter einen Kriterienkatalog. Wenn er erfüllt sei, bestehe für Betroffene »ein hoher sozialethischer Verpflichtungsgrad«54, sich an genetischen Screenings zu beteiligen oder die persönlichen Daten für Biobanken zur Verfügung zu stellen. Als Kriterien nennt das Gutachten die Effizienz und Effektivität der Maßnahme, außerdem müsse »ein hoher individueller Nutzen im Sinne von Vermeidung einer schweren Krankheit und Förderung der individuellen Entwicklungsmöglichkeit« sowie »ein hoher gesellschaftlicher Nutzen im Sinne der Vermeidung hoher Kosten« im Gesundheitssystem bestehen.55 Ferner dürfe »nicht mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung der Betroffenen«56 zu rechnen sein. Treffen diese Kriterien zu, müsse sich nicht nur der Betroffene verpflichtet fühlen, an der Maßnahme teilzunehmen, sondern auch sei die »öffentliche Gesundheitsversorgung zur Bereitstellung und damit gleichzeitig auch zur Sicherstellung dieser Public Health Genetics-Maßnahmen verpflichtet«57.

53 Vgl. Angela Brand et al.: Gesundheitssicherung im Zeitalter der Genomforschung. Diskussion, Aktivitäten und Institutionalisierung von Public Health Genetics in Deutschland, Berlin 2004, S. 6. 54 Ebd., S. 31. 55 Alle Zitate ebd., S. 31. 56 Ebd. 57 Ebd.

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Hier stoßen wir allerdings auf einen zentralen Unterschied der alten psychiatrischen und der neuen biomedizinischen Rede: Obwohl die Gutachterinnen und Gutachter des Jahres 2004 einen hohen Verpflichtungsgrad zur Teilnahme an genetischen Präventionsmaßnahmen konstatieren, rieten sie dem deutschen Gesetzgeber nämlich zu Zurückhaltung: »Obwohl die Teilnahme unter den genannten Bedingungen als ein moralisch-sittlicher Imperativ zu lesen ist, bedeutet dies nicht, ihn notwendigerweise unmittelbar in einen rechtlichen Zwang zu transformieren. Angesichts der bewährten Sinnhaftigkeit einer auf negativer Freiheit und informierter Entscheidung aufbauenden Rechtskultur kann man darüber nachdenken, auf der rechtlichen Ebene das Prinzip der Freiwilligkeit zu wahren und sich dabei dennoch nicht allein auf die standardisierte nondirektive Beratung zu beschränken.«58

Das Gutachten schlägt vor, einerseits vom Prinzip der nondirektiven Beratung abzukehren, andererseits aber formalrechtlich die Freiwilligkeit zu betonen – genau, wie der eingangs besprochene EU-Bericht zur Maßnahme im Bereich der seltenen Krankheiten, der empfahl, »stets auf Freiwilligkeit beruhend« die Präimplantationsdiagnostik einzuführen. In beiden Fällen wird deutlich, dass Freiwilligkeit hier nicht tatsächliche und ungesteuerte Entscheidungsfreiheit zum Ziel hat, sondern als ein Teil der Strategie zur Durchsetzung von biomedizinischen Maßnahmen konzipiert ist. Neben das disziplinäre Paradigma, das Überwachung, gesetzliche Pflicht, Sanktion und Zwang fordert, ist also ein Prinzip getreten, das ein nicht weniger klar formuliertes Ziel durchsetzen will, dabei aber auf die Einsicht und die Mitarbeit der Betroffenen setzt. Um aktuelle Entwicklungen in Gentechnik-Diskursen und deren Auswirkungen theoretisch zu fassen, hat der Soziologe Thomas Lemke den Begriff der »genetischen Gouvernementalität«59 geprägt. Dabei bezieht er sich auf ein Konzept, mit dem Michel Foucault Ende der 1970er Jahre seine Machttypologie präzisierte. Im Zentrum steht dabei die Beobachtung, dass sich Herrschaft insbesondere im Rahmen des Liberalismus unter Zustimmung und Mitarbeit der Bevölkerung organisiert.

58 Ebd., S. 31f. 59 Thomas Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden 2008, S. 129–149. Entwickelt wurde der Forschungsansatz bereits in: ders., »Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000, S. 227–264.

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Mit dem Begriff der Gouvernementalität60 – zusammengesetzt aus »gouverner« (regieren) und »mentalité« (Denkweise) – beschrieb Foucault das Zusammenspiel aus Kontrolle und Umsorgung durch den Staat mit umfassenden Mechanismen der Selbstführung, die eng mit (neo)liberalen Diskursen der Selbstverantwortung verbunden sind. Regierung im gouvernementalen Sinn bezeichnet also keineswegs nur die Herrschaft von bestimmten Menschen über andere, sondern vielmehr ein komplexes Netz aus Subjektivierungs- und Totalisierungsprozessen, die sich nach dem Vorbild der Ökonomie organisieren: Diskursive Konzeptionen des Risikos und der Risikovermeidung sorgen dabei für ein Verhalten von Individuen, das als vernünftig gilt. Damit etablieren sich, so Foucault, Dispositive der Sicherheit, die einer anderen Logik folgen als die Disziplinarsysteme, welche zuvor aufgestellte Normen unter anderem mit Zwang durchsetzen. Prägend für gouvernementale Strukturen seien Sicherheitstechnologien, die nicht primär einer Norm Geltung verschaffen, sondern vor allem Abweichungen von der empirisch bestimmten Normalität ermitteln.61 Daran anknüpfend stellt Thomas Lemke fest, dass sich die moderne Genetik nach einem solch gouvernementalen Prinzip organisiert: Sie formuliere den Anspruch, »auf technologischem Wege zur Eindämmung und Kontrolle gesellschaftlicher Risiken wie Krankheiten oder Verhaltens- und Normabweichungen beizutragen«62. Dabei handle es sich um eine »Regierung der Risiken«, bei der Vorhersage und Vorbeugung staatliche Kontrolle und Verbote ersetzten. »Die Gendiagnostik vermeidet allgemeine und anonyme Steuerungsmechanismen und eröffnet die Möglichkeit der Erstellung individueller Risikoprofile mit einer konkreten Liste von Veranlagungen und Krankheitsdispositionen. Sie vermag allein über die Diagnose genetischer Risiken für jedes Individuum eine ›ideale‹ Lebensweise zu entwerfen […].«63 Deshalb handle es sich um eine »politische Technik«, die eine »generationenübergreifende Transparenz des Körpers zur Verfügung stellt, von der – je nach Vererbungsmodus und Art der Krankheit –

60 Vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977/1978, Frankfurt/M. 2006. 61 Vgl. ebd., Vorlesung vom 25.1.1978, S. 87–133 und Vorlesung vom 01.2.1978, S. 134–172. Weiterentwickelt wurde die auf Foucaults Überlegungen zur Norm und Normalität aufbauende Theorie in Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006. 62 Thomas Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik, S. 132. 63 Ebd., S. 138.

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das getestete Individuum selbst, seine Familienangehörigen und Nachkommen betroffen sein können.«64 Begreift man das Forschungsprogramm der public health genetics und den EU-Beschluss zu den seltenen Krankheiten nicht nur als biopolitisch, sondern vor allem auch als gouvernemental strukturiert, dann löst sich das scheinbar widersprüchliche Verhältnis zwischen den eindeutig formulierten politischen Zielen und der Betonung der Freiwilligkeit der Maßnahmen auf. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass es sich bei der postulierten Freiwilligkeit nicht nur um einen äußeren Schein handelt, mit dem tatsächliche Zwänge verschleiert würden. In diesem Zusammenhang muss die Freiwilligkeit als solche ernst genommen werden – während andererseits festgestellt werden muss, dass im Rahmen von gouvernementalen Praktiken eigene Rationalitäten durchgesetzt worden sind, die dafür sorgen, dass Individuen sich dennoch opportun verhalten, weil sie Risiken vermeiden wollen.65

F AZIT Folgt man den vorgetragenen Überlegungen, so ist daraus ein Bündel von Schlüssen zu ziehen. Zunächst einmal lässt sich das Verhältnis der klassischen Psychiatrie-Diskurse zu aktuellen Biomedizin-Diskursen genauer bestimmen: Es kann festgestellt werden, dass die Psychiatrie im 19. Jahrhundert die Ursache von anormalem Verhalten in den Körper der Betroffenen hinein verlagerte, indem sie Wahnsinn als erbliche organische Krankheit beschrieb. Die Genetik geht dagegen einen Schritt weiter und verlagert die Ursachen von organischen Krankheiten in das Genom – allerdings vielfach nicht in einer klaren UrsacheWirkungs-Beziehung, sondern unter dem Modus der Statistik, des Risikos. Dieser Schritt war in den Erblichkeits- und Entartungsvorstellungen der Psychiatrie bereits angelegt, denn auch die Rede von der Entartung bezog sich nicht auf eine präskriptive, souveräne Norm, sondern auf die statistische Abweichung von der

64 Ebd. 65 Neben der Denkform des Risikos sind es Vorstellungen der Selbstdisziplin und des Selbstmanagements, die innerhalb dieses Paradigmas als vernünftige Konzepte gelten und gesellschaftlich überaus wirkmächtig geworden sind. Was Thomas Lemke wie oben dargestellt für den Bereich der Biowissenschaften untersuchte, ist auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zum handlungsleitenden Konzept geworden. Vgl. dazu Niels Spilker: Die Regierung der Prekarität. Zur neoliberalen Konzeption unsicherer Arbeitsverhältnisse, Münster 2010.

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Normalität. Gleichwohl forderten die Psychiater um 1900 vom Staat Maßnahmen, die sich an einem disziplinären Paradigma orientieren: Mehr Überwachung, mehr Einweisungen in Anstalten, Zwangssterilisierungen und schließlich die ›Tötung lebensunwerten Lebens‹. Eine gouvernementale Medizinpolitik setzte sich erst mit den Erkenntnissen der Genetik durch, welche die Abweichung von der Norm nicht als letztes Glied der Argumentationskette stehen ließ, so wie es bei den Entartungsvorstellungen der Fall war. Erstmals bot die Gendiagnostik plausible Methoden an, die Abweichungen an ihrer postulierten Ursache selbst, also den Genen, zu bestimmen, während die Psychiatrie um 1900 zwar die Erblichkeit von abweichendem Verhalten postulierte, sich aber vorerst darauf beschränken musste, zum Beispiel in Diagnosen und Gutachten Entartungszeichen zu beschreiben. Erst, als sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den elaborierten molekulargenetischen Erklärungsmodellen eine nicht primär symptombezogene Vererbungslehre gesamtgesellschaftlich durchsetzte, konnten sich auch handlungsleitende Modelle der Risikobestimmung und Risikominderung durchsetzen. Schließlich bezeichnet die Vorstellung des Risikos eine dem eigenen Körper innewohnende, aber nicht sichtbare Eigenschaft, die sich ausschließlich in der Form von Wahrscheinlichkeiten bestimmen lässt. Die gesellschaftlich als rational durchgesetzte Form der Regierung von Risiken sind dabei die Praktiken der präventiven Diagnostik. Will man auf diese Überlegungen aufbauend ein Ordnungsprinzip entwickeln, nach der man Aussagen aus biomedizinischen Diskursen systematisieren kann, dann bieten sich beide im vorliegenden Beitrag zentral behandelten Leitdifferenzen an: So kann man erstens danach fragen, ob sich der medizinische Blick auf die Behandlung eines Individuums richtet, oder ob im biopolitischen Sinn die Gesundheit und Krankheit eines Kollektivs im Mittelpunkt steht.66 Zweitens wäre festzustellen, ob vorgeschlagene Maßnahmen nach einem normativ-disziplinären oder nach einem gouvernementalen Modus durchgesetzt werden sollen. Diese Frage impliziert allerdings gleichzeitig eine gewisse Differenzierung von etablierten Bewertungsmustern. Während es in medizinischen

66 In Rechnung zu stellen ist dabei, dass es sich bei diesem für das westliche Denken zentralen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft selbst um eine diskurshistorisch entstandene Denkform handelt, deren eigene Machtwirkungen untersucht und kritisiert werden können. (Vgl. dazu Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt/M. 2004). Gerade weil sich jedoch weite Teile der europäischen Geistesgeschichte an diesem binären Konzept orientieren, bietet es sich an, dessen Auswirkungen konkret zu analysieren – zum Beispiel in Bezug auf politisch-medizinische Praktiken, wie in diesem Beitrag vorgeschlagen wird.

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Diskursen nämlich einen breiten Konsens darüber gibt, dass Zwang wenn möglich vermieden werden sollte, wird Freiwilligkeit als weitgehend unproblematisch angesehen. Schon bei der Beurteilung des Gendiagnostikgesetzes einerseits und der EU-Empfehlung zu den seltenen Krankheiten andererseits lassen sich allerdings die daraus ergebenen Probleme exemplarisch aufzeigen. Schließlich ist das Gendiagnostikgesetz in einer disziplinären Logik verhaftet: Es verbietet Ärztinnen und Ärzten bestimmte Formen der genetischen Untersuchungen, und bedroht Zuwiderhandlungen sogar mit Zwangsmaßnahmen wie Gefängnisstrafen. Dabei hat das Gesetz allerdings den Anspruch, mit diesen Maßnahmen Individual- und Persönlichkeitsrechte zu schützen. Die EU-Empfehlung dagegen verbietet überhaupt nichts, sondern setzt auf Freiwilligkeit. Gleichzeitig lässt sie aber keinen Zweifel daran, dass es darum geht, persönliche Reproduktionsentscheidungen massiv zu beeinflussen, um bestimmte genetische Dispositionen im europäischen Genpool zurückzudrängen. Auf einmal erscheint Freiwilligkeit im Verhältnis zu der disziplinären Technik nicht mehr ganz so unschuldig. Ebensolche Probleme ergeben sich bei der Frage nach direktiver bzw. nondirektiver genetischer Beratung. Schließlich sind doch gerade in gouvernementalen Strukturen auch streng nondirektive Beratungen denkbar, die faktisch zu einem großen gesellschaftlichen Druck in die Richtung einer bestimmten Entscheidung beitragen. Diese Zusammenhänge sollen keineswegs implizieren, dass das Prinzip der Nondirektivität nicht eine wichtige Errungenschaft wäre, die bestimmte Formen einer (bio)politischen Medizin wirksam unterbinden kann. Das in Abrede zu stellen, wäre ein logisch nicht plausibler Umkehrschluss der Argumentation. Sehr wohl kann aber als Ergebnis dieser Überlegungen festgehalten werden: Eine Medizin, die davon ausginge, dass alleine die Befolgung von Prinzipien der Freiwilligkeit und Nondirektivität hinreichend seien, um eine Politisierung ihrer Praxis zu verhindern, machte es sich zu einfach. Begreift man dagegen die Methoden und Begründungsmuster der Medizin als Praktiken, die nicht zuletzt Machtwirkungen entfalten, können sie – auch anhand der in diesem Beitrag vorgeschlagenen Kategorien – einer Analyse und einer Kritik unterzogen werden.

Das Spiel des Lebens Die Menschwerdung des Embryos mit den Mitteln der Sprache J ULIA D IEKÄMPER

In den Biowissenschaften wird beständig neues Wissen über den Menschen generiert. In meinem Beitrag möchte ich dieser allgemeinen Feststellung an einem Ort nachgehen, der jenseits der Labore und Forschungszentren liegt. Statt dieser nehme ich populäre, in Deutschland erscheinende Printmedien in den Blick, weil ich davon ausgehe, dass Wissen erst dann wirkmächtig wird, wenn es auch gesellschaftlich denkbar geworden ist. Dies wird (auch) durch die Medien möglich. Das öffentliche Reden über die Einflussnahme auf die menschliche Fortpflanzung, das zeige ich anhand des Beispiels Fortpflanzungsmedizin, stellt so einen elementaren Bestandteil des durch politische und rechtliche Verfahren flankierten Etablierungsprozesses dar. Mein Beitrag ist in zwei Teile gegliedert. Zunächst gehe ich theoretisch der Frage nach, wie Wirkungsmächtigkeit und Deutungshoheit im medialen Kontext entstehen. In einem zweiten Schritt zeige ich diskursanalytisch anhand von konkreten Beispielen aus der Zeit und dem Spiegel im Zeitraum von 1990 bis 2005, wie sich etwa durch hier verwendete Anthropomorphisierungsstrategien eine folgenreiche Lesart des Diskurses anbietet, die subkutan an den bioethischen Argumentationsstrang der »Heiligkeit des Lebens« anknüpft.

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M ACHEN M EDIEN M ENSCHEN ? D IE B EDEUTUNG DER Ö FFENTLICHKEIT Ein infolge von biomedizinischer Forschung entstehendes Wissen sorgt auch deshalb für Gesprächsstoff, weil sein Gegenstand allen Menschen gleichermaßen nahe ist: Hier geht es um nichts weniger als um das Leben. Das erklärt vordergründig das fortwährende Interesse, das sich an Fragen des Lebensbeginns, des Lebensschutzes und der Lebensqualität öffentlich entzündet. Insbesondere wegen ihrer direkten Anwendbarkeit am Menschen ist die Biomedizin dabei auf Zustimmung bzw. Beteiligungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger angewiesen.1 Schließlich basieren zum einen entsprechende Zulassungen oder Verbote auf gesellschaftlich ausgetragenen Kontroversen. Zum anderen wird keines der Verfahren – etwa die Regeluntersuchungen von Säuglingen und Kleinkindern – verpflichtend angeboten, sodass es prinzipiell den Betroffenen obliegt, sich für oder gegen eine Untersuchung und gegebenenfalls Therapie zu entscheiden. Eine breitenwirksame Aushandlung spezifischer medizinischer Möglichkeiten fordert aber mehr als das Verständnis biologischer Prozesse. Mithilfe der fraktionierten Räume der medialen Öffentlichkeit basteln sich viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der modernen Gesellschaft in unterschiedlich intensiver und unterschiedlich kompetenter Weise ihr Bild von der Welt. Dabei stellt »Öffentlichkeit« die Voraussetzung dafür dar, »dass wissenschaftliche Weltbilder entstehen können – und sie schafft erst die Bedingung dafür, dass ›Wissenschaft‹ verstehen auch bedeuten kann, sie zu kritisieren«.2 Das ist auch deshalb so zentral, weil die gesellschaftliche Vorstellbarkeit von bestimmten Verfahren notwendig (wenn auch nicht hinreichend) zu deren Durchsetzung ist.3 Ausschlaggebend für die gesellschaftlich relevante Entscheidungsfindung sind Bilder, die an anderen Orten als in der Wissenschaft produziert werden. Ein solcher Aneignungsprozess ereignet sich vor allem über Sprache. Primär sind es also Orte wie

1

Anne Waldschmidt/Anne Klein/Miguel Tamayo Kortem: Das Wissen der Leute,

2

Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt/M. 2003,

Wiesbaden 2009, S. 19. S. 257. 3

Barbara Orland: »Wenn sich Ei und Samen im Reagenzglas begegnen, bleibt von der natürlichen Zeugung nicht viel übrig: Wie die Fortpflanzung in ihre Bestandteile zerlegt wurde«, in: NZZ-Folio 6 (2002); Barbara Orland: »Werkstatt der Fortpflanzung. Zur Geschichte der Zeugungstechniken«, in: Ewald Konency/Volker Roelcke/Burghard Weiss (Hg.), Medizintechnik im 20. Jahrhundert. Mechanik Elektrotechnik Informationssysteme, Berlin, Offenbach 2003, S. 125–139.

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die Medien, durch die die Allgemeinheit von den Technologien und den an sie gebundenen Folgedebatten erfährt.4 Die Entscheidung für eine Untersuchung solcher Quellen nimmt also bewusst ein Scharnier zur Alltagswirklichkeit in den Blick, das über einen trivialen Begriff selbst gemachter Erfahrung hinausgeht.5 Schaut man sich entsprechende Beiträge an, dann wird schnell deutlich, dass hier ganz offensichtlich weit mehr zur Sprache kommt als eine Standortbeschreibung innerhalb eines naturwissenschaftlichen Sektors. Interdependierende Disziplinen (seien sie ethisch, juristisch, politisch, ökonomisch) sorgen stattdessen dafür, über die naturwissenschaftlich-technischen Verfahren hinaus Sagbarkeiten zu generieren, die abhängig von der Produktivität der inhärenten kulturellen Deutungsmuster des Diskurses sind. Vom Reden über Fortpflanzung anlässlich der Möglichkeit, sie medizinisch zu ›betreuen‹, sind also Haltungen, Redeweisen und Einstellungen betroffen, die fortan entlang von unzähligen Konfrontationspunkten und Unruheherden um Deutungshoheiten kämpfen. Damit schreibe ich den Texten die Fähigkeit zu, »Regeln, Hinweise, Ratschläge für richtiges Verhalten«6 zu geben, dabei aber gleichzeitig selbst »Objekt von Praktiken«7 zu sein, da sie »gelesen, gelernt, durchdacht, verwendet, erprobt [...] werden und [...] Rüstzeug des täglichen Verhaltens bilden sollen.«8

4

Diese Annahme schließt selbstverständlich nicht aus, dass Leserinnen und Leser Wissen und/oder Erfahrungen auf einem anderen Weg gesammelt haben. Mich interessiert jedoch die allgemeine und von der situativen Notwendigkeit gelöste Zugangsmöglichkeit.

5

Philipp Sarasin konstatiert, dass das, was »Professoren der Geschichtswissenschaft von der Genetik wissen – und Genetikerinnen von der Geschichte«, »sie wohl meistens aus dem Fernsehen und der Tageszeitung [erfahren]«. Ein Punkt, der wahrscheinlich auf die meisten Rezipienten zutrifft. Ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 256.

6

Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt/M. 2000, S. 20. Damit ziehe ich keinen voreiligen Vergleich zwischen Foucaults Quellen und den von mir untersuchten printmedialen Beiträgen. Vergleichbar indes erscheinen mir die Funktion und die Wirkungsweise, die er dem von ihm als »Operatoren« bezeichneten Material zuschreibt. Er charakterisiert diese Quellen als Texte, die es den Individuen erlauben soll(te), sich über ihr eigenes Verhalten zu befragen, darüber zu wachen, es zu formen und sich selbst als ethisches Subjekt zu gestalten (ebd.).

7

Ebd., S. 20.

8

Ebd.

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In diesem Sinne stellen die Medien einen Wahrheit produzierenden Hybridraum dar, in dem Bedeutung und Normen ausgehandelt werden. In einer ihnen eigenen Verbindung von Repräsentation und Imagination liegt dabei immer auch eine Auseinandersetzung mit den Grenzen von Normalität und Normativität. In diesem dynamischen Prozess geht es also um nichts weniger als die Deutungshoheit. Es geht um den Anspruch, die Wahrheit in und über einen Diskurs für sich beanspruchen zu können. Als ein Effekt von Diskursen können wissenschaftliche und öffentliche Wahrheiten dementsprechend als »Wahrheitseffekte« verschiedener, sich überschneidender, ergänzender, weiterentwickelnder oder kritisierender Diskurse, das heißt als Resultat diskursiver Praktiken verstanden werden, die von einem »Willen zur Wahrheit« angetrieben werden.9 Das hohe Gut »Wahrheit« wirkt dabei immer kontextabhängig produktiv. Denn wissenschaftliche Wahrheiten entstehen, zumindest aus der Perspektive der Diskursanalyse, aus der öffentlichen Thematisierung wissenschaftlicher Entdeckungen in einem Netzwerk von politischen, kulturellen, technischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen. Das durch die Medien und die in Anspruch genommenen Technologien vermittelte Einsickern hochkomplexer Wissenschaft in die Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger unterstreicht, dass die Biowissenschaften Teil politischer und sozialer Rationalitäten sind, innerhalb derer sie erst Bedeutung gewinnen. Mit der Reproduktionsmedizin wird die Fortpflanzung beeinflussbar durch direktes menschliches Handeln, das Kenntnisse in mehrfacher Hinsicht voraussetzt. Wissen stellt dabei zwar eine unverzichtbare Vorbedingung von Wissenschaft dar, beide sind aber keinesfalls identisch. Wissen bildet »keine Summe von Erkenntnis«10, sondern eine Gesamtheit von Elementen (Gegenständen, Formulierungstypen, Begriffen und theoretischen Entscheidungen), die sich im Feld einer einheitlichen diskursiven Formation bilden.11 Es lässt sich nicht nur als »wahre und begründete Überzeugung« definieren, sondern besteht aus den Regeln einer diskursiven Praxis, ohne die es kein Wissen gibt. Entscheidend ist dabei die Annahme, dass, wenngleich die Praxis Wissen formiert, es umgekehrt auf die Praxis zurückwirken kann. Eine klare Trennlinie zwischen einer ›reinen‹ Wissen-

9

P. Sarasin: Diskursanalyse und Geschichtswissenschaft, S. 257.

10 Michel Foucault: »Über die Archäologie der Wissenschaften«, in ders.: Dits et Ecrits I, Frankfurt/M. 2001, S. 921. 11 Das ist ein Verständnis von Wissen. Insbesondere in wissenschaftshistorischen Untersuchungen finden sich zudem die Unterscheidungen zwischen explizierbarem und implizitem Wissen (Michael Polanyi) oder die zwischen starkem und schwachem Wissen (Norman Melcolm).

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schaft und der in den Printmedien auftauchenden Populärwissenschaft macht aus dieser Perspektive keinen Sinn. Beide Ausdrucksformen gehören zu einem Feld des Wissens, in dem sie sich begegnen als zwei soziale Ordnungen, die sich als koexistierende Diskursformen produktiv zueinander verhalten. Das spezialisierte Wissen der Biomedizin integriert sich auf diese Weise nicht nur in den kulturellen Wissensbestand und wird nicht nur aus diesem gespeist, sondern eine so entstehende Interdependenz beinhaltet eine eigene Produktivität.

D ISKURSIVE S TRATEGIEN DER ANERKENNUNG . D ER M ENSCH , KEIN E INZELFALL Die durch die Biomedizin aufgeworfenen Konflikte stellen die Frage nach dem Status des Menschen im normativ folgenreichen Sinn. Die Entscheidung darüber, welche Wesen (noch) zur menschlichen Gattung gehören und welche nicht, erweist sich dabei als höchst diffizil. Das gilt verständlicherweise für die Reproduktionstechnologien in besonderem Maße. Denn das ungeborene Gegenüber, um dessen Status es hier geht, kann in keine Interaktion treten. Embryonen und Föten12 können sich im »Kampf um Anerkennung« weder profilieren, noch die Grenzen der Selbstmächtigkeit erfahren. Das heißt, dass es sich bei der gesellschaftlichen Aushandlung des Status von Ungeborenen immer um ein stellvertretendes Sprechen Dritter handelt, die hier, unterschiedlich motiviert, Position ergreifen und so Ungeborene zum Gegenstand von Wissenspolitik machen.13 Dabei geht es allgemein gesprochen um die Frage, ob es sich bei dem ungeborenen Leben um ein Subjekt oder ein (ggf. auch normativ relevantes) Objekt handelt. Welche Wahl hier getroffen wird, führt aus nachvollziehbaren Gründen zu jeweils unterschiedlichen Konsequenzen, wie etwa der Zu- oder Aberkennung bestimmter Rechte.14 Dabei geht es in erster Linie um die Extension des Personen-Begriffs und dessen normative Konsequenzen. Folgende Fragen sind dabei

12 Ich verwende die Begriffe Embryo und Fötus wohl wissend, dass sie dem medizinischen Bereich entstammen. Die Begriffswahl begründet sich durch mein empirisches Material, also durch die printmedialen Beiträge aus Wochenzeitschriften, wobei die durch diese Verwendung entstehenden Diskrepanzen dabei im Zentrum meines Interesses stehen. 13 Jörn Ahrens: Frühembryonale Menschen?, München 2006, S. 230. 14 Aspekte dieses Gedankens habe ich auch ausgeführt in: Julia Diekämper: Und deshalb haben wir Baby Paul eingefroren. Diskursive Anerkennungsstrategien ungeborenen Lebens, Essen 2010.

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maßgeblich: Sind alle Menschen Personen mit einem Recht auf Achtung ihrer Würde? Besitzt jedes menschliche Wesen das Recht auf Leben, weil es zur Gattung Mensch gehört? Oder sind nur diejenigen Menschen Personen, die aktuell über bestimmte (empirisch feststellbare) Eigenschaften verfügen? Je nachdem, wie diese Fragen nach dem menschlichen Leben und seinem Anfang beantwortet werden, folgen für die Praxis jeweils andere Handlungsoptionen. Mit Blick auf die öffentlichen Auseinandersetzungen um reproduktionstechnische Maßnahmen zeigt sich, dass die hier entstehenden kategorialen Entscheidungen, ab wann der Mensch mit welchen Folgen ein Mensch und damit im moralischen Sinne Person ist, nur einen Aspekt im Kampf um die Deutungshoheit darstellen. Anerkennungsstrategien sind vielmehr, so meine These, folgenreich in das öffentliche Sprechen über Ungeborene eingewoben, und zwar so, dass weitergehend zu klären ist, ob wir den Embryo bereits als Menschen anerkennen, weil diese Anerkennungsstrategien in einem Erkennen fußen, das mittels Sprache hergestellt wird. Die heiß umkämpfte Frage der Bioethik15 – ist bzw. ab wann ist der Embryo ein Mensch respektive eine Person16 im normativ relevanten Sinn? – findet dann eine Antwort, die jenseits von konkreten Fähigkeiten liegt (wie sie etwa andernorts als Kriterien eines graduellen Übergangs von ›Leben‹ zu ›Mensch‹ Verwendung finden).17 Schmerz- oder Glücksempfinden, Selbstbewusstsein, Rationalität oder Autonomie stehen genauso wenig isoliert zur Disposition wie empirisch erfassbare Daten.18 Über Zuschreibungen wird dabei der Embryo zum Menschen und aufgrund dessen als Körper und nicht nur als Zellstruktur kennt-

15 Insbesondere eine christliche Bioethik thematisiert diese Fragen explizit. Vgl. etwa Gabriel Brahier: »Ist der menschliche Embryo schon Mensch?«, in: Theologische Zeitschrift 65/2009, S. 58–80. Diese Frage wird nicht nur in einer engeren bioethischen Community verhandelt, sondern ist selbst Bestandteil einer medialen Auseinandersetzung. So fragte etwa der Theologieprofessor Richard Schröder: »Ab wann ist der Mensch ein Mensch?«, in Tagesspiegel vom 29.2.2008. 16 Für die bioethische Debatte ist die Unterscheidung zwischen »Mensch« und »Person« zentral. Wenn ich diese für meine Ausführungen hier vernachlässige, dann geschieht dies deshalb, weil innerhalb der Konstruktionen, um die es mir geht, implizit eine Gleichsetzung stattfindet. 17 Zu den unterschiedlichen Klassifikationsargumentationen vgl. Theda Rehbock: Personen in Grenzsituationen, Paderborn 2005. 18 Hier kann ich nur andeuten, wie (1) voraussetzungsreich der Begriff des Menschen bzw. der Person innerhalb des Diskurses geführt wird und (2) illustriert sich anhand dessen gleichfalls die Bandbreite möglicher Haltungen, die ich stellvertretend als eine metaphysische und eine liberale oder utilitaristische bezeichne.

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lich. Dieser Körper ist ein lebender Körper, der sich hier als Diminutiv eines menschlichen Wesens präsentiert. Dabei ist die Konstruktion eines Körpers auch deshalb für den Diskurs zentral, da der »Grundrechtsstatus im wesentlichen ein körperbezogener ist«.19 Dieser Akt der Anerkennung vollzieht sich in der medialen Öffentlichkeit, die ich im Folgenden am Beispiel von Spiegel und Zeit untersuche.20 Mir geht es in meinen Beispielen in einem diskursanalytischen Sinn weniger um eine quantitative Erhebung, als um die Tatsache, dass bestimmte Dinge zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sagbar waren. Ich will zeigen, wie der »Körper« des Embryos durch Narrative als sozial existierend erscheint. Auf diese Weise wird ein Rahmen zur kulturellen Operationalisierung geschaffen.21

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Schaut man sich die Printmedien an, dann erscheint der Embryo allgemein als Produkt einer Festlegung, einer Entscheidung: Entweder er ist ein Baby, oder er ist ein Forschungsobjekt; entweder er zeigt sich als kleiner »fertiger« Mensch oder als Zellhaufen; entweder er ist Ursache einer Schwangerschaft oder Zweck der Forschung. Beides zusammen funktioniert nicht – jedenfalls nicht in den moralischen Koordinaten einer vom christlich-jüdischen Menschenbild geprägten modernen Gesellschaft. Ich werde im Folgenden verstärkt eine Darstellungsweise von Embryonen in den Blick nehmen, nämlich diejenige, die den Embryo als »kleinen Menschen« konzeptualisiert und damit nicht etwas, sondern jemanden hervorbringt. Dabei handelt es sich um einen diskursiven Prozess, in dem das

19 Stephan Rixen: »Ist die Hirntodkonzeption mit der Ethik des Grundgesetzes vereinbar?«, in: Eve-Marie Engels (Hg.), Biologie und Ethik, Stuttgart 1999, S. 214. 20 Beide Printmedien habe ich aufgrund ihrer Markposition ausgewählt und der hiermit verbundenen Annahme, dass sie offensichtlich am Hegemonialdiskurs partizipieren. Zugrunde lege ich dabei alle im Zeitraum von 1990 bis 2005 erscheinenden Beiträge, die sich mit der Technologisierung von Schwangerschaft befassten. Die Wahl dieser Zeitspanne begründet sich vorderhand durch diskursive Ereignisse wie die Ratifizierung des Embryonenschutzgesetzes (1991), die Neuregelung des Paragrafen 218 StGB im Jahr 1995 und die Auseinandersetzung um eine mögliche Zulassung der PID 2003. Dabei können solche Ereignisse aber nicht mehr als Orientierungspunkte sein, weil die Normen, die Sagbarkeiten bedingen, durch ihre ständige Wiederholung peu à peu verändert werden. 21 J. Ahrens: Frühembryonale Menschen?, S. 209.

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Bild dieses Menschen-Embryos erst konstruiert, danach in bestimmter Weise gefärbt und schließlich mit einer historischen Patina versehen wird. Der Embryo erscheint dabei in keiner Petrischale und auf keinem Ultraschallbild, sondern er ist eine vorstellungs- und damit wirkungsmächtige mediale Konstruktion, die als eine unter mehreren Antworten auf die Frage der Anerkennung dasteht.22 Die Menschwerdung des Embryos mittels Sprache lässt sich etwa anschaulich in der Besprechung des Bildbands »Wunder des Lebens. Wie ein Kind entsteht« des New Yorker Fotografen Alexander Tiaras nachvollziehen. Den tatsächlichen Bildern wird hier eine wirkungsmächtige Legende – ein Narrativ des Humanen – beigegeben. Im Beitrag »Der gläserne Embryo« wird das »Aufreißen des Mundes«23 beschrieben, »wie um zu gähnen«. Die Ungeborenen heißen hier »stille Geschöpfe«, »ungeborener Knirps« oder »wundersames Wesen«. Als »Bauchbewohner«, »Keimling« und »Leibesfrucht« sind sie zudem »erstaunlich aktiv«. So treiben sie »Sport«, sie »räkeln«, »drehen« und »dehnen« sich. Indem sie die Aktivitäten »gierig« oder »angeekelt« absolvieren, besitzen sie gleichzeitig auch eine Haltung zu ihrem Tun. Korrespondiert eine solche Vorstellung von fertigen kleinen Menschen nicht in erstaunlichem Maß mit der des bereits vollendeten Kindes?24 Mit der so geleisteten Überwindung der Differenz zwischen »denen« und »uns« ereignet sich die Aufnahme in einen größeren Diskurs – und zwar jenen, der die Herausbildung von Sozialität für die menschliche Gattung in den Blick nimmt, denn die Ähnlichkeit zwischen Betrachter und Betrachtetem liegt (auch) in der Zugehörigkeit zur Spezies begründet.25

22 Die Bandbreite erstreckt sich von einer die »Heiligkeit des Lebens« proklamierenden Position über das »Potenzialitätsargument« bis hin zu utilitaristischen Argumenten. Jörn Ahrens geht in seiner Interpretation jedoch so weit, dass er eine deutliche Parallele zwischen Lebensschützern und Utilitaristen in Bezug auf die Bestimmung des Menschen sieht. Beide konstituieren Subjekte, die im Raum des Sozialen als Mensch gelten dürfen, und sie erzeugen ein scheinbar kongruentes Bild vom Menschen, das sie jedoch in einem Fall logozentristisch, im anderen Fall essenzialistisch zu begründen suchen. J. Ahrens: Frühembryonale Menschen?, S. 74. 23 »Der gläserne Embryo«; in: Der Spiegel 8 (2003); alle weiteren Zitate ebd. 24 Vgl. zu solchen Vorstellungen: Barbara Duden/Jürgen Schlumbohm/Patrice Veit (Hg.): Geschichte des Ungeborenen, Göttingen 2002. 25 Implizit klingt hier Habermas’ Gattungsethik an, mit der er vorschlägt, die Reproduktionstechnologien aus gattungsanthropologischer Perspektive zu diskutieren. Die Identität als Mitglied der Gattung stellt seines Erachtens das ethische Zentrum dar, auf das wir uns beziehen sollten. Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt/M. 2001, S. 26ff.

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Der Embryo, den wir hier sehen, erscheint bereits als körperliches, sozial integriertes Wesen, das angesprochen und benannt werden kann. Das gilt auch für sehr frühe Stadien, ist also keine prozessabhängige Frage, sondern eine kategoriale Festlegung. Wie anders sind sonst Sätze zu verstehen wie »Deshalb haben wir Baby Paul im sogenannten Achtzell-Stadium einfrieren lassen«?26 Im Spiegel heißt es ebenfalls in diesem Sinne anlässlich einer Auftau-Aktion von Embryonen in britischen Befruchtungskliniken: »Mehr als vier Jahre hatte Jennifer im zweizelligen Embryonalzustand auf eine Leihmutter warten müssen.«27 Dass Jennifer zu einer gewissen Handlung (»warten«) gezwungen werden konnte, setzt voraus, dass andere Handlungsoptionen wählbar bzw. denkbar gewesen wären. Da Handlungen im Unterschied zu Verhalten in einem strengen Sinne intentional sind, setzen sie zumindest ein Subjekt voraus, das »Warten« kann. Durch diese Konstruktion artikuliert sich die Vorstellung, noch bevor das Kind auf der Welt ist, sei es bereits – handelndes – Subjekt. In der Benennung als »Baby Paul« offenbart sich die größere Nähe zum Neugeborenen als zur Petrischale. Hier verbindet sich auf scheinbar harmonische Weise »künstlicher Zeugungsakt« und »menschliche Wirklichkeit«. Eine Vernichtung ist nicht mehr möglich, denn Paul und Jennifer sind als Menschen angesprochen und besitzen Namen. Und dieses Namen-Geben ist ein Ritual, das als symbolische Geste – ähnlich der Taufe – eine Anerkennung impliziert, die die Aufnahme des Kindes in die menschliche Gemeinschaft und in den damit verbundenen Rechtsraum bedeutet.28 Nur vor dem Hintergrund eines so konstruierten Bildes der Verkörperlichung und der Vermenschlichung wird der Embryo zum Rechtssubjekt gemacht. Nur auf einer solchen Grundlage kann er dann auch zum Opfer werden, da zum Opfer in der modernen Welt nur werden kann, wer (zumindest moralische) Rechte besitzt.29 Die Opferwerdung ereignet sich in dem hier untersuchten Diskurs auf

26 »Kind in der Warteschleife«, in: Der Spiegel 4 (2001). 27 »Schlachtfest im Labor«, in: Der Spiegel 31 (1996). 28 In Bezug auf den Infantizid und die hiermit verbundene Auslöschung des Neugeborenen aus der kollektiven Erinnerung schreibt Luc Boltanski: »Eine solche Vernichtung ist dagegen innerhalb des Zulässigen nicht mehr möglich, wenn das Neugeborene durch ein Ritual, eine symbolische Geste in seinem Menschsein bestätigt wurde.« Dazu zählt er den Akt des Namensgebens und folgert, all diese symbolischen Gesten des Anerkennens markierten den Eintritt des Kindes in die menschliche Gemeinschaft, das heißt in erster Linie in die Verwandtschaft und in zweiter in das Staatswesen. Luc Boltanski: Soziologie der Abtreibung, Frankfurt/M. 2007, S. 83. 29 Zur Konstruktion allgemeiner moralischer Rechte in der Naturrechtstradition vgl. Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person, Darmstadt 1997.

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zwei unterschiedliche Weisen: Zum einen wird der Embryo als Attackierter präsentiert; zum anderen wird das ihm Recht, das ihn zum Mitglied der menschlichen Gattung macht, in den Vordergrund gestellt. Durch den Entzug etwa des Lebensrechts wird (selbstredend: zu unrecht) primär die Menschenwürde verletzt. Wenn diese allerdings in Gefahr ist, dann dreht sich das argumentative Karussell in eine andere Richtung. »Die personale Würde ist in Gefahr«30, heißt es dann, oder: »Das britische Parlament hat den Verbrauch von Embryonen erlaubt, und Kulturminister Julian Nida-Rümelin verteidigt diese Genehmigung. Sie ist aber ein Anschlag auf die Menschenwürde.«31 »Anschlag« und »Gefahr« unterstreichen die Bedrohung, die sich nunmehr nicht gegen die Embryonen richtet, sondern gegen den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit.32 Die Brisanz eines scheinbaren Kriegszustandes kommt des Weiteren insbesondere dann zum Tragen, wenn die Verletzung kein Akt ist, der nur den Einzelnen betrifft, sondern wenn in dem Angriff auf die Menschenwürde gleichfalls wir alle als Menschen bedroht sind.33 Indem also im Zusammenhang mit Ungeborenen die Menschenwürde ins Spiel gebracht wird, geschieht zweierlei: Den Embryonen werden in einem ersten Schritt Rechte zugesprochen (die dann durch die Ausnahmesituation bedroht sind); in einem zweiten Schritt erklärt sich unser Interventionsbedarf auch deswegen, weil wir durch unser Engagement für sie letztlich nur uns selber schützen. Anhand der ausgewählten Beispiele zeichnet sich zudem eine Freund-FeindKonstellation ab. Anlässlich einer Auftauaktion von 4.000 tiefgefrorenen britischen Embryonen34 spricht beispielsweise der Spiegel von einer »Vernichtungsaktion«35, einem »Schlachtfest«36, einem »Massaker«37 und einer »Massentö-

30 »Die personale Würde ist in Gefahr«, in: Die Zeit 1 (2001). 31 »Gezeugt, nicht gemacht«, in: Die Zeit 6 (2001). 32 Gegner der Übertragung der Menschenwürde auf den Embryo, wie etwa Julian NidaRümelin, begründen dies mit dem Fehlen entscheidender Fähigkeiten des Ungeborenen. Anhand dessen deutet sich ausblicksartig die Kontroverse um die Kategorie der Menschenwürde an, die für die meisten Positionen mit der Unterscheidung zwischen Mensch und Person verbunden ist. Diese bioethische Diskussion greife ich an dieser Stelle bewusst nicht vertiefend auf, da mich in Bezug auf die Menschwerdung an dieser Stelle nur die diskursiven Konstruktionen interessieren und nicht das Abwägen von Argumenten. 33 Paul Tiedemann: Was ist die Menschenwürde?, Darmstadt 2003, S. 112. 34 Diese dürfen aufgrund gesetzlicher Bestimmung nur für eine begrenzte Dauer in den Laboratorien aufbewahrt werden. 35 »Schlachtfest im Labor«, in: Der Spiegel 31 (1996).

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tung«38. Es ist das Bild eines brutalen Ausnahmezustands, das vorrangig Embryonen, aber auch Föten als Be(nach)teiligte vorführt. In Bezug auf eine potenzielle Zulassung der Forschung an Embryonen in Deutschland sehen katholische Kirchenobere die Rückkehr der »Barbarei«39, denn hier werde von der »Tötung kleiner Menschen«40 profitiert. In Begriffen wie »Embryonenschlacht«41 deutet sich das in erster Linie ethische Dilemma an: Nicht Embryonen ziehen hier gegen Embryonen als Kombattanten ins Feld, sondern ihnen wird als einer schutzlosen »Gruppe« Gewalt angetan. Sie sind – analog zu kriegerischen Auseinandersetzungen – Zivilisten. Und wenn einer Gruppe (noch dazu vollkommen unschuldig) Gewalt angetan wird und die Folge dieser Gewalt darüber hinaus »den Tod« (denn als nichts anderes gilt die Vernichtung) für die Angegriffenen bedeutet, dann führt das erst einmal zur Emotionalisierung und zur Entrüstung. Dabei ist es zentral, dass die Gewalt, die ihnen angetan wird, im Akt des Auftauens besteht, der hier zur »Tötung« bzw. zur »Massentötung«42 wird. Mit dieser Zuschreibung wird unterstellt, dass es sich um (unbedingt schützenswertes) Leben handelt. Indem Embryonen als »Opfer« konzeptualisiert werden, die allein gelassen in einen Krieg gerieten, den sie weder angezettelt noch verschuldet haben, dürfen sie auf Mitleid und Hilfe hoffen. So wird der Anspruch der konservativen Lebensschützer auf Rettung der »Opfer« zu einem progressiven Interventionsprogramm auf menschenrechtlicher Basis umgedeutet. Albert O. Hirschmann analysiert diesen Typus von Argumenten als Figuren einer »thèse de la mise en péril«43, die den Konservativen eine Sprache des Progressiven erlaubt. Eine Position, die eigentlich eine konservativ essenzialistische Position der Heiligkeit des Lebens gegen die medizinisch-technische Entwicklung in Stellung bringt, wird hier als zivilisatorisch fortschrittlich umgedeutet, weil sie auf moderne völkerrechtliche Positionen Bezug nimmt. Ganz so, als ginge es um einen nicht gerechtfertigten Krieg. Die Anerkennung als Opfer setzt dabei indirekt die Anerkennung als Person voraus, weil ihnen Rechte genommen werden, die sie ohne diesen Status nicht besäßen.

36 Ebd. 37 Ebd. 38 »Schwarzes Loch«, in: Der Spiegel 33 (1996). 39 »Wann ist der Mensch ein Mensch?«, in: Der Spiegel 5 (2002). 40 Ebd. 41 »Schwarzes Loch«, in: Der Spiegel 33 (1996). 42 Ebd. 43 Alfred O. Hirschman: Deux siècles de rhétorique réactionnaire, Paris 1992, S. 140.

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Wesentlich zur Kriegsmetaphorik gehört die Aggressor-Opfer-Struktur. Als Täter solcher Gewaltakte tauchen »Laboratorien« bzw. die jeweilige »gesetzliche Regelung«, aber auch potenzielle Eltern auf. Deren »Angriff« richtet sich vorrangig gegen jene Embryonen, die bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllen. Sie werden beispielsweise wegen ihrer genetischen Disposition zu Opfern. Wenn der Ausnahmezustand – im Sinne eines Krieges – so gedacht wird, geht es darum, die biopolitische Kontrolle über die Zukunft der menschlichen Gattung zu besitzen. Denn diese Embryonen, die ich im Blick habe, dienen nicht der Gewinnung von Stammzellen zu Heilungszwecken. Sie sollen eigentlich als Kinder auf die Welt kommen, und sie werden erst in dem Moment zum Opfer, in dem sie mit Vorstellungen, wie ein Exemplar der menschlichen Gattung zukünftig auszusehen hat, nicht übereinstimmen. Damit ist die Kriegsmetaphorik eng mit Ideen der Zucht und der Eugenik, der sogenannten »guten Geburt«, verbunden.44 In einem dritten Schritt erhält das düster gefärbte Bild des Embryos als Opfer in diesem Diskursstrang eine historische Patina. Denn eine solche Konstruktion ist im Sinne des bioethischen »Dammbruch-Arguments«45 eine entscheidende Strategie. In diesem Sinne kommt dem Begriff »Eugenik-Risiko« oder »potenzielle Eugenik« eine besondere Bedeutung zu. Der Vorwurf der Eugenik ist eines der entscheidenden und am häufigsten wiederholten Argumente gegen die Anwendung von Reproduktionsmedizin. Dabei sind in erster Linie die selektiven Verfahren gemeint, nicht also die Erzeugung von Embryonen mittels der sogenannten künstlichen Befruchtung, sondern deren Verwerfung nach der Diagnostik aufgrund bestimmter Eigenschaften. In aller Regel wird jedoch auf die Nähe, nicht aber die Deckungsgleichheit mit eugenischen Ideen verwiesen.46 PierreAndré Taguieff konstatiert allerdings, allein das Wort »Eugenik« funktioniere wie Brandbeschleuniger.47 In diesem Sinne stellt die Mahnung vor einer eugeni-

44 Zu den Begriffen der Zucht und der Züchtung siehe Petra Gehring: Was ist Biomacht? Frankfurt/M. 2006, S. 154f. 45 Die Rhetorik bedient sich in diesem Kontext sophistischer Argumente, etwa der Rede von der »schiefen Ebene« oder »slippery slope« und des »Dammbrucharguments«. Es besagt, dass mit der Überschreitung eines bestimmten Punktes die weitere Entwicklung unaufhaltsam und vor allen Dingen unkontrollierbar die Menschheit überlaufen werde. 46 Dass das gegenwärtige Verhalten die eugenischen Strategien der Nationalsozialisten übersteige, wird hingegen selten gesagt. Vgl. »Schamloser als die Nazis«, in: Der Spiegel 7 (1983). 47 Pierre-André Taguieff: La bioéthique ou le juste milieu, Saint-Amand-Montrond 2007, S. 20.

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schen Praxis – zumeist von Experten ausgesprochen – einen elementaren Bestandteil der Auseinandersetzung dar. So warnt Hubert Hüppe (CDU) im Spiegel beispielsweise vor einer »Eugenik in der Petrischale«48. Bei einem solch modernen Gegenstand – der Reproduktionsmedizin – richtet sich also der Fokus der Aufmerksamkeit zwar auf die Zukunft der menschlichen Gattung, der Diskurs bleibt aber zutiefst mit der Vergangenheit verwoben. Denn wenn die Vernichtung als »Selektion« beschrieben wird, schlägt er nach Ansicht des Philosophen Ernst Tugendhat eine bestimmte Richtung ein, wie er angesichts der Sloterdijk-Debatte im Herbst 1999 in der Zeit betonte.49 Dort heißt es: »Warum verwendet Sloterdijk das Wort ›Selektion‹? Wenn ich dieses Wort in diesem Kontext höre, denke ich unwillkürlich an die Selektion an der Rampe von Auschwitz. Ist das nur mein Problem?«50 Anscheinend nicht, denn auch der Philosoph Ludger Lütkehaus fragt sich im Spiegel: »Greift hier ein ehemaliger Linker auf NS-Phantasien von rassischer Veredelung zurück?«51 Aufschlussreich ist Tugendhats Verwendung des Wortes »unwillkürlich«, wird hier doch die semantische Übertragungsleistung deutlich, die diskursiven Strategien zugeschrieben wird. Nicht der Denker Tugendhat stiftet also die Verbindung, sondern er reagiert auf eine Verbindung, die seines Erachtens diskursiv bereits besteht. »Es war ja nicht nur die Rampe«52, fährt Tugendhat fort, »ein guter Teil von Hitlers Programm war ein Programm der Selektion. Gewiss ist eine Selektion durch Züchtung ungleich humaner als eine Selektion durch Ausmerzung, aber die Kategorie des Humanen soll ja nach Sloterdijk nicht mehr verfügbar sein.«53 Zwei Aspekte vermischen sich in diesen Ausführungen: Zum einen scheint es so, als sehe Tugendhat die Gefahr darin, dass, indem Sloterdijk ein bestimmtes Vokabular verwendet, er zumindest das so benannte Handeln begünstigt. Von beson-

48 »Freie Wildbahn«, in: Der Spiegel 6 (2002). 49 Diese ausgiebige Feuilletondebatte war bekanntlich durch den als »Elmauer Rede« berühmt gewordenen Vortrag Sloterdijks mit dem Titel »Regeln für den Menschenpark« ausgelöst worden. Der Vorwurf lautete einerseits, Sloterdijk sei zu assoziativ mit seinen Quellen – beispielsweise Platon, Nietzsche, Heidegger – umgegangen, andererseits, und dieser Punkt ist es, der mich hier interessiert, wurde ihm zur Last gelegt, einen Tabubruch begangen zu haben. Dieser bestand nach Ansicht seiner Kritiker vorrangig in der Verwendung des Zuchtbegriffs und dessen Anwendung auf Menschen. 50 »Es gibt keine Gene für die Moral«, in: Die Zeit 38 (1999). 51 »Der Denker fällt vom Hochseil«, in: Der Spiegel 38 (1999). 52 »Es gibt keine Gene für die Moral«, in: Die Zeit 38 (1999). 53 Ebd.

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derer Brisanz sind aber zum anderen jene Aussagen, die eine direkte Beziehung zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik knüpfen. Die Verbindung zur Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus funktioniert als Steigerung des Selektions-Vorwurfs, indem konstatiert wird, dass es sich bei dem, was die Reproduktionsmedizin zur Verfügung stelle, um jene eugenischen Möglichkeiten handle, die von den Nationalsozialisten auf besondere Weise radikalisiert wurden. Diese semantische Beziehung wird dann oft verdichtet zu einem direkten Vergleich zwischen nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik und Reproduktionstechnologien. Ein solches (auch dramaturgisches) Mittel zeigt zudem, dass die gegenwärtige aufgeregte Debatte um die Forschungen an und mit Embryonen unverständlich bleibt, ohne die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus.54 Schaut man sich den Vergleich in Hinblick auf seine Funktion an, dann fällt weiterhin auf, dass er in erster Linie als Gegenargumentation zu einer liberalen Forschungspolitik dient, was in den Medienbeiträgen durchaus reflexiv vergegenwärtigt wird. »Doch genau diese so erfolgreiche Selektion ist es, an der sich in Deutschland die Debatte um die Fortpflanzungsmedizin entzündet. Seit den Gräueln des Nationalsozialismus, den Menschenversuchen des Nazi-Arztes Josef Mengele im ›Dritten Reich‹ gibt es große Tabus, was die Einordnung von Leben in lebenswert und lebensunwert angeht.«55 Anhand des Neologismus »Fötozid« bzw. »Fetozid« wird die semantische Nachbarschaft zu Krieg und Eugenik besonders deutlich. Mit der Zusammensetzung aus dem Wort »Fötus« bzw. »Fetus« und der Endung »-zid« wird der Diskurs in eine bestimmte Richtung gelenkt. Das Suffix »-zid«, das in »Suizid« ebenso steckt wie in »Pestizid« oder »Fungizid«, verweist etymologisch auf »Mord« bzw. »Tötung«. Anhand der normativen Kontexte, in denen der Begriff hier auftaucht, darf nach dem oben Gesagten »Feto-/Fötozid« im semantischen Hallraum des Begriffs des Genozids vermutet werden. Wie ein Sprungbrett fungieren dann Begriffe wie Eugenik und Selektion, um die Anwendung bzw. die Folgen der Reproduktionstechnologien zu historisieren. Folgt man der Übersetzung von Genozid als »Völkermord«, werden mit einer solchen Zuschreibung von selektiven Maßnahmen Embryonen bzw. Föten ebenfalls in weitreichenderer Weise kollektiviert als im Fall der Embryonen als Opfer.56 Sie werden als gemeinsame »Gruppe« (vergleichbar einem »Volk«) wahrgenommen, der in die-

54 P.-A. Taguieff: La bioéthique ou le juste milieu, S. 23. 55 »Die Babygrenze«, in: Der Spiegel 46 (2005). 56 Zur Überschneidung eines bioethischen mit einem erinnerungspolitischen Diskurs siehe Julia Diekämper/Yvonne Robel, »The hidden history«, in: kultuRRevolution 57/2009, S. 58–60.

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sem Diskursstrang der Anspruch auf Recht verwehrt wird. Und würde diese angegriffen/vernichtet, wie es das »-zid« kenntlich macht, dann bestünde doch konsequenterweise Interventionsbedarf. Wer also übernimmt im Feld der Biomedizin die Aufgaben der UN? Wer stellt die Blauhelme der Biopolitik? Die individuelle Bedrohung, der Vernichtung zum Opfer zu fallen, lebt davon, dass es potenziell jeden treffen kann, womit abermals das Kollektiv zur Zielscheibe der Attacke wird. Nicht einem Einzelnen wird hier das Lebensrecht genommen, sondern der Einzelne wird aus der Gruppe der Rechtlosen willkürlich herausgegriffen. Fragt sich, wer als Aggressor den Ungeborenen gegenübersteht? In der Zeit heißt es: »Von allen Frauen im ABC-Club, die eine Selektion durchführen ließen, kenne sie nur eine, die es danach nicht bereut habe, sagt Dorothea. Die Ausgabe der Mitgliederzeitung zum Thema Fetozid ist eine einzige Sammlung von Ärztekritik und Selbstanklagen, Reuegedanken und Nie-wieder-Ausrufen. Die meisten Frauen blieben nach dem Fetozid allein mit ihrer Seelennot. Eine psychologische Betreuung war nicht vorgesehen. Der Fetozid ist das schwärzeste Kapitel der Reproduktionsmedizin.«57

Der »Fetozid« geht in diesem Fall also nicht von einem konkreten Verursacher aus, sondern ist selber als Bedrohung in der Welt, unter der insbesondere Frauen zu leiden haben. Sowohl der Slogan »Nie wieder!« als auch die Beschreibung als »schwärzestes Kapitel« spielen dabei auf einer Klaviatur, die mit der menschlichen Fortpflanzung ursächlich wenig gemein hat.

D IE V ERMENSCHLICHUNG ALS S TRATEGIE DES L EBEN -M ACHENS Während das Sprechen über den Embryo immer fragmentierter und auf eine bestimmte Weise auch immer ›verminter‹ wird, je nachdem, welche Funktion, welche Rolle ihm zukommt,58 zeigen die zur Analyse herangezogenen Artikel unterschiedliche Lesarten in Bezug auf den Status des Ungeborenen. Von diesen habe ich hier diejenigen in den Blick genommen, die den Embryo als »kleinen verletzten Menschen« konzeptualisiert, um zu verdeutlichen, dass je nachdem, wen oder was wir sehen, andere Rechte plausibel werden.

57 »Ein Wunsch, drei Sorgen«, in: Die Zeit 38 (2002). 58 L. Boltanski: Soziologie der Abtreibung, S. 279.

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Anhand von Bedrohungsszenarien werden die Rechte des »kleinen bedrohten Menschen« diskursiv konstituiert. Insbesondere die Anerkennung als Opfer unterstreicht hierbei das implizite Recht, das im weitesten Sinne Schutz- bzw. Lebensrechte beinhaltet. Es setzt die Anerkennung als Mensch und als Person bereits voraus. Die Normen, die den Rahmen der Anerkennung festlegen, sind Bezugspunkte für wesentliche (politische) Entscheidungen. Durch Benennung ist zudem die Frage der Wahrheit an die Frage der Macht gebunden. Denn jedes Denksystem besitzt die Macht des Wahrsprechens mit seinen aktuellen Regeln, nach denen Aussagen gemacht werden.59 Auf diese Weise werden Strategien kenntlich, die sich ebenso befruchten wie begrenzen können. Es wäre aber zu kurz gegriffen, die sich artikulierenden Strategien allein auf die intentionalen Interessen der beteiligten Akteure zu reduzieren. Strategien sollen hier vielmehr als all das verstanden werden, »was über Gegenstände, Rahmenbedingungen des Sichäußerns und Begriffen hinausgreifend, die Themenwahl, die Gesamtpositionierung und Stoßrichtung eines Diskurses ausmacht: Ausgestaltung, Wiederbelebung oder Einbettung, strategische Wahl oder Ausgrenzung von Themen«60. Das der Artikulation von Schutzansprüchen vorausgehende Bedrohungsszenario hat genau dann integrativen Charakter, wenn es um die Gattungszugehörigkeit geht. Innerhalb dieses Denkmusters dient die Aushandlung über ungeborenes Leben ferner dazu, gesamtgesellschaftliche Ansprüche zu formulieren. Recht ist hier identisch mit der Achtung des Menschen im Allgemeinen. Dabei ist der folgende Dreischritt meines Erachtens bemerkenswert: 1. Indem Ungeborene als Menschen anerkannt werden, werden ihnen implizit Rechte zugewiesen. Wenn Embryonen 2. als Opfer konzipiert werden, handelt es sich des Weiteren um Wesen mit beraubten Rechten. Dies führt 3. dazu, dass sie »entrechtet« werden können. Anhand dessen lässt sich die Aufnahme in einen größeren Kontext erahnen: Hier erhalten biopolitische Mechanismen dann eine Bedeutung, wenn statt der jeweiligen Individuen Bevölkerung im Mittelpunkt steht. Das macht einmal mehr deutlich, dass die Frage der Anerkennung dem Kampf um Deutungshoheit unterworfen ist. Die Anerkennung des Embryos als »kleiner bedrohter Mensch« wird also in unterschiedlichen Kontexten ständig wiederholt, und zwar in erster Linie nicht als argumentativer Aushandlungsprozess – beispielsweise mit Hinweis auf die Potenzialität des Embryos –, sondern als Setzung. Die Normalisierung des biologischen Menschseins der Embryonen

59 Michel Foucault: Vorlesung vom 7. Januar 1976, in ders.: Dites et Ecrits III, Frankfurt/M. 2003, S. 212. 60 P. Gehring: Was ist Biomacht, S. 48.

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in diesem Prozess repetitiver performativer Akte hat weitreichende Konsequenzen in divergierenden rechtlichen, ethischen und politischen Praktiken. Auch daran lässt sich zeigen, inwiefern ein solches Changieren als ›Wahrheitsspiel‹ funktioniert, in dem das performativ erzeugte Wissen in politische Handlungen transformiert werden soll. Und in dieses Wahrheitsspiel sind eindeutig pronatalistische Strategien eingewoben, die auf der Unantastbarkeit des Embryos, auf der Heiligkeit des Lebens fußt. Diese Form des »Leben-Machens«, von der Foucault spricht, verbietet jede Form des »Sterben-Lassens«.61

61 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983, S. 165.

Die ›Durchbrüche‹ der Stammzellforschung und ihre Folgen M ARTINA F RANZEN

Die Stammzellforschung gilt als Schlüsseltechnologie der Regenerativen Medizin. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung einer Zellersatztherapie, die für die Behandlung von bislang als unheilbar geltenden Erkrankungen zum Einsatz kommen könnte. Seit der Gewinnung und Kultivierung humaner embryonaler Stammzellen im Jahr 1998 sind vor allem die ethischen Implikationen in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Die Gewinnung pluripotenter Stammzellen aus humanen Embryonen1 setzt deren Zerstörung voraus und wird vielerorts als unzulässiger Eingriff in menschliches Leben gesehen und rechtlich sanktioniert. Die Forschung an adulten Stammzellen wurde hingegen als ethisch unbedenklich und förderungswürdig eingestuft. Erfolge wurden an beiden Fronten in regelmäßigen Abständen vermeldet und in den Massenmedien verbreitet. So erfuhr die Öffentlichkeit von ungeahnten Potenzialen der adulten Stammzellen, von ethisch einwandfreien Verfahren der Gewinnung pluripotenter Stammzellen oder von dem technischen Erfolg des therapeutischen Klonens. Diese allgemein als ›Durchbrüche‹ deklarierten Ergebnisse konnten in der Folge jedoch nicht halten, was sie versprachen, obwohl es sich um Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften handelte, die für ihr rigides Begutachtungssystem bekannt sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die beschriebenen Replikationsprobleme der Stammzellforschung ein strukturelles Problem der Wissenschaft ansprechen oder ob Faktoren zu identifizieren sind, die die Stammzellfor-

1

Vgl. James A. Thomson et al.: »Embryonic Stem Cell Lines Derived from Human Blastocysts«, in: Science, 282 (1998), S. 1145–1147.

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schung im Besonderen betreffen. Hierfür bietet es sich an, generell nach den Bedingungen von Wissenschaftskommunikation zu fragen. In Bezug auf das Verhältnis von Wissenschaft zu den Massenmedien hat Peter Weingart2 die Medialisierungsthese formuliert, die besagt, dass mit der zunehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber Wissenschaft eine Orientierung der Wissenschaft an den Selektionskriterien der Massenmedien zwecks Legitimationsbeschaffung einhergeht. Im Zuge einer enger werdenden Kopplung mit den Massenmedien gerät die Wissenschaft Weingart zufolge »in den Sog der Operationslogiken der Medien, die unverträglich mit ihren eigenen sind«.3 Inwieweit es durch die strukturelle Kopplung von Wissenschaft und Massenmedien zu wechselseitigen Irritationen kommt, ist eine empirische Frage und in der Literatur bisher nicht eindeutig beantwortet. Während die erste Dimension der Medialisierungsthese, die hohe massenmediale Aufmerksamkeit gegenüber (einigen) wissenschaftlichen Themen, empirisch unbestritten ist, sind die Rückwirkungen auf die Wissenschaft bislang nur wenig beleuchtet worden.4 Im Hinblick auf das hohe öffentliche Interesse und die verstärkte mediale Beobachtung der Stammzellforschung5 soll es aus differenzierungstheoretischer Perspektive im Folgenden darum gehen, die Strukturmerkmale dreier prototypischer Publikationsereignisse im Detail herauszuarbeiten. Es handelt sich dabei um wissenschaftliche Originalartikel, die sowohl im wissenschaftlichen als auch massenmedialen Referenzrahmen als ›Durchbruch‹ deklariert wurden, sich aber im Nachhinein als wissenschaftlich nicht tragfähig erwiesen haben. Zu klären ist im Hinblick auf die Medialisierungsthese, ob und inwieweit massenmediale Aufmerksamkeitsregeln im wissenschaftlichen Publikationssystem antizipiert werden und welche Implikationen dies für die Forschungsent-

2

Vgl. Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu

3

Vgl. Peter Weingart: Die Wissenschaft der Öffentlichkeit: Essays zum Verhältnis von

Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001. Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, Weilerswist 2005, S. 12. 4

Eine systematische Erschließung aktueller empirischer Beiträge zur Medialisierung von Wissenschaft liefert der Band von Simone Rödder/Martina Franzen/Peter Weingart (Hg.): The Sciences’ Media Connection – Public Communication and its Repercussions. Sociology of the Sciences Yearbook 28, Dordrecht (im Erscheinen).

5

Im Unterschied zu den meisten Forschungsfeldern gilt die Stammzellforschung als hoch medialisiert, vgl. Mike S. Schäfer: »Medialisierung der Wissenschaft? Empirische Untersuchung eines wissenschaftssoziologischen Konzepts«, in: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), S. 206–225.

D IE D URCHBRÜCHE DER S TAMMZELLFORSCHUNG

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wicklung hat. Aus den Ergebnissen6 lassen sich Thesen zu den Rückwirkungen erhöhter Medienaufmerksamkeit auf die Wissenschaft entwickeln und die Rolle der Zeitschriften im Medialisierungsprozess näher bestimmen.

W ISSENSCHAFTLICHE R ELEVANZKRITERIEN

VERSUS MASSENMEDIALE

Sowohl die Wissenschaft als auch die Massenmedien sind über die Angewiesenheit auf Verbreitungstechnologie im Zuge des Publizierens einem Neuheitswert verpflichtet.7 Ob Ereignissen in den Massenmedien jedoch Informationswert zugeschrieben wird, hängt von ihrem Nachrichtenwert ab. Aus der Kombination von Nachrichtenfaktoren8 lässt sich die Medienaufmerksamkeit für wissenschaftliche Themenbereiche ableiten. Biomedizinische Themen rangieren in der Wissenschaftsberichterstattung weit oben, wie zahlreiche Medieninhaltsanalysen belegen.9 Konkrete medizinische Heilungsaussichten stellen ein massenmedial

6

Der vorliegende Beitrag basiert in wesentlichen Teilen auf den Ergebnissen meiner Dissertation, vgl. Martina Franzen: Breaking News: Wissenschaftliche Zeitschriften im Kampf um Aufmerksamkeit, Baden-Baden 2011.

7

Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997, hier S. 996.

8

Die Ergebnisse aus der Nachrichtenwertforschung geben diverse Kataloge von Nachrichtenfaktoren an die Hand, wie zum Beispiel Personalisierung, Konflikt oder Überraschung, vgl. speziell für den Wissenschaftsjournalismus Franziska Badenschier/ Holger Wormer: »Issue Selection in Science Journalism: Towards a Special Theory of News Values for Science News?«, in: S. Rödder/M. Franzen/P. Weingart (Hg.): The Sciences’ Media Connection. Die Nachrichtenwert-Theorie ist hierbei weniger eine Theorie der Nachrichtenauswahl, als vielmehr ein »Modell zur Beschreibung und Analyse von Strukturen in der Medienrealität«, die über die massenmedialen Konstruktionsleistungen informieren kann, so Joachim Friedrich Staab: Nachrichtenwert-Theorie: formale Struktur und empirischer Gehalt, Freiburg; München 1990, S. 208.

9

Vgl.

Christina

Elmer/Franziska

Badenschier/Holger

Wormer:

»Science

for

everybody? How the coverage of research issues in German newspapers has increased dramatically«, in: Journalism & Mass Communication Quarterly 85 (2008), S. 878– 893; Markus Lehmkuhl: »Typologie des Wissenschaftsjournalismus«, in: Holger Hettwer et al. (Hg.), WissensWelten: Wissenschaftsjournalismus in Theorie und Praxis, Gütersloh 2008, S. 176–196.

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verwertbares Muster dar: »Der praktische Nutzen ist gewissermaßen der Anker, an dem ein vermutetes Publikumsinteresse festgemacht wird.«10 Während massenmediale Formate die allgemeine Öffentlichkeit adressieren und sich generell an einem unbestimmten Empfänger ausrichten, ist das Publikum wissenschaftlicher Publikationsformate in der Regel auf die Fachvertreter beschränkt, die über die wissenschaftliche Relevanz der Beiträge urteilen, was symptomatisch für das »rekursive Netzwerk der wissenschaftlichen Kommunikation«11 ist. Im redaktionellen Auswahlprozess publikationswürdiger Beiträge kommen in den Medien und im wissenschaftlichen Publikationswesen jeweils unterschiedliche Entscheidungsprogramme zur Geltung, die sich an massenmedialen Nachrichtenwerten oder wissenschaftlichen Relevanzkriterien wie methodische Sorgfalt oder Signifikanz orientieren. Um dem politisch artikulierten öffentlichen Interesse an wissenschaftlichen Themen entgegenzukommen, haben sich Grenzstellen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in wissenschaftlichen Organisationen ausdifferenziert, in denen wissenschaftliche Informationen verständlich aufbereitet werden. Bei der Zeitschrift Nature zum Beispiel werden Pressemitteilungen »about the exceptionally interesting papers« von einer eigenen Presseabteilung erstellt und vor dem Erscheinungstermin des Artikels an mehr als 2000 Journalisten weltweit verschickt.12 Dies soll gewährleisten, »that authors receive maximum exposure for their work in the world’s most important newspapers, magazines, radio and television channels«13. Seit den 1990er Jahren haben sich die PR-Bemühungen wissenschaftlicher Einrichtungen insgesamt intensiviert.14 Den organisationalen Grenzstellen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit gilt »die bloße Spiegelung in den Medien […] als Erfolg«15, die neuerdings in die Leistungsbilanzen der Einrichtungen eingeht. Medienpräsenz wird als Indikator für die gesellschaftliche Relevanz von Forschungsleistungen eingestuft und dient somit den

10 Vgl. M. Lehmkuhl: »Typologie des Wissenschaftsjournalismus«, S. 183. 11 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 575. 12 Diese Vorab-Informationen an die Presse unterliegen einem Embargo bis zum Erscheinungsdatum des Originalartikels. 13 Nature (2007): Author Benefits, abzurufen unter: http://www.nature.com/authors/ author_benefits/author_benefits.html, letzter Zugriff am 11.12.2007. 14 Friedhelm Neidhardt: »Wissenschaft als öffentliche Angelegenheit«, in: WZBVorlesungen 3, Berlin 2002, S. 3. 15 P. Weingart: Stunde der Wahrheit, S. 247.

D IE D URCHBRÜCHE DER S TAMMZELLFORSCHUNG

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Legitimationsinteressen der beteiligten Organisationen.16 Angesichts knapper öffentlicher Fördermittel wächst der Wettbewerbsdruck zwischen Forschungsinstituten sowie zwischen Wissenschaftlern.17 Wissenschaftszeitschriften buhlen ihrerseits um die besten und interessantesten Beiträge, die wiederum medial vermarktet werden.18

D IE D EKLARATION WISSENSCHAFTLICHER

›D URCHBRÜCHE ‹

Eine erfolgreiche Strategie seitens der Zeitschriften, mediale Aufmerksamkeit auf wissenschaftliche Ergebnisse zu lenken, besteht in der Verkündung sogenannter Durchbrüche, die der massenmedialen Logik von Überraschung und Spektakularität entgegenkommen.19 Die Zeitschrift Science hat sich dies zum Prinzip gemacht: Sie kürt seit 1996 regelmäßig den »Durchbruch des Jahres« und rückt damit ganze Forschungsgebiete in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jeweils am Jahresende setzen sich die Wissenschafts- und Nachrichtenredakteure bei Science zusammen und nominieren die größten wissenschaftlichen

16 Vgl. Hans Peter Peters et al.: »Medialisierung der Wissenschaft als Voraussetzung ihrer Legitimierung und politischen Relevanz«, in: Renate Mayntz et al. (Hg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer: Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld 2008, S. 269–292. 17 Vgl. Dorothy Nelkin: Selling Science. How the Press Covers Science and Technology, New York 1995 [1987]. 18 Dabei spielt auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung eine Rolle. Vincent Kiernan führt in einem Vergleich zweier biomedizinischer Zeitschriften anschaulich vor, wie das Embargo-System genutzt wird, um die massenmediale Resonanz zu erhöhen. Vgl. ders: »Changing Embargoes and the New York Times’ Coverage of The Journal of the American Medical Association«, in: Science Communication 19 (1998), S. 212– 221. 19 Während Wissenschaftler sich in ihren Beschreibungen häufig auf Metaphern wie ›Meilenstein‹ stützen, taucht die (ursprünglich militärische) Metapher des ›Durchbruchs‹ vornehmlich in journalistischen Kommentaren auf, so das Ergebnis einer britischen Fallstudie, vgl. Brigitte Nerlich: »Breakthroughs and Disasters: The (Ethical) Use of Future-Oriented Metaphors in Science Communication«, in: Brigitte Nerlich/Richard Elliott/Brendon Larson (Hg.): Communicating Biological Sciences. Ethical and Metaphorical Dimensions, Farnham [u. a.] 2009, S. 201–218.

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Erfolge, die sie als Top-Ten-Liste20 veröffentlichen. Die redaktionelle Erläuterung von Science zur Wahl der Stammzellforschung zum »Breakthrough of the Year 1998« enthielt knackige, aber bedingungsreiche Versprechungen wie diese: »With dramatic results like these coupled with growing public acceptance, the stem cell field is poised for progress.«21 Drei solcher viel beachteter Forschungsergebnisse aus den Jahren 2002, 2004 und 2006 sollen im Folgenden näher auf ihre Strukturmerkmale hin untersucht werden. Sie haben gemeinsam, dass sie in den beiden hochrangigen Journalen Science und Nature in einer beschleunigten Online-Fassung veröffentlicht22 und mit zahlreichen redaktionellen Kommentierungen versehen worden sind. Sie erzielten zum Erscheinungstermin eine hohe mediale Aufmerksamkeit gemessen an der US-amerikanischen Presseberichterstattung und prägten darüber hinaus den dortigen politischen Entscheidungsprozess in Grundsatzfragen zur Embryonenforschung und zum Klonen. Sie zählen alle drei zu den meistzitiertesten Arbeiten im Bereich »Molekularbiologie und Genetik«, wenn man die von Science Watch errechneten kohortenspezifischen Zitationsschwellenwerte im obersten Perzentil23 zugrunde legt. Und sie wurden alle drei im Nachhinein grundlegend

20 Die über solche Listen suggerierte Serienproduktion von Durchbrüchen ist nicht unbedingt mit dem wissenschaftlichen Alltagshandeln in Einklang zu bringen. Historisch gesehen handelt es sich bei Durchbrüchen bzw. revolutionären Umwälzungen um äußerst seltene Ereignisse, in deren Folge die Normalwissenschaft einen Paradigmenwechsel vollzieht, vgl. hierzu allgemein Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1976. 21 Vgl. Gretchen Vogel: »Breakthrough of the year: Capturing the Promise of Youth«, in: Science 286 (1999), 2238–2239, hier S. 2239. Auch in den Folgejahren erschien die Stammzellforschung immer mal wieder in den Top-Ten-Listen von Science, 2007 und 2008 durch die Reprogrammierung von Zellen über Transkriptionsfaktoren. 22 Die elektronische Vorveröffentlichung von Artikeln vor dem aufwendigen Druckverfahren gilt bei den Zeitschriften Science und Nature als redaktionelle Option für »particularly interesting or topical papers« (siehe z. B. Science’s Contributors FAQ auf: http://www.sciencemag.org/about/authors/faq/index.dtl, letzter Zugriff am 10.12. 2010). 23 Die Ermittlung der Zitationsschwellenwerte für hochzitierte Papiere in verschiedenen Fächern basiert auf den Daten des Web of Science und wird von dem Anbieter Thomson Reuters regelmäßig aktualisiert. Für den Abgleich der erzielten Zitationen der Artikel mit den Schwellenwerten wurde die Fassung vom 1. Juli 2008 verwendet, abzurufen unter: http://sciencewatch.com/about/met/thres-highlyctd/ (letzter Zugriff am 13.8.2008).

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korrigiert oder widerrufen, nachdem wissenschaftliche Ungereimtheiten öffentlich thematisiert wurden. Eine qualitative Inhaltsanalyse der Artikel sowie ihrer redaktionellen und medialen Rahmung soll Aufschluss darüber geben, inwieweit wissenschaftliche und massenmediale Relevanzkriterien im wissenschaftlichen Publikationswesen aufeinandertreffen und was dies für die wissenschaftliche Kommunikation im Einzelnen bedeutet. Bei der Rekonstruktion der Publikationsereignisse wird zur vergleichenden Darstellung im Folgenden auf die drei Sinndimensionen der Zeit-, Sach- und Sozialdimension nach Luhmann zurückgegriffen, die konstitutiv sind für jede Form von Kommunikation.24 Der überraschende ›Durchbruch‹ Eine herausragende Bedeutung für die weltweite öffentliche Debatte zur Stammzellforschung besaß eine Studie, die von einem Team um Catherine Verfaillie, Leiterin des Stammzellinstituts an der Universität Minnesota, erarbeitet und im Juni 2002 in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurde. Monate vor der formalen Veröffentlichung wurden die Ergebnisse bereits auf der Basis eines Patentantrags in der Presse besprochen.25 Der Öffentlichkeit wurde hierüber mitgeteilt, dass eine seltene Population von Knochenmarkszellen entdeckt worden sei, die über eine außergewöhnliche Plastizität verfüge.26 Das Thema einer ultimativen, ethisch einwandfreien Stammzelle besaß hohe politische Brisanz und fand sofortigen Niederschlag in der Weltpresse. Alarmiert durch das hohe öffentliche Interesse an ihrer Arbeit wandte sich die Projektleiterin Catherine Verfaillie in einem offenen Brief an die Angehörigen des USamerikanischen Senats, ihre Arbeit nicht rhetorisch dafür zu nutzen, das therapeutische Klonen zu verbieten. Ihrer Ansicht nach sei ein wissenschaftlicher Vergleich zwischen adulten (AS) und embryonalen (ES) Zellen nach wie vor unerlässlich, um das medizinische Potenzial von Stammzellen prinzipiell auszuloten.27 Von ihren Forscherkollegen wurde die öffentliche Diskussion der noch

24 Vgl. hier speziell Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984. 25 Vorveröffentlichungen in der Presse werden als ein Indikator für die Medialisierung von Wissenschaft verstanden, vgl. P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit, Kap. 6. 26 Vgl. Sylvia Pagán Westphal: »Ultimate stem cell discovered«, in: New Scientist vom 23.1.2002. 27 Vgl. Erika Check: »Cloning agenda ›skewed‹ by media frenzy«, in: Nature 415 (2002), S. 722.

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nicht offiziell publizierten Ergebnisse scharf verurteilt, da auf diese Weise politische Entscheidungen von wissenschaftlich ungeprüften Resultaten geprägt werden würden.28 Die formale Veröffentlichung der Ergebnisse29 erfolgte schließlich am 20. Juni 2002 in Nature online und wurde über eine Pressemitteilung angekündigt. In der Pressemitteilung wurde aber nicht nur die Arbeit von Verfaillie an ASZellen behandelt, sondern diese einer zweiten, zeitgleich online publizierten Arbeit gegenübergestellt, die eine therapeutische Eignung von ES-Zellen zur Parkinson-Behandlung demonstrierte.30 Die Nature-Pressemitteilung zu diesen beiden Artikeln trug den verheißungsvollen Titel »Lifelines: Stem cell hopes double«. Durch diese Einordnung wurde somit nicht signalisiert, dass embryonale Zellen verzichtbar seien. Stattdessen wurden sowohl AS- als auch ES-Zellen als aussichtsreiche Kandidaten für zukünftige Zellersatztherapien herausgestellt. Wenn man die Indikatoren wissenschaftlicher, politischer, medizinischer und ökonomischer Relevanz zusammenfasst, dann ergibt sich folgende Charakterisierung des Publikationsereignisses: Der Artikel von Verfaillie beschreibt in der Sachdimension eine überraschende Entdeckung, dass sich nämlich im Knochenmark eine rare Population von äußerst potenten Zellen befindet, die sich in vitro und in vivo in Zelltypen aller drei Keimblätter differenzieren lassen, was bis dato den als pluripotent geltenden embryonalen Stammzellen vorbehalten zu sein schien. Sie bezeichneten die Stammzellen, die sie aus dem Knochenmark von Maus und Ratte isoliert hatten, als multipotente adulte Vorläuferzellen (MAPCs), wenngleich ihnen Eigenschaften attestiert wurden, die für gewöhnlich mit Pluripotenz assoziiert werden. Die besondere Differenzierungsfähigkeit dieser Zellen wurde durch das Testverfahren als klar belegt herausgestellt: »To definitively prove that a single cell gives rise to continuous growing cultures and differentiated progeny, we used retroviral marking.«31 Damit standen diese experimentellen Ergebnisse im Widerspruch zu dem entwicklungsbiologischen Dogma einer eingeschränkten Plastizität adulter Stammzellen und waren deswegen überraschend. Das therapeutische Potenzial jener MAPCs wird in der NaturePublikation, den redaktionellen Materialien und der medialen Berichterstattung als sehr hoch eingestuft, da anders als bei embryonalen Stammzellen autologe

28 Ebd. 29 Yuehua Jiang et al.: »Pluripotency of mesenchymal stem cells derived from adult marrow«, in: Nature 418 (2002), S. 41–49. 30 Jong-Hoon Kim et al.: »Dopamine neurons derived from embryonic stem cells function in an animal model of Parkinson’s disease«, in: Nature 418 (2002), S. 50–56. 31 Y. Jiang: »Pluripotency of mesenchymal stem cells«, S. 42; Hervorh. M.F.

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Zelltransplantationen möglich, das heißt keine Immunabwehrreaktionen zu erwarten wären. Wie aus der Versuchsbeschreibung im Originalartikel hervorgeht, bilden die MAPCs keine Tumoren in vivo aus, was ihnen einen weiteren medizinischen Vorteil gegenüber embryonalen Stammzellen beschert. Im Abstract der Publikation wurden die Zellen aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften, das heißt aufgrund ihrer starken Vermehrungsfähigkeit ohne erkennbare Alterung oder Verlust ihres Differenzierungspotenzials, als eine »ideale Quelle« für Zellersatztherapien bei degenerativen Krankheiten beschrieben.32 Konkret könnten nach Ansicht der Autoren mithilfe dieser Zellen beispielsweise Enzymmangelerkrankungen oder Muskeldystrophie behandelt werden, was den Status der Stammzellforschung als »therapieorientierte Forschung«33 untermauert. Ein Lizenzvertrag mit der Firma Athersys kam im Dezember desselben Jahres zustande,34 die auch sofort die ersten klinischen Versuche ankündigte. Die therapeutische Anwendungsnähe stand im Fokus der medialen Berichterstattung. Wissenschaftskollegen äußerten sich zwar beeindruckt von den Ergebnissen zu den MAPCs wie den Presseberichten zu entnehmen ist, unterstrichen aber zugleich, dass die Ergebnisse erst einmal von anderen Labors bestätigt werden müssten.35 In der Sozialdimension wird deutlich, dass mit dieser Publikation neben der Wissenschaft unweigerlich die Politik adressiert wird, denn die MAPCs aus dem Knochenmark könnten praktisch einen Ausweg aus dem ethischen Dilemma bieten, das mit der Verwendung embryonaler Stammzellen einhergeht. Den Gegnern der embryonalen Stammzellforschung galt die Entdeckung adulter Alleskönnerzellen sofort als Argument für eine Verzichtserklärung der Forschung an embryonalen Stammzellen und des Embryonenverbrauchs. Mittels der Parallelveröffentlichung eines zweiten Artikels in Nature, der von einem Erfolg in Richtung therapeutischer Anwendung embryonaler Stammzellen bei der Parkinson-Krankheit handelte, wurde mit redaktionellen Mitteln eine Patt-Situation

32 Ebd., S. 41. 33 Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG): Stammzellforschung in Deutschland – Möglichkeiten und Perspektiven, Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn: Oktober 2006, S. 4. 34 Vgl. »Nature Biotech firm gets licence for stem cell«, in: Nature 420 (2002), S. 726; Andrew Pollack: »›Politically Correct‹ Stem Cell Is Licensed to Biotech Concern«, in: New York Times vom 11.12.2002. 35 Vgl. Nicholas Wade: »Scientists Make 2 Stem Cell Advances«, in: New York Times vom 21.6.2002; Justin Gillis: »Study Finds Potential in Adult Cells: Discovery Will Likely Fuel Ethical Debate«, in: Washington Post vom 21.6.2002.

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zwischen ES- und AS-Zellen hergestellt, die in den Massenmedien reproduziert wurde. In der Druckausgabe des Verfaillie-Artikels vom 4. Juli 2002 widmete sich der Nature-Leitartikel diesen zwei als bedeutsam bezeichneten Artikeln in Form eines Plädoyers an die amerikanische Wissenschaftspolitik. Demnach müsse es nun angesichts der neuen Befunde zu ES- und AS-Zellen darum gehen, beide Zugänge verstärkt zu fördern, um die Stammzellforschung in Richtung klinischer Anwendung zu treiben. Des Weiteren wurde hierin die restriktive Regelung in den USA in Bezug auf die Arbeit an embryonalen Stammzellen scharf kritisiert. Es wurde darauf hingewiesen, dass die für die öffentliche Förderung zulässigen Stammzelllinien in den USA sich auf weitaus weniger Zelllinien beschränkten als ursprünglich angenommen. Von den zum Zeitpunkt der Einführung der sogenannten Bush-Regelung im August 2001 gelisteten 64 Zelllinien seien nur einige wenige erhältlich, manche hätten Probleme in der Kultivierung gezeigt oder seien aufgrund überhöhter Lizenzgebühren oder unzumutbarer vertragsrechtlicher Bindungen kaum für die Forschung nutzbar. Die bisher in den USA bereitgestellten staatlichen Fördersummen für die Stammzellforschung wurden als absurd niedrig eingestuft und die beiden neuen Ergebnisse somit zum Anlass genommen, an die amerikanische Forschungsförderpolitik zu appellieren, weitere Gelder zur Verfügung zu stellen, um die klinische Anwendung von Stammzellen voranzutreiben: »Advances in the study of embryonic and adult stem cells offer opportunities to boost research on both cell types towards clinical applications. But funding and coordination at national levels will be required to make the most effective progress.«36 Die wissenschaftliche Veröffentlichung wurde parallel zum Online-Erscheinungstermin breit in der Weltpresse besprochen. Der für die New York Times tätige Journalist Nicholas Wade erkannte in der Publikation der zwei methodisch konträren Ergebnisse eine deutliche Verquickung von Wissenschaft mit Politik. Dass in der gleichen Nature-Ausgabe eine zweite Studie zu einem Forschungserfolg an ES-Zellen in Richtung therapeutischer Anwendung publiziert worden war, interpretierte er dahin gehend, eine Verzichtserklärung für embryonale Zellen im Vorfeld zu unterbinden. Auf der Pressekonferenz der Universität Wisconsin dazu befragt, erklärte die Nature-Redakteurin Natalie DeWitt, dass keine politischen Intentionen bei der Veröffentlichung im Spiel gewesen seien, denn beide Artikel seien im Abstand von nur zwei Wochen eingereicht worden.37 Da-

36 »A Human Stem Cell Project?«, in: Nature 418 (2002), S. 1. 37 Blickt man auf die offiziellen Einreichungsdaten, die auf den Publikationen vermerkt sind, so ist diese Angabe von zwei Wochen nicht korrekt: Der Verfaillie-Artikel ging demnach am 30. Januar 2002 bei Nature ein; der Artikel von Kim et al. (2002) zu den

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rüber hinaus sei es generell unmöglich, eine Einflussnahme wissenschaftlicher Veröffentlichungen auf politische Entscheidungen zu vermeiden, denn, so DeWitt, es sei »very difficult to publish any stem cell paper at a time when there is not a political debate in the United States«38. In der Zeitdimension fällt bei der Veröffentlichung zunächst die mediale Beschleunigung ins Gewicht, da das Ergebnis in der Presse vorweggenommen wurde. Im Zeitraum von der Vorveröffentlichung in der Presse im Januar 2002 bis zur wissenschaftlichen Publikation im Juni 2002 schwelte im amerikanischen Senat eine Debatte, ein bundeseinheitliches totales oder Teil-Verbot des Klonens, das heißt des therapeutischen Klonens mittels embryonaler Stammzellen, durchzusetzen.39 Insofern besaß das Thema ES- vs. AS-Zellen eine hohe politische Aktualität. Am 31. Juli 2001 war ein Gesetz zum prinzipiellen Verbot des menschlichen Klonens vom US-Repräsentantenhaus verabschiedet worden, jedoch fehlte noch die erforderliche Zustimmung des Senats. Aufgrund unklarer Stimmenverhältnisse wurde die Abstimmung auf das Frühjahr 2002 verschoben. Die politischen Verhandlungen scheiterten schließlich kurz vor der offiziellen Veröffentlichung der beiden Ko-Publikationen in Nature.40 Im Wissenschaftsdiskurs wurde zu dieser Zeit eine Grundsatzdebatte über die Transdifferenzierungsfähigkeit adulter Zellen geführt. Statt der Annahme einer Plastizität adulter Stammzellen in mehreren viel beachteten Studien aus den Jahren 1999 bis 2001 wurde im März 2002 spontane Zellfusion als Erklärung für den beobachtbaren, aber methodisch scheinbar nicht ausreichend kontrollierten Differenzierungsprozess diskutiert.41 Umso überraschender erschien in diesem Kontext daher die Arbeit von Verfaillie, die adulten Zellen erneut eine außergewöhnlich hohe Plastizität bescheinigte und sich zugleich explizit gegen Zellfusion als Erklärung aussprach.42 Durch die Ankündigung des beteiligten Biotech-Unternehmen

ES-Zellen erst am 24. April 2002, also knapp drei Monate später, und wurde prompt veröffentlicht. 38 Zit. in: N. Wade: »Scientists Make 2 Stem Cell Advances«. 39 Nicholas Wade/Sheryl Gay Stolberg: »Scientists Herald a Versatile Adult«, in: New York Times vom 25.1.2002. 40 Vgl. Erika Check: »Senate adrift on cloning as talks break down«, in: Nature 417 (2002), S. 775. 41 Vgl. die parallel veröffentlichten Artikel von Qi-Long Ying et al.: »Changing potency by spontaneous fusion«, in: Nature 416 (2002), S. 545–548, und Naohiro Terada et al.: »Bone marrow cells adopt the phenotype of other cells by spontaneous cell fusion«, in: Nature 416 (2002), S. 542–545. 42 Jiang et al.: »Pluripotency of mesenchymal stem cells«, S. 48.

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Athersys rückte zugleich die klinische Anwendung dieser Zellen in greifbare Nähe. Seitens der Forschergemeinschaft wurde die Veröffentlichung der experimentellen Details sowie der Zugang zu den Zelllinien ungeduldig erwartet, um die wissenschaftliche und medizinische Eignung der MAPCs zu eruieren. Die Aufdeckung wissenschaftlicher Ungereimtheiten: Aufgrund mehrfach laut geäußerter Replikationsprobleme43 geriet die Arbeit jedoch im Laufe der Zeit in Verruf. So startete der New Scientist eine Untersuchung des Falls, eine besondere Form investigativen Journalismus, mit der das Blatt bereits im Zuge der Vorveröffentlichung der Ergebnisse für Furore gesorgt hatte. Die Recherche begann laut eigener Angabe im Dezember 2005,44 wobei als Erstes auffiel, dass sechs Aufnahmen (plots) aus dem Nature-Artikel ebenfalls in einem späteren Papier der Arbeitsgruppe auftauchten, das in der Fachzeitschrift Experimental Hematology im August 2002 erschienen war.45 Die Abbildungen dienten jedoch als Beleg für zwei unterschiedliche Befunde. Als der New Scientist die Leiterin Catherine Verfaillie damit konfrontierte, veranlasste sie eine unabhängige Untersuchung an der Universität Minnesota und sandte noch im selben Monat eine Korrektur an das betreffende Journal des zweiten Artikels. Gleichzeitig gab sie an, dass nicht sie, sondern ihre Doktorandin Yuehua Jiang für die Erstellung der Abbildungen verantwortlich sei. Im September 2006 lagen die angeforderten Untersuchungsergebnisse der Universität Minnesota zu den MAPCs vor. Der Untersuchungsausschuss fand keinen Hinweis auf vorsätzliches Fehlverhalten, sondern interpretierte die wissenschaftlichen Ungereimtheiten als versehentlich gemachte Fehler (honest errors), wenngleich die Verwendung und Beschreibung der genetischen Marker »serious concerns about the quality« aufwarfen und eine Dateninterpretation prinzipiell erschwerten.46 Die Universität beauftragte daraufhin zwei Stammzellexperten, die Gültigkeit der Ergebnisse erneut zu überprüfen; sie kamen nicht zu einem einhelligen Ergebnis.47

43 Vgl. zusammenfassend Constance Holden: »Controversial Marrow Cells Coming Into Their Own?«, in: Science 315 (2007), S. 760–761. 44 Peter Aldhous/Eugenie Samuel Reich: »Fresh questions on stem cell findings«, in: New Scientist vom 21.3.2007. 45 Yuehua Jiang et al.: »Multipotent progenitor cells can be isolated from postnatal murine bone marrow, muscle, and brain«, in: Experimental Hematology 30 (2002), S. 896–904. 46 Vgl. P. Aldhous/E. S. Reich, »Fresh questions«. 47 Vgl. Constance Holden: »Data on Adult Stem Cells Questioned«, in: Science 315 (2007), S. 1207.

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Nature publizierte am 14. Juni 2007, also fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Originalartikels, eine ausführliche Korrektur, die vor allem die phänotypische Beschreibung der MAPCs (FACS plots) und damit eine Abbildung betraf. Die Autoren betonten darin ausdrücklich, dass die Korrekturen nichts an der Kernaussage des Artikels änderten. Gleichzeitig erklärten sie, dass sie bereits im Jahre 2002 einige kleinere Änderungswünsche an Nature versandt hätten, die offenbar untergegangen seien.48 Fazit: Die über fünf Jahre andauernde Debatte über die Validität der Ergebnisse hatte Auswirkungen auf die Produktivität anderer Arbeitsgruppen. Aufgrund der Popularität der multitalentierten Zellen wurden zahlreiche Anschlussexperimente unternommen, die aber entweder vollständig fehlschlugen49 oder nur Teilaspekte behandelten. Angesichts der Infragestellung des gesamten Plastizitätskonzepts waren nach Aussagen der Beteiligten Studien zu diesem Themenfeld in den prestigeträchtigen Journalen nicht mehr publizierbar, da Gutachter und Editoren im Zuge der öffentlich geäußerten Vorwürfe dem gesamten Forschungsstrang mit Skepsis gegenüberstanden.50 Unklar ist nach wie vor, ob der experimentelle Nachvollzug an der fehlenden Kompetenz der Nachahmer,51 an der unzureichenden Arbeitsanleitung oder daran scheitert, dass es sich womöglich bei den MAPCs um ein Zellkultur-Artefakt handelt. Die als adulte Alleskönner gepriesenen MAPCs haben die an sie herangetragenen wissenschaftlichen, aber auch politischen Erwartungen nicht erfüllt. Der Forschungsstrang zu MAPCs stellte sich in karrieretechnischer und wissenschaftlicher Hinsicht als eine Sackgasse dar und somit als ein Hindernis für den Erkenntnisfortschritt auf dem Gebiet der Stammzellforschung. Die Konflikthaftigkeit zwischen wissenschaftlichen und massenmedialen Erwartungen zeigt

48 Corrigendum zu Jiang, Yuehua et al. (2002): »Pluripotency of mesenchymal stem cells derived from adult marrow«, Nature, 418, 41–49, in: Nature 447 (2007), S. 879– 880, hier S. 880. 49 Vgl. Wolfgang-Michael Franz: Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Thema Stammzellforschung am 9. Mai 2007, in: Deutscher Bundestag, 16(18)193i 2007; Anthony D. Ho: Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Thema Stammzellforschung am 9. Mai 2007. Deutscher Bundestag, 16(18)193m 2007. 50 Vgl. Jim Giles: »The Trouble with Replication«, in: Nature 442 (2006), S. 344–347, hier S. 345. 51 So die Einschätzung von Peter Markl: »Kunstfehler oder Fälschung?«, in: Wiener Zeitung vom 14.4.2007.

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sich hier in einer gesteigerten Aufmerksamkeitsgenerierung auf ein politisch erwünschtes Ergebnis, das aus wissenschaftlicher Sicht keine brauchbaren Erkenntnisse erbringt.52 Den Massenmedien kam in diesem Fall zunächst eine Verbreitungs- und Beschleunigungsfunktion zu. Noch vor der Veröffentlichung eines detaillierten Protokolls im Rahmen einer wissenschaftlichen Publikation rückte das Thema auf die politische Agenda. In der Aufdeckung wissenschaftlicher Ungereimtheiten in mehreren der assoziierten Publikationen nahmen die Massenmedien eine gesteigerte Kontrollfunktion wahr, die zu einer wissenschaftlichen Überprüfung der Ergebnisse führte und Autoren und Zeitschriftenredakteure schließlich zur Korrektur veranlasste. Der technische ›Durchbruch‹ Nicht so überraschend wie die Entdeckung eines neuen ultimativen Zelltyps im Knochenmark, sondern lang erwartet, war das therapeutische Klonen beim Menschen. Nach dem Durchbruch im Säugerklonen durch die Geburt des Klonschafs »Dolly« im Jahr 1996 schien es nur eine Frage der Zeit, wann dieses Verfahren in vitro beim Menschen demonstriert werden würde. Am 12. Februar 2004 schlug die von Science verbreitete Nachricht wie ein Blitz ein, dass das therapeutische Klonen menschlicher Embryonen zwecks Gewinnung autologer, das heißt immunverträglicher Stammzellen nun gelungen sei, obwohl es 2003 noch geheißen hatte, das Primatenklonen sei biologisch unmöglich.53 Bemerkenswert war außerdem, dass dieser Erfolg nicht für die USA als führende Wissenschaftsnation verbucht werden konnte, sondern für ein international bislang unbekanntes Forscherteam aus Südkorea.

52 Blickt man allein auf die erzielten Zitationen des betreffenden Nature-Artikels, so würde man auf den ersten Blick vermuten, dass es sich um ein wissenschaftlich hochrelevantes Papier handelt. Hier wird umso mehr deutlich, dass über Zitationen allein keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Qualität von Ergebnissen möglich ist, sondern hohe Zitationsraten primär Popularität anzeigen. Mit 1664 Zitationen (Stand Juli 2008) erreichte der Artikel den siebenfachen Wert eines top papers, siehe hierzu FN 23. 53 Vgl. die Ergebnisse von Calvin Simerly et al.: »Molecular Correlates of Primate Nuclear Transfer Failures«, in: Science 300 (2003), S. 297, sowie den Kommentar von Gretchen Vogel: »Misguided Chromosomes Foil Primate Cloning«, in: Science 300 (2003), S. 225–226.

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Das wissenschaftliche Ergebnis des menschlichen Klonens entsprach in nahezu perfekter Weise den redaktionellen Selektionskriterien von Science,54 denn es war sowohl wichtig für die Wissenschaft als auch interessant für die Öffentlichkeit. Dieser Umstand führte vermutlich dazu, dass in diesem außerordentlichen Fall das Presse-Embargo aufgehoben wurde. Die American Association of Science (AAAS), als herausgebende Fachgesellschaft von Science, lud im Rahmen ihrer Jahrestagung zu einer Pressekonferenz mit den beteiligten südkoreanischen Forschern am Tag der Veröffentlichung. Die Medienresonanz auf diesen technischen Erfolg des therapeutischen Klonens war erwartungsgemäß enorm. Eine ethisch-politische Kontextualisierung der Ergebnise fand in den redaktionellen Kommentierungen von Science statt und wurde in den Massenmedien aufgegriffen. Sachdimension: Hwang und Kollegen zeigten in dieser Publikation erstmalig, dass das Klonen von Menschen technisch möglich ist. Aus dem über die Zellkerntransfer-Technologie (SCNT) erzeugten Embryo leiteten sie eine Stammzelllinie ab. Die auf diese Weise gewonnenen Stammzellen wären immunkompatibel, wenn man die Körperzellen des Empfängers für die Reprogrammierung des Zellkerns verwenden würde. Insofern hätten diese Stammzellen einen medizinischen Vorteil gegenüber herkömmlich gewonnenen ES-Zellen. Dennoch blieb eine Unsicherheit bestehen, die in der Publikation selbst thematisiert wurde, nämlich ob es sich tatsächlich um Klonierung oder nicht vielmehr um Parthenogenese, das heißt, Jungfernzeugung handelte. Beide Zelltypen, die Eizelle und die zur Reprogrammierung verwendete Körperzelle, stammten von ein und derselben Person, was eine diesbezügliche Dateninterpretation erschwerte und in dem begleitenden News-Artikel von Science thematisiert wurde. Der letztgültige Nachweis des Klonens sei nach Überzeugung des Stammzellforschers Rudolf Jaenisch nicht erbracht.55 In der massenmedialen Berichterstattung und unterstützt durch den Aufmacher von Science wurde die Klonierung jedoch zum Faktum erklärt und die ethischen Aspekte des therapeutischen Klonens in den Mittelpunkt gestellt. Da mithilfe des SCNT-Verfahrens autologe Stammzelltransplantationen prinzipiell möglich wären, die im Empfängerorganismus im Gegensatz zu herkömmlich gewonnenen ES-Zellen keine Immunabwehrreaktionen zur

54 Vgl. Gretchen Vogel: »Wissenschaft bei einer internationalen Fachzeitschrift II: Journalism at a Magazine-within-a-magazine«, in: Holger Wormer (Hg.): Die Wissensmacher. Profile und Arbeitsfelder von Wissenschaftsredaktionen in Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 315–329. 55 Zit. in Gretchen Vogel: »Scientists Take Step Toward Therapeutic Cloning«, in: Science 303 (2004), S. 937–938.

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Folge hätten, rückte auch die therapeutische Anwendung embryonaler Stammzellen in greifbare Nähe. Sozialdimension: Mit dieser Publikation war neben der Wissenschaft die politische Öffentlichkeit angesprochen, die in der Frage nach der grundsätzlichen Zulässigkeit des therapeutischen Klonens noch nicht zu einer rechtlich verbindlichen Entscheidung gelangt war. Während das Papier von Verfaillie den politischen Gegnern der Forschung an humanen embryonalen Stammzelllinien in die Hände spielte, war es in dem Fall von Hwang genau umgekehrt. In den USA sah man aufgrund restriktiver Forschungspolitik den Status als führende Wissenschaftsnation gefährdet und nutzte dieses Ereignis rhetorisch als Standortargument. Der Klon-Erfolg aus Südkorea wurde aus Sicht amerikanischer Forscher als nationale Demütigung erlebt und zum Anlass genommen, für eine Liberalisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen und eine Ausweitung der Forschungsförderung zu werben.56 Die politischen Gegner dieser Art von Forschung sprachen hingegen von einer ethischen Grenzüberschreitung. Die Debatte kreiste nicht um die AS- versus ES-Frage wie im ersten Fall, sondern um das SlipperySlope-Argument nach der ethischen Zulässigkeit des (therapeutischen) Klonens sowie der Legitimität von Eizellspenden. Zeitdimension: Die Entscheidung von Science, den Artikel zum AAASTreffen zu veröffentlichen und vor Ort eine Pressekonferenz zu schalten, bescherte den Forschern eine hohe Aufmerksamkeit weltweit. Es handelte sich bei diesem Papier um ein klassisches ›First‹, das heißt um die erstmalige Klonierung von menschlichen Embryonen zum Zwecke der Stammzellgewinnung. Der Begutachtungs- und Veröffentlichungsprozess wurde in diesem Falle beschleunigt und dauerte von der Einreichung bis zur Veröffentlichung 66 Tage. Die Veröffentlichung selbst fiel in einen Zeitraum anstehender politischer Entscheidungen zu einem rechtlich verbindlichen Klonverbot. Die Debatte um das Klonen von Menschen schwelte bereits seit der Geburt von »Dolly« und wurde seither durch spektakuläre Nachrichten angeblicher Klon-Babys genährt.57 So rang man bei

56 In einem Leserbrief äußerte sich beispielsweise ein Mitglied des President’s Council on Bioethics besorgt, dass die amerikanische Forschung auf diesem Gebiet abgehängt werden könnte: »How did we get to the point where the United States, one of the world's great scientific powers, is sitting on the sidelines while this work is being done?« (Michael S. Gazzaniga: »Letters to the Editor: Human Being Redux«, in: Science 304 (2004), S. 388–389, hier S. 388). 57 In den Jahren 2002 und 2003 verkündeten ein italienischer Arzt namens Severino Antinori sowie das von der umstrittenen Raelianer-Sekte gegründete Biotechnologie-

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den Vereinten Nationen bereits seit 2001 um die Entscheidung zu einem weltweiten Klonverbot. Zur Abstimmung standen seit Herbst 2002 zwei Resolutionsentwürfe: erstens ein universelles Klonverbot einschließlich des therapeutischen Klonens zur Stammzellgewinnung sowie zweitens die Beschränkung eines solchen Verbots auf reproduktive Zwecke. Aufgrund fehlender Mehrheiten wurde die Abstimmung mehrfach verschoben. Auch im amerikanischen Kongress wurde seit Ende 2001 die Entscheidung zu einem Klonverbot stetig vertagt, da sich im Vorfeld für keinen der unterbreiteten Vorschläge Mehrheiten abzeichneten. Nachdem das US-Repräsentantenhaus im Februar 2003 bereits das zweite Mal mehrheitlich über ein Gesetz abgestimmt hatte, das ein Verbot jeglichen Klonens in allen Bundesstaaten der USA vorsah, stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Februar 2004 noch die erforderliche Zustimmung des Senats aus. Die Aufdeckung wissenschaftlicher Ungereimtheiten: Im Zuge der öffentlich verhandelten Fälschungsvorwürfe, die erst mit der Veröffentlichung eines zweiten Papiers der Arbeitsgruppe auftauchten, das von einer Effizienzsteigerung und der Gewinnung patientenspezifischer Stammzelllinien berichtete,58 wurden wissenschaftliche Nachprüfungen veranlasst. Die Stammzellforschungs-Community wandte sich in einem offenen Brief59 an die Öffentlichkeit, die Überprüfung der Ergebnisse nicht den Medien,60 sondern der Wissenschaft zu überlassen, und warb für eine Kooperation seitens der südkoreanischen Kollegen in der Aufklärung des Falls, um das öffentliche Vertrauen in die Stammzellforschung und in die Wissenschaft nicht zu unterhöhlen. Mit der Vorlage eines von der Nationaluniversität in Seoul beauftragten Untersuchungskomitees bestätigte sich der öffentlich gemachte Fälschungsvorwurf.61 Laut Untersuchungsbericht vom 6. Ja-

Unternehmen Clonaid mehrere Klonbabys gezeugt zu haben, was weltweit für Entrüstung sorgte. Einen Nachweis blieben sie schuldig. 58 Woo Suk Hwang et al.: »Patient-specific embryonic stem cells derived from human SCNT blastocysts«, in: Science 308 (2005), S. 1777–1783. 59 Vgl. Ian Wilmut et al.: »Human Embryonic Stem Cells«, in: Science online vom 13.12.2005; doi: 10.1126/science.1123832. 60 An der Aufdeckung des Fälschungsskandals war maßgeblich ein koreanischer Fernsehsender beteiligt, siehe hierzu im Detail Sei Chong/Dennis Normile: »How Young Korean Researchers Helped Unearth a Scandal …«, in: Science 311 (2006), S. 22–25. 61 In ihrem Buch zur Geschichte der Stammzellforschung, das auf Interviews mit den Protagonisten beruht, gibt Ann Parson eine seltsam anmutende Prophezeiung zu dem Hwang-Papier von 2004 ab, die da lautet: »In two years’ time, however, the truthfullness of this report would fall under suspicion«, vgl. Ann B. Parson: The Proteus Effect: Stem Cells and their Promise for Medicine, Washington, D.C. 2004,

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nuar 2006 basierten beide Publikationen des südkoreanischen Teams auf Datenfabrikationen.62 Die Zeitschrift Science zog daraufhin beide Papiere offiziell zurück. Durch den öffentlich verhandelten Betrugsskandal geriet die Zeitschrift Science selbst unter Legitimationsdruck.63 Vor diesem Hintergrund richtete Science einen Untersuchungsausschuss im Fall Hwang ein, um zu klären, ob redaktionelles Fehlverhalten vorlag und um zugleich Empfehlungen einzuholen, wie man zukünftig Betrugsskandale dieser Art verhindern könne. Auf der Grundlage der vorliegenden Gutachten und Korrespondenzen stellte der Untersuchungsausschuss64 fest, dass sich die Redakteure durchaus bewusst waren, dass ein potenzieller gravierender Fehler beider Artikel darin bestehen könnte, dass es sich möglicherweise um Parthenogenese handelt und nicht um Klonierung. Diese Unsicherheit hätte ihrer Ansicht nach im Vorfeld ausgeräumt werden müssen. Das redaktionelle Verhalten im 2004er-Artikel wurde somit nicht gänzlich von aller Kritik freigesprochen: »Thus, given the obvious high visibility that the paper would receive and the level of concern about some of the details, there might have been more concern about the paper as a whole.«65 Der Widerruf des Artikels erfolgte offiziell im Januar 2006 nach Vorlage des Untersuchungsberichts der Universität von Seoul. Der Untersuchungsausschuss sagte aus, dass die DNA-Fingerprint-Analysen und ein Foto nicht korrekt seien. Die Kernthese des Klonens konnte aber weder bestätigt noch widerlegt werden. Zum

S. 241. Unklar bleibt, wie sie das bereits im Jahr 2004, dem Erscheinungstermin ihres Buches, wissen konnte, da die ersten öffentlich gemachten Verdächtigungen erst später, nämlich im November 2005 auftauchten. 62 Seoul National University Investigation Committee (SNUIC): »Summary of the Final Report on Hwang’s Research Allegation«, written and reported by SNU Investigation Committee (Chairman Chung Myung-hee) vom 6.1.2006. 63 Die Zeitschrift Science veröffentlichte im Verlauf der Fälschungsvorwürfe eine Chronologie der Ereignisse im Fall Hwang auf ihrer Homepage (http://www.science mag.org/sciext/hwang2005/science_statement.pdf, letzter Zugriff am 5.9.2009). 64 Zum sechsköpfigen Untersuchungsausschuss gehörten Mitglieder vom Senior Editorial Board von Science, eine ehemalige Redakteurin von Nature sowie zwei renommierte Wissenschaftler aus der Stammzellforschung. Der committee report wurde am 16. September 2006 vorgelegt, vgl. Science Committee Report: Letter and report from committee examining Science's peer review process for Hwang et al. papers [Science 303, 1669 (2004) and Science 308, 1777 (2005)], in: Donald Kennedy, Supporting Online Material for Responding to Fraud, in: Science 314 (2006), S. 1353. 65 Ebd.

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damaligen Zeitpunkt mangelte es an einem entsprechenden Testverfahren. Im Untersuchungsbericht heißt es dazu, dass es sich höchstwahrscheinlich nicht um eine Klonierung, sondern um einen parthenogenetischen Prozess handelte, ohne es jedoch aus den Daten mit absoluter Gewissheit schließen zu können.66 Nicht zuletzt diese Ungewissheit regte im Nachhinein weitere Forschung an. Ein Forscherteam um George Daley bestätigte mithilfe eines neu entwickelten genetischen Analyseverfahrens den Verdacht, dass es sich bei der von Hwang und Kollegen erzeugten Zelllinie SCNT-hES-1 tatsächlich um Zellen parthenogenetischen Ursprungs handelte.67 Fazit: Die Ironie der Geschichte ist also, dass es sich bei dem 2004er-Artikel tatsächlich um einen ›Durchbruch‹ handelte, aber nicht den des therapeutischen Klonens, sondern einer erstmaligen Stammzellgewinnung aus parthenogenetisch erzeugten humanen Embryonen. In dieser Version hätte die Hwang-Publikation vermutlich in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit keine vergleichbare Aufmerksamkeit erzielt wie im Falle des postulierten Klonerfolgs, der aufgrund der ethischen Grenzüberschreitung und der politischen Aktualität einen außerordentlich hohen Nachrichtenwert besaß. Den Autoren hätte eine solche Fassung aber eine nachhaltigere wissenschaftliche Anerkennung eingebracht. Deutlich wird an diesem Fall die Konflikthaftigkeit wissenschaftlicher und massenmedialer Logik, da hier die Veröffentlichungsentscheidung zulasten einer zeitintensiven wissenschaftlichen Qualitätsprüfung ging. Statt einer Beschleunigung des Veröffentlichungsverfahrens hätten wasserdichte Belege im Vorfeld angefordert werden müssen, wie der Untersuchungsbericht zur redaktionellen Praxis von Science herausstellt. Aus den Reihen der Forschung wurde nach der Aufdeckung des Betrugs die leise Hoffnung geäußert, dass der Fall Hwang als Gegengift einer zu beobachtenden »tabloidization« der Stammzellforschung dienen könne.68 Der ethische ›Durchbruch‹ Vor dem Hintergrund restriktiver Forschungsbedingungen im Bereich der hESForschung wurden zahlreiche Verfahren wissenschaftlich erprobt mit dem Ziel,

66 SNUIC: »Summary of the Final Report on Hwang’s Research Allegation«; Hervorh. M.F. 67 Kitai Kim et al.: »Recombination Signatures Distinguish Embryonic Stem Cells Derived by Parthenogenesis and Somatic Cell Nuclear Transfer«, in: Cell Stem Cell 1 (2007), S. 346–352, hier S. 347. 68 Vgl. Evan Y. Snyder/Jeanne F. Loring: »Beyond Fraud – Stem-Cell Research Continues«, in: New England Journal of Medicine 354 (2006), S. 321–324, hier S. 323.

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eine Embryonenzerstörung zu umgehen. Einer dieser Versuche war eine Studie, publiziert in der Online-Vorabversion in der Zeitschrift Nature, die sich der Stammzellgewinnung aus Blastomeren widmete.69 In einem begleitenden Nature Podcast vom 24. August 2006 wurde diese ›Sensation‹ für den interessierten Laien allgemein verständlich erläutert. Darin war zu hören, dass das Team erstmalig stabile embryonale Stammzelllinien aus 16 überzähligen Embryonen erzeugt hatte, ohne diese dabei zu zerstören.70 In der Sachdimension handelt es sich bei dieser Publikation um den Vorschlag eines alternativen Verfahrens der Stammzellgewinnung, das ohne Embryonenzerstörung auskommt. Verwendet wurden dabei überzählige Embryonen, denen in einem sehr frühen Zellstadium Stammzellen entnommen worden sind. Bei ihrem Verfahren griffen die Wissenschaftler auf die in einigen Ländern etablierte Praxis der Präimplantationsdiagnostik zurück. Bei dieser Form der pränatalen genetischen Diagnostik werden frühen Embryonalstadien einzelne Zellen entnommen, wodurch das Entwicklungspotenzial des Embryos für gewöhnlich nicht eingeschränkt wird. Der wissenschaftliche Neuigkeitswert bestand in der Übertragung eigener tierexperimenteller Ergebnisse71 auf das menschliche Modell, um den klinischen Wert des Verfahrens zu testen. Die medizinische Anwendungstauglichkeit wurde von den Autoren als hoch eingestuft. Die Effizienzrate der Gewinnung und Kultivierung dieser Stammzelllinien wurde in dem Artikel selbst nicht explizit benannt. Über das ethische Problemlösungsversprechen wurden in der Sozialdimension wissenschaftsexterne Publika angesprochen, die die ethisch-rechtliche Eignung des Verfahrens debattierten. Die Veröffentlichung evozierte sogar eine direkte Stellungnahme des damaligen US-Präsidenten Bush, der allerdings eher verhalten reagierte, wie aus einem Pressebericht der Washington Post hervorgeht. In der entsprechenden Presseerklärung aus dem Weißen Haus heißt es dazu: »Any use of human embryos for research purposes raises serious ethical concerns.«72 Die Aussicht auf ein ethisch einwandfreies Verfahren der Stamm-

69 Irina Klimanskaya et al.: »Human embryonic stem cell lines derived from single blastomeres«, (zwei Versionen: Nature online vom 23.8.2006, doi:10.1038/nature05142, und die gedruckte Version vom 23.11.2006, in: Nature 444 (2006), S. 481–485). 70 Nature-Podcast vom 24.8.2006, vgl. http://www.nature.com/nature/podcast/v442/ n7105/nature-2006-08-24.html, letzter Zugriff am 1.9.2009. 71 Vgl. Young Chung: »Embryonic and extraembryonic stem cell lines derived from single mouse blastomeres«, in: Nature 439 (2006), S. 216–219. 72 Vgl. Rick Weiss: »Stem Cells Created With No Harm to Human Embryos; But Concerns Are Raised About The Technique«, in: Washington Post vom 24.8.2006.

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zellgewinnung zeigte indes eine sofortige Wirkung an der Börse: Die Aktienkurse des beteiligten Unternehmens Advanced Cell Technology verfünffachten sich innerhalb von 10 Stunden.73 Nature flankierte die Arbeit mit einem NewsArtikel, einem Audio-Interview (Podcast) sowie einer Pressemitteilung – Formate also, die sich primär an eine außerwissenschaftliche Öffentlichkeit richten. Gerade jene medienwirksamen Ankündigungen von Nature gerieten jedoch kurz darauf in die massenmediale Kritik. In zeitlicher Hinsicht fällt die Publikation in einen Kontext, in dem USamerikanische Liberalisierungsbemühungen, die Forschung an hES-Zellen zukünftig mit Bundesmitteln zu fördern, durch ein Veto des Präsidenten Bush im Juli 2006 soeben gescheitert waren. Die entscheidende Frage war daher, ob ein Verfahren dieser Art einen Ausweg aus dem ethischen Dilemma der Stammzellforschung bieten und mit staatlichen Mitteln gefördert werden könne. Die Aufdeckung wissenschaftlicher Ungereimtheiten: Weder in den begleitenden Materialien noch im Originalartikel wurde explizit gemacht, dass entgegen der Ankündigung im beschriebenen Experiment keiner der Embryonen überlebt hatte. Auf diese und weitere Täuschungen machten der Sprecher der USKonferenz Katholischer Bischöfe, Richard Doerflinger,74 aber vor allem der deutsche Wissenschaftsjournalist Volker Stollorz aufmerksam,75 der von Nature mit den embargoed news beliefert worden war. Beim gezielten Blick auf das Untersuchungsprotokoll fielen ihm Ungereimtheiten in der Publikation auf, die von der unsachgemäßen Beschreibung der gewonnenen Anzahl der Stammzelllinien bis zur fälschlichen Verwendung eines Fotos reichten. Die entsprechende Aufnahme zeigte einen Embryo in einem späteren Entwicklungsstadium und konnte deshalb nicht aus dem Experiment stammen. Mit dem journalistischen Vorwurf konfrontiert, sah sich die Zeitschrift Nature genötigt, ihre Pressemitteilung gleich zweifach zu korrigieren und die Autoren aufzufordern, alle Unklarheiten ihres Artikels zu beseitigen. Eine inhaltliche Bereinigung erfolgte schließlich im November 2006 in Form einer Neupublikation. Die Druckfassung des Artikels unterschied sich in wesentlichen Punkten von der Online-Variante, wo-

73 Vgl. Alison Abbott: »›Ethical‹ stem-cell paper under attack«, in: Nature 443 (2006), S. 12. 74 Vgl. Rick Weiss: »Critic Alleges Deceit in Study On Stem Cells; Report’s Basic Facts Are Unchallenged«, in: Washington Post vom 26.8.2006. 75 Volker Stollorz: »Kein Beleg für ›ethisch saubere Stammzellen‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.8.2006.

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rauf ein begleitendes Addendum hinwies.76 Im neuen Abstract hieß es nun, dass es sich um einen experimentellen Nachweis zur prinzipiellen Wirksamkeit handele (proof-of-principle), bei dem Blastomeren nicht einzelne, sondern multiple Zellen entnommen worden seien und keiner der Embryonen nach der Zellbiopsie noch entwicklungsfähig gewesen sei, mit anderen Worten, überlebt habe. Gerade Letzteres widersprach der vorherigen massenmedial wirksamen Ankündigung einer Stammzellgewinnung ohne Embryonenzerstörung. Fazit: In diesem Fall ging es also nicht um eine fälschliche Herstellung der Daten wie im Falle Hwangs, sondern um eine fälschliche Darstellung der Ergebnisse. An der Akkuratheit der experimentellen Durchführung wurde intern kein Zweifel gehegt. Trotzdem wurde die Form der Darstellung als wissenschaftlich fragwürdiges Verhalten gerahmt, das nicht nur die Forscher und die beteiligte Zeitschrift, sondern auch die Stammzellforschung als solche erneut in die öffentliche Kritik brachte. Die Aufdeckung der Ungereimtheiten oblag auch in diesem Fall den Medien. Der Lanza-Fall zeigt in dieser Hinsicht eine starke Beschleunigung dieser journalistischen Kontrollfunktion. Noch vor der eigentlichen Veröffentlichung des Artikels wurde auf der Basis der Vorabinformation an die Presse die inakkurate Beschreibung bemängelt. Insofern illustriert dieser Fall nicht nur die Art der medialen Vermarktung wissenschaftlicher Informationen seitens der Journale und die ›verzerrte‹ Ergebnisdarstellung der Autoren, sondern vor allem auch die Skepsis seitens der Massenmedien gegenüber wissenschaftlichen Informationen und ihren Quellen.

Z UR K ONFLIKTHAFTIGKEIT WISSENSCHAFTLICHER MASSENMEDIALER E RWARTUNGSSTRUKTUREN

UND

Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus der Einzelfallbetrachtung der Publikationsereignisse aus der Stammzellforschung für die Medialisierungsthese ziehen? Gemeinsam ist den drei vorgestellten Fällen, dass sie in den beiden hochrangigen Journalen Science und Nature veröffentlicht und medial vermarktet wurden, ein enormes Presseecho auslösten, politische Entscheidungen prägten, sich wissenschaftlich jedoch als nicht tragfähig erwiesen und deshalb auf öffentlichen Druck hin im Nachhinein grundlegend korrigiert, bzw. zurückgezogen werden mussten. Mit der Exponiertheit des Publikationsortes und der mas-

76 Nature Addendum zu Irina Klimanskaya et al.: »Human embryonic stem cell lines derived from single blastomeres«, doi: 10.1038/nature05142, und Nature 444 (2006), S. 481–485, in: Nature 444 (2006), S. 512.

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senmedialen Verbreitung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Fehler überhaupt entdeckt werden. Für wissenschaftliche Zeitschriften, so zeigte die exemplarische Analyse, bedeutet die Veröffentlichung massenmedial anschlussfähiger Artikel nicht nur vergleichsweise hohe Zitationsraten, die förderlich für die Impact-FaktorEntwicklung77 sein können, sondern auch ein Potenzial für die Durchsetzung wissenschaftspolitischer Interessen. Die Zeitschriften mit hoher Reichweite wie Science und Nature leisten eine Aufmerksamkeitssteuerung auf bestimmte wissenschaftliche Themen von öffentlichem Interesse. Aufgrund ihrer langen Tradition, ihrer wissenschaftlichen Reputation und ihrem hohen Bekanntheits- und Verbreitungsgrad übernehmen Science und Nature eine wichtige Filterfunktion innerhalb der wissenschaftlichen Kommunikation und prägen darüber hinaus die öffentliche Wahrnehmung über den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt, da sie als Quellen des internationalen Wissenschaftsjournalismus fungieren.78 Welche Bedeutung hat diese Reichweitenvergrößerung für die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion? Ein wissenschaftsexternes Publikum aus Wirtschaft oder Politik direkt über aktuelle Forschungsergebnisse zu informieren, kann durchaus nützlich sein, wenn es die Zuwendung von Forschungsgeldern zur Folge hat. Manche Themen erzeugen zwangsläufig öffentliches Interesse, wie zum Beispiel die ethischen Grenzüberschreitungen oder wissenschaftlichen Lösungsversuche des ethischen Dilemmas innerhalb der Stammzellforschung, die in den Medien gemäß ihrer Eigenlogik verstärkt aufgegriffen werden und politische Resonanz erfahren. Fälle dieser Art mit direkten politischen Implikationen bilden jedoch die Ausnahme, denn das wissenschaftliche Alltagsgeschäft ist selten berichtenswert. Auch eine Beschleunigung des Veröffentlichungsprozesses kann funktional für die Erkenntnisgewinnung sein, da Forschungsergebnisse ungebremst Eingang in die Kommunikation finden und die Wissenschaftsentwick-

77 Der Impact-Faktor ist ein zitationsbasierter Indikator, der die relative Bedeutung von Fachzeitschriften misst und insbesondere in den wettbewerbsorientierten Feldern wie der biomedizinischen Forschung zum Maßstab redaktioneller Entscheidungen werden kann, vgl. Mabel Chew et al.: Life and times of the impact factor: retrospective analysis of trends for seven medical journals (1994–2005) and their Editors’ views. Journal of the Royal Society of Medicine, 100 (2007), S. 142–150. 78 Vgl. im Detail Martina Franzen: Torwächter der Wissenschaft oder Einfallstor für die Massenmedien? Zur Rolle von Science und Nature an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und medialer Öffentlichkeit. In: Sigrid Stöckel et al. (Hg.), Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung von Wissenschaft, Stuttgart 2009, 229–252.

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lung vorantreiben können. Zwar lässt sich an der Beschleunigungstendenz eine Anpassung an massenmediale Zeitstrukturen konstatieren, solange jedoch eine Qualitätsüberprüfung vor der Veröffentlichung gewährleistet wird, ist dies mit wissenschaftlichen Anforderungen grundsätzlich vereinbar. Das eigentliche Problem für die Wissenschaft zeichnet sich in der Antizipation der redaktionellen Selektionskriterien der High-Impact Zeitschriften seitens der Autoren ab. Unter Wissenschaftlern scheint es Konsens, dass die publizierbaren Ergebnisse in den reputationsträchtigen Journalen wie Science und Nature möglichst spektakulär sein müssen.79 Um die Annahme eines Manuskripts zu befördern, werden mitunter folgenreiche Behauptungen aufgestellt, die nicht ausreichend durch die Daten gestützt sind, wie Gutachter beklagen.80 Was in der Stammzellforschung zum Ausdruck kommt und durch die dualen Entscheidungsprogrammatiken der betreffenden Zeitschriften noch verstärkt wird, kann mit Luhmann als Inflationierung des wissenschaftlichen Wahrheitsmediums bezeichnet werden und lässt sich, so die These, als Medialisierungseffekt interpretieren. Aus systemtheoretischer Perspektive greift die moderne Wissenschaft als selbstreferenziell geschlossenes Funktionssystem in ihrer Kommunikation auf die Unterscheidung der Werte ›wahr‹ und ›unwahr‹ zurück, um systeminterne Anschlüsse zu generieren. Angesichts der strukturellen Kopplungen zu anderen Funktionssystemen kann es in der Konditionierung dieser Werte in einem Themenbereich zu dauerhaften Irritationen kommen, die dann zur Inflationierung des Mediums führen. Auf die Stammzellforschung übertragen heißt dies, dass angesichts der medial erzeugten Erwartungen hinsichtlich technischer Erfolge, ethischer Lösungen und der medizinischen Anwendbarkeit von Stammzellen Wahrheitsversprechen inflationiert wurden. Luhmann zufolge wird »Wahrheit [...] inflationiert, wenn sie mehr Verwendungsmöglichkeiten in Aussicht stellt, als sich realisieren lassen«81. Das Wahrheitsmedium tendiert im Zuge einer Inflation also zur Übertreibung.82 Die beschriebenen unhaltbaren Aussagen und redaktionellen Korrekturen legen von der Inflationierung der

79 Gegen diese Vorannahme verwehren sich die Redakteure, vgl. Donald Kennedy: »Next Steps in the Schön Affair«, in Science 298 (2002), S. 495; Alison Abbott: »Wissenschaft bei einer internationalen Fachzeitschrift I: Between Peer Review and Science Journalism Generator«, in: H. Wormer (Hg.): Die Wissensmacher, S. 299– 313. 80 John Brookfield: »The system rewards a dishonest approach«, in: Nature, 423 (2003), S. 480. 81 N. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 384. 82 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 238.

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Wahrheitsversprechen Zeugnis ab. Wie Luhmann theoretisch herleitet, reagiert das Wahrheitsmedium im Falle von Inflation durch Entwertung seiner Symbole, das heißt, die systeminterne Anschlussfähigkeit ist nicht mehr gegeben.83 Medialisierung der Wissenschaft bedeutet dann, dass »die empirische Verifikation, die Genauigkeit der Begriffe [...] vernachlässigt [werden], um dem verbreiteten Interesse an Forschungsresultaten entgegenzukommen. Inflationäre Erscheinungen dieser Art sind, wie Fieber, ein deutliches Symptom dafür, daß das System sich gegen Außeneinflüsse wehrt, indem es ihnen Rechnung trägt«84. In medialisierten Forschungsgebieten wie der Stammzellforschung werden diese Anzeichen sichtbar und von der Wissenschaftsgemeinde kritisch zur Kenntnis genommen, wie die Ausführungen der Stammzellforscherin Jeanne Loring vom Scripps Forschungsinstitut in La Jolla (Kalifornien) exemplarisch belegen: »When a topic is of great interest – not just to scientists but also to the public – it’s certainly more likely that someone will get ahead of themselves and not be as scrupulous as scientists have to be.«85 Sean Morrison, Stammzellforscher an der Universität von Michigan, resümiert mit Blick auf das Feld: »The scientific standards for publication appeared to get lower and lower as the magnitude of the claims made by those papers got higher and higher.«86 Ein solches Vertrauensdefizit in die Veröffentlichungsentscheidungen der hochrangigen Journale wird nochmals unterstrichen durch einen im Juli 2009 veröffentlichten offenen Brief von 14 internationalen Stammzellforschern, die den Entscheidungsträgern eine verzerrte Auswahl der Manuskripte zulasten wissenschaftlicher Qualität vorwarfen.87 Um Transparenz, Fairness und Verantwortung im wissenschaftlichen Publikationswesen zu erhöhen, plädieren sie für eine Veröffentlichung aller dazugehörigen Gutachten und Korrespondenzen. Ob die Zukunft wissenschaftlicher Zeitschriften in einem transparenten Entscheidungsprozess liegt und inwieweit dies tatsächlich vertrauensbildend wirkt, wird sich zeigen müssen.

83 N. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 384 84 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 623. 85 Zit. in: Peter Aldhous/Eugenie Samuel Reich: »Stem-cell researcher guilty of falsifying images«, in: New Scientist vom 7.10.2008. 86 Zit. in: Peter Aldhous: »Stem cells: Miracle postponed«, in: New Scientist vom 11.3.2006. 87 Austin Smith et al.: Open letter to Senior Editors of peer-review journals publishing in the field of stem cell biology 2009, abzurufen unter: http://www.eurostemcell.org/ commentanalysis/peer-review, letzter Zugriff am 1.11.2010.

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Eines wird jedoch aus dieser Fallstudie sehr deutlich: Die Medialisierung der Wissenschaft oder zumindest einiger Teilgebiete führt zu temporären Irritationen der wissenschaftlichen Kommunikation, wenn die wissenschaftsinterne und -externe Aufmerksamkeit auf Ergebnisse gelenkt wird, die sich als unhaltbar erweisen. Eine Entscheidungsprogrammatik wissenschaftlicher Zeitschriften, die auf wissenschaftlicher Relevanz und öffentlichem Interesse aufbaut, ist mit einer inhärenten Spannung versehen. Im Fall einer Überlagerung massenmedialer Wirksamkeit zulasten wissenschaftlicher Robustheit führt dies zu Problemen wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit, wie die exemplarische Analyse zeigte. Man kann argumentieren, dass die zu beobachtenden Replikationsprobleme die Stammzellforschung im Besonderen betreffen, da es ein relativ junges Forschungsgebiet ist und die wissenschaftlich-technischen Verfahren sich erst etablieren.88 Die Fachgesellschaften der Stammzellforschung haben inzwischen wissenschaftliche Leitlinien vorgelegt, die zur Standardisierung und damit zur Qualitätssicherung beitragen sollen.89 Es bleibt weiteren Studien vorbehalten zu prüfen, ob auch in anderen Forschungsfeldern bei den Zeitschriften mit hoher Reichweite und hohem Impact-Faktor ein Konflikt zwischen wissenschaftlichen und massenmedialen Erwartungen am deutlichsten zutage tritt und welche Implikationen dies jeweils für die wissenschaftliche Entwicklung dieser Felder hat.

88 So lautet bspw. die Erklärung im Zweiten Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die Durchführung des Stammzellgesetzes, abzurufen unter: http://www.bmbf.de/ pubRD/zweiter_stammzellbericht.pdf, letzter Zugriff am 1.11.2010. 89 So zum Beispiel die International Society for Stem Cell Research (ISSCR): Guidelines for the Conduct of Human Embryonic Stem Cell Research. Fassung vom Oktober 2006, abzurufen unter: http://www.isscr.org/guidelines/ISSCRhESCguidelines 2006.pdf, letzter Zugriff am 9.9.2009.

III Zum Verständnis von Krankheit und Gesundheit

Epistemische Dreiecksbeziehungen Überlegungen zur Ko-Konstruktion von Krankheit, Individuum und Gesellschaft S TEFAN B ECK

Vor einigen Jahren veröffentlichte eine der international führenden Medizinanthropologinnen, die in Montreal lehrende Margaret Lock, einen in der Anthropologie viel beachteten Artikel unter dem Titel »Das Verschwinden des Gens und die Rückkehr der Wahrsagerei«. Ihr Kernargument: Der seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Biologie und Medizin dominierende genetische Determinismus sei tot; neue Erklärungsmodelle, vor allem die Entdeckung epigenetischer Mechanismen und epigenetischer Plastizität in Reaktion auf chemische Umwelteinflüsse und – noch wichtiger – auf soziale Interaktionsprozesse, seien dabei, einfache mechanistische Erklärungsmodelle zu verdrängen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Biologie dominiert hätten: »Die Entdeckung, dass individuelle Entwicklung, Altern und die Umwelt die Aktivität [der Zelle] auf molekularem Niveau mit prägen, hat das Konzept eines genetisch vorherbestimmten Körpers beseitigt und an seine Stelle eine wesentlich fluideres, schwer fassbares Objekt gesetzt. Organismen sind offensichtlich mehr als die Summe ihrer [molekularen] Teile und es ist nun nicht mehr zu bestreiten, dass Gene sehr wenig, wenn überhaupt, determinieren und lediglich als Akteure [unter anderen] in einem außergewöhnlich komplexen Geschehen anzusehen sind.«1

1

Margaret Lock: »Eclipse of the Gene and the Return of Divination«, in: Current Anthropology 46 Supplement (2005), S. S47–S70, hier S. S50; Übers. SB.

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Gemäß diesen neueren Modellen folge der Körper keinem starren genetischen Programm mehr, sondern reagiere dynamisch auf Außeneinflüsse. Hierdurch sei die Hoffnung, dass immer mehr genetische Tests eine immer größere Vorhersagekraft für die individuelle Krankheitsentwicklung und Gesundheitserwartungen ermöglichten, empfindlich eingeschränkt. Genetische Diagnostik grenze in vielen Fällen daher eher an Wahrsagerei als an wissenschaftlich exakte Prognose. Konkret arbeitet Lock dies an den genetischen Tests heraus, die momentan zur Prädiktion von Alzheimer-Demenz angewandt werden und die nur eine geringe Vorhersagekraft, und dies auch nur in sehr spezifischen Populationen, besitzen. Wichtiger ist für Lock jedoch, dass die Ergebnisse epigenetischer Forschungen nicht nur die in den Sozialwissenschaften spätestens seit dem Streit um soziobiologische Erklärungsansätze in den 1960er Jahren fest etablierte Trennung von Natur | Kultur infrage stellen – hierauf komme ich gleich noch ausführlicher zurück –, sondern sie seien auch als fundamentale Herausforderung an die Sozialwissenschaften zu verstehen: Wenn die Befunde der Epigenetik zuträfen, dass Verhaltensweisen und soziale Interaktionsmuster einen Einfluss auf die Regulation und Funktion des Genoms besäßen, dann müssten Anthropologen beginnen, ihre Methoden, ihre kulturvergleichende Perspektive und ihre theoretischen Ansätze auch dazu zu nutzen, Einsichten in jene üblicherweise als sozial und kulturell verstandenen Faktoren zu gewinnen, die krankheitsvermeidende oder krankheitsgenerierende Effekte haben könnten. Und Anthropologen sollten diese Befunde auch offensiv in den durch naturwissenschaftliche Perspektiven dominierten medizinischen Diskurs einbringen. Was Lock hiermit fordert, ist nichts weniger als eine gänzlich neue Rolle für die Medizinanthropologie oder die Medizinsoziologie im Verhältnis zur Biomedizin, die auch die Entwicklung neuer Formen der Kooperation zwischen Sozial- und Naturwissenschaften erfordert. Um es ein wenig zuzuspitzen: Statt wie bisher vor allem die Medizin als moderne Institution und ihre Machteffekte zu untersuchen oder deren Wirkungen im Alltag, den Umgang von Patienten mit neuen Krankheitskonzepten und medizinischen Interventionen zu analysieren, sei nun von den Sozialwissenschaften gefordert, substanziell zu den Erkenntnisprozessen der Medizin und Biologie selbst beizutragen. Damit ist nichts weniger als die für anthropologische Konzeptionen durchaus weitreichende Frage aufgeworfen, ob Belege dafür gefunden werden können, dass nicht nur die menschliche Natur Kultur prägt, sondern auch umgekehrt menschliche Kultur, soziale Interaktionsmuster und Lebensweisen die individuelle wie kollektive menschliche Natur beeinflussen – und wenn dies belegbar wäre, welche Mechanismen hierfür verantwortlich gemacht werden können.

E PISTEMISCHE D REIECKSBEZIEHUNGEN

F RAGEPROGRAMM

UND EINIGE NOTWENDIGE

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R EVISIONEN

Im Folgenden soll gefragt werden, welche Vorstellungen des Sozialen und welche Konzepte des Individuums in verschiedenen Krankheitskonzepten impliziert sind. Dazu werden einige Überlegungen dazu vorgestellt, wie die Medizin den Zusammenhang zwischen Umwelt und Körper, zwischen Pathologischem und Sozialem in ihrer Fachgeschichte konstruiert hat. An drei Beispielbereichen – psychosomatischen Erkrankungen, stressbedingten pathologischen Veränderungen und schließlich epigenetischen Theorien der Krankheitsentstehung – wird verdeutlicht, wie medizinische Praktiken zu einer Ko-Konstruktion des Pathologischen und des Sozialen beitragen.2 Im Kern geht es bei vielen Krankheitskonzepten darum – so die hier vertretene These –, Mechanismen zu identifizieren, durch die das Soziale und das Kulturelle ›unter die Haut gehen‹ und dort pathologische Prozesse auslösen. Mit diesen drei Grabungsschnitten durch die Sedimente der medizinischen Fachgeschichte soll dabei angedeutet werden, dass Krankheitskonzepte aus zwei Gründen stets durch eine zeit- und kulturspezifische Sicht auf Gesellschaft und Individuen geprägt sind: erstens, weil in den Ätiologien der Zusammenhang von Lebensumständen und Krankheitsentstehung thematisiert wird; und zweitens, weil Heilungs- und Präventionsoptionen stets Interventionen in soziale Lebensumstände ebenso implizieren wie normative Vorstellungen darüber, wie ein Individuum oder ein Kollektiv präventiv handeln sollte. Aus einer ethnologischen Perspektive ist diese historisch sehr unterschiedlich gehandhabte Dreiecksbeziehung zwischen Krankheit – Gesellschaft – Individuum vor allem deshalb interessant, weil medizinische und biowissenschaftliche Modelle das Wissen, das Menschen in modernen Gesellschaften über sich und die Gesellschaften haben, in denen sie leben, in entscheidender Weise mitprägen. Ein solches Frageprogramm erfordert die Revision üblicher theoretischer Reflexe, die in den Sozialwissenschaften seit geraumer Zeit gegenüber den Natur-

2

Im Folgenden können diese Zusammenhänge nur angedeutet werden; sie bedürfen einer wesentlich intensiveren Auseinandersetzung und der sorgfältigen Kontextierung in die jeweiligen – nicht nur wissenschaftlichen – historischen Debatten und den je herrschenden Stand wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion: vgl. hierzu Lorraine Dastons systematische Überlegungen zur Rolle der Wissenschaftsgeschichte bei der Befremdung der Standard-Narrative der Wissenschaftsentwicklung durch die ReKontextierung wissenschaftlicher Praktiken und Denkstile in die relevanten raumzeitlichen Koordinaten: »Science Studies and the History of Science«, in: Critical Inquiry 35 (2009), S. 798–813.

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wissenschaften vorherrschen. Der eingangs zitierte Artikel von Margaret Lock ist als ein wichtiger wissenschaftspolitischer Aufruf an die Anthropologie zu lesen, eine solche Revision einzuleiten. Denn Lock fordert nichts weniger, als die seit den 1960er Jahren in den Sozialwissenschaften generell und in der Anthropologie speziell aufkommende »Bio-Phobie« zu überwinden.3 Hintergrund ist, dass die Anthropologie sich in ihrer langen, weit in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Fachgeschichte immer auch mit der biologischen Materialität des Körpers befasst hatte, diese Kompetenz jedoch im 20. Jahrhundert zunehmend aufgab. In Deutschland geriet die physische Anthropologie schon in den 1920er Jahren zunehmend unter den Einfluss rassistischen Denkens und wurde nach 1945 mit guten Gründen abgewickelt; als »medizinische Anthropologie« wurde sie in die Peripherien oder Kellergeschosse der Universitätskliniken verbannt. Dagegen konnte sie sich vor allem in Nordamerika als nicht-essenzialistisch argumentierende Disziplin erhalten. So bestehen bis heute an einigen Universitäten integrativ angelegte Institute, an denen Anthropologen mit kultureller, linguistischer, archäologischer und eben auch biologischer Spezialisierung Seite an Seite arbeiten. Dieser four field approach genannte Ansatz verfolgt den alten anthropologischen Anspruch, dem »ganzen Menschen« in seiner historischen Entwicklung und kulturell diversen Gegenwart gerecht zu werden.4 Doch das Teilgebiet der physical anthropology wurde seit den 1960er Jahren auch an nordamerikanischen Universitäten immer stärker der Kritik kulturtheoretisch ausgerichteter Anthropologen unterzogen, ein Konflikt, der schließlich zur Spaltung zahlreicher Institute führte. Beschleunigt wurde dieser Ausdifferenzierungsprozess nochmals in den letzten 20 Jahren, als die physical anthropology zunehmend begann, auch auf molekulargenetische Methoden zurückzugreifen und sich an neo-evolutionistischen Theorien zu orientieren. Viele sich eher ›links‹ verortende, vor allem aber feministisch orientierte AnthropologInnen kritisierten, dass durch die Übernahme biologischer Befunde genetischdeterministische Denkstile und damit ein gefährlicher naturalistischer Fatalismus im Blick auf den Menschen und seine Entwicklungspotenziale in der Anthropologie Einzug halten. Eine solche Perspektive sei nur mit konservativen politischen Ideologien, nicht jedoch mit dem Emanzipationsanspruch der Sozialwissenschaften kompatibel. Margaret Locks Aufruf steht noch ganz in der Tradition dieser Kritiklinie – sie weist jedoch insofern darüber hinaus, als sie argumentiert,

3

Vgl. hierzu Ted Benton: »Biology and Social Science: Why the return of the repressed should be given a (cautious) welcome«, in: Sociology 25 (1991), S. 1–29.

4

Vgl. hierzu ausführlich Stefan Beck: »Natur | Kultur. Überlegungen zu einer relationalen Anthropologie«, in: Zeitschrift für Volkskunde 104 (2008), S. 161–199.

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dass die naturwissenschaftliche Diskussion nun selbst die Unhaltbarkeit des von Anthropologen so lange kritisierten genetischen Determinismus anerkenne. Hierzu verweist sie zutreffend auf die Befunde der Epigenetik oder der Systembiologie. Problematisch an der in der internationalen Anthropologie dominierenden Sicht der Dinge ist dabei vor allem, dass damit eine in den Sozialwissenschaften verbreitete, verkürzte Sicht auf den biologischen Forschungsstand fortgeschrieben wird, eine Sicht, die sich eher aus der Rezeption populärwissenschaftlicher Programmatiken denn aus der intensiven Auseinandersetzung mit Forschungspraxen und theoretischen Überlegungen der Biologie speist. Denn abgesehen von einigen wenigen Exponenten genetisch-deterministischen Denkens – wie etwa Edward O. Wilson, der in den 1970er Jahren das Konzept der »Soziobiologie« propagierte,5 Richard Dawkins, der mit seinem Buch »Das egoistische Gen« eine neo-darwinistische Theorie der Kultur vorlegte,6 und einer Reihe von »evolutionären Psychologen«, die auch die kulturelle Entwicklung des Menschen vollständig mit theoretischen Ansätzen der Evolutionstheorie erklärt sehen wollen7 – setzte sich ein solcher starker Reduktionismus oder ein molekularer Determinismus, der menschliches Verhalten und Kultur allein auf die Wirkungsweise von Genen zurückführen wollte, nie vollständig in der Biologie durch. Verkürzt gesagt kann die Geschichte der Biologie und Medizin nur unvollständig als eine der zunehmenden Ausdehnung der Molekularisierung geschrieben werden, wenn darunter verstanden wird, dass Methoden und Theorien der Chemie und Physik in immer größerem Umfang für die Erklärung physiologischer Prozesse herangezogen wurden. Die seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer bedeutendere Rolle der Genetik scheint reduktionistische medizinische Modelle der Krankheitsentstehung zu befördern. Allerdings muss gleichzeitig berücksichtigt werden, dass das Rätsel des dynamischen Zusammenhanges von Organismen und ihren Umwelten stets eines der zentralen, nicht einfach biochemisch zu reduzierenden Probleme der Biologie und Medizin darstellte, eine Problematik, auf die gerade die Genetik keine ausreichende Antwort bereitstellt. Und ebenso erweist sich gegen den Verdacht, dass zunehmend eine Ausdehnung der naturwissenschaftlich informierten Biomacht zu beobachten sei, der Hinweis als an-

5

Edward O. Wilson: Sociobiology. The New Synthesis, Cambridge, MA, London 1975.

6

Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Reinbek bei Hamburg 1995.

7

Vgl. etwa Alex Mesoudi/Andrew Whiten/Kevin N. Laland: »Towards a unified science of cultural evolution«, in: Behavioral and Brain Sciences 29 (2006), S. 329– 347.

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gebracht, dass die biologische Existenz des Menschen durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher – und nicht nur naturwissenschaftlich fundierter – Machttechnologien geprägt ist.8 Folgt man der Argumentation des französischen Wissenschaftshistorikers Georges Canguilhem, dann wurde die zentrale Frage der Biowissenschaften nach dem dynamischen Zusammenhang von Umwelt und Organismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zunehmend als Problem der biologischen Regulation gefasst. Für Canguilhem ist die Geschichte der Wissenschaften vom Leben dabei durch eine zunehmend systemischere Sicht auf den Körper charakterisiert, die – paradoxerweise – gerade durch die immer detaillierteren, mit reduktionistischen Methoden produzierten Einsichten über die physikalischen und chemischen Grundlagen von Lebensprozessen erforderlich sei. Hier kann nicht näher auf seine Rekonstruktion des Wandels der Denkstile in den Lebenswissenschaften eingegangen werden, entscheidend ist aber seine Beobachtung, dass die Lösungsvorschläge, die Mediziner und Biologen für das Problem der Regulation entwickelten, auf Konzept-Importe angewiesen waren: Im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf mechanistische Modelle, bei denen der Körper als Maschine verstanden wurde; ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf ökonomische und politische Modelle des Sozialen, um Prozesse der Selbstorganisation (zum Beispiel in der Embryonalentwicklung) und bei der Integration zellulärer und organischer Funktionen zu verstehen. Mit dem späten 19. Jahrhundert sieht Canguilhem dann eine Entwicklung einsetzen, bei der die Biologie das Stadium analogen Theoretisierens aufgebe und sie eigenständige Modelle entwickle: Der Organismus werde »zu seinem eigenen Modell«, es entstehe ein genuin biologisches Modell der Organisation heterogener Teile.9 Entscheidend ist, dass ab diesem Zeitpunkt die Biologie nicht mehr auf einen Konzept-Import angewiesen zu sein scheint, sondern ihre Konzepte auch erfolgreich exportieren kann: Nicht mehr die Maschine oder die Gesellschaft diene als Modell für den Organismus, sondern Maschinen und Gesellschaften könnten von Sozialwissenschaftlern nun wie Organismen gedacht werden. Die bereits erwähnten Ansätze der Soziobiologie oder der Evolutionären Psychologie sind hier gleichsam nur die Endmuräne einer Entwicklung, die aus Sicht der Sozialwissenschaften nichts anderes darzustellen scheint als einen epistemischen Imperialismus der Naturwissenschaften, der entschieden abzuwehren ist.

8

Vgl. Sujatha Raman/Richard Tutton: »Life, Science, and Biopower«, in: Science,

9

Georges Canguilhem: A vital rationalist. Selected writings from Georges Canguilhem,

Technology & Human Values (2009), S. 1–24. New York 2000, S. 302; Übers. SB.

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E PISTEMISCHE D REIECKSBEZIEHUNGEN Im weiteren Verlauf des Artikels sollen diese Anregungen Canguilhems mit einer veränderten – und wesentlich bescheideneren – Frage aufgenommen werden. Gefragt werden soll nicht nach den wechselnden Leitdiskursen, mit denen in der Medizin die Frage nach der Regulation des Zusammenhanges von Organismen und ihren Umwelten bzw. die Frage von Krankheitsentstehung je verschieden beantwortet wurde. Stattdessen wird gefragt, welche Vorstellungen des Sozialen und welche Konzepte des Individuums in unterschiedlichen Krankheitskonzepten impliziert sind. Dabei sind zwei Argumentationsmuster voneinander zu unterscheiden: einerseits die in den Sozialwissenschaften weitgehend unkontroverse und durch die Medizin nicht bestrittene Annahme eines konstruktivistischen Zusammenhanges zwischen Krankheitsklassifikation und sozialsomatischen Verhaltensänderungen bei den so Klassifizierten. Davon zu unterscheiden ist andererseits die weiter gehende Annahme, dass eine kausale Wirkung von sozialen auf physische Phänomene ausgehen könnte; hier geht das Soziale direkt unter die Haut. Die konstruktivistische These, bei der die Sozialwissenschaften gleichsam auf der ›sicheren Seite‹ stehen, wird etwa dann relevant, wenn jemand mit der konkreten Diagnose konfrontiert wird, er leide an einem stressbedingten metabolischen Syndrom, das für einen hohen Blutdruck und einen a-normalen Fettstoffwechsel verantwortlich sei und das Risiko steigere, frühzeitig an Diabetes zu erkranken.10 Für die Medizinsoziologin Gayle Sulik wird spätestens in dem Augenblick, in dem eine so Diagnostizierte anfängt, auf diese Diagnose positiv durch Umstellung ihres Lebensstiles zu reagieren, eine »technoscientific illness identity« geschaffen11 – das heißt, die Patientin macht sich die aktuell geltenden medizinischen Annahmen über die Ätiologie des hohen Blutdrucks zu eigen und versucht, die empfohlenen Konsequenzen zu realisieren: ihren Lebensstil zu ändern. Aber auch für Menschen, die nicht selbst von einer konkreten Diagnose betroffen sind, ist es mehr als wahrscheinlich, dass sie durch Präventionskampagnen, popularisierte medizinische Erkenntnisse oder schlicht Alltagskommunikation mit Theorien darüber konfrontiert werden, welche ihrer Lebensstil-

10 Vgl. Jörg Niewöhner: »Die zeitlichen Dimensionen von Fett – Körperkonzepte zwischen Prägung und Lebensstil«, in: Jörg Niewöhner/Christoph Kehl/Stefan Beck (Hg.), Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft, Bielefeld 2008, S. 113–142. 11 Gayle A. Sulik: »Managing biomedical uncertainty: the technoscientific illness identity«, in: Sociology of Health & Illness 30 (2009), S. 1–18.

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Entscheidungen gesundheitlich »riskant« sind. Für den britischen Sozialwissenschaftler Nikolas Rose entsteht durch dieses verallgemeinerte »risk thinking« eine neue Form der Subjektivität in der Moderne. Dieses »Risikodenken« verdränge ältere Konzepte gesundheitlicher Veranlagung, aktualisiere potenzielle Zukünfte in der Gegenwart und mache sie zum Objekt rationaler Kalkulation: »Hence new forms of life are taking shape […], along with new individual and collective subjectifications of those ›at risk‹, and, of course, new extensions of the power of expertise to all who are now understood as ›pre-patients‹.«12 Diese moderne Figur des Prä-Patienten ist für Rose Objekt ebenso wie Subjekt einer neuartigen »Politik des Lebens«, die vor allem durch Praktiken der »Gouvernementalität« charakterisiert sei: einem Modus der Intervention und Regulation in der späten Moderne, der nicht mehr durch Repression, sondern vor allem durch neue Subjektivierungsformen operiere, nämlich durch den normalisierten Anspruch an das moderne Subjekt, nach wissenschaftlichen Standards zur rationalen Sorge um sich beizutragen.13 Was Rose hier in einer an Michel Foucault orientierten Theorietradition analysiert, weist Parallelen auf zu der These des kanadischen Wissenschaftsphilosophen Ian Hacking, dass Klassifikationspraktiken – etwa wenn durch die Medizin körperliche Symptome zum Zeichen eines Syndroms werden und deren Träger entsprechend als »erkrankt an X« klassifiziert werden – auf Selbstverständnisse und Handlungsmuster der Klassifizierten zurückwirken. Hacking nennt dies »looping effect«, seine Perspektive auf solche realen Effekte durch Klassifikationspraktiken »dynamischen Nominalismus«: Hacking fragt, wie in spezifischen historischen Situationen »Wissensobjekte« konstituiert werden und »wie diese verschiedenen Konzepte, Praktiken und korrespondierenden Institutionen, die wir als Wissensobjekte behandeln können, neue Wahl- und Handlungsoptionen für Menschen eröffnen«.14 Was bei einer Grippe noch vernachlässigbar erscheint, ist bei komplexeren psychologischen Syndromen, wie sie von Hacking thematisiert werden – etwa der multiplen Persönlichkeitsstörung oder der Posttraumatischen Belastungsstörung – alles andere als trivial: Hier ist damit zu rechnen, dass eine wissenschaftliche Klassifikation die Selbstwahrnehmung der Patienten entscheidend modifiziert. In dem im Folgenden diskutierten Zusammenhang geht es um etwas, was

12 Nikolas S. Rose: Politics of life itself: biomedicine, power, and subjectivity in the twenty-first century, Princeton 2007, S. 19f. 13 Vgl. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/.M. 2001. 14 Ian Hacking: Historical Ontology, Cambridge 2002, S. 2; Übers. SB.

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ich einen erweiterten Looping-Effekt nennen möchte. Während Hacking fragt, wie Krankheitsklassifikationen die individuelle Wahrnehmung des Körpers transformieren, steht im Folgenden im Zentrum, wie die in Krankheitsdefinitionen implizierte Ko-Konstruktion von Krankheit – Gesellschaft – Individuum zusätzlich die Selbstbeobachtung von Gesellschaft beeinflusst und welche Rekonfigurationen etwa der moralischen Ansprüche an das Individuum damit verbunden sind. Um diesen Zusammenhang nochmals klarer zu fassen, ist ein kurzer Exkurs in die medizinanthropologische Debatte nützlich. Für die medical anthropology etablierte der in Harvard lehrende Arthur Kleinman Mitte der 1970er Jahre15 die Unterscheidung zwischen drei Begriffen: Disease, also Krankheit, bezeichnet bei Kleinman erstens die vor allem von der Medizin diagnostizierten »Abnormalitäten« in der Struktur oder der Funktion von Organen und Organsystemen. Dabei kann es sich durchaus um »pathologische Zustände« handeln, die jedoch kulturell gar nicht nicht als ›wahr‹ angesehen werden können. Krankheit in diesem Sinne ist die Domäne des biomedizinischen Denkstils und der ihn charakterisierenden Methoden. Davon grenzt Kleinman zweitens den Begriff der illness ab, womit er das Kranksein einer Person bezeichnet. Hierunter fasst er vor allem die je individuellen Wahrnehmungen von und Erfahrungen mit bestimmten, sozial oder kulturell als »nicht-gesund« markierten Zuständen, die eine Person macht. Diese Zustände müssen dabei nicht notwendigerweise in die biomedizinische Kategorie des Pathologischen fallen, und wenn sie es tun, können sie ggf. ganz anders interpretiert werden, als dies ein Mediziner vor dem Hintergrund seines »objektiven Wissens« täte. Disease und illness sind daher nicht miteinander identisch; beide zusammen ergeben aber einen Phänomenbereich, den Kleinman drittens als sickness bezeichnet. Für Kleinman sind Anthropologen vor allem für den Bereich der illness – also der kulturell geprägten Krankheitswahrnehmungen – zuständig. Kranksein im Kleinman’schen Sinne ist hochgradig abhängig von sozial und kulturell differenten »Erklärungsmodellen« (explanatory models), die Konzepte über die Entstehung von Erkrankungen, Vorstellungen über den Krankheitsverlauf und über die angemessene Behandlung des Zustandes umfassen. Diese Modelle ordnen das Krankheitserleben in einer spezifischen, kulturell geprägten Weise und versehen es mit einer Bedeutung – sie bilden Realität ab. Aber darü-

15 Arthur Kleinman/Leon Eisenberg/Byron J. Good: »Culture, Illness, and Care – Clinical Lessons from Anthropologic and Cross-Cultural Research«, in: Annals of Internal Medicine 88 (1978), S. 251–258; vgl. auch Arthur Kleinman: Writing at the Margin. Discourse between Anthropology and Medicine, Berkeley 1995.

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ber hinaus legen sie auch Handlungsweisen nahe, lassen andere als ungünstig erscheinen und – indem körperlicher Erfahrung ein spezifischer Sinn verliehen wird – erzeugen selbst subjektive wie intersubjektive Realität. »Explanatory models« sind Modelle des Krankheitsgeschehens, zugleich aber auch Modelle dessen, wie Kranke und ihr soziales Umfeld reagieren sollen, was angemessene Formen des Leidens an diesen körperlichen Zuständen sind und wie man in die Welt sowie den eigenen Körper mit welchen Mitteln eingreifen soll. Die Quelle dieser »explanatory models« wird dabei in den »Kosmologien« von Gesellschaften verortet, also in ihrer Kultur und im Raum der sozialen Interaktionen.16 In der Medizinanthropologie ist diese Unterscheidung zwischen disease und illness weitgehend unstrittig, nachteilig ist jedoch, dass dadurch die medizinische Definition von Krankheit als objektiv und das Erleben der Krankheit als subjektiv und kulturell geformt dargestellt wird. Damit wird verkannt, dass auch die Medizin als soziales (Sub-)System und als geprägt von kulturellen, historisch variablen Vorannahmen interpretiert werden muss, das »explanatory models« eigener Art hervorbringt. Die Anthropologen Allan Young17 und Ronald Frankenberg18 haben deshalb bereits in den 1980er Jahren eine modifizierte Sicht vorgeschlagen. Die Unterscheidung von disease (Krankheit als Bezeichnung für wissenschaftlich-pathologische Modelle) und illness (Kranksein als Bezeichnung für die individuelle Wahrnehmung von Krankheit) wird beibehalten; aber sickness (Erkrankung) soll nun nicht mehr nur ein Sammelbegriff sein, unter den disease und illness fallen, sondern er wird spezifisch als eine dritte Dimension gefasst. Er bezeichnet jene sozialen Prozesse, durch die illness und disease sozialisiert werden. Etwa dadurch, dass beunruhigenden Verhaltensweisen oder physischen Phänomenen eine Bedeutung zugewiesen wird, sie also in Symptome übersetzt werden, aus denen wiederum spezifische Handlungen (therapeutische Interventionen, angemessene Formen des Leidens oder die Äußerung von Mitgefühl) fol-

16 Dies unterscheidet Kleinman deutlich von allen Ansätzen, die sich dem Problem des Krankheitserlebens von einer individualistischen Perspektive her nähern, vor allem natürlich von psychologisch informierten Ansätzen. Im Gegensatz dazu ist für die Medizinethnologie der Aufmerksamkeitsfokus stets auf die kulturellen Muster, den Lebensstil einer Gruppe, das alltägliche Handeln sowie die leitenden Vorstellungen und Werte von Menschen – ihre Kosmologien und Handlungsmuster in Aktion, im täglichen Vollzug – gerichtet. 17 Allan Young: »The Anthropology of Illness and Sickness«, in: Annual Review of Anthropology 11 (1982), S. 257–285. 18 Ronald Frankenberg: »Medical anthropology and development: a theoretical perspective«, in: Social Science & Medicine 14 (1980), S. 197–207.

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gen. Der Begriff »sickness« historisiert und kontextualisiert sowohl wissenschaftlich-pathologische Modellvorstellungen wie auch die Muster der Krankheitserfahrungen; und die Analyse derjenigen Prozesse, die zu sickness führen, klärt dann vor allem die Frage, wer aus welchen Gründen wann an welcher Krankheit wie leidet.19

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Im Folgenden werden einige Beispiele dafür vorgestellt, wie in der Geschichte der Medizin sickness produziert wurde; damit soll verdeutlicht werden, wie die von der Medizin seit langer Zeit gehegte Intuition, dass Soziales und Kulturelles ›unter die Haut geht‹, in konkrete ätiologische Modelle umgesetzt wurde. Deutlich wird dabei auch, wie hierbei dominante Vorstellungen sozialer Ordnung (an der man leiden kann) und individuelle Handlungsanweisungen zur Krankheitsprävention ko-produziert wurden. Hiermit ist zugleich die stärkere These einer »downward causation« angelegt, bei der physikalistische Erklärungen von Krankheitsentstehung irritiert werden.20 Die Idee, dass Soziales und Kulturelles ›unter die Haut geht‹ und krankmachen kann, wurde bereits im 17. Jahrhundert recht präzise anhand von einigen Fallgeschichten durch den Schweizer Arzt Johannes Hofer herausgearbeitet, eine Studie, die allerdings durch die im 18. Jahrhundert einsetzende Verwissenschaftlichung der Medizin dem institutionellen Vergessen anheimgegeben wurde. Hofer legte seine Studie als Dissertation 1688 in Mühlhausen vor;21 zentrales Thema der darin versammelten Fallgeschichten sind medizinisch relevante Effekte von sozialen und kulturellen Fremdheitserfahrungen. Hofer schildert den Fall eines gesunden jungen Mannes, der für sein Studium aus seinem Heimatkanton Bern nach Basel gegangen war. Dort habe er seit seiner Ankunft an Traurigkeit

19 Vgl. etwa die grundlegende Studie von Irving K. Zola zu unterschiedlichen Krankheits- und Schmerzwahrnehmungen bei Angehörigen der amerikanischen Unter- und Mittelschicht bzw. bei unterschiedlichen Einwanderergruppen: Irving K. Zola: »Culture and Symptoms – An Analysis of Patients’ Presenting Complaints«, in: American Sociological Review 31 (1966), S. 615–630. 20 Vgl. hierzu etwa Jaegwon Kim: »Emergence: Core ideas and issues«, in: Synthese 151 (2006), S. 547–559; Ana M. Soto/Carlos Sonnenschein/Paul-Antoine Miquel: »On physicalism and Downward Causation in Developmental and Cancer Biology«, in: Acta Biotheoretica 56 (2008), S. 257–274. 21 Johannes Hofer: Dissertatio Medica de Nostalgia oder Heimwehe, Basel 1688.

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gelitten und erkrankte schließlich an einem – wie er selbst sagte – kontinuierlichen, aber nicht brennenden Fieber. Er litt an Herzschmerzen und weiteren, immer gavierenderen Beschwerden, sodass seine Bekannten schließlich mit seinem baldigen Tod rechneten und beschlossen, ihn nach Hause zu bringen, damit er dort bei seinen Verwandten sterben könne. Aber sobald er die Reise angetreten hatte – so Hofer –, besserte sich sein Zustand von Kilometer zu Kilometer. Als er Bern erreichte, sei er fast völlig wieder hergestellt gewesen. Hofer schildert noch weitere Fälle, in denen todkranke Patienten, die etwa als Hausmädchen fern der Heimat Dienst tun mussten, spontan von ihren Beschwerden geheilt wurden, sobald sie wieder zu Hause waren. Hofer findet für diese Beschwerden eine für ihn und offenbar auch seine Zeitgenossen plausible Erklärung, das heißt, er transformiert sie in Symptome: Wenn gesunde Menschen durch ihr Schicksal aus ihrer vertrauten sozialen Umgebung gerissen würden, ja selbst wenn sie freiwillig ihre Heimatgemeinde verließen, seien sie oft nicht in der Lage, sich an die fremden Sitten und Gebräuche anzupassen. In Johannes Hofers Zeit konnten solche Anpassungsprobleme offenbar schon durch die räumliche, soziale und kulturelle Distanz zwischen den Städten Bern und Basel ausgelöst werden. Als Folge dieser Fremdheitserfahrung – so Hofer – träumten die Betroffenen immer öfter von ihrer alten Heimat, wurden, was wir heute als melancholisch bezeichnen würden, und verfielen dann in diese merkwürdige Krankheit, für die er den wissenschaftlichen Begriff der Nostalgia vorschlug – eine griechische Anleihe, mit der er das im volkstümlichen Wissen längst etablierte Syndrom des Heimwehs belegte. Was lässt sich aus einer 1688 auf Latein veröffentlichten Dissertation lernen, die inzwischen ausschließlich Medizinhistoriker interessiert? Das von Hofer bearbeitete Phänomen – nämlich die Frage, welche körperlichen Effekte eine grundlegende Fremdheitserfahrung haben kann, und sein ätiologisches Modell der Nostalgia – impliziert eine Konzeption sozialer und kultureller Ordnung, deren Nachhall in populären Vorstellungen noch immer präsent ist: Es ist ein statisches Konzept ständisch organisierter sozialer Ordnung, in der jeder einen festen Platz in einem weitgehend unbeweglichen Netz sozialer Beziehungen einnimmt. Und es ist ein territorialisiertes Konzept kultureller Ordnung, bei dem Heimat Eingebundenheit in eine spezifische Landschaft und die Bindung an lokal tradierte Sitten und Gebräuche meint. Pointiert gesagt, sind Hofers Patienten sozial und territorial gleichsam unverrückbar – werden sie in einen neuen sozialen, kulturellen oder landschaftlichen Zusammenhang verpflanzt, folgt unausweichlich Krise und Krankheit. Heilung ist erst möglich, wenn ihre soziale, kulturelle und territoriale Ökologie wieder restauriert wird, auf die jeder Einzelne schicksalhaft verwiesen ist. Hier wird soziale und räumliche Mobilität zum Risiko, weil

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die natürliche Ordnung des Sozialen – und der natürliche Platz des Einzelnen darin – verletzt wird. Es ist durchaus bemerkenswert, dass eine solche Vorstellung sozialer und territorialer Verortung, wie sie etwa immer noch in der rhetorischen Figur der »entwurzelten Migranten« präsent ist, auch in der Gegenwart nicht nur populäre Diskurse prägt, sondern auch implizit viele Hintergrundannahmen gegenwärtiger klinischer Diskussionen um den Zusammenhang von Migration und Gesundheit: »Entwurzelung« wird immer noch für eine Vielzahl gesundheitlicher und sozialer Pathologien verantwortlich gemacht.22 Doch so verbreitet diese Intuition ist, so wenig wird die Frage des Zusammenhanges von sozialer Ordnung, der Rolle des Individuums in ihr und Gesundheit explizit problematisiert. Dabei sind solche »Fremdheitserfahrungen« durchaus nicht nur im Migrationskontext bedeutsam, wie sie von Hofer erstmals beschrieben wurden. »Fremdheit« und dadurch ausgelöste gesundheitliche Belastungen können – folgt man etwa einer neueren britischen epidemiologischen Studie – auch durch nicht überbrückbare soziale Distanz erzeugt werden. Interessant ist diese Studie aber vor allem unter dem Aspekt der Ko-Konstruktion des Sozialen und des Individuums: Anders als bei Hofer wird hier keine vormoderne, ständische Ordnung naturalisiert, sondern das Soziale – im Einklang mit der Kosmologie der Moderne – als Raum der Entfaltung der natürlichen Individualität des Einzelnen verstanden – ein Raum allerdings, der durch zahlreiche Schranken und Exklusionsmechanismen charakterisiert ist. Ausgangspunkt der Studie von Simon Charlesworth und seinen Mitarbeitern ist der Befund, dass seit den 1980er Jahren die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen der Mittelschicht und der sozialen Unterschicht in Großbritannien dramatisch zunehmen.23 Lebten Angehörige der britischen Mittelschicht in den 1970er Jahren noch ca. fünf Jahre länger als Unterschichtangehörige, betrug die Differenz Mitte der 1990er Jahre bereits neun Jahre für Männer und sechseinhalb Jahre für Frauen. Hierfür machen die Autoren vor allem psychosoziale Mechanismen verantwortlich – etwa den dramatischen Verfall der Lebensbedingungen vor allem der schlecht ausgebildeten Arbeiter, die Auflösung des sozialen Zusammenhalts, den Zusammenbruch der familiären Unterstützungsmechanismen, ein schwindendes Gefühl, über das eigene Leben Kontrolle zu haben, soziale Ausgrenzungsprozesse etc.

22 Vgl. etwa Eckhardt Koch/Matthias J. Müller: »Migration associated stress factors for depression«, in: Nervenarzt 78 (2007), S. 485–485. 23 Simon J. Charlesworth/Paul Gilfillan/Richard Wilkonson: »Living inferiority«, in: British Medical Bullettin 69 (2004), S. 49–60.

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Am Beispiel eines jungen Mannes aus der Unterschicht, der über den zweiten Bildungsweg kommend an seiner lokalen Universität studierte, um schließlich in den Polizeidienst einzutreten, erläutern sie, dass schon der Weg an die Universität gleichsam einen Passionsweg für ihn darstellte – in seinen Worten: »Es zermürbt dich langsam, wenn du da jeden Tag hinmusst. Wenn du hinfährst, gibt es einen Punkt, an dem du merkst ›hier fängt die Uni an‹. Und ich fühle, wie sich mein Magen zusammenzieht, es geht ab diesem Punkt bergab. Und auf dem Rückweg ist es an diesem Punkt, wo du wieder nach Hause kommst, hier fängt die Zone an, in der du dich wieder wohlfühlen kannst. Ich merke das ganz deutlich: ›Ich bin raus aus der Uni, ich fühle mich wieder wohl, ich komme mit der Situation wieder zurecht.‹ Und deshalb fahre ich auch zwischen den Seminaren immer wieder nach Hause, nur um dieses Gefühl zu erleben, dass es mir wieder gut geht.«24

Es sind nicht die intellektuellen Anforderungen der Universität, die bei ihm dieses Unwohlsein auslösen, sondern die Konfrontation mit den Kommilitonen, die überwiegend aus der Mittelschicht entstammen. Es sind ihre – wie er es wahrnimmt – abschätzigen Blicke, die Erfahrung, dass er als Angehöriger der Unterschicht nicht ernst genommen wird, dass sich seine Studienkollegen über seinen Dialekt lustig machen, seinen Kleidungsstil belächeln, sich über sein Wohnviertel abschätzig äußern. Aber auch umgekehrt gilt, dass er den Lebensstil seiner Mitstudenten als völlig fremd wahrnimmt, ihre Haltung zur Welt und ihre Werteinstellungen nur schlecht nachvollziehen kann. Vor allem aber ist es die Erfahrung, dass er nicht über die notwendigen sozialen und kulturellen Kompetenzen verfügt, die man braucht, um sich sicher und selbstbewusst im universitären Milieu zu bewegen. Quasi spiegelbildlich zu Hofers Vorstellung einer natürlichen sozialen Ordnung wird bei Charlesworth et al. die Ordnung der Klassengesellschaft als unnatürliche, vor allem aber ungerechte Beschränkung des natürlichen sozialen Mobilitätsbestrebens gedeutet: Das Spiel der Distinktion und der »feinen Unterschiede« – um einen Begriff Pierre Bourdieus aufzunehmen –, mit dem kulturelle und soziale Dominanz der oberen Schichten durchgesetzt wird, sorgt für eine chronische soziale, geistige und schließlich gesundheitliche Belastung der »have-nots«. Hier wird ein ungerechtes und auf Exklusion setzendes Gesellschaftssystem zum Risikofaktor. Epidemiologisch ist der Befund, dass es eine kausale Beziehung zwischen sozialer Isolation, Ausgrenzung, Depression und mangelnder Unterstützung durch ein soziales Umfeld und kardiovaskulären Er-

24 Ebd., S. 55; Übers. SB.

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krankungen gibt, schon seit vielen Jahren sehr gut belegt. So wird »Einsamkeit«25 als mindestens ebenso großer Risikofaktor für Herzinfarkte wie Rauchen, hoher Blutdruck oder erhöhte Blutfettwerte angesehen. Ähnlich argumentieren der Medizinsoziologe Johannes Siegrist und Michael Marmot, einer der führenden Epidemiologen, auf Grundlage einer in mehreren europäischen Ländern durchgeführten Studie.26 Für sie sind es vor allem die Wirkungen – wie sie es nennen – »ungünstiger psychosozialer Umwelten« – etwa hohe Anforderungen bei geringer Selbstbestimmung am Arbeitsplatz oder ein dauerhaftes Missverhältnis zwischen hoher Leistung und geringer Belohnung, die langfristige, negative Gesundheitseffekte erzeugen. Zahlreiche, groß angelegte epidemiologische Studien – etwa die Framingham-27 oder die Whitehall-Studie28 – produzieren eine so schlagende Evidenz dieser sozialen Effekte auf die Gesundheit, dass Richard Eckersley, einer der weltweit führenden Epidemiologen in einem Überblicksartikel nur noch rhetorisch fragen konnte: »Is modern Western culture a health hazard?«29 Vor dem Hintergrund dieser sich immer mehr verdichtenden Befunde der Epidemiologie und der neueren public-health-Forschung ist es bemerkenswert, dass sich die Sozialwissenschaften doch allmählich und sehr vorsichtig auf das von ihnen als durch biologistische Fallstricke überzogene Parkett zu wagen beginnen. Eine wichtige Motivation ist dabei nicht zuletzt die Wahrnehmung, dass in den Naturwissenschaften nur eingeschränkte methodische wie theoretische Kompetenz vorliegt, mit Ungleichheitsphänomenen jenseits einfacher sozialökonomischer Indikatorenforschungen umgehen zu können. So plädiert etwa Martin Diewald in einem kürzlich in der Zeitschrift für Soziologie veröffentlichten Artikel für einen intensiveren Austausch der Soziologie mit der Epidemiologie oder der Verhaltensgenetik, um das »Zusammenspiel genetischer Prädisposi-

25 Anselm Eder: »Risk factor loneliness. On the interrelations between social integration, happiness and health in 11-, 13- and 15-year old schoolchildren in 9 European countries«, in: Health Promotion International 5 (1990), S. 19–33. 26 Johannes Siegrist/Michael Marmot: »Health inequalities and the psychosocial environment—two scientific challenges«, in: Social Science & Medicine 58 (2004), S. 1463–1473. 27 William B. Kannel/Daniel L. McGee: »Diabetes and cardiovascular disease. The Framingham study«, in: JAMA, 241, 19 (1979), S. 2035–2038. 28 Hans Bosma et al.: »Low job control and risk of coronary heart disease in Whitehall II (prospective cohort) study«, in: British Medical Journal 314 (1997), S. 558–565. 29 Richard Eckersley: »Is modern Western culture a health hazard?«, in: International Journal of Epidemiology 35 (2006), S. 252–258.

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tionen mit sozialen Einflüssen über die Lebenszeit und die historische Entwicklung von Populationen hinweg« unter Rückgriff auf soziologischen Sachverstand aufzuklären.30 Es bleibt abzuwarten, welches Engagement die Soziologie hier künftig entwickeln wird.

P SYCHOSOMATIK ,

GESPROCHEN MIT

AMERIKANISCHEM

AKZENT : S TRESS

Natürlich hat die oben zitierte Intuition Eckersleys, dass die moderne Kultur den Menschen krankmache, eine lange zivilisationskritische Tradition. Ein prominenter und im weiteren medizinischen Feld immer noch einflussreicher Zweig ist sicherlich die seit den 1920er Jahren in Deutschland eng mit den Arbeiten Viktor von Weizsäckers, Georg Groddecks und Felix Deutschs verbundene »Psychosomatische Medizin«. Für Anne Harrington, die 2008 ihre beeindruckende Geschichte der »Geist-Körper Medizin« vorlegte, grenzt sich die Psychosomatische Medizin deutscher Prägung unter Rückgriff auf Impulse des holistischen Denkens des späten 19. Jahrhunderts klar gegen eine als reduktionistisch erfahrene, von naturwissenschaftlichem, insbesondere biologischem Denken geprägte Medizin ab.31 Die tendenziell »anti-szientistische«, unter anderem von der Romantik beeinflusste Haltung dieser Tradition der Psychosomatik macht dieses Erklärungsangebot jedoch kaum anschlussfähig an biomedizinische Erklärungsmodelle von Krankheit. Anders ist dies in der Spielart der Psychosomatik, die seit den 1920er Jahren mit ›amerikanischem Akzent‹ zu sprechen beginnt. Es sind insbesondere die grundlegenden Arbeiten des US-amerikanischen Physiologen Walter B. Cannon, der einen biochemisch-neurologischen Mechanismus postulierte, über den Soziales physiologische Wirkungen entfalten konnte. Für seine Erklärung griff Cannon auf seine vor allem in Tierexperimenten in den Laboratorien der Harvard Medical School gewonnenen empirischen Daten zur Physiologie der Schockreaktion und zu körperlichen Reaktionen bei starken Emotionen wie Schmerz, Angst, Zorn und Hunger zurück. Die von ihm vertretene These lautete: Starke

30 Martin Diewald: »Zur Bedeutung genetischer Variation für die soziologische Ungleichheitsforschung«, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), S. 4–21, hier S. 16. 31 Anne Harrington: The cure within: a history of mind-body medicine, New York 2008, S. 88f.

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emotionale Erregungen können die Gleichgewichts-Mechanismen des Körpers so nachhaltig stören, dass die Betroffenen sogar daran sterben können.32 Die von Cannon vorgeschlagene Perspektive auf somatische Regelungssysteme hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen; in seiner Tradition wird in den letzten Jahren verstärkt das komplexe Zusammenspiel des neuroendokrinen, des kardiovaskulären und des Immunsystems untersucht. Unter dem Begriff der allostatischen Anpassung33 wird der Frage nachgegangen, wie der Körper auf externe Stimuli oder die Veränderung von Umweltbedingungen reagiert. Die zugrunde liegende Modellvorstellung ist dabei, dass auf länger wirkende Belastungen – sozialer Stress, Infektionen oder Nahrungsmittelknappheit – verschiedene körpereigene Systeme so ineinandergreifen, dass eine langfristige Anpassungsreaktion an die negativen Umweltreize ausgelöst wird.34 Im Gegensatz zu den von Cannon beschriebenen, unmittelbar der Lebenserhaltung dienenden Regelkreisen, die hoch dynamisch um einen »Normalwert« schwanken – wie etwa beim Blutdruck oder der Körpertemperatur –, werden bei allostatischen Reaktionen auf chronischen Stress diese Normwerte im belasteten Körper dauerhaft verschoben: Der Körper muss gleichsam einen Preis zahlen, wenn er sich langfristig an ungünstige psychosoziale oder physische Situationen anpassen muss.35

32 Vgl. hierzu ausführlich Walter B. Cannon: Der Weg eines Forschers. Erlebnisse und Erfahrungen eines Mediziners, München 1945. Vgl. als wissenschaftshistorische Einordnung der Bedeutung Cannons Jakob Tanner: »›Weisheit des Körpers‹ und soziale Homöostase. Physiologie und das Konzept der Selbstregulation«, in: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1998, S. 129–169. 33 Peter Sterling/Joseph Eyer,: »Allostasis: A new paradigm to explain arousal pathology«, in: James Reason/Shirley Fischer, Handbook of Life Stress, Cognition and Health, New York 1988, S. 629–649. 34 Dieser Zusammenhang wurde erstmals beschrieben von Hans Selye: »Syndrome produced by diverse nocuous agents«, in: Nature 138 (1936), S. 32. Selyes Studien machten den Begriff »Stress« populär und begründeten eine Forschungsrichtung, die biografische Akkumulationen belastender Einflüsse auf körperliche Zustände beschrieb; vgl. Hans Selye: The Stress of Life, New York 1956. 35 Vgl. Bruce S. McEwen: »Protective and damaging effects of stress mediators: central role of the brain«, in: Biological Basis for Mind Body Interactions 122 (2000), S. 25– 34; Bruce S. McEwen/John C. Wingfield: »The concept of allostasis in biology and biomedicine«, in: Hormones and Behavior 43 (2003), S. 2–15, hier S. 3.

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Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive ist interessant, dass mit dieser Theorie der akkumulierten Belastungen eine körperbiografische Perspektive eröffnet wird: Wie alle kybernetischen Systeme weise auch der Körper einen Memo-Effekt auf, indem etwa sozialer Stress – etwa ein geringer sozialer Status am Arbeitsplatz, Existenzängste durch drohenden Arbeitsplatzverlust oder auch ein ungünstiges Wohnumfeld – das individuelle Risiko für die Entwicklung chronischer Krankheitszustände bedeutend erhöhen können.36 Ging es bei Cannon noch um das Problem der Erhaltung körperlicher Stabilität angesichts kurzfristig wirkender Umwelt-Turbulenzen, geht es in neueren Studien zu chronischen Belastungen zugespitzt um die Frage, ob man etwa an geringem sozioökonomischen Status oder an durch soziale Exklusion bedingtem, biografisch akkumuliertem Stress erkranken oder – früher – sterben kann. Stress erscheint in neueren Studien als Auslöser sehr unterschiedlicher pathologischer Effekte: als Grund für Fehlgeburten oder Angststörungen, als Faktor, der Dickleibigkeit fördert oder cardiovaskuläre Erkrankungen. Diese Aufzählung soll nicht fortgesetzt werden, wichtig ist nur, dass in allen diesen Fällen ein enger, systemischer Zusammenhang von neurologischen, immunologischen und physiologischen Effekten in Reaktion auf soziale Umwelteinflüsse postuliert wird. Folgt man der Argumentation von McEwen und anderen Stressforschern, dann werden durch das Stress-Modell belastende Vergangenheiten in der Gegenwart aktualisiert: Sie prägen das Spektrum, in dem der Körper reagieren kann. Der Entwicklungsbiologe René Dubos schlug bereits Mitte der 1960er Jahre für solche langfristigen physiologischen Prägungen den Begriff »biological Freudianism« vor.37 Allerdings war Mitte der 1960er Jahre noch kein biologischer Mechanismus erkennbar, über den Umwelteffekte langfristige pathologische Verschiebungen in den körperlichen Reaktionsmustern auslösen konnten; in den letzten Jahren scheinen nun epigenetische Modelle eine Lösung dieses (alten) Rätsels anzubieten. Wichtig im hier diskutierten Zusammenhang sind diese Modelle auch deshalb, weil sie dazu führen können, die Bedeutung des »risk thinking« (N. Rose) im Alltag zu erhöhen: Der nahegelegte »präventive Lebensstil« fordert zur generalisierten Vorsicht auf, er aktualisiert potenzielle gesund-

36 Vgl. Bruce S. McEwen: »Protective and damaging effects of stress mediators«, in: New England Journal of Medicine 338 (1998), S. 171–179; Bruce S. McEwen: »Allostasis and allostatic load: Implications for neuropsychopharmacology«, in: Neuropsychopharmacology 22 (2000), S. 108–124. 37 René Dubos/Dwayne Savage/Russell Schaedler: »Biological Freudianism – Lasting Effects of Early Environmental Influences«, in: Pediatrics 38 (1966), S. 789–800.

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heitliche Zukünfte in der Gegenwart, wenn das Alltagshandeln zunehmend durch die Vermeidung schädlich erachteter Wirkungen bestimmt wird.

E PIGENETISCHE R EVISIONEN Ende der 1990er Jahre nahm eine schwedische Forschungsgruppe die Fragerichtung des »biologischen Freudianismus« auf. Die Gruppe untersuchte, ob Schwankungen in der Nahrungsmittelversorgung bei Heranwachsenden Auswirkungen auf die Entwicklung der Keimzellen haben könnten und ob damit ein Mechanismus für die nicht-genetische – also epi-genetische – Weitergabe dieser Effekte wahrscheinlich sei.38 In einer Studie erfassten die Forscher die Gesundheitsbiografien von 300 Personen, die in den Jahren 1890, 1905 und 1920 in einem nordschwedischen Bezirk geboren worden und aufgewachsen waren, und verknüpften diese Daten mit sozialhistorischen Befunden, aus denen auf den Ernährungszustand der jeweiligen vier Großeltern und der beiden Eltern jedes Probanden rückgeschlossen werden konnte. Für die fraglichen Zeiträume im 19. Jahrhundert waren dabei mehrere gravierende Hungersnöte in der Region zu verzeichnen, denen eine Reihe von ›fetten‹ Jahren gegenüberstanden. Im Ergebnis konnte gezeigt werden, dass Knappheits- oder ÜberflussPerioden in der Nahrungsversorgung der Großeltern einen deutlich feststellbaren Effekt auf das Risiko der Enkelgeneration hatten, an Diabetes II oder kardiovaskulären Erkrankungen zu leiden. War etwa der Großvater in seiner Jugendzeit von einer Hungersnot betroffen, wies der Enkel ein deutlich reduziertes Diabetes-Risiko auf; war der Großvater hingegen in Zeiten eines Nahrungsüberflusses aufgewachsen, dann wiesen die Enkel ein bis zu vierfach erhöhtes Risiko auf, an Diabetes zu erkranken. Die genetische Ausstattung der untersuchten Personen erscheint in dieser Studie nicht mehr als inerte Substanz, die unverändert von Generation zu Generation weitergegeben wird, sondern sie ist durch epigenetische Effekte in ihrer Funktionsweise zeitlich und kontextuell geprägt. Das Genom – also die gesamte genetische Information eines Organismus – erweist sich als gegenüber Umwelteinflüssen sensibles ›Organ‹ mit intergenerationeller Erinnerung und es ist durch Umwelteinflüsse langfristig prägbar, indem bestimmte Sequenzen ein- oder ausgeschaltet werden. Dies ist der Fall in unterschiedlichen Zelltypen, die jeweils andere Funktionen im Organismus ausführen, aber auch

38 Gunnar Kaati/Lars O. Bygren/Sören Edvinsson: »Cardiovascular and diabetes mortality determined by nutrition during parents’ and grandparents’ slow growth period«, in: European Journal of Human Genetics 10 (2002), S. 682–688.

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dann, wenn Umwelteinflüsse die Funktionsweise genetischer Informationen beeinflussen, ein Effekt, der teilweise von Generation zu Generation weitergegeben, also epigenetisch vererbt werden kann.39 Die Summe dieser Gen-Zustände, die durch Ein- oder Abschalten erzeugt wird, wird als »Epigenom« bezeichnet. Mosche Szyf, Epigenetiker an der McGill University in Montreal, formuliert den aktuellen Forschungsstand wie folgt: »Im Gegensatz zum Genom ist das Epigenom […] relativ dynamisch und wird durch verschiedene Umweltfaktoren [vor allem durch Toxine und Ernährungsmuster, SB] während der fetalen und frühen postpartalen Entwicklung beeinflusst. Zwar ist die Mehrzahl der epigenetischen Markierungen während des Lebens wahrscheinlich stabil, ein Teil bleibt aber dynamisch.«40

Diese epigenetische Plastizität betrifft auch die Regulation von komplexen Verhaltensmustern, wie an bahnbrechenden Experimenten mit Ratten gezeigt werden konnte, bei denen ein gestörtes Brutpflegeverhalten der Elterntiere die Genexpression und Stressresistenz bei ihren Jungtieren nachhaltig veränderte.41 In allen Fällen sind epigenetische Mechanismen für diese auch intergenerationell vererbbaren Verhaltensunterschiede verantwortlich.42 Diese epigenetischen Mechanismen sorgen dafür, dass Umwelten tatsächlich ›unter die Haut gehen‹; hiermit wird ein sehr mächtiges Modell etabliert, das es zu erlauben scheint, eine ganze Reihe von bislang biochemisch nicht erklärbaren Phänomenen zu deuten.43 Es werden Zusammenhänge sichtbar gemacht – also: in einer spezifischen Form repräsentiert –, aus denen zugleich veränderte Eingriffs- und Interventionsstrategien in mögliche pathogene Zustände folgen. Dies

39 Barbara McClintock: »The Significance of Responses of the Genome to Challenge«, in: Science 226 (1984), S. 792–801; vgl. auch Rudolf Jaenisch/Adrian Bird: »Epigenetic regulation of gene expression: how the genome integrates intrinsic and environmental signals«, in: Nature Genetics Supplement 33 (2003), S. 245–254. 40 Moshe Szyf: » Dynamisches Epigenom als Vermittler zwischen Umwelt und Genom«, in: Medizinische Genetik 21 (2009), S. 7–13, hier S. 7. 41 Vgl. Moshe Szyf/Ian Weaver/Michael Meaney: »Maternal care, the epigenome and phenotypic differences in behavior«, in: Reproductive Toxicology 24 (2007), S. 9–19. 42 Vgl. etwa Anne C. Ferguson-Smith/Mary-Elizebeth Patti: »You Are What Your Dad Ate«, in: Cell Metabolism 13 (2011), S. 115–117; Michael K. Skinner: »Metabolic Disorders Fathers’ Nutritional Legacy«, in: Nature 467 (2010), S. 922–923. 43 Vgl. hierzu Jörg Niewöhner: »Epigenetics: Embedded bodies and the molecularisation of biography and milieu«, in: BioSocieties, advance online publication 13.6.2011.

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lässt sich gut an gegenwärtigen Debatten der Gesundheitspolitik und der publichealth-Experten um die »Epidemie der Adipositas« erläutern. Hier ist es der Begriff des »obesogenic evironments«,44 der momentan Karriere zu machen beginnt. Leitthese ist hier: Bisherige primär auf »Aufklärung« setzende, erzieherische oder pharmazeutische Maßnahmen, mit denen gegen die zunehmende Dickleibigkeit vor allem in den unteren Sozialschichten vorgegangen werden sollte, sind durchweg gescheitert, weil die Menschen vor allem in sozial benachteiligten Stadtteilen in Umwelten leben, in denen zu viel kalorienreiche Nahrung (sprich: Fast Food) und zu wenig Bewegungsmöglichkeiten verfügbar seien. Eine positive Verhaltensänderung sei nicht durch kognitive Interventionen, sondern nur durch eine radikale Veränderung des »food and nutrition environments«45 möglich. Dies kann einerseits als Wiederauferstehung alter Setting-Ansätze gedeutet werden, in denen vorausgesetzt wird, dass vor allem sozial benachteiligte Menschen nicht über die notwendige Selbstkontrolle verfügen, einen gesunden Lebensstil zu realisieren. Fehlt der Wille oder die notwendige Möglichkeit zur erfolgreichen, effektiven »Selbsteinwirkung«, dann helfe nur fürsorgliche »Fremdeinwirkung«, externalisierte Kontrolle und eine Manipulation der Handlungsbedingungen. Vor dem Hintergrund epigenetischer Modelle werden diese Annahmen des Setting-Ansatzes nochmals zugespitzt. Denn nun lässt sich auch spekulieren, dass es möglicherweise epigenetische Mechanismen seien, die Menschen veränderungsresistent machten: Lebensstil-Veränderungen scheitern hier nicht nur am ›schwachen Willen‹, sondern an durch Umwelteinflüsse gebahnten körperlichen Reaktionsmustern. Gesundheitspolitische Brisanz erhält diese Feststellung dann noch zusätzlich durch den epigenetischen Befund, dass etwa der Lebensstil der Eltern den weiteren Lebensweg und die Gesundheit ihrer Kinder noch im Mutterleib zu prägen beginnt. Gesundheitspolitische Interventionen können hieraus neues legitimatorisches Kapital schlagen – neben den neoliberalen Anspruch, dass Bürger zu einer Sorge um sich verpflichtet seien, tritt hier die neo-paternalistische Sorge um die nächsten Generationen.

44 Garry Egger/Boyd Swinburn: »An ›ecological‹ approach to the obesity pandemic«, in: British Medical Journal 315 (1997), S. 477–480; Boyd Swinburn/Garry Egger/Fezeela Raza: »Dissecting Obesogenic Environments: The Development and Application of a Framework for Identifying and Prioritizing Environmental Interventions for Obesity«, in: Preventive Medicine 29 (1999), S. 563–570. 45 Vgl. u. a. Amelia Lake/Tim Townshend: »Obesogenic environments: exploring the built and food environments«, in: The Journal of the Royal Society for the Promotion of Health 126 (2006), S. 262–267.

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E PISTEMISCHE D IALEKTIK UND DIE K O -K ONSTRUKTION VON P ATHOLOGIE UND S OZIALITÄT Mit etwas Distanz offenbart sich in den neueren Entwicklungen der Biomedizin ein dialektischer Prozess. So argumentieren etwa die beiden Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger in ihrer jüngsten Publikation, dass es ausgerechnet die reduktionistischen Forschungsstrategien der Molekularbiologie und Gentechnologie waren, die zunehmend eine »systemischere Sicht auf das Funktionieren, die Entwicklung und die Evolution der Organismen« erforderlich gemacht habe. Diese Diagnose erinnert an Canguilhems oben zitierte, hellsichtige Analyse der in den physikalistischen Reduktionismus der Lebenswissenschaften eingebauten Dialektik: Die immer weitere Molekularisierung der Biologie erzwinge als Gegenbewegung eine systemischere Sicht, die es erlaube, die Einzelbefunde wieder theoretisch zu integrieren. Doch MüllerWille und Rheinberger sehen die gegenwärtige Tendenz zur systemischen Perspektive nicht als Gegentendenz, sondern sie ergebe sich nun quasi naturwüchsig aus den reduktiven Strategien der Molekularbiologie. Momentan werde diese Tendenz noch weiter beschleunigt, weil die in den letzten Jahren entwickelte Technologie der DNA-Chips es ermögliche, Aktivitätsmuster von Zellen in Realzeit zu erheben und gleichsam Schnappschüsse der Dynamik des zellulären Stoffwechsels bei unterschiedlichen Umweltbedingungen der Zellen zu erstellen.46 Im Gegensatz zum Holismus oder der Psychosomatik des frühen 20. Jahrhunderts, die eine ganzheitlichere Sicht auf den Organismus forderten, ohne jedoch entsprechende physiologische Mechanismen aufzeigen zu können, wie die Umwelt auf körperliche Prozesse einwirkte, wird nun eine neue Phase eingeleitet, die eine nicht-spekulative, biochemisch fundiertere Sicht auf KörperUmwelt-Kopplungen ermöglicht. Begriffe wie Postgenomik, Epigenetik, Proteomik oder Organomik sowie der Versuch, zunehmend netzwerktheoretische oder emergenztheoretische Ansätze für die Modellbildung der Biologie einzusetzen, deuten an, dass es nicht mehr die Identifikation einzelner Gene, sondern deren multiple Funktion in dynamischen Stoffwechsel-Netzwerken ist, deren Verständnis zum leitenden Forschungsziel wird. Der Wissenschaftsphilosoph Lenny Moss fasst diese Tendenz prägnant unter dem Stichwort einer »Re-Kontextualisierung« des Genoms, das nun als offen gegenüber den inneren wie äußeren Milieus des Organismus ver-

46 Hans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-Wille: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzeptes, Frankfurt/M. 2009, S. 271f.

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standen werde.47 Auch diese Erkenntnis ist so neu nicht; schon in den 1980er Jahren definierten Biologen wie François Jacob48 oder Hans Mayr49 das Problem der biologischen Regulation von Organismen in wechselnden Umwelten als die zentrale Fragestellung der Biologie. Dabei argumentierten beide, dass sich Lebensprozesse nur unvollständig unter Rückgriff auf naturwissenschaftlichreduktionistische Theorien erklären ließen, weil Leben durch historische – individuelle wie kollektive – Entwicklung und Kontingenz ausgezeichnet ist. Biologen wie Jacob, Mayr oder Dubos verwiesen damit auf die Bedeutung des Faktors Zeit – im Sinne evolutionärer, genealogischer wie biografischer Entwicklung – für die Erklärung biologischer Phänomene, ein Zusammenhang, den sie in den dominanten reduktionistischen Experimentalpraktiken nur unzureichend reflektiert sahen. Rheinberger und Müller-Wille weisen jedoch zu Recht auf das Spannungsverhältnis zwischen reduktionistischen Laborpraktiken und denen mit ihnen produzierten wesentlich komplexeren epistemischen Objekten und Ontologien hin – eine unvermeidliche Dialektik epistemischer Praktiken. Vor allem bei Theorien zur Krankheitsentstehung – also in jenen materielldiskursiven Praktiken, in denen sickness erzeugt wird – wird dieser Zusammenhang offensichtlich. Martyn Pickersgill hat dies in einem sehr lesenswerten, kürzlich veröffentlichten Artikel am Beispiel von Forschungen zu Persönlichkeitsstörungen in der Verhaltensgenetik und den Neurowissenschaften herausgearbeitet. In beiden Feldern werde innerhalb eines reduktionistischen Programms gearbeitet, aber die ontologischen Annahmen der konkreten Studien seien notwendigerweise alles andere als einfach: »Die Entwicklung des Verhaltens und von Persönlichkeit wird als komplexer, multimodaler Prozess verstanden, der reziproke Interaktionen zwischen ganz unterschiedlichen Dimensionen des Biologischen und der Umwelt beinhaltet. Konzepte der Umwelt, wie sie von vielen Forschern angewandt werden, sind dabei weit gefasst, sie reichen von der zellulären Ebene bis zum sozio-ökonomischen Status.«50

47 Lenny Moss: »From Representational Preformationism to the Epigenesis of Openness to the World? «, in: Annals of the New York Academy of Sciences 981 (From Epigenesis to epigenetics: The genome in context) (2002), S. 219–229. 48 François Jacob: Das Spiel der Möglichkeiten. Von der offenen Geschichte des Lebens, München 1983. 49 Ernst Mayr: Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg, Berlin 1998. 50 Martyn Pickersgill: »Between Soma and Society: Neuroscience and the Ontology of Psychopathy«, in: Biosocieties 4 (2009), S. 45–60, hier S. 46.

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Allerdings sei zu konstatieren, dass die Modelle des Sozialen, die dabei von Biowissenschaftlern angewandt würden, oft extrem simpel und vereinfachend angelegt seien. Im Vergleich mit den Verständnissen sozialer Phänomene, wie sie in den Sozialwissenschaften entwickelt worden seien, kämen vor allem simplifizierte »Alltagskonzepte« des Sozialen zur Anwendung. Das entscheidende Argument von Pickersgill ist jedoch, dass Psychopathologien in diesem Forschungsparadigma nicht nur »neurologisiert«, sondern »die Psychopathen« im gleichen Schritt auch »ökologisiert« würden: Die Klassifikation von Individuen als »persönlichkeitsgestört« impliziere nicht nur, dass ihnen eine spezifische genetische und neurologische Disposition zugeschrieben werde, sondern eben auch, dass sie in einer Ökologie aus sozialen Strukturen, biografischen Erfahrungen und kulturell informierten Handlungsmustern situiert würden, Umweltfaktoren, die diese Dispositionen schließlich ins Pathologische transformierten. Pickersgill spricht hier den oben unter dem Begriff der sickness diskutierten Zusammenhang an, nämlich jene sozialen Prozesse, in denen Krankheit und Kranksein in je historischen Konstellationen und unter spezifischen kulturellen Umständen bestimmt werden. Dabei ist offensichtlich, dass diese »Ökologisierung der Pathologie« stets auch normative und normalisierte Vorannahmen über Gesellschaft und die Rolle von Individuen in ihr implizieren. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive sollte deshalb präziser von einer Sozialisierung oder Kulturalisierung der Pathologie beziehungsweise von einer KoKonstruktion des Pathologischen und des Sozialen gesprochen werden. Dabei ist der Begriff der Konstruktion durchaus wörtlich zu nehmen, denn spätestens dann, wenn aus den Befunden etwa der Neurowissenschaften Handlungsvorschläge für Interventionen in Therapie und Prävention abgeleitet werden, entfalteten die vorgeschlagenen Erklärungsmodelle reale Wirkungen im Alltag nicht nur direkt betroffener Menschen. Und spätestens dann erweisen sich die von Naturwissenschaftlern angewandten, wenig komplexen Verständnisse des Sozialen als fatal, da aus Deskription oft – wohlmeinende – Präskription abgeleitet wird: moralisch aufgeladene Handlungsanleitungen für die Kranken und ihr soziales Umfeld. Abschließend soll skizzenhaft gezeigt werden, welche Vorstellungen des Sozialen und welche Konzepte des Individuums in den verschiedenen, oben vorgestellten Ätiologien impliziert sind.

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K RANKHEIT , G ESELLSCHAFT UND VERANTWORTLICHE I NDIVIDUEN ALS W ISSENSOBJEKTE In Johannes Hofers Dissertation über das Heimwehe wird implizit eine ständische, frühmoderne Sozialität mit fester territorialer Bindung der Menschen entworfen, eine Gesellschaft, deren Individuen von den zunehmend durch Bildungsoder Arbeitsmobilität erzeugten Anforderungen und Zumutungen überfordert sind. Es sind »sensible« Individuen, die jedoch mit kulturellen Fremdheiten schlecht umgehen können und deshalb an ihren angestammten Orten – räumlich und sozial – bleiben sollen. Im Gegensatz dazu sehen medizinische Experten die krankmachende Realität in den groß angelegten epidemiologischen Studien der 1950er und 1960er Jahre bis hin zu den zitierten neueren epidemiologischen Untersuchungen zu Effekten sozialer Exklusion durch ein Klassen- oder Schichtsystem charakterisiert, in dem Aufwärts- und Abwärtsmobilitäten Überforderungsoder Zumutungssituationen erzeugen, die den Menschen ›unter die Haut gehen‹ und Krankheitsrisiken analog zur sozialen Schichtung verteilen. Chronischer Stress gilt dabei als fast zwangsläufiges Ergebnis zivilisatorischen Fortschritts und eines auf Leistungsdruck programmierten sozialen Systems: Es ist die Moderne, die krankmacht, weil die Gesellschaft den ›natürlichen‹ Bestrebungen der Individuen, sich zu entfalten, harte soziale Grenzen setzt. Zugleich aber wird den Einzelnen zugetraut – und zugemutet –, auf erkannte Risiken durch kluge Wahl alternativer Verhaltensweisen und eine Änderung des Lebensstils zu reagieren. Im Gegensatz hierzu ist die neuere Diskussion der public-health-Experten durch ein gespaltenes Gesellschaftsmodell charakterisiert: Im gesellschaftlichen Oben regiert Wahlfreiheit von lebensstilistischen Orientierungen, die Individuen treffen Entscheidungen, auf die durch (Gesundheits-)Information und Aufklärung eingewirkt werden kann. Im gesellschaftlichen Unten dagegen werden Dispositionen oder Lebensstile vermutet, die durch einen fatalen Fatalismus oder Unausweichlichkeiten geprägt sind. Aber anders als bei den durch das Risikomodell geprägten Diskussionen um soziale Erkrankungswahrscheinlichkeiten kommt in neueren epidemiologischen Studien hinzu – verschärft durch epigenetische Befunde wie den oben erwähnten –, dass nun Individuen nicht mehr nur für ihr eigenes gesundheitliches Schicksal verantwortlich gemacht werden, sondern auch für das ihrer Kinder und Kindeskinder. Prävention erhält durch die zunehmend belegten epigenetischen Effekte, durch die Krankheitsdispositionen intergenerational vererbt werden können, aus Sicht der Gesundheitspolitik und -vorsorge noch größere Dringlichkeit. Hieraus – so kann spekuliert werden – werden sich neue Eintritts- und Interventionspunkte für einen neuen Paternalismus ergeben, der sich nicht mehr nur in einer ›fürsorglichen Belagerung‹ der

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Unterschichten mit wohlmeinenden Empfehlungen für gesundes Essen oder mehr Bewegung erschöpft, sondern sich durchaus zutraut und legitimiert sieht, korrigierend und disziplinierend ein- und durchzugreifen unter Berufung auf die Sicherung der Gesundheit nicht nur der gegenwärtigen, sondern auch der zukünftigen Generation. Dies jedoch ist Zukunftsmusik – eine, die nicht durch große Harmonien charakterisiert sein wird. Für die Anthropologie ergibt sich hier – neben der selbstverständlichen Aufgabe, diese Entwicklungen ethnografisch in ihren Auswirkungen gerade auf gesellschaftlich marginale Gruppen genau zu beobachten, wie es gerade die internationale medical anthropology tut – noch eine weitere, nicht unwichtigere Aufgabe. Denn wenn die oben erläuterte These, dass Soziales und Kulturelles ›unter die Haut gehen‹ kann, berechtigt ist, dann ist sozialwissenschaftliche Expertise nicht nur bei der Frage gefordert, wie betroffene Risikogruppen definiert werden können – und zwar nicht entlang simpler, höchst problematischer ›ethnischer‹ Klassifikationen, sondern trennschärfer nach möglichen LebensstilMerkmalen oder tatsächlichen Risikolagen. Noch wichtiger erscheint zudem, dass sich die Frage, was mögliche Mechanismen eines ›unter-die-Haut-Gehens‹ sein könnten, nur in einer engen transdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Sozial- und Naturwissenschaften wird beantworten lassen. Nur so lassen sich – wie man es noch reichlich tentativ nennen könnte – sozial und kulturell situierte Biologien und Pathologien erkennen und gegebenenfalls vermeiden.

Der vermessene Geist Das Gedächtnis als biopsychologisches Konstrukt1 C HRISTOPH K EHL

Störungen von Gedächtnisfunktionen zählen bei etlichen psychiatrischen Krankheitsbildern zur Symptomatik. Auf der inoffiziellen Liste der Gedächtnispathologien stehen ›Volkskrankheiten‹ wie die Demenzen, die Depression oder Angststörungen, aber auch weniger verbreitete Krankheitsbilder wie die Schizophrenie oder Morbus Parkinson. Diese weit gefächerten Erkrankungen können gemäß einer klassischen Unterscheidung zwei Gruppen zugeordnet werden: Die eine Gruppe umfasst diejenigen Krankheiten, die wie die Demenzen auf sichtbaren hirnorganischen Läsionen beruhen; zu den anderen Krankheiten, die funktionell genannt werden, zählen Syndrome wie etwa die Posttraumatische Belastungsstörung, bei denen biologische Ursachen bislang nicht ausfindig gemacht wurden. Diese polare Kategorisierung, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, gilt für viele Experten jedoch als obsolet. Bereits im Jahre 1979 wurde sie vom späteren Nobelpreisträger Eric Kandel in einem Aufsatz mit dem irritierenden Titel »Psychotherapie und die einzelne Synapse« kritisiert.2 Sie laufe auf eine überholte Polarisierung zwischen Geist und Gehirn respektive Psychologie/Psychoanalyse und Neurobiologie hinaus, die durch neurobiologische Erkenntnisse nicht gestützt

1

Bei diesem Artikel handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung eines Kapitels meiner im Februar 2011 an der Philosophischen Fakultät I der HumboldtUniversität zu Berlin eingereichten Dissertation »Zwischen Gehirn und Geist. Zur Praxis und Theorie der biomedizinischen Gedächtnisforschung«.

2

Eric R. Kandel: »Psychotherapie und die einzelne Synapse«, in: Eric R. Kandel, Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, Frankfurt/M. 2006, S. 39– 67.

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sei, so Kandel. Stattdessen gelte in jedem Fall: »Was wir als unseren Geist verstehen, ist ein Ausdruck der Funktionsweise unseres Gehirns.«3 Bemerkenswerterweise stützte er seine Thesen mehrheitlich auf seine eigenen, von einem reduktionistischen Paradigma geleiteten Forschungen zu einfachsten Lernvorgängen bei der Meeresschnecke Aplysia ab – einem Haufen Schleim, wie seine Kritiker meinten. Was Kandel Ende der 1970er Jahre forderte – nämlich die neurobiologische Fundierung nicht nur von Krankheiten wie der Alzheimer-Demenz, sondern auch komplexen psychologischen Syndromen wie der Posttraumatischen Belastungsstörung –, scheint heute weitgehend Realität geworden. Ein Blick in die Laboratorien und Kliniken der biomedizinischen Gedächtnisforschung legt nahe, dass sich das Schisma zwischen Neurobiologie und Psychologie tatsächlich aufgelöst hat – und zwar zugunsten einer einseitigen biologischen Dominanz. Im Laufe der 1990er Jahre, das von dem US-Präsidenten Bush senior zum Jahrzehnt des Gehirns ausgerufen wurde, revolutionierten sich die technologischen Verfahren, und in der Folge haben sich die Bestrebungen weiter verstärkt, psychische Störungen zu Erkrankungen des Gehirns umzudeuten. Psychiater greifen heute in aller Regel auf bildgebende Verfahren und pharmakologische Interventionen zurück, um traditionell psychische Krankheitsbilder zu untersuchen und zu behandeln. Die Entwicklung hin zu reduktionistischen, experimentellen sowie evidenzbasierten Methoden ist Teil einer umfassenderen Dynamik, welche die Medizin und Lebenswissenschaften insgesamt erfasst hat. Im Bereich der biomedizinischen Gedächtnisforschung hat dieser Wandel jedoch eine besondere Tragweite, denn dieses Forschungsgebiet kann als eine der relevanten Arenen bezeichnet werden, wo die Grenzziehungen zwischen Geist und Körper immer wieder neu ausgelotet und definiert werden. Am Beispiel der Gedächtnisforschung zeigt sich besonders deutlich, dass Psychologie, Psychiatrie und Psychoanalyse – die sogenannten »Psy-Disziplinen«4 – ihre historisch begründete Deutungshoheit über das Selbst weitgehend eingebüßt haben, was der berühmte Emotionsforscher Joseph LeDoux im folgenden Zitat exemplarisch auf den Punkt bringt: »Few research topics in neuroscience have been more successful than the study of the brain mechanisms of memory, and its companion, learning. If the self is encoded as memories, then we have a way of beginning to under-

3

E. R. Kandel, »Psychotherapie und die einzelne Synapse«, S. 65.

4

Nikolas Rose: Inventing Our Selves: Psychiatry Power and Personhood, Cambridge/New York 1996.

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stand how the self is established and maintained in the brain.«5 Zu beobachten ist also, dass das »psychologische Selbst«6 zunehmend durch das »pharmazeutische Selbst«7 respektive das »neurochemische Selbst«8 oder den »Homo cerebralis«9 verdrängt wird. Der Trend der Biomedikalisierung und die damit verbundene NeuroIdeologie manifestieren sich in methodisch-technologischen, konzeptionellen und institutionellen Verschiebungen. Biotechnologien wie die funktionelle Bildgebung haben längst auch in den psychologischen Arbeitsalltag Einzug gehalten und augenfällig ist, dass immer mehr (Neuro-)Psychologen in den Chor der Biologisierung einstimmen. Heißt das, dass im Zuge dieser Dynamik die Psychologie und ihre Errungenschaften weitgehend obsolet geworden sind? Dies ist die Frage, der ich im Folgenden auf der empirischen Grundlage von etwa 20 Experteninterviews und der einschlägigen Fachliteratur nachgehen werde.10 Dabei kombiniere ich eine praxistheoretische und eine historisch-epistemologische Perspektive, die sich beide durch eine große Sensibilität gegenüber den praktischen Kontexten von Wissen auszeichnen, dabei jedoch unterschiedliche Zeitskalen erfassen. Analyseansätze aus dem Bereich der »Science and Technology Studies« (STS) eignen sich besonders dazu, die Mikrostruktur der Forschungspraxis, etwa die experimentellen Routinen und Abläufe, zu beschreiben. Historische Untersuchungsprogramme, etwa die im deutschsprachigen besonders durch Hans-Jörg Rheinberger prominent vertretene Historische Epistemologie, fragen hingegen nach den »historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden«11. Im Folgenden werde ich mir den historischen Blickwinkel in Verbindung mit STS-Konzepten zunutze machen, um vor dem Hintergrund der aktuellen Biologisierungsdynamik die for-

5

Joseph LeDoux: »The Self: Clues From the Brain.«, in: Annals of the New York Academy of Sciences 1001 (2003), S. 295–304, hier S. 298.

6

N. Rose: Inventing Our Selves, S. 7.

7

Joseph Dumit: »Is it Me Or My Brain? Depression and Neuroscientific Facts«, in:

8

Nikolas Rose: »Neurochemical Selves«, in: Society 41 (2003), S. 46–59.

9

Michael Hagner: Homo Cerebralis, Frankfurt/M. 2008.

Journal of Medical Humanities 24 (2003), S. 35–47.

10 Die Experteninterviews wurden von 2007 bis 2009 durchgeführt. Die Gesprächspartner stammten hauptsächlich aus den Bereichen Demenzforschung und Traumaforschung. Ausgewertet wurden die Interviews mithilfe von qualitativen Verfahren, die an die Analysemethode der Grounded Theory angelehnt sind. 11 Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 11.

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schungspraktische Relevanz psychologischer Methoden und Konzepte herauszuarbeiten. Ich werde argumentieren, dass das psychologische Methodenarsenal dem epistemischen Objekt »Gedächtnis« bis heute seine wesentlichen Konturen verleiht. Meine zentrale These lautet: Die Psychologie und ihre Verfahren sind nicht nur mannigfaltig in biologische Forschungspraktiken involviert – sie bilden darüber hinaus eine tragende Säule des Feldes, insofern als sie die »Translation« des ephemeren Gegenstandes »Gedächtnis« in ein messbares, klar definiertes und damit wissenschaftliches Objekt garantieren.

D IE R OLLE

DER

P SYCHOLOGIE

Die Gedächtnisforschung ist ein hochgradig multidisziplinärer Bereich – bei einem Blick in die weit gefächerte Fachliteratur offenbart sich eine überwältigende, babylonische Vielfalt an Spezialisten mit ihren spezifischen Untersuchungsmethoden und Analyseebenen. Dazu gehören Verhaltensbiologen, Neurobiologen, Elektrophysiologen, Molekularbiologen, Humangenetiker, Systembiologen, kognitive Neurowissenschaftler, Kulturwissenschaftler und Historiker, Neuropsychologen, klinische Psychologen, Psychiater und neuerdings Bioinformatiker und Biophysiker. Angesichts dieser heterogenen Forschungslandschaft stellt sich die Frage, ob sich verbindende Methoden, Konzepte oder Objekte ausfindig machen lassen, welche die Rede von einem gemeinsamen Forschungsfeld rechtfertigen. Unbezweifelbar ist, dass sich das Gehirn als ein zentrales Referenzobjekt der Forschungsbemühungen herauskristallisiert hat.12 Ein genauerer Blick zeigt aber, dass auch psychologische Methoden ein integraler Bestandteil biomedizinischer Forschungsprogramme zum Gedächtnis bilden. Der Neurobiologe Carsten Wotjak, Leiter einer präklinischen Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, hält Psychologen13 aus folgendem Grund für unverzichtbar: »Ich schätze an ihnen sehr, dass sie gut rechnen können und Statistik beherrschen. Das können sie weitaus besser als die Biologen, weil sie das natür-

12 Vgl. etwa Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung: Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004. 13 Die Psychologie ist eine sehr heterogene Disziplin. Während sich in Deutschland viele Psychologen als Geisteswissenschaftler in freudscher Tradition verstehen, zählen sie sich in den USA und England zu den Naturwissenschaften. Wenn ich im Folgenden von den Psychologen spreche, beziehe ich mich auf diese zweite Gruppe, die auch hierzulande an Einfluss gewinnt.

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lich von der Pike auf lernen. Wir machen das gut. Aber die Psychologen sind besser geschult.« (Interview Wotjak) Für Wotjak setzt die Durchführung von Tierexperimenten konzeptionelle und methodische Kompetenzen voraus, über die entsprechend geschulte Psychologen in besonderer Weise verfügen. Aus diesem Grund beschäftigt er in seiner Arbeitsgruppe gerne Mitarbeiter, die einen psychologischen Hintergrund haben. Auch der Humangenetiker Andreas Papassotiropoulos, Leiter der Abteilung für Molekulare Psychologie an der Universität Basel, betont die wichtige Rolle der Psychologie. Für ihn bilden psychologische Konstrukte den zentralen Anknüpfungspunkt seiner Arbeit, zumindest wenn sie »ein fassbares neuronales Korrelat haben«. Er sagt: »Manchmal sehen sich die Psychologen durch den Einzug der Biologie gefährdet. Das ist Unsinn. Eigentlich sind sie wichtiger denn je […].« Papassotiropoulos fügt hinzu: »Genetik, und das sage ich immer auch meinen Studenten, Genetik steht und fällt mit dem Phänotyp. Sie können alles mit allem korrelieren. Alles steckt im Phänotyp, und da müssen sie einfach möglichst so gut gemessen haben, dass sie sich sicher sind, dass sie das Konstrukt richtig erfasst haben. [...] Man untersucht oft die Biologie, und die molekularen Maschinerien, aber letztlich ist es der Phänotyp, der wichtig ist, nicht nur die Genetik.« (Interview Papassotiropoulos)

Solche Aussagen weisen darauf hin, dass die Bedeutung von Psychologen für Wissenschaftler vom Schlage Papassotiropoulos’ oder Wotjaks darin liegen könnte, ihnen möglichst standardisierte Verfahren an die Hand zu geben, mit denen Gedächtnis operationalisierbar gemacht wird. In diesem Sinne sind Psychologen – vor allem aber ihre elaborierten Methoden – »wichtiger denn je, um uns zu helfen, die Merkmale möglichst gut zu bestimmen« (Interview Papassotiropoulos). Die scheinbar paradoxe Konsequenz, die ich im Folgenden genauer untersuchen werde, lautet: Je biologischer ausgerichtet die Forschungspraktiken der Gedächtnisforschung sind, desto abhängiger sind sie von präzisen psychometrischen Verfahren. Translationen: Die Konstruktion des objektiven Gedächtnisses Psychometrische Verfahren sind in der Gedächtnisforschung allgegenwärtig. Im klinischen Bereich sind sie zur diagnostischen Abklärung von Menschen mit Gedächtnisstörungen unverzichtbar und in der Grundlagenforschung werden sie etwa dazu benutzt, um die Auswirkungen experimenteller Läsionen auf die Kognition von Versuchstieren abzuschätzen. Es handelt sich jeweils um hoch diffe-

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renzierte Messverfahren, die je nach Anwendungskontext spezialisiert und auf die spezifischen Bedürfnisse und Anforderungen ihrer Probanden eingestellt sind;14 es liegt auf der Hand, dass ein Test, der bei Demenzpatienten im fortgeschrittenen Stadium zum Einsatz kommt, anders aufgebaut sein muss als ein Test, mit dem man die Gedächtnisleistung von PTSD-Patienten oder Mäusen zu bestimmen versucht. Neben den vielen Unterschieden in Aufbau und Ablauf gibt es jedoch eine wichtige Gemeinsamkeit: Alle diese Messparadigmen haben das gemeinsame Ziel, unterschiedliche Facetten des Gedächtnisses abzugrenzen, zu definieren und zu vermessen. Alle basieren sie auf der Hoffnung, »dass man kognitive Funktionen genauso quantifizieren kann wie zum Beispiel die Filtrationsrate der Niere oder die Pumpleistung des Herzens« (Interview Ploner). Die »objektive Quantifizierung« von Gedächtnis, die hier angesprochen wird, bildet einen Eckpfeiler der modernen Gedächtnisforschung. Zwar gilt dies nicht primär für ›weiche‹ Forschungszweige wie etwa die Psychoanalyse, die auf qualitative Methoden setzen, aber auf jeden Fall für ›harte‹, experimentell orientierte Untersuchungen, die immer mehr dominieren. Papassotiropoulos’ humangenetisches Forschungsprogramm, mit dem er Variabilitäten im Genotyp mit Variabilitäten im Phänotyp zu korrelieren versucht, hängt von der Verfügbarkeit genauer quantitativer Daten zur Gedächtnisleistung ab. Auch Carsten Wotjak, der tierexperimentell arbeitet, ist darauf angewiesen, dass er die Lernleistung seiner Versuchstiere möglichst exakt evaluieren kann. Psychologische Messinstrumentarien, die Gedächtnis als numerischen Gegenstand fassbar machen, bilden insofern integrale Bestandteile insbesondere biologisch ausgerichteter Forschungspraktiken. Das entsprechende psychologische Methodenarsenal ist heute so etabliert, dass es kaum noch hinterfragt wird. Es hat jedoch eine komplizierte Vorgeschichte und war nicht immer so unangefochten, wie es jetzt erscheint. Kurt Danziger hat in seiner historischen Studie zur Emergenz der Psychologie darauf aufmerksam gemacht, dass quantitative Verfahren von den Psychologen des 19. Jahrhunderts in erster Linie als identitätsbildendes Merkmal entwickelt wurden, um die Wissenschaftlichkeit und Objektivität des heterogenen Faches sicherzustellen: »Quantification seemed to mark psychology as one of the exact sciences and to distinguish it sharply from such questionable pursuits as philoso-

14 Zwei Beispiele: Ein weitverbreitetes klinisch-neuropsychologisches Standardverfahren ist die Wechsler-Memory-Scale, die gerne zur allgemeinen Diagnose von Gedächtnisstörungen verwendet wird. Erfasst wird in diversen Untertests neben allgemeinen Gedächtnisfunktionen vor allem das verbale Gedächtnis. Ein wiederum speziell auf die experimentelle Tierforschung abgestimmtes Paradigma ist der Morris Water Maze, mit dem das räumliche Gedächtnis bei Nagern untersucht wird.

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phy and spiritualism, with which it had been popularly associated.«15 Auch andere Wissenschaftshistoriker wie Nikolas Rose16 oder Ian Hacking17 haben die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine kritische Zeitphase eingestuft, in der sich die psychologischen Konzeptionen und Technologien des Selbst entwickelten, deren Einfluss noch heute wirksam ist. Das Gedächtnis wurde damals von einem Objekt philosophischer Reflexion in einen wissenschaftlichen Gegenstand verwandelt. Es wurde kalkulierbar und messbar gemacht. Das genuin Psychologische an den neuen Messverfahren bestand darin, dass Individualität und Subjektivität nicht mehr über körperliche Merkmale erfasst wurden, ein Ansatz, der im 19. Jahrhundert als Schädelkunde oder Phrenologie in der Hochblüte stand.18 Dabei musste allerdings eine Lösung für das Problem gefunden werden, wie es möglich ist »to impose a numerical form on psychological attributes«19. Für das Gedächtnis beschäftigte sich Hermann Ebbinghaus (1850–1909) als Erster eingehend mit diesem Problem und entwickelte die methodologischen Grundprinzipien, »that remains the prototype for memory research«20. Ebbinghaus sah die Aufgabe der psychologischen Gedächtnisforschung darin, allgemeine Gesetze über ihren Gegenstand zu ermitteln, also im Grunde nicht anders als Chemiker und Physiker mit ihren Objekten verfahren. Seinen revolutionären Lösungsansatz, der auf Jahren solitärer Forschungsarbeit beruhte, hat er 1885 in »Über das Gedächtnis« dargelegt. Ebbinghaus schuf eine streng experimentelle Prozedur, anstatt sich, wie zuvor üblich, um autobiografische Alltagserfahrungen zu kümmern. Er fokussierte strikt auf objektiv feststellbare Lernleistungen und blendete das mentale, subjektive Erleben komplett aus. In endlosen Selbstversuchen legte er sich Reihen von sinnlosen Silben vor, memorierte sie und versuchte sich nach einer gewissen Zeit daran zu erinnern, um

15 Kurt Danziger: Constructing the Subject: Historical Origins of Psychological Research, Cambridge/New York 1990, S. 147. 16 N. Rose: Inventing Our Selves. 17 Ian Hacking: »Memory Sciences, Memory Politics«, in: Paul Antze/Martin Lambek (Hg.), Tense Past. Cultural Essays in Trauma and Memory, New York 1996, S. 67– 88. 18 Vgl. Stephen J. Gould: Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt/M. 1988. 19 K. Danziger: Constructing the Subject, S. 136. 20 Robert S. Lockhart: »Methods of Memory Research«, in: Fergus I. M. Craik/Endel Tulving (Hg.), The Oxford Handbook of Memory, New York 2000, S. 45–57, hier S. 45.

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sich schließlich die Erfolgsquote zu notieren.21 So gelang es ihm, seine Gedächtnisleistung so objektiv wie nur möglich zu bestimmen. Auch moderne, elaboriertere Testverfahren bauen in ihren Grundzügen auf diesen Prinzipien auf.22 Gemessen wird in der Regel eine objektiv feststellbare Verhaltensreaktion der Versuchsperson, die abhängige Messvariable, während der Stimulus (die unabhängige Variable), der diese Aktivität auslöst, vom Experimentator beliebig kontrollierbar ist und ebenfalls eine quantitative Struktur aufweist. Durch die Variation des Stimulusmaterials oder der Testbedingungen kann so nach allgemeinen Regularitäten, psychologischen Gesetzen des Erinnerns und Vergessens gesucht werden.23 Der revolutionäre Paradigmenwechsel, der von Ebbinghaus eingeleitet wurde, bestand also darin, Gedächtnis im Rahmen eines experimentellen Settings an objektiv feststellbaren Leistungen zu messen. Komplexität wird reduziert und Subjektivität in Objektivität transformiert. Erinnern und Vergessen, vielschichtige, mit kulturellen Vorstellungen aus Jahrhunderten aufgeladene Phänomene, schrumpfen auf die Größe von Protokollbögen und Messtabellen, die bestenfalls sogar in einem kleinen, handlichen Testkoffer Platz finden. Aus Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie betrachtet, leisten die entsprechenden psychometrischen Verfahren nichts weniger als die »Translation«24 von Gedächtnis in ein messbares, klar definiertes und damit wissenschaftliches Objekt. Als Translation wird die Verschiebung einer offenen Kontroverse in ein stabiles sozio-technisches Netzwerk bezeichnet, das die Wurzeln seiner eigenen Geschichte und Kontingenz verhüllt. Gedächtnistests stellen in diesem Sinne Mini-Laboratorien »for the inscription of difference« dar: flexibel einsetzbare Standardverfahren, in deren Rahmen Gedächtnis »thinkable«, »visible«, »inscribable« und »assessable« gemacht wird.25

21 Vgl. Andreas Hartmann: »Die Fiktion vom semantischen Vakuum. Zum psychologischen Gedächtnisexperiment der Jahrhundertwende«, in: Michael Hagner/Hans-Jörg Rheinberger/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Objekte, Differenzen, und Konjunkturen: Experimentalsysteme im historischen Kontext, Berlin 1994, S. 107–120. 22 Vgl. R. S. Lockhart: »Methods of Memory Research«. 23 Die Ebbinghaus’sche Vergessenskurve ist das wohl bekannteste Ergebnis dieser Forschungsbemühungen. 24 Michael Callon: »Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St. Brieuc Bay«, in: Mario Biagioli (Hg.), The Science Studies Reader, New York 1999, S. 67–83. 25 Nikolas Rose: »Calculable Minds and Manageable Individuals«, in: History of the Human Sciences 1 (1988), S. 179–200, hier S. 192.

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Die resultierenden Messverfahren und -daten zirkulieren in völlig unterschiedlichen Forschungskontexten, was neben der Komplexitätsreduktion auf eine weitere wichtige Funktion von Gedächtnistests hinweist: In einem so fragmentierten und heterogenen Forschungsfeld wie der Gedächtnisforschung fungieren sie als eine Art interface, das Akteure mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Interessen zusammenführt und interdisziplinäre Kooperationen ermöglicht. Dieses Potenzial hängt mit ihrer hybriden methodisch-theoretischen Struktur zusammen, welche die Wissenschaftsforscherin Joan Fujimura als wesentliche Eigenschaften sogenannter »Standardized Packages« bestimmt hat.26 Am Beispiel der frühen amerikanischen Krebsforschung hat Fujimura gezeigt, wie weder theoretische Festlegungen noch methodische Standardisierungen allein, sondern erst die Kombination dieser beiden Aspekte in einem standardisierten »Package« einem Forschungszweig wie der »oncogene theory« zum Durchbruch verhalf. Ähnliches lässt sich auch für den Bereich der Ge dächtnisforschung feststellen: Als operationale Definitionen legen Gedächtnistests nicht nur fest, was gemessen wird, sondern vor allem auch, wie das Konstrukt gemessen werden soll. Aufgrund ihrer hybriden Struktur, die methodische und theoretische Festlegungen zusammenbindet, bieten sie einen vielseitigen Anknüpfungspunkt für Akteure aus den biologischen und psychologischen Wissenschaftsbereichen. Insbesondere für Forscher wie Papassotiropoulos oder Wotjak, die in erster Linie an der Biologie des Gedächtnisses interessiert sind, sich aber nicht um methodisch-konzeptionelle Detailfragen der Psychologie kümmern wollen, definieren die Testverfahren so einen flexiblen »technical and conceptual workspace«27. Flexibel deshalb, weil sie wegen der Abstraktheit der theoretischen Festlegungen relativ problemlos an unterschiedliche Forschungskontexte adaptierbar sind. Vor allem aber sind psychologische Konstrukte an (mehr oder weniger) standardisierte technische Verfahren gekoppelt. Mithilfe dieser Werkzeuge können alte Problemstellungen in methodischer Hinsicht auf

26 Standardized Packages dienen gemäß Fujimura als eine Art »gray box«, »which define a conceptual and technical work space […] in ways which further restrict and define each object« (Joan Fujimura: »Crafting Science: Standardized Packages, Boundary Objects, and ›Translation‹«, in: Andrew Pickering (Hg.), Science as Practice and Culture, Chicago 1992, S. 168–211, hier S. 176). Gemäß Fujimura soll das PackageKonzept das Translationskonzept der ANT sinnvoll weiterentwickeln, das zu einseitig auf die Stabilisierung von Fakten fokussiert sei. Es habe den Vorteil, so Fujimura, besser erklären zu können, wie Fakten in komplexen, heterogen strukturierten Feldern stabilisiert werden. 27 J. Fujimura, »Crafting Science«, S. 176.

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neue Weise bearbeitet und gleichzeitig innovative Fragestellungen entwickelt werden, ohne die Stabilität und Integrität der bestehenden neurobiologischen Forschungsprogramme zu riskieren. Psychometrische Verfahren stellen, mit anderen Worten, die diversen Regionen des Forschungsfeldes in einen gemeinsamen Forschungshorizont, ohne diesen Horizont allzu strikt zu definieren.

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VIELE ? D IE D EKONSTRUKTION DES OBJEKTIVEN G EDÄCHTNISSES Der letzte Abschnitt hat gezeigt, wie das Gedächtnis – ein diffuses, von soziokulturellen Einflüssen und vielfältigen Metaphern28 geprägtes Phänomen – als stabiles Wissenschaftsobjekt konstruiert wurde. Psy-Wissenschaftler haben diesen Gegenstand mithilfe experimenteller Prozeduren in etwas übersetzt, was zahlenmäßig repräsentiert und (möglicherweise) gesetzmäßig erklärt werden kann. Ihre Forschungsbemühungen spielen sich nicht nur auf der Ebene beobachtbarer Daten ab, sondern um diese Daten überhaupt zu generieren, müssen umfassende Maßnahmen ergriffen werden: Unter der Datenoberfläche entspinnt sich ein weit gespanntes soziotechnisches Netzwerk zwischen verschiedenen Akteuren, Artefakten, Prozeduren etc. Die psychologischen Errungenschaften bilden bis heute das Rückgrat der quantitativ ausgerichteten Gedächtnisforschung. Aber sind grundlegende Zweifel an der wissenschaftlichen Objektivität der Gedächtnisforschung nicht durchaus angebracht? Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie trügerisch Erinnerungen sind und wie stark die Gedächtnisleistung von vielfältigen Einflüssen abhängt. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist diese Objektivität tatsächlich äußerst fragil und immanent bedroht. Die reifizierende Rede vom Gedächtnis suggeriert, dass man es hier mit einem gegenständlichen wissenschaftlichen Objekt zu tun habe. Als »techniques for the disciplining of human difference«29 sind psychometrische Verfahren jedoch in erster Linie mit dem Management von Subjekten befasst. Sie geben Informationen darüber, wie die Leistung des Einzelnen vor dem Hintergrund einer statistisch ermittelten Norm zu beurteilen ist, wie das folgende Zitat pointiert verdeutlicht: »Wenn unsere Abteilung bei einer Person die Gedächtnisleistung testen soll, dann verwenden wir dazu Standardgedächtnistests. Zu jedem dieser Gedächtnistests existieren Normwerte und wir wissen dann, zum Beispiel wenn

28 Vgl. Douwe Draaisma: Metaphors of Memory: A History of Ideas About the Mind, Cambridge/New York 2000. 29 N. Rose: »Calculable Minds«, S. 187.

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jemand nur drei von zwölf Worten behält, dass das außerhalb der Norm ist.« (Interview Jelinek) Dieses »managing of difference«30 beruht, wie weiter oben gezeigt, gerade nicht auf der Erfassung physiologischer Merkmale, sondern experimentelle und statistische Methoden werden auf Verhaltensphänomene angewendet. Dass die Objekte der Forschung nun aber Subjekte sind und keine leblosen Objekte, bringt spezifische Probleme mit sich: Einige Personen haben durch ihre Biografie einen Vorteil bei der Lösung bestimmter Testaufgaben erworben, was das Messergebnis verfälschen und im klinischen Bereich zu falsch positiven oder falsch negativen Diagnosen führen kann. So schneidet »der Buchhalter [beim Merken von Zahlen] halt besser ab als derjenige, der sein Leben lang nicht mit Zahlen gearbeitet hat« (Interview Riepe). Ein Test, der Gedächtnis zu messen vorgibt, erfasst in solchen Fällen ganz andere Kompetenzen – in dem Buchhalter-Beispiel nämlich die Fähigkeit, mit Zahlen umzugehen. Dazu kommt, dass Individuen sich den Testanordnungen willentlich oder unwillentlich widersetzen können. Einige sind während des Tests unkonzentriert, etwa weil sie schlecht geschlafen haben. Andere sind wenig motiviert, einen Test überhaupt durchzuführen. Wieder andere fühlen sich durch die Testsituation unter psychischen Druck gesetzt. Lena Jelinek zieht daraus die folgenden methodischen Schlussfolgerungen: »Die Leistung einer Person in einem Gedächtnistest ergibt sich nicht nur aus der reinen Gedächtnisleistung. Nein, man muss sich aus meiner Sicht auch andere Faktoren, zum Beispiel die Konzentrationsleistung anschauen. Wenn jemand sich gar nicht konzentrieren kann, kann schwer die Gedächtnisleistung überprüft werden. […] In unseren Studien versuchen wir daher, zumindest ein Konzentrationsmaß zu erheben und das mit zu berücksichtigen.« (Interview Jelinek)

Eine andere Möglichkeit, auf diese Herausforderung zu reagieren, besteht darin, die Testprotokolle so anzupassen, dass etwa der Einfluss von Konzentration und Motivation sich statistisch herausfiltern lässt. Doch solche Verfahrenstricks sind nur bis zu einem gewissen Grad erfolgreich und lösen nicht das grundlegende Problem, dass »es [insgesamt] wohl Tausende von Faktoren [sind], die die Gedächtnisleistung mitbestimmen und somit zur inter- und auch intraindividuellen Variabilität der Gedächtnisleistung beitragen« (Interview de Quervain).

30 Ebd., S. 187.

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Vom Gedächtnis zu den Gedächtnissystemen Einflussreiche Psychologen zeigen sich inzwischen davon überzeugt, dass Testergebnisse so kontextsensitiv sind, dass sie sich nicht verallgemeinern lassen. Mittels Gedächtnistests erhobene Daten sind nicht nur abhängig von den myriaden, teilweise unbekannten Bedingungen, unter denen der Test durchgeführt wird, sondern auch von den Probanden (Alter, Ausbildung, ihrer psychischen und physischen Konstitution etc.) oder dem verwendeten Paradigma. Auf diesen Umstand weist der Psychologe Henry L. Roediger III hin,31 selber ein wichtiger Vertreter seines Fachs. Sein aufschlussreicher und detaillierter Überblicksartikel mit dem Titel »The Relativity of Remembering« bietet einen aufschlussreichen Einblick in die Methodologie der psychologischen Gedächtnisforschung. Seine These: Allgemeingültige Gesetze des Erinnerns und Vergessens seien bislang nicht entdeckt worden und es werde sie wahrscheinlich niemals geben. Bisher hätten sich noch zu jeder scheinbaren Regularität Ausnahmen finden lassen, denn Generalisierungen seien immer nur relativ zu bestimmten Testparadigmen und zu bestimmten Testbedingungen zulässig, aber nicht darüber hinaus. Die einzige Generalisierung, die im Bereich der psychologischen Gedächtnisforschung möglich sei, laute folglich: »It depends.« Was Roediger damit in Zweifel zieht, ist nichts weniger, als dass es sich beim Gedächtnis um ein singuläres, scharf umgrenztes und gesetzmäßig erklärbares Objekt handelt, über das es universale Wahrheiten zu gewinnen gibt. Vor dem Hintergrund, dass genau dies die Überzeugung vieler experimenteller Psychologen seit Ebbinghaus war, birgt die These einige Sprengkraft. Um sie zu begründen, verweist Roediger unter anderem auf zwei aneinander gekoppelte Entwicklungen, die ab den 1960er Jahren einsetzen und die er für dramatisch hält: Nämlich einerseits »the proliferation of different methods of testing memory« und zweitens »the explosion of different kinds of memory that have been postulated«32. Als einen Markstein dieser Dynamik hat Roediger die Forschungen der Psychologen Lawrence Weiskrantz und Elizabeth Warrington identifiziert.33 Die beiden Wissenschaftler hatten zu ihrem Erstaunen festgestellt, dass schwere

31 Henry L. Roediger III: »Relativity of Remembering: Why the Laws of Memory Vanished«, in: Annual Review of Psychology 59 (2008), S. 225–254. 32 Ebd., S. 235. 33 Elizabeth K. Warrington/Lawrence Weiskrantz: »New Method of Testing Long-Term Retention With Special Reference to Amnesic Patients.«, in: Nature 217 (1968), S. 972–974; Elizabeth K. Warrington/Lawrence Weiskrantz: »Amnesic Syndrome: Consolidation or Retrieval«, in: Nature 228 (1970), S. 628–630.

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Amnestiker bei bestimmten Gedächtnistests nicht schlechter abschneiden als gesunde Kontrollpersonen. Dies galt nicht nur für motorische Fertigkeiten, wie man durch intensive Studien mit dem Patienten H.M.34 bereits wusste.35 Nein, interessant war, dass dies auch für das Lernen fragmentierter Wörter und Bilder galt, die von ansonsten amnestischen Personen über Tage und Wochen wiedererkannt wurden. Die Tatsache, dass »amnesic subjects are not so forgetful as was once thought«,36 ließen Zweifel daran aufkommen, ob es sich beim Gedächtnis wirklich um ein psychologisch klar konturiertes Objekt handele, wie man bislang gedacht hatte. Warrington und Weiskrantz hielten zwar trotz der auffälligen Messanomalien in ihren Studien noch an der psychologischen Einheit des Gedächtnisses fest,37 andere zogen daraus aber den Schluss, dass das Gedächtnis nicht nur in zeitlicher, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht (Art der verarbeiteten Information) in mannigfaltige Subsysteme zerfällt. Durch einen verbreiterten theoretischen Fokus (autobiografisches Gedächtnis etc.) sowie Hand in Hand mit der Verfeinerung und weiteren Entwicklung von Gedächtnistests explodierte ab 1979 die Anzahl der Gedächtnissysteme: Zuerst wurden verschiedene duale Taxonomien postuliert,38 die alle eine zentrale Unterscheidung beinhalteten: Sie trennten Gedächtnisformen, die an den bewussten und intentionalen Abruf von Information gebunden sind (explizites Gedächtnis), von solchen, die den Erwerb

34 Der im Jahre 2008 verstorbene Henry Gustav Molaison – weltweit bekannt unter dem Akronym H.M. – litt an starken epileptischen Anfällen, woraufhin ihm in jungen Jahren beidseitig große Teile des mittleren Schläfenlappens entfernt wurden. Nach der Operation trat bei ihm eine schwere anterograde Amnesie auf: Das heißt, nach dem Eingriff konnte er sich nichts mehr merken, obwohl er sich überdurchschnittlich gut an Ereignisse vor der Operation erinnern konnte. H.M. avancierte im Laufe der Jahrzehnte zum berühmtesten Forschungssubjekt der Gedächtnisforschung und gilt als ein zentraler Wendepunkt der Disziplin. 35 Brenda Milner/Suzanne Corkin/Hans-Lukas Teuber: »Further Analysis of the Hippocampal Amnesic Syndrome: Fourteen Year Follow-Up Study of HM«, in: Neuropsychologia 6 (1968), S. 215–234. 36 E. Warrington/L. Weiskrantz, »Amnesic Syndrome: Consolidation Or Retrieval«, S. 628. 37 Vgl. H. L. Roediger: »Relativity of Remembering«. 38 Daniel L. Schacter/Endel Tulving: Memory Systems 1994, Cambridge USA 1994; Daniel L. Schacter/Anthony D. Wagner/Randy L. Buckner: »Memory Systems of 1999«, in: Fergus I. M. Craik/Endel Tulving (Hg.), The Oxford Handbook of Memory, New York 2000, S. 627–643.

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unbewusster Lerneffekte umfassen (implizites Gedächtnis).39 Eine Blüte von Studien zum impliziten Gedächtnis in den 1980er und 1990er Jahren führte zu neuen Klassifikationsvorschlägen und einer weiteren Multiplizierung und Verfeinerung der Konstrukte.40 In der Psychologie derzeit weitgehend etabliert ist Endel Tulvings Klassifikationsschema, das fünf hierarchisch organisierte Systeme beinhaltet.41 Kurzum, das epistemische Objekt »Gedächtnis« ist von der Bildfläche verschwunden und durch sich konstant ausdifferenzierende Gedächtnissysteme ersetzt worden. Dem Ausdifferenzierungsprozess liegt die folgende Logik zugrunde:42 Wenn zwei Tests, von denen man annimmt, dass sie das gleiche Gedächtniskonstrukt herausgreifen, bei einem Subjekt trotz identischer Testbedingungen zu funktionalen Dissoziationen führen, stellt sich die Frage, ob es sich hier gar nicht um dasselbe Konstrukt handelt. Dieser Punkt kann nur im Rahmen neuer Experimente aufgeklärt werden, die mit anderen Probanden, unter anderen Testbedingungen oder mit anderen Testparadigmen durchgeführt werden. Die von Roediger beschriebene Entwicklung hat so in den letzten Jahrzehnten zu einer rasanten Vervielfältigung der Gedächtniskonstrukte geführt, eine Dynamik, die mit der Ausdifferenzierung von Testverfahren korrespondiert und noch nicht abgeschlossen zu sein scheint: In einer Festschrift zu Ehren Henry Roedigers geht Tulving, ein mindestens ebenso berühmter Gedächtnisforscher wie Roediger, der Frage auf den Grund, wie viele Gedächtnisarten es denn nun wirklich gibt.43 Seine Antwort: 256. Tulving listet am Ende des Textes tatsächlich 256 Gedächtnis-

39 Squire unterschied zwischen deklarativen und nicht-deklarativen, Schacter zwischen expliziten und impliziten Gedächtnisinhalten. 40 Henry L. Roediger III: »Implicit Memory: A Commentary«, in: Bulletin of the Psychonomic Society 28 (1990), S. 373–380. 41 Tulving nimmt unter anderem eine hierarchische Unterteilung des deklarativen Gedächtnisses in das grundlegende semantische und das höher stehende episodische Gedächtnis vor: Ersteres ist das Speichersystem für das gesamte, objektiv gültige Tatsachenwissen, im episodischen Gedächtnis hingegen sind die persönlichen, vor allem emotional relevanten Erlebnisse der eigenen Biografie gespeichert, die sich als besonders anfällig gegenüber psychischen und physischen Verletzungen erweisen sollen; vgl. Endel Tulving: »Organization of Memory: Quo Vadis«, in: The Cognitive Neurosciences (1995), S. 839–847. 42 Vgl. H. L. Roediger: »Implicit Memory«. 43 Endel Tulving: »Are There 256 Kinds of Memory«, in: James S. Nairne (Hg.), The Foundations of Remembering: Essays in Honor of Henry L. Roediger, III, New York 2007, S. 39–52.

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arten auf, von A wie »abnormal« bis W wie »working«. Allerdings ist das alles nicht ganz ernst gemeint und als Persiflage auf die Zahlen-Gläubigkeit vieler Psychologen zu verstehen: »You cannot go far wrong if you think of the figure 256 as just a convenient placeholder symbol for something like the expression ›many more than anyone who has not spent hours in deep thought about, and scoured all sorts of believable and unbelievable sources, is likely to come up with when asked about the number of kinds of memory.‹«44

Fest steht auf jeden Fall, dass die Behauptung, das Gedächtnis bestünde aus voneinander abgrenzbaren Entitäten, die durch unterschiedliche Tests erfasst würden, kein Erstaunen mehr hervorruft. »Es gibt verschiedenen Arten von Gedächtnis« (Interview Papassotiropoulos), und »die Gedächtnisverfahren dienen dann dazu, [...] die einzelnen angenommenen Gedächtnisleistungen möglichst objektiv quantifizieren zu können« (Interview Brand). Auffällig ist, das legt auch das Zitat von Matthias Brand nahe, dass trotz dieser kritischen Entwicklung das Objektivitätsethos der Gedächtnisforschung nicht grundlegend erschüttert zu sein scheint. Psychologische Methoden und Theorien bilden weiterhin eine zentrale Stütze des Feldes. Roediger, obwohl er sich von der »inherent complexity« seiner Wissenschaft beeindruckt zeigt, meint sozusagen im gleichen Atemzug: »The field has a strong scientific base.«45 Allerdings stellt sich die Frage, worin dieses wissenschaftliche Fundament denn eigentlich bestehen soll. Dass es in der Biologie nicht zu finden ist, gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen dieses Beitrags. Denn die biologische Fundierung von Gedächtnis »depend[s] crucially on the judicious selection of tasks for the subject to perform, and those tasks are the fruit of decades of behavioral research«46. Trotz der Fluidität der psychologischen Kategorien und Methoden kann die Antwort also nur lauten: Das wissenschaftliche Fundament kann nirgendwo anders liegen als in der Psychologie selber. Und das Problem scheint nur auf der methodischen Ebene lösbar, insofern als Messverfahren und Messkonstrukt, wie wir gesehen haben, zumindest teilweise ko-produziert sind. Brand fügt in diesem Sinne hinzu: Die entscheidende Frage sei, ob man »geeignete Testverfahren entwickeln [kann], die die unterschiedlichen Systeme, die man theoretisch, empirisch annimmt, gut abbilden können« (Interview Brand). Zwar hat sich das Gedächtnis als ein konkretes, singuläres psychologisches Objekt im Laufe der

44 Ebd., S. 46. 45 H. L. Roediger, »Relativity of Remembering«, S. 247. 46 R. S. Lockhart, »Methods of Memory Research«, S. 45.

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Jahre verflüchtigt. Doch offenbar lebt die Hoffnung weiter, auch wenn »Gedächtnis […] nicht gleich Gedächtnis [ist]« (Interview Brand), auch wenn es das eine Gedächtnis nicht gibt, dass es doch immerhin quantitative psychometrische Verfahren gibt, mit deren Hilfe sich die vielen Gedächtnisse quantifizieren und voneinander abgrenzen lassen. Der methodologische Imperativ Wie lässt sich feststellen, ob ein psychologisches Konstrukt valide erhoben wurde, ob die Messung tatsächlich das misst, was sie zu messen vorgibt? Dies ist eine der Kernfragen, der sich jedes Testverfahren stellen muss. Wenn sich diese Frage nicht eindeutig beantworten lässt, droht nicht nur das methodische, sondern auch das theoretische und überhaupt das wissenschaftliche Fundament der Gedächtnisforschung in sich zusammenzubrechen. In der Psychologie gibt es mit der Testtheorie einen Teilbereich, der sich mit genau solchen Problemen auseinandersetzt. Die Testtheorie entwickelt statistische Verfahren, anhand derer sich die Qualität der Messverfahren selber und die statistische Signifikanz ihrer Ergebnisse beurteilen lassen. Zu den wichtigsten Gütekriterien zählen die Konstruktvalidität (als Maß für die Gültigkeit, das heißt: sind die theoretischen Konstrukte angemessen operationalisiert?), die Reliabilität (als Maß für die Zuverlässigkeit oder Messgenauigkeit des Verfahrens) sowie die Objektivität, die angibt, wie stark ein Messergebnis vom Versuchsleiter beeinflusst wird. Während anhand der Reliabilität (wie auch der Objektivität) die Qualität des Messverfahrens bestimmt wird, soll insbesondere die Konstruktvalidität angeben, inwiefern tatsächlich das gemessen wird, was gemessen werden soll.47 Sie ist in unserem Zusammenhang die wichtigste Größe, denn mit ihr kommt eine theoretisch-konzeptionelle Ebene ins Spiel, welche die rein methodisch-technische Ebene ergänzt, auf die Reliabilität und Objektivität abzielen. Die Frage nach der Konstruktvalidität wirft eine entscheidende, wenn nicht die entscheidende Frage auf: Was misst ein Test überhaupt? Und greifen zwei Tests die gleichen oder unterschiedliche theoretische Merkmale heraus? Ist die Konstruktvalidität eines Tests nicht erfüllt, so kann dies zweierlei bedeuten: entweder, dass die Hypothesen, auf denen das Konstrukt beruht, falsch sind. Oder aber, dass bei der Bestimmung der unabhängigen und abhängigen Variablen, also der Operationalisierung, Fehler gemacht wurden. Ohne detaillierte Kenntnisse der theoretischen Annahmen und der relevanten Konzepte lässt sich die Konstrukt-

47 Vgl. Lee J. Cronbach/Paul E. Meehl, »Construct Validity in Psychological Tests«, in: Psychological Bulletin 52 (1955), S. 281–302.

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validität also schwerlich beurteilen. Im Unterschied zur Messgenauigkeit und Objektivität, die relativ simpel quantitativ zu bestimmen sind durch die mehrfache Wiederholung des Tests, wirft die Ermittlung der Konstruktvalidität heiklere Fragen auf. Als eine Methode der Wahl zur Beantwortung dieser Fragen hat sich in der Praxis die Faktorenanalyse etabliert, ein mathematisches Verfahren, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Psychologen Charles Spearman für die Auswertung von Intelligenztests entwickelt wurde. Es ist hier nicht der Platz, um auf die technischen Details dieser komplexen statistischen Methode einzugehen, in aller Kürze kann das Vorgehen folgendermaßen zusammengefasst werden:48 Das Ziel besteht darin, ein komplexes System, bestehend aus mehreren empirischen Variablen, die miteinander korreliert sind, auf einige wenige, latente Dimensionen zu reduzieren. Diese wenigen Dimensionen bilden dann die Faktoren des Systems, die begrifflich oder sogar biologisch interpretiert werden können. Ob solche Vereinfachungen zulässig sind, respektive wie die Dimensionen zu deuten sind, muss von Fall zu Fall entschieden werden und setzt empirisches und theoretisches Wissen voraus. Bei Gedächtnistests und anderen psychometrischen Verfahren ist es seit Langem gängige Praxis,49 die Validität psychologischer Konstrukte zu definieren und zu testen, indem von hohen Korrelationen zwischen Testvariablen auf ähnliche Konstrukte geschlossen wird. Dieses Vorgehen, wie die Faktorenanalyse insgesamt, ist jedoch immer wieder kritisiert worden – in seiner bekannten Kritik von Intelligenztests hat Gould von einem Fehlschluss der Verdinglichung gesprochen.50 In diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich ist die von Delis et al. durchgeführte Studie mit dem bezeichnenden Titel »The Myth of Testing Construct Validity using Factor Analysis«51. In zwei groß angelegten Experimenten konnten die Wissenschaftler zeigen, dass Tests, die zweifelsohne unterschiedliche Gedächtnisvariablen herausgreifen, faktorenanalytisch nur eine Dimension abbilden. Würde also die

48 Für eine ausführlichere und lesbare Einführung sei Goulds »Der falsch vermessene Mensch« empfohlen, obwohl dessen Darstellung nicht unumstritten ist (vgl. John B. Carroll, »Reflections on Stephen Jay Gould’s the Mismeasure of Man (1981): A Retrospective Review«, in: Intelligence 21 (1995), S. 121–134). 49 Vgl. Dean C. Delis et al.: »The Myth of Testing Construct Validity Using Factor Analysis or Correlations With Normal or Mixed Clinical Populations: Lessons from Memory Assessment.«, in: Journal of the International Neuropsychological Society 9 (2003), S. 936–946. 50 S. J. Gould: Der falsch vermessene Mensch. 51 D. C. Delis et al.: »The Myth of Testing Construct Validity«.

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Konstruktvalidität dieser beiden Testverfahren mithilfe der Faktorenanalyse bewertet, käme man zum Ergebnis, dass beide Testverfahren das gleiche Konstrukt herausgreifen – was sie aber nicht tun. Die Autoren stellen fest: »These procedures have been regarded as fundamental methods of test construction for so many decades that psychologists continue to embrace and practice them frequently, often without questioning their assumptions or validity.«52 Es sei jedoch nicht zulässig, so Delis et al., von hohen Korrelationen auf begriffliche Zusammenhänge zu schließen, wie es häufig gemacht wird, genauso wenig wie es zulässig sei, statistische Korrelationen und Verursachung gleichzusetzen. Es geht mir nicht darum, die Validität der Methode grundsätzlich infrage zu stellen oder ihre Nützlichkeit für psychologische Fragestellungen. Vor dem Hintergrund, dass ein Messverfahren mit der Konstruktvalidität steht und fällt, ist die Studie von Delis et al. dennoch bemerkenswert. Sie bestätigt nicht nur, was bereits oben ersichtlich wurde, nämlich dass die Operationalisierung komplexer psychologischer Konstrukte alles andere als trivial ist. Sie macht zudem die Schlüsselrolle quantitativer Verfahren im psychologischen Methodenarsenal deutlich. Wie Danziger in seiner historischen Studie herausgearbeitet hat, haben sich statistische Verfahren früh schon als eine Kernkompetenz der Psychologie etabliert.53 Das ging – zumindest im angelsächsischen Bereich – mit der Tendenz einher, die disziplinäre Identität in der Kenntnis und Weiterentwicklung der entsprechenden quantitativen Methoden zu suchen. Die impliziten Normen, auf denen die statistischen Verfahren beruhten, wurden dabei auf das Studienobjekt resp. das Studiensubjekt übertragen. Danziger hat von einem »methodologischen Imperativ«54 gesprochen, der die Bandbreite psychologischer Hypothesen auf diejenigen eingrenzte, die statistisch bearbeitbar waren. Der Wert psychologischer Theorien wurde also allein an statistischen Verfahren gemessen, oder anders formuliert, statistische Realitäten wurden mit psychologischen verwechselte. Die Beobachtung, dass die Konstruktvalidität vornehmlich quantitativ erhoben wird, ist ein wichtiger Fingerzeig in diese Richtung. Nicht nur das Gedächtnis (genauer: einzelne Gedächtnissysteme) wird in eine quantitative Form überführt, sondern auch die Testverfahren selber werden anhand einiger weniger statistischer Maße charakterisiert, die viele Komplexitäten verhüllen und Stabilität garantieren. Die meisten der heute im Feld zirkulierenden Messverfahren manifestieren demnach einen zweifachen Translationsprozess: Einerseits wird in ihrem Rahmen Gedächtnis operational definiert und quantifiziert. Darüber hin-

52 Ebd., S. 936. 53 Vgl. K. Danziger, Constructing the Subject. 54 Ebd., S. 147.

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aus sind diese Inskriptionswerkzeuge selber Gegenstand einer Verschiebung, durch die sie in eine standardisierte gray box, charakterisiert durch einige wenige quantitative Größen, verwandelt werden. Für den Bereich der Gedächtnisforschung liegen die Vorteile auf der Hand: Angesichts der begrifflichen Unschärfen stabilisieren diese Übersetzungsprozesse nicht nur den fragilen Gegenstand, sondern sie tragen wesentlich dazu bei, die Methoden und damit die Disziplin insgesamt zu verwissenschaftlichen. Dies macht plausibel, so meine Schlussthese, wie es möglich ist, dass trotz der vielfältigen Schwierigkeiten, Gedächtnis zu definieren und zu operationalisieren – Schwierigkeiten, die durchaus auch von einzelnen Experten diskutiert werden –, die quantitative, objektive und wissenschaftliche ›Natur‹ von Gedächtnis in der biomedizinischen Praxis dennoch erstaunlich selten hinterfragt wird.

F AZIT : G EIST /G EHIRN Eine der zentralen Annahmen, auf der das Projekt der Biomedikalisierung des Geistes beruht, lautet, dass »jeder psychische Vorgang ein Hirnkorrelat hat« (Interview Brand). Die Auflösung des Dualismus von Geist und Gehirn respektive von funktionellen und organischen Störungen, die Kandel propagiert hat, wird inzwischen auch von den meisten experimentellen Psychologen unterstützt. Die biologischen Disziplinen versprechen, komplexe psychologische Konstrukte auf ihre neuronalen Korrelate zu reduzieren, Korrelate, so grundlegend, dass sie selbst bei so primitiven Spezies wie Fliegen, Würmern, Schnecken oder Nagern zu finden sind. Das Ziel ist, das zelluläre Alphabet des Lernens und Gedächtnisses zu entschlüsseln, also die grundlegenden Bausteine aufzuspüren, »die man auch wiederfindet bei komplexeren Formen des Lernens« (Interview Kuhl). Gelingt dies, scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis auch Klassifikation, Diagnose und Therapie psychischer Gedächtnisstörungen primär an biologischen Prozessen ausgerichtet sein werden. Es gäbe dann keinen Grund mehr, zwischen Herzinfarkt, Alzheimer-Demenz und Posttraumatischer Belastungsstörung einen prinzipiellen Unterschied zu machen. Ohne die Psychologisierung des Gedächtnisses, die im 19. Jahrhundert mit Ebbinghaus einsetzte, wäre dessen Biologisierung allerdings niemals möglich gewesen. Es sind die Psychologen, welche die Werkzeuge entwickelten, die das Gedächtnis zu etwas Messbarem, kurzum: etwas wissenschaftlich Greifbarem machten, über das es positives Wissen zu gewinnen gibt. Ihre Methoden und Begriffe, die sich in psychometrischen Verfahren bündeln und im Feld der biomedizinischen Gedächtnisforschung zirkulieren, bilden auch heute noch dessen

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zentrales Fundament – auch wenn die Anwendung und Proliferation der Methoden nicht mehr ausschließlich in den Händen der Psychologen selber liegen. So schreibt auch Kandel: »Wenn es jedoch um geistige Funktionen geht, haben Biologen eine Richtschnur dringend nötig. An diesem Punkt kann die Psychiatrie ihre Gegendisziplin an die Hand nehmen und einen besonders wertvollen Beitrag zur Neurobiologie leisten. Psychologie und Psychiatrie können die geistigen Funktionen erhellen und abgrenzen, die von der Biologie untersucht werden müssen, wenn wir ein sinnvolles und differenziertes Verständnis der Biologie des menschlichen Geistes erreichen wollen.«55

Dass die methodischen und begrifflichen Errungenschaften der Psychologie durch ihre institutionelle und inhaltliche Marginalisierung konterkariert werden, hat seinen Grund teilweise in Entwicklungen, die innerhalb der Disziplin selber zu finden sind. Wie gesehen, hat die Konstruktion des objektiven Gedächtnisses paradoxerweise eine Dynamik in Gang gesetzt, an deren Ende die Dekonstruktion des Gegenstandes selber steht: Angesichts einer kaum noch überschaubaren Vielzahl theoretischer Bausteine, gekoppelt an ihre spezifischen Messmethoden, scheint eine einheitliche psychologische Theorie des Gedächtnisses in weite Ferne gerückt. Angesichts der verwirrenden Vielzahl operational definierter Gedächtnissysteme – eine Folge der psychologischen Objektivierung des Gegenstandes –, stellt sich für viele experimentelle Psychologen die Frage, was diese unterschiedlichen Systeme miteinander verbindet und ob man es hier mit einem »figment of a classifier’s imagination«,56 also einem bloßen Produkt der Einbildung, zu tun habe. Dieser Zweifel macht verständlich, wieso sich so viele Psychologen in den Dienst des von Kandel ausgerufenen Biologisierungsprojektes stellen. Gleichzeitig streicht er aber noch einmal die zentrale Bedeutung des »methodologischen Imperativs« heraus, der in der experimentellen Psychologie vorherrscht. Auch wenn die Psychologie die inhaltliche Deutungshoheit über das Gedächtnis und die Psyche zu verlieren droht, bleibt sie auch in ihrem eigenen Selbstverständnis diejenige Disziplin, welche die methodischen Grundlagen der Biologisierung von Gedächtnis bereitstellt. Psychologische Methodenkompetenzen sind nicht nur bei der Vermessung des Geistes unerlässlich, sie werden vor allem auch gebraucht, um die dabei verwendeten Messmethoden zu ›blackboxieren‹. Selbst

55 E. R. Kandel: »Psychotherapie und die einzelne Synapse«, S. 41f. 56 Endel Tulving: »Episodic Memory: From Mind to Brain«, in: Annual Review of Psychology 53 (2002), S. 1–25, hier S. 11.

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wenn die Psychologie institutionell und inhaltlich an Gewicht verliert, als methodische Hilfswissenschaft der Neurodisziplinen ist sie ein integraler Bestandteil der Forschungspraxis. Psychologisierung und Biomedikalisierung sind in dieser Hinsicht interdependente Dynamiken, zwei Kehrseiten eines einzigen Projektes, das zum Ziel hat, das Gedächtnis als ein epistemisches Objekt zu formen, das »part of the objective reality«57 ist.

57 E. Tulving: »Episodic Memory«, S. 19.

Die Unterscheidung zwischen krankheitsbezogener und ›wunscherfüllender‹ Medizin – aus wissenschaftstheoretischer Sicht P ETER H UCKLENBROICH

Z IELSETZUNG Seit einiger Zeit wird diskutiert – insbesondere aus medizinsoziologischer und medizinethischer Sicht –, ob sich verschiedene Phänomene und Trends im Gesundheitswesen insgesamt als Manifestationen einer neuen Form oder Entwicklungsstufe der Medizin deuten lassen – der »wunscherfüllenden Medizin« oder Wunschmedizin – und wie dies zu bewerten wäre.1 Hierbei ist unter anderem gedacht an die steigende Nachfrage nach Wellness-Angeboten, nach kosmetischer Chirurgie und Lifestyle-Medikamenten, nach kognitivem oder emotionalem Enhancement, aber auch an Schwangerschaftsverhütung, assistierte Reproduktion, Präimplantationsdiagnostik oder genetisches Screening. Matthias Kettner beispielsweise spricht in diesem Zusammenhang schon von einem »Kul-

1

Vgl. Matthias Kettner: »Wunscherfüllende Medizin – Assistenz zum besseren Leben?«, in: Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft 2 (04/2006), S. 7–16; Matthias Kettner (Hg.): Themenheft »Wunscherfüllende Medizin«, in: Ethik in der Medizin 18 2006, S. 5–91; Carl Friedrich Gethmann: »Wunscherfüllende Medizin. Kontingenzbewältigung oder Kontingenzbeseitigung?«, in: Dietrich Grönemeyer/Theo Kobusch/ Heinz Schott (Hg.), Gesundheit im Spiegel der Disziplinen, Epochen und Kulturen, Tübingen 2008, S. 333–343; Matthias Kettner (Hg.): Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt/M., New York 2009.

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turwandel« in der Medizin. Es ist aber weder klar, welche medizinischen Angebote und Maßnahmen insgesamt zu der neuen, ›wunschmedizinischen‹ Kultur zu rechnen wären, noch, nach welchen Kriterien diese Zuordnung zu erfolgen hätte. Um zu verstehen, was es mit den hier herangezogenen Erscheinungen und Trends auf sich hat und ob sie tatsächlich eine eigene Form oder Kultur von Medizin repräsentieren, ist zunächst eine nähere Betrachtung der Ziele und Kriterien der bisherigen Medizin notwendig. Anschließend müsste untersucht werden, ob und inwieweit in der präsumtiven Wunschmedizin neue oder andere Ziele und Kriterien zum Tragen kommen. Erst dann könnte eine begründete Abgrenzung und eventuelle Klassifikation ›wunschmedizinischer‹ Maßnahmen erfolgen. Im Folgenden soll versucht werden, anhand einer Analyse der Ziele der Medizin und der darauf basierenden Behandlungskriterien, insbesondere des medizinischen Krankheitsbegriffs, einer Klärung dieser Fragen näher zu kommen. Insbesondere soll für eine Anzahl von Erscheinungen, die als Beispiele der wunscherfüllenden Medizin diskutiert werden, die Berechtigung dieser Zuordnung geprüft werden.

Z IELE

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Ärztliches Handeln ist wie jedes menschliche Handeln an bestimmten Zielen orientiert. Will man die generellen Ziele dieses Handelns identifizieren, so kann man sowohl die expliziten Deklarationen solcher Ziele, wie sie in Selbstverpflichtungen und ähnlichen Verlautbarungen benannt werden, als auch das faktische Handeln auf seine impliziten Zielsetzungen hin analysieren. Es ist natürlich sinnvoll, beide Wege zu beschreiten und die Ergebnisse dann zu vergleichen, um zu einer realistischen Einschätzung zu gelangen. Ich gehe im Folgenden den Weg, zunächst die explizite, ›traditionelle‹ Zieldeklaration aufzunehmen und den darin als zentrales Kriterium vorkommenden Krankheitsbegriff näher zu analysieren. Im Anschluss betrachte ich die tatsächliche, ›traditionelle‹ ärztliche Praxis und zeige anhand einiger Beispiele, dass die traditionelle Zielformulierung nicht nur präzisiert, sondern auch vorsichtig erweitert werden müsste, um selbst dieser ›traditionellen‹ Praxis gerecht zu werden. Erst von dieser erweiterten Fassung her kann dann untersucht werden, ob – und wenn ja, welche – ›wunschmedizinischen‹ Maßnahmen nicht mehr von der (reformulierten) traditionellen Zielsetzung gedeckt werden. Verbindlich gemeinte Formulierungen für die Zielsetzung ärztlichen Handelns findet man zum Beispiel im Hippokratischen Eid bzw. dem heute an seine Stelle getretenen »Genfer Gelöbnis« und den auf Letzterem beruhenden Berufs-

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ordnungen der Ärztekammern.2 1996 hat das Hastings Center in New York im Rahmen eines internationalen Projektes ein Konsensus-Papier erarbeiten lassen, in dem eine internationale Expertengruppe sich auf »Goals of Medicine« geeinigt hat.3 Dieses Papier enthält eine Formulierung der Ziele, die als repräsentativ für die Medizin des 20. und 21. Jahrhunderts gelten kann. Dabei handelt es sich nicht um neue Ziele, sondern um eine präzisierte und ausführliche Formulierung derjenigen Ziele, die schon seit Jahrhunderten immer wieder zitiert, aber selten explizit und systematisch abgehandelt worden sind. Es handelt sich also bei diesem Konsensus um die aktuelle internationale ›Bestätigung‹ einer sehr alten medizinischen Tradition. Kurz zusammengefasst sind danach Ziele der Medizin: • • • •

Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung; Linderung von Schmerz und Leid, die durch Krankheit verursacht werden; Heilen von Krankheiten; Pflege, wenn eine Heilung nicht möglich ist; Verhinderung eines vorzeitigen Todes und Streben nach einem friedvollen Tod.4

Wie man erkennen kann, spielt der Krankheitsbegriff eine entscheidende Rolle in dieser Zielformulierung: Er taucht in drei von vier Klauseln explizit auf, und wenn man bedenkt, dass mit dem in der vierten Klausel genannten vorzeitigen Tod hier ebenfalls nur ein pathologisch bedingter gemeint sein kann, nicht dagegen etwa ein durch Todesstrafe oder freiwilligen Suizid verursachter, wird deutlich, dass der Krankheitsbegriff das wesentliche Kriterium für ärztliches Handeln darstellt. Es muss daher im nächsten Schritt geklärt werden, was der Krankheitsbegriff – im medizinischen Sinne – beinhaltet.

2

Für Eid, Gelöbnis und Berufsordnung vgl. zum Beispiel Urban Wiesing (Hg.): Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch, Stuttgart 2004, Kap. 2 u. 4. Ein umfassender historischer und systematischer Überblick über solche Zielformulierungen findet sich bei Kurt Fleischhauer/Göran Hermeren: Goals of Medicine in the Course of History and Today, Stockholm 2006.

3

Vgl. Mark J. Hanson/ Daniel Callahan (Hg.): The goals of medicine. The forgotten issue in health care reform, Washington 1999; Gebhard Allert (Hg.): Ziele der Medizin. Zur ethischen Diskussion neuer Perspektiven medizinischer Ausbildung und Praxis, Stuttgart, New York 2002.

4

Zitiert nach G. Allert: Ziele der Medizin, S. 17 u. 25.

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R EKONSTRUKTION DES K RANKHEITSBEGRIFFS

MEDIZINISCHEN

Die philosophische Diskussion um den Krankheitsbegriff In der philosophischen sowie kultur- und sozialwissenschaftlichen Literatur der letzten Jahrzehnte wird der Krankheitsbegriff in einer äußerst kontroversen Form diskutiert. Zwei große Lager, die Naturalisten und die Normativisten, stehen sich unversöhnlich gegenüber.5 Nicht nur ist strittig, wie der Krankheitsbegriff korrekt zu definieren ist, sondern es wird auch kontrovers beurteilt, ob ein definierter Krankheitsbegriff überhaupt (noch) benötigt wird oder ob dieser Begriff unnötig, unmöglich oder sogar unerwünscht sei. Die »affirmativen« Positionen zum Krankheitsbegriff lassen sich noch einmal nach den von ihnen vorgeschlagenen Definitions-Strategien unterscheiden, zum Beispiel:



die Strategie, Krankheit als – statistisch definierte – defizitäre Funktionsfähigkeit der für Überleben und Reproduktion notwendigen physiologischen und psychologischen Organismusfunktionen zu definieren (Boorse, Daniels, Ananth);6 die Strategie, Krankheit als Organismuszustand zu definieren, der ein »Übel«, also einen negativen Wert – im Sinne eines von jedem rationalen Menschen vermiedenen Zustands – darstellt oder impliziert (Gert, Culver, Clouser);7 sowie eine ganze Anzahl weiterer Ansätze.8

5

Vgl. zum Beispiel die Darstellung bei Niels Gottschalk-Mazouz: »Die Komplexität





des Krankheitsbegriffs aus philosophischer Sicht: Theoretische und praktische, naturalistische und normative Aspekte«, in: Günter Zurhorst/Niels Gottschalk-Mazouz, Krankheit und Gesundheit, Göttingen 2008, S. 60–120. 6

Vgl. Christopher Boorse: »Health as a theoretical concept«, in: Philosophy of Science 44 (1977), S. 542–573; ders.: »A rebuttal on health«, in: James M. Humber/Robert F. Almeder (Hg.), What is Disease?, Totowa, N.J. 1997, S. 3–134; Norman Daniels: Just Health Care, Cambridge 1985; ders.: Just Health, Cambridge 2008; Mahesh Ananth: In Defense of an Evolutionary Concept of Health, Aldershot 2008.

7

Vgl. Charles M. Culver/Bernard Gert: Philosophy in Medicine, New York, Oxford 1982; Bernard Gert/Charles M. Culver/ K. Danner Clouser: Bioethics: A Systematic Approach, Oxford 2006.

8

Vgl. als Übersichten James M. Humber/Robert F. Almeder (Hg.), What is Disease?, Totowa 1997; Lennart Nordenfelt: Health, Science, and Ordinary Language, Amster-

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Die »skeptischen« Positionen zum Krankheitsbegriff lassen sich ebenfalls nach ihren Argumentationsstrategien unterscheiden, zum Beispiel: • •



die Behauptung, dass ein allgemeiner Krankheitsbegriff in der medizinischen Praxis nicht verwendet und nicht benötigt werde (Hesslow);9 die Behauptung, dass die Verwendung eines allgemeinen Krankheitsbegriffs mit dem Prinzip der Achtung der Autonomie und der Behandlungswünsche des Patienten in Konflikt gerate (Wiesing);10 die Behauptung, dass der Krankheitsbegriff oder die Krankheitssystematik der Medizin durch die wissenschaftlich-medizinische Entwicklung »überholt« und theoretisch nicht mehr haltbar seien (Wieland, Stoecker).11

Diese extrem kontroverse Diskussionslage wirkt auf jeden Leser, der primär im Bereich der praktischen oder theoretischen Medizin tätig und erfahren ist, völlig überraschend und fast unwirklich, denn die Krankheitslehre, auf der die gegenwärtige medizinische Praxis, Forschung und Lehre aufruht, ist die Summe der gesicherten Ergebnisse vieler Jahrzehnte erfahrungswissenschaftlicher und klinischer Forschungsarbeit und ist weitestgehend unkontrovers. Es gibt natürlich, wie in jeder wachsenden und sich entwickelnden Erfahrungswissenschaft, zahlreiche offene Forschungsprobleme, zu lösende puzzles und ungeklärte Einzelhypothesen; diesen Zustand hat Thomas S. Kuhn zutreffend als Zustand der »Normalwissenschaft« beschrieben.12 Die grundlegende begriffliche und theoretische Struktur der Krankheitslehre, gewissermaßen das Paradigma, ist dabei nicht um-

dam 2001; Arthur L. Caplan/James J. McCartney/Dominic A. Sisti (Hg.): Health, Disease, and Illness, Washington 2004; Thomas Schramme (Hg.): Krankheitstheorien, Frankfurt/M 2012 (im Erscheinen). 9

Germund Hesslow: »Do We Need a Concept of Disease?«, in: Theoretical Medicine 14 (1993), S. 1–14.

10 Urban Wiesing: »Kann die Medizin als praktische Wissenschaft auf eine allgemeine Definition von Krankheit verzichten?«, in: Zeitschrift für Medizinische Ethik 44 (1998), S. 83–97. 11 Vgl. Wolfgang Wieland: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin 1975, 2. Aufl. Warendorf 2004, Kap. 3: Krankheitsbegriffe und Krankheitseinheiten, S. 129– 175; Ralf Stoecker: »Krankheit – ein gebrechlicher Begriff«, in: Günter Thomas/Isolde Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft, Stuttgart 2009, S. 36–46. 12 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M., 2. Auflage 1976, Kap. II–IV.

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stritten, sondern wird sehr erfolgreich in neue Bereiche hinein ausgedehnt, zum Beispiel in die molekulare Medizin und die Zellbiologie. Kontroversen über Grundsatzfragen der Krankheitslehre findet man nicht an der medizinischen Forschungsfront, sondern dort, wo außerwissenschaftliche Wertvorstellungen und Interessen auf die Krankheitslehre oder die ärztliche Verschreibungspraxis Einfluss zu nehmen suchen. Wenn zum Beispiel jedes auffällige und störende Verhalten eines Schulkindes sofort als Symptom einer Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verdächtigt wird, um eine medikamentöse »Ruhigstellung« zu erreichen, oder wenn umgekehrt die erektile Dysfunktion vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA)13 generell als nicht krankhaft erklärt wird, um die Kosten für deren medikamentöse Behandlung nicht tragen zu müssen, handelt es sich klarerweise um nicht wissenschaftlich-medizinisch, sondern außerwissenschaftlich motivierte Einflussnahmen auf die Krankheitslehre bzw. deren Anwendung. Daraus lässt sich jedenfalls kein Argument ableiten, das den wissenschaftlichen Krankheitsbegriff infrage stellen könnte. Zum Verständnis der Diskussionssituation innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften ist es sinnvoll, sich ihre Vorgeschichte anzusehen: Die gegenwärtige Diskussion über den Krankheits- und Gesundheitsbegriff, insbesondere über die Frage der Deskriptivität oder Normativität dieser Begriffe, hat ihren Ursprung in einer Kontroverse in der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. In den 1950er und 1960er Jahren wurde die bis dahin dominierende Auffassung der Psychosen – insbesondere der Schizophrenie – als »Gehirnkrankheiten« zunehmend infrage gestellt, und es wurden Konzeptionen vorgelegt, die Zusammenhänge zwischen psychotischer Entwicklung, Familienstrukturen und Formen sozialer Kommunikation herausstellten.14 Einige Psychiater gingen schließlich so weit, die Existenz psychiatrischer Krankheitsentitäten, insbesondere der Schizophrenie, ganz zu bestreiten und die Anwendung des Krankheitsbegriffs in diesem Bereich als einen »Mythos« bzw. als bloßen Ausdruck gesellschaftlicher Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozesse zu betrachten.15 Diese Richtung wurde

13 Der Gemeinsame Bundesausschuss entscheidet unter anderem darüber, welche Medikamente durch die Krankenkassen erstattungsfähig sind. Vgl. Micha H. Werner/Urban Wiesing: »Lehren aus dem Fall Viagra? Der Krankheitsbegriff im Sozialrecht am Beispiel der erektilen Dysfunktion«, in: Das Gesundheitswesen 64 (2002), S. 398–404. 14 Vgl. exemplarisch die Arbeiten in Gregory Bateson et al.: Schizophrenie und Familie, Frankfurt/M. 1969. 15 Die Hauptautoren waren Ronald D. Laing, Thomas S. Szasz und David G. Cooper. Vgl. die Darstellungen in Heinrich Keupp (Hg.), Der Krankheitsmythos in der Psychopathologie. Darstellung einer Kontroverse, München, Wien, Berlin 1972;

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unter der Bezeichnung »Anti-Psychiatrie« bekannt – eine Bezeichnung, in der sich der kontroverse Charakter der Diskussion deutlich erkennen lässt. An dieser Diskussion beteiligten sich zunehmend nicht nur psychiatrische Spezialisten, sondern auch Psychologen, Sozialwissenschaftler, Philosophen und Angehörige weiterer Fachdisziplinen. Der Philosoph Christopher Boorse schrieb seit den 1970er Jahren eine Reihe von Artikeln, in denen er einen »bio-statistischen«, wertfreien Krankheitsbegriff vertrat, der auch auf psychische Erkrankungen anwendbar sein sollte.16 Diese Konzeption steht bis heute immer wieder im Mittelpunkt der philosophischen Kontroverse um Deskriptivität oder Normativität des Krankheitsbegriffs.17 Inzwischen hat sich jedoch der Schwerpunkt der psychiatrischen Forschung und Praxis längst wieder verschoben: Sie wird nicht mehr von der Kontroverse zwischen »Gehirn-Ätiologie« und »Gesellschafts-Ätiologie« dominiert, sondern bildet heute ein mit der Neurologie, Neurowissenschaft, Neuropsychologie, Psychosomatik, Klinischen Psychologie und weiteren Spezialgebieten multi- und interdisziplinär vernetztes Arbeitsgebiet.18 Wenn man also klären will, welchen Krankheitsbegriff die Medizin in ihren eigenen Zielformulierungen meint, sollte man nicht auf die Positionen der kontroversen philosophischen Diskussion zurückgreifen, sondern die Begriffsbildung der medizinischen Organismus- und Krankheitslehre selbst analysieren. Dazu muss allerdings eine anspruchsvollere wissenschaftstheoretische Rekonstruktion dieses umfangreichen Wissensgebietes vorgenommen werden. Im Folgenden sollen die Resultate einer solchen Analyse und Rekonstruktion knapp zusammengefasst werden. Es sei vorweg betont, dass hier aus Umfangsgründen keine Details der Rekonstruktion diskutiert werden können, sondern dazu auf bereits vorliegende Arbeiten verwiesen werden muss.19 Es geht in dieser Untersuchung

Johann Glatzel, Die Antipsychiatrie, Stuttgart 1975; Jörg Bopp, Antipsychiatrie, Frankfurt/M. 1980. 16 Vgl. Fußnote 6. 17 Für eine Verteidigung des Boorse’schen Ansatzes vgl. zuletzt M. Ananth: In Defense of an Evolutionary Concept of Health. 18 Vgl. Hans Förstl/Martin Hautzinger/Gerhard Roth (Hg.): Neurobiologie psychischer Störungen, Heidelberg 2006; Hans-Jürgen Möller/Gerd Laux/Hans-Peter Kapfhammer (Hg.): Psychiatrie und Psychotherapie, Heidelberg 2008; Mathias Berger (Hg.): Psychische Erkrankungen, München/Jena 2009. 19 Vgl. Peter Hucklenbroich: »Hauptartikel: Krankheit – Begriffsklärung und Grundlagen einer Krankheitstheorie«, in: Erwägen – Wissen – Ethik 18 (2007), S. 77–90; ders.: »Replik: Klärungen, Präzisierungen und Richtigstellungen zur Krankheitstheorie«, in: Erwägen – Wissen – Ethik 18 (2007), S. 140–156; ders.: »›Normal – anders –

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nicht um eine Weiterführung der wissenschaftstheoretischen Diskussion um den Krankheitsbegriff, sondern um eine Anwendung der bereits gewonnenen Resultate zur Unterscheidung zwischen der traditionellen, krankheitsbezogenen Medizin und einer neuen, ›wunscherfüllenden‹ Form von Medizin. Dass die wissenschaftstheoretische Analyse hier zur Klärung beitragen kann, ist in der bisherigen Diskussion noch nicht gesehen worden. Der Krankheitsbegriff als theoretisches Konzept der Medizin Die Organismus- und Krankheitslehre der heutigen Medizin hat sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt, angefangen mit der Neubegründung der Anatomie durch Andreas Vesalius (»De humani corporis fabrica«, 1543) und der Pathologischen Anatomie durch Morgagni (»De sedibus et causis morborum«, 1761) bis zur Entstehung des physiologisch-pathophysiologischen Paradigmas im 19. Jahrhundert.20 In ihrer heutigen Form beinhaltet die Krankheitslehre einen Begriff von Krankheit und Krankhaftigkeit, der ein komplexes theoretisches Konstrukt mit mehreren begrifflichen Ebenen darstellt, wobei die ›Ebenen‹ bestimmten Stufen der medizinischen Begriffs- und Theoriebildung entsprechen. Auch aufgrund dieser komplexen Struktur, die sich erst einer tiefer gehenden wissenschaftstheoretischen Analyse erschließt, scheint die bisherige philosophische und soziologische Diskussion den eigentlichen medizinischen Krankheitsbegriff noch gar nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Die erste Stufe der Begriffsbildung in der Krankheitslehre besteht in der Abgrenzung des Bereichs der Phänomene, die überhaupt als Gegenstand der Krankheitslehre in Frage kommen, und einer ersten, grundlegenden Explikation

krank‹: Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen zum Krankheitsbegriff«, in: Dominik Groß/Sabine Müller/Jan Steinmetzer (Hg.), Normal – anders – krank? Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin, Berlin 2008, S. 3–31; ders.: »Der Krankheitsbegriff: Seine Grenzen und Ambivalenzen in der medizinethischen Diskussion«, in: Markus Höfner/Stephan Schaede/Günter Thomas (Hg.), Endliches Leben. Interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen der Krankheit, Tübingen 2010, S. 133–160; ders.: »Der Krankheitsbegriff der Medizin in der Perspektive einer rekonstruktiven Wissenschaftstheorie«, in: Andreas Frewer/Markus Rothhaar (Hg.): Das Gesunde, das Kranke und das Gute – Ethische Dimensionen des Krankheitsbegriffs, Stuttgart 2011. 20 Vgl. die Rekonstruktion des Paradigmawechsels im 19. Jahrhundert bei Nelly Tsouyopoulos: Asklepios und die Philosophen. Paradigmawechsel der Medizin im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Bad Cannstatt 2008.

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des Verständnisses von Krankheit oder, genauer, von Krankhaftigkeit überhaupt. Diese Abgrenzungen und Explikationen geschehen vor allem durch negative und positive Kriterien. Zum Gegenstandsbereich der Krankheitslehre gehören grundsätzlich bestimmte Vorgänge, Zustände, Ereignisse und Verhaltensweisen von, an und in menschlichen Lebewesen:21 nämlich insbesondere Lebensvorgänge an Individuen, Lebensvorgänge, die dem Organismus (Körper/Psyche) zugerechnet werden – nicht der Umgebung –, und Lebensvorgänge, die unabhängig von Willen und Wissen der Betroffenen ablaufen oder bestehen. Vorgänge, die vollständig der Umgebung eines Organismus zuzurechnen sind, und Handlungen, die vollständig dem freien Willen eines Menschen unterliegen, fallen nicht in die Kategorie der bezüglich Krankhaftigkeit beurteilbaren Phänomene (wohl aber bezüglich Pathogenität). Lebensvorgänge und Interaktionen zwischen Individuen könnten erst dann unter dem Gesichtspunkt der fraglichen Krankhaftigkeit betrachtet werden, wenn eine wissenschaftliche Sozialpathologie projektiert würde. Deren Möglichkeit ist aber bislang umstritten, wenngleich die Psychopathologie einige einschlägige Krankheitsbezeichnungen kennt (zum Beispiel Bindungsstörung, familiär-systemische Störung, symbiontischer Wahn).22 Innerhalb des so abgegrenzten Bereichs von Lebensvorgängen lässt sich nun durch fünf positive Kriterien explizieren, was primär unter Krankhaftigkeit verstanden wird: (1) Letalität oder definitive Verkürzung der Lebenserwartung; (2) Verbundensein mit Beschwerden, insbesondere Schmerzen und bestimmten

weiteren Missempfindungen; (3) jede spezielle (d. h. nicht universell bei jedem Menschen vorhandene) Dis-

position, unter bestimmten definierbaren Bedingungen in einen Zustand oder Lebensvorgang zu geraten, auf den Kriterium 1 oder 2 zutrifft (eine Disposition, die man insofern zugleich als Einschränkung des Spielraums für die individuelle Gesundheit auffassen kann); (4) generelle Unfähigkeit zur biologischen Reproduktion; (5) generelle Unfähigkeit zum Zusammenleben mit Menschen.

21 Im Folgenden generell als »Lebensvorgänge« zusammengefasst. 22 Welche Lebensvorgänge nicht in den Gegenstandsbereich des Krankheitsbegriffs fallen, wird durch ein System negativer Kriterien präzisiert. Einige Beispiele für diese negativen Kriterien finden sich weiter unten in diesem Abschnitt. Vgl. auch Fußnote 24.

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Die Kriterien treffen zu bei Lebensvorgängen, die entweder direkt das im Kriterium angegebene Merkmal erfüllen oder – bei ansonsten gesunden Verhältnissen – eine hinreichende kausale Ursache für das Auftreten des Merkmals sind. Alle Kriterien beziehen sich auf den ›natürlichen‹, das heißt spontanen, nicht kompensierten und unbehandelten Verlauf oder Zustand des betrachteten Lebensvorgangs. Kriterium 1 ist zum Beispiel anwendbar bei der traumatischen Eröffnung einer großen Schlagader, bei der es (unbehandelt) zum Tod durch Verbluten kommt, oder beim Vorliegen eines bösartigen Tumors (Krebs), der – wiederum unbehandelt – die noch verbleibende Lebenszeit des Betroffenen definitiv verkürzt. Kriterium 2 bezieht sich auf die subjektiv empfundenen Leiden, Beschwerden und Missempfindungen, die im körperlichen und vegetativemotionalen Bereich auftreten und universell und kulturunabhängig definiert werden können, also insbesondere Schmerzen jeder Art sowie Übelkeit, Atemnot, Schluckbeschwerden, Entleerungsstörungen von Blase und Darm, Schwindel, starker oder chronischer Juckreiz, Bewusstseinstrübungen und Bewusstseinsverlust und viele weitere. Hierhin gehören auch unangenehme affektive Zustände, wenn sie ohne adäquaten Anlass oder in inadäquater Intensität oder Dauer auftreten, zum Beispiel bestimmte Zustände von Antriebs- und Gefühllosigkeit, Angst oder Panik. Die medizinische Krankheitslehre beinhaltet eine vollständige Aufzählung der krankhaften Beschwerdeformen sowie empirisch präzisierte Kriterien dafür, was ein adäquater Anlass oder eine adäquate Intensität oder Dauer ist. Das Kriterium 3 ist eine medizinspezifische Erweiterung der ersten beiden Kriterien. Es erfasst den großen Bereich der angeborenen oder erworbenen Zustände, die zwar nicht direkt unter Kriterium 1 oder 2 fallen, die aber den Weg bereiten dafür, dass ein solcher krankhafter Zustand nach 1 oder 2 eintritt: also insbesondere Krankheitsdispositionen wie zum Beispiel eine Blutungsneigung wegen Gerinnungsstörung (Hämophilie), eine Allergie (allergische Disposition), die erst bei Kontakt mit dem Allergen zu manifesten Beschwerden führt, ein Krebs im Frühstadium (sog. Präkanzerose), der noch keine Symptome macht, aber bei maligner Entartung das Leben verkürzen wird, oder eine angeborene Gehbehinderung, die nur bei längerem Gehen oder Laufen zu Gelenkbeschwerden und Schmerzen führt. Kriterium 3 ist dasjenige Kriterium, das medizinischen Laien häufig nicht einleuchtet, da es sich auf Zustände bezieht, die subjektiv nicht (»noch nicht«) mit Beschwerden verbunden sind. Die medizinische Krankheitslehre muss solche Zustände aber als krankhaft einordnen, da sie sich vom gesunden Zustand (bei dem die Hämophilie, Allergie usw. nicht vorliegen würde) klar unterscheiden und meist auch behandelbar und behandlungswürdig sind.

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Das Kriterium 4 – die generelle Reproduktionsunfähigkeit – lässt sich zum Beispiel auf Zustände beziehen, in denen die Fortpflanzungsorgane durch genetisch bedingte Fehlbildungen, durch Infektionskrankheiten oder Verletzungen nicht vorhanden oder funktionsunfähig sind, oder bei denen eine neurotische Angst vor sexuellen Kontakten besteht. Auch psychosomatische Syndrome wie Vaginismus und erektile Dysfunktion gehören hierhin. Aus medizinischer Sicht ist die Einbeziehung dieser Zustände in die Krankheitslehre unproblematisch und völlig folgerichtig, auch wenn nicht alle Betroffenen sich selbst subjektiv als krank einschätzen: Die Ursachen und Mechanismen, die zu Reproduktionsunfähigkeit führen, sind völlig analog zu denen, die zu anderen somatischen oder psychischen Beschwerden, zu Behinderungen oder zu einem vorzeitigen Tod führen; und eine Krankheitseinsicht oder ein subjektives Sich-krank-Fühlen ist auch bei vielen anderen Krankheiten nicht unbedingt vorhanden, aber auch nicht notwendig. Kriterium 5 schließlich bezieht sich auf psychische Zustände wie Dissozialität, Autismus oder die paranoide Persönlichkeitsstörung; man kann auch körperliche Zustände wie die Dauerausscheidung infektiöser Keime bei symptomlosen Trägern hinzurechnen, insofern solche Personen unbehandelt jede menschliche Lebensgemeinschaft – unwissentlich und unabsichtlich – gesundheitlich gefährden. Die Krankhaftigkeit besteht in allen genannten Fällen darin, dass die betreffenden Personen in jeder menschlichen Lebensgemeinschaft, die nicht spezifische Behandlungsmaßnahmen gegen die betreffende Krankheit ergreift, Konflikte, gesundheitliche Probleme oder gravierende Verständigungsprobleme hervorrufen, ohne dass sie dies beabsichtigen. Die genannten fünf Kriterien explizieren, welche Lebensvorgänge wir als krankhaft beurteilen. Jedes einzelne Kriterium stellt eine hinreichende Bedingung für Krankhaftigkeit dar. Auszunehmen sind aber solche Lebensvorgänge, die universell auftreten und nach unserem besten Wissen und aller ärztlichen Erfahrung nach unvermeidlich und alternativlos sind, insofern sie jeder Mensch, oder zumindest jeder dafür überhaupt in Betracht kommende Mensch, erleiden bzw. durchleben muss, oder insofern alle bekannten Alternativen dazu ebenso schwere oder schwerere Nachteile mit sich bringen. So ist die generelle Sterblichkeit des Menschen, und also der Tod aus Altersschwäche, nicht krankhaft – auch wenn es streng genommen einen Tod aus Altersschwäche nicht gibt, sondern immer ein bestimmtes Organ- oder Systemversagen vorliegt: Sofern dieses Versagen eine Folge bloßer Alterserscheinungen und nicht spezifischer Erkrankungen ist, ist ein solcher Tod nicht pathologisch, weil auch Altern als solches unvermeidlich und daher nicht pathologisch ist. (Richtig ist allerdings auch, dass nur wenige Menschen einen solchen nicht-pathologischen Tod erreichen.)

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Unvermeidlich ist nicht nur das Altern, sondern die Entwicklung überhaupt, von der Zeugung und der Embryonal- und Fetalzeit über die Phase des Säuglings, Klein- und Schulkinds, die Adoleszenz und Maturität bis hin zur Seneszenz und Senilität. Dass sich ein Mensch jeweils in einer bestimmten Entwicklungsphase befindet und damit bestimmten Einschränkungen unterliegt – zum Beispiel mangelnde Reproduktionsfähigkeit in der Kindheit oder Gehbehinderung im Alter – ist daher ebenfalls nicht krankhaft. Daraus folgt auch, dass die Schwangerschaft keine Krankheit darstellt, da jede konkrete Schwangerschaft ja eine notwendige, unvermeidliche Phase im Leben eines konkreten Menschen – des noch Ungeborenen – ist. Allerdings ist die Schwangerschaft eine besondere Phase auch im Leben der Mutter, mit besonderen Krankheitsdispositionen und Einschränkungen, die jedoch als solche nicht krankhaft, sondern unvermeidlich (im Hinblick auf das Ungeborene) sind.23 Man kann nämlich nicht argumentieren, dass Schwangerschaft eine Krankheit sei, da sie ja für die schwangere Frau prinzipiell vermeidbar sei bzw. gewesen wäre: Das würde bedeuten, dass ein Mensch nur durch Krankheit (eines anderen Menschen) ins Leben treten kann; daraus würde weiter folgen, dass es ein Ziel der Medizin sein müsste, Schwangerschaft – als Krankheit – generell zu verhüten; und daraus würde folgen, dass die Medizin das möglichst umgehende Aussterben der Menschheit zum Ziel hätte. Es ist daher eine Einsicht des Common Sense, dass Schwangerschaft nicht zu den Zuständen gehört, auf die die positiven Krankheitskriterien überhaupt angewandt werden können. Dem trägt die wissenschaftliche Krankheitslehre dadurch Rechnung, dass sie Schwangerschaft zu den negativen Kriterien zählt, also zu den Zuständen, die vom Krankheitsbegriff ausgenommen sind.24 Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht ist ebenfalls unvermeidlich, kann als solche also nicht krankhaft sein, auch wenn die Prädispositionen zu bestimmten Erkrankungen geschlechtsspezifisch durchaus unterschiedlich sind. Daraus folgt weiter, dass auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Form der Intersexualität als solche nicht krankhaft ist, sondern erst dann eine Krankheit vorliegt, wenn zusätzliche Merkmale wie Unfruchtbarkeit, Missbildungen oder geistige Behinderung hinzukommen. Ein weiteres Beispiel für Unvermeidlichkeit: Bewusstseinsverluste durch plötzliche Blutdruckerniedrigung bei einem orthostatischen Kollaps (Kreislauf-

23 Damit ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass es außerdem spezifische Schwangerschaftserkrankungen gibt. 24 Die negativen Kriterien sind ausführlicher dargestellt in P. Hucklenbroich: »Der Krankheitsbegriff der Medizin in der Perspektive einer rekonstruktiven Wissenschaftstheorie«.

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versagen) oder einer vago-vasalen Synkope (Ohnmacht) sind krankhafte Erscheinungen, da sie sowohl subjektive Befindlichkeitsstörungen sind als auch objektive Gefährdungen beinhalten. Der Bewusstseinsverlust beim normalen nächtlichen Schlaf ist dagegen nicht krankhaft, weil er alternativlos ist: Wenn man den natürlichen Schlaf komplett unterdrückt – zum Beispiel durch ständiges Wachhalten oder Entfernung der Augenlider (resectis palpebris) –, kommt es nach wenigen Tagen zum Tod durch Schlafentzug, also zu einem Vorgang, der erheblich nachteiliger ist als das bloße Risiko der Wehrlosigkeit im Schlafzustand. Hier kann angemerkt werden, dass die Bedingung der Alternativlosigkeit sich nicht auf künstliche, medizinisch oder technisch herbeigeführte Alternativen bezieht: Ein Lebensvorgang gilt auch dann als alternativlos, wenn alle bekannten Alternativen nur durch künstliche Maßnahmen herbeigeführt werden können. Falls zum Beispiel durch neue pharmakologische oder genetische Eingriffe das Schlafbedürfnis ohne negative Folgen verringert oder aufgehoben werden könnte, würden wir den natürlichen Schlaf dennoch nicht als krankhaft betrachten. Die Bedingung der Alternativlosigkeit bezieht sich also nur auf natürliche, spontan vorkommende Alternativen. Die nach medizinischen Kriterien krankhaften Lebensvorgänge decken sich nicht immer mit den gesellschaftlich gängigen Krankheitsvorstellungen. Homosexualität und Masturbation sind Beispiele, die lange Zeit gesellschaftlich als krankhaft galten (und zum Teil noch gelten), obwohl sie nicht unter Krankheitskriterien fallen. Umgekehrt galten oder gelten manche Zustände gesellschaftlich als erwünscht, die medizinisch gesehen krankhaft sind, zum Beispiel die Lotusfüßchen im alten China oder die Giraffenhalsfrauen in Südostasien, aber auch die »Wespentaille« oder die Supermodel-Figur als Schönheitsideale in westlichen Gesellschaften: Diese Zustände sind mit Deformierungen, Instabilitäten oder Mangelernährung verbunden, die nach dem Kriterium 3 Krankheitswert besitzen. Es ist also Zurückhaltung geboten, wenn man aus gesellschaftlichen Wertvorstellungen medizinische Urteile abzuleiten versucht. Dies gilt auch in folgender Hinsicht: Bestimmte körperliche Zustände und seelische Eigenschaften und Verhaltensweisen sind in bestimmten Gesellschaften oder Gesellschaftsschichten unerwünscht und stigmatisiert, zum Beispiel bestimmte (›abweichende‹) Hautfarben oder ›rassische‹ Zugehörigkeiten, Minderwuchs, abstehende Ohren, lispelnde Aussprache (Sigmatismus), rote Haare usw. Träger solcher Merkmale werden ausgegrenzt, gekränkt oder lächerlich gemacht und leiden folglich unter ihrem Zustand bzw. dessen ›Folgen‹. Es wäre jedoch ein Kurzschluss, aus diesem Leiden zu folgern, dass das betreffende Merkmal – nach Kriterium 2 – krankhaft sei: Das Leiden ist keine strikt kausale Folge aus dem Vor-

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liegen dieses Merkmals, sondern es resultiert aus bestimmten gesellschaftlichen Wertvorstellungen bezüglich dieses Merkmals, dem dadurch veranlassten – meist unreflektierten – intentionalen Handeln gesellschaftlicher Akteure und der Wahrnehmung oder Erwartung dieser Reaktionen durch den Merkmalsträger. Es ist also keine Krankheit, sondern eine Kränkung bzw. Gekränktheit, wie man pointiert formulieren kann.25 In einer aufgeklärteren, humaneren Gesellschaft dürften diese Phänomene nicht vorkommen. Im medizinischen Sinne und nach Kriterium 2 wären die fraglichen Merkmale nur krankhaft, wenn sie ohne den ›Umweg‹ über die gesellschaftliche Wertung und Stigmatisierung zu Leiden führen würden – was aber definitiv nicht der Fall ist. Die bis hierhin aufgezählten positiven und negativen Kriterien für Krankhaftigkeit bilden die erste Stufe der Begriffsbildung in der Krankheitslehre. Die zweite Stufe wird dadurch gebildet, dass die einzelnen krankhaften Phänomene theoretisch und begrifflich in ein umfassendes, morphologisches und kausalfunktionales Modell des menschlichen Organismus eingebettet werden. Dieses Modell ist der Gegenstand der medizinischen Spezialgebiete Anatomie und Pathologische Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie, Biochemie und Pathobiochemie sowie Psychologie26 und Psychopathologie. Durch diese Einbettung wird auch der Bereich der krankhaften Phänomene beträchtlich erweitert, denn es werden jetzt auch alle Erscheinungen und Zustände als krankhaft gewertet, die ausschließlich als kausale Folgen von Erkrankungen auftreten, auch wenn sie nicht die primären Kriterien erfüllen. Es handelt sich hier zum Beispiel um Farb- und Formveränderungen an der Haut oder inneren Organen, Änderungen der Zusammensetzung von Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen, Veränderungen der Reaktion auf physiologische oder psychologische Tests und viele andere Merkmale, die sekundäre Krankheitsfolgen sind und daher üblicherweise als »krankhaft verändert« bezeichnet werden. Solche Veränderungen sind vor allem für die medizinische Diagnostik bedeutsam, sie können aber

25 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass solche Merkmale in anderer Hinsicht, das heißt nach anderen Kriterien, als krankhaft klassifiziert werden können, zum Beispiel der Sigmatismus als Sprechfehler (Dyslalie), der die Verständigung beeinträchtigt, oder der Minderwuchs bei bestimmten Grunderkrankungen als sekundäre Krankheitsfolge. 26 Gemeint ist hier die Medizinische Psychologie. Dass die Psychologie insgesamt nicht zur Medizin gerechnet wird, hat historische Gründe und ist von der Sache her eigentlich nicht begründet.

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auch Gegenstand therapeutischer Zielsetzungen sein, die auf ihre Beseitigung abzielen.27 Die dritte Stufe der Begriffsbildung wird dadurch erreicht, dass die vielfältigen krankhaften Phänomene als Teile und Manifestationen definierter einzelner Krankheiten (Krankheitsentitäten) aufgefasst werden und dadurch in ein System gebracht werden können. Das dahinter stehende Prinzip besagt, dass jeder krankhafte Zustand oder Vorgang, der an einem Menschen auftritt, durch das Vorliegen einer oder mehrerer solcher Krankheitsentitäten erklärt wird, deren Teil oder Folgeerscheinung er ist. Jede Krankheitsentität wird unter anderem durch spezifische Ursachen, Symptome, morphologische und physiologische Veränderungen, Verlauf und Prognose definiert. Die Krankheitsentitäten bilden als Allgemeinbegriffe Muster oder Typen, denen die einzelnen Erkrankungsfälle zugeordnet werden; sie werden nach verschiedenen Kategorien in einer Systematik geordnet, die als Nosologie bezeichnet wird und die den wesentlichen Inhalt der klinisch-medizinischen Disziplinen bildet. Beschwerdebilder, für die noch keine endgültige kausale Aufklärung vorliegt, werden in einer vorläufigen Systematik klinischen Syndromen als eigener nosologischer Kategorie zugeordnet; Syndrome sind gewissermaßen »Krankheitsentitäten im Wartezustand«, die noch der Bestätigung oder aber Neu-Definition bedürfen. Das Ziel der medizinischen Diagnostik und Differenzialdiagnostik besteht darin, ein – bei einem Patienten – gegebenes Beschwerdebild einer oder mehreren nosologischen Kategorien so zuzuordnen, dass eine gezielte Therapie und eine zuverlässige Prognose möglich werden. Diese speziellen Krankheitsbegriffe sind theoretische Begriffe der klinischen Medizin, die zugleich die ärztliche Praxis zentral strukturieren und steuern. Die Begriffsbildung der Krankheitslehre erreicht daher erst auf der Stufe der Definition von Krankheitsentitäten und ihrer Ordnung in einem nosologischen System die Form, die als voll entwickelte Form des medizinischen Krankheitsbegriffs gelten kann. Alle Diskussionen des Krankheitsbegriffs und der Ziele ärztlichen Handelns, die diese Form nicht berücksichtigen, gehen an ihrem Gegenstand vorbei.

27 Es gibt noch eine dritte, ›tertiäre‹ Form krankhafter Merkmale, zu denen die fakultativ pathologischen Zustände und Vorgänge sowie die Abweichungen von statistisch definierten Normwerten und -bereichen gehören. Vgl. dazu P. Hucklenbroich: »Der Krankheitsbegriff der Medizin in der Perspektive einer rekonstruktiven Wissenschaftstheorie«; ders.: »›Normal – anders – krank‹: Begriffsklärungen und theoretische Grundlagen zum Krankheitsbegriff«,

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K RANKHEITSBEGRIFF

UND

Z IELE

ÄRZTLICHEN

H ANDELNS

Wir können jetzt untersuchen, inwieweit die gängige ärztliche Praxis von den ›offiziell‹ deklarierten Zielen der Medizin abgedeckt ist. Dazu legen wir die oben bereits zitierte Zielformulierung des Hastings Center zugrunde (HCGM), die ja einen sehr breiten Konsensus wiedergibt.28 Es kann zunächst festgestellt werden, dass alle Maßnahmen, die dazu dienen, • •

eine diagnostizierte Krankheit (Krankheitsentität) zu behandeln (Therapie) oder eine mögliche oder zu erwartende Krankheit (Krankheitsentität) abzuwenden (Prävention),

vollständig unter die Zielformulierung subsumierbar und damit legitime Ziele ärztlichen Handelns sind: Therapie bedeutet Heilen und Pflege bei Krankheiten, Linderung von Schmerz, Leid und Sterben sowie das Verhindern eines vorzeitigen Todes; Prävention umfasst sowohl den speziellen Schutz vor bevorstehenden oder drohenden Krankheiten als auch die generelle Vorbeugung gegen ganze Krankheitsgruppen durch Stärkung der protektiven Faktoren im Organismus (Gesundheitsförderung). Wir fassen im Folgenden Therapie und Prävention auch unter dem Begriff der Krankenversorgung oder der krankheitsbezogenen Medizin zusammen. Dagegen sollte es vermieden werden, diese Begriffe unter dem Oberbegriff der kurativen Medizin zu subsumieren,29 da dies dem üblichen Sprachgebrauch nach sowohl die präventive als auch die palliative Medizin ausschließen würde. Erläuterungsbedürftig sind an dieser Stelle die Begriffe »Krankheitsprävention« und »Gesundheitsförderung«, insofern Maßnahmen zum Schutz vor und zur Vorbeugung von Krankheiten dem Sinn nach nicht darauf beschränkt sind, sich auf Eigenschaften des menschlichen Organismus zu beziehen, sondern auch die Eigenschaften der Umgebung einbeziehen: Umwelt- und Lebensmittelhygiene, Sicherheit und Ungefährlichkeit der Arbeitsumgebung, Seuchenprophylaxe und

28 Vgl. Fußnote 3. Die Hastings Center Goals of Medicine (HCGM) zählen folgende Punkte zu den Zielen der Medizin: Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung; Linderung von Schmerz und Leid, die durch Krankheit verursacht werden; Heilen von Krankheiten; Pflege, wenn eine Heilung nicht möglich ist; Verhinderung eines vorzeitigen Todes und Streben nach einem friedvollen Tod. 29 So zum Beispiel Kettner in seinen Arbeiten zur wunscherfüllenden Medizin, vgl. Fußnote 1.

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viele weitere Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens stellen präventive Maßnahmen dar und sind daher durchaus von den Zielen der Medizin abgedeckt. Selbst die Aufklärung der Bevölkerung über gesundheitsgefährdende Risiken und die Möglichkeiten ihrer Vermeidung – zum Beispiel im Falle des Rauchens – sind Prävention in diesem Sinne. Es liegt auf der Hand, dass mit dieser medizinisch korrekten Interpretation von Prävention sehr viel mehr Maßnahmen zu rechtfertigen wären, als gegenwärtig in den meisten staatlichen Gesundheitssystemen durchgeführt und finanziert werden. Dies ist aber kein Grund, solche Maßnahmen statt der Krankenversorgung nunmehr der wunscherfüllenden Medizin zuzurechnen, denn sie fallen eindeutig unter die HCGM-Formulierung. Es fällt weiterhin auf, dass in den HCGM diagnostische Maßnahmen oder Ziele überhaupt nicht erwähnt werden: Der große Bereich praktisch-klinischer Arbeit, der sich mit der Erkennung und Abklärung vorliegender Krankheiten befasst, wird nicht als ein eigenes Ziel der Medizin genannt. Das kann aber natürlich nicht bedeuten, dass die Diagnostik nicht von der Zielbestimmung der Medizin abgedeckt wäre. Vielmehr ist die Nicht-Erwähnung wohl so zu verstehen, dass die Diagnostik von Krankheiten als ein Teil ihrer Behandlung betrachtet wird, jedenfalls soweit sie für Therapie und Prognose notwendig ist, und deshalb keiner eigenen Erwähnung bedarf. Diagnostik ohne therapeutische oder prognostische Relevanz wäre dann allerdings nicht von den Zielen der Medizin abgedeckt – wie es auch dem gängigen Verständnis entspricht.30 Das bedeutet, dass zum Beispiel eine auf Wunsch eines Patienten durchgeführte Gendiagnostik, die lediglich dem Interesse an genetischer Selbsterkenntnis dient, nicht mehr zu den Aufgaben der Medizin im Sinne von Krankenversorgung zu zählen ist. Ebenso fällt auf, dass die Erforschung von Krankheiten und die Erforschung von therapeutischen und diagnostischen Methoden, also die gesamte medizinische Forschung (und Lehre), nicht in den HCGM erwähnt werden. Soll man das so verstehen, dass es nicht zu den Aufgaben der Ärzte gehört, die Wissensgrundlagen ihres Handelns selbst zu erarbeiten und an deren ständiger Erweiterung, Verbesserung und Weitergabe mitzuwirken? Auch dies kann nicht im Ernst gemeint sein. Die Nicht-Erwähnung von Forschung und Lehre dürfte wohl so zu interpretieren sein, dass sich die HCGM nur auf den praktischen Teil der Medizin beziehen und die Existenz und ständige Verbesserung der Wissensgrundlage vorausgesetzt werden. Für eine vollständige Formulierung der Ziele der Medizin, die auch ihren theoretischen Anteil abdecken sollen, wäre aber eine explizite Aufnahme der medizinischen Forschung und Lehre einzufordern.

30 Mit Ausnahme der Diagnostik, die im Rahmen von medizinischer Forschung erforderlich ist – siehe den nächsten Absatz.

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Die Formulierung der HCGM wäre also so zu präzisieren und zu ergänzen, dass auch die soziale und ökologische Prävention (also die Beseitigung krankmachender Bedingungen in der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt), die therapeutisch relevante Diagnostik und die medizinische Forschung zu den Zielen der Medizin gehören; dies kann vernünftigerweise kaum bestritten werden. In der ärztlichen Praxis sind nun aber auch eine Reihe von Maßnahmen üblich und allgemein akzeptiert, die aus Sicht der HCGM tatsächlich einer näheren Diskussion bedürfen, da sie prima facie nicht unter die Zielbestimmungen zu fallen scheinen. Diese seien im Einzelnen betrachtet. Maßnahmen, die der Krankenversorgung zugeordnet werden können Zuerst sollen eine Reihe von Maßnahmen betrachtet werden, die in Diskussionen immer wieder als Beispiele für wunscherfüllende Medizin genannt werden, so zum Beispiel auch bei Matthias Kettner.31 Ich werde zeigen, dass für alle diese Maßnahmen Argumente angegeben werden können, die stattdessen ihre Zuordnung zur krankheitsbezogenen Medizin nahe legen und plausibel machen. a) Da wäre zunächst die Behandlung von Altersbeschwerden und altersbedingten Beeinträchtigungen zu nennen. Da Altern als solches keine Krankheit ist – von speziellen Alterskrankheiten kann hier abgesehen werden –, deckt die Formulierung der HCGM solche Behandlungen nicht ab. Nun kann man aber argumentieren, dass solche Beschwerden und Beeinträchtigungen insofern echten Krankheiten gleichwertig sind, als ihr Auftreten in einem früheren Alter auf jeden Fall Krankheitswert besäße, und sie daher Krankheiten in praktischer Hinsicht gleichgestellt werden sollten – wenngleich die begriffliche Unterscheidung zwischen Krankheit und Altersbeschwerde bestehen bleibt. Wenn und soweit ein Konsensus besteht, dass solche Beschwerden und Beeinträchtigungen behandlungswürdig und insofern Krankheiten gleichzustellen sind, darf man sie als von der Zielsetzung der HCGM abgedeckt ansehen. Diese Gleichwertigkeit oder Gleichstellung sollte jedoch in der Formulierung der Ziele explizit festgehalten werden, da sie nicht selbstverständlich ist und grundsätzlich auch anders gesehen werden kann. Eine analoge Argumentation gilt für andere entwicklungsbedingt unvermeidliche Beschwerden, zum Beispiel für den Schmerz bei der Zahnung und den Geburtsschmerz.

31 Vgl. Fußnote 1.

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b) Eine verwandte Problemstellung ist die Behandlung von Zuständen, die man als Extremvarianten einer statistischen Verteilung sehen muss, ohne dass eine krankhafte Verursachung besteht, also zum Beispiel bestimmte Minderbegabungen, Intelligenzmängel oder körperlich-organische Schwächen. Gemeint sind hier solche Zustände, die bei durchschnittlich oder überdurchschnittlich veranlagten Menschen nur als Krankheitsfolge auftreten würden, während die hier Betrachteten schon ›von Natur aus‹ benachteiligt sind. Es handelt sich bei den Betroffenen sozusagen um Menschen, die in der biologischen Lotterie ein besonders ungünstiges Los gezogen haben, aber im Sinne des Krankheitsbegriffs nicht krank sind. Hier kann man, in Analogie zur Lage bei den Altersbeschwerden, für die praktische Gleichwertigkeit und Gleichstellung solcher Zustände zu Krankheiten plädieren, ohne die begriffliche Unterscheidung zu Krankheiten aufgeben zu müssen: Da bei anderen Menschen diese Zustände (nur als sekundäre Krankheitsfolge vorkommen und daher) Krankheitswert besitzen, ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, diese Zustände in praktischer Hinsicht – bezüglich der Behandlungsbedürftigkeit – gleichzustellen. Ein weiteres pragmatisches Argument für diese Gleichstellung kann sein, dass die faktische, differenzialdiagnostische Unterscheidung zwischen solchen statistisch extremen Normalvarianten und echten Krankheitsfolgen meist aufwendig und schwierig ist und es für die Praxis sinnvoller sein kann, solche Benachteiligungen ohne Differenzierung nach krankhaften und nicht krankhaften Ursachen gleichzubehandeln. c) Etwas anders liegen die Dinge bei der ›Behandlung‹ von Zuständen, die im Sinne des Krankheitsbegriffs keinesfalls krankhaft sind, die aber – zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Umgebungen – regelhaft dazu führen, dass die Betroffenen stigmatisiert werden, indem sie zum Beispiel gehänselt, lächerlich gemacht, benachteiligt, gemobbt oder sogar angegriffen, verfolgt und getötet werden. Solche Zustände können von roten Haaren und abstehenden Ohren32 über Hässlichkeit und Kleinwüchsigkeit bis hin zu Pigmentierungsanomalien der Haut reichen, die als Hexenmale zur Verurteilung und Verbrennung der Trägerin als Hexe führen. Ich hatte oben darauf hingewiesen, dass solche Merkmale nicht als krankhaft gelten können, wiewohl die Träger unter ihrem Zustand leiden. Dennoch kann man argumentieren, dass sowohl wegen dieses Leidens als auch wegen der zu befürchtenden gesellschaftlichen Kränkungen und Verletzungen eine Behandlung – sofern möglich – medizinisch indiziert sein kann: Es handelt sich dann um Schutz vor gesellschaftlich zugefügtem Leid, das von einer ›unvernünftig‹, naturwüchsig agierenden Gesellschaft zu erwarten ist, die hier also der

32 Bemerkenswerterweise existiert für diesen nicht krankhaften Zustand sogar ein medizinischer Terminus technicus, nämlich apostasis otum.

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›natürlichen‹ Umgebung zugerechnet werden kann. Mit der Beseitigung des Stigmas wird also gewissermaßen die Disposition zur Stigmatisierung beseitigt, in Analogie zur Beseitigung einer Disposition zur allergischen Reaktion. Auch hier handelt es sich zwar nur um eine Analogie, die aber für Leben und Gesundheit der Betroffenen von entscheidender Bedeutung sein kann. Natürlich gilt bei allen solchen »analogischen« Maßnahmen, genau wie bei den durch die Krankheitskriterien direkt gedeckten, das Gebot der Schadensminimierung: Der durch die Maßnahme abgewendete gesundheitliche Schaden (Kränkung, Verletzung, Tod) muss deutlich und erheblich größer sein als der Schaden bzw. die Belastungen durch die Maßnahme selbst. Beispielsweise wird in der Regel eine schwere Verstümmelung, wie es zum Beispiel die Amputation eines Körperteils oder die Beschneidung weiblicher Genitalien sind, nicht durch den dadurch zu vermeidenden Schaden aufgewogen werden können und daher nicht durch die Ziele der Medizin zu rechtfertigen sein. Es zeigt sich aber an diesem Beispiel auch, dass eine weite Auslegung der Schutz-Indikation direkt in gesellschaftliche Normkonflikte führen kann. d) Ein weiterer Fall sind die Schwangerschaftsverhütung und der Schwangerschaftsabbruch. Wie oben erklärt, ist Schwangerschaft keine Krankheit. Wenn medizinische Maßnahmen zur Prävention oder ›Beseitigung‹ einer Schwangerschaft ergriffen werden, fällt dies also nicht unter die expliziten Ziele der HCGM. Zur Begründung solcher Maßnahmen kann aber auf eine ähnliche Argumentation wie im vorigen Fall zurückgegriffen werden: Wenn die Lebensumstände der Frau von der Art sind, dass eine Schwangerschaft eine gravierende vitale oder soziale Bedrohung oder Benachteiligung zur Folge hätte, kann eine Indikation zum Schutz der Betroffenen als gegeben angesehen werden. Als eine solche Benachteiligung kann man, neben direkter Lebensgefährdung der Frau, durchaus auch die drohende Zerstörung einer Lebensplanung oder einer persönlichen oder beruflichen Entwicklung betrachten – nicht dagegen eine bloße, vorübergehende Beeinträchtigung von Stimmung und Laune. Allerdings wird die Sachlage im Falle des Abbruchs einer bestehenden Schwangerschaft dadurch komplizierter, dass die Leibesfrucht als ein werdender Mensch existiert, dessen Leben und Gesundheit ebenfalls grundsätzlich zu berücksichtigen sind. Daraus ergibt sich eine Problematik, die zu den bekannten ethischen Problemen und Dilemmata um die ›Abtreibung‹ führt. Die Argumentation zur Schwangerschaftsverhütung lässt sich grundsätzlich auch auf den Fall der Sterilisierung übertragen, sowohl bei weiblichen als auch bei männlichen Patienten. e) Dagegen sind die ärztliche Mitwirkung bei der Herbeiführung einer Schwangerschaft (assistierte Reproduktion) und bei der Schwangerschaftsüberwachung und Geburtshilfe direkt vom Krankheitsbegriff gedeckt: Die Herbei-

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führung einer Schwangerschaft bei einem ansonsten unfruchtbaren Paar ist eine Behandlung der Unfähigkeit zur Reproduktion, die nach Kriterium 4 krankhaft ist; die Schwangerschafts- und Geburtsüberwachung dient der Prävention krankhafter Ereignisse in diesen besonderen Risikosituationen. Für den Spezialfall der Präimplantationsdiagnostik (PID) bei assistierter Reproduktion gilt: Wenn die PID durchgeführt wird, um sicherzustellen, dass es nicht zu einer Schwangerschaft kommt, die unter eine Abbruchindikation fallen würde, dann ist sie von den Zielen gemäß HCGM her genauso (positiv) zu beurteilen, wie es eine spätere pränatale Diagnostik wäre.33 f) Drei weitere Sonderfälle, die uns dicht an die Grenze der Medizin als Krankenversorgung führen, sind die Organ- und Gewebespende, die ›Geschlechtsumwandlung‹ bei Transsexualität (Geschlechtsidentitätsstörung) und die Behandlung des Pathologischen Amputationswunsches bzw. der Body Integrity Identity Disorder (BIID). f1) Zunächst zur Spende von Organen (etwa Niere), Geweben (etwa Knochenmark) oder einzelnen Zellen (etwa Ei- oder Samenzellen). Wir betrachten hier nur Fälle, bei denen die Spende den Zweck hat, einem anderen Menschen das Leben zu retten, ihn von einer Krankheit zu heilen oder seine Unfruchtbarkeit zu behandeln. In all diesen Fällen muss sich ja der Spender einer mehr oder weniger eingreifenden Maßnahme zur Entnahme bzw. Gewinnung des Spendermaterials unterziehen, oft mit zusätzlichen Maßnahmen zur Vor- und Nachbereitung der Entnahme. Diese Maßnahmen stellen für den Spender natürlich weder Therapie noch Prävention dar, sind also bezogen auf ihn keine Krankenversorgung. Wohl aber sind sie notwendige Maßnahmen im Rahmen der Krankenversorgung des Empfängers und dürfen daher ebenfalls unter die Ziele der Medizin subsumiert werden. f2) Im Falle der Transsexualität liegt definitionsgemäß ein starker Wunsch des Patienten nach einem Wechsel bzw. einer Anpassung seines Geschlechts vor, verbunden mit Leiden unter seinem aktuellen Geschlecht. Dieser Zustand wird heute in den Systemen DSM-IV und ICD-10 als krankhaft klassifiziert, und zwar als eine Störung der Geschlechtsidentität (DSM 302.86 bzw. ICD F64.0). Das zugrunde liegende Kriterium ist wohl das des Leidens, also unser Kriterium 2. Die Ursachen für diesen Zustand – folglich auch die genaue Definition der Krankheitsentität – sind noch nicht vollständig geklärt, es werden neben psychischen insbesondere auch neurophysiologisch-neuropsychologische Ursachen

33 Ganz parallel argumentiert Reinhard Merkel aus juristisch-rechtsphilosophischer Sicht zur Einschätzung der PID: Reinhard Merkel: »Lebensrecht und Gentest schließen sich aus«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.8.2010, S. 30.

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vermutet. Unabhängig von einer Klärung kann aber gesagt werden, dass eine Behandlung dieses Zustands, die durch hormonelle und/oder operative Maßnahmen eine Angleichung des körperlichen Geschlechts an die empfundene Geschlechtsidentität bewirkt, als eine Behandlung des Leidens und damit als Therapie im Sinne von HCGM gewertet werden kann. Ob diese Therapieform die optimale ist und ob weitere Forschung nicht zu einer anderen, kausalen Therapie führen könnte, ist damit noch keineswegs vorentschieden. f3) Im Falle der BIID liegt ein Zustand vor, bei dem eine betroffene Person einen bestimmten Körperteil – zum Beispiel ein Bein – als fremd empfindet, unter seiner Existenz leidet und den dringenden Wunsch verspürt, von diesem Körperteil befreit zu werden, zum Beispiel durch eine Operation.34 Hier ist die theoretische Situation ähnlich wie im vorigen Falle nicht endgültig geklärt, es werden ebenfalls (unter anderem) neurologisch-neuropsychologische Ursachen vermutet. Eine operative ›Therapie‹, also eine Amputation des als fremd empfundenen Körperteils, beinhaltet aber im Unterschied zum vorigen Fall eine erhebliche Schädigung der betroffenen Person, da sie zu einer körperlichen Behinderung und Invalidisierung führen würde. Die Beurteilung nach HCGM muss daher ergänzt werden um das Ergebnis einer Nutzen/Schaden-Abwägung und würde ergeben, dass eine Amputation zwar in Bezug auf den Leidenszustand prima facie als Therapie gewertet könnte, unter Berücksichtigung der Nutzen/Schaden-Abwägung aber nicht als indiziert angesehen werden kann. Dieses Ergebnis macht uns darauf aufmerksam, dass die HCGM-Formulierung in einer weiteren Hinsicht ergänzungsbedürftig ist: Medizinische Maßnahmen müssen nicht nur dem Ziel der Krankenversorgung (gemäß HCGM) generell subsumiert werden können, sondern sie müssen zusätzlich auch einem Prinzip der Schadensvermeidung gehorchen (primum nil nocere). Überlegungen und Abwägungen dieser Art führen insgesamt zur Differenzialindikation und Differenzialtherapeutik, zwei weiteren normativen Grundlagen der praktischen Medizin neben den generellen Zielen nach HCGM. g) Schließlich sei noch auf die genetisch individualisierte Medizin eingegangen: Es ist damit zu rechnen, dass durch die Möglichkeiten der Gendiagnostik in Zukunft sowohl die Diagnose der Erkrankung als auch die Therapie stärker den

34 Zu diesem Krankheitsbild vgl. Sabine Müller: »Body Integrity Identity Disorder (BIID) – Ist der Amputationswunsch eine autonome Entscheidung oder Ausdruck einer neurologischen Störung?«, in: Dominik Groß/Sabine Müller/Jan Steinmetzer (Hg.), Normal – anders – krank?, S. 229–266; dies.: »Body Integrity Identity Disorder (BIID) – Lassen sich Amputationen gesunder Gliedmaßen ethisch rechtfertigen?«, in: Ethik in der Medizin 20 (2008), S. 287–299.

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ganz individuellen Genotypus des Patienten werden berücksichtigen können. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass Krankheiten, für die eine individuelle Disposition besteht, wirkungsvoller und früher verhütet werden können, oder dass bei der Auswahl mehrerer möglicher Medikamente für eine Behandlung ohne ›Herumprobieren‹ gleich dasjenige gefunden werden kann, das bei dem Betroffenen optimal wirkt und am wenigsten unerwünschte Wirkungen zeitigt (Pharmakogenomik). Ob und inwieweit eine solche individualisierte Medizin wünschenswert und ökonomisch realisierbar ist, wird in der Medizinethik derzeit kontrovers diskutiert. Unabhängig von dieser Kontroverse kann aber gesagt werden, dass eine solche individualisierte Medizin, wenn sie denn realisierbar ist, dann jedenfalls den traditionellen Zielen der Medizin gemäß HCGM nicht nur voll subsumierbar wäre, sondern sie sogar besser als vorher zu realisieren gestatten würde. Die individualisierte Medizin ist also kein Fall von wunscherfüllender Medizin, sondern wäre beste traditionelle Krankenversorgung. Es ist damit gezeigt, dass die in a) bis g) genannten Maßnahmen keineswegs, wie oft unterstellt, die Ziele der Krankenversorgung verlassen haben in Richtung einer wunscherfüllenden Medizin. Im abschließenden Abschnitt sollen nun im Sinne eines Kontrasts einige typische Maßnahmen vorgestellt werden, die nicht zur Krankenversorgung gerechnet werden können. Ob sie sinnvollerweise unter einen gemeinsamen Oberbegriff wie »wunscherfüllende Medizin« subsumiert werden können oder sollten, oder wie sie anderweitig zu klassifizieren sind, muss an dieser Stelle offen gelassen werden. Maßnahmen, die nicht der Krankenversorgung zugeordnet werden können Die folgende Aufzählung ist als eine bloß beschreibende und exemplarisch gemeinte zu verstehen. Eine Wertung oder ethische Abwägung wird hier nicht vorgenommen. a) Maßnahmen mit dem Ziel der Steigerung von Fähigkeiten, die nicht krankhaft verändert sind: Hierhin gehören etwa Maßnahmen zur Steigerung körperlicher Fähigkeiten, wie sie bei Sportlern als Doping oder bei Soldaten zur Erhöhung von Kampfkraft und Kampfmoral bekannt sind; Maßnahmen zur Erhöhung von Konzentration und Aufmerksamkeit zum Beispiel bei Prüfungskandidaten; Maßnahmen zur Verbesserung des Gedächtnisses in Lernsituationen, usw. Die angestrebten Ziele stammen aus dem Bereich sportlicher, militärischer oder sonstiger sozialer Kampf- und Wettbewerbssituationen und zielen auf Erfolgsmaximierung.

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b) Maßnahmen zur Stimmungsverbesserung, Bewusstseinserweiterung oder Steigerung der Genussfähigkeit: Hierhin gehören Medikamente, Drogen und Rauschmittel, die nicht zur Behandlung krankhaft veränderter Stimmungslagen und Affekte, sondern zur Erzeugung positiv erwünschter Stimmungen und Bewusstseinszustände oder einfach aus Neugier und Experimentierlust genommen werden. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass dieselben Substanzen auch in der Krankenversorgung verwendet werden können, aber die hier angestrebten Ziele sind die Empfindungen von Freude, Glück, Zufriedenheit, die Befriedigung von Neugier und Abenteuerlust und das Erleben von Rauschzuständen. Es handelt sich um Ziele, die anscheinend zum Menschsein in allen kulturellen Formen dazugehören, sich aber von den Zielen der Krankenversorgung klar unterscheiden lassen. c) Maßnahmen zur Verschönerung des Körpers, Verlängerung des Lebens, Verjüngung des Aussehens oder Verstärkung von Libido und Potenz: Hier werden alte menschliche Wunschträume und Utopien zu realisieren versucht, die – letztlich – auf ewiges Leben, immerwährende Jugend und Schönheit und unerschöpflichen erotischen Genuss zielen. Neu ist allenfalls, dass diese Ziele mit medizinischen Mitteln erreicht werden sollen oder wenigstens eine Annäherung daran versucht wird. Wie immer man zu diesen Zielen stehen mag – sie sind jedenfalls nicht von den Zielen der Krankenversorgung gedeckt. Die oben unter a) bis c) aufgezählten Maßnahmen lassen sich nicht mehr unter die (traditionellen) Ziele der Medizin subsumieren, auch wenn man die Formulierung von HCGM gemäß den oben genannten Überlegungen präzisiert und erweitert. Sie verfolgen Ziele anderer Art. Gehören sie daher zu einer neuen Form von Medizin, der wunscherfüllenden Medizin? Es stellt sich eher die Frage, ob man solche Techniken überhaupt als Medizin bezeichnen soll, oder ob sie stattdessen nicht besser von ihren eigenen Zielsetzungen her zu benennen wären: Also zum Beispiel als (medikamentöse) Leistungssteigerung, (operative) Körperveränderung, (technische) Lustbefriedigung usw. Angesichts der Heterogenität dieser Zielsetzungen und Techniken erscheint es durchaus als fraglich, ob sie wegen der bloßen gemeinsamen Herkunft ihrer Methoden aus der krankenversorgenden Medizin auch schon als ein einheitliches Praxisgebiet betrachtet werden können. Dazu seien abschließend noch zwei Bemerkungen hinzugefügt, die zu berücksichtigen wären, bevor eine ethische Bewertung der unter a) bis c) genannten Maßnahmen vorgenommen wird: Es ist – erstens – fast immer möglich, Ziele auf verschiedenen Wegen zu erreichen. Daher ist es immer auch denkbar, dass eine der unter a) bis c) genannten Maßnahmen durchgeführt wird anstelle einer anderen möglichen, vielleicht bislang ›üblicheren‹ Methode: So können Doping

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anstelle von Lernen oder Training, Stimmungsaufheller anstelle von aufbauenden Gesprächen und Lifting-Maßnahmen anstelle von Kosmetik eingesetzt werden. Bei einer ethischen Bewertung sollte nicht umstandslos in all den genannten Fällen von einer »Medikalisierung« von Lebensbereichen gesprochen werden, sondern vielmehr in der konkreten Situation ein Vergleich der existierenden Methoden erfolgen unter Berücksichtigung dessen, was möglich und zugänglich ist. Zweitens trifft auch zu, dass häufig mit ein und derselben Maßnahme gleichzeitig mehrere Ziele verfolgt und erreicht werden. Beispielsweise kann sexuelle Betätigung bekanntlich gleichzeitig der Befriedigung des Lustempfindens und der Fortpflanzung dienen oder Sport zugleich der körperlichen Ertüchtigung und der Unterhaltung der Zuschauer (und vielleicht zugleich noch dem Gelderwerb). Auch unter diesem Gesichtspunkt ist also die Bewertung einer konkreten Handlung oder Maßnahme nicht umstandslos einem vorweg unterstellten Ziel zuzuordnen, sondern es müssen die wirklich verfolgten Ziele ermittelt werden, um eine zutreffende Bewertung zu erhalten.35

35 Weitergehende Ausführungen zu diesem gesamten Thema finden sich in Alena Buyx/Peter Hucklenbroich: »›Wunscherfüllende Medizin‹ und Krankheitsbegriff: Eine medizintheoretische Analyse«, in: Matthias Kettner (Hg.), Wunscherfüllende Medizin, S. 25–53. Vgl. auch: Peter Hucklenbroich: »Der Krankheitsbegriff als Unterscheidungskriterium zwischen Therapie und Enhancement«, in: Jan C. Joerden et al. (Hg.): Menschenwürde und moderne Medizintechnik. Bd. 2, Baden-Baden 2011 (im Druck).

IV Biomedizin als Instrument der Wunscherfüllung?

Biopolitik in Zeiten des Enhancements Von der Normalisierung zur Optimierung P ETER W EHLING

E INLEITUNG : E NHANCEMENT T ECHNISIERUNGSPROJEKT

ALS BIOPOLITISCHES

Unter dem Titel »Enhancement« oder »Human Enhancement« werden seit einigen Jahren in den Wissenschaften wie in der Öffentlichkeit weitreichende Veränderungen und ›Verbesserungen‹ des menschlichen Körpers, seiner Funktionen und physischen oder kognitiv-mentalen Fähigkeiten diskutiert. Ein markantes Beispiel für die dabei keineswegs unüblichen äußerst vollmundigen Versprechungen liefert der amerikanische Nanoforscher Robert Freitas: »[…] unser endgültiger Sieg über die Geißel des natürlichen biologischen Todes, den wir im Lauf dieses Jahrhunderts erreichen werden, sollte die gesunde Lebensspanne normaler Menschen um mindestens das Zehn- oder Zwanzigfache ihrer bisherigen Maximallänge erhöhen.«1 Unter dem Ende der 1990er Jahre in die bioethische und biopolitische Diskussion eingeführten (und mittlerweile auch ins Deutsche eingebürgerten) Begriff »Enhancement« werden neben solchen Visionen zur ›Abschaffung‹ des Alterns weitere, teils hochgradig spekulative, teils aber auch bereits etablierte Forschungsfelder von Biomedizin und Biotechnologie zusammengefasst.2 Dazu gehören unter anderem Ansätze zur pharmakologischen

1

Robert Freitas Jr.: »Nanomedizin. Die Suche nach unfallbegrenzten Lebensspannen«, in: Sebastian Knell/Marcel Weber (Hg.), Länger leben? Philosophische und biowissenschaftliche Perspektiven, Frankfurt/M. 2009, S. 63–73, hier S. 73.

2

Vgl. zu den Anfängen der aktuellen Diskussion um Enhancement die Beiträge in Erik Parens (Hg.): Enhancing Human Traits. Ethical and Social Implications, Washington,

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oder informationstechnischen Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit sowie des psychischen Wohlbefindens (das sogenannte »Neuro-Enhancement«), verschiedene Bemühungen um eine genetische Optimierung des menschlichen Körpers sowie die inzwischen weitverbreiteten kosmetisch-chirurgischen Eingriffe zur Verbesserung des körperlichen Aussehens. Häufig wird gegen Visionen wie die von Freitas propagierte Ausweitung der menschlichen Lebensspanne auf bis zu 2000 Jahre oder gegen die Idee einer gentechnischen Verbesserung des menschlichen Moralempfindens3 eingewandt, sie seien weit von jeglicher technischer Umsetzung entfernt und vermutlich ohnehin nie zu realisieren. Nicht nur viele Sozialwissenschaftler, sondern auch manche Naturwissenschaftler sehen in den entsprechenden Diskussionen daher »Phantom-Debatten«4 und raten, den Aufgeregtheiten von einigen Fachwissenschaftlern und Bioethikern nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. So berechtigt solche Hinweise sind, treffen sie dennoch nicht den Kern des Enhancement-Diskurses, da sie sich zu eng auf die Ebene materialer Techniken beziehen. Ich schlage demgegenüber vor, die Debatte über Enhancement mit einem Begriff von Werner Rammert5 als Teil eines biopolitischen Technisierungsprojekts zu begreifen. Dieses Projekt umfasst gleichermaßen physisch-materiale wie diskursiv-argumentative Bemühungen, Teile des menschlichen Körpers und Gehirns, die bisher nicht oder nur schwach technisiert sind, zum legitimen Gegenstand biotechnologischer Gestaltung zu machen. Technisierungsprojekte beinhalten somit wesentlich mehr als die Entwicklung funktionierender technischer Artefakte; sie besitzen darüber hinaus eine symbolische Dimension, die allerdings häufig latent bleibt, wenn die in Rede stehenden Technisierungen sozial unumstritten sind. Wo dies nicht der Fall ist, wie bei den Debatten um die biotechno-

D.C. 1998 sowie in Bettina Schöne-Seifert/Davinia Talbot (Hg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009. 3

Vgl. etwa Julian Savulescu: »Genetic Interventions and the Ethics of Enhancement of Human Beings«, in: Bonnie Steinbock (Hg.), The Oxford Handbook of Bioethics, Oxford 2007, S. 516–535, hier S. 523.

4

Vgl. Boris Quednow: »Ethics of neuroenhancement: A phantom debate«, in: BioSocieties 5 (2010), S. 153–156.

5

Vgl. Werner Rammert: Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie, Wiesbaden, S. 28.; vgl. auch Peter Wehling: »›Anticipatory Governance‹ von Technisierungsprojekten? Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel von Enhancement-Technologien«, in: Georg Aichholzer et al. (Hg.), Technology Governance. Der Beitrag der Technikfolgenabschätzung, Berlin 2010, S. 155–162.

B IOPOLITIK IN Z EITEN DES E NHANCEMENTS

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logische »Perfektionierung des Menschen«6, liefern Technisierungsprojekte Begründungen dafür, dass bestimmte Phänomene und Prozesse nicht nur technisierbar, sondern auch technisierungsbedürftig seien, dass es also nicht nur möglich, sondern auch gerechtfertigt oder sogar geboten ist, technisch gestaltend einzugreifen. Zugleich werden legitim erscheinende Nutzungsformen und -ziele für entsprechende Technologien entworfen, die sich in der Entwicklung befinden oder zumindest hypothetisch denkbar sind. Über den ›Erfolg‹ von Technisierungsprojekten wird somit nicht allein auf der Ebene funktionsfähiger Artefakte, sondern auch auf der Ebene diskursiver Durchsetzung und argumentativer Überzeugungskraft entschieden. Auf dieser Ebene sind Technisierungsprojekte dann erfolgreich, wenn die vorgeschlagenen Nutzungen und Ziele als legitim anerkannt und die zugrunde liegenden argumentativen und normativen Prämissen explizit oder implizit übernommen werden. Aus diesem Grund können Technisierungsprojekte auch dann (diskursiven) Erfolg haben und sozial wirksam werden, wenn die entsprechenden technischen Artefakte sich als gar nicht realisierbar herausstellen. Die symbolisch-legitimatorische Dimension des biopolitischen Technisierungsprojekts »Human Enhancement« lässt sich in dem folgenden Zitat recht gut erkennen: »Wenn Psychopharmaka erwiesenermaßen effektiv und nebenwirkungsarm sind und von einer Person aus wohlüberlegten Gründen heraus erwünscht werden, dann wird man sie wohl nicht verbieten können – man sollte sie auch gar nicht verbieten: Sie könnten von großem individuellem und gesellschaftlichem Nutzen sein – von Schulkindern, die sich besser konzentrieren können, über Piloten, die aufmerksamer sind, bis hin zu Rentnern, die nicht allzu schnell ihre Gedächtnisleistungen aufgeben müssen.«7

Hier wird nicht nur unterstellt, dass die Konzentrationsfähigkeit von Schulkindern, die Aufmerksamkeit von Piloten, die Gedächtnisleistungen von Rentnern technologisch verbessert werden können, sondern dass es auch nützlich und wünschenswert ist, dies zu tun. Unausgesprochen wird suggeriert, die ›normale‹ kognitive Leistungsfähigkeit dieser Personengruppen lasse zu wünschen übrig – wobei es hier wohlgemerkt um gesunde Kinder, Piloten und Rentner geht, nicht

6

Vgl. Bernward Gesang: Perfektionierung des Menschen, Berlin 2007.

7

Matthis Synofzik: »Psychopharmakologisches Enhancement. Ethische Kriterien jenseits der Treatment-Enhancement-Unterscheidung«, in: Bettina Schöne-Seifert et al. (Hg.), Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen, Paderborn 2009, S. 49–68, hier S. 66, Hervorhebung im Original.

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um kranke, beeinträchtigte Menschen. Die Passage verdeutlicht, dass derartige Aussagen weitreichende soziale und kulturelle Konsequenzen haben können, indem sie die Erwartungen an die kognitive Leistungsfähigkeit von Schulkindern, Piloten und Rentnern erweitern und verschieben – und damit den Bedarf an technischen Optimierungen weniger argumentativ begründen, als vielmehr diskursiv behaupten. Während die normativen Wertungen bei Synofzik im Horizont allgemeiner Nützlichkeitserwägungen eher implizit bleiben, konstruieren die beiden Bioethiker Robert Ranisch und Julian Savulescu eine regelrechte Pflicht zum Enhancement (auch und gerade von Kindern), indem sie biotechnologisch erzielbare Leistungssteigerungen mit der Behandlung von Krankheiten gleichsetzen: »In der Form, in der wir die Pflicht haben, Krankheiten unserer Kinder zu behandeln, haben wir die Verpflichtung, ihre Biologie zu verbessern.«8 Solche Äußerungen lassen erkennen, dass Enhancement als diskursives Technisierungsprojekt längst begonnen hat und offenbar auch recht erfolgreich ist, zumindest in der (im weitesten Sinne) ethischen Debatte: Man denke nur an die in den letzten Jahren veröffentlichten Memoranden anglo-amerikanischer und deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich für die Nutzung (mutmaßlich) leistungssteigernder Psychopharmaka durch gesunde Menschen zu Enhancement-Zwecken aussprechen.9 Wir leben also bereits »in Zeiten des Enhancements«, selbst wenn die propagierten Psychopharmaka gar keine kognitive Leistungssteigerung bei Gesunden bewirken und genetische Technologien zur ›Verbesserung‹ unserer Biologie nie verfügbar sein sollten.

8

Vgl. Robert Ranisch/Julian Savulescu: »Ethik und Enhancement«, in: Nikolaus Knoepffler/Julian Savulescu (Hg.), Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg/München 2009, S. 21–54, hier S. 36. Die Verfechter des Enhancements argumentieren hier mit zweifelhaften Analogien, denn die unstrittige normative Verpflichtung zur medizinischen Behandlung erkrankter Personen erwächst nicht allein und nicht primär aus einer wie auch immer definierten Minderung ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit, sondern vor allem aus dem physischen oder psychischen Leiden der betroffenen Menschen, ein Faktor, der beim Enhancement Gesunder vollkommen fehlt. Daher ist die Behauptung von Ranisch und Savulescu (ebd., S. 33), der Behandlung von Krankheiten liege dasselbe Ziel zugrunde wie dem Enhancement, nämlich die »Förderung des Wohlbefindens und damit der Chancen auf ein gutes Leben«, keineswegs evident und unstrittig.

9

Vgl. Henry Greely et al.: »Towards responsible use of cognitive-enhancing drugs by the healthy«, in: Nature 456 (2008), S. 702–705 sowie Thorsten Galert et al.: »Das optimierte Gehirn«, in: Gehirn&Geist 11 (2009), S. 40–48.

B IOPOLITIK IN Z EITEN DES E NHANCEMENTS

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Vor diesem Hintergrund lassen sich die Fragestellungen näher umreißen, denen ich im Folgenden nachgehen möchte: Wie verändern sich Biopolitik und unser analytisches Verständnis von Biopolitik im Horizont des EnhancementDiskurses? Welche Einblicke in die Dynamik des Enhancements gewinnen wir, wenn wir es weder als Thema nur der Bioethik noch allein der Technikentwicklung begreifen, sondern als neue Erscheinungsform und neuartige Konstellation von Biopolitik? Wodurch ist Biopolitik unter dem Leitbild des Enhancements charakterisiert, welche Ambivalenzen erzeugt sie und welche Gegenpositionen erscheinen als aussichtsreich? Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen, möchte ich zunächst in aller Kürze die beiden kontrovers diskutierten Schlüsselbegriffe »Biopolitik« und »Enhancement« näher erläutern und dabei zugleich verdeutlichen, worin hierbei die Aufgaben einer »kritischen Soziologie der Biopolitik« bestehen.10 Danach möchte ich die sich abzeichnenden Konturen einer Biopolitik im Zeichen des Enhancements anhand zweier Themenkomplexe skizzieren: zum einen im Blick auf die Verschiebung des Impetus von Biopolitik von der Normalisierung zur Optimierung, zum anderen anhand aktueller Bestrebungen zur diskursiven Konstruktion des »unvollkommenen« menschlichen Körpers. Da optimierende Biopolitik gezielt und bewusst versucht, über eine »naturgegebene» Normalität des menschlichen Körpers hinauszugehen, greife ich abschließend die Frage auf, inwieweit die Berufung auf die Natürlichkeit des Menschen ein begrenzendes Potenzial gegenüber solchen Visionen besitzen könnte.

B IOPOLITIK ALS TECHNISCHE G RENZÜBERSCHREITUNG

UND DISKURSIVE

Wie angedeutet sind sowohl Biopolitik als auch Enhancement äußerst umstrittene Begriffe; die Frage, was darunter jeweils zu verstehen ist, bildet selbst einen Teil der einschlägigen politischen Auseinandersetzungen und wissenschaftlichen Debatten. Im Folgenden geht es mir weniger darum, das ›richtige‹ Verständnis der beiden Begriffe zu liefern, sondern eher darum zu zeigen, wie die einschlägigen Debatten durch kontrastierende Begriffsdefinitionen je unterschiedlich strukturiert werden und welche dieser Auffassungen eine gleichermaßen offene wie historisch kontextualisierte Problemwahrnehmung ermöglichen.

10 Vgl. ausführlicher Peter Wehling: »Selbstbestimmung oder sozialer Optimierungsdruck? Perspektiven einer kritischen Soziologie der Biopolitik«, in: Leviathan 36 (2008), S. 249–273.

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Der Begriff der Biopolitik hat in den letzten Jahren großes Interesse sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der öffentlichen, politischen und ethischen Debatte gefunden. Dementsprechend existiert eine nur schwer überschaubare Vielfalt von unterschiedlichen Deutungen und Akzentuierungen des Begriffs, auf die ich hier nicht im Detail eingehen kann.11 Etwas vereinfacht kann man jedoch sagen, dass sowohl die sozialwissenschaftliche Diskussion als auch die gesellschaftliche Debatte durch zwei kontrastierende Auffassungen geprägt werden: Auf der einen Seite steht eine Konzeption von Biopolitik, die primär auf das Treffen kollektiv bindender Entscheidungen über die Nutzung neuer biotechnischer Optionen sowie über Streitfragen im Umgang mit dem menschlichen Leben (Präimplantationsdiagnostik, sogenannte Sterbehilfe, Organspende etc.) abstellt. Diese Auffassung von Biopolitik wird in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Diskussion pointiert von Wolfgang van den Daele, einem langjährigen Mitglied des früheren Nationalen Ethikrates, vertreten.12 Van den Daele zufolge reagiert Biopolitik auf technische Grenzüberschreitungen, also darauf, »dass Randbedingungen der menschlichen Natur, die bislang fraglos galten, weil sie jenseits unseres technischen Könnens lagen, verfügbar werden«.13 Sowohl Biopolitik selbst als auch der soziologische Zugang dazu werden hier sehr eng ausgelegt.14 Biopolitik wird verstanden als nachträgliches Reagieren auf vorgängige technische Entwicklungen, deren Hintergründe und Antriebskräfte selbst nicht als Teil von Biopolitik begriffen werden. Dieser Auffassung steht eine diskurs- und machtanalytische Perspektive gegenüber, die im Anschluss an Michel Foucault untersucht, wie das biologische menschliche Leben und der menschliche Körper seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr zum Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung und politischer Intervention mit dem Ziel der Leistungs- und Nutzensteigerung geworden sind. Während die erstere Auffassung Biopolitik im Wesentlichen als ein Politikfeld (ähnlich wie Umweltpolitik oder Wissenschaftspolitik) begreift, nämlich dasjenige Feld, in dem die Zulässigkeit technischer Eingriffe in die menschliche Natur zur politischen Entscheidung steht, versteht die an Foucault orientierte Konzeption

11 Vgl. hierzu Thomas Lemke: Biopolitik zur Einführung, Hamburg 2007. 12 Vgl. Wolfgang van den Daele: »Soziologische Aufklärung zur Biopolitik«, in: ders. (Hg.), Biopolitik, Leviathan, Sonderheft 23 (2005), Wiesbaden, S. 7–41 sowie ders.: »Biopolitik, Biomacht und soziologische Analyse«, in: Leviathan 37 (2009), S. 52– 76. 13 W. van den Daele: »Soziologische Aufklärung zur Biopolitik«, S. 7. 14 Vgl. dazu kritisch P. Wehling: »Selbstbestimmung oder sozialer Optimierungsdruck?«.

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unter Biopolitik eine bestimmte Form oder Strategie der Einwirkung auf das menschliche Leben auf der Ebene des individuellen Körpers wie der Bevölkerung. Entscheidend hierfür sind beispielsweise spezifische wissensbasierte Techniken der Hygiene-Verbesserung und Krankheits-Prävention, der Geburtenkontrolle, der Körper-Disziplinierung sowie der Exklusion des vermeintlich Anormalen. In einem solchen Verständnis sind Ethik-Kommissionen, Parlamente und Regierungen zwar ein wichtiger, aber keineswegs der privilegierte oder gar exklusive Schauplatz von Biopolitik. Ebenso wenig geht es diesem Konzept von Biopolitik primär um (kollektiv bindende) Entscheidungen; in den Blick kommt vielmehr das je spezifische Zusammenwirken von Macht, Wissen und Technologien bei den Interventionen in das menschliche Leben und den menschlichen Körper. Allerdings darf Biopolitik hier nicht als Unterdrückung und lineare Machtausübung von ›oben‹ nach ›unten‹ missverstanden werden. Vielmehr muss man Foucaults Hinweis, der Liberalismus bilde den »allgemeinen Rahmen der Biopolitik«,15 sehr ernst nehmen. Biomacht als spezifischer, der Biopolitik korrespondierender Machttypus operiert nicht primär über direkte Anordnungen oder Verbote, sondern über Anreiz, Ansporn und den Appell an die »Rationalität« und das Eigeninteresse der Subjekte, etwa an die »vernünftige« Einsicht, dass es auch für gesunde, nicht durch Krankheit beeinträchtigte Schulkinder oder Piloten nützlich sei, Medikamente zur Verbesserung ihrer Aufmerksamkeit einzunehmen. Erkennbar wird aus dieser Perspektive, dass Biopolitik nicht lediglich auf technische Grenzüberschreitungen reagiert, sondern selbst in gleichermaßen technischen und diskursiven Grenzüberschreitungen besteht. Diese zweite Auffassung ist nicht nur soziologisch anspruchsvoller als die zuerst dargestellte. Sie ist zudem weit besser gerüstet, die unter dem Titel »Enhancement« verhandelten Phänomene zu erfassen, wenn wir unter Enhancement ein Technisierungsprojekt in dem oben erläuterten Sinne verstehen, das heißt ein Zusammenspiel diskursiver Wissensansprüche und normativer Wertungen mit materialen Technikentwicklungen. Dennoch muss auch Foucaults Auffassung von Biopolitik und Biomacht aktualisiert und weiterentwickelt werden, zumal er selbst die angekündigte Analyse des Zusammenhangs von Biopolitik und Liberalismus kaum ausgeführt hat.16 Foucault hatte in erster Linie die historische Herausbildung und Entwicklung von Biopolitik seit dem 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts im Blick. Er vermutete deren wesentlichen Effekt in diesem Zeitraum in Strategien und Techniken der Normalisierung, das heißt

15 Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt/M. 2004, S. 43. 16 Vgl. Th. Lemke: Biopolitik zur Einführung, S. 67.

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der Ausrichtung der Individuen an biologischen Normen und Normalitäten. Demgegenüber zielt die gegenwärtige Biopolitik des Enhance-ments offenbar zunehmend auf die Optimierung menschlicher Fähigkeiten. Die biologische Norm und das ›Normale‹ können dabei kaum noch als normativer Orientierungsrahmen dienen, sondern werden ihrerseits als unzureichend und verbesserungsbedürftig konstruiert (siehe dazu unten).

E NHANCEMENT

ALS

E NTGRENZUNG

DER

M EDIZIN

Der Begriff »Enhancement« ist kaum weniger vielschichtig und schillernd als derjenige der Biopolitik, und auch hier lassen sich in der aktuellen Debatte, etwas vereinfacht, zwei konträre Auffassungen unterscheiden. Die eine Position versteht unter Enhancement den Einsatz biomedizinischen Wissens und medizinischer Techniken bei gesunden Menschen – also nicht mit dem Ziel, eine Krankheit zu behandeln, sondern um körperliche oder geistige Fähigkeiten zu optimieren – auch weit über das hinaus, was uns bislang als ›normal‹ oder ›natürlich‹ gilt. Enhancement fungiert in diesem Verständnis somit als Gegenbegriff zu Therapie und Heilung. Diese Begriffsfassung hat den Vorteil, dass sie sich recht eng anlehnt an die Ursprünge und Hintergründe der neueren, in den 1990er Jahren einsetzenden Diskussion über Enhancement.17 Diese Hintergründe liegen in Tendenzen und Visionen, den Geltungs- und Anwendungsbereich neuer biomedizinischer Wissensformen und sich abzeichnender Techniken (Humangenetik, Reproduktionsmedizin, Hirnforschung und Neuropharmakologie) über anerkannte Krankheitsdefinitionen und -indikationen hinaus auszuweiten auf die Steigerung der körperlichen und mentalen Leistungsfähigkeit auch und gerade gesunder Menschen. Dieses Verständnis von Enhancement hat allerdings den Nachteil, implizit oder explizit auf Unterscheidungen wie krank/gesund oder Heilung/Verbesserung zu rekurrieren, die kaum eindeutig und konsensfähig zu treffen sind. Im Einzelfall wird deshalb eine klare Abgrenzung zwischen Enhancement einerseits, medizinischer Therapie oder Prävention andererseits, nicht immer gelingen. Als Alternativen sind in den letzten Jahren im bioethischen Diskurs extrem weite und unspezifische Definitionen von Enhancement ins Spiel gebracht worden. Diese Auffassungen verstehen unter Enhancement sämtliche Verbesserungen und Erleichterungen des menschlichen Lebens, das heißt nicht nur solche, die auf technischen Interventionen in den menschlichen Körper beruhen, sondern

17 Vgl. E. Parens (Hg.): Enhancing Human Traits.

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auch erlernte körperliche und geistige Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Rechnen sowie vor allem externe technische Hilfsmittel aller Art vom Pflug bis zum Computer. Der wohl prononcierteste Verfechter einer solchen Position ist der britische Philosoph und Bioethiker John Harris. Für ihn ist Enhancement »clearly anything that makes a change, a difference for the better«.18 Diese Definition vermeidet oder umgeht zwar die erwähnten Abgrenzungsprobleme, denn auch jede medizinische Therapie ist nach diesem Verständnis ein Enhancement. Sie zahlt dafür aber den ›Preis‹ einer Überdehnung des Begriffs bis hin zur fast völligen Sinnentleerung, denn auf diese Weise wird fast jede menschliche Aktivität zum Enhancement oder kann zumindest als solches interpretiert werden. Die aktuelle Debatte um Möglichkeiten und Grenzen biomedizinischen Enhancements wird damit in einschneidender Weise enthistorisiert und entproblematisiert: Wenn jede nützliche menschliche Erfindung ein Enhancement ist – wie könnte man dann gegen neue biotechnologische Möglichkeiten der Verbesserung sein?19 Allerdings kommt auch diese Definition keineswegs ohne konstitutive Abgrenzungen und normative Setzungen aus, wenngleich sie versucht, diese latent zu halten und als selbsterklärend zu behandeln. Tatsächlich aber ist es weder evident noch per se konsensfähig, was als Wandel ›zum Besseren‹ begriffen werden kann und inwieweit eine bestimmte Technologie zu einer ›Verbesserung‹ beiträgt oder nicht. Bei allen sonstigen Unterschieden haben beide Definitionen eines gemeinsam: Sie fassen Enhancement als ein primär technisches Phänomen auf, als den Vorgang der Leistungssteigerung mit (im weitesten Sinn) technischen Mitteln. Ich möchte demgegenüber für ein erweitertes, prozessuales Begriffsverständnis plädieren, das sich zwar insofern an die erste Definition anlehnt, als es den historischen Kern und Auslöser der aktuellen Auseinandersetzungen ebenfalls in gesellschaftlichen Tendenzen zur expansiven Nutzung biomedizinischer Potenziale lokalisiert, das sich aber dennoch nicht auf vermeintlich objektivierbare Definitionen von Krankheit und Gesundheit stützt. Stattdessen scheint es mir wichtig,

18 John Harris: Enhancing Evolution. The Ethical Case for Making Better People, Princeton 2007, S. 36. 19 Für manche Verfechter einer weiten Enhancement-Definition liegt offenbar genau in dieser Entproblematisierung das diskursstrategische Ziel. Robert Ranisch und Julian Savulescu sprechen dies recht offen aus: »Soweit wir eine Reihe von etablierten Techniken zur Verbesserung des Menschen akzeptieren, vielleicht sogar als selbstverständlich voraussetzen, stellt sich die Frage, warum wir vergleichbare Möglichkeiten der Humanbiotechnologien anders bewerten sollten?« (R. Ranisch/J. Savulescu: »Ethik und Enhancement«, S. 26)

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ausdrücklich von der Historizität solcher Unterscheidungen auszugehen und den Blick auf diejenigen Prozesse und Dynamiken zu richten, die dazu beitragen, bestehende Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit aufzulösen oder neue Krankheitsbilder zu etablieren, etwa das Bild des Alterns als zu ›besiegender‹ Krankheit oder das Bild der Schüchternheit als milder Form einer psychischen Störung, der Sozialphobie. So lässt sich der Enhancement-Diskurs als ein biopolitischer Entgrenzungsprozess begreifen, worin die Grenzziehungen zwischen Gesundheit und Krankheit, Heilung und Optimierung verschoben, neu gezogen und teilweise auch gänzlich aufgelöst werden.20 Der Geltungsanspruch biomedizinischer Diagnosen und Therapien wird damit erheblich ausgeweitet, zugleich werden neuartige Begründungen für medizinisch-technische Interventionen in den menschlichen Körper hervorgebracht. Idealtypisch lassen sich vier unterschiedliche Dynamiken dieser Entgrenzung identifizieren, die ich hier nur sehr kurz ansprechen kann.21 Zu nennen ist erstens die Expansion medizinischer Diagnosen in Bereiche alltäglichen Verhaltens hinein, die bis dahin nicht als pathologisch und medizinisch relevant galten. Prägnante Beispiele hierfür bieten die enorme Ausweitung der Diagnose »Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung« (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen22 oder die schon erwähnte Neudeutung von Schüchternheit als Sozialphobie.23 Eine zweite Dynamik ist in der sich von Krankheitsindikationen ablösenden Nutzung medizinischer Therapien und Techniken zu sehen, besonders deutlich in der Veralltäglichung chirurgischer Eingriffe zu kosmetischen Zwecken, der sogenannten Schönheitschirurgie. Drittens ist eine etwas sperrig

20 Vgl. hierzu Willy Viehöver/Peter Wehling (Hg.), Entgrenzung der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?, Bielefeld 2011. 21 Vgl. hierzu ausführlicher Peter Wehling et al.: »Zwischen Biologisierung des Sozialen und neuer Biosozialität: Dynamiken der biopolitischen Grenzüberschreitung«, in: Berliner Journal für Soziologie 17 (2007), S. 547–567 sowie Peter Wehling/Willy Viehöver: »Entgrenzung der Medizin: Transformationen des medizinischen Feldes aus soziologischer Perspektive«, in: W. Viehöver/P. Wehling (Hg.), Entgrenzung der Medizin, S. 7–47. 22 Vgl. Fabian Karsch: »Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung? Zur Problematik der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit am Beispiel ADHS«, in: W. Viehöver/P. Wehling (Hg.), Entgrenzung der Medizin, S. 121–142. 23 Vgl. Christopher Lane: Shyness. How normal behavior became a sickness, New Haven/London 2007 sowie Peter Wehling: »Von der Schüchternheit zur Sozialen Angststörung: Die Medikalisierung alltäglichen Verhaltens«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 4 (2008), S. 151–161.

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als »Entzeitlichung von Krankheit« bezeichnete Tendenz zu erwähnen: Krankheitsdefinitionen werden von zeitlich akuten, manifesten Symptomen gelöst und zunehmend mit dem Vorliegen bestimmter Risikofaktoren gleichgesetzt. Das markanteste Beispiel hierfür bietet die prädiktive Gendiagnostik, die auf die Entdeckung genetischer Prädispositionen für bestimmte Krankheiten ausgerichtet ist und die Betroffenen als »gesunde Kranke« einem Zwischenzustand zwischen Gesundheit und Krankheit zuordnet, obwohl häufig gar nicht feststeht, ob die prognostizierte Krankheit überhaupt ausbricht. Erst die vierte Dynamik steht für das Ziel einer direkten Optimierung des menschlichen Körpers und seiner Leistungsfähigkeit mit medizinischen Mitteln ohne jeden ›Umweg‹ über erweiterte Krankheitsdefinitionen. Entsprechende Forderungen bleiben bisher zwar überwiegend programmatisch, weil die Entwicklung effektiver und risikoarmer Techniken der diskursiven Dynamik anscheinend weit hinterherhinkt.24 Doch in jüngster Zeit haben solche Positionen erheblich an öffentlicher Resonanz gewonnen.25 Eine der von den Befürwortern des Enhancements erhobenen Forderungen lautet, künftig spezifische, direkt dem Enhancement gesunder Menschen dienende Mittel zu entwickeln, statt wie bisher therapeutische Mittel zu nichttherapeutischen Zielen zu nutzen.26 Trotz sehr unterschiedlicher Ausgangspunkte und Verlaufsformen ist diesen sowohl diskursiven wie materialen Dynamiken zweierlei gemeinsam: Sie erweitern zum einen den Zuständigkeits- und Anwendungsbereich biomedizinischer Wissensansprüche und Praktiken auf Phänomene, die bisher nicht als pathologisch und behandlungsbedürftig wahrgenommen worden sind. Zum anderen liefern sie dafür Legitimationen wissenschaftlicher oder normativer Art, die teils explizit ausgeführt werden, teils implizit bleiben oder als vermeintlich objektiv begründete Tatsachenbehauptungen vorgetragen werden. Im Kern geht es hierbei darum, einen »technologischen Habitus« (Werner Rammert)27 gegenüber Teilen und Funktionen des menschlichen Körpers (Konzentrationsfähigkeit, Wachheit, Gedächtnis, Stimmungslage, Moralempfinden etc.) zu etablieren, die bisher nicht oder nur in geringem Maß Objekte technischer Gestaltung sind. Einer kritischen

24 Vgl. B. Quednow: »Ethics of neuroenhancement: A phantom debate«. 25 Vgl. vor allem H. Greely et al.: »Towards responsible use of cognitive-enhancing drugs by the healthy« und Th. Galert et al.: »Das optimierte Gehirn«. 26 Vgl. Th. Galert et al.: »Das optimierte Gehirn«, S. 47. 27 »Der technologische Habitus unterscheidet sich von anderen Haltungen dadurch, dass er unter Absehen von Sinnbezügen durch schematisierte Wirkungen Leistungen steigern möchte […].« (W. Rammert: Technik – Handeln – Wissen, S. 42, Hervorhebung hinzugefügt).

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Soziologie der Biopolitik kommt damit die Aufgabe zu, die solchen Begründungen zugrunde liegenden Deutungsmuster, impliziten Hintergrundannahmen und normativen Prämissen transparent zu machen und damit zugleich reflexive Distanz zu ihrer vordergründigen Suggestivkraft zu ermöglichen.28 Denn welcher vernünftige Mensch könnte ernsthaft dagegen sein, seinem Leben eine Wende zum ›Besseren‹ zu geben?

B IOPOLITIK

IN

Z EITEN

DES

E NHANCEMENTS

Inwieweit lassen sich in den Debatten um biomedizinisches Enhancement neue Elemente von Biopolitik und neue Erscheinungsformen von Biomacht erkennen? Man könnte zunächst durchaus zu Recht darauf hinweisen, dass die Dimension der Optimierung des menschlichen Lebens, der Verbesserung seiner Funktionen und Fähigkeiten, von Anfang an in Foucaults Konzeption der Biopolitik und Biomacht angelegt war,29 sodass die aktuelle Debatte um Enhancement dem nichts Neues hinzufügen würde. Das ist zwar richtig, verkennt aber dennoch, dass Foucault, wie bereits erwähnt, bei seiner Analyse der Biomacht in erster Linie den historischen Zeitraum vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert vor Augen hatte und schon aus diesem Grund weder die Implikationen neuer biomedizinischer Wissensformen und Technologien noch die Praktiken biopolitischen Regierens in den hochgradig individualisierten »neoliberalen« Gesellschaften der Gegenwart hinreichend berücksichtigen konnte. Vor diesem Hintergrund möchte ich anhand von zwei eng miteinander verbundenen Themenkomplexen versuchen, einige spezifische, teilweise neuartige Elemente von Biopolitik im Zeichen des Enhancements zu skizzieren. Die Erosion der Normalisierungsgesellschaft Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit beschreibt Foucault die Instrumente und Wirkungen des seit dem späten 18. Jahrhundert entstehenden Machttyps »Biomacht« mit den folgenden Sätzen:

28 Vgl. P. Wehling, »Selbstbestimmung oder sozialer Optimierungsdruck?«. 29 Vgl. z. B. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977, S. 168.

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»Eine Macht […], die das Leben zu sichern hat, bedarf fortlaufender, regulierender und korrigierender Mechanismen. […] Eine solche Macht muß eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstufen, als sich in einem Ausbruch manifestieren. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet. […] Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.«30

Wie Foucault an anderer Stelle nahe legt, lässt sich Normalisierung nicht auf die Disziplinierung des Körpers reduzieren, sondern enthält auch Elemente einer nicht-disziplinierenden Regulierung von Lebensvorgängen.31 Biopolitik weist somit von Anfang an über eine reine »Disziplinargesellschaft« hinaus, und es erscheint daher als fraglich, inwieweit sich die aktuellen biopolitischen Entwicklungen mit Gilles Deleuze als Übergang von der Disziplinar- zur »Kontrollgesellschaft« begreifen lassen.32 Blickt man auf die Debatten um Enhancement, lässt sich innerhalb der Funktionsweise von Biopolitik und Biomacht gegenwärtig ein erheblicher Bedeutungsverlust der ›Norm‹ und des ›Normalen‹ erkennen. Das ›Normale‹ dient nicht mehr als (implizit normativer) Orientierungs- und Zielpunkt von Biopolitik, sondern erscheint nunmehr selbst als verbesserungsbedürftig: Der bisher als normal und natürlich geltende Alterungsprozess wird re-definiert als Krankheit, die wir medizinisch noch nicht hinreichend in den Griff bekommen haben; die normale Aufmerksamkeit des Piloten erscheint als so riskant, dass sie pharmakologisch verbessert werden sollte. Der Effekt von Biomacht besteht zurzeit offenbar weniger darin, die Subjekte an biologisch-körperlichen Normalitäten auszurichten; stattdessen werden Letztere selbst als unzureichend dargestellt – und damit zugleich, offen oder unausgesprochen, die Notwendigkeit begründet, das Normale zu überschreiten. Dahinter steht nicht zuletzt eine neue wissenschaftliche Vorstellung von biologischem Leben als etwas, das programmierbar ist, vom Organismus ablösbar und auf molekularer Ebene aus seinen Elementen neu zusammensetzbar.

30 M. Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen, S. 171f. 31 Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1999, S. 298f. Vgl. zur Bedeutung und Vielschichtigkeit der Konzepte »Norm«, »Normalität« und »Normalisierung« bei Foucault auch Maria Muhle: Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem, Bielefeld 2008. 32 Vgl. Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt/M. 1993, S. 254–262.

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Auch das mit diesen Vorstellungen verknüpfte »unternehmerische« Subjektmodell33 beruht nicht mehr primär auf der Orientierung am Normalen. Es baut vielmehr auf den Appell an jeden Einzelnen (wie an die gesamte Gesellschaft), sich im Namen von Freiheit und Selbstbestimmung von den gegebenen (natürlichen) Grenzen zu lösen, sich permanent selbst zu optimieren und über das bloß Übliche hinauszugehen.34 Anvisiert wird indessen nicht das ›Anormale‹, Pathologische, sondern ganz im Gegenteil das ›Supra-Normale‹, der Vorstoß in bislang unbekannte Bereiche wie etwa tagelange Phasen der Wachheit und Konzentration oder Lebensspannen von mehreren hundert Jahren. Dass derartige Normüberschreitungen selbst wieder zur sozialen Norm werden können, ist zweifellos richtig, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der gegenwärtige Diskurs des Enhancements über den Horizont der von Foucault beschriebenen biopolitischen Normalisierungsgesellschaft hinausgeht.35 Ich spreche allerdings bewusst nicht vom Ende, sondern von der Erosion der Normalisierungsgesellschaft. Denn auch in Zeiten des Enhancements besteht neben den Optimierungsvisionen eine Vielzahl disziplinierender und normalisierender Praktiken fort.36 Man denke nur an den inzwischen allgegenwärtigen Kampf gegen das Übergewicht sowie an den sogenannten Body Mass Index (BMI), ein eminent wirkungsvolles Instrument biopolitischer (Selbst-)Normalisierung.37 Auch bei der Diagnose und Therapie von ADHS geht es wesentlich um Verhaltensnormalisierung; allerdings zeigt dieses Beispiel auch, wie fließend die Übergänge zwischen Normalisierung und Optimierung sein können, denn mit dem Medikament Ritalin wird zugleich die Hoffnung auf eine Steigerung der Konzentrationsfähigkeit gesunder Menschen über das ›normale‹ Maß hinaus verbunden.38 Es wäre in jedem Fall verfehlt, von einer linearen Ablösung der Normalisierungsgesellschaft durch eine »Optimierungsgesellschaft« auszugehen; gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Biopolitik zu Beginn des 21. Jahrhun-

33 Vgl. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007. 34 Vgl. U. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 71f. 35 Vgl. zum Übergang von biopolitischer Normalisierung zur Optimierung auch Majia Holmer Nadesan: Governmentality, Biopower and Everyday Life, New York/London 2008, S. 154–162. 36 Vgl. dazu umfassend Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen, 3. Auflage 2006. 37 Vgl. hierzu Jan Wright/Valerie Harwood (Hg.): Biopolitics and the ›Obesity Epidemic‹. Governing Bodies, New York/London 2009. 38 Vgl. F. Karsch: »Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung?«.

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derts nicht mehr durchgängig darauf ausgelegt ist, die Subjekte auf biologische Normalzustände hin auszurichten. Die diskursive Konstruktion des unvollkommenen Körpers Ein zentraler Mechanismus optimierender Biopolitik ist in verschiedenen Varianten der diskursiven Konstruktion des unvollkommenen menschlichen Körpers zu erkennen. Wie dieser Mechanismus ›funktioniert‹, möchte ich anhand eines Beispiels illustrieren, das ich für besonders aufschlussreich halte. Denn dabei wird weder der Körper einzelner Individuen oder bestimmter sozialer Gruppen als unvollkommen, als zu alt, zu dick, zu krankheitsanfällig usw. dargestellt, noch wird eine generelle Unterscheidung zwischen unvollkommenem, »unwertem« Leben und wertvollem, gleichsam »vollwertigem« menschlichem Leben andererseits vorgenommen. Vielmehr wird gerade der normale, gesunde menschliche Körper als evolutionär unvollkommen präsentiert. In einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit stellte der Molekularbiologe und frühere Präsidentschaftskandidat der Grünen Jens Reich sich im Jahr 2008 die Frage, welche grundsätzlichen Leerstellen die moderne Biomedizin ungeachtet aller Erfolge der letzten Jahrzehnte aufweist. Seine Antwort benennt – vielleicht überraschend – drei Schlüsselthemen des Enhancement-Diskurses: der unvollkommene Körper, das Alter, der Tod. Reich gibt einige Beispiele für die »eingebaute Unvollkommenheit« des menschlichen Körpers, etwa das zu enge weibliche Becken, durch das der in Jahrmillionen der Evolution immer größer gewordene Kopf des Kindes bei der Geburt kaum hindurchpasse, und plädiert angesichts solcher Probleme für ein »vernünftiges Enhancement«.39 Besonders erhellend, um den dahinter liegenden diskursiven Mechanismus zu verstehen, erscheinen mir Reichs Überlegungen zur Unvollkommenheit des menschlichen Auges. Unser Auge ist demnach insofern eine »einschneidende« Fehlkonstruktion, als es einen blinden Fleck aufweise, der das Gehirn »zu allerlei aufwendigen Kompensationsleistungen« zwinge. Man kann hier gut erkennen, dass derartige Thesen von der Unvollkommenheit des menschlichen Körpers nicht auf Alltagserfahrungen beruhen (denn von den Fehlleistungen des Auges merken wir im Alltag nichts), sondern erst im Zusammenhang mit bestimmten wissenschaftlichtechnischen Entwicklungen und den dadurch erzeugten kulturellen Bildern des Perfekten möglich werden. Bei Reich scheint mir das entsprechende KontrastBild dasjenige einer computergesteuerten, effizienten Maschine mit fehlerfrei konstruierten optischen Sensoren zu sein. Vor diesem Hintergrund wird das

39 Jens Reich: »Leben und Vergehen«, in: Die Zeit 13 (2008).

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menschliche Auge nicht nur als verbesserungsbedürftig interpretiert, sondern zugleich als verbesserbar, weil die Technologien, die hier Abhilfe schaffen könnten, prinzipiell schon verfügbar zu sein scheinen. Präsentiert wird diese relationale, letztlich normative Bewertung des menschlichen Körpers gleichwohl wie ein objektiver Befund wissenschaftlicher Forschung. Auf einer höheren Abstraktionsebene können zur diskursiven Konstruktion des unvollkommenen Menschen auch philosophisch-anthropologische Thesen von der prinzipiellen Offenheit und Variabilität der menschlichen Natur beitragen. Als Beispiel hierfür kann eine Aussage des Philosophen Dieter Birnbacher dienen: »Wenn etwas zum ›Wesen‹ des Menschen gehört, dann u.a. auch die Fähigkeit, sein ›Wesen‹ nicht nur jeweils selbst zu definieren, sondern seine Existenzweise auch der jeweiligen Definition entsprechend zu gestalten.«40 Auf den ersten Blick scheint eine solche Argumentation ganz unstrittig und unanfechtbar zu sein. Man kann in den einschlägigen Debatten jedoch beobachten, dass solche sich anti-naturalistisch gebenden Auffassungen ihrerseits leicht in ein naturalistisches Fahrwasser geraten können. Dies ist dann der Fall, wenn die Offenheit der menschlichen Natur unter der Hand als Unvollkommenheit gedeutet wird. Daraus werden dann nicht nur die Unausweichlichkeit menschlicher Selbstveränderung und die Unbedenklichkeit technischer Interventionen, sondern sogar eine Art Auftrag zur biotechnologischen Selbsttransformation abgeleitet und gegen Positionen ins Feld geführt, die sich normativ auf die gegebene körperliche Natur des Menschen beziehen. Enhancement-Visionen und konkrete biotechnische Praktiken werden zudem nicht aus kontingenten sozialen Konfigurationen heraus begriffen und durch spezifische Gründe normativ gerechtfertigt, sondern unmittelbar aus vermeintlichen anthropologischen Konstanten begründet und damit selbst naturalisiert. So können selbst weitreichende Eingriffe in die gegebene Körperlichkeit des Menschen mittels Gentechnik oder Klonierung als mit der ›Natur‹ des Menschen in Einklang stehend ausgegeben werden.41 Von einer solchen Position ist es nicht mehr weit zu der zweifelhaften Behauptung des Memorandums »Das optimierte Gehirn«, ein Streben nach Optimierung »gehöre zum Menschen«.42

40 Dieter Birnbacher: »Was leistet die ›Natur‹ des Menschen für die ethische Orientierung?«, in: Giovanni Maio/Jens Clausen/Oliver Müller (Hg.), Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Freiburg/München 2008, S. 58–78, hier S. 74. 41 Vgl. Dieter Birnbacher: Natürlichkeit, Berlin 2006, S. 180. 42 Th. Galert et al.: »Das optimierte Gehirn«, S. 47.

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Erkennbar wird an solchen Beispielen, dass es sich bei den Auseinandersetzungen um die Legitimität des Enhancements weder um eine simple Polarisierung von essenzialistischem Naturalismus einerseits, aufgeklärtem AntiNaturalismus andererseits handelt, noch lediglich um die Konfrontation eines traditionalen, alltagsweltlichen Naturverständnisses mit einer modernen wissenschaftlichen Naturauffassung. Vielmehr kommen auf allen Seiten politischkulturell imprägnierte, implizit normative Entwürfe der menschlichen ›Natur‹ ins Spiel.

K ANN MAN E NHANCEMENT UNTER B ERUFUNG AUF DIE N ATÜRLICHKEIT DES M ENSCHEN ZURÜCKWEISEN ? Auch manche Kritiker des Enhancements berufen sich in einem normativen Sinne auf die Natürlichkeit des Menschen. Kritische Einwände gegen Perfektionierungsversuche rekurrieren – im Unterschied zu den Positionen der Befürworter – jedoch nicht auf eine »naturgegebene Unnatürlichkeit« des Menschen, sondern auf die gegebene menschliche Körpernatur. Weniger in ethischen Fachdebatten als vielmehr in alltäglichen Diskussionskontexten werden bestimmte Optimierungsvisionen mit dem Argument zurückgewiesen, sie seien »unnatürlich«. Ohne Zweifel bereitet es wenig Mühe, ein solches Argument mit dem Operationsbesteck professioneller Ethik zu sezieren. Man kann erstens deutlich machen, dass es die Natur des Menschen gar nicht gibt, und zweitens einen naturalistischen Fehlschluss diagnostizieren, da die Natur des Menschen, selbst wenn es sie gäbe, nicht per se normativ bedeutsam wäre. Möglicherweise gehen diese (inzwischen selbst rituell gewordenen) Einwände aber am Kern des Natürlichkeits-Arguments vorbei, weil sie ein letztlich politisches Argument als einen Beitrag zur ethischen Fachdebatte missverstehen. Gerade wenn Menschen, die keine professionellen Ethiker sind, auf die Unnatürlichkeit bestimmter optimierender Interventionen hinweisen, berufen sie sich weniger auf eine vermeintlich invariante, stabile menschliche Natur, sondern auf einen lebensweltlichen, kulturell eingespielten Sinn- und Erfahrungshorizont.43 Innerhalb dieses Horizonts werden bestimmte Handlungsformen als ›natürlich‹ verstanden, das heißt als mit dem menschlichen Körper, dem menschlichen Leben in Einklang befindlich wahrgenommen und bewertet. Da dieser Sinn-Horizont immer schon normativ interpretiert ist, als Horizont des Angemessenen und Verhältnismäßigen, handelt

43 Vgl. Oliver Müller: »Natürlich leben. Überlegungen zur Natürlichkeit als Maß menschlichen Handelns«, in: polar. Politik – Theorie – Alltag 6 (2009), S. 97–101.

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es sich bei dem Rückgriff auf eine solche Natürlichkeitsvorstellung nicht um einen naturalistischen Fehlschluss vom ›objektiven‹ Sein zum Sollen. Wer etwa die Einnahme von ›Intelligenz-Pillen‹ als unnatürlich zurückweist, erhebt damit in der Regel keinen ontologischen Wissensanspruch über das ›Wesen‹ menschlicher Intelligenz, sondern verteidigt eine in seinen Augen prinzipiell bewährte (wenngleich unter Umständen durchaus verbesserungsfähige) soziale Praxis des Lernens als den angemessenen Weg zur Ausbildung und Förderung kognitiver Fähigkeiten. Mit diesen Überlegungen möchte ich somit weder behaupten, dass Enhancement ›objektiv‹ unnatürlich und deshalb abzulehnen sei, noch dass bestehende soziale Praktiken sakrosankt und vor jeglicher Veränderung zu schützen seien. Aus der Perspektive einer kritischen Soziologie der Biopolitik geht es mir vielmehr darum zu verdeutlichen, dass Natürlichkeits-Argumente produktiver interpretiert werden können, als es in bioethischen (Fach-)Debatten in der Regel geschieht. Dies scheint mir deshalb wichtig und notwendig zu sein, weil in solchen Argumentationen soziale Kritik-Ressourcen angelegt sind, die für die beginnende gesellschaftliche Auseinandersetzung über Enhancement von Bedeutung sein könnten. Letztlich wird diese Auseinandersetzung weniger ein professioneller bioethischer Diskurs als vielmehr eine politische Kontroverse um zukünftige gesellschaftliche Lebensweisen sein.

Verführung zur Grenzüberschreitung Liberale Utopien des Enhancements S ASCHA D ICKEL

D IE R ÜCKKEHR

DES

N EUEN M ENSCHEN ?

Der Wunsch von der Verbesserung der menschlichen Natur ist Bestandteil zahlreicher Mythen der Menschheitsgeschichte. Doch im Zuge der Entzauberung und Technisierung der Welt kleidete sich dieser Wunsch zunehmend in ein wissenschaftliches Gewand.1 Als besonders folgenreich erwiesen sich hierbei die eugenischen Utopien2 an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Ähnlich wie die klassischen Sozialutopien favorisierten diese dabei meist Politik und Erziehung als Transformationswerkzeuge. Sie setzten auf einen starken Staat und umfassende Umerziehungsmaßnahmen. Die Einsicht der Individuen in ihre Verantwortung dem Kollektiv gegenüber und die strafende Hand des politischen Apparats sollten die Vermehrung ›guter‹ Erbanlagen fördern und die Verbreitung von

1

Vgl. Bert Gordijn: Medizinische Utopien. Eine ethische Betrachtung, Göttingen 2004.

2

Unter Utopien sollen hier und im Folgenden Texte verstanden werden, in denen ein Autor auf der Basis einer imaginierten Zukunft auf die Gegenwart blickt, um deren Überwindung und Transformation anzuregen. Zu den Grundlagen dieses Utopiebegriffs vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. 1995, sowie Paul Ricoeur: Lectures on Ideology and Utopia, New York 1986. Zur systemtheoretischen Neuinterpretation dieses Utopiebegriffs vgl. Sascha Dickel: »Utopische Positionierungen. Vorüberlegungen zu einer Wissenssoziologie des Utopischen und deren Anwendungsmöglichkeiten am Beispiel populärwissenschaftlicher EnhancementVisionen«, in: Rolf Steltemeier et al. (Hg.), Neue Utopien. Zum Wandel eines Genres, Heidelberg 2009.

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›schlechtem‹ Erbgut verhindern.3 Ebenfalls bemerkenswert war der Boom biopolitischer Transformationshoffnungen in Russland zur Zeit der Oktoberrevolution. Die Revolution der Gesellschaft wurde hier von einigen Intellektuellen nur als Vorstufe zu einem Aufstand gegen die (menschliche) Natur verstanden, durch den der Mensch die Macht erlangen würde, sich selbst umzugestalten und Unsterblichkeit zu erlangen.4 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde jedoch zunehmend sichtbar, in welche Unmenschlichkeiten der Traum vom »Neuen Menschen«5 gemündet hatte. Kollektive Utopien einer Neuschöpfung des Menschen wurden als pseudowissenschaftliche Ideologien und moralische Katastrophe demaskiert.6 Doch bereits in den 1960er Jahren wurden auf dem hochkarätig besetzten CIBA-Symposium7 wieder Ideen formuliert, die Biologie des Menschen mit technologischen Mitteln zu verbessern, die Handlungsmöglichkeiten des Körpers zu erweitern und die Lebenserwartung signifikant zu verlängern. Frappierend ist hier vor allem, mit welcher Unbekümmertheit dort weiterhin über das zukünftige Schicksal der Menschheit gesprochen wurde – zumal die biotechnischen Mög-

3

Vgl. Peter Weingart: »Züchtungsutopien – wildes Denken über die Verbesserung des Menschen«, in: Tillmann Hornschuh et al. (Hg.), Schöne – gesunde – neue Welt? Das humangenetische Wissen und seine Anwendung aus philosophischer, soziologischer und historischer Perspektive. IWT Paper 28, Bielefeld 2003, S. 11–26.

4

Vgl. Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.): Die neue Menschheit. Biopolitische

5

Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Mo-

Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005. derne, Frankfurt/M. 1997. 6

Michael Hagemeister: »›Unser Körper muss unser Werk sein‹. Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts«, in: Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.), Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2005, S. 19–67, hier S. 65; Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz (Hg.): Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 23.

7

Auf dem CIBA-Symposium versammelte sich 1962 die Elite der Genetik. Unter den 27 Wissenschaftlern (es nahmen keine Wissenschaftlerinnen teil) waren insgesamt sechs Nobelpreisträger. Vgl. Robert Jungk/Hans Joses Mundt (Hg.): Das umstrittene Experiment: Der Mensch. 27 Wissenschaftler diskutieren die Elemente einer biologischen Revolution. Dokumentation des Ciba Symposiums 1962 »Man and His Future«, Frankfurt/M. 1988.

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lichkeiten dafür immer noch in den Kinderschuhen steckten.8 Das CIBASymposium sollte dennoch ein Strohfeuer bleiben. Seit den 1970er Jahren durften utopische Träume vom Neuen Menschen immer weniger auf Akzeptanz hoffen. Die um sich greifenden Risiko- und Ökologiediskurse, der Zusammenbruch des Ostblocks und der Aufstieg des postmodernen Denkens markierten eine generelle Krise utopischer Fortschrittsträume. Die Reflexion der Pluralität von Beobachtungsweisen, der Fragilität der Werte und der Unsicherheit von Erwartungen war nicht länger nur auf den akademischen Diskurs beschränkt, sie wurde vielmehr zum neuen Common Sense. Auf dieser kulturellen Basis aber scheinen Utopien, die aus der Perspektive des wahren Lebens das Falsche verurteilen, dabei universelle Werte postulieren und die Wünschbarkeit genau einer Zukunft für alle behaupten, kaum mehr denkbar.9 Vor diesem Hintergrund muss es überraschen, dass ausgerechnet Visionen zur biologischen Verbesserung des Menschen seit einigen Jahren wieder vermehrt auftauchen. Sie sind kein bloßes Gespenst der Vergangenheit mehr, sondern gegenwärtige Träume einer angeblich besseren Zukunft. Diese neuen Utopien einer umfassenden Überwindung biologischer Grenzen flankieren den biopolitischen Diskurs um Enhancement. Mit Enhancement wird die Anwendung biomedizinischer Techniken zur Verbesserung gesunder Menschen bezeichnet – zum Beispiel durch Psychopharmaka, Gentechniken oder Implantate. Ob Enhancement erlaubt, erstrebenswert oder gar geboten ist – darum rankt sich gegenwärtig eine transnationale Debatte, in die Mediziner, Philosophen, Wissenschaftler und politische Akteure verstrickt sind.10 Wäre Enhancement ein ge-

8

Christian Lenk: Therapie und Enhancement. Ziele und Grenzen der modernen Medizin, Münster 2002, S. 23.

9

Vgl. Niklas Luhmann: »Die Beschreibung der Zukunft«, in: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 129–147; Armin Nassehi: »Keine Zeit für Utopien. Über das Verschwinden utopischer Gehalte aus modernen Zeitsemantiken«, in: Rolf Eickelpasch/ders. (Hg.), Utopie und Moderne, Frankfurt/M. 1996, S. 242–287; Wolfgang Welsch: »Gesellschaft ohne Meta-Erzählung?«, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentags in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt/M., New York 1981, S. 174–184.

10 Vgl. den Beitrag von Peter Wehling in diesem Band; vgl. einführend Bettina SchöneSeifert (Hg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009; zur Soziologie der Debatte vgl. Sascha Dickel: »Steuerung oder Evolution? Enhancement als biopolitischer Konflikt«, in: Karl S. Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt/M., New York 2008, S. 2314–2325.

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wöhnliches medizinisches Ziel, dann wäre eine solche Diskussion kaum erforderlich. Man kann aber grundsätzlich daran zweifeln, dass Enhancement überhaupt in den Aufgabenbereich der Medizin fällt. Das wird deutlich, wenn man Medizin nicht in erster Linie als Praxis bestimmter Berufe oder durch den Einsatz bestimmter Mittel definiert, sondern die Sinngrenzen medizinischer Handlungen funktional bestimmt. Die Funktion der Medizin liegt in der Heilung oder Vorbeugung von Krankheiten und der Krankheitsbegriff ist damit essenziell für die Medizin, die sich dadurch erst von anderen Funktionsbereichen unterscheidet. Die Medizin ist nicht zuständig für wirtschaftlichen Erfolg oder die politische Emanzipation von Individuen und Gruppen. Ihre Aufgabe besteht ebenso wenig in der Vermittlung religiöser Einsichten, der Verbesserung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder der Erziehung von Kindern.11 Eben solche nichtmedizinischen Ziele stehen aber im Fokus des Enhancements: Medizinische Praktiken und Techniken sollen dazu genutzt werden, um berufliche Aufstiegschancen zu verbessern, Freiheit und Gleichheit zu befördern, der spirituellen Erleuchtung durch Bewusstseinserweiterung oder dem Fortschritt der Wissenschaft durch kognitiv verbesserte Forscher zu dienen. Im Fall der genetischen ›Verbesserung‹ Ungeborener werden sie als Alternative zu Erziehungsleistungen verhandelt.12 In diesem breit gestreuten Diskurs um Enhancement bedienen sich einige Kommunikationsbeiträge einer auffällig visionären Semantik.13 Kern dieser Semantik ist erstens die Erwartung, dass in den kommenden Jahrzehnten immer weitgehendere Manipulationen der menschlichen Natur technisch möglich werden, und zweitens die Überzeugung, dass diese Entwicklung auch wünschbar ist und daher befördert werden sollte. Im Gegensatz zu den Enhancement-Optionen, die gegenwärtig verfügbar sind, wird zukünftig erwarteten Techniken drittens

11 Vgl. den Beitrag von Peter Hucklenbroich in diesem Band. Für die gesellschaftstheoretische Diskussion vgl. Peter Fuchs: »Das Gesundheitssystem ist niemals verschnupft«, in: Jost Bauch (Hg.), Gesundheit als System. Systemtheoretische Beobachtungen des Gesundheitswesens, Konstanz 2006, S. 21–38. 12 Vgl. Nick Bostrom: »Three Ways to Advance Science«, http://www.nickbos trom.com/views/science.pdf, letzter Zugriff am 15.4.2010; Paul Miller/James Wilsdon (Hg.): Better Humans? The politics of human enhancement and life Extension, London 2006; Jürgen Reyer: Eugenik und Pädagogik. Erziehungswissenschaft in einer eugenisierten Gesellschaft, Weinheim, München 2003. 13 Zum Begriff der Semantik vgl. Niklas Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik 1, Frankfurt/M. 1980, S. 9–71.

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das Potenzial zugesprochen, die physischen, intellektuellen oder emotionalen Grenzen des Menschenmöglichen zu überschreiten. In eben dieser Hoffnung auf eine grundsätzlich andere Form der menschlichen Existenz liegt der utopische Gehalt der rezenten Zukunftsvisionen. Die Struktur und Funktion dieser Semantik steht im Fokus der folgenden Ausführungen. Die Leitfrage ist dabei, wie sich solche Visionen einer Verbesserung der menschlichen Natur in einem grundsätzlich utopieskeptischen Umfeld formieren können. Die Beantwortung dieser Frage soll durch die Interpretation eines Schlüsseltextes ermöglicht werden, der einen entscheidenden Wendepunkt im utopischen Diskurs zur biologischen Umformung des Menschen markiert: die 1984 veröffentlichte Schrift des britischen Philosophen Jonathan Glover »What Sort of People Should there Be?«14. Glover zählt heute zu den renommiertesten britischen Bioethikern und ist einer der wichtigsten Stimmen in der Debatte um eine genetische Verbesserung des Menschen. Sein Buch »What Sort of People Should there Be?« gilt noch immer als einer der wegweisenden Beiträge zur Philosophie des genetischen Enhancements. Die Schrift kann nämlich zum einen als Ausdruck einer tiefen Erschütterung des »utopische[n] Ziel[s], mit konzentrierter gesellschaftlicher Aktion, die ›Verbesserung‹ der Menschheit voranzutreiben«15 gedeutet werden; zum anderen demonstriert das Buch aber zugleich einen Neubeginn des biopolitischen Projekts zur Transformation der menschlichen Natur unter liberalen Vorzeichen. In der Ablehnung kollektiver Utopien und einer gleichzeitigen Affirmation einer grundsätzlichen Hoffnung auf eine Überwindung bislang geltender biologischer Grenzen bringt der Text paradigmatische Diskursmuster zum Ausdruck, die einer neue Form des Utopischen den Weg bereiten: den liberalen Enhancement-Utopismus.

D ER

LIBERALE

E NHANCEMENT -U TOPISMUS

Die nachfolgende Interpretation ausgewählter Textstellen basiert auf einer 16 rekonstruktiven Sequenzanalyse. Diese Analysemethode verfolgt das Ziel,

14 Jonathan Glover: What Sort of People Should there Be?, Harmondsworth, Middlesex 1984. 15 C. Lenk: Therapie, S. 26. 16 Zur Interpretationstechnik der hermeneutischen Sequenzanalyse vgl. grundlegend Ulrich Oevermann: Strukturprobleme supervisorischer Praxis. Eine objektiv hermeneutische Sequenzanalyse zur Überprüfung der Professionalisierungstheorie, Forschungsbeiträge aus der objektiven Hermeneutik 2, Frankfurt/M. 2001; Andreas Wernet:

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grundlegende Sinnstrukturen offenzulegen, die einen Text charakterisieren. Das Interesse gilt dabei den Geltungsansprüchen und Deutungsmustern, die kommunikativ zum Ausdruck gebracht werden. Die Konstruktion technologischer Möglichkeiten als Menschheitsproblem Meine hermeneutische Rekonstruktion des Textes beginnt mit dem Titel: »What Sort of People Should there Be?« Indem der Autor diese Frage stellt, behauptet er zugleich, dass über diese Frage entschieden werden kann, auch wenn noch unklar ist, wer über diese Frage entscheiden soll. Die zukünftige Zusammensetzung der Menschheit wird damit also nicht im Bereich von Zufall oder Notwendigkeit verortet, sondern im Handlungsbereich der Menschheit selbst. Der eigentliche Text wird folgendermaßen eröffnet: »This book is about some questions to do with the future of mankind. The questions have been selected on two grounds. They arise out of scientific developments whose beginnings we can already see, such as genetic engineering and behaviour control. And they involve fundamental values: these technologies may change the central framework of human 17

life.«

Bücher wenden sich tendenziell an ein breiteres Publikum als etwa Reden oder Fachartikel. Wenn ein Buch die Zukunft der Menschheit thematisiert, beansprucht es eine universelle Relevanz. Was in diesem Buch kommuniziert wird, soll »uns alle« betreffen. Die Fragen, um die es gehen soll, erwachsen angeblich aus Prozessen, die in der Welt beobachtbar sind, nämlich den thematisierten wissenschaftlichen Entwicklungen und der Macht auf das Menschsein, das ihnen zugesprochen wird. Die Behandlung gerade dieser Fragen erfolgt also dem Text zufolge nicht aus dem idiosynkratischen Eigeninteresse des Autors, sondern basiert auf der Einsicht, dass man sich diesen Fragen nun stellen muss. Dies deutet darauf hin, dass Glovers Buch eine stellvertretende Bewältigung der Entschei-

Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik, Opladen 2000. Die Analyse kann hier nur sehr ausschnitthaft und verkürzt wiedergegeben werden. Der Eindruck der Über- oder Unterinterpretation bestimmter Textstellen ist dabei kaum zu vermeiden. Eine ausführlichere Darstellung findet sich in Sascha Dickel: Enhancement-Utopien: Soziologische Analysen zur Konstruktion des Neuen Menschen, Baden-Baden 2011. 17 J. Glover: What Sort of People, S. 13.

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dungskrise einer Gemeinschaft (tendenziell der gesamten Menschheit) leisten will, indem es Antworten auf die Fragen liefert, die sich aufgrund dieser Technologien ergeben. Der Autor positioniert sich damit als Intellektueller, der eine gesellschaftliche Krise diagnostiziert und für sie Deutungsautorität beansprucht.18 »The book is intended as a contribution, not to prediction, but to a discussion of what sort of future we should try to bring about.«19

Das betreffende Kollektiv (zu dem Glover sich selbst rechnet) kann offenbar verschiedene Zukünfte realisieren. Die in Aussicht gestellte Krisenbewältigung liegt jedoch nicht in der Entlastung des Publikums durch Vorhersagen. Vorhersagen können Krisen bewältigen, indem sie Unsicherheit durch Sicherheit ersetzen – und je mehr Geltung sie beanspruchen, desto weniger relevant erscheinen gegenwärtige Entscheidungen, da die Zukunft ja bereits festgeschrieben ist. Glover hingegen will verschiedene Zukünfte diskutieren und zur Entscheidung stellen. Durch die Sichtbarmachung verschiedener Zukunftswege wird die Entscheidungskrise de facto erst kommunikativ erzeugt, vor der »wir« stehen und die das Buch bearbeiten will. Der utopische Blick aus der Zukunft – jenseits der Kollektivutopie? Der Text folgt in seinem weiteren Verlauf der Logik der Aufklärung eines wissenschaftlich und ethisch interessierten, aber nicht hinreichend rationalen und informierten Publikums. Der Autor geht davon aus, dass viele Widerstände gegen gen- und neurotechnische Manipulationen auf halb bewussten Bauchgefühlen und schwer artikulierbaren Horrorvorstellungen basieren würden. Glover will nun potenzielle Einwände stellvertretend präzisieren und sie damit einer rationalen Kritik zugänglich machen. Dabei versucht er zu zeigen, dass die irrationale Ablehnung des genetischen Enhancements auf rationale Einwände reduziert werden kann, die für sich genommen jeweils rational widerlegbar sind. Er führt mögliche Gründe für eine Veränderung der menschlichen Natur an, um so einem unreflektierten Konservatismus bezüglich der neuen technischen Potenziale zur

18 Vgl. Ulrich Oevermann: »Der Intellektuelle. Soziologische Strukturbestimmung des Komplementär von Öffentlichkeit«, in: Andreas Franzmann (Hg.), Die Macht des Geistes. Soziologische Fallanalysen zum Strukturtyp des Intellektuellen, Frankfurt/M. 2001, S. 13–75. 19 J. Glover: What Sort of People, S. 13.

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Veränderung des Menschen entgegenzutreten.20 Dazu aber muss er eine besondere temporale Perspektive einnehmen: »If we decide on a positive programme

21

to change our nature, this will be a central mo-

ment in our history, and the transformation might be beneficial to a degree we can now 22

scarcely imagine.«

Enhancement erscheint als Instrument, das in eine Zukunft führen kann, die ganz anders (und besser) sein kann als das Hier und Jetzt. Wenn man aus der virtuellen Perspektive einer ›besseren‹ Zukunft auf die Gegenwart blickt, erscheint diese notgedrungen defizitär. Um diesen utopischen Beobachtungsstandort aber einnehmen zu können, muss das ›Gute‹ dieser Zukunft irgendwie konkretisiert werden. Was aber kann man eigentlich über diese »schwer vorstellbare« Zukunft sagen? Diesem Problem wendet sich Glover in dem folgenden Zitat zu: »Future Generations are unlikely to share all our values. One obvious consequence of this is that we should not plan utopias for them. Utopian planning, even when intended for the immediate future, has been much criticised. Utopias are always tidy and boring. They re23

flect the imaginative limits of their creators.«

Was für ein Utopiebegriff liegt der Utopiekritik des Autors hier zugrunde? Die Utopien, von denen im Text die Rede ist, sind geplante Kollektivutopien, die ganze Generationen betreffen. Das erste Problem dieser Utopien, das nun benannt wird, ist der Relativismus der Werte. Damit wird deutlich, dass der Text Utopien immer auch als wertgebundene Konstruktionen begreift. Es gäbe jedoch keine objektiven Maßstäbe für die »beste aller Welten«, sondern nur Beobachtungsweisen, die einen bestimmten Zustand als Utopie erscheinen lassen. Und diese Beobachtungsweisen seien eben nicht ahistorisch. Ebenso wie die Werte, die sie tragen, werden daher auch Utopien als zeitgebundene Phänomene begriffen: Werte ändern sich ebenso wie Utopien. Die Utopiekritik des Textes richtet sich hier auf ein grundsätzliches Problem, das utopische Pläne selbst für die nahe Zukunft unattraktiv erscheinen lässt: die Begrenzung der utopischen Imagination durch die Vorstellungskraft ihrer Autoren. Die Genese von Utopien wird von Glover demnach nicht als soziales, son-

20 Vgl. ebd., S. 14–16, 25. 21 Mit »positive programme« ist Enhancement gemeint. 22 Vgl. ebd., S. 32–33. 23 Vgl. ebd., S. 149.

V ERFÜHRUNG

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G RENZÜBERSCHREITUNG

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dern als individuelles Phänomen verstanden. Nicht soziale Verhältnisse bringen Utopien hervor, sie sind vielmehr schöpferische Produkte, die bestimmten Individuen zugerechnet werden können. Und diese Individuen sind nicht nur in den Werten, die sie verwirklichen wollen, selektiv, sondern auch kognitiv begrenzt. Auch wenn Utopien daher neue Optionen des Erlebens und Handels offerieren, so sind diese Optionen doch durch die Vorstellungskraft des Utopisten beschränkt. Die kollektive Anerkennung utopischer Ordnungen wird von Glover grundlegend problematisiert. Kollektivutopien würden immer auf Widerstand stoßen, da weder gegenwärtig – und erst recht nicht zukünftig – mit ihrer kollektiven Akzeptanz zu rechnen sei. Welches Recht haben gegenwärtige Menschen schließlich, das Leben zukünftiger Menschen nach ihrem Bild zu formen, wenn ihre Werte doch sozial und historisch situiert und damit relativ sind? »If the Victorians had been able to use genetic engineering, they would have aimed to make us more pious and patriotic.«24 Glover stimmt Poppers These zu, dass Kollektivutopien, welche die Gesellschaft im Sinne eines Idealbildes umformen wollen, der Idee einer offenen, pluralistischen Gesellschaft widersprechen würden. In der Regel sei es besser, sich inkrementalistisch auf die Vermeidung des kollektiv Schlechten zu konzentrieren, statt in sozialutopischen Plänen das kollektiv Gute anzustreben. Dennoch stellt sich für Glover die Frage, ob es nicht einen Weg gibt, das Gute anzustreben, der sich nicht an Kollektivutopien orientieren muss.25 Verführung zur Möglichkeitsmaximierung »In bringing up children, we may hope to encourage their talents, or their curiosity and imagination, in ways we hope will enrich their lives, without trying to realize some blueprint of the ideal life for them. [...] If genetic engineering or other techniques can be used to produce future generations who transcend our limitations, whether physical, intellectual or emotional, the case against utopianism need not rule this out. For, as argued earlier about genetic engineering, there need be no plan for an ideal type of person drawn up by some committee. And we can recognize that our great-grandchildren will live by their values rather than ours, without as a result wishing to confine them within our own genetic 26

limitations.«

24 Vgl. ebd., S. 149. 25 Vgl. ebd., S. 149–151. 26 Vgl. ebd., S. 151.

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Wie utopische Hoffnungen jenseits geplanter Kollektivutopien aufrechterhalten werden können, ist eine implizite Leitfrage des Textes. Glover findet zwei Antworten auf diese Frage. Erstens tauscht er die Akteure aus, die ein Ideal anstreben. Im Unterschied zu kollektiven Entwürfen tritt nicht der Staat oder eine politische Bewegung als Protagonist auf; vielmehr stehen Individuen, die das Wohl ihrer Kinder anstreben, im Fokus der Betrachtung. Die kollektive Verbindlichkeit hinsichtlich der Ausgestaltung des Neuen Menschen sowie dessen Erschaffung durch den Willen einer politischen Gemeinschaft werden durch die Aussicht auf eine Überwindung biologischer Grenzen auf der Basis individueller Entscheidungen zum Enhancement ersetzt. Das Publikum des Textes wird daher auch nicht als politische Gemeinschaft, sondern als eine Gruppe von Individuen angesprochen, denen ein Motiv unterstellt wird, das offenbar vollkommen selbstverständlich und allgemein anerkannt ist: die Erweiterung des (kindlichen) Möglichkeitsraums durch die Eltern. Damit findet zweitens eine Wertverschiebung statt. Das Leitbild des guten Lebens wird nicht in der Exekution eines Plans gesehen, der erfüllt werden muss, sondern in der Erweiterung der Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Die Erweiterung von Talenten, Neugier und Imaginationskraft legt eben noch nicht fest, für welche konkreten Ziele diese Eigenschaften der Welterschließung eingesetzt werden. Daher scheinen die Vorbehalte Poppers gegen das Streben nach dem kollektiv Guten hier nicht zu gelten, da es in diesem Fall nicht um den Versuch geht, die Wirklichkeit einem kollektiv verbindlichen Ideal anzugleichen. An die Stelle dieses Ziels tritt die Erweiterung des Möglichkeitsraums selbst, der dann je nach Wunsch und/oder Bedarf in den zukünftigen Gegenwarten gefüllt werden kann. Aber wie können die Akzeptanz des Wertrelativismus und das Eintreten für den Wert der Möglichkeitserweiterung gleichermaßen in Anspruch genommen werden, ohne dass dies im Text als Widerspruch erscheint? Ist nicht auch das Streben nach Möglichkeitserweiterungen ein sozial- und zeitgebundener Wert, den andere Generationen womöglich nicht teilen würden? Um diese Fraglichkeit zu invisibilisieren, muss die abstrakte Erweiterung des Möglichkeitsraums als etwas begriffen werden, das eben keinem sozialen Wandel unterliegt, sondern vielmehr als anthropologische Konstante fungiert. Wie der Autor weiter ausführt, scheine es eine definitive genetische Begrenzung der intellektuellen und moralischen Verfasstheit des Menschen zu geben, die dafür sorgt, dass unsere Bestrebungen zum Verstehen des Universums und zum harmonischen Zusammenleben grundsätzlich beschränkt sind. Zudem führe uns unsere genetische Ausstattung – wie die Geschichte beweise – immer wieder zu neuen Grausam-

V ERFÜHRUNG

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G RENZÜBERSCHREITUNG

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keiten. Nur eine genetische Veränderung könne daher unsere intellektuellen und moralischen Kapazitäten grundsätzlich erweitern.27 »Any programme of genetic engineering to modify our intellectual functioning would obviously have to be very cautious and experimental. But, once it showed signs of working without bad side-effects, it seems likely that some parents would choose to have children who would transcend our traditional limitations. Because our growing understanding of the world is so central a part of why it is good to be human, it would be very tempting for us to break through our genetic intellectual limitations. If we do have such limits, and do decide to transcend them, our descendants may be glad. To them, our decision might mean escape from a kind of claustrophobia.«

28

Glover stellt Enhancement als Verführung für die Eltern dar (»very tempting«). Das Verführerische daran sei die Aussicht, die eigenen Kinder aus einem Zustand zu befreien, welcher der Klaustrophobie ähneln würde. Klaustrophobiker leiden unter Engegefühlen. Sie können sich aus diesem Zustand jedoch oft nicht aus eigener Kraft befreien. Dazu benötigen sie eine Therapie. Diese Therapie sind hier genetische Eingriffe. Kinder könnten es ihren Eltern danken, dass diese sie durch Enhancement aus unnötiger Enge befreit haben.29 Das bedeutet aber auch: Wenn Eltern ihre Kinder nicht optimieren, überlassen sie sie in einem Zustand, aus dem sie sich nach der Geburt nicht aus eigener Kraft befreien können. Es wurde bereits festgestellt, dass Glover die Entscheidung für Enhancement an einzelne Individuen delegiert. Spätestens dann, wenn er Enhancement jedoch als Befreiung der Kinder aus unnötiger Beklemmung und Enge definiert, wird klar, dass auch eine Entscheidung gegen Enhancement eine Entscheidung ist – eine Entscheidung für die intellektuelle und emotionale Begrenzung nämlich. Passivität statt aktives Enhancement verdammt Glover zufolge zur »Klaustrophobie«. Nach der Lektüre dieses Buches scheint Ignoranz diesbezüglich nicht mehr möglich. Die Verführung durch Enhancement-Optionen, die Glover als die Verführung hypothetischer Dritter darstellt, wird so als Verführung der Leser durch den Autor dechiffrierbar. Verführer zwingen anderen ihren Willen nicht auf, sie kommunizieren ambivalent und wissen, dass es auch Argumente gibt, der Ver-

27 Vgl. ebd., S. 179–184. 28 Vgl. ebd., S. 180–181. 29 Dieses Befreiungserlebnis würde natürlich voraussetzen, dass sie ihren Zustand des Befreitseins mit anderen (nicht optimierten) Menschen vergleichen könnten, deren Zustand sie als beengt beurteilen würden.

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führung zu widerstehen. Während Verführer aber eigentlich rationale Kalküle ausschalten wollen, verführt Glover mit rationalen Argumenten, welche die Möglichkeiten des Enhancements für den Leser erst sichtbar machen.

D IE G EGENWART

DER

Z UKUNFT

Die rekonstruierten Semantiken markieren die Geburt einer neuen Form des Utopischen – der liberalen Enhancement-Utopie. Diese Form des Utopischen 30 lässt sich in zahlreichen biopolitischen Schriften der Gegenwart nachweisen. Sie findet sich zum einen in Diskursbeiträgen zu den Chancen einer Verbesserung der eigenen Kinder im Zuge einer »liberalen Eugenik« durch Prä31 implantationsdiagnostik oder (zukünftig) durch Keimbahnintervention. Zum anderen prägt sie Visionen zur Verbesserung des eigenen Körpers, etwa in Sze32 narien einer biomedizinischen Verbesserung des Gehirns durch Pharmazeutika. Visionen einer extremen Verlängerung des Lebens durch nanomedizinische Ein33 griffe oder in transhumanistischen Hoffnungen einer Verschmelzung von 34 Mensch und Maschine durch Neurotechnologien. Immer positionieren sich hier Autoren in sozialer Hinsicht als intellektuelle Aufklärer, die aus der zeitlichen Perspektive erhoffter Zukünfte auf die Gegenwart blicken und dabei die sachliche Relevanz von Möglichkeitssteigerung und Grenzüberwindung hervor35 heben. Der Mensch der Gegenwart wird dabei mit einem zukünftigen Menschen kontrastiert. Dieser zukünftige Mensch wird kaum konkretisiert, aber unter-

30 S. Dickel: Enhancement-Utopien. 31 Vgl. etwa Julian Savulescu: »Genetic Interventions and the Ethics of Enhancement of Human Beings«, in: Bonnie Steinbock (Hg.), The Oxford Handbook of Bioethics, Oxford 2007, S. 516–535. 32 Vgl. etwa James Hughes: Citizen Cyborg. Why Democratic Societies Must Respond to the Redesigned Human of the Future, Cambridge, MA 2004, S. 33–52. 33 Vgl. etwa Robert A. Freitas: »Nanomedizin. Die Suche nach unfallbegrenzten Lebensspannen«, in: Sebastian Knell (Hg.), Länger leben? Philosophische und biowissenschaftliche Perspektiven, Frankfurt/M. 2009, S. 63–73. 34 Vgl etwa Ray Kurzweil: The Singularity is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2005. 35 Zur sozialen, zeitlichen und sachlichen Dimension von Kommunikationsbeiträgen vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 111–122.

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scheidet sich vom gegenwärtigen Menschen doch in einer entscheidenden Hinsicht: Er soll über kognitive, physische und emotionale Möglichkeiten verfügen, die für den gegenwärtigen Menschen prinzipiell unerreichbar seien. Dies wiederum sei der Schlüssel zu einer immer weitergehenden Verbesserung der eigenen Konstitution. Aus der Perspektive imaginärer Zukünfte wird die Gegenwart fundamental kritisierbar, und diese Kritik richtet sich an ein Publikum, dessen Blick auf Gegenwart und Zukunft angeblich gleichermaßen verschleiert ist, und zwar durch »irrationale« Vorurteile, die durch Aufklärung rationalisiert und damit potenziell entkräftet werden sollen. Der soziale Sinn dieser Texte entfaltet sich vor der Erwartung, dass Menschen Enhancement aus den falschen Gründen heraus ablehnen könnten und dass dies den Übergang zum Neuen Menschen unmöglich machen könnte. Diesen Widerständen treten Enhancement-Utopisten mit der Verheißung einer Befreiung aus den Fesseln von Natur und Evolution entgegen. Die Probleme, die dem gegenwärtigen Menschen zugeschrieben werden und die Möglichkeiten, die im Enhancement gesehen werden, würden eigentlich einen Handlungsappell für Enhancement nahelegen, der an eine politische Gemeinschaft gerichtet ist. Denn sowohl die Probleme als auch die Lösungsperspektiven werden als universell gültig dargestellt. Dennoch werden für die kollektiven Probleme, welche die Menschheit als Ganzes betreffen, im liberalen Enhancement-Utopismus keine kollektiven Lösungen angeboten. Politische Empfehlungen zum Umgang mit Enhancement beschränken sich im utopisch geprägten Diskursstrang meist auf den Verweis auf ein pluralistisches Nebeneinander von »Verbesserten« und »Nicht-Verbesserten«, das der Staat absichern soll. Die Entscheidung für oder gegen Enhancement wird aber letztlich an den Einzelnen delegiert. Dieser soll durch die öffentliche Reflexion des Autors zur Selbstreflexion angeregt werden. Die utopische Perspektive, die bei Glover weitgehend implizit bleibt, wird in rezenten Visionen stärker expliziert. Der Begriff der Utopie, der bei Glover noch zur Abgrenzung gegen auf dem Reißbrett entworfene Kollektivvisionen verwendet wurde, erfährt dabei eben jene Wendung zum individuellen Entgrenzungs36 versprechen, die im Text von Glover bereits angelegt ist. Seine kommunikative Wirkung entfaltet der Enhancement-Utopismus durch eben diese Beobachterperspektive: Begreift man die Zukunft als Raum grenzenloser, positiv aufgeladener Möglichkeiten, erscheint die Gegenwart notwendigerweise als begrenzt und verbesserungsbedürftig. Der Enhancement-Utopismus blickt nicht von der Gegen-

36 Vgl. insbesondere Nick Bostrom: »Transhumanist Values«, Review of Contemporary Philosophy 4 (2003), S. 87–101; Nick Bostrom: »Letter from Utopia«, Studies in Ethics, Law, and Technology 2 (2008), S. 1–7.

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wart in die Zukunft, sondern vom virtuellen Standort einer goldenen Zukunft auf eine dadurch mangelhaft erscheinende Gegenwart. Genau in diesem Sinne lässt sich der Enhancement-Utopismus als Legimitationssemantik interpretieren. Der Grundwert jeder Enhancement-Utopie ist die ziellose Möglichkeitssteigerung, eine Maximierung von Handlungs- und Erlebniskapazitäten, die an sich zu präferieren sei. Auf der Grundlage dieses Wertes drehen Enhancement-Utopisten die Legitimationspflicht um: Während Enhancement als selbstverständliches Ziel erscheint, wird jede Entscheidung gegen Enhancement zur begründungspflichtigen Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten. Die basale Funktion des Enhancement-Utopismus in der breiteren gesellschaftlichen Debatte liegt in eben dieser Umkehrung der Begründungspflicht durch die Erweiterung des zeitlichen Horizonts. Seine Zukunftsentwürfe stellen eine Legitimationssemantik für gegenwärtige Enhancement-Anwendungen und -entwicklungen dar. EnhancementUtopien versprechen, dass medizinische Mittel in Zukunft Möglichkeitsräume erschließen könnten, die auf anderen Wegen angeblich prinzipiell unerreichbar wären. Wer Enhancement fördern, erforschen, entwickeln oder anwenden will, zugleich aber mit gesellschaftlichen Widerständen rechnet, kann daher zum Mittel der Enhancement-Utopie greifen, um die Gegenwart aus der virtuellen Perspektive der Zukunft defizitär erscheinen zu lassen. Im Gegensatz zu den biopolitischen Kollektivutopien vom Neuen Menschen, die bis in die 1960er Jahre populär waren, verschreiben sich liberale Enhancement-Utopien der Freiheit des Individuums. Weder ist ein kollektiver Konsens über den Neuen Menschen erforderlich, noch wird die Idee einer kollektiv bindenden Entscheidung zum Enhancement vertreten. Anstelle einer politischen (Ver-)Ordnung des Neuen Menschen das Wort zu reden, versuchen sich liberale Enhancement-Utopien außerhalb der Verstrickungen des Sozialen zu positionieren. Enhancement taucht in diesem Diskurs daher auch kaum als originär politisches Phänomen auf, sondern scheint wie von außen auf soziale Zusammenhänge einzuwirken. Die Rolle der Politik wird weitgehend darauf beschränkt, ob sie diese Außenstörung abwehrt oder zulässt. Dadurch wird Enhancement scheinbar entpolitisiert. Sowohl Entscheidungen für oder gegen Enhancement als auch die Wahl der Ziele, die damit verfolgt werden, werden an Individuen delegiert. Die Entscheidung für oder gegen eine Manipulation des eigenen Körpers (oder seines Nachwuchses) soll man selbst treffen. Man wird im gleichen Atemzug jedoch subtil dazu verführt, die begrenzte Gegenwart (und mögliche begrenzte Zukünfte) mit der in Aussicht gestellten Möglichkeitsmaximierung des Selbst (oder der eigenen Kinder) zu kontrastieren.

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| 265

Die Heterogenität der Wertorientierungen, von der man in einer pluralistischen Gesellschaft ausgehen muss, entzieht jeder Form von Kollektivutopie ihre allgemeine Verbindlichkeit. Die Diskursstrategie der Enhancement-Utopisten liegt daher gerade in der Vermeidung kollektiver Verbindlichkeit. Der neue Neue Mensch setzt keinen politischen oder moralischen Konsens und keine gemeinsame Zukunftsvorstellung voraus. Die Botschaft des liberalen Enhancement-Utopismus lautet vielmehr immer: Wenn es uns gelingt, die sozialen Grenzen zu überwinden, welche die Forschung blockieren, kannst du selbst die Zukunft deiner Wahl realisieren – sei es eine radikale Verlängerung deines Lebens, eine Steigerung deiner Intelligenz, eine Steigerung deiner Wahrnehmungsmöglichkeiten, ein besseres moralisches Urteilsvermögen oder eine Verbesserung deiner Nachkommen. Gerade diese – scheinbar ganz private – Verführung zur Verbesserung des Selbst oder der eigenen Kinder macht Enhancement-Utopien in einer individualisierten Gesellschaft zu einer anschlussfähigen Form der Kommunikation. Die auf individuelle Interessen abzielenden Argumentationsmuster dienen so dem (bio-)politischen Zweck, emotionale, moralische, politische oder rechtliche Grenzen in der Gegenwart aufzuweichen, die der Forschung an oder der Anwendung von Verbesserungstechnologien entgegenstehen. Die Reaktion derjenigen Adressaten, die sich von der utopischen Botschaft überzeugen lassen, kann schließlich nicht in der Anwendung von Technologien, die noch gar nicht existieren, bestehen, sondern allein in dem Versuch, gesellschaftliche Grenzen zu überwinden, die dem Enhancement entgegenstehen. Utopische Botschaften sind jedoch immer nur Kommunikationsangebote. Wie auf sie tatsächlich reagiert wird, ist für den Sender der Botschaft nicht kontrollierbar. Gerade der Verweis auf Enhancement-Zukünfte kann nämlich gerade zu einer Ablehnung gegenwärtiger Enhancement-Praktiken und der mit ihnen verbundenen Forschungsrichtungen führen. Kritiker wie Francis Fukuyama verweisen etwa darauf, dass gegenwärtige Enhancement-Optionen genau deswegen abzulehnen seien, weil sie Tür und Tor für tiefer gehende Eingriffe in die menschliche Natur aufstoßen würden – und schließlich zum Ende des Menschen 37 führen könnten, wie wir ihn heute kennen. Der Traum von der technischen Verbesserung des Menschen kann ebenso gut als Albtraum einer sukzessiven Abschaffung des Menschen gelesen werden. Der Lockruf der Zukunft kann in einigen Ohren wie ein fataler Sirenengesang klingen.

37 Francis Fukuyama: Our Posthuman Future. Consequences of the Biotechnology Revolution, New York 2002; vgl. auch Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M. 2005.

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Unabhängig davon, ob man Enhancement-Zukünfte nun utopisch oder dys38 topisch interpretiert, bewirkt die »Futurisierung« der Biopolitik durch zukünftige Wunsch- oder Furchtbilder eine Dramatisierung des Diskurses. Die Diskussion um die Anwendung medizinischer Mittel für nicht-medizinische Zwecke erscheint durch die Integration langfristiger Zeithorizonte als Kampf um die menschliche Natur.

38 Niklas Luhmann: »The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society«, Social Research 43 (1976), 130–152, hier S. 141.

Enhancement als Problem der soziologischen Medikalisierungsforschung F ABIAN K ARSCH

E NHANCEMENT – EIN M EDIKALISIERUNGSPHÄNOMEN ? Francis Fukuyama kündigte vor einiger Zeit »das Ende des Menschen«1 an. Die drohende biotechnologische Revolution, so Fukuyama im Jahr 2002, äußere sich in den Bereichen der künstlichen Verlängerung des Lebens, der genetischen Manipulation, der übersteigerten Bedeutungszunahme der Neuro-Wissenschaften und schließlich: in der Neuropharmakologie, die eine Manipulation von Emotionen und Verhalten möglich mache.2 Neun Jahre nach Erscheinen seines Buches »Our Posthuman Future. Consequences of the Biotechnological Revolution« kann festgestellt werden: Zum Ende des Menschen ist es bislang nicht gekommen. Die Verwendung von Psychopharmaka ohne therapeutischen Zweck, in den Medien oft als »Hirndoping« bezeichnet, wird weiterhin kontrovers diskutiert. Während von dem President’s Council on Bioethics in seinem viel zitierten Bericht »Beyond Therapy«3, ähnlich wie bei Fukuyama, eindeutig kritisch auf die Gefahren einer »kosmetischen Psychopharmakologie«4 verwiesen wird, mehren sich jüngst auch Stimmen, die dezidiert liberale Positionen einnehmen. So sorgte kürzlich eine in der

1

Francis Fukuyama: Das Ende des Menschen, Stuttgart, München 2002.

2

Vgl. ebd., S. 33.

3

President’s Commission: Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness. A Report of the President’s Council on Bioethics, New York/Washington 2003.

4

Claus Normann et al.: »Möglichkeiten und Grenzen des pharmakologischen Neuroenhancements«, in: Der Nervenarzt 1 (2010), S. 66–74.

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Zeitschrift Nature publizierte Stellungnahme für Aufsehen, in der mehrere renommierte Naturwissenschaftler und Bioethiker für einen aufgeklärten, selbstbestimmten und offenen Umgang mit sogenanntem Neuro-Enhancement plädier ten.5 Der Begriff des »Enhancements« bezeichnet in der bio- und medizinethischen Diskussion die gezielte Veränderung oder ›Verbesserung‹ kognitiv-emotionaler und körperlich-leiblicher Eigenschaften jenseits kurativer Zielsetzungen.6 Auch die Autoren des Memorandums »Das optimierte Gehirn«7 treten für einen »offenen und liberalen, aber keineswegs unkritischen oder sorglosen Umgang mit pharmazeutischem Neuro-Enhancement«8 ein, in der Hoffnung, dass Neuro-Enhancement-Präparate in der Zukunft »als gezielte Leistungs- und Kreativitätsverstärker eingesetzt werden könnten«9. Die wichtige Frage nach dem Entstehungszusammenhang der Wünsche nach medizinischer Optimierung bleibt bislang allerdings weitgehend unbeantwortet. Ist bio-medizinisches Enhancement als »individuelle Chance oder suggestive soziale Norm«10 zu verstehen? Die Beantwortung dieser Frage ist auch deshalb schwierig, da im Enhancement-Diskurs oftmals lediglich potenzielle Problemfelder, zukünftige Entwicklungen und mögliche Nutzungsmotive thematisiert werden. Wie aber ist die gegenwärtige Sachlage zu beurteilen? Ob Anti-Depressiva, Methylphenidat oder Modafinil – die meisten Substanzen und Präparate, die als potenzielle Neuro-Enhancer gelten, werden größtenteils zur Behandlung von (mehr oder weniger) eindeutig definierten Krankheitsbildern eingesetzt. Dort, wo sich also medizinische Bereiche abzeichnen, in denen von Enhancement gesprochen werden könnte, ist die Nutzung der Mittel zumeist medizinisch indiziert, auch wenn die jeweilige Indikation teilweise durchaus umstritten sein kann. Gleichwohl scheint es eine Zunahme an »sozio-

5

Henry Greely et al: »Towards responsible use of cognitive-enhancing drugs by the

6

Vgl. Eric Parens: Enhancing Human Traits. Ethical and Social Implications, Washing-

healthy«, in: Nature 456, S. 702–705. ton 1998; Bettina Schöne-Seifert/Davinia Talbot (Hg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn 2009. 7

Thorsten Galert et al.: »Das optimierte Gehirn. Ein Memorandum zu Chancen und

8

Ebd., S. 11.

9

Ebd., S. 12.

Risiken des Neuroenhancements«, in: Gehirn&Geist 11 (2009), S. 40–48.

10 Peter Wehling: »Biomedizinische Optimierung des Körpers – individuelle Chance oder suggestive soziale Norm?«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Teilbd. 1 u. 2, Frankfurt/M. 2008, S. 945–960.

E NHANCEMENT

ALS

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medizinischen Störungen«11 zu geben, die sich durch relativ weiche Diagnosekriterien auszeichnen und bei denen die Verbesserung emotionaler Zustände, kognitiver Leistungsfähigkeit oder sozialer Verhaltensweisen im Mittelpunkt der Therapie steht. Der amerikanische Soziologe Irving Zola stellt fest: »The greatest increase in drug use […] has not been in the realm of treating any organic disease but in treating a large number of psycho-social states. Thus we have drugs for every mood.«12 Traurigkeit und Erschöpfung, Aufmerksamkeitsdefizite und Schüchternheit sind die Symptome von neuen Krankheitsbildern, die sich in einer definitorischen Grauzone befinden, in der eine Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit zunehmend uneindeutig wird.13 Viele der Praktiken, die heute oft als Neuro-Enhancement gelten, finden faktisch in einem geschlossenen medikalisierten Feld statt, das heißt im Rahmen medizinisch legitimierter Krankheitsbehandlungen. Eine Ausnahme bildet hier freilich der Medikamentenmissbrauch, also der gezielte Einsatz der entsprechenden Mittel ohne Verschreibung durch einen Arzt, worauf einige Studien verweisen.14 Dass aber der Konsum leistungssteigernder Mittel ohne medizinische Indikation rechtlich als Missbrauch einzustufen ist, zeigt eindrücklich, in welch hohem Grad es sich um ein sozial geschlossenes Feld handelt. Lediglich die Schönheitschirurgie ist als ein Paradebeispiel einer »wunscherfüllenden Medizin«15 zu werten, die als explizites Enhancement einzuordnen ist und die nahezu vollständig von medizinischen (das

11 Joseph Dumit: »When explanations rests: ›good-enough‹ brain science and the new sociomedical disorders«, in: Margaret Lock/Allan Young/Alberto Cambrioso (Hg.), Living and Working with the New Medical Technologies. Intersections of Inquiry, Cambridge 2000, S. 209–232. 12 Irving Zola: »Medicine as an Institution of Social Control«, in: Sociological Review 20 (1972), S. 495. 13 Vgl. Fabian Karsch: »Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung? Zur Problematik der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit am Beispiel der ADHS«, in: Willy Viehöver/Peter Wehling (Hg.), Entgrenzung der Medizin: Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?, Bielefeld 2011, S. 121–142. 14 Vgl. Sean E. McCabe et al.: »Nonmedical Use of Prescription Stimulants among U.S. College Students: Prevalence and Correlates from a National Survey«, in: Addiction 99 (2005), S. 96–106; DAK Gesundheitsreport 2009, Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten, Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz, http://www.dak.de/content/ filesopen/Gesundheitsreport_2009.pdf, letzter Zugriff am 15.1.2011. 15 Matthias Kettner (Hg.): Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt/M. 2009.

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heißt krankheitsbezogenen) Indikationen abgekoppelt ist. Anstelle der Krankheiten, die üblicherweise den medizinischen Zugriff rechtfertigen, treten der Kundenwunsch bzw. der subjektive Leidensdruck der Patienten. Es findet mithin eine Entgrenzung von medizinischen Therapie-Techniken statt, wenn diese ohne medizinische Indikation angewendet werden. So ist im Bereich der Schönheitschirurgie keine Pathologisierung von Zuständen im eigentlichen Sinne festzustellen, die den medizinischen Einsatz legitimieren könnten, indem mehr oder weniger klar umrissene Krankheitsbilder definiert würden. Dennoch erscheinen Abweichungen von der Norm oder Alterserscheinung zunehmend als behandlungs- bzw. optimierungsbedürftig und geraten dadurch in den Zugriffsbereich der Medizin. Im Bereich des Neuro-Enhancements findet durch die Pathologisierung von Zuständen eine Ausweitung medizinischer Handlungsbereiche statt, in deren Kontext dann implizite EnhancementPraktiken vollzogen werden, beispielsweise, wenn das Neuro-Stimulans Methylphenidat zur kognitiven Leistungssteigerung im Rahmen einer ADHS-Therapie eingenommen wird. Was derzeit unter medizinisches Enhancement fällt, sind deshalb vor allem eindrückliche Beispiele für Medikalisierungsprozesse, also für gesellschaftliche Dynamiken, die sich durch medizinische Kontrolle und Steuerung auszeichnen. Medikalisierung verweist dabei ebenso auf eine Ausweitung medizinischer Deutungs- und Handlungsmacht wie auch auf Prozesse der sozialen Schließung: Allein Ärzte entscheiden als gatekeeper über den legitimen und legalen Zugang zu Enhancement-Möglichkeiten. Diese Überlegung weiterführend, möchte ich im Folgenden das Problemfeld des medizinischen Enhancements aus der Perspektive der soziologischen Medikalisierungsforschung genauer erörtern. Dazu werde ich zunächst zentrale Aspekte des Medikalisierungsansatzes herausarbeiten. Ich verstehe Medikalisierungsprozesse als die Effekte der Etablierung medizinischer Wissensregime, in deren Kontext eine diskursive Verbreitung medizinischer Deutungsmuster stattfindet. Enhancement muss demnach nicht nur als wunscherfüllende Medizin, sondern auch als wunschgenerierende Medizin aufgefasst werden. Ferner werde ich die Auswirkungen der Optimierungsmedizin in Bezug auf die Entgrenzung der professionellen medizinischen Praxis erörtern.

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D ER M EDIKALISIERUNGSANSATZ Medizinischer Imperialismus und Medikalisierungskritik Mit dem Begriff »Medikalisierung« ist ein Prozess gemeint, der die Etablierung medizinischer Institutionen, die Vergrößerung medizinischer Einflussbereiche und die Bedeutungszunahme medizinischer Denkweisen umfasst. Als sozialwissenschaftliches Konzept findet der Terminus Medikalisierung zumeist in kritischer Auseinandersetzung mit der »Ausweitung medizinischer Autorität auf immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens«16 Verwendung. Die Kritik an der modernen Medizin ist der Grundgedanke vor allem der frühen Arbeiten der Medikalisierungsforschung, in denen die Medizin als ein Instrument sozialer Kontrolle beschrieben wird. Ivan Illich etwa kritisiert in deutlichen Worten die universelle »Medikalisierung des Lebens«17 und bezeichnet Medizin als ein moralisches Unternehmen, das die Bedeutungen der Worte »gut« und »schlecht« bestimmen könne. Es sei die Medizin, die »genau wie Gesetz und Religion«18 vorschreibe, was gesellschaftlich als normal und wünschenswert zu gelten habe. Auch der historische Prozess der Professionalisierung der Medizin wird in der Soziologie zum Teil als ein zielgerichtetes Projekt der Ausweitung professioneller Machtbereiche gedeutet.19 In den 1960er und 1970er Jahren haben unter anderem die Arbeiten von Thomas Szasz, Irving Goffman und Irving Zola in den USA den theoretischen Hintergrund für die Annahme geliefert, dass die Grenzen zwischen dem, was in einer Gesellschaft als normal und dem, was als pathologisch gilt, von sozialen Konstruktionsprozessen durch medizinische Expertendiskurse abhängig ist.20 Die medizinisch angeleitete Interpretation von sozialen Phänomenen, die zuvor nicht in medizinisch-naturwissenschaftlichen Denkkategorien wahrgenommen wurden, ist einer der zentralen Aspekte der Medikalisierung der Gesellschaft und

16 Katharina Liebsch/Ulrike Mainz: Leben mit den Lebenswissenschaften. Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt?, Bielefeld 2010, S. 12. 17 Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, München 1975. 18 Ebd., S. 35. 19 Vgl. Elliott Freidson: The Profession of Medicine, New York 1970; Margali S. Larson: The Rise of Professionalism, London 1977. 20 Vgl. Robert A. Nye: »The evolution of the concept of medicalization in the late twentieth century«, in: Journal of the History of Behavioral Sciences 39 (2003), S. 115– 129.

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der Ausgangspunkt zahlreicher medizinkritischer Untersuchungen. Vor allem die Medikalisierung sozial abweichender Verhaltensweisen sowie die inflationäre Verwendung von Medikamenten zur Beeinflussung von Gemütszuständen werden in diesen Studien entschieden kritisch beurteilt. Spätestens seit den 1950er Jahren lässt sich eine Zunahme der Medikalisierung von Verhaltensproblemen bzw. deren neuartige Rückführung auf organische oder biochemische Defizite beobachten.21 Mit der Durchsetzung von medizinischen Deutungsmustern verändert sich die Interpretation des abweichenden Verhaltens derart, dass moralische Deutungskonzepte von medizinisch-pathogenetischen Deutungsangeboten abgelöst werden. Dieser Wandel lässt sich treffend mit der Formel »From Badness to Sickness«22 beschreiben. Die Neudefinition von Verhaltensdefiziten als Krankheiten ermöglicht in der Folge eine medizinische Intervention zur Wiederherstellung konformen Verhaltens. Medikalisierungsprozesse können aus dieser Perspektive als Etikettierungsprozesse verstanden werden, die auf Formen der sozialen Kontrolle hinauslaufen.23 Dabei muss die Medizin ihren erweiterten Gegenstandsbereich als Krankheit betrachten, um ihren Zugriff auf diese Sphäre zu legitimieren. Der Terminus »Medikalisierung« ist umfassend durch die Vorstellung eines derartigen medizinischen Imperialismus geprägt. Dieses kritische Axiom kann einen neutral-analytischen Blick auf Medikalisierungsprozesse erschweren, vor allem da Medikalisierung zum Teil weniger als streng definierter sozialwissenschaftlicher Terminus, denn als Passepartout-Begriff erscheint. So bezeichnet Nikolas Rose das Konzept der Medikalisierung sogar als »cliché of critical social analysis«24, das für sich genommen weder zur Erklärung noch zur Beschreibung ausreiche: »The term [medicalisation] itself should not be taken as a description or an explanation, let alone a critique. Not an explanation for there is no dynamic of medicalisation, no implacable logic of medical entrepreneurship, no single motive of medical interests, that lies behind these various boundary renegotiations; not a description, for there are many important distinctions to be made here.«25

21 Vgl. Peter Conrad: The Medicalization of Society, New York 2007. 22 Peter Conrad/Joseph Schneider: Deviance and Medicalization: from Badness to Sickness, Philadelphia 1980. 23 Irving Zola: »Medicine as an Institution of Social Control«, in: Sociological Review 20 (1972), S. 500. 24 Nicolas Rose: »Beyond Medicalisation«, in: Lancet 369 (2007), S. 700–702. 25 Ebd., S. 701.

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Im Kern zielt diese Kritik darauf ab, dass die Komplexität der sozialen Realität durch die Verwendung des kritischen Medikalisierungskonzeptes unangemessen reduziert würde. Auch der Feststellung, dass die Bezeichnung »Medikalisierung« nur den Ausgangspunkt und nicht das Ergebnis einer Analyse darstellen könne26 – so Rose später im Text –, ist unbedingt zuzustimmen. Allein: Auf die wenigsten Studien lassen sich diese Kritikpunkte auch anwenden. Zumeist stellt die Diagnose der Medikalisierung eines bestimmten gesellschaftlichen Feldes oder Phänomens tatsächlich nur den Ausgangspunkt und nicht das Ergebnis der Analyse dar. Rose übersieht in seiner Kritik, dass sich die vielfältigen Begriffsauslegungen des Terminus »Medikalisierung« derart unterscheiden, dass es bei seiner Verwendung gar nicht darum gehen kann, ein einzelnes Motiv oder eine bestimmte Logik medizinischer Interessen zu bestimmen. Gleichwohl ist die heterogene Verwendung des Begriffes freilich problematisch, da sie, zumindest auf den ersten Blick, den Eindruck von Beliebigkeit vermittelt. Es stellt sich folglich die Frage, welche Phänomene die unterschiedlichen Ansätze der Medikalisierungsforschung beschreiben, auf welche (theoretischen) Prämissen dabei zurückgegriffen wird und welche Gemeinsamkeiten die Analysen in ihrer Anlage und in den Ergebnissen vorweisen können. Das Spektrum der Untersuchungen reicht von historischen Analysen der Sozialmedizin,27 über medizinkritische und machttheoretische Ansätze,28 bis hin zu mikrosoziologischen Fallstudien, die sich zumeist im interaktionistischen Paradigma verorten lassen.29 In dem theoretischen Konzept der Medikalisierung verdichtet sich daher der Versuch, die sozio-kulturelle Bedeutung und den weitreichenden gesellschaftlichen Einfluss der Medizin analytisch/heuristisch in ihrer prozesshaften Ausbreitung zu erfassen, um verschiedene Dimensionen gesellschaftlichmedizinischer Interdependenzen in den Blick zu bekommen, auch wenn deren Beziehung untereinander oft (noch) unklar ist. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Ansätzen das Ergebnis, dass der Prozess der Medikalisierung ein Prozess der Bedeutungszunahme medizinischer Denkweisen zu sein scheint, die in unterschiedlicher Weise normativ und institutionell verankert sind. Daran anknüpfend nehme ich an, dass es sich bei

26 Ebd., S. 702. 27 Vgl. Christian von Ferber: »Medikalisierung – ein zivilisatorischer Prozeß oder eine sozialpolitische Fehlleistung«, in: Zeitschrift für Sozialreform 35 (1989), S. 632–642; Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985. 28 Vgl. I. Illich: Nemesis. 29 Vgl. P. Conrad/J. Schneider: Deviance.

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Medikalisierungsphänomenen im Kern um die Effekte der Etablierung eines spezifischen Wissensregimes handelt. Medizinische Wissensregime Der Begriff des Regimes bezeichnet im Allgemeinen »eine Lebensweise, eine Ordnungs- oder Regierungsform, also ein institutionalisiertes Set von Prinzipien, Normen und Regeln, das die Umgangsweise der Akteure in einem gegebenen Handlungszusammenhang grundlegend regelt«30. Im Verlauf des Medikalisierungsprozesses hat sich ein medizinisches Regime als Set von Normen und Prinzipien etabliert. Diese regeln unter anderem, was die legitimen Zielsetzungen, Handlungsweisen und Zuständigkeiten der Medizin sind, aber auch die legitimen Denkweisen und Wissensformen über Köper, Krankheit und Gesundheit. Analog dazu bezeichnet der aus der jüngeren Wissenssoziologie bzw. Wissensforschung stammende Begriff des Wissensregimes den »stabilisierten Zusammenhang von Praktiken, Regeln, Prinzipien und Normen«31, die den Umgang mit Wissen und unterschiedlichen Wissensformen strukturieren, »zumeist bezogen auf einen bestimmten Handlungs- und Problembereich«32. In diesem Sinne kann der Prozess der Medikalisierung als die Etablierung eines Wissensregimes verstanden werden. Wissensregime sind das Produkt historischer Auseinandersetzungen und selten dauerhaft stabil. Allerdings verfestigen sich in Wissensregimen Wissensordnungen, wie etwa das Verhältnis unterschiedlicher und teilweise konkurrierender Wissensformen (zum Beispiel wissenschaftliches Wissen, Handlungswissen etc.). Bestandteil der Wissensregime sind auch die materiellen Umsetzungen, das heißt die materielle Wissensproduktion und -verteilung im Rahmen ökonomischer, technischer oder rechtlicher Faktoren. 33 Der Begriff des Regimes stellt auf die Dominanz der jeweiligen Wissensordnung und ihrer institutionellen und kulturellen Etablierung in spezifischen Feldern ab. Bestandteile von Wissensregimen können »Verfahrensregeln, kognitive Bewertungsregeln, allgemeine Nor-

30 Michael Zürn: »Regime/Regimeanalyse«, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hg.), Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, 2 Bde, München 2002, Bd. 2, S. 798. 31 Peter Wehling: »Wissensregime«, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 704. 32 Ebd. 33 Ebd.

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men«34 sein. Insofern sind Wissensregime als soziale Institutionen zu verstehen, die Deutungsmuster für typische soziale Probleme und Handlungsbereiche bereitstellen. Die Unterscheidung zwischen Wissensregimen, Wissensordnungen und Deutungsmustern sowie Diskursen ist nicht immer trennscharf; vielmehr sind sie nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich aufs Engste miteinander verbunden. Wenn Reiner Keller Diskurse als Versuche definiert, »Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren«35, wird deutlich, wie nah die Begrifflichkeiten beieinanderstehen. Der Begriff des Wissensregimes lenkt den Blick auf historische Zusammenhänge von Macht/Wissens-Komplexen,36 das heißt die Auseinandersetzungen und Wahrheitskämpfe um Wissensansprüche und deren institutionelle Etablierung. Wissensordnungen sind als Bestandteile unterschiedlicher Wissensregime zu verstehen, die diskursiv hervorgebracht und stabilisiert werden, aber durch Diskurse auch transformiert werden können.37 Deutungsmuster schließlich sind Wissensbestände, die den Individuen als vorgegebene Systeme von »Regelstrukturen«38 gegenübertreten können, wobei diese Strukturen nicht unabhängig von Handlungen und Deutungsleistungen der Subjekte existieren. Deutungsmuster strukturieren einerseits die Diskurse und werden andererseits durch spezifische Wissensregime und die inhärenten Wissensordnungen erst geformt und ›ermöglicht‹. Der Prozess der Medikalisierung, verstanden als ein Prozess der Etablierung der zunehmenden Dominanz und Ausdehnung eines spezifischen Wissens über Gesundheit und Krankheit, verbunden mit der Institutionalisierung und Professionalisierung der ›Schulmedizin‹, hat dazu geführt, dass die Logik medizinischer Deutungsangebote zur vorherrschenden Wissensform nicht nur im Bereich der Krankheitsdiagnose und -behandlung geworden ist, sondern auch in vielen peripheren körper- und gesundheitsbezogenen Bereichen. Aus dieser Perspektive

34 Ebd., S. 705. 35 Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwisschaftlerInnen, Bielefeld 2007, S. 7. 36 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1977. 37 Vgl. Reiner Keller: »Diskurs/Diskurstheorien«, in: Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 205. 38 Christian Lüders/Michael Meuser: »Deutungsmusteranalyse«, in: Ronald Hitler/Anne Honer (Hg), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, Opladen 1997, S. 62.

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wird dann auch deutlich, warum die Idee eines medizinischen Imperialismus als Diagnose nicht ausreichend ist, zumindest insofern nicht, als damit eine zielgerichtete Ausweitung individueller und kollektiver Machtbereiche des Ärztestandes gemeint ist. Vielmehr muss beachtet werden, dass die medizinischen Denkweisen und Deutungsangebote diskursiv verankert und stets zentraler Bestandteil gesundheitsbezogenen Handelns sind. Medikalisierung erscheint dann weniger als herrschaftliche Domäne, denn als Macht-Wissens-Komplex, in dessen Rahmen die »Regierung des Selbst« bzw. die »Selbstmodellierung«39 der Individuen genauso bedeutsam ist wie die strukturelle Dominanz der Medizin. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass selbstgesteuerte Medikalisierungsprozesse zunehmend an Bedeutung gewinnen. Tendenzen zur Selbstmedikalisierung Es lässt sich eine zunehmende Logik der Selbstmedikalisierung beobachten, die mit dem Abbau paternalistischer Handlungszusammenhänge in der Medizin und einer daraus resultierenden zunehmenden Patientenautonomie korrespondiert.40 Diese »shifting engines of medicalization«41 führen zu neuartigen institutionellen Figurationen im medizinischen Bereich, in denen der aktiven Rolle des Patienten eine zentrale Bedeutung zukommt. Dazu gehören Selbstdiagnose, -behandlung und -medikation ebenso wie die kollektive Wissensförderung (bspw. durch das zunehmende Informationsangebot im Internet) und die gemeinsame Bewältigung von Problemen der alltäglichen Lebensführung im Kontext biosozialer Gemeinschaften (zum Beispiel Selbsthilfegruppen). So entsteht ein Autonomiegewinn gegenüber der professionellen medizinischen Versorgungslandschaft, und die Dynamik der Medikalisierung verschiebt sich tendenziell von der Fremdbestimmtheit zu mehr Selbstbestimmung. Die Emanzipation von paternalistischen Medikalisierungsformen zeigt sich besonders deutlich anhand des sich verändernden Arzt-Patient-Verhältnisses. Zunehmend treten Patienten als aktive Kon-

39 Ulrich Bröckling: Das Unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007, S. 31. 40 Fabian Karsch: »Die Prozessierung biomedizinischen Wissens am Beispiel der ADHS«, in: Reiner Keller/Michael Meuser (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden 2011, S. 271–288. 41 P. Conrad: Medicalization, S. 133.

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sumenten und Kunden auf.42 Die Medizin spielt freilich auch bei derartigen Prozessen der Selbstmedikalisierung eine zentrale Rolle. Zum einen, da körper- und gesundheitsbezogene Praktiken durch medizinische Deutungsmuster erst angeleitet werden, und zum anderen, da Ärzte als Gatekeeper das weitgehende Monopol zur Angebotsstellung besitzen und deshalb nicht nur auf Patientenbedürfnisse reagieren, sondern auch Kundenwünsche generieren. Enhancement als wunscherfüllende und wunschgenerierende Medizin Die Medizin verfolgt traditionell kurative Zielsetzungen. Die EnhancementDebatte zeigt, dass sie sich jedoch zunehmend auch den Wünschen nach Perfektionierung und Optimierung öffnet. Die Kernbereiche der Medizin, also die Wiederherstellung von Gesundheit und die »Linderung krankheitsbedingten Leidens«43, werden zunehmend durch explizit wunscherfüllende Formen erweitert. Diesen Trend bezeichnet der Medizinethiker Matthias Kettner programmatisch mit dem Begriff der »wunscherfüllenden Medizin«44. Mit der Erweiterung des bisher (weitestgehend) kurativen Handlungsbereiches der Medizin wird umso deutlicher, wie gesellschaftliche Anforderungen oder sozio-kulturell verankerte Bedürfnisse und Wünsche durch die Medizin buchstäblich verkörpert werden, wenn etwa die pharmazeutische Steigerung von kognitiver und somatischer Leistungsfähigkeit oder die chirurgische Optimierung von Körperformen zum Spektrum alltäglicher medizinischer Praxis werden. Dabei operiert auch die wunscherfüllende Medizin weiterhin mit Varianten der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit, die den legitimen Handlungsbereich der Medizin abstecken. Vor allem auf diskursiver Ebene wird die wunscherfüllende Medizin zu großen Teilen derart legitimiert, dass sie einen leidenden Menschen zum Ausgangspunkt nimmt. Dieses Leid kann sich, im Fall der Schönheitschirurgie, als ein ästhetisches Unbehagen am eigenen Körper manifestieren oder, im Fall des NeuroEnhancements, in Form von defizitären oder verbesserungswürdig erscheinenden kognitiv-emotionalen Zuständen.

42 Vgl. Gerhard Rogler: »Im Spannungsfeld zwischen Gesundheitsmarkt und verantwortungsvoller Medizin. Der Patient als Kunde?«, in: Schweizerische Ärztezeitung 25 (2009), S. 1009–1013. 43 M. Kettner: Wunscherfüllende Medizin, S. 9. 44 Ebd.

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Kettner deutet die Perfektionierungswünsche als Antriebskräfte »der modernen Kontingenzkultur«45, thematisiert jedoch nicht, inwieweit sich die Medizin nicht nur als wunscherfüllende Dienstleistungsbranche anbietet, sondern auch aktiv wunschgenerierend wirkt. Im Zusammenhang einer wissenssoziologischen Medikalisierungstheorie, die von Medikalisierung als einem Macht-WissensKomplex ausgeht, nehme ich an, dass die Verbreitung der Möglichkeiten der Enhancement-Medizin diskursive »Anrufungen«46 zur Folge hat, die Subjektpositionen und Bedürfnisstrukturen erzeugen und verstärken. Nicht zuletzt aus diesem Grund gelten medizinische Wunschleistungen auch innerhalb der Profession oft als unseriös, da vermutet wird, es würde in Bereichen eine Nachfrage generiert, in denen nach klassischem Medizinverständnis kein Bedarf für medizinische Angebote besteht.

D IE E NTGRENZUNG DER MEDIZINISCHEN P RAXIS

PROFESSIONELLEN

Im Prozess der Medikalisierung hat die Medizin in ihrem Tätigkeitsbereich der Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen eine weitgehende Monopolstellung und Definitionsmacht erreicht. Auch bei der Expansion medizinischer Zuständigkeitsbereiche, etwa durch die Pathologisierung sozialer Verhaltensweisen, wird lediglich der bereits legitimierte Rahmen (Krankheitsdefinition, Therapie) auf neue Phänomene ausgedehnt. Medikalisierung jenseits von Krankheit bezeichnet jedoch ein neues Phänomen: den Zugriff der Medizin auf gesunde Körper. Anstelle der körperlichen Beschwerden, die üblicherweise für den Arzt instruktiv sind und seinen Eingriff legitimieren, tritt die Optimierung des psycho-sozialen Wohlbefindens, etwa durch Präventivmaßnahmen und Beratung, Wellness- und Lifestylemedizin, die Steigerung körperlicher Leistungsfähigkeit durch Hormone oder Schönheitschirurgie. So hat sich ein Markt für medizinische Angebote etabliert, in dem ärztliche Leistungen weitestgehend von Krankheitsindikationen abgekoppelt sind oder sogar vollständig ohne medizinische Indikation nachgefragt werden.

45 Ebd., S. 18. 46 Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977.

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Die Gesundheitswissenschaftlerin Illona Kickbusch interpretiert in ihrer Diagnose der Gesundheitsgesellschaft47 den Prozess der Medikalisierung denn auch als einen Zuwachs der Machbarkeit von Gesundheit, die sich anhand von drei großen Gesundheitsrevolutionen entwickelt habe: Zunächst hat der gesundheitspolitische Fortschritt im 19. Jahrhundert die Sicherung der öffentlichen Gesundheit gewährleistet, daraufhin hat die Etablierung der Versicherungssysteme und medizinischen Versorgungssysteme im 20. Jahrhundert die individuelle Gesundheitsabsicherung garantiert, und schließlich können wir im 21. Jahrhundert eine individualisierte und weitläufig gesundheitsbezogene Lebenswelt beobachten. Nicht nur sei der Markt der Gesundheit zu einem Wirtschaftsfaktor von enormer Bedeutung angewachsen, auch lasse sich eine verstärkt gesundheitsbezogene Lebenswelt beobachten, die fest im Alltag verankert sei und in der »immer mehr Verhalten als gesundheitsschädlich bezeichnet und bekämpft und immer neue Verbesserungen am menschlichen Körper«48 angestrebt würden. Gesundheit gilt nicht mehr bloß als die Abwesenheit von Krankheit, sondern ist machbar und gestaltbar geworden und wird überdies in wachsendem Maße als ein Produkt wahrgenommen. So stellt etwa die Einführung von sogenannten Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung eine Kodifizierung und Ausdifferenzierung einer verstärkt am Kundenwunsch orientierten Präferenzmedizin dar, durch die der Markt derartiger Dienstleistungen in Deutschland stark erweitert wurde. Der Gesundheitsboom, der weitläufige Imperativ einer gesundheitsorientierten Lebensführung und die grundsätzlich gestiegenen Anforderungen der Konsumenten von Gesundheitsdienstleistungen haben niedergelassenen Ärzten ein neues Feld an Marktchancen eröffnet. Die in jüngster Zeit kontrovers diskutierten Strategien der Vermarktung der IGeL-Angebote zielen im Kern auf diesen neuen Patiententypus, der als aktiver Konsument gesundheitsbezogener Angebote in Erscheinung tritt. Es handelt sich bei diesen Leistungen um ärztliche Maßnahmen, die nicht Bestandteil des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenversicherungen sind, die aber dennoch von Patienten gewünscht werden und die zumindest – wenn auch teilweise umstritten – ärztlich vertretbar sind. Als unproblematisches Randphänomen der ärztlichen Praxis wurden Selbstzahlerleistungen lange kaum wahrgenommen. Mittlerweile jedoch hat das Angebot an privat zu liquidierenden medizinischen Leistungen derart zugenommen, dass bereits von einem »zweiten

47 Ilona Kickbusch: Die Gesundheitsgesellschaft. Megatrends der Gesundheit und deren Konsequenzen für Politik und Gesellschaft, Gamburg 2006. 48 Ebd., S. 8.

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Gesundheitsmarkt«49 die Rede ist. Das Spektrum der Selbstzahlerleistungen umfasst dabei schon lange nicht mehr nur sinnvolle Zusatzleistungen, sondern vermehrt auch Leistungen, die dem Bereich des Enhancements zugerechnet werden können. Dazu gehört zuvorderst die ästhetische Medizin, in steigendem Umfang aber auch Anti-Aging-Leistungen. Die zunehmende Popularität von Enhancement-Praktiken ist im Zusammenhang mit der Herausbildung eines zweiten Gesundheitsmarktes zu betrachten, da Enhancement-Leistungen (im engeren Sinne) per Definition Selbstzahlerleistungen sind, da sie keine medizinische Indikation aufweisen.50 Das lukrative, weil prinzipiell unabschließbare Projekt der Verbesserung von Defiziten oder unliebsamer Varianten der Norm erschließt so einen neuen Bereich im Gesundheitsmarkt – jenseits der kurativen Medizin. Die kommerzielle Präferenzmedizin macht im Zuge der Marktorientierung den Patienten zu einem Kunden, der vor allem als Konsument und in seiner Kaufkraft wahrgenommen wird.51 Diese Angleichung der Medizin an andere nachfragegesteuerte Gewerbeformen steht in einem Spannungsverhältnis zu zentralen professionsethischen Selbstbeschränkungen und Wertemustern. Die Ausrichtung der medizinischen Praxis am Kundenwunsch erweitert den Zuständigkeitsbereich der Medizin und wirft in der Folge zentrale Fragen bezüglich der professionellen Zielsetzungen der Medizin und dem damit verknüpften Arztbild auf.52 Insofern kann – zumindest in Bezug auf einige kommerzielle Enhancement-Leistungen wie die Schönheitschirurgie, Anti-Aging-Medizin und andere IGeL – tatsächlich von einer Entgrenzung der medizinischen Praxis gesprochen werden. Wie gesagt, bleiben die in der Öffentlichkeit besonders umstrittenen Spielarten des Neuro-Enhancements zumeist über Krankheitsdiagnosen legitimiert; so-

49 Lothar Krimmel: »Die politische Dimension: Der Zweite Gesundheitsmarkt«, in: Volker Streit/Michael Letter (Hg.), Marketing für Arztpraxen, Berlin, Heidelberg 2005. 50 Der prominente Schönheitschirurg Werner Mang hat kürzlich die Diskussion angestoßen, ob Schönheitsoperationen in Zukunft von den gesetzlichen Krankenversicherungen zu übernehmen seien, da diese das Wohlbefinden der Kunden steigerten und psychische Probleme präventiv verhindern könnten. Ein Vorschlag, der von den Krankenkassen in aller Deutlichkeit zurückgewiesen wurde. 51 Giovanni Maio: »Medizin im Umbruch. Ethisch-anthropologische Grundfragen zu den Paradigmen der modernen Medizin«, in: Zeitschrift für Medizinische Ethik 53 (2007), S. 229–254. 52 Fabian Karsch: »Medizinische Machbarkeit an den Grenzen von ärztlicher Professionalität und ›post-hippokratischer‹ Praxis«, in: Peter Böhlemann et al. (Hg.), Der machbare Mensch, Berlin 2010.

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wohl die Einnahme von konzentrationssteigernden Mitteln als auch die Beeinflussung emotionaler Zustände wie Schüchternheit oder Depressionen sind an vorhergehende Medikalisierungsprozesse gekoppelt, in denen eine Pathologisierung von Zuständen und Symptomkomplexen stattgefunden hat. Es handelt sich bei der Einnahme von Psychopharmaka zur Optimierung dieser Zustände also um Formen des impliziten Enhancements, da der Konsum medizinisch indiziert ist. Daher sind diese Konsumformen definitorisch dem »ersten Gesundheitsmarkt« zuzurechnen. Die tendenziell selbstgesteuerte Medikation von Defiziten ist allerdings ein Indikator für Strategien der Normalisierung und Optimierung psychosozialer Eigenschaften, die über medizinische Wiederherstellungsmaßnahmen hinausgehen. Durch die Etablierung medizinischer Diagnostik in einer definitorischen Grauzone zwischen Krankheit und Gesundheit findet mithin auch eine Entgrenzung medizinischer Therapieoptionen statt, in denen die Unterscheidung von Wiederherstellungs- und Verbesserungsmaßnahmen (Enhancement) kaum eindeutig zu treffen ist.53 Enhancement muss deswegen als Bestandteil eines weitreichenden Medikalisierungsprozesses verstanden werden, der durch seine expansiven Tendenzen erst dazu geführt hat, dass sich medizinische Eingriffe jenseits (eindeutig) kurativer Zielsetzung etablieren konnten. Der Medikalisierungs-prozess hat aber auch zu einer sozialen Schließung der Bereiche geführt, in denen implizit oder explizit medizinisches Enhancement praktiziert wird, da Ärzte als gatekeeper den Zugang sowohl zu psychopharmakologischen als auch zu chirurgischen Eingriffen steuern. Darüber hinaus generiert bereits die zunehmende medizinische Machbarkeit Bedürfnisse und Wünsche nach medizinischer Optimierung. Die Ausweitung der Ansprüche an die Medizin und das von der Medizin kolportierte implizite Versprechen einer grenzenlosen Steigerung von Gesundheit und Wohlbefinden sind Elemente einer immer dominanter in Erscheinung tretenden Medizinalkultur in der modernen Gesellschaft. Enhancement-Praktiken scheinen zu einem festen Bestandteil dieser Kultur zu werden.

53 Vgl. F. Karsch: Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung, S. 121–142.

V Neue Herausforderungen und Handlungsoptionen für Ärzte und Patienten

Der Arzt als Gesundheitsingenieur? Wissenschaft, Technik und das Schicksal der Autonomie G ÜNTER F EUERSTEIN

E INLEITUNG : P ATERNALISMUS , P ATIENTENAUTONOMIE , N EOPATERNALISMUS Wer in den vergangenen Jahren aufmerksam die Presseberichte über das Gesundheitswesen verfolgt hat, wird immer wieder auf Meldungen gestoßen sein, die nicht in das Bild passen, das die Akteure des medizinischen Systems von sich selbst zeichnen. Gemeint ist vor allem der hohe Anspruch an Unabhängigkeit, Moralität und Integrität. Um nur zwei aktuellere Beispiele zu nennen. Einmal ist es die schlichte Meldung über eine »legale Form der Korruption«, die im Kontext von gut honorierten »Anwendungsbeobachtungen« bei niedergelassenen Ärzten fast schon zur Normalität geworden ist. Dass Mediziner die Verschreibung bestimmter Medikamente bevorzugen, weil sie für diesen Akt der Verkaufsförderung bis zu 1000 Euro Aufwandsentschädigung erhielten, empfand selbst die Kassenärztliche Bundesvereinigung als »besorgniserregend«.1 Die zweite Meldung betraf ebenfalls den »Verkauf von Patienten«. In diesem Fall ging es um die Praxis der Klinikeinweisung, die in Form von »Zuweisungs-

1

Siehe dazu die Artikel von Rainer Woratschka: »Niedergelassene Ärzte. Umsatz mit Arzneistudien von der Pharmaindustrie«, in: Zeit Wissen vom 2.10.2009, http://www. zeit.de/wissen/gesundheit/2009-10/arzneistudien-aerzte-pharmaindustrie, letzter Zugriff am 28.6.2010; und »Korruption? Erneut Kritik an Anwendungsbeobachtungen«, in: Ärzte Zeitung vom 1.10.2009, http://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft /praxisfuehrung/article/568599/anwendungsbeobachtungen-nur-fuers-marketing.html, letzter Zugriff am 28.6.2010.

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provisionen«, manche sagen dazu auch »Fangprämien«, mit bis zu 300 Euro honoriert worden sind.2 Beide Fälle liegen konträr zu der Vorstellung von ärztlicher Autonomie und Patientenorientierung, wie sie seitens des professionellen Systems nicht nur konzipiert, sondern auch erfolgreich im Alltagsbewusstsein der Patienten verankert wurde. Hier zeichnet sich eine Entwicklung ab, die JörgDietrich Hoppe, den Präsidenten der Bundesärztekammer, zu der Feststellung veranlasst hat, dass die Ehrenkodexe nicht mehr halten. Die Erosion professionell verankerter Verhaltensnormen, die hier im Ansatz sichtbar geworden ist, ist allerdings vielschichtiger, als die beiden Fälle dies zeigen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der aktuellen Krise der traditionellen Arztrolle, mit Spielarten und Fiktionen der Autonomie von Arzt und Patient, vor allem aber mit der Wiederkehr des Paternalismus, wenn auch im neuen Gewand.3 Die Stärkung der Patientenautonomie, wie sie in modernen medizinischen Systemen zumindest rhetorisch zur Norm geworden ist, bedeutet immer auch eine Delegation von Verantwortung. Aus ärztlicher Perspektive handelt es sich dabei um eine Verantwortungsentlastung und, in letzter Konsequenz, um einen professionellen Verantwortungsverlust. Dieser Verantwortungsverlust steht allerdings im Konflikt zur traditionellen Berufsrolle des Arztes. Die Medizin als Profession gewann ja gerade deshalb ihre relative Autonomie, ihr Recht zur eigenständigen Normbildung und Angebotssteuerung, weil sie per definitionem allein dem Wohl des Patienten verpflichtet war. Im herkömmlichen Paternalismus, für den auch die Autonomie des einzelnen Arztes als Vertreter seiner Profession essenziell war, schien diese Funktion in idealer Weise verkörpert zu sein. Unbeeinflusst von externen Motiven und Interessen wählte der Arzt als unabhängiger Experte aus zahlreichen, für den Patienten oft nur schwer durchschaubaren Optionen den jeweiligen »one best way«. Der Arzt wurde dadurch in gewisser Weise zum Anwalt des Patienten. Ungeachtet dessen, wie gut dieses paternalistische Modell in der ärztlichen Praxis jemals funktioniert hat, kann während der vergangenen Jahrzehnte ein drastischer Wandel in der Rolle des Arztes und in der Arzt-Patient-Beziehung konstatiert werden. Die stärkere Betonung des Rechts auf bzw. des Respekts vor

2

Vgl. dazu den Artikel von Andreas Mihm: »Immer mehr Ärzte ›verkaufen‹ ihre Patienten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.8.2008.

3

Vgl. dazu Günter Feuerstein/Ellen Kuhlmann: »Neopaternalismus und Patientenautonomie. Das Verschwinden der ärztlichen Verantwortung?«, in: Günter Feuerstein/Ellen Kuhlmann (Hg.), Neopaternalistische Medizin, Bern et al. 1999, S. 9–15; und Claude Sureau: »Medical Deresponsibilization«, in: Journal of Assisted Reproduction and Genetics 12 (1995), S. 552–558.

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der Patientenautonomie ist dabei nur einer von vielen Faktoren, die einen Autonomie- und Verantwortungsverlust des Arztes signalisieren. Bedeutsamer dafür sind allerdings andere Einflüsse. So wird bereits seit Mitte der 1970er Jahre in der Verwissenschaftlichung der Medizin und der davon ausgehenden Funktionsdifferenzierung, Formalisierung und Standardisierung der ärztlichen Tätigkeit eine Entwicklung gesehen, die letztlich zum Verlust der professionellen Autonomie des einzelnen Arztes führt.4 Hinzu kommen Faktoren, die zur ärztlichen Rollenüberlastung beitragen oder zur Überdeterminierung der ärztlichen Handlungsorientierung geführt haben. Im klinischen Setting spiegelt sich dies vor allem im Konflikt zwischen Forschungsinteresse und Patientenorientierung, zunehmend aber auch im Einfluss von institutionellen Rationalitäten auf klinische Organisationsstrukturen, Versorgungsabläufe, Strukturen des Leistungsangebots und die jeweils präferierten Behandlungskonzepte. Der Prozess der Objektivierung und Rationalisierung medizinischen Handelns vollzog sich dabei nicht nur nach medizinischen Kriterien, sondern auch unter dem wachsenden Einfluss systemexterner Faktoren. In den Begriffen der juristischen bzw. ökonomischen Indikation ist dieser Umstand vielleicht am deutlichsten abgebildet. Unter dem mehr oder weniger subtilen Zwang der Verhältnisse schwindet jedoch nicht nur die professionelle Autonomie des behandelnden Arztes, sondern in letzter Konsequenz auch die des scheinbar in seiner Autonomie gestärkten Patienten. Denn das Recht auf Autonomie beinhaltet nicht die Fähigkeit, diese in kritischen Situationen auch tatsächlich wahrnehmen zu können. Wenn die situativen Voraussetzungen zur Patientenautonomie fehlen, bleibt sie illusionär. Zuvorderst gehört dazu ein funktionierendes Vertrauensverhältnis zum Arzt. Unter den gegebenen Verhältnissen kann sich ein Rat suchender Patient jedoch keineswegs mehr sicher sein, dass der Arzt tatsächlich als sein Anwalt und nur als solcher fungiert. Er könnte ebenso gut als Anwalt des professionellen Karrieresystems, der Versicherungswirtschaft, der Professionspolitik, der Pharmaindustrie, der Praxis-, Krankenhaus- oder Gesundheitsökonomie in Aktion treten – und damit vor allem als Anwalt in eigener Sache. Diese reale Bedrohung der Patientenautonomie geht also weniger von paternalistischen Strebungen herkömmlicher Art aus, sondern von einem Paternalismus, der nicht mehr im individuellen Arzt-Patient-Verhältnis beheimatet ist, nicht mehr ungebrochen vom Selbstverständnis der ärztlichen Autonomie getragen wird, sondern von externen Faktoren, die sich in vielen Fällen hinter dem

4

Vgl. Eliot Freidson: »The Medical Profession in Transition«, in: Linda H. Aiken, David Mechanic (Hg.), Applications of Social Science to Clinical Medicine and Health Policy, New Brunswick, New Jersey 1986, S. 63–79.

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Rücken der unmittelbaren Akteure Geltung verschaffen. Betroffen davon ist nicht nur die professionelle Autonomie des einzelnen Arztes, sondern letztlich auch die des medizinischen Systems insgesamt. Es läuft Gefahr, sich zu einem normalen, wenn auch weiterhin anspruchsvollen Dienstleistungsbetrieb zu entwickeln. Erläutert wird dies im Folgenden an drei Beispielen: • • •

der gelenkten Autonomie durch die Verwendung automatisierter Entscheidungsunterstützungssysteme; dem sanften Druck sozialer Ansprüche, wie sie beispielsweise in der public health genetics offen formuliert werden; und der sogenannten wunscherfüllenden Medizin, in der gesellschaftliche Orientierungsmuster subtile Zwänge ausüben, die dann, wie Günther Anders zu sagen pflegte, nicht selten in der Gestalt des eigenen Wunsches daherkommen.

Die Beispiele zeigen zwar nicht das vollständige Bild der veränderten Berufsrolle des Arztes und des Wandels der Arzt-Patient-Beziehung. Sie zeigen jedoch das Vordringen externer Einflussfaktoren auf individuelle medizinische Orientierungsmuster und Entscheidungsprozesse, die Verschiebung von Autonomiespielräumen und Verantwortungslasten, aber auch die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit dieses Prozesses. Insofern soll hier ein differenzierender Beitrag zu der noch immer kontroversen professionssoziologischen Diskussion um die Zukunft ärztlicher Autonomie und die Tendenz zur Deprofessionalisierung geleistet werden.5

AUTOMATISIERTE E NTSCHEIDUNGSUNTERSTÜTZUNG – »I NFORMED - CONSENT -R ATIONIERUNG « Mit der Verwissenschaftlichung der Medizin wandelte sich nicht nur der ärztliche Blick auf den Patienten. Überwunden werden sollte damit auch das, was

5

Einen kurzen Überblick über die medizinsoziologischen Grundpositionen und den neueren Diskurs zur Professionalisierung/Deprofessionalisierung der Medizin findet sich bei Anne Lützenkirschen: »Stärkung oder Schwächung ärztlicher Autonomie? Die medizinische Profession und das Beispiel der evidenzbasierten Medizin aus soziologischer Sicht«, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 98 (2004), S. 423–427.

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man traditionell als ärztliche Kunst bezeichnet hat. Kasuistik und Erfahrungswissen waren lange Zeit dominante Faktoren in der medizinischen Wissensvermittlung und im praktischen Handeln. Die anhaltende Verwissenschaftlichung der Medizin vollzog und vollzieht sich allerdings nicht nur auf der Ebene naturwissenschaftlicher Forschung, sondern vor allem auch als Prozess der Abstraktifizierung, Normierung, Standardisierung. Die damit verbundene Schärfung des medizinischen Blicks auf den Patienten erfüllte sich um den Preis der Unmittelbarkeit der Arzt-Patient-Interaktion, der Ganzheitlichkeit, der Individualität. Zum einen geschah dies durch neue Techniken der Wahrnehmung, die hochselektiv auf Einzelaspekte des Patientenkörpers ausgerichtet sind. Und zum anderen durch die statistische Filterung der medizinischen Wahrnehmung. Tatsächlich beruht ein großer Teil des heutigen medizinischen Wissensbestandes auf der mathematisch modellierten Aufbereitung von Erfahrung über den natürlichen Verlauf von Krankheiten, der therapeutischen Effektivität und dem Aussagewert diagnostischer Daten. Strauss et al.6 haben unter dem Begriff »illness trajectories« (Krankheitsverlaufsmuster) bereits Mitte der 1980er Jahre gezeigt, wie sehr die medizinische Praxis in den Sog statistisch konstruierter Normalitätsvorstellungen geraten ist, wie sich Erfolgskriterien ärztlichen Handelns, Erwartungen an den Genesungsverlauf des Patienten und der Einsatz medizinischer Mittel daran orientiert haben. Am deutlichsten kommt der statistische Blick auf den individuellen Patienten in medizinischen Expertensystemen, sogenannten »clinical algorithms«7 zum Tragen. In der Regel handelt es sich hierbei um Systeme der Entscheidungsunterstützung in klinischen Alltagssituationen. Gemeinsames Merkmal dieser Systeme ist die Verengung ihres Wahrnehmungshorizonts auf messbare Größen, auf technisch objektivierte Daten. Dies hat durchaus Konsequenzen für ihren Aussagewert. Denn nicht alles, was messbar ist, ist relevant, und nicht alles, was relevant ist, ist auch messbar. In der konkreten Anwendung auf den Patienten werden dessen Vielschichtigkeit, Subjektivität und Individualität dann leicht zum Störfaktor. Ein vielleicht besonders spektakuläres Beispiel für moderne medizinische Entscheidungsunterstützungssysteme ist das RIYADH-ICU Program, das zu Be-

6

Anselm L. Strauss et al.: Social Organization of Medical Work, Chicago und London 1985.

7

Vgl. Mark J. Young/Sankey V. Williams/John M. Eisenberg: »The Technological Strategist: Employing Techniques of Clinical Decision Making«, in: Stanley J. Reiser/Michael Anbar (Hg.), The Machine at the Bedside, Cambridge 1984, S. 153– 176.

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ginn der 1990er Jahre entwickelt wurde.8 Während der Testphase an drei deutschen Kliniken sprach die Presse salopp von einem »Todescomputer«. Tatsächlich wurde RIYADH als ein Programm konzipiert, das Wahrscheinlichkeitsprognosen zur Überlebenschance von Intensivpatienten generiert. Allerdings trifft es keine automatisierten Entscheidungen über den Einsatz oder den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, aber es hat durchaus das Potenzial, Therapieentscheidungen zu beeinflussen. Von daher stellt sich natürlich die Frage nach der Qualität des »Risk-of-Death«-Algorithmus, der dem Programm zugrunde liegt. Das RIYADH-ICU Program basiert auf bekannten Score-Systemen, wie sie seit Langem in der Intensivmedizin eingesetzt werden und weit verbreitet sind. Für Giebel und Troidl9 besteht die Grundproblematik dieser Systeme darin, dass der Patient als »Normmensch« wahrgenommen wird. All die erfassten sozialen und klinischen Einzeldaten, die integrierend in die Gesamtbewertung aufgenommen werden, können eine Entfernung von der Realität des Patienten bedeuten. »Der 60jährige, der allein die Welt umsegelt, ist ein anderer als der, der bereits im Altenheim lebt. […] Bei der Summation dieser unrealistisch erfassten Einzelteile zu einem Score kann es zum Ausgleich oder zur Verstärkung der Fehleinschätzung kommen.«10 Wie groß die Fehleinschätzungen zum Therapieversagen und Todeseintritt auf der Grundlage von Scores sein können, offenbarten diverse Studien zum RIYADH-ICU Programm:11 So wurden auf einer Waliser Intensivstation 1.155 Patienten auf ihr Mortalitätsrisiko hin erfasst. In der letzten 4-Monats-Periode der Studie wurden neun Herzchirurgie-Patienten als nicht überlebensfähig klassifiziert, drei davon haben überlebt. Auf einer allgemeinen Intensivstation in Glasgow wies der Computer für 119 Patienten eine Todesprognose auf, 24 davon (also 20,2 Prozent) überlebten und konnten entlassen werden. Und an der Berliner Charité wurde für 53 Patienten eine 99,9prozentige Todeswahrscheinlichkeit ausgewiesen. Von diesen Patienten haben 16, also über 30 Prozent, überlebt.

8

Vgl. dazu ausführlich: Günter Feuerstein: »Das RIYADH Intensiv Care Program. Computergestützte Mortalitätsprognostik als Legitimationsbasis klinischer Entscheidungen?«, in: Günter Feuerstein/Ellen Kuhlmann (Hg.), Rationierung im Gesundheitswesen. Wiesbaden 1998, S. 111–125.

9

Gerald D. Giebel/Hans Troidl: »Möglichkeiten und Grenzen von Scores«, in: Langenbecks Archiv für Chirurgie 381 (1996), S. 59–62.

10 Ebd. S. 61. 11 Siehe dazu Feuerstein: Das RIYADH Intensiv Care Program, S. 117.

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Abgesehen von der teils erschreckend geringen Qualität der computergenerierten Mortalitätsprognostik liegt die eigentliche Problematik der automatisierten Entscheidungsunterstützung medizinischen Handelns vor allem auf zwei Ebenen: Erstens in der faktischen Beeinflussung von ärztlichen Entscheidungen zum vorzeitigen Behandlungsabbruch und zweitens in der moralischen Entlastung, die die Beteiligten an solchen Entscheidungen erfahren – aber auch in der generellen Systementlastung, die sich damit verbindet. So hat die Studie von Murray et al.12 bestätigt, dass ärztliche Behandlungsentscheidungen allein durch die Kenntnis computergestützter Überlebensprognosen signifikant beeinflusst werden. Der größte Effekt betraf die Gruppe der schwerstkranken Patienten, bei denen die Entscheidung zugunsten einer ausschließlich palliativen Versorgung von 11 auf 36 Prozent anstieg. Relevanz hat dies für die klinische Praxis insofern, als den Todesfällen, die auf intensivmedizinischen Stationen zu verzeichnen sind, in der Mehrzahl eine ärztliche Entscheidung zur Nicht-Aufnahme, zur Nicht-Eskalation, zur Begrenzung oder zum Abbruch einer Behandlung vorausgeht. »Medical Futility«, also die Feststellung der »Vergeblichkeit«, der Sinnlosigkeit weiterer medizinischer Bemühungen, rückt zunehmend als ethisch legitimes Kriterium für Entscheidungen über den vorzeitigen Behandlungsabbruch in den Blick. Dies umso mehr, als sich Intensivbetten zu einem enormen Kostenfaktor entwickelt haben und die Intensivmedizin letztlich an ihrem eigenen Erfolg zu ersticken droht: der Fähigkeit zur Verlängerung des Lebens, vor allem aber zur längerfristigen Hinauszögerung des Sterbens. Die Schwierigkeit, die durch Score-Systeme eigentlich überwunden werden sollte, ist die sichere Feststellung des Zeitpunkts, ab dem eine weitere Therapie nicht mehr sinnvoll wäre. Dies können Score-Systeme jedoch bis heute nicht leisten, sodass die Nutzung solcher Systeme zwangsläufig dazu führt, dass auch das Leben gesundungsfähiger Patienten aufs Spiel gesetzt wird. Jenseits eines möglichen Streits über die hinnehmbare Irrtumsrate solcher Systeme versprechen computergenerierte Mortalitätsprognosen zumindest in einer Hinsicht eine höhere Akzeptanz bei den Betroffenen und ihren Angehörigen: Die Computeraussage scheint interessenneutral und frei zu sein von ärztlicher Willkür und krankenhausökonomischen Motiven. Aber genau diese Verknüpfung mit ökonomischen Daten ist das besondere Leistungsmerkmal, das RIYADH dem Krankenhausmanagement bietet.

12 Vgl. L. S. Murray et al.: »Does Prediction of Outcome Alter Patient Management?«, in: The Lancet 349 (1993), S. 1478–1491.

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Systeme wie RIYADH passen daher gut in eine gesundheitspolitische Landschaft, in der die Rationierung medizinischer Leistungen als unvermeidbar gilt. Sie schaffen eine geradezu ideale Ausgangsbasis, um individuelle Entscheidungen über den Behandlungsabbruch und gesundheitsökonomische Strategien zu harmonisieren. Was Ward13 bereits unter dem Begriff einer Politik der freiwilligen Euthanasie (»policy of voluntary euthanasia«) thematisiert hat, entwickelt sich mehr und mehr zum Leitbild sozialverträglich gewendeter Rationierungsstrategien. Die von Giebel und Troidl14 erwähnte »Gefahr« und »Verlockung«, »sich durch einen Score der Verantwortung zu entziehen«, beleuchtet nur eine Seite des Problems. Denn der behandelnde Arzt oder auch das medizinische System verlagern ihre Verantwortung keineswegs auf die Technik. Diese ist nur das Medium der Verantwortungsentlastung. Die eigentlichen Adressaten der Verlagerung sind letztlich die Betroffenen bzw. ihre Angehörigen. Denn auch sie finden ihre Orientierung und moralische Entlastung in den prognostischen Befunden des Score-Systems. Anders ausgedrückt: Score-Systeme begünstigen einvernehmliche Entscheidungen zum vorzeitigen Behandlungsabbruch, das heißt, sie ebnen den Weg in eine »Informed-consent-Rationierung«15. Man kann daraus folgendes Fazit ziehen: Als Medium einer subtil gelenkten Autonomie entschärfen automatisierte Mortalitätsprognosen das im vorzeitigen Behandlungsabbruch angelegte Konfliktpotenzial. Der Einfluss, den die sozialpaternalistische Programmatik computergestützter Systeme auf das individuelle Entscheidungsverhalten von Ärzten und Patienten ausübt, entzieht sich der Wahrnehmung der beteiligten Akteure.

D ER SANFTE D RUCK SOZIALER ANSPRÜCHE : P UBLIC H EALTH G ENETICS Amerikanische Protagonisten der public health genetics beschreiben die moderne Humangenetik als ein Instrument, das sich perfekt mit den Zielsetzungen von

13 P. R. Ward: »Health Care Rationing: Can We Afford to Ignore Euthanasia?«, in: Health Services Management Research 10 (1997), S. 32–41. 14 Giebel/Troidl: Möglichkeiten und Grenzen von Scores, S. 62. 15 Unter »Informed-consent-Rationierung« wird die »informierte Einwilligung« des Patienten bzw. seiner Angehörigen in die Vorenthaltung medizinischer Leistungen verstanden. Vgl. dazu Feuerstein: Das RIYADH Intensiv Care Program, S. 123f.

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Public Health vereinen lässt.16 Das Nutzenversprechen dieser Disziplinverschränkung liegt auf der Ebene einer bevölkerungsbezogenen Prävention. Unabhängig von der eher geringen gesundheitspolitischen Effizienz, die momentan von bevölkerungsweit angelegten genetischen Screenings zu erwarten ist,17 hätte der in Aussicht gestellte Nutzen allerdings auch seinen Preis: Zentrale individualethische Normen im Umgang mit genetischen Tests stünden zwangsläufig zur Disposition. Während in der modernen Humangenetik das Recht auf NichtWissen, die Non-Direktivität der Beratung und die Autonomie des Patienten betont wird, sind Public Health Programme traditionell direktiv. Genau in diesem normativen Spannungsfeld bewegt sich die public health genetics. Besonders im Bereich prädiktiv probabilistischer Gentests hat das Leistungsangebot der modernen Humangenetik für all jene, die es in Anspruch nehmen, nicht per se einen Nutzen, es kann ihnen potenziell auch schaden – und zwar sowohl in medizinischer, psychischer als auch sozialer Hinsicht. Vor diesem Hintergrund wurden individualethische Normen formuliert, die im Ergebnis das medizinische System von seiner Verantwortung für den ›Patienten‹ entlasten. Die Entscheidung zur Teilnahme an genetischen Tests – und insofern auch die Übernahme der damit verbundenen persönlichen Risiken – wird allein den potenziellen Teilnehmer übertragen. Sie sollen sich in freier Entscheidung, das heißt unbeeinflusst und auf der Grundlage angemessener Information, daran beteiligen – oder eben auch nicht. Zentrale Bedeutung hat in diesem Kontext also auch die Möglichkeit der Ablehnung. Wie sich bei näherer Beschäftigung mit Programmatiken der public health genetics schnell zeigt, sind diese nicht so sehr von nachweisbaren medizinischen Erfolgen angetrieben, sondern vor allem durch ihren ausgeprägten Willen zum Wissen. Die postulierten Nutzenerwartungen liegen durchweg in der Zukunft. So richtete die 2003 gegründete Task Force Public Health Genetics einen Appell »an die deutsche Sozial- und Gesundheitspolitik, die in anderen Ländern beo-

16 Gilbert S. Omenn: »Public Health Genetics: An Emerging Interdisciplinatory Field for the Post-Genomic Era«, in: Annu. Rev. Public Health 21 (2000), S. 1–13, und Gilbert S. Omenn: »Genetics and Public Health: Historical Perspectives and Current Challenges and Opportunities«, in: Muin J. Khoury/Wylie Burke/Elizabeth J. Thomson (Hg.), Genetics and Public Health: Historical Perspectives and Current Challenges and Opportunities, Oxford 2000, S. 25–44. 17 Vgl. Wolfram Henn: »Die Bedeutung genetischer Mutationen und ihrer Diagnostik für Prävention und Therapie multifaktoriell bedingter Krankheiten – Aktueller Stand und Perspektiven für Public Health«, in: Angela Brand et al. (Hg.), Genetik in Public Health. Teil 1: Grundlagen von Genetik und Public Health, Bielefeld 2007, S. 23–108.

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bachteten Entwicklungen nicht länger zu ignorieren«.18 Die public health genetics solle als Chance gesehen werden, »trotz Unsicherheiten bereits jetzt die Weichen für einen verantwortlichen und nachhaltigen Umgang mit genetischem Wissen in der deutschen Gesundheitsversorgung zu stellen«.19 So seien im Hinblick auf multifaktorielle Erkrankungen »in absehbarer Zeit durch das genetische Wissen präzisere, frühzeitigere, nebenwirkungsärmere Präventions-, Diagnoseund Therapiemöglichkeiten zu erwarten«.20 Davon ist man allerdings noch sehr weit entfernt. Das eigentliche Interesse konzentriert sich auf die Gewinnung von Erkenntnissen, die für den versprochenen Nutzen überhaupt erst die Grundlage schaffen sollen. Das heißt, es geht um die Aufklärung genetischer Texturen und Kontexte, weniger um die Aufklärung derer, die das Angebot annehmen und von den Folgen genetischer Information betroffen sein werden. Deren Rolle besteht in erster Linie darin, wissenschaftlich verwertbare Informationen über ihre genetische Konstitution zu liefern – und dies idealerweise in Verbindung mit ihren jeweiligen klinischen Befunden. Das gegenwärtige Ziel der public health genetics ist unzweifelhaft die möglichst massenhafte Erhebung und Auswertung genetischer Daten.21 Ohne die Durchsetzung bevölkerungsweiter genetischer Screenings und ohne die Herstellung großer Beteiligungsraten sind die benötigten Datenmengen allerdings nicht zu bekommen. Dies führt zielsicher zu Konflikten mit den Informed-consent-Normen, die sich innerhalb der Humangenetik herausgebildet haben, aber auch mit dem Anspruch an eine hohe Qualität der genetischen Beratung. Denn die sogenannten Uptake-Raten22 für genetische Testangebote sind stark von Angebotssettings, also organisationalen und situativen Kontexten abhängig. Wie Irmgard Nippert am Beispiel des genetischen Tests auf Zystische Fibrose (CF-Test) gezeigt hat,

18 Vgl. Angela Brand et al.: Gesundheitssicherung im Zeitalter der Genomforschung. Diskussion, Aktivitäten und Institutionalisierung von Public Health in Deutschland. Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2004, hier S. 45. 19 Ebd., S. 47. 20 Ebd., S. 48. 21 Vgl. Stefan Schreiber: »Stand der Aufklärung genetischer Ursachen komplexer Erkrankungen und potentieller Einfluss genetischer Erkenntnisse auf Public Health Strategien«, in: Angela Brand et al. (Hg.), Genetik in Public Health. Teil 1: Grundlagen von Genetik und Public Health, Bielefeld 2007, S. 109–139, hier S. 129. 22 Uptake-Raten bezeichnen den Anteil derer, die das Angebot eines genetischen Tests tatsächlich wahrnehmen, den Test also durchführen lassen.

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führt eine qualitativ hochwertige genetische Beratung zu einer stark reduzierten Testbereitschaft. »Geringe Aufklärung verbunden mit sofortigem Testangebot ließen [in den USA – G.F.] die Aufnahme auf über 80 % steigen, umfassende Aufklärung (genetische Beratung) verbunden mit Bedenkzeiten ließen die Inanspruchnahmeraten auf unter 10 % sinken. […] In Deutschland variierten Inanspruchnahmeraten in unterschiedlichen Einrichtungen und Angebotsformen zwischen 99,8 % (!) und 15,5 %.«23

Abgesehen davon, dass für bevölkerungsweite Screenings ohnehin kein qualitativ hochwertiges Beratungsangebot verfügbar gemacht werden kann, scheint die public health genetics in ihrem unbedingten Willen zum Wissen durch die explizite Priorisierung des Gemeinwohls auf Nummer sicher gehen zu wollen. Eine zentrale Argumentationsfigur bildet in diesem Zusammenhang der »sozialethische Verpflichtungsgrad« zur Teilnahme an genetischen Screenings und die Verankerung einer »genetischen Verantwortung« in individuellen Entscheidungsprozessen. Die sozialethische Verpflichtung zur Teilnahme an genetischen Tests erschöpft sich allerdings nicht im bloßen Appell. Vielmehr setzt man letztlich auf die Ausübung mehr oder weniger subtiler Zwänge, die in spezifisch arrangierten Angebotssettings wirksam werden. Denn zu ungesichert ist der gesundheitliche Nutzen, den die Mehrzahl dieser Tests derzeit hat, als dass tatsächlich eine hohe Teilnahmebereitschaft erwartet werden könnte. In dem Maße, wie die postulierte Autonomie und Selbstbestimmung der potenziellen Nutzer genetischer Tests mit biopolitischen Programmatiken konfligiert, beginnen Abwehrrechte und medizinethische Normen zu erodieren. Zum einen betrifft dies das Recht auf Nichtwissen, zum anderen aber auch den informed consent, dessen inhaltliche Aushöhlung mit dem deutlich forschungsfreundlicheren Konstrukt eines »informed contract« durch die Verfechter der public health genetics bereits angedacht wird. Demnach müsse sich der informed consent »der Kritik für eine mögliche Nutzung in Public Health Genetics stellen«.24 Die Sorge der Autoren gilt offensichtlich einer eingeschränkten Nutzung genetischer Daten. Ihr Gegen-Modell eines »informed contract« soll die Zugangsbarrieren, die in Regelungen zur medizini-

23 Irmgard Nippert: »Vorhandenes Bedürfnis oder induzierter Bedarf an genetischen Testangeboten? Eine medizinsoziologische Analyse zur Einführung und Ausbreitung genetischer Testverfahren«, in: Jörg Schmidtke (Hg.), Guter Rat ist teuer. Was kostet die Humangenetik, was nutzt sie? München, Jena 2000, S. 126–149, hier S. 140. 24 A. Brand et al.: Gesundheitssicherung im Zeitalter der Genomforschung, S. 50f.

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schen Zweckgebundenheit und zur genetischen Beratungspflicht angelegt sind, verringern helfen und einen für die Forschung effizienteren Umgang mit genetischen Daten ermöglichen. Betont wird dabei die »Gesundheitsmündigkeit des Bürgers«, der lernen müsse, »mit der Gesellschaft solidarisch zu sein«, und der rechtfertigen müsse, »warum er ihr die Kosten für seine Risiken aufbürden kann«.25 Genau betrachtet harmoniert der unbedingte Wille zur genetischen Aufklärung, wie sie in Public-Health-Programmen propagiert wird, nur noch sehr bedingt mit herkömmlichen Normen der Selbstbestimmung und Autonomie. Vielmehr vollzieht sich auf der Hinterbühne des Geschehens eine Rückkehr zum Paternalismus, wenn auch in neuem Gewand: als Neo- oder SozialPaternalismus.26 Nicht mehr der Einzelne und sein individuelles Wohlergehen bilden hier den strategischen Fokus medizinischer Settings, sondern eine gesellschaftliche Nutzenkonstruktion, deren Logik sich den Individuen durch situative und soziale Arrangements vermittelt: nämlich als ein undurchdringliches Geflecht aus mehr oder weniger subtilen Zwängen zum »richtigen« Verhalten. Auf diese Weise vollzieht sich die Durchsetzung des gesellschaftlich Erwünschten im Gewand des individuellen Wunsches. Am deutlichsten wird dies in der sogenannten »Eugenik von unten«, konkret: in dem vom Wissen um soziale Erschwernisse und Diskriminierungspotenziale befeuerten Wunsch nach einem gesunden Kind.

D IE V ERBORGENHEIT SUBTILER Z WÄNGE : W UNSCHERFÜLLENDE M EDIZIN Anders als in den vorangegangenen Beispielen scheint die wunscherfüllende Medizin27 in idealer Weise die Autonomie des Patienten zur Geltung zu bringen. Die Indikationsstellung erfolgt hierbei nicht durch den Arzt, sondern weitgehend durch den Klienten, den ›Kunden‹ selbst. Diese beurteilen ihre körperlichen, kognitiven und psychischen Eigenschaften nicht so sehr mit Blick auf medizinische Normbildungsprozesse und Normalitätsvorstellungen von körperlicher Funktionalität, sondern vor allem vor dem Hintergrund eigener Wertvorstellun-

25 Ebd., S. 51. 26 Vgl. Feuerstein/Kuhlmann: Neopaternalismus und Patientenautonomie. 27 Vgl. dazu Matthias Kettner (Hg.): Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt/M., New York 2009.

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gen, Lebensstile und Zielsetzungen. Differenzen zwischen dem persönlich Erwarteten bzw. Erwünschten auf der einen, und der in Selbstwahrnehmung festgestellten Performanz auf der anderen Seite werden als behandlungsfähiges Defizit erlebt. In Abhängigkeit von den Orientierungssystemen, in denen sich die nachfragenden Individuen bewegen, ist diese Defizitbestimmung natürlich partikular – das heißt weder in der Gesellschaft noch im medizinischen System in irgendeiner Weise konsensfähig. Dies gilt insbesondere für die Einnahme verbotener Substanzen, sei es zur Leistungssteigerung im Sport oder zur Befindlichkeitsverbesserung durch den Konsum illegaler Drogen. Neben dem explizit Ausgegrenzten spielt sich die wunscherfüllende Medizin in einem sehr weiten Feld ab. Ihr Spektrum umfasst die Reproduktionsmedizin, sie erstreckt sich auf die diversen Spielarten der Lifestyle-Medizin, sei es in Form der medikamentösen Kompensation eines ungesunden Lebensstils oder der Verbesserung physischer, kognitiver und psychischer Befindlichkeiten, und reicht bis hin zu ästhetischen Interventionen und den Kampf gegen die Spuren und Beeinträchtigungen des natürlichen Alterungsprozesses. Selbst bei extremen Formen der wunscherfüllenden Medizin handelt es sich, wie im Fall der Geschlechtsumwandlung, um persönlich motivierte Anliegen, die in der Regel legal sind und im gesellschaftlichen Rahmen auch als legitim gelten. In den allermeisten Fällen der wunscherfüllenden Medizin sind die persönlich motivierten Wünsche durchaus konform mit den bestehenden gesellschaftlichen Normen der Anerkennung und Wertschätzung. Dies gilt für Ansprüche an das äußere Erscheinungsbild ebenso wie für die Verbesserung menschlicher Fähigkeiten, Eigenschaften und Leistungsmerkmale. Für diese Ausweitung medizinischer Indikationen gibt es nach traditionellen Orientierungsmustern in der Medizin keinen legitimen Grund. Andererseits kann konstatiert werden, dass die Medizin selbst schon seit langen Jahren ihr eigentliches Handlungsfeld auf zuvor nicht-medizinische Problemlagen ausgedehnt hat. Eine Vielzahl neuer Krankheitsfelder wurde erschlossen, neue Krankheitsbilder konstruiert, Krankheitsdefinitionen erweitert und die Grenzen der Indikation großzügig verschoben. Zudem wurde das medizinische Leistungsangebot sukzessive durch Verfahren erweitert, die neben der traditionellen Schulmedizin angesiedelt sind und nicht selten eine Konzession an die Bedürfnisse zahlungskräftiger Patienten darstellen. Dies geschieht auch in Form von sogenannten individualvertraglichen Gesundheitsleistungen (IGeL), deren Effektivität nicht hinreichend nachgewiesen ist, um als Kassenleistung anerkannt zu werden. Von daher ist es zu nicht geringen Teilen der Entwicklungsdynamik des medizinischen Systems geschuldet, dass die professionsethische Selbstbeschränkung des medizinischen Systems und des ärztlichen Handelns keine klaren Konturen mehr zeigt.

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Zu Recht sieht Matthias Synofzik28 im Begriff der »wunscherfüllenden Medizin« kein befriedigendes Kontrastierungsmerkmal zur herkömmlichen Ausrichtung der Medizin. Selbst die traditionelle Medizin versuchte, Wünsche zu erfüllen. Zum Teil waren es Wünsche, die sie durch angebotsorientierte Nachfrage selbst geweckt hat. Zudem ist eine Medizin, die allein im Sinne der Leidminderung handelt, nicht per se wunschfeindlich. Die Verhinderung oder Behandlung von Krankheiten, die Vermeidung oder Abschwächung ihrer negativen Folgen, sei in gewisser Weise ja auch »wunscherfüllend«. Insofern müsse die Trennlinie zwischen beiden Medizinausrichtungen anders gezogen werden. Für Synofzik ist die klassische Medizin vorwiegend von universellen Wertvorstellungen (zum Beispiel nach Schmerzfreiheit, Lebensverlängerung etc.) geprägt, während sich die wunscherfüllende Medizin auf Behandlungswünsche bezieht, die vorwiegend von partikularen, »rein subjektiven Präferenzen« getragen werden und mit relativ geringem Leidensdruck einhergingen. Wie sinnvoll diese Unterscheidung ist, muss sich erst noch zeigen. Die Frage, die sich hier eigentlich anschließen müsste, bezieht sich auf die Quelle des Leidensdrucks, der die Nachfrage nach medizinischen Leistungen befördert. Denn in vielen Fällen scheint sie nicht im eigentlichen Sinne medizinischer, sondern in erster Linie sozialer Natur zu sein. Synofzik hebt hier allein auf individuelle Präferenzen, den normativen Referenzrahmen und die individuelle Erfahrungsperspektive der wünschenden Person ab. Präferenzmedizin, aus der Perspektive des Kunden gedacht, erscheint als ein Medikalisierungsdruck, der zuvorderst ›von außen‹ auf das medizinische System ausgeübt wird. De facto handelt es sich aber um eine stillschweigende Koproduktion von Arzt und Patient. Die dem medizinischen System inhärente Tendenz, soziale Probleme als medizinische zu definieren und zu behandeln, trifft hier nun nachfrageseitig auf offene Türen. Fraglich ist allerdings, inwieweit sich die Öffnung gegenüber Zwecksetzungen, die jenseits der kurativen Orientierung und der Bindung ärztlichen Handelns an professionell generierte Indikationsnormen angesiedelt sind, auf den standespolitischen Anspruch auswirkt, als gesellschaftliches Subsystem weiterhin das Recht zur autonomen Normbildung und zur Selbststeuerung beanspruchen zu können. Denn mit der Stärkung der Patientenautonomie im Sinne einer Präferenzmedizin gerät das medizinische System zumindest in einigen Handlungsfeldern in die Nähe eines gewöhnlichen Dienstleistungsbetriebes. Insoweit die Me-

28 Matthis Synofzik: »Denken auf Rezept? Ein Entscheidungsmodell für die präferenzorientierte Medizin«, in: Matthias Kettner (Hg.), Wunscherfüllende Medizin, S. 153– 182.

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dizin in die Vermittlung von Substanzen involviert ist, also jenseits einer wissenschaftlich fundierten oder durch professionelle Kompetenz legitimierten Verschreibungspraxis agiert, läuft die Profession, aber auch der einzelne Arzt Gefahr, zum bloßen Serviceagenten zu werden und einen erheblichen Kompetenzund Autonomieverlust zu erleiden. ›Kunden‹ des modernen Medizinbetriebes mögen dies zwar ihrerseits als Autonomiegewinn im Umgang mit ihrem Körper und den Möglichkeiten erleben, ihn nach eigenen Vorstellungen professionell modellieren zu lassen. Allerdings zahlen auch sie dafür einen Preis – den der Umverteilung von Verantwortungslasten. Und sie zahlen diesen Preis in der Regel nicht für einen luxurierenden Zugewinn an Wohlbefinden, sondern in Fällen von Enhancement für die Durchführung eines gesellschaftlich vorgefundenen Normalisierungsprogramms, das heißt für die Anpassung ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer physischen, mentalen und psychischen Potenziale an unausgesprochene Normen der beruflichen Leistungsfähigkeit und sozialer Akzeptanz.

Z UM W ANDEL DER ARZTROLLE UND DER ARZT -P ATIENT -B EZIEHUNG Betrachtet man die drei exemplarisch dargestellten Praxisfelder in einer Zusammenschau, dann kann man vor allem einen Eindeutigkeitsverlust der medizinischen Handlungsorientierung feststellen. Entscheidungen über den vorzeitigen Behandlungsabbruch sind eine Abkehr vom intensivmedizinischen Paradigma der unbedingten Lebensrettung, zumal dann, wenn diese Entscheidungen auf der Grundlage fremder Evidenz, in Abwägung externer Kalküle und in Aushandlungsprozessen mit Dritten getroffen werden. Diesen Orientierungsverlust medizinischen Handelns kann man durchaus als Prozess der Deprofessionalisierung beschreiben – und er betrifft den einzelnen Arzt ebenso wie das medizinische System insgesamt. Gleiches gilt auch mit Blick auf das zweite Beispiel: die Programmatik der public health genetics, die auf genetische Screenings abzielt, ohne dass dafür eine präventive Option verfügbar wäre. In diesem Fall werden medizinische Leistungsangebote mit fremden Logiken begründet und systemexternen Logistiken ausgestattet. De facto zeigt sich in beiden Fällen die wachsende Unschärfe, vielleicht sogar die zunehmende Irrelevanz der medizinischen Indikation. Und genau dafür steht exemplarisch die Wunsch- bzw. Präferenzmedizin, die insbesondere durch das offensive Nachfrageverhalten in einem breiten Spektrum von Enhancement-Techniken charakterisiert ist.

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Charakteristisch für die schleichende Erosion der ärztlichen Autonomie sind folgende Prozesse: erstens die Einengung individueller Entscheidungsspielräume durch die Ausweitung normbildender Systeme auf der kollektiven Ebene der Profession (Verwissenschaftlichung, Evidenzbasierte Medizin, Richtlinien, Leitlinien, technische Systeme der Entscheidungspräformation);29 zweitens das Vordringen mehr oder weniger subtil wirksamer Einflussfaktoren aus medizinexternen Funktionssystemen der Gesellschaft, speziell durch die Verrechtlichung und Ökonomisierung medizinischen Handelns, aber auch durch gesundheitspolitisch motivierte Programmatiken und, drittens, durch das Nachfrageverhalten oder die Präferenzen des Patienten. Als offen kann dabei allerdings die Frage gelten, in welchem Umfang sich der Autonomieverlust des einzelnen Arztes tatsächlich als kollektiver Autonomiegewinn der Profession oder als Autonomiegewinn des Patienten, Klienten oder Kunden verbuchen lässt. Denn auch die kollektiven Normbildungsprozesse der Profession vollziehen sich unter dem Einfluss externer Rationalitäten: des Rechts, der Ökonomie, der Politik, der öffentlichen Moral. Genau davon bleibt auch die postulierte Patientenautonomie nicht unberührt. Die Rhetorik der gesundheitlichen Eigenverantwortung und Solidaritätspflichten, subtile Zwänge zum ›richtigen‹ Verhalten sowie der soziale Druck gesellschaftlicher Wünschbarkeiten werfen unverkennbar ihre Schlagschatten auf die Bedingungen der Möglichkeit von Selbstbestimmung. Denn diese lebt von Voraussetzungen, die sie selbst weder schaffen noch garantieren kann. Die fortwährend postulierte Zunahme der Patientenautonomie ist vielmehr mit einer Vielzahl von Bedingungen konfrontiert, die als »faktische Autonomiebegrenzung«30 fungieren. Aus dieser Perspektive könnte sich die erweiterte Selbstbestimmung des Patienten als bloße Zunahme an »gefühlter« oder »gelenkter« Autonomie erweisen, also durchaus mit einem realen Verlust an wirklicher Entscheidungsfreiheit verbunden sein.

29 Vgl. dazu David Armstrong: »Clinical Autonomy, Individual and Collective: The Problem of Changing Doctors’ Behaviour«, in: Social Science & Medicine 55 (2002), S. 1771–1777. 30 Vgl. dazu Reinhard Damm: »Imperfekte Autonomie und Neopaternalismus. Medizinrechtliche Probleme der Selbstbestimmung in der modernen Medizin«, in: Medizinrecht 8 (2002), S. 375–387.

Der Arzt in der prädiktiven genetischen Beratung: ein Gesundheitsingenieur? N ILS B. H EYEN

P ROFESSIONELLE ÄRZTE

ODER

»G ENOKRATEN «?

Die diskutierten Folgen der sogenannten Genetifizierung der Medizin für die medizinische Praxis sind vielfältig: So wird zum Beispiel eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen Diagnostik und Therapie beobachtet.1 Damit ist gesagt, dass die gendiagnostischen Möglichkeiten die derzeit verfügbaren therapeutischen und präventiven Optionen bei Weitem übersteigen und dies zumindest mittelfristig auch so bleiben wird. Thematisiert wird auch die Ausdifferenzierung einer neuen Patientenrolle: die des »gesunden Kranken«.2 Dahinter stehen klinisch gesunde, also symptomfreie Menschen, bei denen mittels eines Gentests eine Disposition für eine sich erst im späteren Leben, (nur) mehr oder weniger wahrscheinlich manifestierende Erkrankung festgestellt worden ist. Nicht zuletzt wird auch ein Wandel der Arztrolle diagnostiziert. Durch den Fo-

1

Vgl. etwa Leonhard Hennen et al.: Genetische Diagnostik – Chancen und Risiken. Der Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung zur Genomanalyse, Berlin 1996, S. 72f.; Ferdinand Hucho et al.: Gentechnologiebericht. Analyse einer Hochtechnologie in Deutschland, München 2005, S. 165.

2

Früh schon Elisabeth Beck-Gernsheim: »Zwischen Prävention und Selektion. Fortschritte und Dilemmata der Gentechnologie«, in: Eduard Zwierlein (Hg.), Gen-Ethik. Zur ethischen Herausforderung durch die Humangenetik, Idstein 1993, S. 59–78, hier S. 72; Christine Scholz: »Biographie und molekulargenetische Diagnostik«, in: Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Welche Gesundheit wollen wir? Dilemmata des medizintechnischen Fortschritts, Frankfurt/M. 1995, S. 33–72, hier S. 48f.

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kus auf genetische Risiken gleiche diese zunehmend der eines »Gesundheitsingenieurs«.3 Die ärztliche Praxis der prädiktiven genetischen Beratung kann für die beiden zuerst genannten Punkte als geradezu paradigmatisch angesehen werden. In der Regel stehen dem Arzt hier nämlich keinerlei (gen-)therapeutische Handlungsoptionen zur Verfügung, es geht allein um die (prädiktive) Diagnostik von Genveränderungen und nicht um (deren) Therapie. Zudem ist es gerade die prädiktive Gendiagnostik, die zum Entstehen der neuen Gruppe von »gesunden Kranken« beiträgt.4 Denn eine prädiktive, das heißt vorhersagende Gendiagnose versucht zu bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit der/die Betroffene in welchem Lebensalter eine infrage stehende Krankheit – zum Beispiel (erblichen) Brust- oder Darmkrebs – entwickeln wird. Wie aber verhält es sich mit dem dritten Punkt, dem Arzt in der prädiktiven genetischen Beratung? Handelt er noch als Arzt oder verkommt er zu einem distanzierten, »bloßen Informationsvermittler«5 oder gar zum »Biokraten«6? In der Soziologie gilt ärztliches Handeln als Prototyp professionellen Handelns. Dieses steht gerade in strukturlogischem Gegensatz zu einem technokratischen (oder ingenieurialen), Wissen nur schematisch anwendenden Handeln. Vor diesem Hintergrund lautet die zentrale Frage des vorliegenden Beitrags: Lässt sich das ärztliche Handeln in der prädiktiven genetischen Beratung (noch) als ein professionelles Handeln rekonstruieren? Was Strukturmerkmale professionellen Handelns sind, soll gleich als Nächstes kurz ausgeführt werden. Dazu bedienen wir uns der soziologischen Profes-

3

Günter Feuerstein: »Die Technisierung der Medizin. Anmerkungen zum Preis des Fortschritts«, in: Irmhild Saake/Werner Vogd (Hg.), Moderne Mythen der Medizin. Studien zur organisierten Krankenbehandlung, Wiesbaden 2008, S. 161–188, hier S. 184.

4

Für einen Überblick über psychosoziale und gesellschaftliche Implikationen der prädiktiven Gendiagnostik siehe Regine Kollek/Thomas Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt/M., New York 2008.

5

Günter Feuerstein: »Inseln des Überflusses im Meer der Knappheit. Angebotsexpansion und Nachfragesteuerung im Kontext gentechnischer Leistungen«, in: ders./Ellen Kuhlmann (Hg.), Neopaternalistische Medizin. Der Mythos der Selbstbestimmung im Arzt-Patient-Verhältnis, Bern u.a. 1999, S. 95–113, hier S. 109.

6

Thomas Lemke: »Die Regierung der Risiken – Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität«, in: ders., Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden 2007, S. 129–148, hier S. 136.

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sionalisierungstheorie von Ulrich Oevermann.7 Ausgestattet mit dieser theoretischen Brille lässt sich dann die empirische Praxis der prädiktiven genetischen Beratung aufsuchen: Es werden ausgewählte Analyseergebnisse einer umfangreichen empirischen Untersuchung vorgestellt. Abschließend kommen wir zurück auf den Ausgangspunkt, also auf die Frage nach der Rolle des Arztes in der prädiktiven genetischen Beratung.

S TRUKTURMERKMALE

PROFESSIONELLEN

H ANDELNS

Der soziologischen Professionalisierungstheorie zufolge hat professionelles Handeln unter Rückgriff auf wissenschaftliche Expertise mit der stellvertretenden Lösung lebenspraktischer Probleme von Klienten zu tun. Ein Handeln ist also nicht schon deshalb professionell, weil es bezahlt wird oder weil es zu befriedigenden Ergebnissen führt oder weil es wie auch immer geartete Berufsverbände gibt, die dieses Handeln reglementieren. Ausschlaggebend für das Etikett »professionell« ist vielmehr die Struktur des zentralen Handlungsproblems, das es zu lösen gilt. Und dieses Handlungsproblem besteht in einer sogenannten stellvertretenden Problembewältigung. Voraussetzung für professionelles Handeln ist demnach, dass eine Person mit einem für sie unlösbaren Problem konfrontiert ist, sich deshalb in ihrer autonomen Lebensführung eingeschränkt sieht und Hilfe sucht. Ihr Problem kann sie nun aber nicht einfach an einen Experten delegieren (wie einen defekten Computer), weil sie für die Problemlösung gewissermaßen selbst gebraucht wird. Der Professionelle und sein Klient müssen gemeinsam an der Bewältigung des Problems arbeiten und dazu ein sogenanntes Arbeitsbündnis eingehen. Das heißt, der Professionelle löst stellvertretend für den Klienten, aber doch in Kooperation mit ihm dessen Problem. Zu diesem Zweck muss er zunächst zu einer adäquaten Problemdeutung gelangen, das Problem des Klienten also irgendwie zu erfassen suchen. Erst im Anschluss kann er dann Schritte zur Behandlung des Problems einleiten. Beides – Problemerfassung und Problembehandlung – gehört zum Prozess der stellvertretenden Problembewältigung.

7

Vgl. Ulrich Oevermann: »Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns«, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt/M. 1996, S. 70– 182; ders.: »Professionalisierungsbedürftigkeit und Professionalisiertheit pädagogischen Handelns«, in: Margret Kraul et al. (Hg.), Biographie und Profession, Bad Heilbrunn 2002, S. 19–63.

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Strukturell ist diese stellvertretende Problembewältigung durch drei Spannungen gekennzeichnet, die am Beispiel von Arzt und Patient skizzenhaft vorgestellt werden sollen: Die erste Spannung besteht in der gleichzeitigen Berücksichtigung der theoretisch-wissenschaftlichen Wissensbasis der Medizin einerseits und des individuellen Falls des Patienten andererseits. Je genauer etwa ein Hausarzt seine langjährigen Patienten kennt, desto fallangemessener werden auch seine jeweiligen Empfehlungen ausfallen. Die zweite Spannung ist die von Diffusität und Rollenförmigkeit. Damit ist die besondere Beziehung von Arzt und Patient angesprochen. Auf der einen Seite tritt der Patient dem Arzt als ›ganzer Mensch‹ gegenüber, also nicht gebunden an eine spezifische Rolle, sondern gewissermaßen diffus wie in Familien- oder Freundschaftsbeziehungen. Alles am Patienten und seiner Geschichte kann nämlich für den an sich ja fremden Arzt interessant oder sogar notwendig für seine Hilfe sein, auch intime Details aus dem Privatleben des Patienten. Auf der anderen Seite hat diese Diffusität aber auch Grenzen. Der Patient bleibt immer auch in der Rolle eines zahlenden Klienten relevant, sonst würde der Arzt ihm seine Hilfe nicht ohne Weiteres zukommen lassen. Auch ist umgekehrt der Arzt zwar an diesen persönlichen Dingen des Patienten interessiert, aber nur insoweit sie für seine professionelle Aufgabe der ärztlichen Hilfe relevant sind und nicht etwa aus Neugierde oder aus persönlichem Interesse. Die dritte Spannung schließlich besteht zwischen der gleichzeitigen Autonomie und Abhängigkeit des Patienten. Dieser wendet sich ja deshalb an einen Arzt, weil er in seiner autonomen Lebensführung – etwa durch ein beschädigtes Hüftgelenk – massiv eingeschränkt ist. Diese beschädigte Autonomie wird nun gerade dadurch wiederhergestellt, dass sich der Patient in eine besonders ausgeprägte Abhängigkeit begibt, nämlich in die vom operierenden Arzt. Gleichzeitig aber muss der (autonome) Patient in diese Autonomieaufgabe einwilligen. Diese drei Spannungen sind der entscheidende Grund dafür, dass professionelles Handeln im Allgemeinen und ärztliches Handeln im Besonderen nicht standardisierbar sind. Sie bei der stellvertretenden Problembewältigung auszuhalten und nicht einseitig aufzulösen, ist das Charakteristische an professionellem Handeln und unterscheidet es kategorial von einem technokratischen (oder ingenieurialen) Handeln. Kehren wir – ausgestattet mit diesem theoretischen Instrumentarium – zurück zur prädiktiven genetischen Beratung. Wenn wir wissen wollen, inwiefern sich das ärztliche Handeln in dieser Beratung als ein professionelles Handeln rekonstruieren lässt, müssen wir dem erwähnten Prozess stellvertretender Problembewältigung entsprechend fragen: 1.) Mit welcher Art von Problemen kommen die Klienten zur Beratung? 2.) Wie werden diese Probleme vom Arzt er-

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fasst? 3.) Wie werden sie vom Arzt behandelt? Um diese Fragen zu beantworten, wird auf eine umfangreiche empirisch-qualitative Studie zurückgegriffen, in deren Rahmen sowohl prädiktive genetische Beratungsgespräche als auch Interviews mit in der Beratung tätigen Ärzten aufgezeichnet, transkribiert und mit der rekonstruktiven Methode der Objektiven Hermeneutik analysiert worden sind.8 Eine Darstellung dieser Analysen, die es erlauben würde, den Weg der Ergebnisfindung Schritt für Schritt nachzuvollziehen, kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen. Im Folgenden werden deshalb (nur) ausgewählte Ergebnisse der Analysen präsentiert und mit Zitaten aus Beratungsgesprächen und Interviews veranschaulicht.

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DER K LIENTEN IN DER PRÄDIKTIVEN GENETISCHEN

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Das Problem, mit dem die Klienten die prädiktive genetische Beratung in der Regel aufsuchen, kann als Unsicherheitsproblem bezeichnet werden. Es kommt in zwei Ausformungen vor, nämlich als »Gesundheitssorgen« und als »Planungsblockade«. Beim Unsicherheitsproblem »Gesundheitssorgen« ist der Klient unsicher, ob er selbst und/oder ein eigenes (lebendes oder potenzielles) Kind in Zukunft schwer erkranken könnte, er macht sich deshalb Sorgen um die eigene Gesundheit und/oder die seiner (lebenden oder potenziellen) Kinder und erfährt diese Sorgen als Belastung seines Alltags. Anstoß für derartige Gesundheitssorgen ist zumeist die Familiengeschichte. Eine oder mehrere Familienangehörige haben schon unter einer bestimmten Krankheit gelitten oder sind gar an ihr gestorben, und langsam wird dem Klienten bewusst, dass es ihm und/oder seinen Kindern ähnlich ergehen könnte. Ist der Leidensdruck groß genug, sucht er die genetische Beratung auf, nicht zuletzt um zu erfahren, ob die befürchtete Gefahr einer zukünftigen Erkrankung tatsächlich besteht und was er tun kann, wenn sie besteht. Wichtig zu betonen ist, dass die Unsicherheit als solche nicht ausreicht, damit ein Problem und somit eine Bedürftigkeit beim Klienten vorliegt. Unsicher

8

Das Datenmaterial, das in fünf deutschen Städten zweier Flächenbundesländer erhoben wurde, umfasst 16 Beratungsgespräche und 12 Interviews. Zu den Details der Untersuchung und ihren ausführlichen Analysen siehe Nils B. Heyen: Gendiagnostik als Therapie. Soziologische Studien zur prädiktiven genetischen Beratung, Dissertation, Universität Bielefeld 2010. Zur Methode siehe etwa Andreas Wernet: Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik, Opladen 2000.

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sind viele Dinge im Leben, aber nicht alle werden zur Belastung. Erst indem die Unsicherheit bezüglich einer Krankheit den Alltag belastende Sorgen bedingt, wird sie zum Problem. Am deutlichsten wird dies bei nicht-heilbaren neurodegenerativen Erkrankungen. In einem genetischen Beratungsgespräch etwa äußert sich der Klient, dessen Vater an einer erblichen Ataxie erkrankt ist, wie folgt:9 »K: Und momentan ist es so, wenn man mal irgendwo aus m Gleichgewicht kommt, (A: Ja.) dann hat man gleich ... (1,5) (A: Ja.) ne? Ist das jetzt was, oder ist das jetzt nix? Und andere Menschen kommen auch aus m Gleichgewicht, aber - also die haben da überhaupt keinen Hintergrund, oder die denken sich nichts dabei. Und ich hab dann gleich so: Na ja, vielleicht ist das doch n Zeichen, dass es das is oder nicht.« (GB SCA3)

Schon kleinste Alltagsbegebenheiten reichen aus, damit sich dieser Klient sorgenvoll fragt, ob das nun nicht ein erstes »Zeichen« für das Kommen der genetischen Erkrankung, sozusagen ein erstes Symptom der ausbrechenden Krankheit ist. Ähnliches berichtet ein Klient, der auf die Erbanlage der Chorea Huntington bereits positiv getestet worden ist: »K: Sie liegen abends auf der Couch - und da macht es mal so ... (A: Ja.) Oder Sie haben mal ähm gearbeitet und dann fangen hier so einzelne Muskelpartien an zu zucken. Da kriegen Sie n Föhn. Da stellen sich die Nackenhaare, ja? (A: Ja.) Obwohl man weiß, dass das ganz normal ist, ja? Ähm das hat jeder, aber in dieser Situation ist das extrem, äh weil man extrem auf seine Bewegungsabläufe (A: M-mh.) auch achtet, ne? Und ähm das das macht einem schon zu schaffen - das nimmt einen schon mit dann.« (GB CH)

Aber auch bei Krebserkrankungen finden sich diese Sorgen. Eine Klientin etwa führt aus: »K: Ich möchte jetzt endlich wissen, ob ich auch dieses äh vererbbare Darmkrebsrisiko hab, (A: M-mh.) weil äh ich war ja jetzt auch zur Untersuchung gewesen, und da hat man so so kleine Polypen festgestellt, ein größerer, der war in Ordnung, und der andere KÖNNTE umschlagen. […] Und ich bin ja dann n bisschen ängstlich.« (GB HNPCC 5)

9

Für eine bessere Lesbarkeit wurden die Zitate orthografischen Regeln weitgehend angepasst. »K« bzw. »A« stehen für die Sprecherrollen »Klient« bzw. »Arzt«. Zahlen in Klammern bezeichnen die Dauer einer längeren Sprechpause in Sekunden, ein »-« bedeutet eine kurze Unterbrechung im Redefluss. Worte bzw. Silben in Großbuchstaben sind betont. Im Anschluss an das Zitat ist das entsprechende Gespräch angegeben, »INT« steht für »Interview«, »GB« für »genetische Beratung«.

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Bei der zweiten Ausformung des Unsicherheitsproblems, der »Planungsblockade«, ist der Klient ebenfalls unsicher, ob er selbst und/oder ein eigenes (lebendes oder potenzielles) Kind in Zukunft schwer erkranken könnte. Allerdings blockiert die Unsicherheit hier seine Familien- und/oder Lebensplanung, weil er je nachdem so oder anders plant. Der Klient kommt nicht weiter, er kann bestimmte Dinge, die er wünscht (Familiengründung, ein weiteres Kind, Hausbau, Berufswechsel, Unternehmensgründung etc.), nicht in die Wege leiten, weil er dazu wissen muss, ob die befürchtete Gefahr einer zukünftigen Erkrankung tatsächlich besteht und was er tun kann, wenn sie besteht. Natürlich geht eine solche Planungsblockade zumeist auch mit Gesundheitssorgen einher. Zum Beispiel sagt der bereits zitierte Klient, dessen Vater an der Ataxie erkrankt ist, an anderer Stelle: »K: Wenn ich den Gendefekt habe, möchten wir den nicht an unsere Kinder weitergeben. […] MEIN Wunsch nach eigenen Kindern ist so groß, dass ich das - wissen möchte. Weil ich momentan noch mit ner Ungewissheit lebe: (A: Okay.) Hab ich diesen Gendefekt, hab ich diesen Gendefekt nicht? […] Und je mehr wir uns damit auseinandersetzen, umso größer ist eigentlich die Ungewissheit und ähm eher der Drang dazu, ne Klarheit zu haben, (A: Okay.) um nicht mehr in dieser Ungewissheit zu leben.« (GB SCA3)

Bei diesem Klienten und seiner Frau steht der Kinderwunsch im Vordergrund. Sie haben sich schon so weit mit der möglichen Erkrankung auseinandergesetzt, dass sie entschieden haben, keine eigenen Kinder zu wollen, wenn der Mann den Gendefekt seines Vaters geerbt hat. Da beide hierin aber unsicher sind, ist ihre Familienplanung blockiert, denn trotz Kinderwunsch können sie gemäß ihrer Vorstellungen momentan keine Kinder zeugen. Am Beispiel dieses Klienten ist gut zu sehen, dass es hier um die Struktur von Problemen geht und nicht darum, was der Klient vielleicht denkt oder auf die Frage nach seiner Bedürftigkeit antworten würde. Möglicherweise würde er nur sagen, dass er wissen will, ob er den Gendefekt hat. Aus seinen Ausführungen im Beratungsgespräch wird aber deutlich, dass er dies nicht nur wissen will, sondern dass die Unsicherheit, er könnte den Gendefekt seines Vaters geerbt haben, in zweierlei Hinsicht problematisch ist: erstens weil sie die Familienplanung blockiert und zweitens weil sie den Alltag belastende Gesundheitssorgen verursacht. Generell werden derartige Probleme von den Klienten nur selten explizit formuliert. Oftmals benennen sie zu Beginn eines Beratungsgesprächs ein Anliegen, was erst einmal gar nicht auf ein Unsicherheitsproblem schließen lässt. Solche typischen Anliegen sind beispielsweise die Klärung von Fragen wie

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»Liegt der in meiner Familie bekannte Gendefekt auch bei mir vor?« (Gendefektsfrage), »Liegt in meiner Familie überhaupt eine genetische Veranlagung vor?« (Betroffenheitsfrage) oder »Wie hoch ist das Risiko, dass ich selbst in Zukunft erkranke?« (Risikofrage). Dies sind im Prinzip reine Auskunftsfragen, die in erster Linie der Ungewissheit abhelfen sollen. Dahinter müssen strukturell noch keine behandlungsbedürftigen Probleme liegen. Mit einer Auskunftsfrage kann man ja auch zum Schalter am Bahnhof gehen, um die Ungewissheit der Abfahrtszeit zu klären. Ebenso könnte man hier dem Arzt einfach sagen: »Stellen Sie bitte fest, ob ich den Gendefekt habe, alles andere interessiert mich nicht!« Im weiteren Verlauf der analysierten Beratungsgespräche wird aber immer deutlich, dass auch diese Anliegen Ausdruck von (dann impliziten) Unsicherheitsproblemen sind. Kurz: Die Klienten suchen die prädiktive genetische Beratung auf, um Hilfe beim Umgang mit der (problematischen) Unsicherheit einer in Zukunft möglichen Krankheit zu bekommen. Ihre Probleme sind vom Typus Unsicherheitsproblem.10

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ÄRZTLICHE

P ROBLEMERFASSUNG

Kommen wir zu der Frage, wie dieses Klientenproblem vom Arzt erfasst wird. Das hierfür nötige ärztliche Fallverstehen nimmt vor allem in den Erstgesprächen eine große Rolle ein. Dabei ist das Besondere, dass der Fall des jeweiligen Klienten nur vor dem Hintergrund des Falls seiner Familie verstehbar ist. Wir haben es hier also mit einer Doppellogik von Individual- und Familienlogik zu tun. Das kann in den genetischen Beratungsgesprächen dazu führen, dass zeitweise gar nicht mehr das Klientenproblem im Fokus steht, sondern Familienangehörige und deren Erkrankungen. Der ärztlichen Problemerfassung dient zum Beispiel die Aufforderung an den Klienten zur diffusen Problemschilderung, also gewissermaßen der klassische Einstieg in ein Arzt-Patient-Gespräch: »A: Gut, Frau , dann erzählen Sie doch mal, was so Ihr Anliegen ist, warum Sie hier sind.« (GB HNPCC 4)

10 Andere denkbare Problemtypen wären etwa ein Entscheidungsproblem, also ein Problem mit der Entscheidungsfindung bezüglich eines prädiktiven Gentests, oder ein Informationsproblem, also ein Problem mit einer als defizitär empfundenen Informationslage. Solche Problemtypen tauchen jedoch im Datenmaterial der hier zugrunde liegenden Studie nicht auf.

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Außerdem dienen der Problemerfassung ärztliche Handlungen wie etwa aktives Zuhören und gezieltes Nachfragen, um dem Klienten Raum zur Selbstexplikation zu geben, die Eigenanamnese, also die Befragung des Klienten zu seiner eigenen Krankengeschichte, sowie die üblicherweise sehr viel Raum einnehmende Erhebung des Stammbaums des Klienten (sog. Familienanamnese). Hierbei wird unter anderem gefragt nach Verwandtschaftsgrad, Geschlecht, aktuellem bzw. Sterbealter, Krankheitsgeschichte bzw. Todesursache der Verwandten über drei Generationen hinweg. Während die zuerst genannten Handlungen unmittelbar auf die lebensweltlich-diffuse Problemlage des Klienten zielen, geht es bei den beiden Anamneseformen allein um das ärztliche Verstehen dessen, was genetisch der Fall ist. Beides ist für ein umfassendes ärztliches Fallverstehen notwendig, und beides folgt der Doppellogik von Individual- und Familienlogik.

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ÄRZTLICHE

P ROBLEMBEHANDLUNG

Der Behandlung des Klientenproblems dienen zum Beispiel Beruhigungskommunikationen. Damit sind Sprechakte gemeint wie der folgende, der einem genetischen Beratungsgespräch zu erblichem Dickdarmkrebs entnommen ist: »A: Wir wissen ja jetzt nicht, ob Sie Anlageträger sind oder nicht, also so so ne extreme Krankengeschichte wie Ihr Vater, das ist ganz selten - glücklicherweise. Und das heißt auch nicht, dass Sie, falls Sie Anlageträger sein sollten, dass Sie das gleiche Schicksal ereilen muss, (K: M-mh.) ne? Also man muss nicht erkranken, wenn man die Anlage hat.« (GB HNPCC 2)

Expliziter drücken es zwei Ärztinnen in zwei anderen Gesprächen aus: »A: Letztlich brauchen Sie sich da überhaupt keine Sorgen drum zu machen.« (GB HNPCC 6) »A: Ich kann Sie bezüglich des von Ihnen empfundenen Risikos also erstmal deutlich beruhigen.« (GB BK 4)

Weitere ärztliche Handlungen, die der Problembehandlung dienen, sind die Vermittlung von Informationen, etwa zu der infrage stehenden Krankheit mit ihren Vererbungsregeln, aber auch implizite und explizite Handlungsempfehlungen: Implizite Handlungsempfehlungen sind Kommunikationen des Arztes, die den Klienten loben oder darin bestärken, eine schon bestehende Verhaltensweise auf-

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rechtzuerhalten. Zum Beispiel bemerkt ein Arzt in Bezug auf einen prädiktiven Gentest: »A: Und weil das so grade […] dann so passt und das jetzt auch Konsequenzen hätte, ist das gar nicht schlecht, dass Sie sich testen lassen.« (GB HNPCC 2)

Explizite Handlungsempfehlungen sind dagegen direkte Ratschläge, die vor allem in Bezug auf (Krebs-)Vorsorgeuntersuchungen, aber durchaus auch bezüglich prädiktiver Gentests gegeben werden: »A: Und das bedeutet also, dass Sie ähm ein ganz engmaschiges Früherkennungsprogramm wahrnehmen sollten.« (GB HNPCC 4) »A: Es gibt auch Ratsuchende, die einfach alles ignorieren, die auch ignorieren, dass sie Risikopersonen sind und gar keine Vorsorge machen, (K: M-mh.) und davon allerdings rate ich (K: Ja.) äußerst dringend ab.« (GB HNPCC 7) »A: Und - das würde ich Ihnen jetzt auch gar nicht anbieten oder raten, dass wir da n Gentest machen.« (GB BK 1)

Schließlich dient auch die Mitteilung der prädiktiven Gendiagnose der Problembehandlung. Denn wenn ein Gentest feststellt, dass der Klient die infrage stehende Erbanlage nicht geerbt hat, können Gesundheitssorgen und Planungsblockaden im Nu verschwunden sein. Ähnlich schnell kann es gehen, wenn der Arzt schon aufgrund der Familienanamnese, also bevor ein prädiktiver Gentest überhaupt in Betracht gezogen wird, feststellt, dass die Sorgen des Klienten unbegründet sind. Insofern ist eine negative prädiktive Gendiagnose – ob mittels Gentest oder Familienanamnese zustande gekommen – die beste ›Therapie‹ für das Unsicherheitsproblem des Klienten. Umgekehrt sieht man aber sofort, dass es sich mit einem positiven Gentestbefund nicht so einfach verhält. In diesem Fall können die Unsicherheiten sogar erst richtig belastend werden. In den Worten des bereits zitierten Klienten, der auf die Anlage der Chorea Huntington positiv getestet wurde: »K: Ähm - man weiß jetzt, ein Stück von diesen Unsicherheiten ist weg, ne? (A: M-mh.) Also hab ich’s oder hab ich’s net. Aber wann kriege ich’s? Wie schwer krieg ich’s? In welcher Form? Ist das eher ne äh motorische äh Komponente oder ist das eher eine auf ner psychischen oder wie ist das? (A: M-mh.) Da gibt’s ja die unterschiedlichsten Formen und Mischformen, und da ist ja alles möglich, ne? Ähm - das ist halt das, was einem unheimlich an den Nerven zehrt so, ne? Und ähm - da muss man halt sehen, dass man das irgendwie in n Griff kriegt.« (GB CH)

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Es ist deshalb wichtig herauszustellen, dass nicht die Ungewissheit, einen Gendefekt zu haben, das Problem ist, sondern die Unsicherheit einer in Zukunft möglichen Erkrankung. Diese Unsicherheit ist im Gegensatz zur Ungewissheit mit einem positiven Gentestbefund keineswegs ausgeräumt. Hier ist dann die Aufgabe des Arztes, dem Klienten dabei zu helfen, sich einen möglichst routinierten Umgang mit dieser Unsicherheit zu erarbeiten. In Bezug auf Krebserkrankungen kann dabei etwa der regelmäßige Gang zur Vorsorge hilfreich sein. Im Idealfall bleibt die Unsicherheit zwar bestehen, aber sie stellt dann keine Belastung mehr dar. Insofern dient eben auch die Empfehlung, ein Früherkennungsprogramm wahrzunehmen, der Behandlung des Unsicherheitsproblems, genau wie die anderen ärztlichen Handlungen auch, die gerade vorgestellt worden sind.

Z UR P ROFESSIONALITÄT DER ÄRZTLICHEN P ROBLEMBEWÄLTIGUNG Kommen wir nun noch zu den für die Frage »Professionelles oder technokratisches Handeln?« entscheidenden Spannungen, die der Arzt bei seiner stellvertretenden Problembewältigung auszuhalten hat. An keiner Stelle der analysierten genetischen Beratungsgespräche ließ sich eine einseitige Auflösung der drei Spannungsverhältnisse beobachten, vielmehr kommen sie an vielen Stellen in geradezu idealtypischer Weise zum Ausdruck. Das Aushalten der Spannung von Wissensbasis und Fallspezifität wird vor allem bei den Erklärungen und Begründungen deutlich, die der Arzt dem Klienten gibt – wenn er also begründet, wieso diese Empfehlung die richtige ist, oder wenn er erklärt, wieso er zu jener Einschätzung kommt. Dann rekurriert der Arzt immer auf das allgemeine medizinisch-genetische Wissen und bezieht es auf den individuellen Fall des Klienten. Im folgenden Zitat erklärt die Ärztin ihrer Klientin, wieso der Krebs des Vaters keine Rolle bei der Frage einer genetischen Veranlagung spielt: »A: Also auch n vieler - n hoher Alkoholkonsum macht grade eben Krebserkrankung von Speiseröhre, so Magen-/Darmtrakt, aber auch hier im ähm Schlundbereich sozusagen, ne? (K: M-mh.) Und das passt dazu, wenn der eben ab und zu mal getrunken hat oder das eben auch sehr regelmäßig, dann war das der Auslöser. Und das hat also jetzt nichts mit UNsern Brustkrebsgenen hier zu tun, ne?« (GB BK 1)

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Auch bei der Stammbaumerhebung kommt die Spannung deutlich zum Ausdruck. Außerdem stellen die Ärzte zumeist sicher, dass ihr jeweiliger Klient nur die Informationen bekommt, die er braucht: »A: Was wissen SIE denn schon über die Erkrankung, die wir bei Ihrem Vater diagnostiziert haben, dass ich da besser drauf - anknüpfen kann.« (GB HNPCC 1)

Die Spannung von Diffusität und Rollenförmigkeit ist wie für ein herkömmliches Arzt-Patient-Gespräch auch für das genetische Beratungsgespräch konstitutiv. Der Klient antwortet im Rahmen des Arbeitsbündnisses bereitwillig auf alle Fragen des Arztes nach Krankheiten von Familienmitgliedern, Konflikten in der Familie, Fehlgeburten, Kinderwünschen, Todesursachen usw., während der Arzt dies alles dem Klienten (natürlich) nicht erzählt. Auf der anderen Seite bedienen die Ärzte aber auch die Diffusität der Klienten. So gehen sie beispielsweise nicht stumpf ihren Fragenkatalog durch, sondern zeigen bei Bedarf Anteilnahme, spenden Trost oder teilen die Freude ihrer Klienten. Trotzdem ist klar, dass es sich bei der Arzt-Klient-Beziehung auch um eine (rollenförmige) Honorarbeziehung handelt. Besonders deutlich wurde dies in einem Fall in einer niedergelassenen Praxis, als die Klientin kein – ansonsten standardmäßig zur Beratung gehörendes – Gutachten wollte, weil sie dieses ihrer Meinung nach selbst zu bezahlen hätte. Dagegen wollte die Ärztin diesen sogenannten Beratungsbrief unbedingt schreiben. Allerdings betont sie: »A: Ich kann das ja nicht umsonst machen. Ich muss ja auch mein Geld verdienen. K: Kann ich sehr gut verstehen. Nein, das ist klar. Aber dann möchte ich das Gutachten nicht.« (GB HNPCC 9)

Betrachten wir schließlich die Spannung von Autonomie und Abhängigkeit. Dass der Hilfe suchende Klient in einem Abhängigkeitsverhältnis zu demjenigen steht, der die Hilfe anbietet, versteht sich von selbst. Was aber tut der Arzt, um trotzdem die Autonomie des Klienten maximal zu wahren? In den genetischen Beratungsgesprächen finden sich hierzu etwa folgende Äußerungen: »A: Sie sollten wissen, Sie machen alles freiwillig, es ist alles Ihre Entscheidung, es wird Ihnen hier nicht automatisch Blut entnommen am Ende der Beratung.« (GB NTS) »A: Sie können auch jederzeit noch mal n Rückzieher machen, also wenn Sie in der Zwischenzeit sagen: Nö, ich möcht das nicht wissen, reicht dann n Anruf (K: ) und dann - brechen wir das alles ab. (K: Nö, nö, nö.).« (GB HNPCC 2)

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»A: Also Sie können sich auch so viel Zeit lassen, wie Sie brauchen. Also Sie müssen nicht nach vier Wochen hier auf der Matte stehen, Sie können auch in zwei Monaten oder in einem Jahr kommen. Also das ist, wie Sie wollen.« (GB SCA3)

Umgekehrt stellt sich die Frage, ob dem Klienten nicht zu viel Autonomie zugemutet wird. So fordert das für die genetische Beratung zentrale ethische Prinzip der Nichtdirektivität eine umfassende und wertneutrale Vermittlung relevanter Informationen ohne direkte Einflussnahme – etwa durch die Meinung oder Handlungsempfehlungen des Arztes – auf vom Klienten zu treffende individuelle und eigenverantwortliche Entscheidungen.11 Diesbezüglich besteht also die Gefahr, dass der Klient mit seinem Problem quasi alleine gelassen wird, er nur Informationen, aber keine Hilfe bekommt. In der Praxis scheint diese Gefahr jedoch wenig real zu sein. Wie gezeigt werden in den genetischen Beratungsgesprächen ja durchaus Empfehlungen gegeben, und dies sogar bezüglich des prädiktiven Gentests selbst: »A: Das heißt, Sie müssen sich jetzt gar nicht gedanklich damit auseinandersetzen, ob Sie sich testen lassen wollen oder nicht, weil - das macht bei der Familienkonstellation keinen Sinn. Kann ich ihnen jetzt schon sagen, brauchen wir nicht zu machen.« (GB BK 1)

Empfehlungen pro Gentest erfolgen allerdings eher implizit und nur, wenn bei positivem Gentestbefund Handlungsmöglichkeiten – wie etwa spezielle Früherkennungsuntersuchungen – bestehen. Des Weiteren kommt in den Interviews zum Ausdruck, dass die Ärzte mit dem Prinzip der Nichtdirektivität sehr fallspezifisch umgehen: »A: Ich glaub, das wär FALSCH verstanden, wenn man das jetzt als Gesetz betrachtet, dem man in jeder Situation strikt folgen muss, egal wie wie der Kontext is.« (INT 1) »A: Ich glaube, das is unfair, die Leute NUR fachlich zu informieren. […] Also ich glaube, man sollte nicht NUR nondirektiv beraten, man soll versuchen, so lange wie möglich nondirektiv zu bleiben.« (INT 6)

11 Zum Prinzip der Nichtdirektivität siehe insbesondere Gerhard Wolff/Christine Jung: »Nichtdirektivität und Genetische Beratung«, in: Medizinische Genetik 6 (1994), S. 195–204; Erhard Ratz (Hg.): Zwischen Neutralität und Weisung. Zur Theorie und Praxis von Beratung in der Humangenetik, München 1995; Nils B. Heyen: »Das Prinzip der Nichtdirektivität in der humangenetischen Beratung: eine professionssoziologische Kritik«, in: Jochen Vollmann et al. (Hg.), Klinische Ethik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie und Praxis, Frankfurt/M.,New York 2009, S. 261–275.

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»A: Die Nichtdirektivität ist ein Konzept, dem man in unterschiedlichen Beratungssituationen mehr oder minder weitgehend folgt. So würd ich’s mal formulieren.« (INT 7) »A: Nichtdirektiv äh hat auch so was VerantwortungsLOSes. Das is […] für mich genau so bescheuert wie antiautoritär, ne? […] Es bedeutet ja auch negativ formuliert: Is mir doch egal, was Ihr macht. […] Und das is ja nich, das is mir ja nicht egal. […] Sondern ich möchte ja, dass die was machen, wo sie mit existieren können. […] Die sollen ja aus dem Gespräch rausgehn äh mit der ähm mit dem Gefühl: (1) Jetzt weiß ich so langsam, wie’s weitergehen kann.« (INT 8)

Implizit scheint bei den befragten Ärzten die Regel zu gelten: Je eher medizinisch begründete Empfehlungen ausgesprochen werden können, desto direktiver; je eher persönliche Einstellungen und Werte des Klienten eine Rolle spielen, desto nichtdirektiver. Die in der genetischen Beratung auszuhaltende Spannung von Autonomie und Abhängigkeit auf den Punkt bringt eine Ärztin – überaus treffend – mit den Worten: »A: Es geht eben weder darum zu sagen: Du musst, noch darum, nur Informationen zu geben und dann zu sagen: Der Rest ist Deine Sache.« (INT 12)

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GENETISCHE B ERATUNG ALS ÄRZTLICH PROFESSIONELLE U NSICHERHEITSBEWÄLTIGUNG Auf Grundlage der Analyse von Beratungsgesprächen und Interviews mit genetisch beratenden Ärzten haben wir das ärztliche Handeln in der prädiktiven genetischen Beratung als ein überaus professionelles Handeln rekonstruiert. Die Klienten kommen zur Beratung mit einem Unsicherheitsproblem, das sich auf zukünftige schwere Krankheiten bezieht. Der Arzt hat die Aufgabe, dieses Problem zu erfassen und den individuellen Fall zu verstehen, um dem Klienten dann bei der (stellvertretenden) Bewältigung seines Unsicherheitsproblems auf eine professionalisierte, das heißt die drei Spannungen aushaltende Weise zu helfen. Hierfür scheinen Empfehlungen, Informationen, Beruhigungen oder eine prädiktive Gendiagnostik geeignete therapeutisch-ärztliche Handlungen zu sein. Insgesamt spricht die empirische Untersuchung also gegen die Annahme, der Arzt handle in der medizinisch-genetischen Praxis wie ein Gesundheitsingenieur, der mit den genetischen Risiken seines Gegenübers bloß verwaltungsmäßig umgehe. Gleichwohl ist die damit angesprochene Gefahr auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. So ist es für ein ärztlich-professionelles Handeln in der (prädiktiven) genetischen Beratung unabdingbar, dass der Klient die Beratung mit einem

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selbstbestimmten Anliegen bzw. Problem aufsucht und nicht fremden An- bzw. Überweisungen (zum Beispiel durch andere Ärzte) einfach nur folgt, ohne sich diese zu eigen zu machen. Ein professioneller Arzt müsste einen in diesem Sinne fremdbestimmten Klienten wieder nach Hause schicken, weil dieser gar nicht hilfs- bzw. beratungsbedürftig ist. Würde er die genetischen Risiken eines solchen Klienten trotzdem abklären, handelte er in der Tat wie ein Gesundheitsingenieur. Außerdem ist für ärztlich-professionelles Handeln entscheidend, dass die lebensweltlich-diffuse Problemlage des Klienten angemessen berücksichtigt wird, was in den beobachteten genetischen Beratungsgesprächen auch der Fall ist. Förderlich wirken sich hier sicherlich die für die Beratung bereitgestellten weiten Zeitfenster aus – teilweise dauerten die erhobenen Gespräche bis zu zwei Stunden. Allerdings besteht die Gefahr, dass sich dieser ›Zeitluxus‹ aufgrund von organisationstechnischen und ökonomischen Zwängen auf Dauer nicht (überall) aufrechterhalten lassen wird. Zu unterstreichen ist schließlich, dass die Klienten der prädiktiven genetischen Beratung zwar nicht unter einer akuten Krankheit bzw. unter körperlichen Schmerzen leiden, trotzdem aber ein (akut) behandlungsbedürftiges Problem mit ihrer Gesundheit haben. Entsprechend werden zwar keine Krankheiten therapiert, gleichwohl aber hat die prädiktive Gendiagnostik in Bezug auf das Klientenproblem durchaus therapeutisches Potenzial. Zur Erfassung und Behandlung dieser krankheitsbezogenen Unsicherheitsprobleme der Klienten bedarf es in der prädiktiven genetischen Beratung sowohl medizinisch-ärztlichen Wissens als auch professionell-ärztlichen Handelns. Ein Gesundheitsingenieur wäre hier sicherlich fehl am Platz.

Prädiktives genetisches Wissen und individuelle Entscheidung Eine topologische Skizze1 A NNE B RÜNINGHAUS

Implikationen der Anwendung genetischer Tests stellen Gesundheitswesen und Gesellschaft noch immer in vielen Fällen vor neue Herausforderungen, obgleich sie heute im Rahmen medizinischer Untersuchungen bereits fest etabliert sind.2 Relevanz haben die Auswirkungen genetischer Diagnostik aber auch auf individueller Ebene. Nach wie vor ist eine ihrer deutlichsten Konsequenzen die der Unsicherheit bezüglich individuell-biographischer Zukünfte. Daher bietet sich eine Untersuchung dieser Entwicklungen im Kontext der Theorien der zweiten Moderne an, für die als Charakteristikum das Fehlen klarer, allgemeingültiger Regeln sowohl für einzelne Handlungen als auch für ein übergeordnetes Ziel genannt wird: »In der zweiten Moderne ist nicht mehr nur der Weg, sondern auch das Ziel der biographischen Entwicklung unsicher und uneindeutig. Sowohl normativ als auch faktisch gibt es kaum noch klare ›Normalitätsfiktionen‹ und

1

An dieser Stelle möchte ich meinen Dank für das Vertrauen derer, die ihren individuellen Entscheidungsprozess mit mir geteilt haben, aussprechen. Für die ausführliche Diskussion der diesem Papier zugrunde liegenden Konzepte danke ich meinen Betreuern Prof. Dr. Hans-Christoph Koller und Prof. Dr. Regine Kollek.

2

Regine Kollek/Thomas Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests, Frankfurt/M., New York 2008, S. 15; Stefan Propping et al.: Prädiktive genetische Testverfahren. Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte, Freiburg 2006, S. 11.

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verbindliche Entwicklungslinien bei den Biographiekonstruktionen.«3 Diese doppelte Unsicherheit liegt in der radikalen Pluralität von Werten und Normen begründet sowie dem Fehlen verbindlicher Orientierungen und der immer wieder neu zu stellenden Frage nach der Legitimation gesellschaftlich produzierten Wissens. Koller spricht deshalb im Anschluss an Lyotard von einer »soziokulturelle[n] Verfaßtheit gegenwärtiger Gesellschaften als ein [...] Zustand der radikalen Pluralität heterogener Diskursarten«4. Gelten keine allgemein verbindlichen Regeln mehr, so wird die Verantwortung des Einzelnen für sich selbst und für das eigene Leben immer wichtiger. »Die Devise der Zeit lautet: mehr Verantwortung, vor allem mehr Eigenverantwortung für die eigene Lebensgestaltung, mehr Selbstverantwortung für die selbständige Übernahme von Aufgaben und Verpflichtungen.«5 Die zweite Moderne ermöglicht zwar Freiräume, fordert aber zugleich vom Einzelnen, Handlungsoptionen zu entwickeln und Entscheidungen zu fällen. Zur Wahl stehen nicht mehr eindeutige Alternativen, sondern es müssen verschiedene Wege im Voraus bedacht werden. Für Beck ist diese reflexive Modernisierung gekennzeichnet durch die Produktion von Wissen, die mit der fortschreitenden Modernisierung einer Gesellschaft ansteigt; durch die Auflösung traditioneller Handlungsstrukturen bei der Anwendung dieses neuen Wissens; durch die Eigenheit von Wissen, sowohl Entscheidungen zu fordern als auch neue Handlungssituationen zu eröffnen. Bedingt durch diese »hergestellte« Unsicherheit ist der Einzelne gefordert, die eigene Identität und das eigene Selbst neu zu erfinden. Ins Zentrum rückt für Beck nicht das immer weiter zunehmende Wissen, sondern gerade das Nicht-Wissen als das »Medium« reflexiver Modernisierung.6 Damit sind gerade die Folgen von Handlungen nur unzureichend abzusehen: »Die Zukunft stellt sich aus der Perspektive des Wissens als immer unbestimmter dar, weil das Wissen laufend auch das Nichtwissen erzeugt. Offenbar kann das Wissen im Fall der technischen Entwicklung seine eigene Zukunft nur noch sehr kurzfristig vo-

3

Wolfgang Bonß et al.: »Biographische Sicherheit«, in: Ulrich Beck/Christoph Lau (Hg.), Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt/M. 2004, S. 214.

4

Hans-Christoph Koller: Bildung und Widerstreit, München 1999, S. 44.

5

Ludger Heidbrink: Handeln in der Ungewissheit. Paradoxien der Verantwortung, Ber-

6

Vgl. Ulrich Beck: »Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven ›reflexiver Moder-

lin 2007, S. 155. nisierung‹«, in: Ulrich Beck et al., Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt/M. 1996, S. 289–315.

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raussehen [...].«7 Statt einer einfachen Entscheidung, die auf allgemeingültigen Werten und Normen basiert, müssen in der zweiten Moderne zunehmend alle Alternativen einer Situation berücksichtigt werden und damit eigentlich auch solche, die vom jetzigen Standpunkt aus gar nicht denkbar sind. Entscheidungen über die Inanspruchnahme der genetischen Diagnostik rufen solche Entscheidungszwänge hervor; Beck, Bonß und Lau bezeichnen deshalb Gentechnik als ein typisches Beispiel für eine Uneindeutigkeit, die zu einer Zunahme von Unsicherheiten führt.8 Ausgehend von einer solchen radikalen Pluralität der Möglichkeiten werden im Folgenden die für die zweite Moderne charakteristischen Entscheidungsfindungsprozesse am Beispiel der prädiktiven genetischen Diagnostik untersucht. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Ergebnisse eines Gentests trotz der großen zeitlichen Reichweite Unabsehbarkeiten für die Zukunft bergen: Wie gestalten sich solche, von doppelter Unsicherheit gekennzeichneten Entscheidungen, die individuelle Zukünfte betreffen? Prinzipiell zu unterscheiden ist eine pränatale (vorgeburtliche) von einer postnatalen prädiktiven (vorhersagenden) genetischen Untersuchung; Letztere, die hier Gegenstand ist, wird in der Regel von Erwachsenen in Anspruch genommen, die nicht erkrankt sind, aber wissen möchten, ob sie die Veranlagung für eine Krankheit in sich tragen. Diese Frage stellt sich zum Beispiel dann, wenn ein Familienmitglied bereits erkrankt ist, etwa an erblichem Brustkrebs oder an der neurodegenerativen Chorea Huntington. Gründe einer Entscheidung für einen Gentest können neben der Erlangung von Gewissheit die Möglichkeit eines Hinausschiebens oder Verhinderns des Krankheitsausbruchs durch präventive Maßnahmen sein. Wissen um die zukünftige Gesundheitsentwicklung kann aber auch negative psychische und soziale Konsequenzen haben, vor allem dann, wenn der Krankheitsverlauf besonders schwerwiegend ist, keine Therapiemöglichkeiten existieren oder der Test für den Getesteten kein eindeutiges Ergebnis liefert, sondern nur eine Risikoverschiebung nach sich zieht. Die Besonderheit genetischer Daten ist damit nicht in ihrer Andersartigkeit gegenüber anderen medizinischen Daten zu sehen, sondern darin, dass sowohl Wissen um eine ge-

7

Michael Ruoff: »Das Problem des Neuen in der Technik«, in: Gerhard Gamm/ Andreas Hetzel (Hg.), Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt, Bielefeld 2005, S. 170f.

8

Ulrich Beck/Wolfgang Bonß/Christoph Lau: »Entgrenzung erzwingt Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?«, in: Ulrich Beck/Christoph Lau (Hg.), Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt/M. 2004, S. 13–62.

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netische Disposition als auch Nichtwissen weitere Wahlmöglichkeiten und Unwägbarkeiten (oder: weiteres Nichtwissen) nach sich ziehen.

I NDIVIDUELLE E NTSCHEIDUNGSPROZESSE PRÄDIKTIVER G ENDIAGNOSTIK

IM

K ONTEXT

Häufig verursachen Entscheidungen für oder gegen eine gendiagnostische Untersuchung schwierige persönliche und manchmal lebenskritische Situationen. Daraus entstehende individuelle Konflikte müssen in einem spezifischen und oftmals zeitlich aufwendigen Prozess bearbeitet werden, um bewältigt werden zu können. Für die individuell-biographische Ebene ergeben sich damit folgende Fragen: Wie gehen Menschen mit Entscheidungssituationen um, die von einer doppelten Unsicherheit gekennzeichnet sind? Und vor allem: Wie treffen sie Entscheidungen in solch prekären Situationen? Was beeinflusst aus Sicht der Ratsuchenden die Klärung von Unsicherheit und die Entscheidung? Dazu wird an dieser Stelle zunächst die diesem Beitrag zugrunde liegende biographische Untersuchung individueller Entscheidungswege als Ergänzung zu den Perspektiven der psycho-sozialen und medizinisch-psychologischen Forschung eingeführt. Anhand eines empirischen Beispiels werden individuelle Entscheidungsprozesse und verschiedene Formen von Quer- und Rückbezügen dargestellt und als Topologien skizziert, um die Komplexität der Entscheidungen besser verstehen und darstellen zu können. Abschließend werden die Charakteristika dieser biographischen Entscheidungstopologien mit Bezug auf verschiedene Begriffe von Topologie und Topographie diskutiert.

E NTSCHEIDUNGSPROZESSE

IN DER MEDIZINISCH PSYCHOLOGISCHEN UND PSYCHO - SOZIALEN P ERSPEKTIVE Die in diesem Beitrag vorgenommene Analyse komplexer biographischer Entscheidungswege stellt mit ihrem Fokus auf den gesamten individuellen Entscheidungsprozess eine Ergänzung zu bisherigen Forschungsergebnissen9 dar, die sich mit den Implikationen des Angebots genetischer Tests beschäftigt haben. Vorliegende Studien haben aus medizinisch-psychologischer Perspektive

9

Holly Etchegary: »Psychological Aspects of Predictive Genetic-Test Decisions: What Do We Know So Far?«, in: Analyses of Social Issues and Public Policy 4 (2004), S. 13–31.

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Einflussfaktoren auf die Entscheidung und Möglichkeiten der Optimierung des Beratungsprozesses in den Blick genommen oder aus psycho-sozialer Perspektive die entstehenden Wirkungen auf Einzelschicksale untersucht. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über Erkenntnisse und Grenzen dieser beiden Perspektiven gegeben. Die medizinisch-psychologische Perspektive untersucht Faktoren, die eine Testentscheidung und den Umgang mit Testergebnissen beeinflussen. Sie versucht, Vorbedingungen für die genetische Beratung zu klären, den Einfluss von Zeitpunkt und Kontext zu analysieren und so optimale Bedingungen für eine Beratung zu schaffen. Die mit psychometrischen Mitteln gemessene Veränderung der Einstellung wird als Erfolgsmaß herangezogen; individuelle Entscheidungsgründe sind dabei nicht wesentlich. Eine notwendige Beschränkung auf wenige Faktoren erschwert aber den Rückschluss auf Wechselwirkungen zwischen den untersuchten Einzelfaktoren komplexer Entscheidungen. Persönliche Orientierungen beispielsweise beeinflussen die Entscheidung von Risikopersonen nachweislich; so geben Meiser und Dunn »Zukunftsplanung« und »Verringerung von Unsicherheit« als häufigste Gründe für einen Test an.10 Decruyenaere et al.11 berichten, dass Risikopersonen, die es ablehnen, »alles im Voraus zu wissen«, genetische Tests seltener wahrnehmen. Oft wird von den Ratsuchenden nicht verstanden, welche Bedeutung die von genetischen Tests erzeugte Risikoinformation für sie hat.12 Eine Überschätzung des genetischen Risikos13 trifft bei Chorea Huntington häufig mit der Entscheidung für einen genetischen Test zusammen.14 Das tatsächliche Risiko kann dabei weniger Einfluss auf die Ent-

10 Bettina Meiser/Stewart Dunn: »Psychological impact of genetic testing for Huntington’s disease: an update of the literature«, in: Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry 69 (2000), S. 574–578. 11 Marleen Decruyenaere et al.: »Perception of predictive testing for Huntington’s disease by young women; preferring uncertainty to certainty?«, in: Journal of Medical Genetics 30 (1993), S. 557–561. 12 Susan Michie et al.: »Communicating risk information in genetic counseling: an observational study«, in: Health Education & Behavior 32 (2005), S. 589–598. 13 Robert T. Croyle/Caryn Lerman: »Risk communication in genetic testing for cancer susceptibility«, in: Journal of the National Cancer Institute Monographs 25 (1999), S. 59–66. 14 Marleen Decruyenaere et al.: »Non-Participation in Predictive Testing for Huntington’s Disease: Individual Decision-Making, Personality and Avoidant Behaviour in the Family«, in: European Journal of Human Genetics 5 (1997), S. 351–363.

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scheidung für einen genetischen Test haben als das wahrgenommene Risiko.15 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass durch die Komplexität der Entscheidungsprozesse der Einfluss unterschiedlicher Faktoren oft schwer zu isolieren und die Wechselwirkung einzelner Faktoren nicht eindeutig zu beschreiben ist. Nycum et al.16 berichten zwar von einer Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender persönlicher, familiärer und kultureller Faktoren für die intrafamiliäre Kommunikation von Testergebnissen. Da Entscheidungen nur nach ihren Vorbedingungen und Ergebnissen beurteilt und nicht als Prozess im Ganzen beschrieben werden, lässt die medizinisch-psychologische Perspektive die Frage offen, auf welchem Weg Einzelne zu ihrer jeweils individuellen Entscheidung kommen. Im Gegensatz dazu analysiert die psycho-soziale Perspektive aus einer »phänomenologischen«17 Sicht Risikokonstruktion und -aushandlung und dokumentiert beispielsweise die Unsicherheit oder die mit negativen Testergebnissen verbundenen Konsequenzen.18 Sie fokussiert auf die individuellen Konsequenzen für einzelne Betroffene und ihre Beweggründe. So beobachten Cox und McKellin19 sowie Smith et al.20 etwa, dass die individuelle Risikoeinschätzung zeitlich stark variiert. In kritischen Momenten, etwa bei der Diagnose von Huntington bei einem Geschwister, wirkt die Wahrnehmung des individuellen Risikos zunächst handlungsbestimmend, verliert im Alltag aber wieder an Bedeutung und ist zudem stark durch das persönliche und soziale Umfeld bestimmt. Die psycho-soziale Perspektive lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die individuellen Bedürfnisse der Ratsuchenden. Dabei bleibt die Beschreibung des Ent-

15 Caryn Lerman et al.: »Genetic testing: psychological aspects and implications«, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 70 (2002), S. 784–797. 16 Gillian Nycum/Denise Avard/Bartha M. Knoppers: »Factors influencing intrafamilial communication of hereditary breast and ovarian cancer genetic information«, in: European Journal of Human Genetics 17 (2009), S. 872–880. 17 Holly Etchegary: »Psychological Aspects of Predictive Genetic-Test Decisions«, S. 18. 18 Mechtild Schmedders: Leben mit der genetischen Diagnose. Psychosoziale Aspekte der Krankheitsprädiktion bei der familiären adenomatösen Polyposis, Bern 2004. 19 Susan M. Cox/William H. McKellin: »›There’s This Thing in Our Family‹: Predictive Testing and the Social Construction of Risk for Huntington Disease«, in: Sociology of Health and Illness 21 (1999), S. 622–646. 20 Jonathan A. Smith et al.: »Risk perception and decision-making processes in candidates for the genetic test for Huntington’s Disease: an interpretative phenomenological analysis«, in: Journal of Health Psychology 7 (2002), S. 131–144.

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scheidungsprozesses insgesamt lückenhaft: Sie fokussiert allein auf individuelle Strategien des Umgangs mit Ergebnissen von Gentests. Den daraus entstehenden Unsicherheiten und dem Entscheidungsprozess als Ganzem wird weniger Aufmerksamkeit zuteil. Um aber dem geforderten »Bedarf an speziellen Versorgungsansätzen, die auch den psychosozialen Bedürfnissen gerecht werden«21, Rechnung tragen zu können, müssen die Analysen persönlichen Erlebens und individueller Interpretation auf eine breitere Basis gestellt werden. So weisen Klitzman et al. darauf hin, dass die Rolle von Familienmitgliedern und der soziale Kontext in der Forschung bislang unterschätzt wurden und Entscheidungsprozesse für oder gegen genetische Tests nicht von den Ratsuchenden allein vorgenommen werden, sondern dynamisch und gemeinschaftlich beschaffen sind.22 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden die Analyse komplexer biographischer Entscheidungswege als notwendige Ergänzung zur medizinischpsychologischen und psycho-sozialen Perspektive betrachtet: Durch den Einbezug des gesamten individuellen Entscheidungsprozesses kann diese Analyse dazu beitragen, die in medizinisch-psychologischen Untersuchungen festgestellte innerindividuelle Wechselwirkung unterschiedlicher beeinflussender Faktoren aufzuklären, gleichzeitig adressiert sie die von der psycho-sozialen Perspektive aufgeworfene Frage nach der Rolle des sozialen Umfeldes und der Dynamik des Entscheidungsprozesses.

B ILDUNGSTHEORETISCHER R AHMEN INDIVIDUELLER E NTSCHEIDUNGSFINDUNGSPROZESSE Als theoretischer Rahmen für die Analyse von Bedingungen und Verläufen von Entscheidungsfindungsprozessen bietet sich die Bildungstheorie23 an: Sie kann

21 M. Schmedders: Leben mit der genetischen Diagnose, S. 269. 22 Robert Klitzman et al.: »The roles of family members, health care workers, and others in decision-making processes about genetic testing among individuals at risk for Huntington disease«, in: Genetics in Medicine 9 (2007), S. 358–371; Robert Klitzman/Wendy Chung: »The process of deciding about prophylactic surgery for breast and ovarian cancer: Patient questions, uncertainties, and communication«, in: American Journal of Medical Genetics Part A 152A (2010), S. 52–66. 23 Vgl. dazu etwa Rainer Kokemohr: »Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie«, in: Hans-Christoph Koller/Winfried Marotzki/Olaf Sanders (Hg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bil-

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Antworten auf die Frage liefern, wie sich der gesamte Entscheidungsprozess in die individuelle Biographie einbettet. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich sowohl das Verhältnis zur eigenen Person wie auch die Beziehungen zu anderen bereits durch das Angebot und die Nutzung genetischer Untersuchungsmöglichkeiten und dem damit verbundenen Wissen um die individuelle genetische Konstitution verändern können. Bildungsprozessen liegen in aller Regel einschneidende biographische Erfahrungen zugrunde, die neben anderen Voraussetzungen durch das Fehlen eines universalen Metadiskurses24, verstanden als ein normativer Bezugsrahmen, verursacht werden können: »Gewohnte Ordnungen erodieren und bislang geltende Grenzziehungen werden porös, vormals getrennte Räume und Zeiten schieben sich ineinander und erschüttern die Grundlagen der Zugehörigkeit und Identität [...].«25 Dies erfordert laufend eine Orientierung in neuen, unbekannten Diskursen. Fehlen einer Situation angemessene Verhaltensmuster, führt das entweder zu einer Art Verweigerung oder Kapitulation – oder zu einem sogenannten Bildungsprozess, der die Bildung neuer Selbst- und Weltverhältnisse beinhaltet und damit eine Bewältigung der zuvor aussichtslosen Situation ermöglicht.26 Bildungsprozesse im Sinne einer solchen Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen finden als Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der umgebenden Welt statt. Sie sind als ein höherstufiger Entwicklungsprozess zu verstehen und dadurch von einem reinen Lernprozess abzugrenzen. Weitere Kriterien sind Momente der (Selbst-)Reflexion sowie die Generierung von Neuem: die Entstehung neuer Verhältnisse zur eigenen Person und zur materiellen wie sozialen Umgebung. Im empirischen Material lassen sich Bildungsprozesse etwa durch Wendepunkte und Höhepunkte einer biographischen Erzählung markieren. Geht man von der Annahme aus, dass Entscheidungsprozesse im Kontext genetischer Diagnostik zu solchen krisenhaften Momenten führen können, liegt es nahe, in solchen Entscheidungsprozessen Bildungsprozesse zu vermuten – und zwar immer

dungsprozesse, Bielefeld 2007; Winfried Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften, Weinheim 1990. 24 Vgl. dazu H.-C. Koller: Bildung und Widerstreit, S. 31. 25 Michael Wimmer/Alfred Schäfer: »Einleitung: Zwischen Fremderfahrung und Selbstauslegung«, in: Alfred Schäfer/Michael Wimmer (Hg.), Selbstauslegung im Anderen, Münster 2006, S. 9f. 26 Vgl. dazu H.-C. Koller: Bildung und Widerstreit, S. 143–157.

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dann, wenn die Risikopersonen neuen Situationen ausgesetzt werden, die mit bisherigen Verhaltensmustern nicht mehr bewältigt werden können.

E NTSCHEIDUNGEN IM KONTEXT GENETISCHER D IAGNOSTIK ALS P ROZESS STÄNDIGER NEUORIENTIERUNG Einen wichtigen Hinweis auf solche Veränderungsprozesse geben Scully, Porz und Rehmann-Sutter.27 Sie stellen ein Modell vor, mit dem sich komplexe Entscheidungsprozesse als Aneinanderreihungen von »Mikro-Entscheidungen« beschreiben lassen, die Ratsuchende auf ihrem Weg zur endgültigen Entscheidung für oder gegen einen Gentest treffen. So entscheidet sich etwa eine der befragten Personen nicht sofort endgültig, sondern nimmt beispielsweise die Erkrankung des Großvaters zum Anlass, sich selbst über das eigene Erkrankungsrisiko zu informieren. Später lässt die Mutter sich testen – auch das wieder ein Auslöser für eine genauere Auseinandersetzung mit dem Thema. Zeit ist damit ein wesentlicher Faktor für die Entscheidungsfindung: »time is essential to moral decision making.«28 Ständige Neuorientierungen sind dabei notwendig, um zu einer die Ratsuchenden zufriedenstellenden Entscheidung zu kommen; Risikopersonen scheinen manchmal nicht in der Lage, eine einzige Entscheidung zu treffen, sondern benötigen Zwischenschritte.

E NTSCHEIDUNGSPROZESSE IN BIOGRAPHISCHEN N ARRATIONEN – DAS F ALLBEISPIEL »H ERR E RICH « Zum weiteren Verständnis dieser Entscheidungswege wurden von mir narrativbiographische Interviews durchgeführt. Deren Analyse zeigt, dass eine Erweiterung des Verständnisses von Entscheidungsprozessen als lineare Abfolge notwendig ist, und zwar hin zu einer netzwerkartigen Topologie von Entscheidungen, Ereignissen und Vorerfahrungen. In den biographischen Erzählungen scheinen sich die Entscheidungsprozesse in kleinen Schritten zu vollziehen. Zusätzlich zur linearen Abfolge einzelner Entscheidungsschritte treten jedoch immer wieder Rückbezüge auf Vorerfahrungen innerhalb der eigenen Biographie

27 Jackie Leach Scully/Rouven Porz/Christoph Rehmann-Sutter: »›You Don’t Make Genetic Test Decisions from One Day to the Next‹ – Using Time to Preserve Moral Space«, in: Bioethics 21 (2007), S. 208–217. 28 Vgl. ebd., S. 208.

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auf, die für das Individuum notwendig zu sein scheinen, um eine Entscheidungssituation bewältigen zu können. Durch den im Folgenden dargestellten Fall wird zunächst beispielhaft ein Eindruck der konkreten Analyseergebnisse gegeben, bevor die Ergebnisse theoretisch gerahmt werden. Empirische Grundlage der hier vorgestellten Studie sind narrative Interviews mit Risikopersonen, deren Familien von Chorea Huntington oder von erblichem Brustkrebs betroffen sind. Alle Erzählenden hatten sich zum Zeitpunkt des Interviews bereits für oder gegen einen Test entschieden, um eine Beeinflussung des Entscheidungsprozesses durch das Interview auszuschließen. Um den Probanden zu ermöglichen, ihre eigene Geschichte und ihre Sichtweise auf die Erfahrung der Entscheidung für oder gegen eine genetische Untersuchung zu erzählen, bestanden die Gespräche zunächst aus einem offenen Teil mit der Erzählung der Lebensgeschichte unter dem Fokus der familiären Erkrankung. Danach folgte ein Nachfrageteil mit verschiedenen Schwerpunkten, zum Beispiel zur Rolle der Familie oder zu intuitiven Entscheidungen. Bei der Auswertung der anonymisierten Transkripte wurde in weiten Teilen auf die Narrationsanalyse von Fritz Schütze29 zurückgegriffen, ergänzt um einige Aspekte der biographischen Analyse von Fischer-Rosenthal und Rosenthal.30 Im Fokus steht eine Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschichte, die nicht auf die Darstellung objektiver Daten abstellt, sondern einen Nachvollzug des individuellen Prozesses ermöglicht, der zu einer Entscheidung geführt hat. Im Folgenden soll nun anhand einer der zentralen Erzählsequenzen aus einem Interview exemplarisch dargestellt werden, warum und wie sich eine Verschiebung von Welt- und Selbstverhältnis zu entwickeln scheint und wie sich der Prozess des Erinnerns und Verschiebens (oder: des Rückgriffs und der Reflexion) im gesamten Entscheidungsprozess vollzieht. Die dazugehörige topologische Darstellung des Entscheidungswegs gibt einen Eindruck von der Komplexität des gesamten Entscheidungsfindungsprozesses. Herr Erich ist um die 50 Jahre alt, kinderlos und Risikoperson für die Chorea Huntington. Die neurodegenerative Krankheit ist erst seit Kurzem in der Familie bekannt; eine Diagnose für die Symptome der Schwester liegt zum Zeitpunkt der Erzählung seit etwa einem Jahr vor. Herr Erich hat sich nach längerer Phase des Abwägens gegen einen Test entschieden. Diese Entscheidung wird von ihm je-

29 Vgl. Fritz Schütze: Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien, Hagen 1987. 30 Vgl. Wolfram Fischer-Rosenthal/Gabriele Rosenthal: »Warum Biographieanalyse und wie man sie macht«, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 17 (1997), S. 406–427.

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doch nicht als endgültig angesehen, sondern unter veränderten Konstellationen als revidierbar. Die Familie von Herrn Erich ist ratlos, als unerwartet die Schwester erkrankt: Kein Arzt kann zunächst eine genaue Diagnose stellen und die Symptome verunsichern die Familienmitglieder. Als die Diagnose schließlich feststeht, wird sie trotz ihrer Schwere in gewisser Weise als Erleichterung wahrgenommen. Herrn Erich wird erst nach und nach klar, dass auch er selbst Risikoperson für die Huntington-Krankheit ist. Das wirft für ihn zum einen die Frage auf, ob und wie die restliche Familie aufgrund ihres Rechts auf Nichtwissen überhaupt über das Risiko aufgeklärt werden soll. Zum anderen fragt Herr Erich sich selbst, was er tun und wie er sich entscheiden soll. An dieser Stelle teilt sich also die Entscheidungsfindung: zum einen in die Entscheidung für das eigene, individuelle Risiko, zum anderen in die Entscheidung für das familiäre Risiko und die Verantwortung für einen Teil der Familie und ihr Recht auf Wissen beziehungsweise Nichtwissen. Bevor Herr Erich aber zu der Entscheidung für oder gegen den Gentest kommt, realisiert er nach und nach, was die Erbkrankheit Chorea Huntington für seine Familie und ihn selbst bedeuten kann. In diesem Zusammenhang gewinnt eine lange zurückliegende Geschichte an Gewicht, die sehr treffend die Bedeutung von Vorgeschichten und Rückbezügen aus der Gegenwart auf die Vergangenheit illustriert: »[...] so ne ganz vage Vorstellung hatte ich schon immer, oder schon dreißig, vierzig Jahre vor dieser Krankheit, weil ich mal ehm Anfang der Achtziger Jahre den Film ›Alice’s Restaurant‹ mit Arlo Guthrie gesehen hatte, eh, wo Woody Guthry ja auch gezeigt wird als eh Huntington-Kranker, aber so in ’ner ganz starren Form, er da nur liegt und gerade rauchen kann, aber nicht mehr sprechen kann. Und eine der ersten Sachen, nach denen ich das erfahren hab, war [lacht], dass ich gegoogelt hab, ob Arlo Guthrie noch lebt, der Sohn von Woody Guthrie. Ich meine, das ist natürlich total albern und offenbart so n bisschen mystisches Denken [beide lachen], aber er lebte noch und ist jetzt, ich weiß nicht, auch schon über sechzig oder so was, so, aber das war eh irgendwie habe ich das dann für ein gutes Omen genommen [schmunzelt] eh, ja, also, ich habe mich langsam an den Gedanken gewöhnt.« (Zeilen 86-96)

Die Erinnerung an diesen Film löst bei Herrn Erich eine Verschiebung aus: weg von einer ganz großen Unsicherheit, dem »Verdacht« (Zeile 20), wie Herr Erich es ausdrückt, hin zu der Erkenntnis, dass das Erkrankungsrisiko für ihn nicht absolut, sondern nur in einem gewissen Maße wahrscheinlich ist – nämlich zu 50 Prozent. Das, was Herr Erich als »mystisches Denken« bezeichnet, verschafft

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ihm in diesem für ihn sehr einschneidenden Moment den nötigen Abstand, um sich langsam an den Gedanken zu gewöhnen, dass die Perspektive auf sein Leben als Risikoperson vermutlich eine andere, neue sein wird. Diese Verschiebung kann in der biographischen Erzählung von Herrn Erich als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen bezeichnet werden. Sie ermöglicht es ihm, in einer als überwältigend empfundenen Situation neue Bewältigungsmuster zu entwickeln. Herr Erich nähert sich immer weiter der Entscheidung an. Die Motive »Schrittchen für Schrittchen mich an diesen Gedanken zu gewöhnen« (Zeile 3031) und »ranrobben« (Zeile 163) tauchen in der Erzählung und auch in der Argumentation immer wieder auf. Sein Umgang damit bleibt jedoch nicht gleich, sondern ändert sich. Er reicht von einer anfänglichen Beschreibung der veränderten Situation über eine vage Vorstellung bis hin zu einem Fazit und der Konkretisierung, wie und auf welchem Wege er selbst die Situation bewältigt. Um diese Entscheidungsschritte gehen zu können, scheint Herr Erich seine gewohnte Ordnung immer wieder zu durchbrechen und zu reflektieren, indem er weitere Argumente in der Entscheidung für oder gegen den Gentest berücksichtigt, die er zum Beispiel in Gesprächen mit den Geschwistern sowohl über deren Situation als auch seine eigene gewinnt. Immer wieder sind in dieser Entwicklung Rückgriffe auf Vorerfahrungen nötig, so zum Beispiel in den Gesprächen mit seinem Bruder, in denen die beiden diskutieren, ob und wie die übrige Familie aufgeklärt werden soll. In dieser Situation erinnert sich Herr Erich an seinen eigenen, zum Erzählzeitpunkt bereits in der Vergangenheit liegenden Wunsch nach Nichtwissen und nimmt dazu einen neuen Standpunkt ein. Umgekehrt hilft ihm diese Diskussion dabei, sich selbst nach und nach an sein Risiko zu gewöhnen.

E NTSCHEIDUNGSFINDUNGSPROZESSE E NTSCHEIDUNGSTOPOLOGIEN

ALS

Entscheidungsprozesse scheinen folglich weniger linear zu verlaufen, sondern sich eher in einem Netz von Beziehungen, Vorerfahrungen, neuen Erfahrungen und Problemstellungen aufzuspannen. Eine Linearität, wie sie sowohl von der Bildungstheorie wie auch der medizinischen Begleitforschung beschrieben wird, scheint der Rekonstruktion dieser Interviews nicht ausreichend gerecht zu werden. Die Erzählenden berichten nicht oder nicht allein von aufeinanderfolgenden Entscheidungsschritten; vielmehr spielen an zahlreichen Stellen Rückgriffe auf Vorerfahrungen vor dem Angebot des Gentests oder zurückliegende Erfahrungen mit genetischer Diagnostik eine Rolle. So tauchen in den Erzählungen der

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Risikopersonen immer wieder Rückblenden auf, die eine notwendige Grundlage zu sein scheinen, um eine akute Situation bewältigen zu können. Zu einem bestimmten Zeitpunkt bei der eigentlichen Entscheidung werden plötzlich auch weit zurückliegende Erfahrungen für die Entscheidenden (wieder) von großer Bedeutung für die Gegenwart, ohne dass aber zum Zeitpunkt des früheren Erlebens schon die Gewissheit gegeben war, dass dieses Erlebnis irgendwann einen Einfluss auf eine Entscheidung für oder wider eine genetische Untersuchung haben würde. Eine Linearität des Entscheidungsprozesses kann daher meiner Meinung nach nur in zeitlicher Hinsicht aufrechterhalten werden; einzelne Entscheidungen und Erfahrungen stehen zueinander in nichtlinearer Beziehung. Um die Interaktionen des Individuums mit seiner Umwelt sowie Momente der Selbstreflexion angemessen zu beschreiben, ist ein mehrdimensionales Netzwerkmodell nötig, das es ermöglicht, über die rein lineare Darstellung hinauszugehen und eine weitere Dimension (die der Rückblenden und Reflexionen) in den Blick zu nehmen. Wie sich diese mehrdimensionale Struktur von entscheidungsbedingenden Faktoren (Erfahrungen der biographischen Gegenwart und Vorerfahrungen) gestaltet, soll im Folgenden theoretisch näher erörtert werden. Im Anschluss an die klassische Definition des Begriffs Topologie (abgeleitet von τόπος (topos): »Ort, Stelle, Raum« und λόγος (logos): »Lehre«) als eine systematische Beschreibung räumlicher Beziehungen und den an verschiedenen Stellen beobachteten »topological turn«31, der sich den Relations- und Konstitutionsbeschreibungen in den Geistes- und Kulturwissenschaften widmet, wird hier der Begriff der Topologie verwendet, um besonders auf die Relationen zwischen einzelnen Erfahrungen hinzuweisen. Die Bedeutung der Relationen zwischen Erfahrungen betont insbesondere Bernhard Waldenfels, der die Beziehung von Nähe und Distanz in der Lebenswelt beschreibt.32 Für Waldenfels hat eine Topologie der Lebenswelt die Aufgabe zu zeigen, »wie Zugehörigkeit und Distanz, Nähe und Ferne sich zueinander fügen«33. Es geht nicht darum, absolute Entfernungen abzubilden, sondern Relationen zwischen einzelnen ErfahrungsBezugspunkten darzustellen. Waldenfels spricht von Topologie, »wenn der all-

31 Vgl. Stephan Günzel: »Spatial turn – topographical turn – topological turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Jörg Döhring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 224. 32 Bernhard Waldenfels: »Topographie der Lebenswelt«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 69–84. 33 B. Waldenfels: »Topographie der Lebenswelt«, S. 75.

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gemeine theoretische Rahmen der Räumlichkeit gefragt ist«34. Diese Räumlichkeit wird – anders als in vielen anderen topologischen Konzepten – nicht als eine Charakterisierung physischer Räume verstanden, sondern als eine Theorie von nicht allein linear strukturierten Erfahrungen. Dieses Konzept von Topologie bietet deshalb für den vorliegenden Fall von Entscheidungsfindungsprozessen im Kontext genetischer Diagnostik eine Möglichkeit, die Rückblenden und Reflexionen der Erzählenden theoretisch abzubilden. Darüber hinaus lässt sich darstellen, welchen Einfluss dieser Erfahrungs-»raum« auf »Vernunft, Ordnung, Sinn, Regel, ferner das Selbst, das Subjekt und den Bezug zu den Anderen«35 hat. Ausgangspunkt für das Individuum ist ein bestimmter Zeitpunkt, zu dem es sich nur in einem einzigen bestimmten Handlungsmoment verortet.36 Von hier aus werden neue Erfahrungen gemacht und unter Berücksichtigung alter Erfahrungen neu eingeordnet. Durch den Rückgriff und die Reflexion anderer, zurückliegender Momente ändern sich diese Verhältnisse und auch das Hier und Jetzt des Einzelnen. Damit werden für Waldenfels die Relationen betont, innerhalb derer sich das Subjekt bewegt. Waldenfels geht davon aus, dass die Verbindung des Bestehenden mit einem weiteren neuen Bezugspunkt zu einer Verschiebung in der Topologie der Erfahrungen führt, und zwar zum einen in Bezug auf die gegenwärtige Erfahrung, zum anderen in Bezug auf die Einordnung der Vergangenheit. Eine tatsächliche Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit ist für ihn mehr als reines »Erinnern«, sondern umfasst eine »Verschiebung«, mittels derer die gesamte Topologie in Bewegung gerät. Durch diese Beweglichkeit erhalten alle Selbstbildungen einen topologischen Aspekt. Ausgehend vom »Hier und Jetzt« findet also durch Erinnern ein Rückgriff auf Vergangenes statt, der eine Reflexion und Verschiebung der Topologie auslöst. Auf diese Weise entsteht für das Individuum eine neue Gegenwart. Für das Verstehen von Entscheidungsprozessen bieten die von Waldenfels entwickelten Topologien die Möglichkeit, die zuvor angedeuteten bildungstheoretischen Überlegungen genauer zu beschreiben: Bildungsprozesse können nun insofern genauer bestimmt werden, als dass auch Waldenfels in seiner Erläuterung von »Verschiebungen« darauf hinweist, dass neue Erfahrungen nicht allein als eine Addition von Aspekten zu bereits Vorhandenem verstanden werden können, sondern sich vorhandene Erfahrungen grundsätzlich ändern. Waldenfels

34 B. Waldenfels »Topographie der Lebenswelt«, S. 76. Vgl. dazu auch Bernhard Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erinnerung, Frankfurt/M. 2009, S. 33. 35 B. Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, S. 25. 36 Vgl. ebd., S. 76.

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sieht den Erfahrungs-»raum« nicht als auszufüllenden Container, in den neue Erfahrungen eingeordnet werden müssen, sondern als offenes Gebilde, das sich weiter entwickeln kann. Dies entspricht dem offenen Prozess, der auch in der innovativen Dimension von Bildungsprozessen beschrieben wird:37 Es wird davon ausgegangen, dass in diesen Prozessen durch die Bewältigung von Neuem ein neues Welt- und Selbstverhältnis entsteht. Waldenfels’ Topologiebegriff kann so als Heuristik dienen, um die in den Erzählungen beschriebenen »Verschiebungen« genauer zu charakterisieren. Indem ein besonderes Augenmerk auf die Darstellung von Rückblendungen und Reflexionen (»Erinnern« und »Verschieben«) gerichtet wird, ist die Erfassung komplexer individueller Entscheidungsprozesse unter Erhaltung ihrer nichtlinearen Form möglich. Für die hier untersuchten Entscheidungsprozesse zeigt sich, dass Vorerfahrungen eine wesentliche Grundlage für die Bewältigung der Gegenwart darstellen und dass jede Entscheidung und Erfahrung eine Änderung der biographischen Topologie bewirken kann.

E NTSCHEIDUNGSTOPOLOGIEN

IN DER ZWEITEN

M ODERNE

In diesem Beitrag wurde danach gefragt, wie sich Entscheidungsfindungsprozesse unter den Bedingungen der zweiten Moderne gestalten, in der dauerhafte und verbindliche Orientierungsmuster nicht mehr existieren. Diskutiert wurden Entscheidungsfindungsprozesse für oder wider prädiktive genetische Tests, die sich ganz besonders durch eine Vielfalt an möglichen Entscheidungsvarianten auszeichnen. Die Perspektiven der medizinisch-psychologischen und psychosozialen Sicht auf genetische Beratung wurden dabei ergänzt durch einen biographischen Ansatz, der den gesamten Entscheidungsweg des Einzelnen in den Fokus rückt. Entscheidungen für oder gegen einen genetischen Test können oftmals nicht allein situativ erklärt werden, das heißt auf der Basis einer aktuellen Situation und den unmittelbaren Konsequenzen für den Einzelnen. Stattdessen scheinen auch die individuelle Biographie und weit zurückliegende Erfahrungen und Entscheidungen Einfluss auf den Entscheidungsprozess zu haben. Individuelle Entscheidungsprozesse vollziehen sich demnach in einem Netzwerk temporärer und biographischer Bezugspunkte, die als Topologie rekonstruiert wurden. In dieses Netz fügen sich Selbst- und Fremderfahrung, vergangene und neue Erfahrungen ein. Dabei können Entscheidungsprozesse viele kleine Schritte umfassen. Rück-

37 Vgl. H.-C. Koller: Bildung und Widerstreit, S. 152f.

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bezüge und Reflexionen können die Entscheidungsfindung in der Gegenwart leiten und werden gleichzeitig von dieser beeinflusst. Ändert sich einer der Bezugspunkte, hat dies Auswirkungen auf das Gefüge des gesamten Netzwerkes und folglich den aktuellen Selbstbezug. Bildungstheoretisch formuliert äußern sich so Transformationen von Selbst- und Weltbezug. Durch die Beschreibung von Entscheidungsprozessen als Topologien erhält man ein Erklärungsmodell der komplexen individuellen Entscheidungswege, das in besonderem Maße die pluralen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der zweiten Moderne berücksichtigt und in den Blick nimmt. Die doppelte Unsicherheit der zweiten Moderne spiegelt sich in den sehr unterschiedlichen, individuell-biographisch geprägten Wertvorstellungen wider. Die Entscheidungsprozesse unterscheiden sich damit nicht nur in der Gewichtung von Normen und Werte, sondern weisen jeweils völlig eigene Strukturen auf. Ohne eindeutig von der Gesellschaft vorgegebene Orientierungsmuster werden die eigenen Vorerfahrungen zum Schlüssel sowohl für die kleinen Entscheidungsschritte als auch für die endgültige Entscheidung für oder wider eine genetische Diagnostik – und damit auch für individuelle Zukünfte.

Pathologisierung, Hospitalisierung und Technisierung der letzten Lebensphase Zum biomedizinischen Umgang mit dem Sterben1 U WE K RÄHNKE

E INLEITUNG Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe fällte am 25. Juni 2010 ein Urteil, das von vielen als wegweisend für die Praxis der Sterbehilfe angesehen wird. Vorausgegangen war die Verurteilung des prominenten Medizinrechtlers und Patientenanwalts Wolfgang Putz zu neun Monaten Haft auf Bewährung durch das Landgericht Fulda im April 2009 wegen versuchten Totschlages. Er hatte einer Mandantin geraten, sie solle bei ihrer Mutter, die bereits seit fünf Jahren im Wachkoma lag, den Schlauch der Magensonde durchschneiden, was diese auch tat. Der Bundesgerichtshof kassierte das Urteil des Landgerichts und stellte bei der Freisprechung des Anwalts klar, dass es sich bei der Tat der von ihm angestifteten Mandantin nicht um versuchte Tötung, sondern um passive Sterbehilfe handelt. Wegweisend ist diese Rechtsprechung insofern, als die Patientin vor ihrer Erkrankung den Wunsch nach Sterbehilfe lediglich mündlich gegenüber ihren Kindern geäußert haben soll. Das heißt, anstatt einer schriftlichen Willensbekundung laut Patientenverfügungsgesetz ist nur der mutmaßliche Wille bezeugt. Die Schlagzeilen in den Medien – etwa »Richter erleichtern Sterbehilfe« in der Süddeutschen Zeitung vom 26.6.2010 oder »Ärzte dürfen sterben lassen« in der Berliner Zeitung vom 26./27.6.2010 – unterstreichen die Brisanz dieses Grundsatzurteils. Allerdings kam das Urteil nicht überraschend. Es reiht sich ein

1

Für Hinweise zu diesem Artikel danke ich Alfred Grausgruber.

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in die seit Jahren anhaltende öffentliche Debatte über lebenserhaltende Maßnahmen durch Einsatz der Intensiv- und Gerätemedizin. Von vielen werden solche Maßnahmen als sinnlose Leidensverlängerung zurückgewiesen und ein Großteil der Bevölkerung befürwortet Sterbehilfe. Offenbar ist die medizinische Praxis, das Leben eines Sterbenden zu erhalten, auch wenn dies stark zulasten der Lebensqualität geht, unter Legitimationsdruck geraten. In Hinblick auf diese Entwicklung werden in diesem Beitrag eine Diagnose und eine Prognose vorgestellt. Die Diagnose lautet: Das medizinische System kann mit dem Sterben nicht adäquat umgehen. Da die Medizin darauf ausgerichtet ist, Menschen gesund zu machen und Leben zu erhalten, wird der Tod verdrängt und bekämpft und das Sterben nicht zugelassen. Um dennoch Menschen in der finalen Lebensphase innerhalb des medizinischen Systems behandeln zu können, kommt es zwangsläufig zu einer Pathologisierung, Medikalisierung und Hospitalisierung des Sterbens. Der Sterbende wird als kranker Patient behandelt, eine individuelle Sterbebegleitung ist die Ausnahme. Daran schließt sich die Prognose an: Sterbebegleitung wird langfristig aus dem System der medizinischen Krankenbehandlung ausgelagert. Für die Prognose eines sich neu herausbildenden gesellschaftlichen Subsystems, das auf den Umgang mit Sterbenden spezialisiert ist, sprechen momentan beobachtbare Phänomene – insbesondere die verstärkte Nachfrage nach Sterbebegleitung und nach Sterbehilfe als Dienstleistung. Inzwischen gibt es eine Reihe entsprechender Angebote, etwa des Hospizwesens, der Altenpflege und der Palliativpflege sowie von Organisationen wie der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben hierzulande, EXIT und Dignitas in der Schweiz; zudem haben sich viele Anwälte auf Medizinrecht mit den Schwerpunkten Sterbehilfe und Patientenautonomie spezialisiert.

M EDIZINISCHER F ORTSCHRITT , M ORTALITÄT P ATHOLOGISIERUNG DES S TERBENS

UND

Die moderne Medizin hat sich im Rahmen der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zu einer der »main arenas of rationalized modernity«2 entwickelt. Ei-

2

John W. Meyer/John Boli/George M. Thomas/Francisco O. Ramirez: »World Society and the Nation-State«, in: American Journal of Sociology 103 (1997), S. 144–181, hier S. 164. In ähnlicher Weise betrachten andere Autoren die moderne Medizin bzw. das Gesundheitswesen als ein (autopoietisches) Funktionssubsystem – vergleichbar

P ATHOLOGISIERUNG, HOSPITALISIERUNG

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TECHNISIERUNG

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nes ihrer Merkmale ist der hohe Spezialisierungsgrad unter den qualifizierten Ärzten – vom Anästhesisten bis zum Zahnarzt. Ein weiteres Merkmal sind die leistungsfähigen Einrichtungen der Krankenbehandlung, insbesondere das aus dem Hospital für Arme, Kranke und Verwundete hervorgegangene Krankenhaus. Hier können »Diagnose, Therapie, Isolierung und Pflege in engster Koordinierung und unter Ausschöpfung der optimalen Möglichkeiten an einem Orte vorgenommen werden«.3 Auch Organisationen wie Krankenkassen und Vereinigungen der Ärzteschaft gewährleisten eine hohe Effizienz medizinischer Leistungsanbieter. Nicht zuletzt zeichnet sich die moderne Medizin durch eine naturwissenschaftliche Fundierung aus. Biologie, Chemie und Physik prägen die weitgehend standardisierte (»schulmedizinische«) Krankenbehandlung durch Ärzte und die laborzentrierte Grundlagenforschung. Auch die bahnbrechenden medizinischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts, die Methoden der Asepsis und Anästhesie sowie diagnostischer Verfahren (insbesondere des Fiebermessens und des Röntgens) beruhen auf den Erkenntnissen der Naturwissenschaften. All die genannten Faktoren bewirkten, dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ärzte als professionelle Fachexperten in westlichen Gesellschaften etablieren konnten4 und dass die moderne Medizin insgesamt zum Garanten für eine umfassende Prävention und Behandlung von Krankheiten für die Bevölkerung wurde. Hinsichtlich ihrer Effizienz ist die moderne Medizin traditionalen Behandlungsweisen – etwa durch Laienheiler, Wunderdoktoren, Bader und Barbiere oder Priester-Ärzte – überlegen. Dieser Fortschritt wäre ohne die

mit dem System der Wirtschaft, des Rechts oder der Wissenschaft. Vgl. Niklas Luhmann: »Der medizinische Code«, in: ders. (Hg.), Soziologische Aufklärung 5, Opladen 1990, S. 183–195; Jost Bauch (Hg.): Gesundheit als System. Systemtheoretische Beobachtungen des Gesundheitswesens, Konstanz 2006; Gunnar Stollberg: »Das medizinische System. Überlegungen zu einem von der Soziologie vernachlässigten Funktionssystem«, in: Soziale Systeme 15 (2009), S. 189–217. 3

Johann Jürgen Rohde: Soziologie des Krankenhauses, Stuttgart 1974, S. 181.

4

Zur Professionalisierung der Ärzte vgl. Gerd Göckenjan: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1985; Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985, S. 167ff.; Jost Bauch: Gesundheit als sozialer Code. Von der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens zur Medikalisierung der Gesellschaft, Weinheim 1996, S. 21ff.; Christoph Schweickardt: »Zur Geschichte des Gesundheitswesens im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Stefan Schulz et al. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2006, S. 155–164, hier S. 157ff.

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biomedizinischen Erkenntnisse nicht denkbar. Spätestens seit Louis Pasteurs epidemiologischer Forschung im Labor konnten systematische Erklärungen über mikrobiologische Krankheitserreger und die Übertragungswege der Infektionskrankheiten geliefert werden. Dieses Wissen bildete die Grundlage für die moderne Gesundheitsaufklärung, die notwendigen Hygienemaßnahmen sowie für die medizinische Versorgung der Erkrankten mit Antibiotika und Impfstoffen. Indem die moderne Medizin eine bessere Gesundheitsvorsorge und Krankenbehandlung forcierte, hat sie einen Anteil daran, dass sich der Stellenwert des Sterbens in der Gesellschaft und der Umgang mit den Sterbenden veränderten. Im Rahmen der kurativen und präventiven Medizin konnten noch effektivere Maßnahmen gegen todbringende Krankheiten durchgeführt werden, was sich in einer sinkenden Mortalität der Bevölkerung niederschlug. Im Zuge der medizinischen Professionalisierung wurde der vorzeitige Tod von Menschen stark zurückgedrängt.5 Dadurch hat sich die Lebensspanne der Menschen in den letzten 150 Jahren mehr als verdoppelt. Während die durchschnittliche Lebenserwartung der 1855 geborenen Deutschen nur rund 37 Jahre betrug, beläuft sie sich für die 2005 Geborenen auf 79 Jahre.6 Nicht nur die Mortalitätsrate veränderte sich in den letzten Jahrhunderten, es wandelten sich auch die krankheitsbedingten Todesursachen. Früher starben verhältnismäßig viele Menschen an akuten, sich seuchenartig ausbreitenden Infektionserkrankungen – insbesondere an Pest, Cholera, Typhus, Pocken, Lungentu-

5

Anzumerken ist, dass die rein medizinischen Maßnahmen nur ein Faktor unter vielen sind, die zum Sterblichkeitsrückgang beitrugen. Zu nennen sind die Quarantänemaßnahmen bei Epidemien; die verbesserten Lebensbedingungen (insbesondere die regelmäßige und gesündere Ernährung durch Modernisierung der Landwirtschaft und Vorratshaltung sowie Sauberkeit und Hygiene); humanere Arbeitsbedingungen und gestiegene Bildung. Vgl. Thomas McKeown: Die Bedeutung der Medizin. Traum, Trugbild oder Nemesis?, Frankfurt/M. 1982, S. 86ff.; François Höpflinger: Bevölkerungssoziologie. Eine Einführung in bevölkerungssoziologische Ansätze und demografische Prozesse, Weinheim 1997; Arthur E. Imhof (Hg.): Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 63ff. Wie McKeown anhand statistischer Daten von England und Wales nachweist, trugen die Impfungen abgesehen von Tuberkulose, Diphterie und Kinderlähmung nicht signifikant – wie oftmals angenommen – zum Rückgang der todverursachenden Infektionskrankheiten bei.

6

A. E. Imhof, (Hg.) Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden im 19. und 20. Jahrhundert, S. 47.

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berkulose.7 Mit der Eindämmung der lebensbedrohenden Seuchen und den erfolgreichen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten für Infektionskrankheiten hat sich das Verhältnis zwischen akuten und chronischen Krankheiten in den entwickelten Industriestaaten verschoben. Statistisch betrachtet überwiegen seit den 1960er Jahren Todesfälle, die auf chronisch-degenerative Krankheiten zurückzuführen sind. Es vollzog sich ein Wandel von den traditionellen Sterblichkeitsverhältnissen mit dem Vorherrschen von Seuchen und geringer Lebenserwartung zur modernen Situation mit hoher Lebenserwartung und dominierenden degenerativen Todesursachen. Heute sterben die meisten Menschen hochbetagt an Krankheiten, die aus der lang andauernden körperlichen und psychischen Überbelastung resultieren. Die verlängerte Lebenserwartung und die damit im Zusammenhang stehende Zurückdrängung der akuten, lebensbedrohenden Infektionskrankheiten hat eine Folgewirkung, die im Rahmen des vorliegenden Beitrages von Bedeutung ist: Aufgrund der intensiveren medizinischen Versorgung wird die Sterbephase von Menschen im Vergleich zu früher zeitlich ausgedehnt. Menschen leben heute nicht nur länger, sie sterben auch länger.8 Typischerweise leiden die Menschen im hohen Alter an mehreren gleichzeitig auftretenden Krankheiten. Die stärker anzutreffende Multimorbidität in der letzten Lebensphase macht eine umfangreiche medizinische Versorgung und einen höheren Pflegeaufwand notwendig. Durch den medizinischen Fortschritt und die leistungsfähigen Gesundheitseinrichtungen lassen sich akute Krankheiten heute relativ gut unter Kontrolle bringen. So ist etwa die Behandlung einer Lungen- oder einer Blinddarmentzündung im Gegensatz zu früher zur Routine geworden und die Betroffenen müssen nicht ernsthaft befürchten, dabei zu sterben. Neuere Entwicklungen der Intensiv- und Gerätemedizin wie Defibrillator, Herzschrittmacher, Herz-Lungen-Maschine, Dialysegerät oder PEG-Magensonde erlauben es gar, einen Ausfall oder eine funktionale Beeinträchtigung lebenswichtiger Organe zu kompensieren und somit das Leben von Menschen zu retten, bzw. künstlich zu erhalten. Die genannten Phänomene – verminderte Sterberate, Rückgang akuter Infektionskrankheiten als Todesursache zugunsten chronisch-degenerativer Erkrankungen sowie intensivere medizinische und pflegerische Betreuung in der verlängerten Sterbephase – verweisen auf einen engen Zusammenhang zwischen Sterben und Krankheit. Es scheint uns heute auch geradezu selbstverständlich,

7 8

Ebd., S. 22. Andreas Heller: »Ambivalenzen des Sterbens heute – Einschätzungen zum gegenwärtigen Umgang mit dem Sterben und den Sterbenden«, in: ders. (Hg.), Kultur des Sterbens. Bedingungen für das Lebensende gestalten, Freiburg 1994, S. 83–87, hier S. 13.

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den (natürlichen) Tod explizit auf Krankheiten zurückzuführen. In dieser Auffassung spiegelt sich die moderne, biomedizinische Bedeutungs- und Sinnzuschreibung des Sterbens. Früher wurde jedoch ganz anders über das Sterben und den Tod eines Menschen gedacht. So waren die Vorstellungen im vormodernen Okzident maßgeblich vom christlichen Glauben an die Vorherbestimmtheit des Todes durch Gott geprägt. Die zentrale Frage war, ob dem Sterbenden Erlösung und ewiges Leben zuteil werde oder ob auf ihn Verdammnis und Hölle warte. Schmerz und Leid im Angesicht des Todes galten als gottgewollte Prüfung.9 Im Zuge der gesellschaftlichen Säkularisierung und des Deutungsverlusts der Kirche etablierte sich im 19. Jahrhundert in den bürgerlichen Bevölkerungsschichten die Vorstellung vom »natürlichen Tod«10 und erlangte zunehmend gesellschaftliche Dominanz. Diese Vorstellung besagt, dass jeder Mensch aus eigener Kraft lebt und der Tod eintritt, wenn er diese Kraft verloren hat. Entsprechend dieser Vorstellung markiert der Tod nun nicht mehr den Übergang vom Diesseits in ein Jenseits, sondern das Ende eines erfüllten, arbeitsamen Lebens durch »langsames Verlöschen der Lebenskräfte an der von der Natur gesetzten Marke«.11 Durch den »klinischen Blick«12 der fortgeschrittenen Biomedizin des 20. Jahrhunderts wandelte sich die aufklärerisch-säkularisierte Idee des natürlichen Todes: Das Ableben eines Menschen wird nunmehr pathologisiert, das heißt, die Aufmerksamkeit des Arztes gilt nur noch dem gestörten Organ. Er lokalisiert beim Sterbenden vorrangig die körperlichen und psychischen Symptome, um Rückschlüsse auf die irreversiblen Dysfunktionen des biologischen Organismus zu ziehen. Indem primär die biologischen Wirkkräfte gesucht werden, die den Menschen krank machen, reduziert sich der moderne Tod darauf, »ein Objekt des ärztlichen Blicks und zugleich Schlusspunkt eines individualisierten Lebens zu sein«13, eine »leer gewordene Tatsache des Lebens«14. Im Zuge der biomedi-

9

Udo Benzenhöfer: Der gute Tod? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999; Christine Pfeffer: »Hier wird immer noch besser gestorben als woanders«. Eine Ethnographie stationärer Hospizarbeit, Bern 2005, S. 47ff.

10 Ivan Illich: »Tod contra Tod«, in: Hans Ebeling (Hg.), Der Tod in der Moderne, Königstein 1984, S. 184–209. 11 Werner Fuchs: Todesbilder in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, S. 184. 12 Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M. 1993. 13 Stefanie Graefe: Autonomie am Lebensende? Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe, Frankfurt/M. 2007, S. 78.

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zinischen Pathologisierung des Sterbens gewinnt die von Giovanni Battista Morgagni15, dem Begründer der pathologischen Anatomie, eingeführte Devise »Ubi est morbus?« (dt.: Wo ist die Krankheit?) an Bedeutung. »Jedermann hat an einer benennbaren Krankheit zu sterben«16 und die jeweilige Todesursache muss in genau definierten Ursachen kategorisiert werden. Die Deutungsmacht über das Sterben und den Tod, die die Ärzte über die Praxis der Pathologisierung der finalen Lebensphase gewonnen haben, hat zu einer Pluralisierung der (natürlichen) Todesursache geführt. Diese Vielfalt schlägt sich in den Sterbestatistiken nieder. So kommt seit ca. 100 Jahren der »Alterstod« bzw. die Todesdiagnose »Altersschwäche« nicht mehr vor.17 Die Liste der Krankheiten, die laut medizinischer Diagnose häufig zum Tod von Hochbetagten führen, wird angeführt von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebsleiden, Leber- und Lungenerkrankungen.

D ER S TERBENDE

ALS P ATIENT IM HEUTIGEN MEDIZINISCHEN S YSTEM Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich ein Sterben in der vertrauten Umgebung der eigenen Wohnung und im Beisein nahestehender Personen.18 Allerdings sieht die Realität anders aus. Schätzungen zufolge endet in westlichen Gesellschaften heute für mindestens die Hälfte der Menschen das Leben im Krankenhaus und für 10 bis 20 Prozent im Pflegeheim. Zwar sind diese Schätzungen zu den Sterbeorten alles andere als genau,19 dennoch spiegeln sie

14 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–1976), Frankfurt/M. 2001, S. 291. 15 Giovanni Battista Morgagni: De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis, Venedig 1761. 16 Sherwin B. Nuland: Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?, München 1994, S. 78. 17 Noch 1901 wurde beispielsweise in England und Wales mehr als ein Fünftel der Todesfälle bei den ab 65-Jährigen darauf zurückgeführt; T. McKeown: Die Bedeutung der Medizin, S. 68f. 18 Laut dem Deutschen Hospiz- und PalliativVerband e.V. äußern 95 Prozent diesen Wunsch,

http://www.stifter-fuer-stifter.de/upload/sfh_pdf/broschuere_stiften_fuer_

hospiz_2010_04_27.pdf, letzter Zugriff am 21.6.2011. 19 Tatsächlich gibt es bislang zu den Sterbeorten sowohl international als auch national keine verlässlichen repräsentativen empirischen Daten. Für Deutschland existieren lediglich Einzelstudien zur Verteilung der Sterbeorte in einer Region bzw. zu Sterbefällen in speziellen Einrichtungen (etwa den Hospizen eines Bundeslandes). Pauschale

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einen allgemeinen Trend wider: Aus dem Sterben, das früher bei natürlichen Todesursachen vor allem im familiären Kontext stattfand, ist heute ein medizinisch kontrolliertes Sterben in anonymen Einrichtungen des Gesundheits- bzw. Pflegesystems geworden. Hierbei geht es nicht darum, ein individuelles ›gutes Sterben‹ zu ermöglichen. Stattdessen wird die betreffende Person zu einem Patienten (bzw. Pflegefall) degradiert. Wenn in diesem Beitrag die Rollenzuschreibung des Sterbenden als Patient20 thematisiert wird, so ist damit keine moralische Bewertung intendiert. Hinter dieser Rollenzuschreibung soll weder eine ›böse‹ Absicht bei den Mitarbeitern der Pflegeeinrichtungen noch ein Unvermögen zur Empathie oder Ähnliches vermutet werden. Vielmehr handelt es sich um ein strukturelles Problem. Die entsprechende Diagnose lautet: Die moderne Medizin kann per se mit dem Sterben nicht adäquat umgehen. Als »Wissenschaft von den Ursachen, Wirkungen und der Vorbeugung und Heilung von Krankheiten«21 besteht ihre Kompetenz darin, kranke Menschen gesund zu machen. Auf das Heilen sind die Indikationen der Ärzte gerichtet. In der Regel geht man zum Arzt in der Erwartung, dass dieser einen behandelt und als ›gesund‹ entlässt. Offensichtlich ist, dass bei Sterbenden die Gesundheit nicht (wieder)hergestellt werden kann.22 Das Sterben führt zum Tod und ist demzufolge keine Krankheit, die sich heilen lässt. Systemtheoretisch (in der Lesart von Niklas Luhmann) lässt sich das Dilemma der Me-

Schätzungen gehen zum Teil sogar davon aus, dass bis zu 90 Prozent der Sterbefälle im Krankenhaus und Alters- bzw. Pflegeheimen stattfinden; vgl. Reimer Gronemeyer: »Hospiz, Hospizbewegung und Palliative Care in Europa«, in: Hubert Knoblauch/ Arnold Zingerle (Hg.), Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens, Berlin 2005, S. 206–218, hier S. 210; Katharina Woellert/Heinz-Peter Schmiedebach: Sterbehilfe, München 2008, S. 13; Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin, München 2010, S. 123; Raphael Gaßmann et al.: Untersuchung zur Versorgung Sterbender und ihrer Angehörigen in Nordrhein-Westfalen, Bonn 1992. 20 Erinnert sei an die ursprünglichen lateinischen Wortbedeutungen patiens (aushaltend, fähig zu ertragen) und passio (das Leiden). 21 Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, Berlin 2002, S. 1132. 22 Diese triviale Einsicht gilt um so mehr, nimmt man die Definition der World Health Organization als Grundlage. Demnach ist Gesundheit nämlich »a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity« (WHO: Constitution of the World Health Organization, Genf 1946, zitiert nach: http://www.who.int/governance/eb/who_constitution_en.pdf, 1.5.2011).

letzter

Zugriff

am

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dizin wie folgt auf den Punkt bringen: innerhalb des mit dem Code gesund versus krank operierenden Systems der medizinischen Krankenbehandlung kann das Sterben an und für sich nicht bearbeitet werden. Es fällt aus dem modernen medizinischen Raster heraus und der Tod lässt gar dieses Raster obsolet werden. Angesichts dieser Diagnose erscheint es paradox, dass Menschen am häufigsten im Krankenhaus unter der Obhut von Ärzten sterben. Erklärungsbedürftig ist, wie die moderne Medizin die Zuständigkeit für die finale Lebensphase beanspruchen kann, obwohl ihre fachliche Kompetenz mit dem Eintritt in diese Phase endet. Hergestellt wird diese Zuständigkeit über die Definitionsmacht, die die Ärzteprofession aufgrund ihrer Erfolge bei der biomedizinischen Krankheitsdiagnose und der kurativen Krankenbehandlung in den letzten einhundert Jahren erworben hat. Wie erwähnt, ist es inzwischen zur gängigen Praxis geworden, den Patienten in der finalen Lebensphase gerade nicht als Sterbenden zu betrachten, sondern als pathologischen Fall. Mit dem »klinischen Blick« sehen Ärzte im Sterbenden primär einen Träger von Krankheiten und gehen entsprechend ihren professionstypischen Routinen vor. Auch in diesen Fällen versuchen sie, »in der Patientenbefragung und durch klinische Untersuchungen die Befunde so weit zu objektivieren, dass aus dem individuellen Krankheitserlebnis ein Krankheitsfall gewonnen werden kann. Dieser Fall wird in einem spezifischen, analytischen Krankheitsbild abgebildet«.23 Salopp formuliert: Die Inkompetenz der Ärzte im Umgang mit Sterbenden wird durch die biomedizinischen Pathologisierungsroutinen kompensiert. Die Pathologisierung Sterbender ist unweigerlich mit einer Medikalisierung und Hospitalisierung verknüpft. Durch die Umcodierung des Ablebens eines Menschen in den Wert krank und dessen Operationalisierung in Form von naturwissenschaftlich-analytischen Krankheitsbegriffen sind Sterbende im Rahmen des medizinischen Systems behandelbar. Es greifen die gängigen Therapieprogramme und die Ärzte können ihre professionelle Zuständigkeit behaupten. Sterbende geraten in den Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich der modernen Medizin. Demzufolge unterscheidet sich der Umgang mit Sterbenden nicht grundsätzlich vom Umgang mit kranken Patienten.24 Sterbende werden in

23 Norbert W. Paul: »Gesundheit und Krankheit«, in: S. Schulz et al. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, S. 131–141, hier S. 137. 24 Eine Ausnahme und Gegenentwicklung zur Pathologisierung und Medikalisierung des Sterbens innerhalb des medizinischen Systems ist die Palliativmedizin bzw. Palliativpflege. Hier wird die Zielsetzung der medizinischen und pflegerischen Versorgung auf ganzheitliche Sterbebegleitung umgestellt. Auf die Palliativstationen in Krankenhäuser, die zahlenmäßig immer noch gering einzustufen sind, wird ebenso wie auf die

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der gleichen Art und Weise entsprechend ihrer jeweiligen diagnostizierten Symptome und Krankheiten medizinisch behandelt.25 Das Hauptziel besteht darin, eine angemessene medizinische Versorgung zu gewährleisten und das Leben zu erhalten. Da es sich bei den als ›sterbend‹ etikettierten Patienten in der Regel um schwere, nichtheilbare Krankheitsfälle bzw. Fälle von Multimorbidität handelt, ist es nicht verwunderlich, dass diese Patienten relativ häufig in spezielle Einrichtungen (insbesondere Krankenhäuser und Kliniken) eingeliefert werden. Hier wird die Behandlung unter Einsatz der Geräte- und Intensivmedizin noch kontrollierter weitergeführt bis zum klinischen Tod – unter Umständen, wie beim sogenannten Wachkoma, auch darüber hinaus. Bedenkt man, dass das Sterben für die betreffende Person selbst eine außeralltägliche existenzielle Situation darstellt, in der es im wahrsten Sinne des Wortes um das eigene Leben geht, wird klar, dass mit der Einlieferung ins Krankenhaus ›zwei Welten‹ aufeinanderprallen – auf der einen Seite das individuelle Ringen, diesen letzten Lebensabschnitt zu bewältigen; auf der anderen Seite die anonyme Praxis des medizinisch kontrollierten und institutionalisierten Sterbens. Beide Welten bilden kein symmetrisches Gleichgewicht. Vielmehr wird vom Sterbenden abverlangt, dass er sich der Funktionslogik und der Alltagsroutine der Institution Krankenhaus unterordnet. Die Dominanz dieser »totalen Institution« im Sinne von Erving Goffman26 gegenüber der Person lässt sich anhand der folgenden, miteinander in Wechselwirkung stehenden Erscheinungen festmachen: Durchregelter und überwachter Alltag Mit dem Eintritt in die stationäre Einrichtung wird die Person aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld herausgenommen und in der Regel von den nahestehenden Verwandten und Freunden abgeschirmt. Während der soziale Kontakt

Hospize als weitere Alternative zum routinisierten Sterben im Krankenhaus in diesem Beitrag noch gesondert eingegangen. 25 Gerd Göckenjan/Stefan Dreßke: »Wandlungen des Sterbens im Krankenhaus und die Konflikte zwischen Krankenkontrolle und Sterberolle«, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 27 (2002), S. 80–96, hier S. 86; David Clark: »Between Hope and Acceptance. The Medicalisation of Dying«, in: British Medical Journal, 324 (2002), S. 905–907. 26 Erving Goffman: »Über die Merkmale totaler Institutionen«, in: ders., Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M. 1973, S. 13–123.

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mit der Außenwelt beschränkt ist, wird im Innern der Einrichtung eine eigene soziale Welt geschaffen, in der die individuellen Bedürfnisse des Insassen nicht angemessen berücksichtigt und – insbesondere wenn es auf der Intensivstation primär um das organische Überleben des Patienten geht – Intimitätsgrenzen eingerissen werden.27 Es kommt zu einem Wandel des bisherigen Lebensrhythmus sowie zu einem Rollenwechsel und Statusverlust: Ein entscheidungsfähiges Subjekt wird zum hilfsbedürftigen Kranken ohne Privatsphäre. Die Person ist von der Handlungsbereitschaft anderer abhängig, steht unter virtueller Beobachtung und jeder Tagesabschnitt ist durch einen an der Alltagsroutine der Einrichtung ausgerichteten Ablaufplan und durch ein formales Regelsystem verplant. Die Einhaltung dieser Vorgaben wird durch einen Stab von Verantwortlichen (von der Nachtschwester bis hin zum Stationsarzt) kontrolliert. Freilich ist der Patient nicht nur passiver Konsument der medizinischen Dienstleistung. Ärzte und Pflegepersonal sind letztlich auf die Mitarbeit des zu Versorgenden angewiesen, um idiosynkratische Störungen der Behandlungsroutine (insbesondere bei technikbasierten Diagnoseverfahren oder bei belastenden therapeutischen Maßnahmen) zu vermeiden.28 Es wäre jedoch verfehlt, in dieser Mitwirkung des Patienten am Behandlungsgeschehen einen Akt selbstbestimmten Handelns zu sehen. Letztlich geht es darum, den Patienten in den formalisierten Tagesablauf des Krankenhauses mit möglichst geringen Aushandlungskosten zu integrieren. Standardisierte und ökonomisierte Behandlung Die bei Sterbenden angewandten Diagnoseverfahren, Therapieansätze und pflegerischen Maßnahmen basieren auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Biomedizin und sind in hohem Maße standardisiert.29 Ihre Anwendung durch das Personal muss buchhalterisch abgerechnet werden und unterliegt somit der Überwachung durch die bürokratische Verwaltung der Einrichtung.

27 Regine Lockot: Ärztliches Handeln und Intimität. Eine medizin-psychologische Perspektive, Stuttgart 1983, S. 16. 28 Bernhard Badura: »Arbeit im Krankenhaus«, in: Bernhard Badura/Günter Feuerstein (Hg.), Systemgestaltung im Gesundheitswesen. Zur Versorgungskrise der hochtechnisierten Medizin und den Möglichkeiten ihrer Bewältigung, Weinheim 1994, S. 21–82, hier S. 22; Günter Feuerstein: »Ausdifferenzierung der kardiologischen Versorgungsstruktur und Kliniklandschaft«, in: ebd., S. 155–253, hier S. 94. 29 Beispielsweise werden anhand der International Classification of Diseases (ICD) schematisierte Diagnosen erstellt.

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Inzwischen ist das Sterben zum teuersten Lebensabschnitt geworden, was die medizinische und pflegerische Betreuung anbelangt. Vor allem aufgrund der eingesetzten Intensiv- und Gerätemedizin sowie der Therapien und der Schmerzmittel kommt es zu vermehrten Kosten innerhalb dieser Lebensphase.30 Rund zwei Drittel der Krankenhauskosten für einen Menschen fallen, wie Gronemeyer für die USA recherchiert hat, in den letzten Lebenswochen und -monaten an.31 Rein ökonomisch gesehen rechnet sich für Krankenhäuser die Behandlung Sterbender. Dennoch hat sich auch hier der Trend zur Verbetrieblichung und marktförmigen Regulierung durchgesetzt: Kosten müssen eingespart und demzufolge medizinische und pflegerische Leistungen begrenzt bzw. so angeboten werden, dass die kostenintensiven technischen Ressourcen optimal ausgeschöpft werden. Angesichts der im medizinischen Bereich immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen haben inzwischen auf Intensiv- und Pflegestationen moderne Management-Konzepte (wie Case-Management) Einzug gehalten und es werden entsprechende Optimierungsmaßnahmen durchgeführt. Forciert wird die Standardisierung und Ökonomisierung der Behandlung durch die elektronische Datenverarbeitung. Mittels moderner computerbasierter Technologie können Behandlungsabläufe als fallbezogene Konfigurationen ineinandergreifender Bearbeitungsschritte zeitnah erfasst, algorithmisiert und flexibel gemanagt werden. Es werden Fallpauschalen erstellt und das Personal steht unter ständigem Evaluationsdruck. Arbeitsteilung und fragmentierte Verantwortlichkeit Die ausgeprägte Arbeitsteilung unter den Medizinern und die damit einhergehende starke Untergliederung der Krankenhauseinrichtung in Fachabteilungen führen zwangsläufig zum Problem, dass bei Multimorbidität oder bei diffusen bzw. komplexen Krankheitsbildern ein hoch spezialisierter Arzt nicht mehr hinreichend vertraut ist mit den eigentlich notwendigen allgemein-internistischen

30 Joseph Kytir/Rainer Münz: »Hilfs- und Pflegebedürftigkeit im Alter«, in: Arthur E. Imhof (Hg.), Leben wir zu lange? Die Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren und die Folgen, Köln 1992, S. 81–102, hier S. 97ff. 31 Reimer Gronemeyer: Sterben in Deutschland. Wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserem Leben einräumen können, Frankfurt/M. 2007, S. 16. Vgl. auch Bernard Lown: Die verlorene Kunst des Heilens. Anstiftung zum Umdenken, Stuttgart 2004, S. 250f.

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Anforderungen.32 Auch der sozio-biografische Hintergrund und die Persönlichkeitsdisposition des Patienten bleiben aufgrund der spezialisierungsbedingten Perspektivenbegrenzung und der damit einhergehenden fragmentierten Behandlung unberücksichtigt. Eine gewisse Unübersichtlichkeit resultiert zudem aus der institutionalisierten Krankenversorgung und dem ständigen Personalwechsel im Schichtbetrieb. Es kommt vor, dass »die eine Hand nicht weiß, was die andere tut« und Patienten machen die »Erfahrung von Fragmentierung, redundanter Diagnostik und Widersprüchen in Therapieansätzen und Empfehlungen«33, wie Klapp/Dahme exemplarisch anhand kardiologischer Einrichtungen aufzeigen. Problematisch wird die arbeitsteilige Behandlungsweise »vor allem dort, wo Medizin nicht mehr heilen kann, sondern darauf zurückgeworfen ist, dem Patienten zu helfen, mit der Krankheit zu leben«.34 Für den Umgang mit Sterbenden heißt dies, dass eine ganzheitliche Betreuung als Person systematisch vermieden wird. Während die Anonymität der Behandlung relativ groß ist, ist der Verantwortungsbereich jedes beteiligten hoch spezialisierten Arztes sehr klein. Professionelle Dominanz und Distanz des Arztes Wie bereits zu Beginn dieses Abschnitts erwähnt, zehren Ärzte auch im Umgang mit sterbenden Patienten von der Autorität, die ihre Profession seit über 150 Jahren genießt. Der Arzt tritt mit seinem Expertenwissen auf; demgegenüber erscheint der Sterbende als Laie, der zu seinem psychosomatischen Befinden befragt, auf Krankheitssymptome hin untersucht wird und entsprechende Therapien, Medikamente oder Rehabilitationsmaßnahmen verschrieben bekommt. Zweifellos ist das paternalistische Selbstverständnis der Ärzteschaft des 20. Jahrhunderts inzwischen einer Partizipations- und Deliberationsorientierung gewichen.35 Dennoch ist es weiterhin der Arzt und nicht der Patient, der die Deutungsmacht über die diagnostizierten Befunde hat sowie die Definitions-

32 Felix Anschütz: Ärztliches Handeln. Grundlagen, Grenzen, Möglichkeiten, Widersprüche, Darmstadt 1987, S. 59. 33 Burghard Klapp/Bernhard Dahme: »Die koronare Herzkrankheit – ein ganzheitlicher Prozeß und die notwendige ganzheitliche Betrachtung dieser Krankheit«, in: Burghard Klapp/Bernhard Dahme (Hg.), Psychosoziale Kardiologie, Heidelberg 1988, S. 3–19, hier S. 6. 34 G. Feuerstein: »Ausdifferenzierung der kardiologischen Versorgungsstruktur und Kliniklandschaft«, S. 195. 35 Dieser Aspekt wird noch einmal weiter unten aufgegriffen.

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macht über die Behandlungsziele und -optionen und die Delegationsmacht über andere Berufsgruppen, etwa Pflegekräfte.36 Das soziale Arzt-Patientenverhältnis zeichnet sich nicht nur durch eine asymmetrische Verteilung der Ressourcen Macht und (Fach-)Wissen aus. Charakteristisch ist auch eine soziale Distanz zum Patienten, die der Arzt wahren muss, während er zugleich (etwa bei körperlichen Untersuchungen oder Operationen) in dessen Intimbereiche vordringt. Die professionelle Dominanz und Distanz des Arztes wird durch eine mehr oder weniger definierte Rollenerwartung reproduziert.37 Technisierung der medizinischen und pflegerischen Versorgung Die klinische Medizin ist durch einen zunehmenden Technikeinsatz gekennzeichnet. Die Geräte dienen zum einen dazu, objektivierbares Wissen entsprechend dem biomedizinischen Grundverständnis über ein gestörtes Organ, eine organische Fehlfunktion oder über den allgemeinen Krankheitszustand einer Person zu erlangen. Intensivstationen, auf denen täglich das Leben von Menschen »am seidenen Faden« hängt, kämen ohne diese technische Überwachung nicht aus. So kann das Pflegepersonal gleichzeitig mehrere Patienten kontrollieren, ohne direkt anwesend sein zu müssen – etwa durch Funkübertragung einzelner EKG-Werte auf einen Computer. Auch Ärzte müssen den Patienten nicht jedes Mal im Krankenzimmer aufsuchen, wenn die elektronisch gespeicherten diagnostischen Daten der Geräte vorliegen. Die biomedizinische Variante des »Panoptismus«38 hinterlässt bei der medizinischen Betreuung sterbender Patienten deutliche Spuren. Die betreffende Person wird zum Objekt einer szientistischen, immer stärker auf bildgebende Verfahren aufbauenden Überwachung. Es stellt sich ein Effekt ein, der dem

36 Günter Feuerstein: »Zielkomplexe und Technisierungsprozess im Krankenhaus«, in: B. Badura/G. Feuerstein (Hg.): Systemgestaltung im Gesundheitswesen, S. 83–154, hier S. 101. 37 Laut Talcott Parsons kann diese Rollenerwartung (idealtypisch betrachtet) festgemacht werden anhand von funktioneller Spezifizität, Leistungsorientierung, Universalismus, emotionaler Neutralität und Kollektivitätsorientierung. Vgl. Talcott Parsons: »Struktur und Funktion der modernen Medizin. Eine soziologische Analyse«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 3 (1958), S. 10–57. 38 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1977, S. 251ff.

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entspricht, den Marshall McLuhan39 auf die viel zitierte Formel zur Charakterisierung der modernen Medien insgesamt gebracht hat: »The medium is the message.« Auch die im Rahmen der fortgeschrittenen Biomedizin eingesetzten Medien nehmen die Nutzer (das Arzt- und Pflegepersonal) in einer bestimmten Art und Weise in Anspruch. Diese werden darauf konditioniert, Sterbende entsprechend des Bildes zu sehen, das von den eingesetzten Geräten (vor-)produziert wurde. Die »Technisierung der medizinischen Informationsgewinnung und übertragung [führt zur] mediengerechte[n] Wahrnehmung und Codierung des Patienten«.40 Die qualitative Diagnostik weicht einer quantifizierbaren Diagnostik, und die Aufmerksamkeit und Zuwendung des Arztes gilt weniger dem Kranken und seinem Befinden als vielmehr den Untersuchungsinstrumenten.41 Letztlich trägt die Präferenz für Geräte- und Intensivmedizin maßgeblich dazu bei, dass die Interaktion zwischen Personal und Sterbenden in starkem Maße anonymisiert, ent-personifiziert und technisch vermittelt ist. Nicht nur bei der Diagnose, auch bei den Therapiemaßnahmen macht sich die Fokussierung auf ›harte‹ Computerdaten bemerkbar. So laufen Optimierungsbestrebungen für den medizinischen und pflegerischen Einsatz auf eine automatisierte Therapieplanung hinaus. Hierbei wird die Fortführung der Behandlung einem formalisierten Entscheidungsverfahren auf der Grundlage klinischer Algorithmen übertragen, die aus empirischen Daten mit repräsentativen Wahrscheinlichkeits- und Risikowerten gespeist werden. Der hohe Technisierungsgrad sorgt schließlich dafür, dass sich der klinische Blick stärker auf somatische Vorgänge konzentriert, während psychische und soziale Aspekte des Wohlbefindens systematisch vernachlässigt werden.42 Die Diagnose, dass das medizinische System per se nicht adäquat mit dem Sterben umgehen kann, lässt sich nun als Zwischenfazit spezifizieren: Das moderne Krankenhaus ist zwar der Ort, in dem die meisten Menschen sterben, allerdings ist diese nach Effizienzkriterien arbeitende totale Institution mit hoch spezialisiertem Personal, funktional gegliederten Organisationseinheiten sowie

39 Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man, New York 1964. 40 G. Feuerstein: »Ausdifferenzierung der kardiologischen Versorgungsstruktur und Kliniklandschaft«, S. 201. 41 Hero Silomon (Hg.): Technologie in der Medizin. Folgen und Probleme, Stuttgart 1994, S. 22, 26. 42 Bernhard Badura: »Systemgestaltung im Gesundheitswesen: Das Beispiel Krankenhaus«, in: Bernhard Badura/Günter Feuerstein/Thomas Schott (Hg.), System Krankenhaus. Arbeit, Technik und Patientenorientierung, Weinheim 1993, S. 28–40, hier S. 35.

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rationalisierten und technikbasierten Handlungsabläufen auf die Pathologisierung und Medikalisierung des Sterbens ausgerichtet und nicht auf die Sterbe-Begleitung. Im Krankenhaus wird der Sterbende aus seinem Lebensumfeld herausgerissen und entpersonalisiert, als Patient entsprechend biomedizinischer Leitlinien versorgt und administrativ verwaltet. Vor allem die soziale, psychische und spirituelle Dimension des Sterbeprozesses sind hier systematisch ausgeblendet. Unberücksichtigt bleibt, dass die außeralltägliche Lebenssituation vom Betroffenen als letzte Lebensphase veralltäglicht werden muss – mit all den individuellen Wünschen, Bedürfnissen, Befindlichkeiten und abrupten Situationsänderungen. Im Repertoire der Handlungsorientierung von Medizinern ist das Sterben ebenso wenig vorgesehen wie in den Prozessabläufen der Krankenhausorganisation. Eine solche Charakterisierung des medizinischen Umgangs mit Sterbenden mag sehr drastisch klingen. Sie findet jedoch ihre Entsprechung in vielen Beschreibungen aus der Praxis, die sich auch in der Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte spiegelt. So beklagt Norbert Elias43 die »Einsamkeit des Sterbens«. Durch die Unterbringung des Sterbenden in eine anonyme Spezialeinrichtung sei das Sterben nicht mehr wie früher eine Angelegenheit, an der die Gemeinschaft Anteil hat.44 Barney Glaser und Anselm Strauss45 konnten durch teilnehmende Beobachtung auf Krankenstationen zeigen, dass dem biologischen Tod ein sozialer Tod vorausgeht. Der Sterbende werde, so die beiden Autoren, zunehmend sozial isoliert, da die Bezugspersonen eine offene Kommunikation scheuen. Oft ist die Rede von der entwürdigenden Praxis der Intensivmedizin mit ihren Apparaten und Schläuchen, von unterfinanzierten Pflegeheimen mit Zwangsernährung, Verwahrlosung und überlasteten Pflegern bzw. vom berüchtigten »Sterben in der Abstellkammer«46, vom »Sterben als Schlamassel«47 oder von prä-

43 Norbert Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt/M. 1991. 44 Philipp Ariès: Geschichte des Todes, München 1999, S. 716. 45 Barney J. Glaser/Anselm L. Strauss: Awareness of Dying, Chicago 1965. 46 R. Gronemeyer 2007: Sterben in Deutschland, S. 20f.; Werner Bartens: Das Ärztehasserbuch: Ein Insider packt aus, München 2007; Gerd Göckenjan: »Sterben in unserer Gesellschaft – Ideale und Wirklichkeiten«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 33 (2008), S. 7–14, hier S. 10. 47 G. Göckenjan/S. Dreßke: »Wandlungen des Sterbens im Krankenhaus und die Konflikte zwischen Krankenkontrolle und Sterberolle«, S. 80–96, hier S. 81f.

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terminalen Verlegungen, durch die Sterbende »abgeschoben« werden.48 Die Mitglieder der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages konstatierten, dass die Bedingungen des Sterbens »in zunehmendem Maße von Fremdbestimmtheit durch eine übermächtige Medizin und sozialer Isolation bedroht sind«.49 Abstrakter werden all diese Phänomene unter dem Stichwort »Todesverdrängung« bzw. -»tabuisierung« diskutiert.50 In der bisherigen Darstellung ging es darum, die Schwierigkeiten, die das moderne System der medizinischen Krankenbehandlung im Umgang mit Sterbenden hat, aus strukturell gegebenen Bedingungen abzuleiten. Rein statistisch betrachtet könnte man durchaus mit Christine Pfeffer51 argumentieren, dass »›Sterben‹ für das Krankenhaus als gesellschaftliche Institution beinahe eine Marginalie darstellt«. Pfeiffer stellt die Anzahl der im Krankenhaus behandelten Patienten den hier verstorbenen Patienten gegenüber. Im Jahr 2000 wurden in Deutschland etwas mehr als 17 Millionen Patienten aus dem Krankenhaus entlassen. Darunter gab es ca. 400.000 Sterbefälle (als Sonderform der Entlassung). Das heißt deutlich weniger als drei Prozent der Patienten beschlossen ihr Leben in dieser Einrichtung. Wenn man zudem bedenkt, dass sich Todesfälle von Krankenhauspatienten überwiegend auf bestimmte Stationen konzentrieren, insbesondere auf onkologische Stationen, Intensiv- und Palliativstationen, dann wird klar, dass tatsächlich nur sehr wenige Ärzte während ihres Berufslebens mit Sterbenden in Berührung kommen und sich intensiv mit dieser Situation auseinandersetzen müssen.52 Folgerichtig gehört es zur normalen Praxis, dass der Tod in den medizinischen Einrichtungen vielfach nicht zugelassen oder gar als Niederlage angesehen wird, mit der möglichst diskret umzugehen sei.53 Häufig kön-

48 Kay Blumenthal-Barby: »Sterben in Europa«, in: Ulrich Becker/Klaus Feldmann/Friedrich Johanssen (Hg.), Sterben und Tod in Europa. Wahrnehmungen, Deutungsmuster, Wandlungen, Neukirchen-Vluyn 1998, S. 64–71, hier S. 70. 49 Deutscher Bundestag (Hg.): Schlussbericht der Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin«, Drucksache 14/9020, 14.05.2002, S. 196. 50 Vgl. u. a. Arnim Nassehi/Georg Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Wiesbaden 1989; Klaus Feldmann: Tod und Gesellschaft. Eine soziologische Betrachtung von Sterben und Tod, Frankfurt/M. 1990; Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 292; Christine Pfeffer: »Hier wird immer noch besser gestorben als woanders«, S. 37ff. 51 C. Pfeffer: »Hier wird immer noch besser gestorben als woanders«, S. 47. 52 G. Göckenjan: Sterben in unserer Gesellschaft – Ideale und Wirklichkeiten, S. 10. 53 Vgl. Elmar Weingarten: »Bemerkungen zur sozialen Organisation des Sterbens im Krankenhaus«, in: Rolf Winau/Hans P. Rosemeier (Hg.), Tod und Sterben, Berlin

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nen Mediziner von Fachabteilungen jenseits der Intensivstation mit dem Tod nicht umgehen, weil dieser das Scheitern ihrer Therapie besiegelt.54 Der Tod ist gewissermaßen »Todfeind« der Medizin.55

ANSÄTZE EINER ALTERNATIVEN K ULTUR DER S TERBEBEGLEITUNG Die Todesverdrängung im fortgeschrittenen biomedizinischen Zeitalter zeigt sich nicht zuletzt in den Bestrebungen, Menschen künstlich am Leben zu halten. Mithilfe von Herz-Lungen-Maschine, Monitoringsystem zur Patientenüberwachung, Herzschrittmacher, PEG-Sonde etc. kann heute der Ausfall vitaler Funktionen (Atmung, Kreislauf, Homöostase und Stoffwechsel) wirkungsvoll kompensiert werden. Nur durch diesen technischen Fortschritt der Geräte- und Intensivmedizin sind überhaupt Organtransplantationen oder Eingriffe möglich, die im Zustand des künstlichen Komas durchgeführt werden müssen. Menschen können gerettet werden, für die es noch vor 50 Jahren aufgrund ihrer Erkrankung oder ihres Unfalls keine Überlebenschance gab. Es wird wohl kaum jemanden geben, der diese Form der medizinischen Intensivbehandlung ablehnt. Ganz anders sieht es bei Fällen aus, wo die Aufrechterhaltung der basalen Lebensfunktionen nicht als notwendige Voraussetzung für eine medizinische Therapie vorgenommen wird, sondern selbst die therapeutische Maßnahme darstellt – etwa bei schwer bzw. unheilbar Erkrankten und altersschwachen Patienten im finalen Lebensstadium oder (wie in dem eingangs genannten Fall) bei komatösen Patienten. Angesichts solcher Problemfälle gibt es in der Gesellschaft verstärkt kritische Nachfragen und Unsicherheit, und das uneingeschränkte Vertrauen gegenüber den Medizinern ist brüchig geworden. Auch innerhalb des medizinischen Systems selbst wird eine intensive Auseinandersetzung mit dem Dilemma der inadäquaten Behandlung Sterbender geführt und es werden Alternativen gesucht. Auf der Ebene der programmatischen Ausrichtung, der sozialen Praxis und der Organisationsstruktur zeigen sich diesbezüglich folgende Entwicklungen:

1984, S. 349–357; Jürgen Hübner: »Menschenwürde am Ende des Lebens«, in Peter Borscheid (Hg.), Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 109–121, hier S. 118; Klaus Laczika: »Intensivmedizin aus der Sicht eines ›Intensivisten‹. Von der Euphorie zur Demut«, in: Medical Tribune 39 (2007). 54 K. Laczika: »Intensivmedizin aus der Sicht eines ›Intensivisten‹«. 55 Frank Nager: »Der Arzt angesichts Sterben und Tod«, in: Ethik in der Medizin 10 (1998), S. 14–25, hier S. 14.

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Programmatische Zielorientierung Der binäre Leitcode krank versus gesund des modernen medizinischen Systems ist inzwischen durch Begleitcodierungen ergänzt bzw. ersetzt worden. Gängig ist heute die Unterscheidung zwischen heilbar krank und unheilbar krank. Damit wird dem oben beschriebenen Umstand Rechnung getragen, dass bei bestimmten Patientengruppen eine kurative Behandlung nicht (mehr) anspricht.56 Die Zielvorgabe für die Therapie ist hier modifiziert. Es geht vorrangig um die Gewährleistung eines würdevollen Lebens, insbesondere um die Minderung von Leiden und Schmerzen. Die höchste Fachorganisation der Ärzteschaft, die Bundesärztekammer (BÄK) unternahm in den letzten beiden Jahrzehnten mehrere Anläufe, um die uneingeschränkte ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung aufzuheben. So wurden 2004 Richtlinien und Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung verabschiedet, in dem es unter anderem heißt, dass ein offensichtlicher Sterbevorgang »nicht durch lebenserhaltende Therapie künstlich in die Länge gezogen werden« solle und Sterbenden so zu helfen sei, »dass sie unter menschenwürdigen Bedingungen sterben können«.57 Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Problem der Sterbebegleitung innerhalb der Ärzteschaft in den letzten drei Jahrzehnten tauchen Definitions- und Bewertungsprobleme auf, die deutlich mit dem herkömmlichen Professionsverständnis kollidieren. Die Probleme entzünden sich insbesondere an Fragen wie: Lässt sich ein »offensichtlicher Sterbevorgang« diagnostizieren? Wer darf überhaupt diese Diagnose stellen und damit die betreffende Person dem Tod freigeben? Handelt es sich hier um Sterbebegleitung, Sterbehilfe oder gar um eine justiziable Tötungshandlung? Bis zu welchem Zeitpunkt der finalen Lebensphase kann die Person selbst bestimmen und selbstverantwortlich handeln? Wo genau verläuft die Grenze zwischen Leben und Tod? Der Umstand, dass inzwischen Ethikkommissionen in Krankenhäusern, in der BÄK etc. eingerichtet wurden

56 Hierunter fallen neben den Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung auch Menschen mit Behinderung (beispielsweise nach einem Unfall oder aufgrund eines genetischen Defekts) oder mit schwerer zerebraler Schädigung und anhaltender Bewusstlosigkeit (»Wachkoma«). 57 Nachdem 1979 »Richtlinien für die Sterbehilfe« formuliert wurden, stellte die Bundesärztekammer nach einigen Diskussionsrunden (auch unter Beteiligung der Öffentlichkeit) 1998 »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung« auf, die die Vorlage für die Version von 2004 war. Allerdings ist die hier fixierte Position, die Beihilfe zum Suizid nicht ausschließt, durch den Kieler Ärztetag von 2011 wiederum aufgehoben worden. Darauf gehe ich im nächsten Abschnitt ein.

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und sich selbst die Enquete-Kommission des Bundestages mit Sterben als gesellschaftlichem Problem beschäftigt, verweist darauf, dass es (noch) keine – im pragmatischen Sinne – verbindlichen, eindeutigen und gesetzlich geregelten Vorgaben für den Umgang mit Sterbenden innerhalb des medizinischen Systems gibt. Letztlich stecken die Richtlinien der BÄK und der Enquete-Kommission nur den allgemeinen Rahmen ab, innerhalb dessen von Fall zu Fall der adäquate Umgang mit einem Sterbenden durch das betreuende Personal festgelegt und ausgehandelt wird. Gesetzlich geregelt ist in Deutschland lediglich die aktive Sterbehilfe. § 216 StGB verbietet eindeutig die gezielte Lebensverkürzung durch Tötung des Sterbenden, auch wenn sie auf Verlangen des Betroffenen erfolgt. Für die anderen beiden Formen der Sterbehilfe (indirekte und passive Sterbehilfe) existieren lediglich Gerichtsentscheidungen sowie standesethische Richtlinien und Stellungnahmen.58 Soziale Praxis Die Suche nach einem adäquaten Umgang mit Sterbenden innerhalb des medizinischen Systems führt auch zu Veränderungen von Handlungs- und Interaktionsformen seiner Akteure. Im Zentrum steht hierbei die Frage, wie Ärzte Patienten im finalen Lebensabschnitt gegenübertreten. Es ist bereits im vorhergehenden Abschnitt darauf hingewiesen worden, dass das im 20. Jahrhundert dominierende paternalistische Selbstverständnis der Ärzte mit ihrer »Father-knows-best«Autorität brüchig geworden ist und der Trend hin zu partnerschaftlichdeliberativen Ansätzen (patient-centredness; shared decision making) bzw. zu Vertragsmodellen (informed choice oder consumerism) geht. Nicht mehr das vom Arzt definierte Wohl und seine Fürsorge für den Kranken sind ausschlaggebend für die Interaktionsbeziehung, vielmehr soll dem Willen des mündigen Patienten bei der Behandlung gebührend Rechnung getragen werden bzw. dieser soll die vom Arzt zu erbringende Gesundheitsleistung selbst bestimmen können. Angestrebt wird im Idealfall ein Konsens zwischen Arzt und Patient. Eine solche partizipative Entscheidungsfindung setzt ein hohes Maß an souveräner Entscheidungsfähigkeit auf beiden Seiten voraus. Es ist jedoch evident, dass dies in Situationen, die für den Betroffenen eine existenzielle Lebenssituation darstellen, in der Regel nicht der Fall sein kann. Für eine Einigung in Form eines deliberativ

58 Alfred Simon: »Ethische Probleme am Lebensende«, in: S. Schulz et al. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, S. 446–478, hier S. 447f.

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ausgehandelten Konsenses fehlen somit die notwendigen Voraussetzungen.59 In den Richtlinien der BÄK ist zwar vom »Konsens« die Rede, bezeichnenderweise allerdings nicht zwischen Arzt und Patient: »Bei seiner Entscheidung soll der Arzt mit ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern einen Konsens suchen.«60 Ist der Betroffene selbst entscheidungs- und einwilligungsunfähig, nimmt er sein »Selbstbestimmungsrecht« mit einer vorab aufgesetzten Patientenverfügung, Vorsorgevollmachten und/oder einer Betreuungsverfügung wahr.61 Die darin fixierte Festlegung auf zu leistende oder eben nicht zu leistende medizinische Maßnahmen im finalen Lebensstadium bzw. in einer entsprechenden Grenzsituation ist für den Arzt bindend. Aber auch diese Option der Patientenverfügung – seit dem 1. September 2009 vom Gesetzgeber noch einmal ausdrücklich gesetzlich fixiert (§ 1901a und 1901b BGB) – unterläuft im Grunde das Prinzip der gemeinsam herbeigeführten Entscheidung. Der Arzt wird durch solche testamentarischen Vorsorgeerklärungen in einigen Fällen unweigerlich in die Rolle des Sterbe-Helfers gedrängt und der Verfasser einer solchen Erklärung definiert sich – bewusst oder unbewusst – als Kunde, der eine bestimmte Dienstleistung einfordert. Organisationsstruktur Die eingerichteten Palliativstationen in Krankenhäusern und die ambulanten Dienste sowie die Aufwertung der Palliativmedizin markieren die wohl wichtigsten organisationalen Veränderungen im Umgang mit Sterbenden innerhalb des medizinischen Systems. Auf der Grundlage von Erkenntnissen der Schmerztherapie, Symptomkontrolle und auch alternativer Behandlungsverfahren sehen Palliativmediziner ihre Aufgabe darin, das Sterben von Menschen so erträglich wie möglich zu gestalten. Der Fokus der Sterbebegleitung liegt auf der vom modernen medizinischen System ausgeklammerten Lebensqualität. Es geht nicht um

59 Vgl. Tanja Krones/Gerd Richter: »Die Arzt-Patient-Beziehung«, in: S. Schulz et al. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, S. 94–116, hier S. 106f.; Linus Geisler: »Arzt-Patient-Beziehung im Wandel – Stärkung des dialogischen Prinzips«, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Schlussbericht der Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin«, Drucksache 14/9020 (2002), S. 216–220, hier S. 218. 60 Bundesärztekammer: »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung«, in: Deutsches Ärzteblatt 101 (2004), S. A 1298–99, hier S. 1 (Hervorhebung durch Autor). 61 Ebd., S. 10.

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Heilung von Krankheiten (cure), sondern um die Pflege bis zum Tod (care). Lebensqualität bis zum Tod steht über todesverdrängender Lebenserhaltung. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Großbritannien, Norwegen und Schweden ist Deutschland freilich ein Entwicklungsland, was die Palliativmedizin anbelangt. Der erste Lehrstuhl wurde hierzulande erst 1999 in Bonn eingerichtet, inzwischen wird Palliativmedizin auch in Aachen, Köln, Göttingen, München und Witten-Herdecke gelehrt. 2003 wurden in der Musterweiterbildungsordnung der BÄK-Richtlinien zur Erlangung der Zusatzbezeichnung »Palliativmedizin« für Ärzte formuliert. Seit April 2007 ist die Palliativmedizin durch eine Novellierung im Sozialgesetzbuch V rechtsverbindlich geregelt. Gab es 1986 lediglich eine einzige Palliativstation, ist die Zahl bis 2008 auf 180 angewachsen. Im selben Zeitraum stieg die Anzahl ambulanter Palliativdienste von 10 auf 60.62

AUSBLICK : E TABLIERT

SICH EIN NEUES GESELLSCHAFTLICHES S UBSYSTEM DER S TERBEBEGLEITUNG ? Will man die eben skizzierten Entwicklungen hinsichtlich des Umgangs mit Sterbenden innerhalb des medizinischen Systems bewerten, kann man ›das Glas halb voll oder halb leer‹ sehen. Einerseits lässt sich dem medizinischen System attestieren, dass es auf einem guten Weg ist: Die grundsätzlichen immanenten Probleme wurden erkannt, diskutiert und es gibt eine Reihe von Bemühungen, gegenzusteuern. Die Palliativmedizin, die die alternative Kultur der Sterbebegleitung verkörpert und sich innerhalb der Medizin etablieren konnte, erscheint als eine neue Randzone des modernen medizinischen Systems. In ähnlicher Weise wie bei der Schönheitschirurgie, der Doping- und Neuro-EnhancementForschung oder der Reproduktionsmedizin wird hier die grundlegende binäre Codierung gesund versus krank attackiert und die Zielorientierung der Heilung und strikten Lebenserhaltung stark modifiziert. Zu einer pessimistischen Sicht gelangt man dagegen, wenn man davon ausgeht, dass das medizinische System per se nicht in der Lage ist, die strukturell angelegten Probleme im Umgang mit Sterbenden zu lösen. Das System müsste sich grundlegend wandeln; vor allem müsste der Code krank versus gesund voll-

62 http://www.dgpalliativmedizin.de, letzter Zugriff am 22.11.2010.

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ständig aufgegeben werden.63 Solange jedoch das medizinische System mit dieser Leitdifferenz operiert, wird systematisch ein Rollenkonflikt bei den Medizinern produziert, die sterbende Patienten behandeln: Einerseits müssen sie den Kranken heilen und dessen Leben (quantitativ) erhalten, andererseits müssen sie das Leben des unheilbar Kranken (qualitativ) erträglich machen und dessen Tod zulassen, ja unter Umständen sogar befördern. Die Schwierigkeit, innerhalb der Profession mit diesem Rollenkonflikt umzugehen, offenbarte sich jüngst beim Deutschen Ärztetag im Mai/Juni 2011 in Kiel. Hier wurde die 2004 eingeführte Liberalisierung der ärztlichen Suizidbegleitung wieder zurückgenommen. Die Mehrheit der vertretenen Ärzte beschloss eine Änderung der Berufsordnung (§ 16 MBO): »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten«.64 Mit diesem strikten Verbot unterläuft die BÄK die bundesdeutsche Rechtsprechung insofern, als die Beihilfe zum Suizid in Deutschland straffrei ist. Eine konsequente Umsetzung der vielfach geforderten neuen Kultur der Sterbebegleitung fordert nicht nur das ›klassische‹ biomedizinische Professionsverständnis heraus, sondern auch die schulmedizinische Behandlungspraxis mit

63 Wie bereits an anderen Stellen dieses Beitrages basiert auch diese ›pessimistische‹ Sicht auf einer systemtheoretischen Denkweise. Nach Luhmann haben autopoietische Systeme die Eigenschaft, die Komplexität der Umwelt mithilfe eines jeweils spezifischen binären Codes zu reduzieren. Diese Leitcodes – im Fall des medizinischen Systems krank versus gesund – sind Unterscheidungen, mit dem das System erkennt, welche Operationen anschlussfähig sind und zu seiner Reproduktion beitragen und welche nicht. Somit verhindern Codes, dass systemfremde Faktoren das System beeinträchtigen und nachhaltig beeinflussen. Bezogen auf den hier behandelten Kontext bedeutet dies, dass zwar das Sterben kranker Patienten vom medizinischen System als eine Irritation wahrgenommen wird, diese aber folgenlos bleibt. Das System ändert nicht seinen Leitcode (krank/gesund) und die daran ausgerichteten Programme. Sterben ist für das moderne Funktionssystem der Medizin nicht anschlussfähig. Das medizinische System hat nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird – wie im zweiten Abschnitt beschrieben – ein Sterbender als »Kranker« innerhalb des Systems behandelt (Pathologisierung) oder er wird aus dem System entlassen. Auch die schon erwähnte Zweitcodierung unheilbar krank kann das Dilemma, dass Sterbende als Kranke behandelt werden, nicht auflösen – im Gegenteil. 64 Pressemitteilung der Bundesärztekammer vom 1.6.2011, zitiert nach: http://www. bundesaerztekammer.de/page.asp?his=3.71.8899.9327.9345, 5.6.2011.

letzter

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dem hohen Technisierungsgrad bei der künstlichen Lebensverlängerung. Der Umstand, dass Sterbebegleitung und Medizin am Lebensende keine systematisch vermittelten Bestandteile des Curriculums von Ärzten sind und der Stellenwert der Palliativmedizin innerhalb des medizinischen Systems letztlich gering ist,65 könnte ebenfalls dafür sprechen, dass sich eine neue Kultur der Sterbebegleitung innerhalb des modernen medizinischen Systems nicht durchsetzen wird. Wie der Umgang mit dem Sterben und dem Tod in der Zukunft aussehen wird, ist davon abhängig, ob es als ein gesellschaftsrelevantes Problem wahrgenommen wird und wie sich die relevanten Akteure, Organisationen und Institutionen darauf einstellen. Möglicherweise bilden sich neuartige gesellschaftliche Strukturen heraus, die besser mit dem Problem des Sterbens umgehen können, als es momentan der Fall ist. Sterbegleitung würde in diesem Fall – so die abschließende These in diesem Beitrag – aus dem biomedizinischen System ausgelagert. Für diese Prognose eines sich neu herausbildenden gesellschaftlichen Subsystems, das auf die Sterbebegleitung von Menschen spezialisiert ist, sprechen meines Erachtens zwei beobachtbare Phänomene: einerseits die öffentliche Thematisierung der unwürdig empfundenen Behandlung Sterbender in Krankenhäusern und Forderung nach Selbstbestimmung des Patienten, die sich in der Bevölkerungsmeinung zum Sterbeort, zur Sterbehilfe und zur Patientenverfügung widerspiegelt; andererseits das verstärkte Angebot von Sterbehilfe bzw. -begleitung als Dienstleistung. In den letzten 30 Jahren ist in vielen Ländern Sterbehilfe bzw. -begleitung tatsächlich zu einem öffentlich stark diskutierten Thema geworden. Insbesondere das in den Niederlanden verabschiedete Gesetz im April 2001, welches aktive Sterbehilfe bei unheilbar Schwerkranken und nach einem festgelegten Reglement legalisiert, löste auch hierzulande eine emotional stark aufgeladene ethische Debatte mit konfligierenden Positionen aus. Die Konfliktträchtigkeit dieser Debatten resultiert vor allem daraus, dass Common-Sense-Vorstellungen über das Leben, das Sterben und den Tod in sehr zugespitzter Form zur Disposition

65 Gegenwärtig ist Palliativmedizin kein Pflichtlehr- bzw. Prüfungsfach der ärztlichen Grundausbildung, sondern nur ein optionales Fach bzw. eine Zusatzweiterbildung. Zudem gibt es faktisch ein palliativmedizinisches Versorgungsdefizit von behandlungsbedürftigen körperlichen und seelischen Leiden bei Menschen mit unheilbaren Erkrankungen in der letzten Lebensphase. In Deutschland erhält nur jeder fünfte Bedürftige eine solche Begleitung. Von dieser »Versorgungslücke« sind laut Patientenschutzorganisation Deutsche Hospizstiftung derzeit ca. 400.000 Menschen jährlich betroffen, vgl. http://www.hospize.de/docs/hib/HPCV-Studie 2010.pdf, letzter Zugriff am 1.3.2011.

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gestellt werden und der medizinische Umgang mit Sterbenden unter Legitimationszwang geraten ist. Exemplarisch kann anhand der Sterbehilfe-Debatten beobachtet werden, wie fragil die Grenzen des modernen Werte- und Normengefüges tatsächlich sind und wie diese Grenzen im Zuge der gesellschaftlichen Kommunikation überschritten werden (können). Da auch das (historisch betrachtet) letzte hegemoniale Deutungsmuster in Hinblick auf das Sterben – die biomedizinische Pathologisierung der terminalen Lebensphase – brüchig geworden ist, sind die Gesellschaftsmitglieder zwangsläufig immer mehr auf ihre eigenen Sinndeutungen und normativen Wertungen zurückgeworfen. Diese Entwicklung ist nicht etwa Ausdruck einer Irrationalität. Vielmehr entspricht sie der ›Logik‹ moderner Gesellschaften. Charakteristisch für diesen Gesellschaftstyp ist die Pluralität von Weltbildern und Moralvorstellungen. Anstelle einer dogmatischen Deutungshegemonie (wie etwa in traditionalen Gesellschaften) gibt es einen permanenten symbolischen Kampf um Deutungsmacht.66 Befürworter der Sterbehilfe argumentieren, dass jede Person das Recht haben sollte, über den eigenen Tod selbst zu entscheiden. Das Verfassungsrecht auf Selbstentfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 (1) GG) müsse auch das Recht auf selbstbestimmten Tod mit einschließen. Der Umstand, dass das Sterben mithilfe einer anderen Person ausgeführt wird, dürfe aber nicht zur Benachteiligung durch die Rechtsprechung führen. Die Sterbehilfegegner lehnen aktive Sterbehilfe als Tötung auf Verlangen ab und fordern die konsequente Bestrafung. Anstatt Töten leicht zu machen, müsse es darum gehen, Leben erträglicher zu machen. Mit Verweis auf die NS-Vergangenheit befürchten sie die Wiederkehr eines gesellschaftlichen Klimas der sozialen Erwünschtheit von Euthanasie praktiken, denen sich die Betroffenen selbst und deren Angehörigen mehr oder weniger freiwillig unterwerfen. Auch die relevanten Einstellungen in der Bevölkerung zeugen von einem hohen Problembewusstsein. Wie bereits erwähnt, wünscht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause zu sterben. Zudem hat die Position der Euthanasiebefürworter eine sehr hohe Akzeptanz, über zwei Drittel sind dafür.67 Auch die zunehmende Verbreitung von Patienten-

66 Ausführlicher zum symbolischen Kampf um Deutungsmacht und zu den dadurch initiierten normativen Grenzverrückungen: Uwe Krähnke: Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee, Weilerswist 2007, S. 132ff., 190ff. 67 Nach einer repräsentativen Umfrage 2001 (Allensbacher Berichte 2001/Nr. 9) plädieren knapp 70 Prozent der Befragten für die Straffreiheit eines Arztes, der Patienten auf Verlangen ein tödliches Medikament besorgt. Nach einer neueren Forsa-Umfrage im

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verfügungen68 kann als ein Indiz dafür gesehen werden, dass die gängige Umgangsweise mit Sterbenden innerhalb des modernen medizinischen Systems mit den Erwartungshaltungen der Menschen nicht mehr Schritt hält. Auf die öffentlichen Debatten und die Einstellungen in der Bevölkerung hat der Gesetzgeber reagiert. Die gegenwärtige Rechtsprechung in Deutschland hat den gesellschaftlichen Konflikt um die Sterbehilfe insofern befriedet, als dass sie einerseits die Patientenautonomie gestärkt und andererseits die Praxis der aktiven Sterbehilfe eindeutig verboten hat. Anzunehmen ist jedoch, dass der erreichte Kompromiss nur eine temporäre Problemlösung darstellt und ›das Ende der Fahnenstange‹ noch längst nicht erreicht ist. Hinter den Debatten über Sterbehilfe und -begleitung sowie über das ›gute‹, respektive ›würdige‹ Sterben steckt mehr als nur ein reines Diskursphänomen. Hier erfolgen Weichenstellungen, wie zukünftig die Gesellschaft mit Sterbenden umgehen wird. Bereits jetzt sind diesbezüglich – jenseits des modernen medizinischen Systems – neuartige institutionelle Arrangements und alternative soziale Praxen im Entstehen begriffen.69 Die wohl gravierendste Entwicklung stellt das verstärkte Angebot an Sterbehilfe bzw. -begleitung als Dienstleistung dar. Neben den bereits erwähnten Palliativstationen spielen hierbei die Hospize eine zentrale Rolle. Hospize basie-

Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben von 2007 sind 68 Prozent der Meinung, dass die Sterbehilfe – angefangen von der mitmenschlichen Sterbebegleitung bis hin zur Tötung Kranker auf Verlangen – gesetzlich geregelt werden sollte (http://www.dghs.de, letzter Zugriff am 1.12.2010). 68 Etwa 9 Millionen Menschen haben eine Patientenverfügung hinterlegt. Anzumerken ist, dass genaue Zahlen nicht vorliegen. Eine andere empirische Erhebung kommt zu dem Schluss, dass die Größenordnung zwischen 7 bis 14 Prozent der Erwachsenen liegt. Vgl. Frieder R. Lang/Gert G. Wagner: »Patientenverfügungen in Deutschland: Empirische Evidenz für die Jahre 2005 bis 2007«, in: SOEPpapers 71 (2007), S. 2. 69 In dieselbe Richtung zielt Ursula Streckeisen, die eine »neuere Institutionalisierung des Sterbens« beobachtet (Ursula Streckeisen: Die Medizin und der Tod. Überberufliche Strategien zwischen Klinik und Pathologie, Opladen 2001, S. 38ff.). Gerd Göckenjan/Stefan Dreßke gehen von einem »Wandel in der Medikalisierung und Institutionalisierung des Sterbens aus (G. Göckenjan/S. Dreßke: »Wandlungen des Sterbens im Krankenhaus und die Konflikte zwischen Krankenkontrolle und Sterberolle«, S. 80f.); Michael de Ridder fordert eine neue »Kultur der Sterbebegleitung« (Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin, München 2010); vgl. auch C. Pfeffer: »Hier wird immer noch besser gestorben als woanders«, S. 54 ff.

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TECHNISIERUNG

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ren auf der normativen Leitidee des »guten Todes« (»Euthanathos«) und haben sich als »späte Institution – in ambulanter oder stationärer Variante«70 – Ende des letzten Jahrhunderts etabliert. Sie sind auf die ganzheitliche Pflege (physische, psychische, spirituelle und soziale Betreuung) schwer kranker oder sterbender Menschen und auf Hilfeleistungen für die Angehörigen spezialisiert.71 Mittlerweile gibt es in Deutschland über 160 stationäre Hospize und ca. 1500 ambulante Hospize – Tendenz steigend. Ca. 80.000 Freiwillige unterstützen die Arbeit in diesen Einrichtungen bzw. in der Hospizbewegung.72 Trotz einer engen Kooperation mit Einrichtungen und Organisationen der Palliativmedizin sind Hospize in organisationaler Hinsicht nicht Bestandteil des medizinischen Systems; sie sind stärker im Pflegesystem integriert. Inzwischen werden stationäre Einrichtungen zu 90 Prozent von den Krankenkassen gefördert, die ambulanten Hospize sind deutlich schlechtergestellt. Im Gegensatz zur hospizialen Sterbebegleitung und Palliativpflege bieten inzwischen Organisationen und Einzelpersonen Sterbehilfe bzw. -begleitung gegen direkte Bezahlung an. Die wohl bekannteste Sterbehilfeorganisation dieser Art ist Dignitas aus der Schweiz. In dem 1998 gegründeten und seit 2005 durch eine Sektion auch in Deutschland vertretenen Verein erhalten Mitglieder auf Anfrage Beratung, Begleitung und Beihilfe zum Suizid. Die Suizidbeihilfe in der Schweiz kostete 2007 5900 Euro, für Ausländer 7000 Euro.73 Nach eigenen Angaben haben bis Ende 2009 insgesamt 1041 Menschen die Sterbehilfe von Dignitas in Anspruch genommen, davon fast 60 Prozent Deutsche.74 Der entstehende Dienstleistungsmarkt für Sterbehilfe- bzw. -begleitung bringt auch ein neues Expertensystem und neue Berufsfelder hervor. Neben Palliativmedizinern werden Pfleger mit der Spezialisierung in Palliativpflege

70 R. Gronemeyer: Sterben in Deutschland, S. 147. 71 Die Ursprünge der Hospizbewegung gehen auf die britische Krankenschwester und Ärztin Cicely Saunders zurück, die 1967 das St. Christopher’s Hospice in London gründete. Sie entwickelte zudem das Konzept der ambulanten Hospizarbeit; vgl. Oliver Seitz/Dieter Seitz: Die moderne Hospizbewegung in Deutschland auf dem Weg ins öffentliche Bewusstsein. Ursprünge, kontroverse Diskussionen, Perspektiven, Herbolzheim 2002, S. 71 ff.; C. Pfeffer: »Hier wird immer noch besser gestorben als woanders«, S. 58f. 72 Vgl. http://www.hospiz.net/bag/index.html, letzter Zugriff am 22.11.2010. 73 Dietmar Mieth: Grenzenlose Selbstbestimmung? Der Wille und die Würde Sterbender, Ostfoldern 2008, S. 12. 74 Vgl. http://www.dignitas.ch/Taetigkeitsberichte/FTB nach Jahr und Domizil 19982009.pdf, letzter Zugriff am 22.11.2010.

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ausgebildet; es gibt Sozialpädagogen/-arbeiter mit dem Aufgabenfeld der Trauerbegleitung sowie – wenn auch (noch) nicht staatlich anerkannte – Sterbeammen/-gefährten, die dem Sterbenden und den Nahestehenden in der finalen Lebensphase, beim Tod, und bei Beisetzungs- sowie Trauerritualen zur Seite stehen;75 auf Medizinrecht spezialisierte Rechtsanwälte kümmern sich um die Formulierung und Durchsetzung von individuellen Sterbewünschen und vorab verfügten Patientenwillen; nicht zuletzt sorgen spezielle Case Manager für einen reibungslosen und professionell gestalteten Ablauf von Sterbe- und Trauerritualen. »Etwa fünfzig Experten könnten heute«, wie Gronemeyer76 salopp anmerkt, »um das Bett eines Sterbenden herumstehen.« Flankiert wird dieser Dienstleistungsboom von einer anschwellenden Ratgeberliteratur rund um das Sterben, den Tod und das Trauern77 und öffentlich gemachten Selbstzeugnissen von Menschen in der Sterbephase bzw. von deren Angehörigen. Ob die hier geäußerte Prognose, dass das Sterben aus dem medizinischen System ausgelagert wird und sich ein neues gesellschaftliches Subsystem mit der Spezialisierung auf Sterbebegleitung herausbildet, tatsächlich zutrifft, wird die Zukunft zeigen. Auf alle Fälle kann aufgrund der in vielen westlichen Gesellschaften zu beobachtenden demografischen Überalterung der Bevölkerung und den Effekten der Multimorbidität und der langen Sterbephase von Hochbetagten davon ausgegangen werden, dass mit der gängigen Umgangsform – Pathologisierung, Hospitalisierung und Technisierung der letzten Lebensphase im Rahmen des modernen medizinischen Systems – das Sterben als gesellschaftsrelevantes Problem nicht in den Griff zu bekommen ist.

75 In der Regel vergleichen sich Sterbeammen/-gefährten mit Hebammen. Exemplarisch ist die Selbstdarstellung einer Sterbeamme, in der sie ihr Anliegen wie folgt definiert: »Eine einfühlsame und professionelle Pflege, ein ruhiges Sterben zu Hause, sowie einen heilsamen Abschied zu ermöglichen und die Sprachlosigkeit in der Trauer aufzuheben, ist mein Anliegen« (http://www.stillesleben.de/Willkommen.html, letzter Zugriff am 22.11.2010). 76 R. Gronemeyer: Sterben in Deutschland, S. 37. 77 Vgl. Armin Nassehi/Susanne Brüggen/Imhild Saake, für die die Ratgeberliteratur ein »Seismograph für die Prominenz gesellschaftlicher Probleme« in der modernen Gesellschaft ist. Die «Geschwätzigkeit des Todes« erklären sie mit dem Verlust kollektiv geteilter Handlungs- und Bewältigungsmuster in Bezug auf das Sterben; Armin Nassehi/Susanne Brüggen/Imhild Saake: »Beratung zum Tode. Eine neue ars moriendi?«, in: Berliner Journal für Soziologie 12 (2002), S. 63–85, hier S. 63.

Autorinnen und Autoren

Gina Atzeni ist Diplom-Soziologin und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschergruppe »Religion in bioethischen Diskursen« der EvangelischTheologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Stefan Beck, Dr. phil., ist Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aus sozialanthropologischer Perspektive arbeitet er über Wissenskulturen, materielle Kultur und Lebenswissenschaften. Neuere Veröffentlichungen: »Enculturing Brains through Patterned Practices«, in: Special Issue of Neural Networks on Social Cognition. From Babies to Robots, 23 (2010), S. 1051–1059 (zusammen mit Andreas Roepstorff und Jörg Niewöhner); »Staging bone marrow donation as a ballot: Reconfiguring the social and the political using biomedicine in Cyprus«, in: Special Issue Medical Migrations, Body & Society (2011), S. 93–119. Alfons Bora, Dr. phil., Ass. iur., ist Professor für Soziologie (Technikfolgenabschätzung) am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung und an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Techniksoziologie, Rechtssoziologie und qualitative Methoden. Zuletzt erschienen: Technology Governance: Der Beitrag der Technikfolgenabschätzung, Berlin 2010 (herausgegeben mit Georg Aichholzer, Stephan Bröchler, Michael Decker und Michael Latzer); Democratic Transgressions of Law: Governing Technology Through Public Participation (herausgegeben mit Heiko Hausendorf), Leiden & Boston 2010. Anne Brüninghaus, Dipl.-Päd., Studium der Erziehungswissenschaft, Biologie und Soziologie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Forschungsprojekt »THCL – Holistische Konzepte des Lebens: Erkenntnistheoretische und soziokulturelle Implikationen der Systembiologie« im Forschungsschwerpunkt

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BIOGUM der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Entscheidungsfindungsprozesse in der zweiten Moderne sowie Implikationen biotechnologischer Innovationen auf den medialen, öffentlichen und politischen Diskurs. Sascha Dickel, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Marburg, Frankfurt, Bielefeld und Cardiff. Er ist Postdoktorand am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der Zukünfte, rekonstruktive Sozialforschung, Enhancement und Emerging Technologies. Zuletzt erschienen: EnhancementUtopien: Soziologische Analysen zur Konstruktion des Neuen Menschen, Baden-Baden 2011. Julia Diekämper, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Gentechnologiebericht der BBAW. Sie promovierte an der Universität Bremen mit dem Projekt »Enfant terrible – Ein Kind als Schaden? Eine komparatistische Medienanalyse des biopolitischen Reproduktionsdiskurses«. Forschungsschwerpunkte sind Biopolitik und Diskursanalyse. Zuletzt erschien: Reproduziertes Leben. Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik, Bielefeld 2011. Günter Feuerstein, PD Dr. phil., ist Wissenschaftler am Forschungsschwerpunkt BIOGUM, Forschungsgruppe Medizin/Neurowissenschaften, der Universität Hamburg. 1995 Habilitation an der Universität Bielefeld zum Thema: Das Transplantationssystem. Dynamik, Konflikte und ethisch-moralische Grenzgänge, Weinheim und München 1995. Forschungsschwerpunkte: Medizin- und Techniksoziologie, Health-Technology-Assessment, Soziologie der biomedizinischen Ethik, Wissenschaftsforschung (aktuell zum Thema: Psycho-Neuro-Konvergenzen). Martina Franzen, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Wissenschafts- und Mediensoziologie und biomedizinischer Begleitforschung. Aktuelle Publikationen: Breaking News: Wissenschaftliche Zeitschriften im Kampf um Aufmerksamkeit, Baden-Baden 2011; The Sciences’ Media Connection – Public Communication and its Repercussions. Sociology of the Sciences Yearbook 28, Dordrecht (im Erscheinen) (herausgegeben mit Simone Rödder und Peter Weingart). Nils B. Heyen, Dipl.-Soz., promoviert am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Wissen-

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schafts- und Technikforschung, Professionssoziologie und rekonstruktive Methoden der empirischen Sozialforschung. Zuletzt erschienen: »Das Prinzip der Nichtdirektivität in der humangenetischen Beratung: Eine professionssoziologische Kritik«, in: Jochen Vollmann/Jan Schildmann/Alfred Simon (Hg.): Klinische Ethik, Frankfurt/M. 2009, S. 261–275. Peter Hucklenbroich, Dr. med. Dr. phil., ist Universitätsprofessor für Theorie und Geschichte der Medizin an der Universität Münster. Er hat u. a. über die Theorien des Erkenntnisfortschritts in den Naturwissenschaften, die medizinische Theorie des menschlichen Organismus und die Anwendbarkeit von Methoden der Künstlichen Intelligenz in der Medizin gearbeitet. Sein gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt ist die Wissenschaftstheorie der Medizin, insbesondere die Theorie des Krankheitsbegriffs. Fabian Karsch, M.A., Soziologe, ist Doktorand an der Universität Augsburg und Mitglied im Promotionsschwerpunkt »Biomedizin – Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis« des Evangelischen Studienwerks Villigst e.V. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Medizin- und Gesundheitssoziologie. Aktuelle Veröffentlichungen: »Die Prozessierung biomedizinischen Körperwissens am Beispiel der ADHS«, in: Reiner Keller/Michael Meuser (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden 2011; »Biomedizinische Machbarkeit im Spannungsfeld von Ökonomie und professioneller Praxis«, in: Peter Böhlemann/Almuth Hattenbach/Lars Klinnert/Peter Markus (Hg.), Der machbare Mensch: Moderne Hirnforschung, biomedizinisches Enhancement und christliches Menschenbild, Berlin 2010, S. 85–96. Christoph Kehl, M.A. und dipl. Natw. ETH Zürich, studierte Umweltnaturwissenschaften in Zürich und Philosophie in Berlin. In seiner gerade abgeschlossenen Doktorarbeit hat er sich mit Theorie und Praxis der biomedizinischen Gedächtnisforschung auseinandergesetzt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von empirischer Wissenschafts- und Technikforschung sowie Wissenschaftstheorie. Zuletzt erschien: Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft, Bielefeld 2008 (herausgegeben mit Jörg Niewöhner und Stefan Beck). Regine Kollek, Dr. rer. nat., Professorin für Technologiefolgenabschätzung der modernen Medizin im FSP Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Technikfolgenabschätzung; wissenschaftstheoretische, wissenssoziologische und ethische Fragen der modernen Lebens-

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wissenschaften. Zuletzt erschienen: Ethical and Legal Requirements for Transnational Genetic Research, München 2010 (zusammen mit Nikolaus Forgó, Marian Arning, Tina Krügel und Imme Petersen). Uwe Krähnke, Dr. phil., Soziologe mit den Schwerpunkten Allgemeine Soziologie, Kultur und Gesellschaft sowie interpretative Methoden der Sozialforschung; bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der TU Chemnitz; Promotion 2004; derzeit Vertretungsprofessur am Institut für Kultur-, Literatur- und Musikwissenschaft an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Veröffentlichung zum Tagungsthema: Selbstbestimmung: Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee, Weilerswist 2007. Rolf van Raden, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Seine Forschungsschwerpunkte sind Diskursanalyse, Psychiatriegeschichte, Verschränkung von politischsozialen und literarischen Diskursen. Aktuelle Veröffentlichungen: »Psychiatrie der Prävention: Diskursverschränkungen von Medizin und Sicherheit«, in: Kriminologisches Journal 4 (2010), S. 289–302, sowie Patient Massenmörder: Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse, Edition DISS Band 25, Münster 2009. Christoph Rehmann-Sutter, Prof. Dr. phil., dipl. biol., ist Professor für Theorie und Ethik der Biowissenschaften an der Universität zu Lübeck und Gastprofessor an der London School of Economics. Er promovierte 1995 an der Technischen Universität Darmstadt über die Beschreibung von Leben als Wahrnehmungspraxis. Habilitation für Philosophie im Jahr 2000 an der Universität Basel. Von 2001 bis 2009 war er Präsident der Schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin. Die Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Bioethik und Medizinethik. Zuletzt erschienen: Governing Future Technologies: Nanotechnology and the Rise of an Assessment Regime, Dordrecht 2010 (herausgegeben mit Mario Kaiser, Monika Kurath und Sabine Maasen). Elke Wagner, Dr. phil., ist Juniorprofessorin für Mediensoziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie promovierte 2010 an der LudwigMaximilians-Universität München mit der Dissertationsstudie »Der Arzt und seine Kritiker. Zum Strukturwandel medizinkritischer Öffentlichkeiten am Beispiel klinischer Ethik-Komitees«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen sowohl in der Soziologie der Öffentlichkeit und der Kritik als auch in der Soziologie der Medizin und der Bioethik.

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Peter Wehling, Dr. phil, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Augsburg und Privatdozent für Soziologie an der Universität München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Wissenschafts- und Techniksoziologie, Wissenssoziologie, Soziologie der Biopolitik sowie Gesellschaftstheorie und Soziologische Theorie. Zuletzt erschienen: Entgrenzung der Medizin: Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?, Bielefeld 2011 (herausgegeben mit Willy Viehöver); Soziologie des Vergessens, Konstanz 2011 (herausgegeben mit Oliver Dimbath).

VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.) Das Selbst als Netzwerk Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag 2010, 228 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1599-9

Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik 2010, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1

Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? 2010, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1425-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8

Jörg Niewöhner, Janina Kehr, Joëlle Vailly (Hg.) Leben in Gesellschaft Biomedizin – Politik – Sozialwissenschaften Mai 2011, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1744-3

Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? März 2011, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1319-3

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