Spannungsfeld »Gesellschaftliche Vielfalt«: Begegnungen zwischen Wissenschaft und Praxis [1. Aufl.] 9783839429648

Understanding societal diversity in all its dimensions requires trans-disciplinary collaboration between science and pra

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German Pages 236 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Transdisziplinäre Erfahrungen im Spannungsfeld‚Gesellschaftliche Vielfalt‘. Eine Einleitung
Zwischen Diversitätsrhetorik und kolonialer Praxis. Wovon sprechen wir, wenn wir von Integration sprechen?
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit im Kontext des europäischen Minderheitenschutzes
Diskriminierung – Eine sozialpsychologische Ursachensuche: Vorurteile, Stereotype und Intergruppenprozesse
„Bettlerhauptstadt“: Bedrohungs- und Feindbilder in der Berichterstattung über Armutsmigrant_innen
Migration als historische Normalität am Beispiel des Migrationsraums Steiermark ab 1945
Menschenrechte zwischen Anspruch und Realität: Von der Menschenrechtsstadt Graz zur Menschenrechtsregion Steiermark
Sprachenfreundliche Räume schaffen: die Wertschätzung von Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext am Beispiel des Projekts ZusammenReden
Die transnationale Familie als Ort fluider Identitäten
Warum Frauen soviel arbeiten und sowenig verdienen
Alter(n) – Vielfalt erforschen
Die Kunst, Vielfalt dar- und nachzustellen
Vielschichtige, veränderbare „Heimaten“
Autorinnen und Autoren
Anhang
Veranstaltungsprogramm „Spannungsfeld Gesellschaftliche Vielfalt“
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Spannungsfeld »Gesellschaftliche Vielfalt«: Begegnungen zwischen Wissenschaft und Praxis [1. Aufl.]
 9783839429648

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Katharina Scherke (Hg.) Spannungsfeld »Gesellschaftliche Vielfalt«

Gesellschaft der Unterschiede | Band 23

Katharina Scherke (Hg.)

Spannungsfeld »Gesellschaftliche Vielfalt« Begegnungen zwischen Wissenschaft und Praxis

Ein Projekt des Forschungsschwerpunkts »Heterogenität und Kohäsion« der Universität Graz und von ISOP, in Kooperation mit dem Land Steiermark im Rahmen der Integrationspartnerschaft Steiermark.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Gemeinsam an einem Tisch«, Kunstverein Baodo im GrazMuseum 2012 bei der Ausstellung »Schauplatz Annenviertel!«, Foto: Thomas Raggam. Satz: Mag. Elisabeth Klöckl-Stadler, www.zwiebelfisch.at Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2964-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2964-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Katharina Scherke  | 7 Transdisziplinäre Erfahrungen im Spannungsfeld ‚Gesellschaftliche Vielfalt‘. Eine Einleitung

Katharina Scherke  | 9

Zwischen Diversitätsrhetorik und kolonialer Praxis. Wovon sprechen wir, wenn wir von Integration sprechen?

Robert Reithofer  | 23

Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit im Kontext des europäischen Minderheitenschutzes

Joseph Marko  | 41

Diskriminierung – Eine sozialpsychologische Ursachensuche: Vorurteile, Stereotype und Intergruppenprozesse

Julian Anslinger, Ursula Athenstaedt  | 53

„Bettlerhauptstadt“: Bedrohungs- und Feindbilder in der Berichterstattung über Armutsmigrant_innen

Stefan Benedik  | 75

Migration als historische Normalität am Beispiel des Migrationsraums Steiermark ab 1945

Karin M. Schmidlechner, Ute Sonnleitner, Verena Lorber, Manfred Pfaffenthaler  | 97

Menschenrechte zwischen Anspruch und Realität: Von der Menschenrechtsstadt Graz zur Menschenrechtsregion Steiermark

Wolfgang Benedek  | 125

Sprachenfreundliche Räume schaffen: die Wertschätzung von Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext am Beispiel des Projekts ZusammenReden

Barbara Schrammel-Leber  | 141

Die transnationale Familie als Ort fluider Identitäten

Silvia Schultermandl  | 155

Warum Frauen soviel arbeiten und sowenig verdienen ...

Margareta Kreimer  | 171

Alter(n) – Vielfalt erforschen

Claudia Gerdenitsch  | 187

Die Kunst, Vielfalt dar- und nachzustellen

Joachim Hainzl  | 195

Vielschichtige, veränderbare „Heimaten“

Helmut Konrad  | 213

Autorinnen und Autoren  | 223

Anhang Veranstaltungsprogramm „Spannungsfeld Gesellschaftliche Vielfalt“  | 231

Vorwort

Eine Vielzahl von Personen hat zum Gelingen der vorliegenden Publikation und der vorhergegangenen Veranstaltungsreihe beigetragen – an dieser Stelle sei ihnen allen herzlicher Dank ausgesprochen! Mein Dank gilt insbesondere Bettina Vollath (Landesrätin für Finanzen, Frauen und Integration in der steirischen Landesregierung), die sich auf die Idee, eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Spannungsfeld Gesellschaftliche Vielfalt“ zu organisieren, in großer Offenheit und mit spürbarem Engagement einließ und die Reihe – sowie die vorliegende Publikation – nicht nur finanziell unterstützte, sondern im Rahmen der Veranstaltungen auch aktiv mitdiskutierte. Mit Robert Reithofer von ISOP (Innovative Sozialprojekte) war es ein Vergnügen, die Reihe zu organisieren. Danke für die vielen anregenden Diskussionen bei der Planung, die Freude beim gemeinsamen Moderieren und für Deinen stets scharfen Blick für Diskriminierungen und Ausgrenzungen jeder Art! Die MitarbeiterInnen der Fachabteilung Gesellschaft und Diversität, Referat Frauen, Gleichstellung und Integration der steirischen Landesregierung unterstützten uns tatkräftig beim Bewerben der Veranstaltungen; ein besonderer Dank gilt Andrea Koller, die das Projekt von Beginn an begleitet hat, und Martin Gössl, für vielfältige Hilfestellungen und Unterstützungen im Rahmen der Umsetzung des Projektes. Thomas Wolkinger und die Studierenden des Studiengangs Jour­ nalismus und Public Relations der Fachhochschule Joanneum sorgten durch die Gestaltung eines Blogs (Vielfalt als Chance), einer facebook-Seite und mit ihren Fotos für eine sehr ansprechende Dokumentation und Bewerbung der Reihe. Das Landesmuseum Joanneum erwies sich als vorzüglicher Veranstaltungsort für dieses transdisziplinäre Projekt – ein besonderer Dank den MitarbeiterInnen des Abenddienstes für ihre Geduld, wenn die Diskussionen einmal etwas länger dauerten. Das Team von ISOP versorgte die nach den Diskussionen hungrigen und durstigen TeilnehmerInnen hervorragend mit internationalen Köstlichkeiten

8 | Vorwort

und trug auf diese Weise zur Fortsetzung der Gespräche in angenehmen Rahmen bei. Der Kunstverein und seine Mitglieder bereicherten das Projekt immer wieder mit künstlerischen Beiträgen und widmen ihm auch eine eigene Ausstellung im Juni 2015. Ein besonders herzlicher Dank gilt schließlich allen BeiträgerInnen im Rahmen der Publikation und der Veranstaltungen für ihre Vorträge, Impulse und künstlerischen Interventionen sowie dem Publikum, das die Veranstaltungsreihe lebhaft begleitet und durch kritische Fragen bereichert hat! Dem transcript Verlag, vor allem Anke Poppen, danke ich für die Geduld und professionelle Unterstützung bei der Abwicklung des Publikationsprojektes. Johan­nes Ebner hat durch umsichtiges Korrekturlesen zum Gelingen es Manu­ skriptes beigetragen – alle möglicherweise verbliebenen Fehler unterliegen meiner Verantwortung. Elisabeth Klöckl-Stadler danke ich herzlich für die Ge­stal­tung des Layoutes und ihre vielen guten Ideen bei der Realisierung des Buchprojektes.

Graz, März 2015

Katharina Scherke

Transdisziplinäre Erfahrungen im Spannungsfeld ‚Gesellschaftliche Vielfalt‘ Eine Einleitung K atharina S cherke

Der vorliegende Band und die Veranstaltungsreihe, aus der er hervorgegangen ist, haben sich zum Ziel gesetzt, den Facettenreichtum des Themas gesellschaftliche Vielfalt und der damit verknüpften gesellschaftspolitischen Diskussionen aufzuzeigen. Die aus Migrationen herrührende gesellschaftliche Vielfalt ist dabei nur ein – jedoch ein in Medien und Öffentlichkeit besonders prominent diskutierter – Aspekt des Themas. Richtet man den Blick zusätzlich auf andere Aspekte, wie etwa auf die durch geschlechts-, alters- oder lebensstilbezogene Rahmenbedingungen geprägte Unterschiedlichkeit der Gesellschaftsmitglieder wird möglicherweise ein Beitrag zur Entproblematisierung der MigrationsThematik geleistet. Gesellschaftliche Vielfalt hat nicht nur zahlreiche Aspekte, sondern ist – wie ein historischer Rückblick zeigt – auch kein neues Phänomen.1

1 Vgl. hierzu etwa: Sabine A. Haring, Katharina Scherke (Hg.), Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und um 2000, Studien zur Moderne, Band 12, Wien 2000; Katharina Scherke, Sozialpsychologische und ästhetische Konsequenzen des großstädtischen Lebens: Georg Simmel und Arnold Hauser im Vergleich, in: Károly Csúri, Zoltán Fónagy, Volker A. Munz (Hg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität: Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Wien 2008, S. 217–226; Katharina Scherke, Ästhetisierung des Sozialen heute und in der ‚Wiener Moderne‘ um 1900. – Zur Auflösung und neuen Verfestigung sozialer Unterschiede, in: Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.), Ästhetisierung des Sozialen. Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien, Bielefeld 2011, S. 15–32.

10 | K atharina Scherke

Die Veranstaltungsreihe ‚Spannungsfeld Gesellschaftliche Vielfalt‘ lud dazu ein, sich mit verschiedenen Aspekten des Themas zu beschäftigen, vorgefertigte Annahmen über die Beschaffenheit moderner Gesellschaften zu hinterfragen und somit quasi eine geistige Migration (Vollath) vorzunehmen. Diese Publikation soll die Möglichkeit bieten, sich dieser Reise anzuschließen.

G esellschaftliche Vielfalt transdisziplinäre Thematik

als inter - und

Die Komplexität und historische Entwicklung gesellschaftlicher Vielfalt aufzuzeigen, kann eine Aufgabe wissenschaftlicher Disziplinen im Rahmen der oftmals spannungsgeladenen Diskussionen um gesellschaftliche Integration und Fragen des sozialen Zusammenlebens sein. Die Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg ist hierbei meines Erachtens wichtig, um die Komplexität gesellschaftlicher Vielfalt und die mit ihr einhergehenden Fragen angemessen analysieren zu können. Die zunehmende Spezialisierung wissenschaftlicher Disziplinen im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat wesentlich zum Ausbau wissenschaftlicher Expertise beigetragen, jedoch ergeben sich daraus auch bestimmte Einschränkungen des Untersuchungsfeldes.2 Komplexe gesellschaftsrelevante Themen erfordern daher eine Zusammenschau von Einzelaspekten, um sie einem umfassenderen Verständnis zuführen zu können. Aus dieser Zusammenschau können sich zudem neue Perspektiven und Forschungsfragen ergeben (sowohl für die Einzeldisziplinen als auch für interdisziplinäre Teams). Der Dialog mit AkteurInnen der Praxis (beispielsweise aus den Bereichen Politik, Behörden oder NGOs) erlaubt es WissenschaftlerInnen zudem, ihre Argumentation anhand kritischer Fragen von ‚außen‘ zu schärfen. Für AkteurInnen der ‚Praxis‘ kann wiederum die Beteiligung an einem derartigen Dialog einen Moment des Innehaltens bedeuten, in dem – quasi enthoben vom unmittelbaren Handlungsdruck – der eigene Zugang in Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Positionen reflektiert und bisherige Lösungsansätze in Frage gestellt, sowie neue entwickelt werden können. Ein gelingender Dialog über Fachgrenzen und institutionelle Schranken hinweg sollte somit idealerweise Transdisziplinarität erzeugen (verstanden als Arbeitsweise, die bestehende Disziplinen verändert, indem sie historisch gewachsene Sichtfeldbeschränkungen zu überwinden in der Lage ist und damit auch zur Steigerung wissenschaftlicher Problemlösungskompetenz

2 Vgl. hierzu Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen: Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 1994, insbesondere S. 28–47.

Transdisziplinäre Erfahrungen im Spannungsfeld ‚Gesellschaftliche Vielfalt‘ | 11

beiträgt).3 Dieses Idealbild der Transdisziplinarität läßt sich jedoch nicht leicht erreichen; die folgenden Ausführungen geben daher auch einen Einblick in Probleme der Umsetzung eines derartigen Wissenschaftsverständnisses.

D er Forschungsschwerpunkt H eterogenität Kohäsion der U niversität G raz

und

Der Forschungsschwerpunkt Heterogenität und Kohäsion der Universität Graz hat sich seit 2009 zum Ziel gesetzt, die Arbeiten unterschiedlicher Disziplinen zum Themenfeld gesellschaftlicher Vielfalt und die damit einhergehenden sozialtheoretischen Fragen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt zu bündeln. In den derzeit bestehenden thematischen Clustern4 arbeiten VertreterInnen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, der Rechtswissenschaften und der Theologie zusammen. Angesichts der historisch gewachsenen Disziplingrenzen und der immer noch – trotz aller Aufrufe zur Interdisziplinarität – disziplinär organisierten Ausbildungs- und Belohnungssysteme innerhalb des Wissenschaftssystems, ist es keineswegs leicht diese Zusammenarbeit praktisch umzusetzen (ganz abgesehen von den damit prinzipiell einhergehenden methodologischen Fragen). Vielfach ist es daher schon als Gewinn zu betrachten, wenn es gelingt, gegenseitig Einblick in die Forschungsfragen und methodisch-theoretischen Ansätze der verschiedenen Disziplinen herzustellen. Der Forschungsschwerpunkt versteht sich insofern als verbindende Plattform zwischen den Disziplinen und ist bestrebt, neue Formen der Kooperation und Zusammenarbeit zu initiieren (hierzu gehören universitätsinterne Workshops, Seminare und Arbeitsbesprechungen ebenso wie an die breitere Öffentlichkeit gerichtete Veranstaltungen). Der Erfolg dieser Bemühungen hängt stark vom Engagement und der Offenheit der einzelnen ForscherInnen für neue Ansätze ab; Inter- und Transdisziplinarität lassen sich nicht verordnen, sondern können nur in einem Klima der gegenseitigen Wertschätzung allmählich wachsen. Hierzu gehört auch, sich prinzipiell darüber 3 Zu den Definitionsschwierigkeiten von Inter- und Transdisziplinarität und ihrer praktischen Umsetzung vgl. u.a.: Jürgen Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität? in: Jürgen Kocka (Hg.), Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt am Main 1987, S. 152–158; Helga Mitterbauer, Johannes Feichtinger, Katharina Scherke, Interdisziplinarität – Transdisziplinarität. Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Newsletter Moderne. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, 7. Jg., Heft 2, Graz 2004, S. 11–16. 4 http://huk.uni-graz.at/de/profil/ (21.3.2015).

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auszutauschen, was inter- und transdisziplinäre Forschungen im Unterschied zu disziplinärer Forschung zu leisten in der Lage sind und ob jede Form der fächerübergreifenden Kooperation bereits zu Transdisziplinarität führt.5 Die Formen der Zusammenarbeit innerhalb des Forschungsschwerpunktes reichen daher auch von einer ‚einfachen‘ Nebeneinanderreihung disziplinärer Erkenntnisse (etwa im Rahmen von Workshops) – die durch die Bündelung dennoch einen tieferen Einblick in die Thematik ermöglichen als die Einzelforschungen allein – bis hin zur tatsächlichen Zusammenarbeit (etwa im Rahmen von Projektanträgen), bei der gemeinsam ein Spezialthema unter Ausnutzung unterschiedlicher disziplinärer Kompetenzen bearbeitet wird. Letzteres stellt derzeit noch die Ausnahme innerhalb des Forschungsschwerpunktes dar. Durch die gemeinsame thematische (und nicht disziplinäre) Agenda des Forschungsschwerpunktes soll jedoch ein Anreiz geboten werden, eingetretene Pfade zu verlassen und Anregungen jenseits der eigenen Disziplin zu suchen. Der Erfolg dieser Bemühungen lässt sich kaum in Zahlen ausdrücken (welche Erkenntnis ist aufgrund der (inter- und transdisziplinären) Zusammenarbeit entstanden, welche wäre auch ohne sie zu erzielen gewesen?), weshalb derartige Initiativen sich im heutigen, häufig der Illusion der absoluten Steuerbarkeit über Kennzahlen erliegenden Wissenschaftssystem schwer tun.6 Es bleibt abzuwarten, wie sich der Forschungsschwerpunkt vor diesem Hintergrund in den nächsten Jahren entwickeln wird. Die Agenda des Forschungsschwerpunktes wurde bewusst sehr breit formuliert, um möglichst viele Perspektiven einbeziehen zu können: Der Forschungsschwerpunkt widmet sich den sozio-kulturellen Erscheinungsformen, Ursachen und Folgen fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierung und der Frage der Gestaltung sozialer Ordnung unter diesen Rahmenbedingungen. Hochdifferenzierte moderne Gesellschaften sind gekennzeichnet durch eine zunehmende Fragmentiertheit und Individualisierung der Lebensverhältnisse, wodurch die Problematik gesellschaft5 Ein Beispiel für einen derartige Austausch stellt das am 4.6.2013 abgehaltene „Forschungskolloquium: Interdisziplinarität in der Genderforschung“ dar, bei dem VertreterInnen des Forschungsschwerpunktes Heterogenität und Kohäsion gemeinsam Julia Nentwich, St. Gallen und Sabine Hark, Berlin, ihre diesbezüglichen Vorstellungen diskutierten. 6 Vgl. Stefan Hornbostel, Bernd Klingsporn, Markus von Ins, Messung von For­ schungsleistungen – eine Vermessenheit? in: Alexander von Humboldt-Stiftung (Hg.), Publikationsverhalten in unterschiedlichen Disziplinen. Beiträge zur Beurteilung von Forschungsleistungen, Diskussionspapiere der Alexander von Humboldt-Stiftung, 2. erweiterte Auflage, Nr. 12 / 2009, S. 14–35; vgl. auch Christian Fleck, Der Impact Faktor-Fetischismus, in: Leviathan 41 (4), 2013, S. 611–646.

Transdisziplinäre Erfahrungen im Spannungsfeld ‚Gesellschaftliche Vielfalt‘ | 13

licher Kohäsion inklusive ihrer ethischen, rechtlichen und sozialpolitischen Aspekte besonders virulent wird. Neben der Analyse von Migrationsprozessen, Phänomenen ethnisch-kultureller Vielfalt, des Wandels der Geschlechterverhältnisse und der Generationenbeziehungen, neuen/alten sozialen Ungleichheiten sowie der sie begleitenden Konflikte, stehen Studien zu den sozialtheoretischen, institutionellen, weltanschaulichen und religiösen Grundlagen gesellschaftlicher Integration auf der Agenda des Forschungsschwerpunktes. Zudem wird eine international und historisch vergleichende Perspektive eingenommen.7

Durch diese breite Ausrichtung wird ein gemeinsames Dach für unterschiedliche Spezialthemen zur Verfügung gestellt, die sich konkreten Aspekten des Generalthemas widmen und diese (fächerübergreifend) untersuchen. Die Forschungen können dabei voneinander profitieren, indem bestimmte theoretische oder methodische Zugänge von einem Spezialgebiet auf andere übertragen werden bzw. die Aufmerksamkeit für ansonsten unbeachtete Aspekte eines Spezialthemas wächst. So kommt es etwa zu fruchtbaren methodologischen Diskussionen im Bereich der Migrationsforschung oder zur Kombination volkswirtschaftlicher, rechtswissenschaftlicher und soziologischer Analysen im Rahmen des Themas Mehrfachdiskriminierung.8 Die Bereitschaft und Möglichkeit zu fächerübergreifender Zusammenarbeit variiert allerdings zwischen den am Forschungsschwerpunkt beteiligten Disziplinen stark. Während es zwischen verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften seit Jahren zu fruchtbaren Anknüpfungen kommt, stellen fächerübergreifende Arbeiten für die Rechtswissenschaften immer noch ein Novum dar. Vielfach schlägt sich die Zusammenarbeit auch nicht direkt in gemeinsamen Publikationen nieder, da diese den Regeln der jeweiligen Disziplinen folgen müssen und fachfremde Ansätze im Rahmen von peer-review-Verfahren mitunter kritisch beurteilt werden. Der Mehrwert eines fächerübergreifenden Forschungsschwerpunktes kann angesichts dieser Rahmenbedingungen hauptsächlich in aus der gemeinsamen Diskussion erwachsenden Impulsen für die beteiligten Disziplinen gefunden werden. 7 http://huk.uni-graz.at/de/ (21.3.2015). 8 Ich greife hier lediglich zwei Beispiele für disziplinenübergreifende Initiativen aus dem Forschungsschwerpunkt heraus: Andrea Ploder, Ute Sonnleitner, Tagungs­ bericht: Method(olog)ische Herausforderungen der Migrationsforschung, in: H-Sozu-Kult

2013

(http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5071)

(21.3.2015); Simone Philipp, Isabella Meier, Klaus Starl, Margareta Kreimer, Auswirkungen von mehrfachen Diskriminierungen auf Berufsbiografien. Eine empirische Erhebung, Wiesbaden 2014.

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E in A nknüpfungspunkt zur Praxis: D ie C harta Z usammenlebens in Vielfalt

des

Die Themenfelder des Forschungsschwerpunkts Heterogenität und Kohäsion korrespondieren mit Themen, die auch in der vom Land Steiermark im Juni 2011 beschlossenen Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark9 eine Rolle spielen (wie im Übrigen auch mit ähnlichen, andernorts beschlossenen politischen Grundsatzpapieren). Die Charta setzt sich zum Ziel „das Selbstverständnis von Politik und Verwaltung des Landes Steiermark hinsichtlich eines professionellen, zukunftsorientierten Umgangs mit der gesellschaftlichen Vielfalt“ auszudrücken. Neben einem Bekenntnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention formuliert sie Grundsätze für den Umgang mit verschiedenen Themen (wie etwa Diskriminierungsschutz, Sprachenvielfalt, Geschlechtergerechtigkeit). Politische Grundsatzbekenntnisse, die nicht selten im Kompromisswege zustanden kommen und sich auf bestimmte Kernaussagen konzentrieren, stehen immer vor dem Problem Begrifflichkeiten verwenden zu müssen, die vieldeutig sind. Begriffe wie Familie oder Heimat haben beispielsweise eine lange Geschichte, in der sie nicht selten als exklusive Bezeichnungen für eine bestimmte Form des Zusammenlebens verwendet wurden oder nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen regionale Gültigkeit hatten.10 In der aktuellen Verwendung dieser Begriffe wird mitunter versucht, alte Assoziationen zu vermeiden und die Begriffe umzudeuten, um so ihre Offenheit für alle gesellschaftlichen Gruppierungen zum Ausdruck zu bringen (so findet sich in der Charta etwa der Hinweis: „Heimat ist dabei kein exklusiver Begriff – es ist möglich, sich in verschiedenen Regionen oder Gruppen ‚beheimatet‘ zu fühlen, ohne die jeweilige Zugehörigkeit dadurch zu schmälern. Er ist auch deswegen nicht exklusiv, weil es zur Heimat dazugehört, sie mit anderen zu teilen“).11 Derartige Sensibilisierungsprozesse sind jedoch ein langer und mühevoller Prozess, da nicht selten alte Vorstellungsbilder implizit auch in heutigen Diskussionen eine Rolle spielen. Wissenschaftliche Analysen zum Wandel der Familienformen oder 9 http://www.verwaltung.steiermark.at/cms/beitrag/11562700/108305469/ (21.3.2015). 10 Vgl. etwa: Michael Mitterauer, Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003; Waltraud Heindl, Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat: Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien–Köln–Weimar 2000. 11 Vgl. Die Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark, S. 11. (http:// www.zusammenhalten.steiermark.at/cms/dokumente/11562700_103650128/6aa 9c633/Charta_Unterlagen_22062011_Web_.pdf) (21.3.2015).

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des Heimatbegriffs können daher dazu beitragen, gängige Vorstellungsbilder und Narrative zu hinterfragen. Aus dieser Überlegung heraus entstand die Idee, im Rahmen einer Veranstaltungsreihe ausgewählte Themen der Charta aufzugreifen und zu diskutieren. Dabei sollten wissenschaftliche Arbeiten des Forschungsschwerpunktes Heterogenität und Kohäsion vorgestellt und durch Impulse von VertreterInnen der Praxis ergänzt werden. Ziel war es nicht, die Charta selbst zu diskutieren, sondern zur Reflexion über die in ihr angesprochenen Themen anzuregen und dabei vor allem auf in der öffentlichen Diskussion mitunter nicht sehr präsente Aspekte hinzuweisen. Dieses Vorhaben wurde von der steierischen Landesrätin Bettina Vollath (Finanzen, Frauen und Integration) positiv aufgegriffen und finanziell unterstützt. Im Unterschied zu vergleichbaren Vortragsreihen, die sich bedingt durch die Provenienz der OrganisatorInnen auf ein bestimmtes Publikum fokussieren, entstand die Reihe, aus der auch der vorliegende Band hervorgegangen ist, bereits in Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen. Robert Reithofer von ISOP (Innovative Sozialprojekte) gestaltete mit mir, als Sprecherin des Forschungsschwerpunktes Heterogenität und Kohäsion, die einzelnen Abende und trug vor allem durch die Auswahl der ‚PraxisvertreterInnen‘ und der künstlerischen Interventionen zum Gelingen des Konzeptes, ein breites Publikum auf vielfältige Weise anzusprechen bei. Zwischen Dezember 2013 und Januar 2015 fand die Reihe ‚Spannungsfeld Gesellschaftliche Vielfalt‘ schließlich statt und versuchte Wissenschaft und Praxis in Dialog miteinander zu bringen und damit auch so etwas wie transdisziplinäres Arbeiten zu fördern (siehe auch die Programmübersicht im Anhang). Im Rahmen von neun Veranstaltungen wurden wissenschaftliche Vorträge, Impulse von PraxisvertreterInnen und künstlerische Interventionen mitei­ nander verknüpft.12 Die Reihe wurde zudem durch einen von Studierenden des Studiengangs Journalismus und Public Relations der Fachhochschule Joanneum gestalteten Blog medial begleitet.13 Im Juni 2015 findet im Kunstverein zudem eine Ausstellung von KünstlerInnen statt, die sich mit den behandelten Themen der Reihe auseinandergesetzt haben. Die jeweiligen Themen wurden somit in vielfältiger Art und Weise bearbeitet und die TeilnehmerInnen hatten die Gelegenheit, ein für sie passendes Format zu finden, das sie zum Weiterdenken anregte. Als Veranstaltungsort fungierte die Neue Galerie des Landesmuseums Joanneum, wodurch der transdisziplinäre Charakter der Reihe zusätzlich unterstrichen werden sollte. Es ist auf diese Weise gelungen rund 900 Menschen anzusprechen (was in dieser Region als Erfolg zu werten ist). Inwieweit es der 12 http://static.uni-graz.at/fileadmin/fsp-huk/Spannungsfeld-gesellschaftliche-Vielfalt. pdf (21.3.2015). Eine Übersicht des Programms befindet sich auch im Anhang. 13 http://www.vielfaltalschance.at/ (21.3.2015).

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Reihe gelungen ist, weiterführende Zusammenarbeiten zu initiieren und im oben beschriebenen Sinne transdisziplinär zu wirken, wird sich erst nach einigem zeitlichen Abstand, in dem Folgeprojekte reifen konnten, beurteilen lassen. Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die sich mit den Themen der Veranstaltungsreihe beschäftigen; in manchen davon wurden Impulse aus den Diskussionen weiterverarbeitet, andere wiederum geben Einblick in spezifische Fragestellungen einzelner Disziplinen, gemeinsam ist allen dass sie dazu beitragen, die Komplexität des Themenfeldes ‚Gesellschaftliche Vielfalt‘ darzustellen und somit Themen ansprechen, die auch über die Steiermark hinaus Gültigkeit haben.

D ie B eiträge

im

E inzelnen

Die Beiträge des Bandes stellen keine reine Sammlung der Vorträge dar (obwohl sie zum Teil darauf basieren), sondern es wurden auch Beiträge inkludiert, die sich weiterführend mit den Themen der Veranstaltungsreihe auseinandergesetzt haben. Die unterschiedlichen Beitragsformate sind einerseits auf die verschiedenen Fachkulturen und Hintergründe der AutorInnen zurückzuführen, andererseits wurden bewusst auch essayartige Formate gewählt, um eine wichtige Komponente der Veranstaltungsreihe auch im Band nachspürbar zu machen: den aus unterschiedlichen Bearbeitungsformen der Themen erwachsenden Mix an möglichen Denkanstößen. Robert Reithofers Beitrag zeigt, wie wichtig es ist, Migration als Thema gesellschaftlicher Vielfalt immer wieder neu zu diskutieren und trotz aller Versuche ihrer ‚Normalisierung‘ selbige in den Vordergrund der Diskussion zu stellen, da aus Migrationen resultierende Vielfalt oftmals noch nicht als Normalität aufgefasst wird. Anhand des politischen Diskurses über die sogenannte ‚Integrationsunwilligkeit‘ von MigrantInnen, der kürzlich in der Steiermark – trotz der von vielen Institutionen unterzeichneten Charta des Zusammenlebens in Vielfalt – aufkam, geht Reithofer der Frage nach, welche aktuellen Vorstellungen von ‚Integration‘ bestehen und inwiefern scheinbare Defizite der MigrantInnen hierbei eine Rolle spielen. Er plädiert schließlich für einen Perspektivenwechsel, der den Fokus auf die Tendenz der Aufnahmegesellschaften im Integrationsdiskurs immer wieder ‚Fremdheit‘ zu (re-)produzieren lenkt und die daraus resultierenden Diskriminierungen von MigrantInnen zum Thema macht. Joseph Marko widmet sich in der Folge aus rechtswissenschaftlicher Sicht den Diskriminierungsverboten im europäischen Minderheitenschutz. Ausgehend

Transdisziplinäre Erfahrungen im Spannungsfeld ‚Gesellschaftliche Vielfalt‘ | 17

von einer Darstellung der historischen Entwicklung des Artikels 4 der Rahmen­ konvention zum Schutz nationaler Minderheiten in Europa (FCNM) zeigt er, inwiefern diese nicht nur klare Diskriminierungsverbote enthält, sondern auf ihrer Grundlage auch Maßnahmen zur Herstellung effektiver Gleichheit als geboten zu betrachten sind. Anhand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zeigt Marko auf, welche Rolle sogenannte positive Maßnahmen bei der Umsetzung des Gleichheitsprinzips im Recht der Europäischen Union spielen. Während der Diskurs der Rechtswissenschaften sich bisher stark mit dem Schutz vor Diskriminierung beschäftigt hat, geht der Beitrag von Julian Anslinger und Ursula Athenstaedt aus Sicht der Sozialpsychologie möglichen Gründen für die Entstehung von Vorurteilen und daran anknüpfenden Diskriminierungen nach. Die Funktionsweise von Stereotypen und die Mechanismen von Inter­ gruppen­prozessen werden anhand exemplarischer Studien und sozialpsychologischer Experimente ebenso vorgestellt wie Möglichkeiten der Entstehung von Vorurteilen entgegenzuwirken. Die Aufweichung der Klassifikation von Gruppen entlang der Dichotomie Eigen- und Fremdgruppen stellt dabei ein wichtiges Ziel dar, um tiefgreifenden Auseinandersetzungen vorzubeugen. Ein konkretes Beispiel für die ständige Reaktivierung von Vorurteilen durch mediale Diskurse und die dabei stattfindenden Eigen- und Fremdgruppen­ zuschreibungen gibt der Beitrag von Stefan Benedik, der mittels einer Analyse der Berichterstattung zum Thema Betteln und diesbezüglicher politischer Maßnahmen in Salzburg und Graz den jeweiligen Städten einen kritischen Spiegel vorhält, der nicht nur Einblick in die mit dem Betteln jeweils assoziierten Vorstellungsbilder gibt, sondern auch den Blick auf die sich in Stereotypen ausdrückenden Interessenslagen und Ängste der jeweils Sprechenden selbst lenkt. Durch eine historisch vergleichende Perspektive wird zudem die Langlebigkeit der bettelnden Menschen entgegen gebrachten Vorurteile (auch in scheinbar ‚bettelfreundlichen‘ Kommentaren) sichtbar gemacht. Die historische Entwicklung steht auch im Beitrag von Karin M. Schmidlechner, Ute Sonnleitner, Verena Lorber und Manfred Pfaffenthaler im Vordergrund; gemeinsam widmen sie sich der Steiermark als Migrationsraum und zeigen inwiefern unterschiedliche Migrationsbewegungen in und aus dieser Region sowie durch sie stattfanden. Besonderes Augenmerk wird dabei der Zeit nach 1945 geschenkt, indem verschiedene Formen der Arbeitsmigration anhand historischer Fakten und unter Berücksichtigung individueller Erfahrungen der MigrantInnen und ihres Umfeldes dargestellt werden. Zeitgenössische Migrationsbewegungen

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bieten die Möglichkeit bei ihrer Erforschung qualitative Methoden der Sozial­ forschung (etwa Interviews) zum Einsatz zu bringen und damit Einblick in die Lebenswelt der AkteurInnen zu geben. Die Ähnlichkeit zwischen den Motiven österreichischer MigrantInnen und von MigrantInnen aus anderen Teilen der Welt wird dabei ebenso deutlich wie die historische Normalität von Migrationen. Die Aufarbeitung dieser Fakten kann dabei helfen Gegenbilder zu den verbreitet migrationsskeptischen Haltungen des politischen Diskurses zu entwerfen. Ein weiteres Gegenbild zu migrationsskeptischen bis fremdenfeindlichen Haltungen steht im Mittelpunkt des Beitrages von Wolfgang Benedek, der einen Überblick über die Aktivitäten, Graz als Menschenrechtsstadt zu positionieren gibt. 2001 hat der Grazer Gemeinderat beschlossen, Graz zur Menschenrechtsstadt zu erklären und seitdem wurden zahlreiche Aktivitäten gesetzt, um Defizite im Bereich der Menschenrechte aufzuspüren bzw. die Menschenrechtsbildung voranzutreiben. Die Aktivitäten wurden neben der Politik vor allem von verschiedenen Institutionen der Zivilgesellschaft, wissenschaftlichen Einrichtungen, aber auch AkteurInnen des Kulturbereichs getragen. Benedek betont die wichtige Rolle der lokalen und regionalen Ebene bei der Umsetzung des Menschenrechtsschutzes, der zwar im nationalen und internationalen Recht verankert ist, jedoch einer Konkretisierung auf der Ebene alltäglicher Handlungsfelder bedarf. Er plädiert daher sowohl für eine enge Zusammenarbeit unterschiedlicher AkteurInnen in diesem Bereich als auch eine überregionale Ausweitung der diesbezüglichen Sensibilisierungsaktivitäten. Das Thema der Sensibilisierung steht auch im Zentrum des Beitrages von Barbara Schrammel-Leber, die sich dem Thema Sprachenvielfalt im schulischen Alltag widmet. Mehrsprachigkeit der SchülerInnen stellt mittlerweile ein weit verbreitetes Phänomen an österreichischen Schulen dar. Während wissenschaftliche Studien belegen, dass Mehrsprachigkeit kein Hindernis für die allgemeine kognitive Entwicklung von Kindern darstellt und damit das immer noch weit verbreitete Bild widerlegt wird, dass das Sprechen anderer Erstsprachen als Deutsch ursächlich für mangelnden Schulerfolg mehrsprachiger Kinder sei, hat sich im monolingual-orientierten schulischen Alltag bisher wenig geändert. Schrammel-Leber zeigt daher anhand eines in der Steiermark durchgeführten Projektes zum Thema Mehrsprachigkeit auf, wie die Einbeziehung aller sprachlichen Ressourcen der SchülerInnen und Eltern in den Volksschulunterricht gelingen kann und auf diese Weise Wertschätzung für Sprachenvielfalt, inklusive der damit verknüpften positiven Effekte für den Bildungserfolg der SchülerInnen, entstehen kann.

Transdisziplinäre Erfahrungen im Spannungsfeld ‚Gesellschaftliche Vielfalt‘ | 19

Gesellschaftliche Vielfalt hat viele Dimensionen; neben unterschiedlichen (aktuellen oder früheren) Migrationshintergründen und Sprachenvielfalt tragen auch unterschiedliche Formen des privaten Zusammenlebens zur Heterogenität der Lebensverhältnisse in modernen Gesellschaften bei. Silvia Schultermandl widmet sich in ihrem Beitrag dem Wandel des Familienbildes und zeigt, wie unter Bedingungen der Transnationalität herkömmliche Normen für Familienleben und Sexualität eine besondere Hinterfragung erfahren. Nationalstaatliche Grenzen werden dabei ebenso wie rigide Geschlechternormen auf die Probe gestellt und mit anderen Lebensentwürfen konfrontiert. Das in der feministischen Theorie sowie den queer und postcolonial studies entwickelte Konzept einer fluiden Identität erweist sich als brauchbar, um die vielfältigen und oft widersprüchlichen Einflüsse, denen das Selbst unterliegt, bündeln zu können. Das Erleben von Familie und Verwandtschaft ist unter diesem Fokus als ständiger Aushandlungsprozess zu verstehen, der soziale Normen reproduziert, aber auch verändert. Der Wandel bzw. die Langlebigkeit von Geschlechternormen steht auch im er­ Zentrum des Beitrags von Margareta Kreimer. Trotz steigender Frauen­ werbs­ beteiligung und gesetzlich verankerter Gleichbehandlungsgebote lassen sich in Österreich (wie in vielen europäischen Ländern auch) nach wie vor markante Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen und ein höheres Armutsrisiko für Frauen feststellen. Kreimer geht den Gründen für diese Asymmetrie nach und konzentriert sich dabei auf drei Aspekte: die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern im Hinblick auf bezahlte und unbezahlte Tätigkeiten, die geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation und diskriminierende Mechanismen im Bereich des Arbeitsmarktes. Neben dieser Problemanalyse diskutiert sie auch verschiedene Lösungsansätze, um die Einkommensdisparität zwischen Männern und Frauen auflösen zu können. Einem weiteren Aspekt der Vielfalt gesellschaftlicher Lebensverhältnisse widmet sich Claudia Gerdenitsch, die in ihrem Beitrag die Vielfalt des Alter(n)s in modernen Gesellschaften und daraus resultierende Herausforderungen für eine transdisziplinäre Gerontologie darstellt. Die Lebensphase Alter kann höchst unterschiedlich gestaltet werden und Alterungsprozesse unterliegen vielfältigen Einflussfaktoren (reichend von biologischen über persönliche bis hin zu sozio-kulturellen Faktoren). Dem Facettenreichtum des Themas Alter(n) kann durch disziplinenübergreifende Zusammenarbeit begegnet werden; zudem erweist sich das Feld der Gerontologie als eines in dem auch die Perspektive von PraktikerInnen systematisch in wissenschaftliche Analysen einbezogen wird

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bzw. eine enge Wechselwirkung zwischen Praxis und Wissenschaft festzustellen ist. Der folgende Beitrag greift einige der bisher behandelten Themen auf und macht sie zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung. Im Rahmen der dem Band vorhergegangenen Veranstaltungsreihe wurde immer wieder versucht, die DiskussionsteilnehmerInnen auch durch künstlerische Interventionen zum Nachdenken anzuregen und auf diese Weise die Multidimensionalität der Themen erfahrbar zu machen. In Ansätzen soll dies auch in der vorliegenden Publikation versucht werden. Die Fotokünstlerin Maryam Mohammadi hat einiger ihrer Werke für diesen Zweck zur Verfügung gestellt. Joachim Hainzls Begleittext gibt zudem Einblick in die Biographie der Künstlerin und den Entstehungshintergrund der Fotos, die sich unter anderem mit der oben angesprochenen geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegregation, sowie den Themen Migration und Heimat auseinandersetzen. Die Hinterfragung des Heimatbegriffs steht schließlich auch im Vordergrund des Beitrages von Helmut Konrad, der anhand unterschiedlicher Biographien aufzeigt, dass Heimat ein vielschichtiger, veränderbarer Begriff ist, der eigentlich nur sinnvoll im Plural (Heimaten) Verwendung finden kann. Die besprochenen exemplarischen Lebensgeschichten entstammen unterschiedlicher zeitlicher und geographischer Kontexte: der Zeit der Habsburgermonarchie ebenso, wie den heutigen USA und Österreich. Konrad macht deutlich, dass ein ausschließlich geographisch verorteter Heimatbegriff den modernen Lebensverhältnissen nicht gerecht wird. Verbundenheitsgefühle können sich temporär wandeln und auf unterschiedliche Phänomene beziehen (Sprache, Kultur, Sport etc.). Das Sprechen von ‚Heimaten‘ soll diesem Umstand gerecht werden und stellt auch eine Alternative zur völligen Vermeidung des Begriffs, aufgrund der mit ihm verknüpften ausgrenzenden Tendenzen, dar.

Transdisziplinäre Erfahrungen im Spannungsfeld ‚Gesellschaftliche Vielfalt‘ | 21

L iteratur Christian Fleck, Der Impact Faktor-Fetischismus, in: Leviathan 41 (4), 2013, S. 611–646. Sabine A. Haring, Katharina Scherke (Hg.), Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und um 2000, Studien zur Moderne, Band 12, Wien 2000. Waltraud Heindl, Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat: Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien–Köln–Weimar 2000. Stefan Hornbostel, Bernd Klingsporn, Markus von Ins, Messung von Forschungsleistungen – eine Vermessenheit? in: Alexander von HumboldtStiftung (Hg.), Publikationsverhalten in unterschiedlichen Disziplinen. Beiträge zur Beurteilung von Forschungsleistungen, Diskussionspapiere der Alexander von Humboldt-Stiftung, 2. erweiterte Auflage, Nr. 12 / 2009, S. 14–35. Jürgen Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität? in: Jürgen Kocka (Hg.), Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt am Main 1987, S. 152–158. Helga Mitterbauer, Johannes Feichtinger, Katharina Scherke, Interdisziplinarität – Transdisziplinarität. Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Newsletter Moderne. Zeitschrift des Spezial­ forschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, 7. Jg., Heft 2, Graz 2004, S. 11–16. Michael Mitterauer, Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003. Simone Philipp, Isabella Meier, Klaus Starl, Margareta Kreimer, Auswirkungen von mehrfachen Diskriminierungen auf Berufsbiografien. Eine empirische Erhebung, Wiesbaden 2014. Andrea Ploder, Ute Sonnleitner, Tagungsbericht: Method(olog)ische Heraus­ forderungen der Migrationsforschung, in: H-Soz-u-Kult 2013 (http://www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5071) (21.3.2015). Katharina Scherke, Sozialpsychologische und ästhetische Konsequenzen des großstädtischen Lebens: Georg Simmel und Arnold Hauser im Vergleich, in: Károly Csúri, Zoltán Fónagy, Volker A. Munz (Hg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität: Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Wien 2008, S. 217–226. Katharina Scherke, Ästhetisierung des Sozialen heute und in der ‚Wiener Moderne‘ um 1900. – Zur Auflösung und neuen Verfestigung sozialer Unterschiede, in: Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.), Ästhetisierung des

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Sozialen. Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien, Bielefeld 2011, S. 15–32. Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen: Soziologische Analy­ sen, Frankfurt am Main 1994.

Zwischen Diversitätsrhetorik und kolonialer Praxis. Wovon sprechen wir, wenn wir von Integration sprechen? Robert R eithofer

Fragen des Umgangs mit gesellschaftlicher Heterogenität werden in kaum einem anderen Feld derart emotional aufgeladen abgehandelt wie in jenem der Migration und Integration. Flüchtlinge und zugewanderte Menschen, merkt der Soziologe Zygmunt Bauman an, „verkörpern – sichtbar, greifbar, körperlich fassbar – für diejenigen Menschen, die sie öffentlich herabsetzen und mit ihrem Hass verfolgen, die zwar unausgesprochene, aber dennoch schmerzhafte Vorahnung ihrer eigenen Entbehrlichkeit“.1 Politik, die in wichtigen Bereichen nicht mehr fähig oder willens ist, gestalterisch zu agieren, wählt deswegen, so Bauman weiter, sorgfältig jene Ziele aus, „auf die sie rhetorische Salven abfeuern und denen sie ihre Muskeln zeigen können, während ihnen die dankbaren Untertanen dabei zusehen und zuhören“.2 Anfang 2015 wurde in der Steiermark erstmals von Exponenten des politischen Mainstream der Begriff der „Integrationsunwilligkeit“ in die öffentliche Diskussion eingebracht. „Tatbestände der ‚Integrationsunwilligkeit‘“ zu erheben sowie „rechtliche Möglichkeiten der Ahndung solcher Tatbestände“3 zu erarbeiten, dazu wurde die steirische Landesregierung in einem Landtagsbeschluss im Jänner 2015 aufgefordert. Kontroversiell geführte Diskussionen um Fragen

1 Zygmunt Bauman, Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005, S. 82. 2 Ebda. 3 http://www.landtag.steiermark.at/cms/beitrag/11411653/58064506/, 26.2.2015.

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der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund wurden damit wieder einmal in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Eine begriffliche Klärung dessen, was unter Integration überhaupt zu verstehen ist, blieb seltsam unterbelichtet. Diese aktuellen Entwicklungen nehme ich zum Anlass, mich mit dem Zusammenspiel verschiedener Diskurse und gesellschaftlicher sowie politischer Praxen im migrations- und integrationsspezifischen Feld in der Steiermark auseinanderzusetzen.

Tatbestände

der

„I ntegrationsunwilligkeit “

„Verstärkte Integration von Menschen mit verschiedenen Staats- und Religionszugehörigkeiten in einem Österreich, das von europäischen und humanistischen Werten getragen wird und rechtliche Rahmenbedingungen gegen ‚Integrationsunwilligkeit‘“,4 so lautet der Betreff des Landtagsantrages, der auf Initiative von Landeshauptmann Voves von SPÖ und ÖVP eingebracht wurde. Unterstützt wurde dieser Antrag zudem von FPÖ und KPÖ. In der Begründung des Antrages wird auf die Terroranschläge in Frankreich verwiesen, die europaweit Diskussionen über „Integration, den Umgang mit Menschen anderen Glaubens oder anderer Wertehaltung und der Bekämpfung radikaler Terrorgruppen neu entfacht“ haben. Der Landtagsantrag begrüßt die Beschlussfassung eines Budgets der Bundesregierung für ein Sicherheitspaket zur Terrorbekämpfung und betont, wie wichtig es ist, „allen Menschen eine Perspektive zu geben, soziale Sicherheit zu erreichen“, vor allem aber, dass von „Einwanderinnen und Einwanderern jene Rechte und Pflichten abverlangt werden müssen, die Österreicherinnen und Österreichern abverlangt werden, um die Werte unserer Gesellschaft aufrecht erhalten zu können. Neben europäischen und humanistischen Werten ist dies insbesondere, den auf der europäischen Werteordnung basierenden Rechtsstaat zu akzeptieren“. Zudem soll es künftig auch Aufgabe der steirischen Politik sein, „nicht nur weiter Integration zu forcieren, sondern auch darüber nachzudenken, wie man mit ‚Integrationsunwilligkeit‘ umgeht“. Aus diesem Grund soll eine Kommission eingerichtet werden, „mit deren Hilfe ‚Tatbestände‘ von ‚Integrationsunwilligkeit‘ und rechtliche Möglichkeiten der Ahndung solcher Tatbestände erarbeitet werden“. Weit über die Steiermark hinaus hat dieser Landtagsantrag Diskussionen ausgelöst, die sich vor allem am Begriff der „Integrationsunwilligkeit“ und den in diesem Zusammenhang geforderten rechtlichen Sanktionen für Menschen mit Migrationshintergrund entzündeten. Der in Graz lehrende 4 Ebda.

Zwischen Diversitätsrhetorik und kolonialer Praxis | 25

Politikwissenschaftler Kerem Öktem kritisiert die „Vergiftung des Klimas“,5 die durch die im Landtagsantrag formulierte Politik zum Ausdruck gebracht wird. Das Wort „Integrationsunwilligkeit“ sei „problematisch, weil es Unterstellungen und unklare Begriffe zusammenbringt. Wer verweigert was? Das ist ein neues Wort, eine Worthülse, in die man alles Mögliche hineinprojizieren kann. […] Will ich, dass Migrantenkinder sich gut ausbilden können, damit sie ankommen können in unserer Gesellschaft? Und kann ich das wirklich dadurch erreichen, dass ich bildungsferne Eltern, die oft gar nicht verstehen, worum es da geht, einfach bestrafe?“6 Öktem resümiert seine Kritik mit folgender Einschätzung: „Und es gibt No-Go-Areas auch für die Sozialdemokratie – mit dem Vorstoß in Sachen ‚Integrationsunwilligkeit‘ als Straftatbestand ist Voves nahe dran. Das ist eine Blase, die rechtsstaatlich auf keinen Fall halten würde und auch nicht notwendig ist, denn es gibt ja das Strafgesetz und andere Handhaben.“7 Anzumerken ist in dem Zusammenhang, dass der Landtagsantrag, der vehement darauf pocht, dass auch von Zuwanderern und Zuwanderinnen die Akzeptanz des auf der europäischen Werteordnung basierenden Rechtsstaates einzufordern ist, selbst mit der „Integrationsunwilligkeit“, die rechtlich geahndet werden soll, im Widerspruch zum Geist eben dieser europäischen Werte steht, insbesondere was die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Rechte auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung sowie das Recht auf Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit betrifft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist übrigens die einzige Institution in Europa, die einen berechtigten Anspruch darauf erheben darf, europäische Werte auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und damit auf einer universalistischen und nicht eurozentrischen Basis zu vertreten und zu verteidigen.8 Der Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz schreibt in seiner Stellungnahme von einem „Pauschalverdacht gegenüber zugewanderten Menschen“,9 der mit dem Begriff der „Integrationsunwilligkeit“ zum Ausdruck gebracht wird. In einem offenen Brief des MigrantInnenbeirates der Stadt Graz an Landeshauptmann Voves wird festgehalten, „dass Äußerungen wie die der ‚Integrationsunwilligkeit‘ von MigrantInnen und die damit verbundene Forderung nach Sanktionen den 5 ht t p://w w w.k lei nezeit u ng.at /s/steier mark / landespoliti k /wahlen /4651619/ INTERVIEW_Voves-hat-ein-Problem-mit-seiner-Partei, 7.3.2015. 6 Ebda. 7 Ebda. 8 Ich möchte mich bei Kerem Öktem für entsprechende Informationen und Hinweise bedanken. 9 Stellungnahme des Menschenrechtsbeirates der Stadt Graz zum Landtagsbeschluss vom 20.1.2015, gemäß Antrag von LH Voves, Einl.Zahl 3237/1.

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politischen Diskurs in die falsche Richtung lenken und zur Ausgrenzung von ZuwanderInnen führen“.10 Vereinzelt wurde auch von NGO-Seite Kritik an einer „Sondergesetzgebung für Integrationsunwillige“ geübt, was „im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Prinzipien“11 steht. Die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak hat die Verwendung des Begriffes „Integrationsunwilligkeit“ in überregionalen österreichischen Tageszeitungen analysiert und zwar sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht betreffend Frequenz und Kollokationen. Wodak kommt zum Schluss, dass „der Fokus sich von einer ‚Verweigerung‘, die zumindest dem Konzept nach noch etwas tatsächlich Getanes oder nicht Getanes meint, hin zu einem ‚Unwillen‘, auf den bestenfalls rückgeschlossen werden kann, verlagert hat“.12 Wodak weist darauf hin, dass die emotionale Vagheit den Begriff besonders gefährlich macht, denn „er dient nun dazu, manche ein- und andere auszuschließen, ohne dass klare und distinktive Kriterien angegeben werden können“.13 Durch die Übernahme des zunächst von der FPÖ und Boulevardmedien verwendeten Begriffes durch SPÖ und ÖVP ist dieser, so die Ergebnisse der Diskursanalyse von Ruth Wodak, in der politischen Mitte angekommen. In Reaktion auf die landespolitischen Vorhaben zum Thema „Integrations­ un­willigkeit“ stellte der Grazer Bürgermeister ein Zehn-Punkte-Programm für eine erfolgreiche Integration vor.14 Er fordert die Einführung eines Integrationspasses, in dem – begleitet durch Integrationslotsen – Integrations­ pflichten bzw. deren Absolvierung wie etwa das Erlernen der deutschen Sprache dokumentiert werden sollen. In dem Zusammenhang wird auch ein sofortiger Zugang zum Arbeitsmarkt für alle Menschen, die sich rechtmäßig in Österreich aufhalten, vorgeschlagen. Im Unterschied zum diffus verbleibenden Begriff der „Integrationsunwilligkeit“ sind die von Nagl präsentierten Punkte klar benannt. Dies gilt auch für die Sanktionen, die greifen sollen, wenn Menschen mit Migrationshintergrund die Erfüllung ihrer Integrationspflichten nicht nachweisen können. Für diesen Fall schlägt der Grazer Bürgermeister vor, dass es keinen Zugang zu Gemeindewohnungen und zu kommunalen Leistungen wie der Sozialcard geben soll. Unterbleiben Integrationsleistungen – in diesem wichtigen Punkt treffen sich die Vorschläge von Seiten des Landes Steiermark und der Stadt Graz – müssen Sanktionen vorgenommen werden. 10 http://www.graz.at/cms/beitrag/10245660/414806, 5.3.2015. 11 Robert Reithofer, Humanistischer Striptease, in: Der Falter, 4.2.2015, S. 45. 12 Ruth Wodak, Über Newspeak und Integration, in: Der Standard, 18.2.2015, S. 35. 13 Ebda. 14 Vgl. http://www.kleinezeitung.at/s/steiermark/chronik/4652590/Integrationsdebatte_ Voves-zu-Nagl_Willkommen-an-Bord-Herr-Bürgermeister, 5.3.2015.

Zwischen Diversitätsrhetorik und kolonialer Praxis | 27

Diese allerdings beziehen sich dezidiert und ausschließlich auf Menschen mit Migrationshintergrund, für die rechtliche Sonderbestimmungen geschaffen werden sollen, was aus rechtsstaatlicher Hinsicht problematisch ist und diese zudem stigmatisiert.

Wovon

sprechen wir , wenn wir von I ntegration

sprechen?

Der Begriff Integration bezieht sich im vorherrschenden Diskurs auf zugewanderte Menschen und Flüchtlinge und umfasst im diffusen alltäglichen Sprachgebrauch zumeist auch noch in Österreich geborene Menschen mit Migrationshintergrund. Die Vorstellung von Integration rekurriert dabei auf eine phantasierte homogene Gesellschaft, die durch Zuwanderung gestört wird. Integrationspolitik und daraus abgeleitete kompensatorische Maßnahmen richten sich entsprechend an Menschen, deren Defizite behoben werden müssen. In diesem Blick auf Integration schwingen noch immer Vorstellungen einer als befristet gedachten „Gastarbeiterpolitik“ zur Abdeckung eines Arbeitskräftemangels nach. Dieses gesellschaftliche Selbstbild, wonach Zuwanderung die Ausnahme darstellt, hat allerdings nichts mit der geschichtlichen und aktuellen gesellschaftlichen Realität zu tun. Der Migrationsforscher August Gächter verweist darauf, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg „nur von Ende der 1940er bis Mitte der 1950er Jahre eine kurze Periode mit geringer Einwanderung“15 gab. Gächter resümiert: „Von den 1860er Jahren bis heute sind 150 Jahre vergangen, also fünf Generationen. Es gibt heute nur einen kleinen, aber nicht näher benennbaren Prozentsatz unter der österreichischen Bevölkerung, der nicht Vorfahren aus dieser Einwanderung hätte.“16 Aus diesem lapidaren Befund der migrationsbedingten gesellschaftlichen Heterogenität lässt sich ableiten, dass die über viele Jahre geführte Auseinandersetzung, ob Österreich ein Einwanderungsland ist, keinerlei sachlich begründbare demographische Grundlage hat. Die empirischen Daten belegen vielmehr, dass auch die Steiermark faktisch längst eine Migrationsgesellschaft ist. Die Nachfrage nach Arbeitskräften in bestimmten Branchen, weltweite Fluchtbewegungen, die zu einem winzigen Teil auch die Steiermark erreichen, Familiennachzug sowie sich vertiefende Prozesse der Globalisierung und Prekarisierung und damit einhergehende transnationale Verflechtungen 15 August Gächter, Gleiche Arbeitsmarktchancen – warum nicht für alle?, in: WISO 36. Jg., Linz 2/2013, S. 94. 16 Ebda., S. 95.

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von Lebens- und Arbeitsrealitäten, die Mobilität erfordern, werden eher zu- als abnehmen. Meine These ist, dass gerade das Faktum der Irreversibilität dieser Entwicklungen in all ihrer Ambivalenz den Hintergrund dafür darstellt, dass ein Begriff wie jener der „Integrationsunwilligkeit“ in die politische Diskussion eingebracht wird. Erst seit wenigen Jahren existieren in Graz, in der Steiermark und auch auf Bundesebene politische Zuständigkeiten für den Bereich der Integration. Damit wird sehr spät auf jahrzehntelange Versäumnisse, sich konstruktiv mit Fragen der Migration und ihren Folgen auseinanderzusetzen, reagiert. Diese Versäumnisse spiegeln sich in der Politik ebenso wider wie etwa im Bildungssystem, in der öffentlichen Verwaltung oder auch auf dem Arbeitsmarkt, die sich am Phantasma einer homogenen Gesellschaft orientieren. In all diesen Bereichen wurde nicht angemessen auf die Herausforderungen einer transnational verfassten Migrationsgesellschaft reagiert, wonach es einer diversitätsorientierten Öffnung als Voraussetzung für einen nicht diskriminierenden Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt bedarf. Auf die sich daraus ergebenden Leerstellen reagieren rechtspopulistische Parteien und in hilfloser Weise Parteien der Mitte, indem sie Begriffe wie jenen der „Integrationsunwilligkeit“ aufgreifen. Damit wird widerwillig akzeptiert, dass die Steiermark eine Migrationsgesellschaft ist. Statt aber daran zu arbeiten, gesellschaftliche Strukturen in einer Weise umzubauen, die den vielfältigen Bedürfnissen von Menschen in einer Migrationsgesellschaft gerecht werden, wird eine Unterscheidung zwischen integrationswilligen und integrationsunwilligen MigrantInnen eingeführt. Gesellschaftliche Probleme werden derart ethnisiert und verschärft. Eine Formulierung von Grundsätzen für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich nicht in individualisierenden, ausgrenzenden und defizitorientierten Fallstricken verfängt, hat Rainer Bauböck schon vor vielen Jahren vorgenommen: In jeder demokratisch verfassten Gesellschaft stellt sich die Frage, wie die tiefen Gegensätze der materiellen Interessen, der Lebensweise, der ideologischen und religiösen Überzeugungen miteinander soweit versöhnt werden können, dass alle Bewohner eines Landes einander als gleiche Bürger respektieren. In Einwanderungsgesellschaften wird dieser ohnehin schon vorhandene Pluralismus durch den Zustrom neuer Gruppen von außen verstärkt und dynamisiert. Wenn die Frage nach dem Zusammenhalt jedoch so beantwortet wird, dass Einwanderer als Fremde nicht dazugehören, dann führt das zwangsläufig zur Desintegration der Gesellschaft insgesamt: Soziale Integration wird durch die Festschreibung ungleicher Chancen untergraben, kulturelle Integration durch die Abschottung gegenüber Minderheiten, rechtliche und politische Integration durch die Zementierung des Ausländerstatus. Integration erfordert also nicht nur Zugang der Einwanderer zu den vorhandenen gesellschaftlichen Einrichtungen und Positionen (Jobs,

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Wohnungen, Sozialleistungen, Medien, Bürgerrechten), sondern auch eine Veränderung des Selbstbildes der österreichischen Gesellschaft.17

Anknüpfend an Rainer Bauböck steht ein Perspektivenwechsel in der Auseinan­ dersetzung mit Integration an. Nicht Individuen und ihre etwaigen Defizite sind danach zu fokussieren, sondern vielmehr muss der Blick zunächst einmal auf die Aufnahmegesellschaft selbst gerichtet werden. So bedeutsam Wissen darüber ist, aus welchen Gründen Menschen etwa als ArbeitsmigrantInnen, Asylsuchende oder als Nachziehende im Rahmen von Familienzusammenführungen in die Steiermark kommen, ob sie dies freiwillig oder gezwungenermaßen tun, so entscheidet doch zuallererst das Aufnahmesystem darüber, ob und wie gesellschaftliche Teilhabe gelingen kann. Ähnliches gilt beispielsweise für die Bildung, die von MigrantInnen mitgebracht wird. Diese spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle, wenn es um gesellschaftliche Teilhabechancen geht. Allerdings entscheidet wiederum die Aufnahmegesellschaft darüber, wie mit mitgebrachten Kompetenzen umgegangen wird bzw. wie Kompetenzen gefördert werden. Ein Zugang, der Integration auf individuelles Verhalten oder gar auf individuelle Einstellungen von Integrationswilligkeit oder -unwilligkeit reduziert, verkennt die Wirkungsmacht von Systemen und auch die Asymmetrie von Machtverhältnissen im Wechselspiel zwischen Institutionen der Aufnahmegesellschaft und von Individuen, die deren Spielregeln unterworfen sind. Vor diesem Hintergrund sind in systemischer Hinsicht die Strukturen der Aufnahmegesellschaft zu analysieren. Wie steht es um Teilhabechancen in der Schule und im Bildungssystem, wie um Chancen am Arbeitsmarkt? Wie ist es um Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe bestellt? In einer Migrationsgesellschaft können diese Fragen nur aus einer transnationalen Perspektive in angemessener, d.h. nicht ausschließender Weise erörtert werden. Eine kritische Betrachtung muss dabei immer auch die jeweiligen Repräsentationsverhältnisse berücksichtigen und danach fragen, ob diese möglicherweise strukturelle Diskriminierung sichtbar machen.

17 Rainer Bauböck, Gleichheit, Vielfalt und Zusammenhalt – Grundsätze für die Integration von Einwanderern, in: Patrik-Paul Volf, Rainer Bauböck: Wege zur Integration. Was man gegen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit tun kann, Klagenfurt/Celovec 2001, S. 15.

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Fremdheitskonstruktionen

im I ntegrationsdiskurs

In ihren Untersuchungen zu politischer Inklusion und Exklusion kommen die Politikwissenschaftler Oliver Gruber und Florian Walter zum Schluss: Die zentralste aktuelle Herausforderung der Demosbegrenzung besteht in der wachsenden nationalen Diversität von Gesellschaften, die nicht mehr (oder nicht ausreichend) über die Inklusionslogik der Staatsbürgerschaft erfasst werden kann. Gemäß dieser Logik blieben seit jeher jene Personen, denen der Zugang zu dieser staatsbürgerlich definierten Gemeinschaft verwehrt war, aus dem Demos ausgeschlossen. Das führte insbesondere bei dauerhaft wohnhaften Nicht-StaatsbürgerInnen zu einem Legitimitätsdefizit.18

Dieser Befund, wonach die repräsentative Demokratie immer weniger repräsentativ ist, gilt auch für die Steiermark. Menschen mit Migrationshintergrund sind weder in steirischen Gemeinden noch im steirischen Landtag angemessen repräsentiert. Vom Wahlrecht sind sogenannte DrittstaatenausländerInnen überhaupt ausgeschlossen. Die daraus resultierenden dramatischen Folgen werden in Wien noch stärker sichtbar als in der Steiermark. In mehreren Wiener Bezirken ist bereits die Mehrheit der Bevölkerung aufgrund dieser Regelung nicht wahlberechtigt. Als Ersatz für das kommunale Wahlrecht für Menschen, die aus einem Drittstaat stammen und vielfach schon seit Jahrzehnten in Österreich leben, arbeiten und Steuern zahlen, wurden – beispielsweise in Graz – MigrantInnenbeiräte eingeführt. Das allgemeine Wahlrecht wird für diese Menschen (verbunden mit der Voraussetzung, die erforderliche Zeit in der Kommune gemeldet zu sein) ersetzt durch eines, in dem sie aus ihren Kreisen Vertretungen wählen. Politische Vertretung in diesem Fall ist reduziert auf eine beratende Rolle gegenüber dem Gemeinderat. Auf der Grundlage einer Sondergesetzgebung werden also Teile der Bevölkerung von der gleichberechtigten politischen Teilhabe ausgeschlossen. Das Feld der Politik steht damit im eklatanten Widerspruch dazu, die Vielfalt der Menschen und ihrer Bedürfnisse und Interessen zu vertreten. Stattdessen werden Menschen mit Migrationshintergrund strukturell zu Fremden gemacht. Diese strukturelle Segregation wird dann kontinuierlich als Argument für den angeblich mangelnden Integrationswillen missbraucht. Eine empirische Analyse macht dagegen das politische System der Exklusion als Tatbestand der „Integrationsunwilligkeit“ sichtbar. Nicht Menschen mit Migrationshintergrund sind demnach unwillig, an der Sphäre demokratischer Entscheidungsfindungen 18 Oliver Gruber, Florian Walter: Politische Inklusion und boundary problem: Aktuelle Herausforderungen und demokratietheoretische Antworten, in: Ilker Ataç, Sieglinde Rosenberger (Hg.), Politik der Inklusion und Exklusion, Göttingen 2013, S. 75f.

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teilzuhaben, sondern vielmehr ist es das hegemoniale System politischer Herr­ schaft, das unwillig ist, einen wesentlichen Teil der steirischen Bevölkerung über Wahlen am demokratischen Rechtsstaat teilhaben zu lassen. Der Politologe Rainer Bauböck hat sich bereits 1994 in seiner Habilitations­ schrift mit dem Problem der mangelnden demokratischen Legitimation in Migra­tions­gesellschaften auseinandergesetzt, wenn das Wahlrecht an die Staats­ bürgerschaft gekoppelt ist. Aus dem Faktum, dass Menschen zunehmend mobil sind bzw. sein müssen, leitet er die Notwendigkeit einer transnational citi­ zenship, einer transnationalen Bürgerschaft ab.19 Diese ist nicht lediglich eine Utopie, sondern etwa in der Europäischen Union bereits politische Realität. Umso stärker werden Defizite der politischen Inklusion sichtbar, wenn Menschen aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union über Freizügigkeit und nach kurzer Zeit über ein kommunales Wahlrecht verfügen, während teils schon lange in Österreich lebenden Menschen aus Drittstaaten dieses verwehrt wird. Der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck kritisiert in der Ausei­ nan­ dersetzung mit sozialer Ungleichheit vehement einen nationalen Blick, der „‘befreit‘ vom Blick auf das Elend der Welt“,20 durch den Politik und auch Wissenschaft „in ihrem methodologischen Nationalismus“21 nach wie vor bestimmt sind. Notwendig sei vielmehr ein kosmopolitischer Blick.22 Dieser kosmopolitische Blick macht in einer transnationalen Wendung auf die steirische Migrationsgesellschaft Strukturen der politischen Ausschließung sichtbar. Ein weiterer Schritt, den nationalen Blick aufzuweichen, besteht darin, Fragen der sozialen Ungleichheit spezifisch im Migrationskontext zu beleuchten. Regelmäßig bestätigen Statistiken aufs Neue, wie es um die soziale Ungleichheit in Österreich bestellt ist. Frauen verdienen weniger und leisten gleichzeitig mehr Hausarbeit. Alleinverdienerinnen sind in einem besonderen Ausmaß von Armut betroffen. Menschen mit Behinderungen finden beim Zugang zum Arbeitsmarkt besondere Barrieren vor, ebenso ältere Menschen und solche, die sich zu einer vom Mainstream abweichenden sexuellen Orientierung bekennen. Wiederum weit überproportional allerdings sind Menschen mit Migrationshintergrund von sozialer Ausgrenzung betroffen. Dies lässt sich damit erklären, dass soziale Teilhabechancen nach wie vor besonders stark von 19 Vgl. Rainer Bauböck, Transnational Citizenship. Membership and Rights in International Migration, Aldershot 1994. 20 Ulrich Beck, Angelika Poferl, Große Armut, großer Reichtum: Zur Transnationa­ lisierung sozialer Ungleichheit, Frankfurt am Main 2010, S. 12. 21 Ebda., S. 13. 22 Vgl. Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen: Soziolo­ gische Aufklärung im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008, S. 38.

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ethnisierenden Grenzziehungen bestimmt sind. Aus diesem Grund muss auch zwischen Personen, die aus einem EU-Staat kommen und Drittstaatsangehörigen differenziert werden. Um homogenisierenden Zuschreibungen vorzubeugen, ist festzuhalten, dass es die Menschen mit Migrationshintergrund nicht gibt. Während aber durchschnittlich 19 Prozent der Bevölkerung von Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung betroffen sind, gilt dies für Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft zu 39 Prozent.23 Auch unter jenen, die (als ehemalige Nicht-EU bzw. EFTA-StaatsbürgerInnen) eingebürgert und damit rechtlich gleichgestellt sind, sind 28 Prozent von Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung betroffen.24 Dafür, was uns diese nüchternen und ernüchternden Zahlen erzählen, gibt es verschiedene Ursachen. Unter anderem werden die Kompetenzen, die zugewanderte Menschen mitbringen, oft nicht anerkannt. Bei der Arbeitssuche werden sie besonders häufig diskriminiert. Die Hautfarbe, das Tragen eines Kopftuchs, ein leichter Akzent oder auch nur ein Name, der keinen als „einheimisch“ wahrgenommenen Klang hat, sind Gründe dafür, um gar nicht erst zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. In der Arbeitswelt sind Menschen mit Migrationshintergrund in Branchen überrepräsentiert, die schlecht entlohnt, gesundheitsgefährdend und insgesamt durch Prekarität charakterisiert sind. Flüchtlingen in laufenden Verfahren ist rechtlich überhaupt nur ein Zugang zu Saisonjobs erlaubt, ausgenommen jugendliche Asylwerber und Asylwerberinnen, die, von Bundesland zu Bundesland verschieden, in sogenannten Mangelberufen eine Lehre absolvieren können. In Krisenzeiten verlieren Menschen mit Migrationshintergrund als Erste ihre Stellen. Die Statistiken des Arbeitsmarktservice belegen in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit regelmäßig, dass MigrantInnen die am stärksten betroffene Gruppe sind. Im Vergleich zu 2013 ist die Anzahl der vorgemerkten Arbeitslosen 2014 in der Steiermark insgesamt um 8,1 Prozent, bei Ausländern und Ausländerinnen dagegen um 19,2 Prozent gestiegen.25 Im Ausländerbeschäftigungsgesetz sind hierarchisch genaue Rangfolgen festgelegt, die den Zugang zum Arbeitsmarkt regeln. Die Essenz des Gesetzes lässt sich mit „Österreicher zuerst bzw. Asylwerber zuletzt“ zusammenfassen, die am unteren Ende der Skala quasi mit einem Arbeitsverbot belegt sind bzw. bestenfalls Zugang zu Jobs haben, zu denen sich in Österreich kaum mehr Menschen zwingen lassen.

23 Vgl. Statistik Austria (Hg.), Tabellenband EU-SILC 2013, Einkommen, Armut und Lebensbedingungen, Wien 2014, S. 78. 24 Vgl. ebda., S. 78. 25 Vgl. http://www.ams.at/stmk/ueber-ams/medien/ams-steiermark-news/arbeitsmarktinformation-steiermark-jahr-2014, 7.3.2015.

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Eine wesentliche Rolle in der (Re)Produktion sozialer Ungleichheit spielt in Österreich das Bildungssystem. Ausgrenzung wird gleichsam vererbt. Regional unterschiedlich gilt auch hier wieder, dass Segregation besonders entlang ethnisierender Grenzziehungen erfolgt. Nicht nur traditionelle, etwa geschlechtsspezifische, Rollenzuschreibungen produzieren Benachteiligung, sondern insbesondere ein Bildungssystem, in dem Pädagogen und Pädagoginnen Kinder mit Migrationshintergrund nicht angemessen fördern, damit diese erfolgreich weiterführende Schulen und Universitäten besuchen können. Mehrsprachigkeit wird nach wie vor kaum als Ressource gesehen, wenn es sich nicht um Prestigesprachen handelt. Armut, verstanden als unzureichende Fähigkeit zu sozialer Teilhabe, so lässt sich konstatieren, macht fremd. Dies trifft nicht nur, allerdings besonders wirkungsmächtig, für Menschen mit Migrationshintergrund zu. Migration also, lässt sich schlussfolgern, macht bestehende Probleme und Herausforderungen in ihrer Brisanz deutlicher sichtbar. Besonders dramatisch sind die Auswirkungen für Jugendliche mit Migrationshintergrund, die bereits in Österreich geboren wurden. Diese kennen ihre angebliche und zugeschriebene Heimat, die die ihrer Eltern ist, oft nur vom Hörensagen oder von Urlauben. In diesen Fällen schmerzen Fremdheitszuschreibungen besonders. Erschwerend kommt hinzu, dass die Abnahme von Armutsgefährdung durch Bildung für Menschen mit Migrationshintergrund bzw. vor allem solche aus Drittstaaten nicht zutrifft. „Bildung ist wichtig, aber nutzlos, wenn die Chancen nicht fair verteilt sind.“26 Soziale Ungleichheit, so der Befund des Soziologen August Gächter, wird nämlich noch stärker als im Bildungswesen am Arbeitsmarkt produziert, wo erworbene Bildung verpufft, wenn Diskriminierung ihre Verwertung verunmöglicht. Resümierend lässt sich konstatieren, dass die Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund strukturell in unserer Gesellschaft verankert ist. Diskriminierung und Rassismus als individuelles (Fehl)Verhalten zu kritisieren, würde zu kurz greifen. Vielmehr wird im Integrationsdiskurs und damit in Zusammenhang stehenden Praxen der Exklusion kontinuierlich und systematisch Fremdheit produziert. Im Widerspruch zur faktischen Heterogenität wird Gesellschaft als eine homogene vorgestellt, wodurch Menschen mit Migrationshintergrund Gewalt angetan wird.

26 August Gächter, Faire Chancen sind essenziell für die Armutsbekämpfung, in: Robert Reithofer (Hg.), Grenzenlos. Basisbildung zwischen Empowerment und Antidiskriminierung, Graz 2010, S. 41.

34 | Robert Reithofer

Das Ausland

verletzt immer

nichtkolonialen

B licks

– Versuch

eines

Flüchtlinge und MigrantInnen sind in der Gestaltung ihres Lebens laufend mit Barrieren konfrontiert. Ob im Alltag, in der Schule oder bei der Arbeitssuche, regelmäßig werden sie als fremd wahrgenommen und behandelt. Auch wenn sie in der Steiermark geboren wurden, werden sie beispielsweise aufgrund ihrer dunkleren Hautfarbe oder weil sie ein Kopftuch tragen oft durch eine ethnische Brille betrachtet und als nicht zugehörig kategorisiert. Trotz vieler Probleme im Versuch, ihr Leben zu bewältigen, sind Zugewanderte und Flüchtlinge allerdings häufig erfolgreich, wenn sie sich nicht mit Diskriminierung abfinden und Barrieren überwinden. Gerade in einer Gesellschaft, in der politisch Verantwortliche nach Tatbeständen der „Integrationsunwilligkeit“ suchen und gleichberechtigte demokratische Teilhabe durch Sondergesetze beschnitten wird, ist es von eminenter Bedeutung, migrantische Lebensentwürfe jenseits eines stigmatisierenden kolonialen Blicks sichtbar zu machen. Diese Autonomie unter den vorgefundenen gesellschaftlichen Umständen einer Migrationsgesellschaft, die sich selbst nicht als solche wahrnimmt, darzustellen, war das Anliegen eines ISOP-Projektes der slowenischen Künstlerinnen Maruša Krese und Meta Krese. Im Frühjahr 2010 waren in den Arkaden des Grazer Landhaushofes, dem Sitz der steirischen Landesregierung, Porträts selbstbewusster Menschen zu sehen. Stolz blickten im oststeirischen Feldbach Kinder, Frauen und Männer in die Kamera der slowenischen Fotokünstlerin Meta Krese. „Wir sind da – MigrantInnen in der Mitte unserer Gesellschaft“,27 so der Titel der Ausstellung, zeigte Bilder von aus der Türkei zugewanderten Menschen vor dem Hintergrund einer Flagge in roter und weißer Farbe. Ob es sich dabei um die österreichische oder die türkische Flagge handelt, erschließt sich dem Auge des Betrachters nicht eindeutig. Vielleicht gehen auch beide ineinander auf, so eine mögliche Sichtweise. Dieses künstlerische Spiel mit nationalen Grenzziehungen verweist darauf, dass die Lebensgeschichten von Menschen immer öfter und selbstverständlicher nicht nur an einen Ort gebunden sind. Gleichzeitig allerdings macht dieses künstlerische Spiel Verletzungen von Menschen sichtbar, die tagtäglich an Grenzen stoßen und die Erfahrung machen, dass sie nicht dazugehören. In lyrisch verdichteter Form erzählt die Schriftstellerin Maruša Krese, deren Texte mit den Fotos der Ausstellung „Wir sind da“ verwoben wurden, von eben jenen „Wunden“, die aus der Nichtzugehörigkeit resultieren. Lapidar heißt es da

27 Robert Reithofer (Hg.), Wir sind da. MigrantInnen in der Mitte unserer Gesellschaft, Graz 2011.

Zwischen Diversitätsrhetorik und kolonialer Praxis | 35

an einer Stelle: „Das Ausland. Verletzt immer.“28 Im Porträt eines Jungen wird der selbstbewusste Blick durch Skepsis relativiert. „Ich habe ein Geschenk bekommen. Ein Leben. Ich bin bereit, an die Reihe zu kommen.“29 Diese das Fotoporträt begleitenden Verse Maruša Kreses erzählen vom Wunsch und Anspruch, dazuzugehören und davon, dass das vorherrschende Verständnis von Heimat zugewanderte Menschen ausschließt. Die Auflösung des Nationalen, die Uneindeutigkeit in der Zuordnung der Farben zu den jeweiligen Flaggen sind im Sinne Ernst Blochs lesbar als ein Noch-Nicht, als Vorschein einer anderen Gesellschaft, als Verweis auf ein transnationales Gemeinsames. ‚Wir sind da, wir sind längst Teil der Feldbacher und der steirischen Gesellschaft‘, sagen uns die aus der Türkei zugewanderten Frauen, Männer und Jugendlichen. ‚Wir sind da, nach einer langen Reise angekommen im Landhaus, dem Sitz des steirischen Landtages. Wir sind stolze Mitglieder dieser Gesellschaft.‘ Diese künstlerische Installation kontrastiert den hegemonialen politischen Diskurs einer strukturellen Ausschließung, der Heimat als exklusiven Klub definiert: ‚Ihr gehört nicht dazu, als Fremde habt ihr kein Recht auf gleichberechtigte gesellschaftliche und politische Teilhabe. Das Wahlrecht ist uns vorbehalten. Den Landtag könnt ihr bestenfalls als Gäste betreten.‘ Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Spannungsfeld Gesellschaftliche Vielfalt“ habe ich den ehemaligen Grazer Stadtschreiber Fiston Mwanza Mujila eingeladen, sich Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ literarisch zu vergegenwärtigen. Er hat sich dieser Herausforderung multiperspektivisch in Form eines langen Gedichtes angenähert, das im Rahmen der Auftaktveranstaltung zum Thema Menschenrechte Ende 2013 vorgetragen wurde. Ein zweites Mal wurde das Gedicht am Ende der Reihe, die sich mit der Möglichkeit von Heimaten im Plural auseinandersetzte, im Jänner 2015 präsentiert, zeitgleich mit der Beschlussfassung des Landtagsantrages zur „Integrationsunwilligkeit“. Den Hintergrund des literarischen Verweisungszusammenhangs bilden drei durch die Biographie Fiston Mwanza Mujilas lebensgeschichtlich miteinander in Beziehung stehende Orte: Lubumbashi, sein Geburtsort und seine Heimat im Kongo, Brüssel, die Hauptstadt jenes Landes, das zu Zeiten Leopolds II. im Kongo eines der brutalsten Kolonialregime installierte und wo er sich zu Studienzwecken für längere Zeit aufgehalten hat, sowie Graz, seine zweite Heimat. Sein „Monolog eines Verdammten“30 betiteltes Gedicht handelt von ei28 Ebda., S. 7. 29 Ebda., S. 11. 30 Fiston Mwanza Mujila, Monolog eines Verdammten. Für Solo-Saxophon, Graz 2013. Übersetzung aus dem Französischen: Gerhard Teissl. Unveröffentlichtes Manuskript.

36 | Robert Reithofer

nem Aufschrei gegen koloniale Unterdrückung. Die ersten Verse sprechen von der Weigerung, koloniale Unterwerfung weiter zu akzeptieren: Erbrechen ist ein Recht Genauso wie die Weigerung zu essen Ich werde das nicht zweimal sagen Ich habe es satt, der Sündenbock zu sein, der Verfluchte, der Verdammte, der Idiot der Republik, der Arbeitslose, der Immigrant, der Arme, der Dumme zu sein, der Asylsuchende, der Neger Genug von diesem Hundeleben!31

Die kolonialen Wirkungskräfte werden derart stark empfunden, dass der Befreiungsakt negativ formuliert werden muss. In archaisch anmutender Wucht wird die Hohlheit menschenrechtlicher Diskurse umgemünzt in das (Menschen) Recht auf Erbrechen. Dieses Erbrechen steht in mehreren Anläufen für den Versuch, sich kolonialistischer Verwerfungen, die sich tief in den Körper eingeschrieben haben, zu entledigen. Der Körper, der sich als fremder gegenübertritt, „möchte sich aus seinem Körper des Verdammten befreien!“. Dazu bedarf es der schichtweisen Abtragung kolonialistischer Fremdkörper. Der Monolog eines Verdammten verbleibt in seiner Hoffnungslosigkeit bis zum Schluss in der Negation. Frage: wozu mich in eure Zivilisation zwängen, um mich dann mit Knüppelschlägen zu verjagen? Wenn ihr keine Antworten auf meine Alpträume habt, dann lasst mich erbrechen. Erbrechen, erbrechen, erbrechen, erbrechen, erbrechen, erbrechen Bis zur Erschöpfung Bis ich das Bewusstsein verliere Bis ich an meinem Erbrochenen krepiere!32

Der Monolog eines Verdammten, der in Graz in französischer Sprache geschrieben wurde, transzendiert als ein an Hiob gemahnender Aufschrei konkrete Kolonialgeschichten und verdichtet sie gleichzeitig in einem transnationalen Sinn. Diese transnationale Perspektive kann auch bezogen auf die steirische Integrationsdebatte gelesen werden, die integrationsunwillige Körper 31 Ebda. 32 Ebda.

Zwischen Diversitätsrhetorik und kolonialer Praxis | 37

konstruiert, denen als Opfer in einem rassistischen Diskurs von den Tätern ihre „Integrationsunwilligkeit“ dann auch noch zum Vorwurf gemacht wird.

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Rassismus, konstatiert Miltiadis Oulios „ist nicht als bloßes Vorurteil oder ausschließlich rechtsextreme Ideologie zu verstehen, sondern als soziales MachtKräfteverhältnis, das die Gesellschaft durchzieht, sich beständig verändert und unterschiedliche Ausdrucksformen besitzt bzw. Konjunkturen unterworfen ist“.33 Die spezifisch steirische Ausprägung dieses Einschluss-AusschlussSpiels kommt seit Beginn 2015 im Diskurs der „Integrationsunwilligkeit“ zum Ausdruck. Dieselbe Landesregierung und derselbe Landtag, die sich 2011 in der „Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark“34 dazu bekannten, dass Diskriminierung bekämpft werden und die Steiermark allen Menschen Heimat sein soll, schließt jene aus, denen „Integrationsunwilligkeit“ unterstellt wird. Gerade die Unbestimmtheit des Begriffes macht diesen zum ausgrenzenden Kampfbegriff, der sich gegen Menschen mit Migrationshintergrund richtet. Eine in der diffusen Unverbindlichkeit verbleibende Diversitätsrhetorik wird realpolitisch durch faktische Fremdheitsproduktion kontrastiert. Eine Versachlichung der Diskussion unter dem Titel der „Integrationsunwilligkeit“ in einer Kommission, die Anfang März der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, stellt einen Widerspruch in sich selbst dar und ist deshalb grundsätzlich unmöglich. Der Integrationsunwilligkeitsdiskurs verschärft die bereits bestehende Ethnisierung gesellschaftlicher und politischer Handlungsfelder und die damit einhergehende strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund. Verantwortungsvolle Politik hätte sich in Abkehr von einer Politik der Ethni­ sierung mit der Herausforderung auseinanderzusetzen, wie in einer unwiderruflich transnational verfassten Migrationsgesellschaft der soziale Zusammenhalt gestärkt werden kann, ohne gleichzeitig bestimmte Gruppen von Menschen auszugrenzen. Zustimmend nimmt Zygmunt Bauman auf Nancy Fraser Bezug, wenn diese „die weit verbreitete Trennung zwischen der Politik kultureller Differenzierung und der Politik sozialer Gleichheit“ kritisiert und betont, dass „zur Gerechtigkeit heute sowohl Umverteilung als auch Anerkennung gehören“.35 33 Miltiades Oulios, Blackbox Abschiebung. Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären, Berlin 2013, S. 11. 34 http://www.zusammenhalten.steiermark.at/cms/dokumente/11562700_103650128/6a a9c633/Charta_Unterlagen_22062011_Web_.pdf, 6.3.2015. 35 Zygmunt Bauman, Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt am Main 2009, S. 94.

38 | Robert Reithofer

Bevor die steirische Diversitätspolitik durch den Integrationsun­willig­keits­ diskurs abgelöst wurde, hat diese in ersten Schritten eine Politik der Vielfalt umzusetzen versucht. Da diese vor allem auf der symbolischen Ebene angesiedelt war, wurden die tief verankerten Strukturen des Ausschlusses von Menschen mit Migrationshintergrund noch sichtbarer. Die Bearbeitung von migrationsspezifischen Fragen im breiteren Zugang einer Diversitätsstrategie des Landes Steiermark war teils auch dadurch motiviert, das hoch emotional diskutierte Thema Migration dadurch versachlichen zu wollen, indem es neben anderen Themen mitbearbeitet wird. Dieser Versuch ist offensichtlich gescheitert. Solange nicht nachhaltig in diskriminierende Strukturen interveniert wird, solange wird auch der Migrationshintergrund nicht in den Hintergrund der Wahrnehmung treten, sondern als Fremdheit im Vordergrund verbleiben. Gleichstellungspolitik ernstgenommen bedeutet, dass Eingriffe in Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit immer damit Hand in Hand gehen, dass bislang illegitimerweise bevorzugte Menschen getragen durch ihre jeweiligen sozialen Netzwerke Privilegien verlieren. Das aber geschieht kaum freiwillig, sondern ist ein konfliktgeladenes Thema im Feld politischer Auseinandersetzungen. In diesen Auseinandersetzungen geht es in den Worten von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan auch darum, ob privilegiertes Herrschaftswissen verlernt werden kann.36 Die durch „Zuwanderung gewachsene, wachsende und sich verändernde Pluralität ist keine vorübergehende Sondersituation, sondern dauerhafte Normali­ tät“,37 wird in der Charta des Zusammenlebens konstatiert. Für eine zukunftsfähige Politik ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer konsequenten Abkehr vom hegemonialen Integrations(unwilligkeits)diskurs, der abgelöst werden muss von einer inklusionsbasierten Diversitätsphilosophie. Ein Umbau öffentlicher und auch privater Einrichtungen ergibt sich daraus als Handlungsfeld. Dazu ist ein systematischer Aufbau entsprechender Kompetenzen dringend erforderlich und als Voraussetzung dafür eine Politik, die diesen Paradigmenwechsel forciert. Die eigentliche politische Herausforderung besteht zudem darin, zu kommunizieren, dass Österreich aus ökonomischen, demographischen und sozialpolitischen Gründen dringend auf Zuwanderung angewiesen ist. Sollen Zuwanderer und Zuwanderinnen allerdings nicht dauerhaft gezwungen werden, den Bedarf an gering qualifizierten Jobs abzudecken, was nur „mit Hilfe krasses-

36 Vgl. María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie: eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 60. 37 http://www.zusammenhalten.steiermark.at/cms/dokumente/11562700_103650128/6a a9c633/Charta_Unterlagen_22062011_Web_.pdf, 6.3.2015, S. 10.

Zwischen Diversitätsrhetorik und kolonialer Praxis | 39

ter Diskriminierung“38 möglich wäre, ist laufende Zuwanderung auch deswegen notwendig. Verbreitete Ängste vor Zuwanderung und ihren Folgen in verantwortungsvoller Weise ernst zu nehmen, darf aus diesen Gründen nicht weiter dazu führen, dass Politik vor allem in Wahlkampfzeiten aus Angst vor der Angst diese (re)produziert.

L iteratur Rainer Bauböck, Transnational Citizenship. Membership and Rights in International Migration, Aldershot 1994. Rainer Bauböck, Gleichheit, Vielfalt und Zusammenhalt – Grundsätze für die Integration von Einwanderern, in: Patrik-Paul Volf, Rainer Bauböck: Wege zur Integration. Was man gegen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit tun kann, Klagenfurt/Celovec 2001. Zygmunt Bauman, Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005. Zygmunt Bauman, Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt am Main 2009. Ulrich Beck, Angelika Poferl, Große Armut, großer Reichtum: Zur Transnationali­ sierung sozialer Ungleichheit, Frankfurt am Main 2010. Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen: Sozio­ logische Aufklärung im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008. August Gächter, Gleiche Arbeitsmarktchancen – warum nicht für alle?, in: WISO 36. Jg., Linz 2/2013, S. 93–116. August Gächter, Faire Chancen sind essenziell für die Armutsbekämpfung, in: Robert Reithofer (Hg.), Grenzenlos. Basisbildung zwischen Empowerment und Antidiskriminierung, Graz 2010, S. 36–47. August Gächter, Richtig über soziale Mobilität reden, in: Robert Reithofer, Maruša Krese, Leo Kühberger (Hg.), Gegenwelten. Rassismus, Kapitalismus & soziale Ausgrenzung, Graz 2007, S. 381–394. Oliver Gruber, Florian Walter: Politische Inklusion und boundary problem: Aktuelle Herausforderungen und demokratietheoretische Antworten, in: Ilker Ataç, Sieglinde Rosenberger (Hg.), Politik der Inklusion und Exklusion, Göttingen 2013, S. 71–87.

38 August Gächter, Richtig über soziale Mobilität reden, in: Robert Reithofer, Maruša Krese, Leo Kühberger (Hg.), Gegenwelten. Rassismus, Kapitalismus & soziale Ausgrenzung, Graz 2007, S. 393.

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Miltiades Oulios, Blackbox Abschiebung. Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären, Berlin 2013. Robert Reithofer (Hg.), Wir sind da. MigrantInnen in der Mitte unserer Gesellschaft, Graz 2011. Statistik Austria (Hg.), Tabellenband EU-SILC 2013, Einkommen, Armut und Lebensbedingungen, Wien 2014. María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie: eine kritische Einführung, Bielefeld 2005.

Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit im Kontext des europäischen Minderheitenschutzes Joseph M arko

1. D ie rechtliche Struktur und historische E ntwicklung des A rtikel 4 FCNM (F ramework C onvention for the Protection of National M inorities) Mit der Rahmenkonvention zum Schutz der nationalen Minderheiten (FCNM), die als multilateraler völkerrechtlicher Vertrag im Kontext des Europarates erarbeitet wurde und 1998 in Kraft getreten ist,1 wurde in Artikel 4 auch eine „moderne“ Fassung des Gleichheitsprinzips verankert, die weit über die „klassische“, den ideologischen Traditionen des Liberalismus und Rechtspositivismus entsprechende Formulierung hinausgeht:

1 Vgl. zur Genese der Rahmenkonvention und ihrer Umsetzung in den Mitgliedsstaaten des Europarates Joseph Marko, The Council of Europe´s Framework Convention for the Protection of National Minorities, in: Renate Kicker (ed.), The Council of Europe. Pioneer and guarantor for human rights and democracy, Strasbourg 2010, S. 83–96 und Tove Malloy, The Political Process of Monitoring the FCNM, in: Tove Malloy/ Ugo Caruso (eds.), Minorities, their Rights, and the Monitoring of the European Framework Convention for the Protection of National Minorities, Leiden–Boston 2014, S. 141–165.

42 | Joseph Marko

Article 4 1 The Parties undertake to guarantee to persons belonging to national minorities the right to equality before the law and of equal protection of the law. In this respect, any discrimination based on belonging to a national minority shall be prohibited. 2 The Parties undertake to adopt, where necessary, adequate measures in order to promote, in all areas of economic, social, political and cultural life, full and effective equality between persons belonging to a national minority and those belonging to the majority. In this respect, they shall take due account of the specific conditions of the persons belonging to a national minority and those belonging to the majority. In this respect, they shall take due account of the specific conditions of the persons belonging to national minorities. 3 The measures adopted in accordance with paragraph 2 shall not be considered to be an act of discrimination.

Schon der Normtext von Artikel 4 Absatz 1 trifft eine begriffliche Unterscheidung, die die gesamte Struktur des Gleichheitsprinzips umfasst. So ist im ersten Satz einerseits vom bereits im 19. Jahrhundert auf liberal-individualistischer ideologischer Grundlage entwickelten „Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz“ („right of equality before the law“) die Rede, das im zweiten Absatz spiegelbildlich als Diskriminierungsverbot wegen Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit definiert und spezifiziert wird und damit individuellen Rechtsschutz gegen Diskriminierung durch staatliche Organe gewähren soll. Andererseits ist neben dem „Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz“ in Absatz 1 aber auch von einem „gleichen Schutz durch das Recht“ („equal protection of the law“) die Rede,2 sodass sich die rechtsdogmatische Frage stellt, welchen personalen und sachlichen Geltungsbereich diese Bestimmungen haben. Diese Frage ist zuerst einmal im systematischen Zusammenhang mit dem Normtext der Absätze zwei und drei weiterzuentwickeln. So haben nach Absatz 2 die Vertragsstaaten die Pflicht, wenn notwendig, adäquate Maßnahmen zu treffen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens, volle und effektive Gleichheit zwischen Personen, die einer nationalen Minderheit angehören und jenen, die der Mehrheit angehören, zu fördern. Schließlich legt der Normtext von Absatz 3 fest, dass solche Maßnahmen nicht als Akt der Diskriminierung anzusehen sind. Damit sind die Normstrukturen zwischen drei Grundbegriffen zu klären: Gleichheit vor dem Gesetz – gleicher Schutz durch Recht – volle und effektive Gleichheit.

2 Vgl. ganz allgemein, gerade den minderheitenschutzrechtlichen Kontext betreffend, Tilman Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, Heidelberg 2011.

Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit | 43

Ausgangspunkt für das konzeptionelle Verständnis dieser Rechtsbegriffe ist das – wie in den Erläuternden Bemerkungen zu Artikel 4 im zweiten Absatz angedeutet – klassische, in der Auseinandersetzung zwischen liberalen und sozial­ demokratischen ideologischen Auffassungen entwickelte Begriffsverständnis von formaler Gleichheit (vor dem Gesetz) und materieller Gleichheit (durch das Gesetz). Während ersteres normatives Gebot ursprünglich nur die staatlichen Organe verpflichtete, bei der Rechtsanwendung Diskriminierungen von Personen zu unterlassen, geht der normative Inhalt des Begriffs materieller Gleichheit weit darüber hinaus: So soll – nicht nur durch staatliches Unterlassen von Diskriminierung – sondern gerade durch staatliches Handeln Gleichheit in den genannten gesellschaftlichen Lebensbereichen hergestellt werden, was durch individuellen Rechtsschutz allein nicht garantiert werden kann, sondern eben auch erfordert, die Zugehörigkeit von Personen zu oftmals in Volkszählungen vorgenommenen statistisch definierten Klassen oder ethnischen Gruppen, wie sie auch im Zuge des Ratifizierungsverfahrens der Rahmenkonvention von den Regierungen und Parlamenten ausdrücklich benannt werden, zu berücksichtigen. Die Erläuternden Bemerkungen zu Absatz 2 und 3 spezifizieren schließlich bis zu einem gewissen Grad das Verhältnis zwischen formaler – materieller – effektiver Gleichheit. So wird gerade im Hinblick auf das Verständnis von effek­ tiver Gleichheit der Begriff adäquate Maßnahmen im Normtext näher bestimmt als „spezielle Maßnahmen, die die spezifischen Bedingungen der betroffenen Personen betreffen.“ Der Beratende Ausschuss nach der Rahmenkonvention3 hat sich in seiner Stellungnahme zu Deutschland und Portugal allerdings veranlasst gesehen, wegen der grundsätzlichen Ablehnung solcher Maßnahmen durch nationale Regierungen, aber auch Verfassungsgerichte wie beispielsweise der Slowakei,4 in einer Art authentischen Interpretation der unterschiedlichen Rechtsbegriffe im Normtext und den Erläuternden Bemerkungen festzuhal3 Der Beratende Ausschuss (Advisory Committee) besteht aus 18 unabhängigen Experten mit der Aufgabe, das (Aussen-)Ministerkomitee des Europarates bei der Kontrolle der Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der FCNM zu beraten. In diesem so genannten Monitoringverfahren haben die Staaten, die die FCNM ratifiziert haben, in periodischen Abständen „Staatenberichte“ über die rechtliche und faktische Situation der nationalen Minderheiten an das Ministerkomitee zu übermitteln. Diese Staatenberichte werden zuerst vom Beratenden Ausschuss, dem der Autor dieses Artikels sieben Jahre angehörte, in einem mehrstufigen Verfahren begutachtet. Dieser jeweilige Landesbericht wird dann als „Opinion“ dem Ministerkomitee übermittelt, das dann nach Stellungnahme der betroffenen Regierung Empfehlungen zur Verbesserung der Situation der Minderheiten abgibt. 4 Vgl. Stellungnahme zur Slowakischen Republik, ACFC/OP/III(2010)004, S. 13.

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ten, dass der Beratende Ausschuss daher beide Begriffe umfassend als positive Maßnahmen bezeichnet, „in order to unify the language of its opinions and to embrace all different terms used to refer to these measures.“5 Damit ist allerdings noch nichts über die konkreten Rechtspflichten der Staaten ausgesagt, die sich aus dem Normtext ergeben. So muss dies ja nicht unbedingt bedeuten, dass damit eine Rechtspflicht der Vertragsstaaten besteht, jedenfalls spezielle Maßnahmen zugunsten der Angehörigen nationaler Minderheiten zu ergreifen. Schon aus dem Normtext selbst (argumentum „where necessary“) ergibt sich die erste Einschränkung, die an den Text von Artikel 27 des Internationalen Paktes über die Politischen und Bürgerlichen Rechte 1966 erinnert, nach dem ja Minderheitenangehörige auch nur von solchen Vertragsstaaten geschützt werden müssen, „[...] in which ethnic, religious or linguistic minorities exist, [...] “. Eine zweite Beschränkung aus dem Normtext selbst ergibt sich darüber hinaus aber auch in systematischer Interpretation mit dem Text des Artikels 20 der Rahmenkonvention, in dem ausdrücklich auch von „Rechten anderer, insbesondere den Rechten der Mehrheitsangehörigen“ die Rede ist. Auch wenn dies in den Erläuternden Bemerkungen zur Artikel 20 (nur) auf die Situation von Mehrheitsangehörigen bezogen wird, die in einem Teil des Vertragsstaates in der Minderheit sind, also den Schutz von Mehrheitsangehörigen in einer Minderheitensituation bezweckt, wird aus den Erläuternden Bemerkungen zu Artikel 4 klar, dass alle speziellen Maßnahmen – d.h. möglicherweise auch zugunsten von Mehrheitsangehörigen (!) – adäquat im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips sein müssen, wie es insbesondere in der Judikatur des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) als Prüfungsmaßstab für die Vereinbarkeit von nationalen Regelungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entwickelt worden ist. Darüber hinaus wird in den Erläuternden Bemerkungen ausgeführt, dass diese Maßnahmen weder zeitlich noch sachlich darüber hinausgehen dürfen, um das Ziel der „vollen und effektiven Gleichheit“ zu erreichen. Damit – und in Verbindung mit Absatz 3 – werden aber Probleme aufgeworfen, die zeigen, dass die textliche Fassung des Artikels 4 Absatz 2 und 3 den Stand der politischen und rechtlichen Diskurse in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.6 Einerseits wird in den Erläuternden 5 Stellungnahme zur Bundesrepublik Deutschland, ACFC/OP/III(2010)003, S. 14, Fn 10; Stellungnahme zu Portugal, ACFC(OP/III(2009)003, S. 11, Fn 7. 6 Zur rechtlichen Standardsetzung nach 1945 vgl. Joseph Marko, Ethnopolitics. The Challenge for Human and Minority Rights Protection, in: Claudio Corradetti (ed.), Philosophical Dimensions of Human Rights, Dordrecht et.al. 2012, insbesondere S. 276–280.

Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit | 45

Bemerkungen ausgeführt, dass es nicht für notwendig erachtet wurde, eine eigene Bestimmung mit dem Prinzip der Chancengleichheit in den Text aufzunehmen, da dieses Prinzip implizit in Absatz zwei enthalten sei. Andererseits wird im Text des Absatz 3 ausgesprochen, dass „spezielle Maßnahmen“ im Sinne des Absatz 2 nicht als „Akt der Diskriminierung“ anzusehen sind. Keine dieser beiden Klarstellungen löst jedoch die damit verbundenen rechtsdogmatischen Probleme, wie sie später in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) der Europäischen Union und des EGMR sowie im Rahmen des Monitoringprozesses der Staatenberichte durch den Beratenden Ausschuss sichtbar werden sollten: Erstens sind Minderheiten, weil Minderheiten, immer in einer strukturel­ len, d.h. permanenten Minderheitenposition, sodass Schutz und Förderung durch spezielle Maßnahmen selbst bei Erreichen des Ziels volle und effekti­ ve Gleichheit nicht automatisch überflüssig werden, sondern zur Garantie der Absicherung der Zielerreichung beibehalten werden müssen. Die Bekämpfung von rechtlicher Benachteiligung durch strukturelle Diskriminierung der Sami in Schweden, wie dies in einem Bericht des Ombudsmannes gegen ethnische Diskriminierung festgehalten ist, wurde durch den Beratenden Ausschuss daher ausdrücklich begrüßt.7 Und zweitens wird mit einer definitorischen Festlegung, dass spezielle Maßnahmen keine Diskriminierung darstellen, das Problem eher verdeckt als gelöst: Spezielle Maßnahmen unterliegen ja nach dem Wortlaut des Absatz 2 sehr wohl der nachprüfenden Kontrolle am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips und sind – auch wenn sie zugunsten der Minderheitenangehörigen ergriffen wurden – damit sehr wohl zu rechtfertigen, d.h. rechtswidrig, wenn sie nicht den Maßstäben der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne entsprechen. Durch jedwede nachprüfende Kontrolle im Sinne des Verhältnismäßig­ keitsprinzips wird jedoch eine Regel – Ausnahme Struktur geschaffen: D.h. „spezielle Maßnahmen“ zum Schutz von Minderheiten sind nur dann rechtfertigbar, wenn sie nicht als Ausnahme von der Regel der Gleichbehandlung im Sinne des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz zu qualifizieren sind, um eben bestehende Ungleichheiten in ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Lebensbereichen abzubauen oder sogar zu beseitigen, was von vielen nationalen Regierungen aus ideologischen und politischen Gründen als Rechtspflicht abgelehnt wird, wie aus den Stellungnahmen des Beratenden Ausschusses hervorgeht. So wurde der Beratende Ausschuss beispielsweise von der britischen Regierung darüber informiert, „[...] equality under the law of the United Kingdom is to be understood as formal equality before the law, and not as providing addi7 Vgl. Stellungnahme zu Schweden, ACFC/OP/III(2012)004, S. 10.

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tional rights for minorities.“8 Dieser Ansicht wurde vom Beratenden Ausschuss daher zu Recht entgegengehalten, dass ein solches Verständnis von speziellen Maßnahmen für benachteiligte Minderheitengruppen den Prinzipien der Artikel 4 Absatz 2 und 3 entgegensteht, da es die Möglichkeit, solche Maßnahmen zu ergreifen, entgegen dem Wortlaut der Bestimmungen (argumentum „where necessary“) ja schon von vorneherein ausschließt. Der Hinweis in den Erläuternden Bemerkungen, dass die Verankerung des Prinzips der Chancengleichheit nicht notwendig, weil implizit enthalten sei, darf dann aber nicht darüber hinwegtäuschen zu fragen, ob – gerade unter dem Gebot der vollen und effektiven Gleichheit – eben nicht weit mehr als nur die Herstellung von Chancengleichheit erforderlich ist. Dies war die Frage, die durch die begriffliche Alternative Chancengleichheit versus Ergebnisgleichheit von Generalanwalt Tesaurus in EuGH, Kalanke, C-450/93, 1995 im Kontext der Gleichstellung von Mann und Frau im Arbeitsleben9 gestellt wurde und vom EuGH nun in ständiger Rechtsprechung berücksichtigt wird. Demzufolge sind sogenannte „positive Maßnahmen“ zur „effektiven Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben“ nach Artikel 157 Absatz 4 AEUV rechtfertigbar, solange sie keine Ergebnisgleichheit bezwecken, auch wenn die Abgrenzung von Chancen- und Ergebnisgleichheit in der Judikatur des EuGH selbst keineswegs überzeugend gelungen ist und insgesamt bisher auch nicht auf den nationalen Minderheitenkontext angewendet wurde. Zusammenfassend lassen sich den Quellen des Primär- wie Sekundärrechts der EU daher folgende europarechtliche Ge- und Verbote auch in Bezug auf nationale Minderheiten festhalten: – Verboten sind direkte wie indirekte Diskriminierung durch staatliche Institutionen, aber auch durch Private, wie eindeutig aus dem Wortlaut der Antirassismusrichtlinie 200010 hervorgeht. So liegt eine unmittelbare Diskriminierung nach Artikel 2 Absatz 2 Ziffer a) dieser Richtlinie vor, „wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer 8 Stellungnahme zu Großbritannien, ACFC/OP/III(2011)006, S. 14. 9 Bei diesem ersten bahnbrechenden Urteil zu dieser Thematik aus dem Jahre 1995 ging es um die Frage, ob eine Quotenregelung zum Zweck der Frauenförderung im Gleichbehandlungsgesetz des deutschen Bundeslandes Bremen europarechtskonform ist. 10 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbe­ handlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. L 180/22, 19.7.2000.

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vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“, während eine mittelbare Diskriminierung nach Ziffer b) dieser Bestimmung vorliegt, „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“ Allerdings haben sich mit der Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht und damit auch der Implementierung der Verpflichtungen aus der Rahmenkonvention einige Probleme ergeben. So wird das Konzept der indirekten Diskriminierung, wie der Beratende Ausschuss etwa am Beispiel Bosnien und Herzegowinas feststellt, oft von staatlichen Organen der Exekutive und Judikative nicht verstanden und die Einführung der Beweislastumkehr gemäß Artikel 8 der Anti­ rassismusrichtlinie wird in den Stellungnahmen zu Ungarn oder Monte­ negro ausdrücklich positiv hervorgehoben, obwohl es sich auch nach der Rechtsprechung des EGMR (siehe unten) um eine selbstverständlich Rechtspflicht handeln müsste.11 Als besonders hervorzuhebende positive Praxis (best practice) wird in der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses zu Ungarn hervorgehoben, dass auch in den Fällen ein Verfahren wegen indirekter Diskriminierung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eingeleitet werden kann, in dem es noch gar nicht zur Erfüllung des Tatbestandes gekommen ist, sodass es also noch kein Opfer im rechtstechnischen Sinne gibt, sondern nur eine Gefahr der Diskriminierung besteht.12 Des Weiteren wird in der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses auch auf ein Urteil des Schweizer Bundesgerichtes aus dem Jahre 2012 hingewiesen, in dem ein Fall von multipler Diskriminierung als Form der indirekten Diskriminierung anerkannt wurde, wobei einer weiblichen Angehörigen einer fahrenden Gemeinschaft der Zugang zu Sozialleistungen verweigert wurde, weil ihr Anspruch auf eine Behindertenbeihilfe ohne Berücksichtigung ihres Lebensstils abgelehnt worden war.13 – Darauf aufbauend kann festgehalten werden, dass es den EU-Mitgliedsstaaten nach der EuGH-Judikatur eindeutig erlaubt ist, gegen strukturelle Benach­ 11 Vgl. Stellungnahme zu Bosnien und Herzegowina, ACFC/OP/III(2013)003, S. 16; Stellungnahme zu Ungarn, ACFC/OP/III(2010)001, S. 11; Stellungnahme zu Monte­ negro, ACFC/OP/III(2013) 002, S. 14. 12 Vgl. Stellungnahme zu Ungarn, ACFC/OP/III(2010)001, S. 11–12. 13 Vgl. Stellungnahme zur Schweiz, ACFC/OP/III(2013)001, S. 11.

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teiligungen, die auf Einstellungen, Verhaltensmuster und Strukturen, die auf einer herkömmlichen Rollenverteilung in der Gesellschaft14 basieren, sodass also kein Verursacher feststellbar ist, auch mit Hilfe von Quotenregelungen vorzugehen, wobei ausschließlich die Anwendung absolut starrer Quoten, die zu einer automatischen und unbedingten Bevorzugung führen, europarechtswidrig ist. – Es gibt allerdings keine europarechtlichen Verpflichtungen mittels positiver Maßnahmen im Sinne von positiven Leistungspflichten, insbesondere Quotenregelungen, gegen strukturelle soziale Ungleichheit vorzugehen oder die Aufrechterhaltung kultureller Verschiedenheit zu gewährleisten, insbesondere wenn es auch zu einer wechselseitigen Verschränkung und Verstärkung von ethnischer Differenz und sozialer Ungleichheit kommt, wie dies etwa bei ethnisch segregierten Wohnvierteln oft der Fall ist. Wiederum als Fälle von best practice hebt der Beratende Ausschuss daher in seinen Stellungnahmen zu Portugal und Ungarn dementsprechende positive Maßnahmen zum Zweck der territorialen Desegregation vor allem von Romasiedlungen auf der Grundlage nationaler Rechtsvorschriften hervor.15

2. D ie J udikatur des Europäischen G erichtshofs M enschenrechte

für

Im Gegensatz zur Judikatur des EuGH16 wurde die Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 14 EMRK gerade im Minderheitenkontext entwickelt und hat folgende Ergebnisse gebracht: – Auch der EGMR unterscheidet zwischen unmittelbarer und – seit Nachova g. Bulgarien, 200417 – mittelbarer Diskriminierung und leitet aus Art. 14 das Gebot an staatliche Organe ab, beide Formen von Diskriminierung zu unterlassen (negative Verpflichtung); in Einklang mit den Begriffsdefinitionen der 14 So der EuGH in Marschall, C 409/95, 1997, §§ 29 – 31. 15 Stellungnahme zu Ungarn, S. 11. Stellungnahme zu Portugal, S. 12. 16 Vgl. auch Robert Rebhahn, Artikel 157 [Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbsleben], in: Jürgen Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 32012, Rnr. 22 und 29. 17 Nachova u.a. g. Bulgarien, Appl.Nr. 43577/98 und 43579/98, 26.2.2004. Hier ging es um die Tötung von 2 Romaangehörigen durch die Polizei, wobei die staatlichen Behörden jegliche Ermittlungstätigkeit im Hinblick auf Diskriminierung unterlassen hatten.

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beiden EG-Richtlinien 2000, ist daher auch für den EGMR der Verdacht einer indirekten Diskriminierung gegeben, wenn eine vorgeblich neutrale staatliche Maßnahme einen überproportionalen Effekt auf die Mitglieder einer be­ stimmten Gruppe hat, sodass, zweitens, statistische Angaben zu diesem Effekt als prima facie Beweis ausreichen und damit eine Beweislastumkehr auslösen. Es muss daher die betroffene Regierung beweisen, dass trotz neutraler Formulierung nicht doch eine verdeckte Absicht zur Diskriminierung vorlag; – der EGMR geht aber seit Stec g. UK, 200618 auch von dem aus Art. 14 abzuleitenden Rechtsprinzip aus, dass eine rechtliche Ungleichbehandlung zur Korrektur faktischer Ungleichheit erforderlich sein kann und entwickelt – durch Anwendung der Doktrin des margin of appreciation – verschieden strenge Prüfungsmaßstäbe zur Frage der Rechtfertigung solcher Diskriminierungen. Wie für die Rechtsprechung des EuGH ergibt sich damit für die Frage der Zulässigkeit von positiven Maßnahmen eine RegelAusnahme-Struktur. – Dementsprechend beinhaltet das Diskriminierungsverbot folgende drei Formen von (positiven) Gewährleistungspflichten (positive obligations): • das Differenzierungsgebot: gem. dem Urteil des EGMR in Thlimmenos g. Griechenland19 sind gleiche Sachverhalte nicht nur gleich zu behandeln, sondern in Gesetzgebung und Rechtsanwendung ist bei konkreten Entscheidungen der faktisch unterschiedliche Kontext zu berücksichtigen und demgemäß Unterschiedliches auch unterschiedlich zu behandeln; • Schutzpflichten: Jedenfalls für den Minderheitenschutzkontext gilt seit Chapman v. UK, 2001,20 dass die staatlichen Organe auch die Verpflichtung haben, unterschiedliche „Lebensstile“ und damit Gruppenidentitäten nicht nur rechtlich anzuerkennen, sondern die Angehörigen von Gruppen gegebenenfalls auch vor privater Diskriminierung effektiv zu schützen. Bei entsprechenden staatlichen Maßnahmen durch Gerichte und Ordnungs- und Sicherheitsverwaltungsorgane handelt es sich aber noch nicht um positive Maßnahmen im eigentlichen Sinn als „spezielle“ Leistungspflichten, die wieder als solche unterteilt werden können in: 18 Stec u.a. g. UK, Appl.Nr. 65971/01 und 659000/01, 12.4.2006. Hier ging es um die Frage, ob ein früheres Pensionsantrittsalter für Frauen als für Männer gerechtfertigt sein kann und man hielt dies im Falle Großbritanniens auf Grund der sich nur langsam ändernden Arbeitsbedingungen für Frauen für gerechtfertigt. 19 Thlimmenos g. Griechenland, Appl Nr. 26695/95, 10.7.1998. Hier ging es um die Diskriminierung eines Angehörigen der Zeugen Jehovas. 20 Chapman g. UK, Appl.Nr. 27238/95, 18.1.2001. Hier ging es um die Diskriminierung von Romaangehörigen.

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- Leistungspflichten: -- Werden vom Staat allgemeine Leistungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialverwaltung zur Verfügung gestellt, ist es den staatlichen Organen verboten, beim Zugang und der Vergabe von Leistungen zu diskriminieren. Im Fall D.H. g. Tschechische Republik, 2007,21 hat der EGMR die Form der institutionellen schulischen Segregation als jedenfalls nicht rechtfertigbare Diskriminierung qualifiziert, weil sie als nur vermeintlich positive Maßnahme nicht geeignet sein kann, faktische Ungleichheiten zu korrigieren, sondern im Gegenteil rassistische Stigmatisierung perpetuiert. Auch im Falle Bosnien und Herzegowinas fordert der Beratende Ausschuss vehement die Beendigung der schulischen Segregation von Kindern der Angehörigen der sog. „konstitutiven Völker“, d.h. Bosniaken, Kroaten und Serben, durch das System von „Zwei Schulen unter einem Dach.“22 -- Im Fall Oršuš23 schließlich beurteilt der EGMR des Unterlassen von positiven Maßnahmen – konkret zusätzlichen Unterricht in der kroatischen Unterrichtssprache für Romakinder – als von vom Staat zur Verfügung zu stellenden spezifischen, nur für die Angehörigen einer Gruppe anzubietenden Leistungen (outreach und spezifische Fördermaßnahmen) als unzulässige Diskriminierung, weil Verletzung der Gewährleistungspflicht, positive Maßnahmen zu ergreifen. - Quoten: In keinem Fall hatte sich der EGMR bisher mit der Frage der Zulässigkeit von Quoten auseinanderzusetzen.24 Können positive Maßnahmen schlussendlich als dogmatische Brücke zwischen dem Verbot der individuellen Diskriminierung und der Herstellung von Gleichheit in der Gesellschaft und damit zwischen dem universalistischen Diskriminierungsverbot und dem speziellen Minderheitenschutz fungieren, indem sie effektive Gleichheit garantieren?

21 D.H. u.a. g. Tschechische Republik, Appl.Nr. 57325/00, 13.11.2007. Auch hier geht es um die Diskriminierung von Roma. 22 Stellungnahme zu BiH, S.2. 23 Oršuš u.a. g. Kroatien, Appl.Nr. 15766/03, 2010, 16.3.2010. 24 Das Beispiel einer Quote für Studienplätze für Angehörige einer bestimmten ethnischen Gruppe, das von David Harris u.a. (Hg.), Law of the European Convention on Human Rights, Oxford 22009, 611, beschrieben wird, ist hypothetisch.

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Aus der Darstellung und Analyse der Entwicklung des Gleichheitsprinzips im Recht der Europäischen Union sowie der EMRK durch die Judikatur der beiden supranationalen europäischen Gerichtshöfe geht hervor, dass die auf dem ideologischen Bias des strikt-individualistischen Liberalismus aufbauende Dichotomie von formaler und materialer Gleichheit durch die Zulässigkeit bzw. sogar positive Rechtspflicht, sogenannte positive Maßnahmen als spezifi­ sche Leistungspflichten gegenüber benachteiligten Gruppen bzw. Kategorien zu ergreifen, jedenfalls überwunden ist. Die rechtsdogmatische Analyse ergibt daher nicht nur auf der Ebene der Abwägung abstrakter Rechtsprinzipien, sondern auch für konkrete Sachverhalte anwendbar, dass strukturelle soziale Ungleichheit wie strukturelle kulturelle Verschiedenheit durch positive Maßnahmen nicht nur abgebaut bzw. geschützt werden darf, sondern – wenn das Urteil des EGMR, Oršuš g. Kroatien, 2010, kein Einzelfall bleibt25 – die wechselseitige Verschränkung und Verstärkung dieser beiden Phänomene wie dies in segregierten Wohnvierteln zum Ausdruck kommt, durch staatliche Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen sogar aktiv als Ausdruck der positiven Rechtspflicht, die aus Artikel 14 EMRK folgt, bekämpft werden muss, da ihr Unterlassen diskriminierenden Charakter haben würde.

L iteratur Tilman Altwicker, Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, Heidelberg 2011. David Harris u.a. (Hg.), Law of the European Convention on Human Rights, Oxford 22009. Tove Malloy, The Political Process of Monitoring the FCNM, in: Tove Malloy/ Ugo Caruso (eds.), Minorities, their Rights, and the Monitoring of the European Framework Convention for the Protection of National Minorities, Leiden–Boston 2014, S. 141–165. Joseph Marko, The Council of Europe´s Framework Convention for the Protection of National Minorities, in: Renate Kicker (ed.), The Council of Europe. Pioneer and guarantor for human rights and democracy, Strasbourg 2010, S. 83–96. Joseph Marko, Ethnopolitics. The Challenge for Human and Minority Rights Protection, in: Claudio Corradetti (ed.), Philosophical Dimensions of Human Rights, Dordrecht et.al. 2012. 25 Der Fall EGMR, Horvath und Kiss g. Ungarn, Appl.No. 11146/11, 29.1.2013, greift zwar wieder die Diskriminierung von Romakindern auf, ist aber dem Fall D.H. g. Tschechische Republik gleichgelagert.

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Robert Rebhahn, Artikel 157 [Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbs­ leben], in: Jürgen Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 32012, Rnr. 22 und 29.

Diskriminierung – Eine sozialpsychologische Ursachensuche: Vorurteile, Stereotype und Intergruppenprozesse Julian A nslinger & Ursula Athenstaedt

Vorbemerkungen Das Schreiben über sozialpsychologische Forschung zu Diskriminierung, Stereotypen und Vorurteilen bringt eine unangenehme Nebenwirkung mit sich: Die Nennung von Vorurteilen und Stereotypen führt zu einer Reproduktion derselben. Bereits das Lesen von konkreten Beispielen kann dazu führen, dass sich Vorannahmen über Gruppen weiter in unserem Gedächtnis verfesti­ gen. Gleichzeitig halten wir eine anschauliche Darstellung von Experimenten mit ihren untersuchten Zuschreibungen jedoch für essentiell, da sie eine Wirklichkeit beschreiben, vor der wir die Augen nicht verschließen dürfen. Denn nur wenn wir Kenntnis von konkreten Stereotypen und Vorurteilen be­ sitzen, können wir auch Wege finden, diese zu bekämpfen. Daher möchten wir unsere Leser*innenschaft darum bitten, stets im Hinterkopf zu behalten, dass es sich bei den berichteten Gruppenbeschreibungen um Zuschreibungen der un­ tersuchten Personen und nicht um von uns als gültig angenommene Tatsachen handelt. Darüber hinaus ist es uns ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass die berichteten Forschungsarbeiten dekonstruktivistischen und queer-theoretischen Ansprüchen oft nicht standhalten. Das heißt, dass die angeführten Studien dazu tendieren, Differenzen zu reifizieren, da sie beispielsweise ethnische Kategorien oder die Geschlechterbinarität selbst in die Untersuchungen hineintragen. Des Weiteren scheinen die Forschungsarbeiten Vorurteile und Stereotype meistens aus der Perspektive eines weißen, heterosexuellen Mannes zu untersuchen,

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wodurch sie unweigerlich eine Norm reproduzieren. In diesem Sinne hel­ fen die Studien aber auch gleichzeitig dabei, ein durch Stereotype, Vorurteile und Diskriminierungen aufrechterhaltenes Machtgefälle zu erschüttern. Denn nur wenn wir verstehen, wie bestehende Machtverhältnisse durch Stereotype, Vorurteile und Diskriminierungen aufrechterhalten werden, können wir Strategien entwickeln, um die gegebenen Machtstrukturen zu verändern. Trotz EU-weiter Anti-Diskriminierungsrichtlinien sind Diskriminierung und Hierarchisierung in der Europäischen Union noch lange keine Relikte vergangener Zeiten. Menschen werden diskriminiert. Unter anderem aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer nationalen Herkunft, ihres Alters, ihrer Behinderung und/oder ihrer Sexualität. Einerseits ist die Ungleichbehandlung verschiedener Gruppierungen immer noch institutionell und strukturell verankert und wird, wenn überhaupt, von Politik und Rechtsprechung nur langsam abgebaut.1 Andererseits ist auch auf individueller Ebene diskriminierendes Verhalten immerzu zu beobachten. Aus sozialpsychologischer Sicht wird Diskriminierung definiert als Verhalten von Individuen, welches die Überlegenheit von Gruppen (und ihrer Mitglieder) über andere Gruppen (und deren Mitglieder) erzeugt, aufrechterhält oder verstärkt.2 Hierbei ist es irrelevant, ob das Verhalten positiv oder negativ intendiert ist. Die psychologischen Ursachen für diskriminierendes Verhalten liegen darüber hinaus oft im Verborgenen und sind den diskriminierenden Personen gar nicht bewusst. Aber wie können wir Diskriminierung abbauen und das Zusammenleben in gesellschaftlicher Vielfalt für alle Individuen gleichberechtigt gestalten? Und was sind das eigentlich für Prozesse, die Menschen dazu verleiten, Dominanzverhältnisse herzustellen oder aufrecht zu erhalten? Auf diese Fragen liefert die sozialpsychologische Forschung verschiedene Antworten, über welche in diesem Beitrag ein Überblick gegeben werden soll. Grundsätzlich können Vorurteile als eine wesentliche Ursache für diskriminierendes Verhalten gesehen werden. Die Sozialpsychologie versteht Vorurteile als Einstellungen gegenüber Angehörigen von Fremdgruppen, die allein auf deren Gruppenzugehörigkeit beruhen. Vorurteile setzen sich aus zwei Komponenten zusammen: einem kognitiven und einem emotionalen (affektiven) Teil. Die kognitive Komponente beruht auf der Bildung von Stereotypen, welche ein 1 Vgl. den Beitrag von Joseph Marko in dieser Publikation. 2 Vgl. John F. Dovidio, Miles Hewstone, Peter Glick, Victoria M. Esses, Prejudice, Stereotyping and Discrimination: Theoretical and Empirical Overview, in: John F. Dovidio, Miles Hewstone, Peter Glick, Victoria M. Esses (Hg.), The SAGE Handbook of Prejudice, Stereotyping and Discrimination, London 2010.

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Resultat von Informationsverarbeitungsprozessen darstellen. Die affektive Komponente verweist auf den Umstand, dass Menschen dazu tendieren und emotional dazu motiviert sind, ihre soziale Welt in Eigen- und Fremdgruppen einzuteilen.3 Diese Einteilung geht zumeist einher mit einer Bevorzugung der Eigengruppe und einer Ablehnung der Fremdgruppe. Zusammenfassend beschreibt die Sozialpsychologie die Prozesse, die hinter Stereotypen stehen, als kalte (emotionslose), kognitive Funktionen von Vorurteilen und die Prozesse hinter der Einteilung in Eigen- und Fremdgruppen als heiße (emotionsgeladene), affektive Funktionen von Vorurteilen. Auf bauend auf dieser Unterscheidung werden im Folgenden beide Komponenten von Vorurteilen (Stereotype und Intergruppenprozesse) getrennt erläutert.

Stereotype Ein nicht unerheblicher Teil von diskriminierendem Verhalten wird ausgelöst durch Stereotype, welche auf kognitiven Informationsverarbeitungsprozessen beruhen. Informationsverarbeitungsprozesse ermöglichen uns, die gigantische Menge an Informationen, die tagtäglich auf uns einströmt, zu filtern, zu verarbeiten und mit bereits bestehenden Kenntnissen zu verknüpfen. Würden wir jeden Moment, jede Begebenheit, jedes Objekt als etwas vollkommen Neues erleben, wäre das schier überfordernd. Deshalb tendieren Menschen dazu, Informationen auszuwählen, zu vereinfachen und in kognitiv bestehende Kategorien einzuordnen. Auch während sozialer Interaktionen finden solche Informationsverarbeitungsprozesse statt, mit einem häufig problematischen Nebeneffekt: der Bildung von Stereotypen. Stereotype sind Assoziationen und Zuschreibungen von bestimmen Charak­teristiken zu einer sozialen Gruppe und den Menschen, die dieser sozialen Gruppe angehören.4 Das heißt, Personen schreiben ihren Gegenübern bewusst oder unbewusst bestimmte Eigenschaften zu, basierend auf einer Gruppenzuordnung. Die Voraussetzung für die Bildung von Stereotypen ist also eine kognitive Zusammenfassung von Menschen zu einer sozialen Gruppe. Diese soziale Kategorisierung erfolgt basierend auf (mindestens) einer Charakteristik, die alle Menschen dieser sozialen Gruppe (möglicherweise ver3 Vgl. Marilynn B. Brewer, The social psychology of intergroup relations: Social categorization, ingroup bias, and outgroup prejudice, in: Arie W. Kruglanski, E. Higgins (Hg.), Social psychology: Handbook of basic principles, New York 2007. 4 Vgl. Dovidio, Hewstone, Glick, Esses, Prejudice, Stereotyping and Discrimination: Theoretical and Empirical Overview (wie Anm. 2).

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meintlich) teilen. Forschungen zeigen, dass Menschen diese Kategorisierung automatisiert vornehmen und Personen insbesondere entlang der drei Kate­ gorien Geschlecht, Ethnizität und Alter einteilen.5 Neben der Einteilung in diese sogenannten Kern-Kategorien sind sowohl die momentane Relevanz als auch die Augenscheinlichkeit bzw. Salienz (kognitive Zugänglichkeit) der jeweiligen Charakteristik relevant.6 Das heißt, je wichtiger und auffälliger bestimmte Eigenschaften in einer bestimmten Situation sind, umso eher werden Menschen in dieser Situation, basierend auf diesen Eigenschaften, zu Gruppen zugeordnet und mit entsprechenden Zuschreibungen versehen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ansonsten wenige Informationen vorhanden sind, bzw. die Situation völlig neu oder unsicher ist. Nimmt beispielsweise ein neu angestellter Mitarbeiter einer Firma an einer Besprechung teil, wird er höchstwahrscheinlich versuchen, alle Anwesenden anhand ihrer jeweiligen Position in der Firmenhierarchie zu kategorisieren, da diese für den Mitarbeiter in diesem Moment besonders relevant ist. Sind die Positionen ihm nicht bekannt, wird er den jeweiligen Rang anhand der Kleidung abschätzen. Diese Kategorisierung ermöglicht dem Teilnehmenden, eigenes Verhalten gegenüber den jeweiligen und gegebenenfalls statushöheren Kolleg*innen entsprechend auszurichten. Auch erlaubt eine Kategorisierung dem Mitarbeiter, Rückschlüsse über die Eigenschaften der Anwesenden zu ziehen. Das heißt, auch wenn dem Besprechungsteilnehmer die Anwesenden nicht persönlich bekannt sind, kann er beispielsweise die Kompetenz oder den Einfluss der Anwesenden einschätzen. Die zugeschriebenen Eigenschaften, beruhend auf der Gruppenzuordnung („Alle besonders gut angezogenen Personen sind höher gestellt als ich und verfügen über mehr Kompetenz“), nennt man Stereotype. Auch wenn dieser Zuschreibungsprozess in vielen Situation hilfreich ist, kann er jedoch auch oft zu Fehleinschätzungen führen und Personen fälschlicherweise (gegebenenfalls vermeintliche) Gruppeneigenschaften zuschreiben. Befände sich beispielsweise unter allen Teilnehmenden der Besprechung nur eine Frau, wäre diese Eigenschaft im Moment – wenn auch eigentlich nicht wichtig – besonders augenscheinlich (bzw. salient).7 Durch die erhöhte Auffälligkeit ihres Geschlechts würden alle anderen Konferenzteilnehmenden mit erhöhter Wahrscheinlichkeit dazu tendieren, dieser Frau feminine Stereotype zuzuschreiben und ihr somit 5 Vgl. Shelley E. Taylor, Susan T. Fiske, Nancy L. Etcoff, Audrey J. Ruderman, Categorical and contextual bases of person memory and stereotyping, in: Journal of Personality and Social Psychology 36 (1978). 6 Vgl. Eliot R. Smith, Diane M. Mackie, Social Psychology, 3. ed., Hove [u.a.] 2007. 7 Vgl. Taylor, Fiske, Etcoff, Ruderman, Categorical and contextual bases of person memory and stereotyping (wie Anm. 5).

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(vermeintlich) weniger berufliche Kompetenz zuzusprechen als den anwesenden Männern.8 Dass Frauen im Durchschnitt weniger Kompetenz zugeschrieben wird, ist auch in Situationen zu beobachten, in denen das Geschlecht überhaupt keine Rolle spielen sollte. Zum Beispiel nehmen Menschen die generellen Beurteilungen von Computern ernster, wenn die Computer mit einer männ­lichen statt mit einer weiblichen Stimme sprechen. Ausschließlich in Beziehungs­ fragen lassen sich Personen lieber Ratschläge von Computern mit weiblicher Stimme geben – und dies selbst dann, wenn ihnen zuvor mitgeteilt wurde, dass das Computerprogramm von einem Mann geschrieben wurde.9 Dieser Stereotypisierungs-Effekt aufgrund von Geschlechtszuschreibungen ist über Ländergrenzen hinweg relativ robust. John Williams und Deborah Best10 konnten zeigen, dass in über 20 der 25 untersuchten Nationen Männer unter anderem als ernsthaft, grob, rational, realistisch, stur und weise eingeschätzt werden – Eigenschaften, die insbesondere im Arbeitskontext als hilfreich gelten. Frauen hingegen werden unter anderem mit Begriffen wie charmant, einfühlsam, geschwätzig, liebevoll, schwach und sexy beschrieben – Eigenschaften, die im beruflichen Kontext eher als nachteilig gelten. An diesem Beispiel wird auch klar, dass sich selbst positive Zuschreibungen wie Einfühlsamkeit negativ auswirken können, wenn sie als nachteilig für den jeweiligen Kontext verstanden werden. Andere Wissenschaftler*innen zeigten darüber hinaus, dass Frauen, die mit positiven weiblichen Stereotypen konfrontiert werden (beispielsweise Frauen seien besonders sozial kompetent), sich als weniger intelligent beschreiben. 11 Das Problem ist also nicht die semantische Negativität eines Stereotyps, sondern Generalisierungen über Gruppenmitglieder hinweg, die Auswirkungen nach sich ziehen, welche zur Aufrechterhaltung von Statusunterschieden zwi8 Vgl. Ursula Athenstaedt, Dorothee Alfermann, Geschlechterrollen und ihre Folgen. Eine sozialpsychologische Betrachtung, 1. Auflage, Stuttgart 2011. 9 Vgl. Byron Reeves, Clifford Ivar Nass, The media equation. How people treat computers, television, and new media like real people and places, Stanford, Calif.–New York 1996. 10 John E. Williams, Deborah L. Best, Measuring sex stereotypes. A multination study, Rev. ed., v. 6, Newbury Park, Calif. 1990. 11 Vgl. Manuela Barreto, Naomi Ellemers, Laura Piebinga, Miguel Moya, How nice of us and how dumb of me: The effect of exposure to benevolent sexism on women’s task and relational self-descriptions, in: Sex Roles 62 (2010). Für nähere Informationen zu benevolentem Sexismus vgl. Peter Glick, Susan T. Fiske, An ambivalent alliance: Hostile and benevolent sexism as complementary justifications for gender inequality, in: American Psychologist 56 (2001).

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schen Gruppen führen. John Darley und Paget Gross haben die Problematik und das Ausmaß einer solchen Generalisierung besonders gut demonstriert.12 In ihrem Experiment wurden die Untersuchungsteilnehmenden gebeten, die akademische Kompetenz einer jungen Schülerin einzuschätzen, indem sie ein Video anschauten, auf dem die Schülerin verschiedene Schulaufgaben löste. Die Untersuchungsteilnehmenden, denen glaubhaft gemacht wurde, dass die Schülerin aus einer Familie mit hohem sozioökonomischem Status käme, bewerteten die Lösungen der Schulaufgaben als überdurchschnittlich. Umgekehrt bewerteten die Untersuchungsteilnehmenden die Leistungen des Mädchens als unterdurchschnittlich, denen mitgeteilt wurde, das Mädchen verfüge über einen sozioökonomisch niedrigeren Hintergrund. Es ist ein Leichtes, sich hier das Ausmaß der Konsequenzen klar zu machen. Denn auch Lehrer*innen sind zumeist nicht davor gefeit, sich bei der Leistungsbeurteilung vom sozioökonomischen Status ihrer Schüler*innen (und dem damit verknüpften Stereotyp) beeinflussen zu lassen und somit langfristig dazu beizutragen, dass der Status auch über die nächsten Generationen weiter aufrechterhalten wird. Wie zu Anfang angeführt, ist die Aufrechterhaltung von Statusunterschieden ein zentrales Element der sozialpsychologischen Definition von Diskriminierung, eine im Verhalten resultierende Folge von Stereotypen (und Vorurteilen). Diskriminierendes Verhalten ist umso wahrscheinlicher, je kognitiv verfügbarer Stereotype sind. Die kognitive Verfügbarkeit von Stereotypen hängt unter anderem von interindividuellen Lern- und Sozialisationsprozessen ab: Je öfter wir in unserem Leben mit bestimmten Stereotypen konfrontiert werden (z.B. durch Familie, Schule und Medien), umso eher verinnerlichen wir diese – ob wir wollen oder nicht. Dass gelernte Stereotype schnell (und unbewusst) aktiviert und abgerufen werden, konnte in verschiedensten Untersuchungen demonstriert werden. Bernd Wittenbrink, Charles Judd und Bernadette Park, Forschende an den Universitäten Chicago und Colorado, nutzten beispielsweise in ihrer Studie13 ein Studiendesign, in dem Studienteilnehmende dazu aufgefordert wurden, so schnell wie möglich zu entscheiden, ob es sich bei einer Abfolge von Buchstaben um ein Wort (z.B. „wundervoll“) oder kein Wort (z.B. „wabbelbu“) handelt. Die mit diesem Paradigma gemessene Variable ist die Reaktionszeit. Je schneller eine Person auf ein Wort reagieren kann, umso eher ist ein bestimmtes Wort in diesem Moment kognitiv verfügbar. Die kognitive Verfügbarkeit eines Wortes 12 Vgl. John M. Darley, Paget H. Gross, A hypothesis-confirming bias in labeling effects, in: Journal of Personality and Social Psychology 44 (1983). 13 Bernd Wittenbrink, Charles M. Judd, Bernadette Park, Evaluative versus conceptual judgments in automatic stereotyping and prejudice, in: Journal of Experimental Social Psychology 37 (2001).

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kann erhöht werden, indem Personen Begriffe (oder andere bedeutungstragende Inhalte) gezeigt werden, die mit dem Wort (bzw. Inhalt) kognitiv verknüpft sind, das nennt man Priming. Die Möglichkeit zum Priming beruht auf der assoziativen Architektur unseres Gedächtnisses. Je assoziierter bestimmte Inhalte, umso eher erhöht die Aktivierung des einen Inhalts die kognitive Verfügbarkeit des anderen und umso schneller kann darauf reagiert werden (vgl. Abbildung 1 zum Priming des Wortes „Rot“). Abbildung 1 - Priming des Wortes „Rot“ – Aktivierungsausbreitung im semantischen Netzwerk nach Collins & Loftus14

Wittenbrink, Judd und Park zeigten jedenfalls, dass ihre (mehrheitlich weißen, USamerikanischen) Studienteilnehmenden schneller auf negative Begriffe wie violent, threatening und lazy15 reagierten (sie also von nicht-Wörtern unterschieden), wenn ihnen zuvor das Wort BLACK dargeboten wurde, als nach der Darbietung bzw. dem Priming von WHITE.16 Umgekehrt reagierten die Studienteilnehmenden schneller auf positive Wörter wie intelligent, successful und responsible17 bei der vorherigen Darbietung von WHITE als nach der Darbietung von BLACK. Besonders eindrücklich ist der Umstand, dass das Priming durch die Wörter BLACK und WHITE unter der Wahrnehmungsschwelle durchgeführt wurde. Das

14 Allan M. Collins, Elizabeth F. Loftus, A spreading-activation theory of semantic processing, in: Psychological Review 82 (1975). 15 Gewalttätig, bedrohlich und faul. 16 Vgl. Wittenbrink, Judd, Park, Evaluative versus conceptual judgments in automatic stereotyping and prejudice (wie Anm. 13). 17 Intelligent, erfolgreich, verantwortungsvoll.

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heißt, dass das Priming zeitlich so kurz erfolgte, dass die Studienteilnehmenden die Begriffe nur unbewusst wahrnahmen. Es konnte also gezeigt werden, dass die Studienteilnehmenden Schwarze eher mit negativen und Weiße eher mit positiven Begriffen assoziieren, wobei die kognitive Verfügbarkeit der stereotypen Eigenschaften bereits durch kleine, unbewusste Reize erhöht wurde. Dass die kognitive Verfügbarkeit von Stereotypen sich auch direkt auf Verhalten auswirkt, zeigt ein Experiment, welches auch von Forschenden der Universitäten Chicago und Colorado durchgeführt wurde18 und welches angesichts der jüngsten Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in den USA – (wieder-)aufgeflammt nach dem Tod des afroamerikanischen Schülers Michael Brown im August 2014 – besonders aktuell erscheint. In diesem Experiment wurden Studierenden am Computer Fotos von Personen gezeigt. Die abgebildeten Personen hielten entweder eine Pistole in der Hand oder waren unbewaffnet. Die Studierenden hatten die Aufgabe, auf die Taste „schießen“ zu drücken, wenn die gezeigten Personen bewaffnet, oder auf „nicht schießen“ zu drücken, wenn die abgebildeten Personen unbewaffnet waren. Es zeigte sich, dass unter Zeitdruck unbewaffnete Schwarze signifikant öfter „erschossen“ wurden, als unbewaffnete Weiße. Umgekehrt wurden bewaffnete Weiße seltener „erschossen“ als bewaffnete Schwarze. Auch wenn die angeführte Studie kritisiert werden muss, weil sie keine direkten Rückschlüsse auf (für Ernstfälle ausgebildete) Polizist*innen zulässt,19 sie ethisch fragwürdig erscheint und die Situation in keiner Weise mit einem tatsächlichen Bedrohungsszenario zu vergleichen ist,20 lässt sich die Auswirkung von stereotypen Assoziationen, wie die einer vermeintlichen Bedrohung durch Schwarze, gut erkennen. Solche von Kindesbeinen an gelernten Assoziationen werden oft automatisch aktiviert und können einen erheblichen Einfluss auf unser Verhalten haben. Der Einfluss wird zusätzlich noch einmal verstärkt, wenn wir unter Zeitdruck stehen oder wir in einer Situation kognitiv wenig Kapazität zur Verfügung haben. Auch in den Köpfen der Personen, die stereotypisiert werden, ist der negative Einfluss von Stereotypen zu beobachten. Stereotype Threat beispielsweise beschreibt das Phänomen, dass Personen, die mit einer ihrer Gruppenzugehörigkeiten 18 Vgl. Joshua Correll, Bernadette Park, Charles M. Judd, Bernd Wittenbrink, The police officer’s dilemma: Using ethnicity to disambiguate potentially threatening individuals, in: Journal of Personality and Social Psychology 83 (2002). 19 Vgl. Joshua Correll, Sean M. Hudson, Steffanie Guillermo, Debbie S. Ma, The police officer’s dilemma: A decade of research on racial bias in the decision to shoot, in: Social and Personality Psychology Compass 8(5) (2014). 20 Vgl. Lois James, David Klinger, Bryan Vila, Racial and ethnic bias in decisions to shoot seen through a stronger lens: Experimental results from high-fidelity laboratory simulations, in: Journal of Experimental Criminology 10 (2014).

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und/oder den damit verknüpften Stereotypen konfrontiert werden, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit dazu tendieren, stereotypenkonsistentes Verhalten zu zeigen. Paul Davies von der Stanford Universität und andere Forschende zeigten beispielsweise, dass geschlechterstereotype Werbefilme dazu führen können, dass die Mathematikleistung von Frauen nachlässt.21 Darüber hinaus konnten sie demonstrieren, dass das Ansehen von stereotypen Werbefilmen das Interesse von Frauen an männlich dominierten (stereotypeninkonsistenten) Ausbildungen, wie beispielsweise an einem Maschinenbaustudium, reduziert. Wenn man sich jetzt überlegt, in wie vielen Werbefilmen und Anzeigen Frauen diejenigen sind, die putzen oder für ihre Familie kochen, kann man erahnen, welchen immensen Einfluss Medieninhalte auf die individuelle und gesellschaftliche Verankerung von Stereotypen haben. Die ständige Konfrontation mit und kognitive Aktivierung von Stereotypen führt unweigerlich dazu, dass die Überlegenheit bestimmter Gruppen gegenüber anderen aufrechterhalten wird. Im Grunde genommen sollten an der Aufrecht­ erhaltung von Dominanzverhältnissen insbesondere die Personen interessiert sein, die von dem Statusgefälle profitieren. Tatsächlich kann die sozialpsychologische Forschung genau das finden. Wenn Personen sich in einer machtvolleren Position wiederfinden, ist das Ausmaß der verwendeten bzw. aktivierten Stereotype gegenüber der untergeordneten Gruppe größer, als wenn sie selbst Teil der untergeordneten Gruppe sind.22 Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass starke Emotionen wie Ängste (beispielsweise vor Ressourcen­k nappheit) das Ausmaß der verwendeten Stereotype erhöhen können. Wären das Entstehen und der ständige Einfluss von Stereotypen nicht schon genug, tragen viele andere Informationsverarbeitungsprozesse dazu bei, dass stereotype Informationen gut erhalten bleiben. Menschen tendieren beispielsweise dazu, Informationen zu suchen und gefundenen Informationen mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die mit bestehenden Gedächtnisinhalten übereinstimmen. Personen streben also danach, stereotype Informationen immer wieder zu bestätigen. Werden trotzdem Informationen aufgenommen, die dem vorhandenen Gedächtnisinhalt bzw. dem Stereotyp eigentlich widersprechen, sind Menschen dazu geneigt, die Widersprüchlichkeiten als Ausnahme zu betrachten. Dies führt dann vielmals auch zu der Bildung von Sub-Stereotypen. 21 Vgl. Paul G. Davies, Steven J. Spencer, Diane M. Quinn, Rebecca Gerhardstein, Consuming images: How television commercials that elicit stereotype threat can restrain women academically and professionally, in: Personality and Social Psychology Bulletin 28 (2002). 22 Vgl. Jennifer A. Richeson, Nalini Ambady, Effects of situational power on automatic racial prejudice, in: Journal of Experimental Social Psychology 39 (2003).

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„Karrierefrauen“ beispielsweise beschreibt so ein Substereotyp, welches es ermög­licht, die übergeordneten Stereotype zur Gruppe „Frauen“ trotz Wider­ sprüch­lichkeiten beizubehalten. Auch beim Einschätzen von Begebenheiten können bestimmte Informa­ tionsverarbeitungsprozesse dazu führen, dass sich stereotype Infor­ mationen weiter verfestigen. Möchten Personen beispielsweise die Häufigkeit eines Sach­ verhalts einschätzen, nutzen sie oft und automatisiert die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik. Diese Urteilsheuristik führt zu dem Schluss, dass je schneller und leichter eine Information ins Gedächtnis kommt, umso häufiger dürfte der jeweilige Sachverhalt auch tatsächlich (in der Umwelt) vorkommen. „Mit welchem Anfangsbuchstaben gibt es mehr Wörter: V oder E?“ kann beispielsweise mit der Verfügbarkeitsheuristik beantwortet werden: Je mehr Wörter einer Person leicht und schnell einfallen, umso mehr dürften auch im Duden stehen, glaubt man der Heuristik. So hilfreich und einfach diese Heuristik ist, so leicht kann sie auch dazu führen, dass stereotype Informationen bestätigt werden. Beispielsweise führt die Anwendung der Heuristik auf die Frage „Wie viele Musliminnen tragen ein Kopftuch?“ bei vielen Personen zur Überschätzung des Ergebnisses. Denn kopftuchtragende Frauen werden bei einer alltäglichen Begegnung auf der Straße schnell als Musliminnen abgespeichert, während Musliminnen ohne Kopftuch erst gar nicht als Musliminnen erkannt (bzw. stereotypisiert), und somit nicht abgespeichert werden. Folglich lautet das (fälschliche) Ergebnis der Verfügbarkeitsheuristik, dass die meisten Musliminnen ein Kopftuch tragen. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass das Bilden, die Anwendung und der Erhalt von Stereotypen nahezu unausweichlich sind. Wie sehr Stereotype in der eigenen Person verankert sind, kann man auf der Homepage www.implicit. harvard.edu überprüfen. Die Universität Harvard ermöglicht es dort, die in uns allen verankerten stereotypen Assoziationen (in vielen verschiedenen Sprachen) individuell sichtbar zu machen. Vor dem Hintergrund, dass niemand stereotypenfrei ist, stellt sich die Frage, ob es denn überhaupt möglich ist, den negativen Effekten von Stereotypisierungen zu entkommen. Tatsächlich haben Forschungen der letzten Jahre gezeigt, dass Stereotype und Vorurteile bereits ein paar Jahrzehnte nicht mehr salonfähig sind. Das heißt, die breite Bevölkerung vermeidet die öffentliche Äußerung von Stereotypen und Vorurteilen. Studien mit Reaktionszeitmessungen (wie oben) haben jedoch offenbart, dass Stereotype immer noch fest in den Köpfen der Bevölkerung verankert sind. Darüber hinaus wurde herausgefunden, dass das Unterdrücken von Stereotypen sogar zu einer Art Bumerang-Effekt führen kann. Das bedeutet, dass Personen, die versuchen, stereotype Gedanken zu unterdrücken, weil sie beispielsweise in einer bestimmten Situation mit sozialen

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Sanktionen rechnen müssten, im Nachhinein eine noch größere Tendenz zur Stereotypisierung aufweisen.23 Wenn wir also verhindern möchten, dass unsere Handlungen von Stereotypen beeinflusst werden, stellt eine reine Unterdrückung keine gute Lösung dar. Vielmehr ist es wichtig zu erkennen und zu akzeptieren, dass wir über stereotypes Gedankengut verfügen und dann in einem nächsten Schritt Gedanken und Handlungen stets im Sinne einer kontrollierten Informationsverarbeitung auf den Einfluss von Stereotypen hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Hier hilft es, sich bewusst zu machen, dass die Diversität in der stereotypisierten Gruppe viel höher ist, als von den Stereotypen angenommen.24 Irene Blair, Jennifer Ma und Alison Lenton von der Universität Colorado konnten darüber hinaus zeigen, dass es bereits zu einer Reduktion von stereotypen Gedanken kommen kann, wenn Personen versuchen, sich gegenteilige Bilder vorzustellen.25 Mit den angeführten Geschlechterstereotypen gesprochen, wäre das beispielsweise die Vorstellung eines fürsorglichen Mannes oder einer starken Frau. In diesem Sinne wird auch noch einmal deutlich, dass unser eigenes tagtägliches Handeln und die von uns verwendete Sprache im erheblichen Ausmaß dazu beitragen, stereotype Assoziationen in unserer Gesellschaft abzubauen. Sprechen wir beispielsweise auch von Hausmännern, Feuerwehrfrauen und Professorinnen, tragen wir kurzfristig und langfristig dazu bei, die Welt gleichberechtigter zu gestalten.26

I ntergruppenprozesse Während Stereotype als die kalte kognitive Komponente von Vorurteilen beschrieben werden, stellen Intergruppenprozesse die heiße affektive Komponente dar. Intergruppenprozesse beruhen auf dem Umstand, dass Menschen dazu mo23 Vgl. C. Neil Macrae, Galen V. Bodenhausen, Alan B. Milne, Jolanda Jetten, Out of mind but back in sight: Stereotypes on the rebound, in: Journal of Personality and Social Psychology 67 (1994). 24 Vgl. Galen V. Bodenhausen, Norbert Schwarz, Herbert Bless, Michaela Wanke, Effects of atypical exemplars on racial beliefs: Enlightened racism or generalized appraisals?, in: Journal of Experimental Social Psychology 31 (1995). 25 Vgl. Irene V. Blair, Jennifer E. Ma, Alison P. Lenton, Imagining stereotypes away: The moderation of implicit stereotypes through mental imagery, in: Journal of Personality and Social Psychology 81 (2001). 26 Vgl. Dagmar Stahlberg, Sabine Sczesny, Effekte des generischen Maskulinums und alternativer Sprachformen auf den gedanklichen Einbezug von Frauen, in: Psychologische Rundschau (2001).

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tiviert sind, sich mit sozialen Gruppen zu identifizieren. Durch die Identifikation mit sozialen Gruppen erhalten Personen nämlich eine positive soziale Identität und stillen das universelle Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Darüber hinaus kann eine starke Identifikation mit einer positiv konnotierten Gruppe den Selbst­wert einer Person signifikant erhöhen. Des Weiteren zeigen Studien, dass Gruppenidentifikation selbstbezogene Unsicherheit erheblich reduzieren kann.27 Bei Gruppen, mit denen sich eine Person stark identifiziert, spricht man von Eigengruppen. Die kognitiven Vorgänge, die aus Gegenüberstellung von Eigengruppen und Fremdgruppen resultieren, nennt man Intergruppenprozesse. Was Fremdgruppen eigentlich sind und warum aus Intergruppenprozessen Vor­ ur­teile entstehen, soll im Folgenden erläutert werden. Damit eine soziale Gruppe (z.B. Feuerwehrfrauen) überhaupt zu einer Fremdgruppe werden kann, ist eine Selbstreferenzierung, wie die Eigen­g ruppen­ identifikation, unbedingt vonnöten (z.B. wir Polizistinnen oder wir Feuerwehr­ männer). Die Selbstreferenzierung kann über drei verschiedene (aber sich auch manchmal überschneidende) Arten zu Vorurteilen und Diskriminierungen führen: über den Eigengruppenfavoritismus, die Fremd­gruppen­ablehnung und den Intergruppenkonflikt.28 Eigengruppenfavoritismus basiert auf der Entgegensetzung von „wir“ und „nicht wir“. Für diese Differenzierung ist keine wirkliche, d.h. abgrenzbare Fremdgruppe vonnöten. Die aus dem Eigengruppenfavoritismus wachsenden Vorurteile und Diskriminierungen basieren zumeist nicht auf einer Negativität oder Feindlichkeit gegenüber der generalisierten Fremdgruppe, sondern viel mehr auf einer Bevorzugung der Eigengruppe. Die Angehörigen der Fremdgruppe werden hier also unter Miteinbeziehung der verknüpften Stereotype anders bewertet (Vorurteil) und anders behandelt (Diskriminierung), weil sie keine Angehörigen der Eigengruppe sind. Eigengruppenfavoritismus dürfte unter anderem eine Ursache dafür sein, dass in Organisationen viele Männer wiederum Männer einstellen und befördern (homosoziale Reproduktion).29 Fremdgruppenablehnung, die zweite Art der Differenzierung, funktioniert über eine Gegenüberstellung von „ich“ und „sie“. „Sie“ beschreibt hier eine (gegebenenfalls vermeintlich) klar abgrenzbare Fremdgruppe. Die gegen 27 Vgl. Michael A. Hogg, From uncertainty to extremism: Social categorization and identity processes, in: Current Directions in Psychological Science 23 (2014), S. 338– 342. 28 Vgl. Brewer, The social psychology of intergroup relations: Social categorization, ingroup bias, and outgroup prejudice (wie Anm. 3). 29 Vgl. Michael Meuser, Männerwelten. Zur kollektiven Konstruktion hegemonialer Männlichkeit, in: Schriften des Essener Kollegs für Geschlechterforschung (2001).

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die Fremdgruppe gerichteten Vorurteile sind zumeist sehr negativ und beruhen oft auf einer feindlichen Einstellung gegenüber dieser Fremdgruppe. Die resultierenden Diskriminierungen gehen einher mit der Intention, die Fremdgruppe zu benachteiligen oder ihr zielgerichtet Schaden zuzufügen.30 Ein Beispiel für Fremdgruppenablehnung, basierend auf der Entgegensetzung von „ich“ und „sie“, sind homophobe und transphobe Einstellungen. Wird beispielsweise (aus einer heteronormativen Perspektive) über LSBTTIQ-Personen31 gesprochen, werden diese zu „anderen“ gemacht und die eigene Heterosexualität und Geschlechtsidentität (gedacht innerhalb eines binären Geschlechtersystems) werden unreflektiert als Norm gesetzt. Im Sinne der Fremdgruppenablehnung werden also „ich, die normale Person“ und „Sie, die anderen“ gegenübergestellt. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass homophobe Einstellungen vermehrt aus den Individuen selbst resultieren. Forscher*innen der Universität Georgia konnten beispielsweise zeigen, dass ca. die Hälfte der untersuchten homophoben Männer beim Anschauen von homosexuellen Pornofilmen eine starke körperliche Erregung, gemessen mittels Penisumfang, aufwies.32 Bei nicht-homophoben (heterosexuellen) Männern konnte nur bei einem Viertel körperliche Erregung festgestellt werden. Es besteht also Grund zur Annahme, dass Homophobie (bei Männern) in einigen Fällen aus der Abwehr eigener homo- oder bisexueller Tendenzen entspringt. Ähnliches berichteten Robb Willer und Kolleginnen von verschiedensten amerikanischen Universitäten in einem Kooperationsprojekt. Mit der durchgeführten Studie zeigten sie, dass die homophoben und sexistischen Tendenzen von Männern ansteigen, wenn ihre Männlichkeit in Frage gestellt wird.33 Der Intergruppenkonflikt ist besonders leicht beobachtbar, wenn Personen der Eigengruppe das Gefühl haben, sie würden im Wettbewerb (z.B. um Ressourcen) mit der Fremdgruppe stehen. Hier wird die Fremdgruppe als Bedrohung sowohl für die eigene Person als auch für die ganze Eigengruppe wahrgenommen. Die Differenzierung erfolgt in „wir“ und „sie“. Diskriminierungen und Vorurteile basieren hier auf dem Bedürfnis, die Eigengruppe zu beschützen 30 Vgl. Brewer, The social psychology of intergroup relations: Social categorization, ingroup bias, and outgroup prejudice (wie Anm. 3). 31 Lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Personen. 32 Vgl. Henry E. Adams, Lester W. Wright, Bethany A. Lohr, Is homophobia associated with homosexual arousal?, in: Journal of Abnormal Psychology 105 (1996). 33 Vgl. Robb Willer, Christabel L. Rogalin, Bridget Conlon, Michael T. Wojnowicz, Overdoing gender: A test of the masculine overcompensation thesis, in: American Journal of Sociology 118 (2013).

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und manchmal dem empfundenen Vormarsch der Fremdgruppe gegenzusteuern. Dass Eigengruppen gegenüber Fremdgruppen bevorzugt werden, ist so tief in der menschlichen Psyche verankert, dass resultierende Vorurteile und Diskriminierungen bereits auch bei minimalen Gruppenunterschieden und sogar ohne tatsächlichen Wettbewerb beobachtbar sind. Forschende der Universitäten Bristol und Aix-Marseille beispielsweise teilten in einem berühmten Experiment ihre Untersuchungsteilnehmenden in Kandinsky- und Klee-Liebhabende ein und stellten fest, dass die eingeteilten Personen die jeweiligen Fremdgruppenmitglieder negativer bewerteten (Vorurteile) als die Eigengruppenmitglieder.34 Auch wurden die Untersuchungspersonen aufgefordert, einen Geldbetrag an Eigengruppenund Fremdgruppenmitglieder zu verteilen. Es zeigte sich, dass die untersuchten Personen den Fremdgruppenmitgliedern anteilsmäßig signifikant weniger Geld zukommen ließen als den Eigengruppenmitgliedern (Diskriminierung) – und das nur, weil die Fremdgruppe einen anderen Künstler bevorzugte. Ein Beispiel für Resultate aus Intergruppenkonflikten innerhalb unserer Gesellschaft sind anti-islamische Vorurteile, wie sie im Moment unter anderem von dem Verein „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) kolportiert werden. Die Gegenüberstellung von „uns, den patriotischen Europäern“ zu „sie, die Muslime“ wird bereits im Namen des Vereins deutlich.35 Die Mitglieder von Pegida zeichnen darüber hinaus ein bedrohliches Bild des Islams. Sie sind der Meinung, der Islam sei unter anderem radikal, gewaltbereit und frauenfeindlich. Zieht man die Theorien zu Vorurteilen im Intergruppenkonflikt heran, sind hier mehrere Dinge zu erkennen. Erstens scheinen die Unterstützer*innen von Pegida den Islam als klar abgrenzbare, homogene Fremdgruppe wahrzunehmen. Aus sozialpsychologischer Sicht ist das wenig überraschend, da stereotypisierte Gruppen und Minoritäten stets als besonders homogen wahrgenommen werden.36 Zweitens ist die angeführte Narration eines gewaltbereiten Islams ein deutlicher Hinweis für die dem Intergruppenkonflikt typische, zugrundeliegende Emotion der Angst durch erlebten Wettbewerb bzw. Bedrohung. Bereits 1953 führten Muzafer und Carolyn Sherif von der Universität Princeton ein berühmtes, nach heutigen Standards jedoch unethisches Experi­ ment durch, welches das Ausmaß der Auswirkungen eines solchen Wettbe­ 34 Vgl. Henri Tajfel, M. G. Billig, R. P. Bundy, Claude Flament, Social categorization and intergroup behaviour, in: European Journal of Social Psychology 1(2) (1971). 35 Je nach Situation wird auch auf die Gegenüberstellung von „wir das Volk“ gegen „sie, die Politiker“ oder „sie, die Lügenpresse“ zurückgegriffen. 36 Vgl. James L. Hilton, William von Hippel, Stereotypes, in: Annual Review of Psycho­ logy 47 (1996).

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werbs deutlich macht.37 Die unwissentlichen Teilnehmer des Experiments waren 11-jährige Buben, die an einem Ferienlager teilnahmen. Das Ferienlager bestand aus zwei unterschiedlichen Gruppen, die zu Anfang keine Kenntnis von der Existenz der jeweils anderen Gruppe hatten. Durch gemeinsame Aktivitäten in den beiden Kleingruppen lernten sich die Buben nach und nach untereinander kennen und begannen, sich mit der jeweiligen Gruppe zu identifizieren. Auch die Benennung ihrer Gruppen und das Aufdrucken der Namen (The Eagles und The Rattlers) auf ihre T-Shirts verstärkten die gewonnenen Gruppenidentitäten. Im anschließenden zweiten Teil des Experiments ließen die Wissenschaftler*innen die Gruppen nach ein paar Tagen scheinbar zufällig aufeinander treffen, um sie in den folgenden Tagen in verschiedensten Wettbewerben gegeneinander antreten zu lassen. Auch kreierten die Wissenschaftler*innen Situationen, in denen jeweils eine der beiden Gruppen benachteiligt wurde. Beispielsweise ließen sie eine Gruppe verspätet zu einem gemeinsamen Picknick erscheinen, sodass die andere Gruppe sich bereits aller Nahrung ermächtigt hatte. Der induzierte Gruppenkonflikt führte schnell zu dem Umstand, dass sich die Gruppen gegenseitig beschimpften. Nach weiteren Wettbewerbssituationen artete der Konflikt weiter aus und die Teenager begannen, ihre Zeltplätze gegenseitig zu verwüsten und mit körperlicher Aggressivität gegeneinander vorzugehen. Die Aggressivität war schließlich so hoch, dass die Wissenschaftler*innen die Gruppen separieren mussten, um keine ernsthaften Schäden herbeizuführen. Bis zu diesem Punkt zeigt uns das Experiment die starken Auswirkungen, zu denen die ausgeprägte Identifikation mit einer Eigengruppe und die wahrgenommene Bedrohung durch eine Fremdgruppe, resultierend in einem Intergruppenkonflikt, führen können. Wie Sherif betont, ist es jedoch irrelevant, ob die wahrgenommene Bedrohung der Eigengruppe real ist (wie im Experiment durch die aggressiven Handlungen der Fremdgruppe) oder aber nur in den Köpfen der Eigengruppe existiert (und empirisch nicht nachweisbar ist, wie bei Pegida).38 Trotz dieser erschreckenden Ergebnisse bringt uns der dritte Teil des Experiments einen Lösungsansatz, wie eine Gesellschaft besser mit solchen Intergruppenkonflikten umgehen kann. Nachdem die Wissenschaftler*innen feststellten, dass gemeinsame positive Aktivitäten die erlernten Konflikte trotz Vermeidung von Wettbewerbssituationen wiederaufleben ließen, testeten sie eine weitere Möglichkeit und verstopften die gemeinsame Wasserversorgung beider Gruppen mit einem Sandsack. Die unwissenden Buben machten sich schnell auf die Suche nach der Ursache für das 37 Vgl. Muzafer Sherif, Carolyn W. Sherif, Groups in harmony and tension. An integration of studies on intergroup relations, New York 1953. 38 Vgl. Muzafer Sherif, Group conflict and co-operation. Their social psychology, 1. publ. in Great Britain, London 1967.

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fehlende Wasser, erst in ihren separaten Gruppen, dann gemeinsam. Nachdem sie das Problem ausgemacht hatten, arbeiteten sie zusammen daran, die Ver­ stopfung rückgängig zu machen und die Wasserversorgung wiederherzustellen. Diese und andere Kooperationsaktivitäten, wie die gemeinsame Reparatur eines kaputten Autos, führten schließlich dazu, dass die Rivalitäten zwischen den beiden Gruppen zur Gänze verschwanden und die Gruppen ihren restlichen Aufenthalt fortan in freundlicher und friedvoller Koexistenz verbrachten. Die Hypothese der Wissenschaftler*innen hatte sich bestätigt. Gemeinsame Ziele und Kooperationen können also als Grundpfeiler für die Reduktion eines Intergruppenkonflikts ausgemacht werden. Aufbauend auf den Ergebnissen des dargestellten Experiments und vielen weiteren Untersuchungen sind verschiedene Modelle entwickelt worden, die dabei helfen, zu verstehen, was zu einer Reduktion von Intergruppenkonflikten, Vorurteilen und Diskriminierungen führen kann. Hierzu wurde ein besonderer Fokus auf die soziale Kategorisierung gelegt, also die Einteilung in Eigen- und Fremdgruppen.39 Diese stellt nämlich eine essentielle Voraussetzung für die Bildung von Vorurteilen dar. Angenommen wurde, dass wenn man die Struktur der Kategorisierung verändert, sich dadurch das Ausmaß der Vorurteile reduzieren sollte. Und wie verändert man die Einteilung in Eigen- und Fremdgruppen? Durch persönlichen Kontakt. David Wilder von der Universität Rutgers konnte zeigen, dass persönlicher Kontakt mit Mitgliedern der Fremdgruppe dazu führt, dass Personen die Fremdgruppe weniger homogen wahrnehmen und auch die „Eigenschaft Fremdgruppe“ sich nach und nach auflöst, indem die Fremdgruppenmitglieder als Individuen und nicht als Gruppenmitglieder wahrgenommen werden (Individuation).40 Die zwingenden Voraussetzungen für eine funktionierende Individuation sind gleicher Status zwischen den Personen sowie eine vertraute und kooperative Atmosphäre in der Kontaktsituation.41 Positive persönliche Kontakte, bzw. im besten Falle Freundschaften, zwischen (ursprünglichen) Eigen- und Fremdgruppenmitgliedern führen dann dazu, dass sich Vorurteile und Diskriminierung reduzieren.42 Spannenderweise kann sogar das Wissen, dass ein Eigengruppenmitglied mit einem Fremdgruppenmitglied 39 Vgl. Brewer, The social psychology of intergroup relations: Social categorization, ingroup bias, and outgroup prejudice (wie Anm. 3). 40 Vgl. David A. Wilder, Reduction of intergroup discrimination through individuation of the out-group, in: Journal of Personality and Social Psychology 36 (1978). 41 Vgl. Brewer, The social psychology of intergroup relations: Social categorization, ingroup bias, and outgroup prejudice (wie Anm. 3). 42 Vgl. Thomas F. Pettigrew, Intergroup contact theory, in: Annual Review of Psychology 49 (1998).

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befreundet ist, bereits dazu führen, dass das Ausmaß der angewandten Vorur­ teile geringer wird.43 Neben dem Auflösen der Eigen- und FremdgruppenKategorisierung durch Individuation ist die Neu-Kategorisierung durch das Bilden einer gemeinsamen Eigengruppe eine weitere Möglichkeit, Vorurteile zu verringern.44 Auch hier sind gleicher Status, Vertrautheit und Kooperation Schlüsselfaktoren für eine gelingende Veränderung. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die Harmonie in Patchworkfamilien viel größer ist, wenn die angeführten Faktoren vorhanden sind und die Familie von den Familienmitgliedern als eine einzelne Familie wahrgenommen wird.45 Schwierig wird das neue Bilden einer übergeordneten Eigengruppe jedoch, wenn zwischen den Gruppen große Status-Unterschiede und/oder eine ausgeprägte Feindschaft bestehen.46 Nicht weniger problematisch ist es, wenn eine der beiden Gruppen bedeutend kleiner ist als die andere und sie somit das Gefühl bekommt, sie müsse die Identität der größeren Gruppe integrieren. Vor dem Hintergrund dieser Problematiken plädieren Forschende für eine Herangehensweise, die es ermöglicht, dass die einzelnen Gruppen ihre Gruppenidentitäten aufrecht erhalten können und durch eine gemeinsame Kooperation trotzdem so etwas wie eine übergeordnete gemeinsame Gruppe erschaffen wird. Tatsächlich ist so eine Gleichzeitigkeit möglich, wenn ein Kontext geschaffen wird, in dem die einzelnen Gruppen unterschiedliche, komplementäre Stärken für ein gemeinsames Ziel einbringen können. Wenn sich Personen dann noch darüber bewusst sind, dass sie selbst über diverse Gruppenzugehörigkeiten verfügen, erhöht sich darüber hinaus die Toleranz gegenüber Fremdgruppen und Diversität generell, wie Forschungsarbeiten von Marilynn Brewer und Kathleen Pierce von der Universität Ohio aufzeigen.47 Zusammenfassend liefert uns die Sozialpsychologie also folgende Erkennt­ nisse über Vorurteile: Vorurteile basieren unter anderem auf kognitiven Infor­ mations­verarbeitungsprozessen, welche zu der Bildung von Stereotypen führen. 43 Vgl. Stephen C. Wright, Arthur Aron, Tracy McLaughlin-Volpe, Stacy A. Ropp, The extended contact effect: Knowledge of cross-group friendships and prejudice, in: Journal of Personality and Social Psychology 73 (1997). 44 Vgl. Brewer, The social psychology of intergroup relations: Social categorization, ingroup bias, and outgroup prejudice (wie Anm. 3). 45 Vgl. Brenda S. Banker, Samuel L. Gaertner, Achieving stepfamily harmony: An intergroup-relations approach, in: Journal of Family Psychology 12 (1998). 46 Vgl. Brewer, The social psychology of intergroup relations: Social categorization, ingroup bias, and outgroup prejudice (wie Anm. 3). 47 Vgl. Marilynn B. Brewer, Kathleen P. Pierce, Social Identity Complexity and Outgroup Tolerance, in: Personality and Social Psychology Bulletin 31 (2005), S. 428–437.

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Stereotype sind Assoziationen und Zuschreibungen von bestimmen Charak­ teristika zu einer sozialen Gruppe und den Menschen, die dieser sozialen Gruppe angehören. Stereotype Assoziationen sind in uns allen verankert und haben einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten, welches wir den stereotypisierten Personen entgegenbringen. Um den Einfluss von stereotypen Assoziationen zu verringern, ist es vonnöten, eigenes Handeln stetig zu reflektieren und sich Beispiele zu suchen, die den Stereotypen widersprechen. Zum Abbau von Geschlechterstereotypen erweist sich die Verwendung von geschlechtergerechter Sprache als besonders einträglich. Ein weiterer Aspekt von Vorurteilen resultiert aus der Tendenz von Personen, ihre soziale Umwelt in Eigen- und Fremdgruppen einzuteilen. Diese Intergruppenprozesse führen oft unweigerlich zu einer Bevorzugung der Eigengruppen und der Benachteiligung der Fremdgruppen. Möchten wir die Spannungen zwischen Gruppen verringern und Vorurteile sowie Diskriminierungen abbauen, zeigt sich, dass Kooperationshandlungen zwischen Gruppen zu den besten Resultaten führen. Diese können aber nur erfolgreich sein und Vorurteile abbauen, wenn zwischen den Gruppen eine vertrauensvolle und hierarchiefreie Atmosphäre vorherrscht. In einem Zeitalter wie diesem, in welchem das Bewusstsein der Menschen für gesellschaftliche Vielfalt besonders gefragt ist, liegt es insbesondere an den Regierungen, sich zielstrebig für Diversität und gegen Diskriminierung einzusetzen. Eine sich der Diversität bewusste Politik und Rechtsprechung muss ihre Werte und Normen stetig an tatsächlich gelebte gesellschaftliche Vielfalt anpassen. Beispielsweise ist die Ungleichbehandlung von homosexuellen Paaren und Regenbogenfamilien schon lange nicht mehr zeitgemäß. Eine politische und gesetzliche Gleichbehandlung von Menschen trägt essentiell dazu bei, dass sich die psychologischen Konzepte der Gesellschaft ändern. Änderungen von Gesetzen implizieren nämlich auch Änderungen grundlegender Konzepte von „uns“ und den „anderen“, von Eigen- und Fremdgruppen, von „Normalität“ und „Abweichung“. Gleichzeitig sind wir, die Bewohner*innen dieser bunten und vielfältigen Gesellschaft, dafür verantwortlich, bewusst gegen kognitive Konzepte von „uns“ und „den anderen“ und den damit verknüpften Zuschreibungen anzuarbeiten. Es ist unsere Aufgabe, unseren Mitmenschen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und ihnen Vertrauen entgegen zu bringen. Es liegt an uns allen, miteinander zu kooperieren und gemeinsam für eine gleichberechtigte Gesellschaft einzutreten.

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„Bettlerhauptstadt“: Bedrohungs- und Feindbilder in der Berichterstattung über Armutsmigrant_innen Stefan Benedik1

Betteln wird in der allgemeinen Wahrnehmung als eine Erscheinung der Straße, als ein soziales Phänomen des öffentlichen Raums, verstanden. In diesem Beitrag behaupte ich, dass das nur zum Teil stimmt und dass wir unseren Blick auf die vielfältigen Formen, in denen Diskussionen über Betteln ausgetragen werden, richten müssen, um zu verstehen, warum die Gegenwart von Bettler_innen im öffentlichen Raum zu einem dermaßen brisanten Thema in zentraleuropäischen Gesellschaften geworden ist. Dafür können youtube-Clips genauso entscheidend werden wie Parlamentsdebatten – für unsere Wahrnehmung sind diese Schauplätze oft weitaus prägender als Erfahrungen auf der Straße oder konkrete Begegnungen

1 Für die kritische Lektüre dieses Beitrags danke ich Daniela Karner und Gernot Reinisch sehr herzlich. Für die Schärfung der Argumentation und Überarbeitung des Textes waren Anmerkungen von Katharina Scherke ungemein hilfreich.

In den folgenden Fußnoten, in denen ich auf das hegemoniale öffentlich-mediale Sprechen verweise, führe ich aus Platzgründen immer nur ein Beispiel exemplarisch an. Mehrere Belege für Auftreten und Verwendungsvarianten bestimmter Diskursformationen oder Narrative liste ich in der Monographie „Die imaginierte Bettlerflut“ auf, aus der ich die meisten der hier aus den Grazer Medien analysierten Fällen bezogen habe; ich danke Heidrun Zettelbauer und Barbara Tiefenbacher. Vgl. Stefan Benedik, Barbara Tiefenbacher, Heidrun Zettelbauer, Die imaginierte „Bettlerflut“. Temporäre Migrationen von Roma/Romnija. Konstrukte und Positionen, (= drava diskurs), Klagenfurt/Celovec 2013, S. 35–81.

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mit Bettler_innen. Schließlich werden in ihnen alte Vorurteile aktiviert und durch scheinbare Fakten untermauert und uns somit eine Brille zur Verfügung gestellt, durch die hindurch wir dann konkrete Alltagssituationen (etwa im öffentlichen Raum) sehen und deuten. Deshalb untersuche ich in diesem kurzen Beitrag Material aus der öffentlich-medialen Berichterstattung, Aussendungen politischer Parteien, aber auch Maßnahmen der Verwaltung und von NGOs, die sich mit Migrant_innen in der Gegenwart beschäftigen und frage danach, welche Geschichte die darin verwendeten Argumente haben. Ich gehe dabei auf zwei verschiedene Städte ein, Salzburg und Graz, um zu ergründen, wie wir erklären können, warum ein- und dasselbe Phänomen so unterschiedlich dargestellt wird. In beiden dieser Städte nimmt Betteln heute einen großen Stellenwert in der Arena der gesellschaftspolitischen Diskussionen ein, das ist aber nicht das erste Mal in der Geschichte so. Durch die Tradition der Vorurteile, die dabei verbreitet werden, und ihren Allgemeingültigkeitsanspruch, sind Vorstellungen von Bettler_innen in der Öffentlichkeit untrennbar mit Mythen verbunden, die inzwischen so geläufig sind, dass sie mit ganz alltäglichen Begriffen verknüpft sind. Völlig neutrale Worte wie „organisiert“ genügen in diesem Zusammenhang schon, um ganz spezifische Geschichten abzurufen. Selbstverständlich organisieren sich Bettler_innen für Fahrgemeinschaften, Quartiere, Verpflegung.2 Das ist aber – scheinbar ganz selbstverständlich – nicht gemeint, wenn von „organisiertem Betteln“ gesprochen wird. „Organisation“ wird stattdessen als gleichbedeutend mit „krimineller Organisation“ gehandhabt. Auch der Rassismus hinter dieser Gleichsetzung ist kaum versteckt: In den öffentlichen Diskussionen wird unausgesprochen vorausgesetzt, dass es sich bei den Bettler_innen um migrierende „Roma“ handeln würde. Unterstellt wird dann, dass eine Organisation bei einer solchen Gruppe nur kriminell sein könne, ohne dass das näher erklärt oder gar bewiesen werden müsste. Entsprechend wertend lassen jene Formulierungen, die im Zusammenhang mit Betteln verwendet werden, jede Neutralität vermissen (die Rede ist dann davon, dass ein „Capo“ oder „Bandenboss“ „Krüppel“ „herkarren“ und „abkassieren“ würde). In diesem Beitrag werde ich solche Erzählungen und Sprachbilder mit Beispielen aus Salzburg und Graz kurz vorstellen, ihre Herkunft und Funktion thematisieren. Ich tue das aus der Perspektive eines Kulturwissenschafters, der sich dafür interessiert, warum bestimmte Themen in Vergangenheit und Gegenwart Aufregung verursachen, Aggressionen wecken. Wenn ich mich dabei mit Darstellungs- und Erzählweisen beschäftige, bedeutet das nicht, dass das die erfahrbare Welt ausschließen würde. Auseinandersetzungen über Betteln in der Stadt Salzburg zeigen beispielsweise sehr deutlich, dass Diskussionen untrenn2 Vgl. zu Formen der Selbstorganisation unter Bettler_innen Benedik, Tiefenbacher, Zettelbauer, Die imaginierte „Bettlerflut“, S. 28, S. 33.

„Bettlerhauptstadt “ – Bedrohungs - und Feindbilder in der Berichterstattung | 77

bar mit Handlungen verbunden sind: Die stete Radikalisierung der Meinungen über Betteln in Medien und Politik ab 2012 führte dazu, dass auf Facebook sogar gefordert wurde, Bettler_innen in Mauthausen zu vergasen,3 und mündete schließlich im Frühjahr 2014 auch darin, dass die improvisierten Quartiere von Bettler_innen angezündet und diese auf offener Straße gewalttätig angegriffen wurden.4 Zu diesem Zeitpunkt waren schon zwei Jahre lang Übergriffe gegen Roma (Männer) und Romnija (Frauen) im Land Salzburg aktenkundig geworden.5 Das ist genau jener Zeitraum, in dem Betteln zu einem der zentralen politischen Themen geworden war. Attackiert wurden aber nicht nur bettelnde Menschen. Vielmehr stand dahinter ein offener Rassismus, der sich dezidiert verbal und tätlich gegen eine ‚ethnische Gruppe‘ richtete. Als in Graz wie in Salzburg die Türen von Notschlafstellen, in denen Bettler_innen übernachteten, mit der Forderung beschmiert wurden, die NS-Vernichtungspolitik wieder aufzunehmen („Roma ins Gas“ oder „KZ“), waren das Ziel der Mordphantasien nicht Bettler_innen, sondern Rom_nija ganz pauschal.6 Solche Handlungen sind Teil der Diskurse – sie haben ihren Ursprung und ihren Ort in den Medien, werden in diesen dann verurteilt, entschuldigt, besprochen, interpretiert, heruntergespielt, bekämpft.7 Sprechen und Handeln sind also unmittelbar miteinander verstrickt, auch in allen folgenden Beispielen.

B etteln als Ausnahmezustand – Populistische I nstrumentalisierung von A rmut Mediale Diskussionen von Betteln liegen am Schnittpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung mit ‚Fremdheit‘ und Armut. Sie traten in den ‚westeuropäischen‘ Medien mit der zunehmenden Effektivität sozialstaatlicher Strukturen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr in den Hintergrund und 3 Vgl. Salzburger Nachrichten, 1.5.2014. 4 Vgl. Standard, 28.4.2014. 5 Die Selbstvertretungsorganisation Roma Service listet auf ihrem Blog alle diese Gewalt- und Hetztaten auf, vgl. dROMa-Blog, 3.5.2014. Vgl. dazu auch salzburg.orf.at, 2.5.2014. 6 Vgl. Stefan Benedik, ‚Zigeunerlieder’ und Viehwaggons. Verweise auf historische Diskursformationen in Debatten um Grazer Bettler_innen seit 1989, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 42 (2012), S. 503–532, hier S. 521–523. 7 Vgl. dazu grundsätzlich Claudia Breger, Ortlosigkeit des Fremden. „Zigeunerinnen“ und „Zigeuner“ in der deutschsprachigen Literatur um 1800, (= Literatur-KulturGeschlecht 10), Köln 1998, S. 366.

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kommen erst in den letzten Jahren, in denen die soziale Ungleichheit innerhalb Zentraleuropas wieder stark angestiegen ist, erneut aufs Tapet. Ein wesentliches Merkmal dieser öffentlichen Auseinandersetzungen ist, dass sie nicht vorrangig als Sozialdebatten geführt werden, sondern als Diskussionen über Migration, die stark von Rassismen geprägt sind. Entsprechend pendelt die öffentlich-mediale Auseinandersetzung mit Betteln häufig zwischen den Positionen migrationsfeindlicher politischer Parteien und jenen von Akteur_innen der Zivilgesellschaft oder von NGOs. Die Diskussionen lassen sich dabei nicht einfach entlang des Schemas politischer Ideologien oder bestimmter Medienformate einordnen. An der pauschalen Darstellung von Betteln als kriminelle, bedrohliche Tätigkeit haben sich Boulevardzeitungen genauso beteiligt wie öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten oder Qualitätsmedien. Sie verwenden dafür unterschiedliche Sprache, doch die verbreiteten Erzählungen weichen wenig voneinander ab. Einflussreich sind dabei besonders Leser_innenbriefe und Kommentare, während umfangreichere Recherchen ein komplizierteres, meist weniger rassistisches Bild vermitteln, unabhängig vom Medium. Wie in allen länger öffentlich geführten Diskussionen sind auch für das Sprechen über Betteln unausgesprochene Vorannahmen entscheidend, die vorausgesetzt werden, ohne dass sie erklärt werden müssen. Eine solche Annahme ist die Definition von Betteln als Problem. Sie stand am Anfang der gesellschaftliche Verhandlung über Betteln in Graz vor mehr als einem Vierteljahrhundert, genauso aber auch in Salzburg vor wenigen Jahren: Im Zuge dessen wurde die Aufmerksamkeit nicht auf die Probleme gelenkt, die Armut verursachen oder die durch Armut verursacht werden. Stattdessen wurden die Armen zum Problem erklärt. In Salzburg geschah dies durch die Regionalpolitik, deren Vertreter_innen bekanntgaben, „das Bettlerproblem in Salzburg ist virulent.“8 In Graz begann der mediale Konflikt 1989 mit der rhetorischen Frage einer Leserinnenbriefschreiberin, ob es notwendig sei, dass die Grazer „Altstadt belagert ist mit Bettlern.“9 Hinter diesen unterschiedlichen Formulierungen steckt die gemeinsame Vorstellung eines Ausnahmezustandes, einer Situation, in der rasches (und gegebenenfalls auch hartes) Durchgreifen notwendig sei. Beachtenswert ist das deshalb, weil diese Aufforderungen genauso wie die zahlreichen folgenden so gut wie nichts über das Betteln aussagen. Stellungnahmen, die behaupten, dass es eine akute Gefahr gäbe, führen nie aus, worin diese eigentlich zu suchen sei. Politiker_innen ordnen in Österreich Bettelverbote meist im Bereich der Sicherheitsgesetze ein, ohne zu erörtern, wessen Sicherheit damit gemeint und in welcher Form diese gefährdet ist. „Sicherheitszonen“ war 8 Vizebürgermeister Harry Preuner (ÖVP) in Salzburg24.at, 4.5.2010. 9 Leserinnenbrief, Kleine Zeitung, 24.3.1989.

„Bettlerhauptstadt “ – Bedrohungs - und Feindbilder in der Berichterstattung | 79

die Wortschöpfung, mit der eine Partei in der Salzburger Stadtregierung 2014 öffentlich für Bettelverbotsbereiche warb.10 Zu dieser Darstellung als Bedrohung passt, wenn in Zeitungsreportagen über Betteln durch die Verwendung polizeilicher Sprache der Eindruck vermittelt wird, dass Betteln gefährlich sei: 2010 ging die Polizei in Salzburg erstmals gegen Menschen in Elendsquartieren vor. Nachdem es zu diesem Zeitpunkt keine Notschlafstelle gab, in der Migrant_innen kurzfristig unterkommen konnten, mussten Bettler_innen in leerstehenden Häusern oder in Zelten übernachten. Dabei handelt es sich im schlimmsten Fall um Verwaltungsübertretungen, für die die renommierten Salzburger Nachrichten die Formulierung verwendeten, dass die Beamten „fündig“ geworden wären und „fünf Rumänen stellen“ konnten. Der Eindruck eines Verbrechens, das eine schnelle Reaktion erfordert, entsteht hier nur durch die Wortwahl: „Die Polizeiinspektion übernahm die nötigen Sofortmaßnahmen.“11 Abgesehen davon, dass überhaupt zu fragen wäre, welche polizeilichen „Maßnahmen“ hier nötig gewesen sein sollten, entsteht durch Übertreibungen und Betonungen der Eindruck besonderer Gefährlichkeit. So dringlich kann ein Problem nur sein, wenn von ihm eine akute Bedrohung ausgeht. Ein nüchterner Blick zeigt hingegen, dass nachvollziehbare Gefahren meist nur für die Bettelnden bestehen. Durch die Umkehrung der Perspektive wird allerdings den Lesenden die Opferrolle angeboten, wie das Beispiel eines anderen Berichts über ein desolates Haus in Salzburg zeigt, in dem mutmaßlich bettelnde Migrant_ innen untergebracht waren. Medien attestierten dabei ganz allgemein „Gefahr im Verzug“. Eigentlich hätten die dort einquartierten Menschen in Sicherheit gebracht werden müssen, dargestellt wurde das aber so, als würde eine (nicht näher definierte) Gefahr für ‚die Einheimischen‘, ja für ganz Salzburg bestehen.12 In der sozialen Praxis entsteht aus dem Betteln keine Gefahr – die meisten realen Bedrohungen sind für die Bettler_innen selbst gegeben. Für sie sind Praktiken von Polizei und Behörden, beispielsweise in Wien bedrohlich, wo Eingriffe in die Intimsphäre von Bettler_innen und Gewalt in den Polizeistuben häufig dokumentiert, ja sogar als Regelfall kritisiert wurden.13 Für Passant_in10 Vgl. Mein Bezirk, 11.5.2014. 11 Salzburger Nachrichten, 4.5.2010. 12 Vgl. ORF Salzburg, 10.6.2012. Die dahinterstehende Opfer-Täter_innen-Umkehr zählt zum klassischen Repräsentationsrepertoire von Migration, wie sich an den verfestigten Topoi über „Elendsquartiere“ oder „Illegale Flüchtlingslager“ ganz allgemein als „Ärgernis“ oder „Zumutung“ bzw. „Bedrohung“ der „Einheimischen“ zeigt. 13 Vgl. Ferdinand Koller, Brauchen wir Bettelverbote, in: Monika Jarosch et al. (Hg.), Gaismair-Jahrbuch 2015. Gegenstimmen, Innsbruck–Wien–Bozen 2014, S. 34–40, hier S. 39.

80 | Stefan Benedik

nen mag Betteln unangenehm sein, aber nicht gefährlich. In den Medien wird es dennoch als Gefahr präsentiert – ein Widerspruch, den der Mainstream der Berichterstattung mit kriminalisierenden Etiketten übertüncht.14 Als Synonyme für „Bettler“ werden am häufigsten „Bande“ und „Mafia“ verwendet, in Zeitungsinterviews ist es Passanten aber auch nicht zuviel, sie als „Gauner“ zu bezeichnen.15 Verurteilungen in diesem Stil gehen jedoch nicht auf aggressive „kleine Leute“ zurück, die als ‚Mob‘ überschießend auf Migrationen reagieren. Besonders drastisch zeigt sich die pauschale Unterstellung, dass Bettler_innen kriminell seien, nämlich bei Vertreter_innen von Polizei oder Politik, die betont bedauernd zu Protokoll geben, dass es „keine Handhabe“ gäbe, bettelnde Menschen einfach zu vertreiben oder zu bestrafen.16 Die Offenheit, mit der diese eklatante Missachtung von Menschenrechten eingestanden wird – allen voran die Behandlung von Unbescholtenen als Kriminelle17 – erinnert verblüffend an die Erste Österreichische Republik, in der sich Landesregierungen wiederholt lautstark darüber beschwerten, dass die Grundrechte in der Verfassung der Republik ihren Plan verhinderten, jene Menschen einfach samt und sonders aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich abzuschieben, die als „Zigeuner“ oder „Zigeunerinnen“ betrachtet wurden.18 14 Vgl. Nando Sigona, Nidhi Trehan, The (re)Criminalization of Roma Communities in a Neoliberal Europe, in: Salvatore Palidda (Hg.), Racial criminalization of migrants in the 21st century, (= Advances in Criminology), Farnham–Burlington 2011, S. 119– 132; Nando Sigona, Locating „The Gypsy Problem“, The Roma in Italy, Stereotyping, Labelling and „Nomad Camps”, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 31 (2005), S. 741–756. 15 Vgl. Kurier, 24.8.2012. Vgl. dazu auch: Hilde Böhm, Der Armut ins Gesicht sehen, Megaphon Nr. 20 (1997), S. 4. 16 Vgl. Mein Bezirk, 25.7.2012; Wörtliches Protokoll der 30. Sitzung des Wiener Landtags in der 18. Wahlperiode, 26.3.2010. 17 Zur Beurteilung von bettelfeindlichen Politiken in der Praxis aus einer menschenrechtlichen Perspektive vgl. Wolfgang Benedek, Das Bettelverbot in der Steiermark aus menschenrechtlicher Sicht, in: Beatrix Karl et al. (Hg.), Steirisches Jahrbuch für Politik 2011, Graz 2012, S. 77–81; Barbara Weichselbaum, Betteln als Verwaltungsstraftatbestand – die grundrechtliche Sicht am Beispiel des Verbots „gewerbsmäßigen Bettelns“, in: Journal für Rechtspolitik 19 (2011), S. 93–109; Barbara Weichselbaum, Die Bettelverbote in der Judikatur des VfGH, in: Gerhard Baumgartner (Hg.), Jahrbuch Öffentliches Recht 2013, Wien 2013, S. 37–75. 18 Vgl. zB Amt der niederösterreichischen Landesregierung Z. L.A. 1/6a – 1967/61 vom 31. Oktober 1927 an das Bundeskanzleramt, z. Erl. v. 27VIII.1927, Z. 145461-9, Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), LReg 386/II Zi-1932 3.

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Die pauschale Unterstellung, Bettler_innen seien kriminell, ist aber nicht das einzige Standbein, auf das die Behauptung gestellt wird, dass Betteln ein „Sicherheitsrisiko“ sei. Eine andere Gruppe von Sprachbildern kleidet dieses soziale Phänomen in die Hülle des Militärischen. Etwa wird ganz ausdrücklich unterstellt, dass Bettler_innen „generalstabsmäßig geplant“ „rekrutiert“ würden, damit eine „Bettler-Armee“ ihre „Invasion“ durchführen könne.19 Mit solchen Formulierungen kann das Bild von Menschen, die um Hilfe bitten, sehr rasch vom Eindruck in den Hintergrund gedrängt werden, dass die ‚eigene‘ Stadt angegriffen würde. Aus Hilfesuchenden werden dann Täter_innen. Zu dieser Gruppe der militärischen Bilder gehört übrigens auch der häufig zu findende Ausdruck, Bettler_innen würden die Stadt oder einzelne Straßen „besetzen“.20 Formulierungen dieser Art schaffen konkrete Bedrohungsbilder, die wiederum ihrerseits dazu dienen, besonders harsche Maßnahmen zur „Bekämpfung“ zu rechtfertigen. Auf diese Weise wirkt die Vorstellung eines Ausnahmezustands, der durch Migrationen herbeigeführt wird genauso wie die oben beschriebene Klassifikation als „Sicherheitsthema“: Wenn Betteln gefährlich ist, sind auch harte Maßnahmen dagegen bzw. überhaupt eine Einschränkung nicht nur angebracht, sondern sogar unumgänglich. Im Europa der Gegenwart werden so konstruierte Szenarien auch als Rechtfertigung für pogromartige Ausschreitungen verwendet, in denen Romani Siedlungen niedergebrannt und Rom_nija wahllos attackiert werden.21 Nun stellt sich die Frage, wie solchen verdrehten Darstellungen begegnet werden kann. Die Auseinandersetzungen über Betteln in Graz können darauf Antworten geben, tritt dort doch schon seit 1996 eine NGO mit katholischem Hintergrund bettelfeindlichen Berichten in den Medien entgegen. Durch vermittelte Interviews mit Bettlern, Reportagen aus der Notschlafstelle und regelmäßige Antworten auf problematische Berichte und Leser_innenbriefe ist ein deutlich vielschichtigeres Bild in den Medien entstanden und eine Änderung in der Haltung vieler Grazer_innen zum Betteln eingetreten. Am offensichtlichsten wurde das 2011, als gegen ein geplantes generelles Bettelverbot im Land Steiermark mehr als 10.000 Menschen unterschrieben haben. Manche nahmen erstmals in ihrem Leben an einer Demonstration teil, zum Beispiel, weil sie zu einem bestimmten Mann, den sie als „ihren Bettler“ vereinnahmten, über die Jahre hinweg eine Verbindung aufgebaut, Verständnis und Verantwortungsgefühl entwickelt hatten. NGOs kann es mit Lobbyarbeit in den Medien also gelingen, Migration als Erfahrung einzelner Menschen zu19 Steirerkrone, 5.12.1996; Der neue Grazer, 29.4.1999; Der neue Grazer, 2.12.2005. 20 Grazer im Bild, 2.12.2005. 21 Vgl. Shannon Woodcock, Gender as a catalyst for violence against Roma in contemporary Italy, in: Patterns of Prejudice 44 (2010), S. 469–488.

82 | Stefan Benedik

gänglich zu machen und Betroffenheit auszulösen. Das bedeutet aber nicht, dass Stereotype und Vorurteile verschwinden. Vielmehr haben sich in der Grazer Berichterstattung durch die jahrzehntelange öffentliche Diskussion neue Unterscheidungen gebildet, beispielsweise zwischen „unseren bekannten Bettlern“ und den „rumänisch-bulgarischen Roma-Gruppen.“ 22 Die erste Gruppe wird als hilfsbedürftig betrachtet, die zweite dient weiterhin als Zielscheibe für alle bekannten und neuen Anfeindungen, aber eben auch als Rechtfertigung für weitere Beschränkungen und „Maßnahmen“.23

Das „B ettlerproblem “ – Wie aus M igrant _ „Rumänen “, „B ettler“ und „Roma“ werden

innen

Diese medialen Verzerrungen zielen nicht auf Einzelpersonen ab, sie inszenieren nicht eine einzelne Bettlerin oder einen einzelnen Bettler als Gefahrenquelle. Zugrunde liegt all diesen Vorstellungen eine extrem verallgemeinernde Sicht auf bestimmte Menschengruppen. Die Rede ist dann nur von ‚einer Gruppe‘, hinter der Personen völlig unsichtbar werden.24 Damit hängen mehrere Prozesse zusammen: Erstens werden alle Bettler_innen als eine einheitliche, zusammengehörige Erscheinung dargestellt, die zweitens die gleiche Geschichte hat und drittens wird behauptet, dass die Community der Rom_nija mit der Gruppe der Bettler_innen deckungsgleich sei.25 1996, als diese Gleichsetzung in Graz langsam begann, gab es noch keine Sprache für die öffentliche Auseinandersetzung mit Betteln, Sprachbilder 22 Der neue Grazer, 7.4.2013. 23 Das ist selbstverständlich eine verkürzte Zusammenfassung des hegemonialen Sprechens. Weiterhin sind die Positionierungen und Narrative ambivalent und fragil, es lässt sich aber für die zentralen, einflussreichsten Texte der Zeit ab 2010 eine gewisse Verdichtung entlang der hier angeführten Dichotomien nachweisen. 24 Vgl. Rogers Brubaker, Ethnicity without groups, in: Montserrat Guibernau, John Rex (Hg.), The Ethnicity Reader. Nationalism, Multiculturalism and Migration, Cambridge–Malden 2010, S. 33–45. 25 Vgl. zu diesen Rassifizierungsprozessen ausführlicher: Stefan Benedik, Define the Migrant, Imagine the Menace. Remarks on Narratives in Recent Romani Migrations to Graz, in: Helmut Konrad, Stefan Benedik (Hg.), Mapping Contemporary History II, 25 Years of Contemporary History Studies at Graz University | 25 Jahre Zeitgeschichte an der Universität Graz, Wien–Köln–Weimar 2010, S. 159–176. Zur Analyse solcher Prozesse aus Sicht der Psychologie vgl. die Ausführungen zu Intergruppenprozessen bei Anslinger/Athenstaedt im gleichen Band.

„Bettlerhauptstadt “ – Bedrohungs - und Feindbilder in der Berichterstattung | 83

mussten erst erfunden und ausgehandelt werden. So wurden die Migrant_innen genauso „Roma“ genannt wie „Zigeuner und Sandler“.26 Als in Salzburg Betteln siebzehn Jahre später zur großen Projektionsfläche für weltanschauliche Auseinandersetzungen wurde, war längst schon ein zentrales Etikett zur Beschreibung gefunden: „organisiert“. „Die organisierten Bettlerbanden“ lautet der Überbegriff, der am häufigsten eingesetzt wird, um die Bettler_innen als einheitliche Gruppe vorzustellen, aber auch, um eine ‚ethnische‘ Herkunft anzudeuten. Diese steckt auch hinter dem so oft angegebenen Herkunftsland Rumänien, das nicht nur tatsächlich ein Staat mit einer großen Romani Community ist, sondern vor allem so klingt, als würde seine Bezeichnung auf Rom_nija verweisen (auch wenn sie es nicht tut). Das passiert unabhängig von der tatsächlichen Herkunft: In Salzburg stammten „Rumänen“ auch schon aus der Slowakei oder Ungarn,27 in Graz wurden Wohnwägen mit gut sichtbarem belgischem Kennzeichen schon als „rumänisch“ beschrieben, nur weil sie Sinti_zze gehörten. Schnell werden auch Menschen, die Österreich nie verlassen haben, zu Mitgliedern einer „südosteuropäischen Bande“ oder „Osteuropäer“, sobald sie bettelnd in Zeitungen abgebildet werden.28 An diese Herkunftsvorstellungen werden auch rassistische Bilder geknüpft. Zu Prominenz brachte es erstens die Idee der Bande, mit der auf Geschichten von Ausbeutung und Abhängigkeit angespielt wird, und zweitens jene von vorgespielten Behinderungen. In Österreich speisen sich aus diesem Reservoir (wie in den meisten europäischen Fällen)29 so gut wie alle bettelfeindlichen Darstellungen. Beide Erzählungen entstehen durch eine Vermischung von extrem stereotypen Ideen von ‚Rasse‘, Geschlecht, Migration, Körper, und dem europäischen ‚Osten‘. Rassistische Zuschreibungen werden aber genauso in bettelfreundlichen Kommentaren und Berichten verbreitet, die zeigen wollen, dass Betteln ein Beruf sei, und folglich legitim und nicht kriminell. Ich stelle hier nicht in Frage, dass Betteln analytisch als Form von Erwerbsarbeit eingeordnet werden kann, aber wenn die bettelfreundlichen Kommentare zu erklären versuchen, dass die angebliche Ausbeutung von Bettelnden als „typisch“ für die Kultur der Rom_ nija zu sehen ist oder aber behauptet wird, Bettler_innen würden eben in größeren Gruppen auftreten, weil das die „traditionelle Clanstruktur“ erzwinge, ist das einfach die Wiedergabe rassistischer Feindbilder unter umgekehrten Vorzeichen.30 26 Vgl. Salzburger Nachrichten, 28.11.1996; Steirerkrone, 18.6.1996. 27 Vgl. Wiener Zeitung, 17.10.2012. 28 Vgl. Steirerkrone, 16.12.2006. 29 Vgl. Benedik, Tiefenbacher, Zettelbauer: Die imaginierte „Bettlerflut“, S. 39–40. 30 Ich nenne hier jeweils die ersten Erscheinungsformen dieser Legitimationsstrategien für Graz und Salzburg. Vgl. Kleine Zeitung, 5.12.1996; APA „Sozial-Studie an Uni Salzburg: ‚Betteln ist Straßenkunst‘“, 15.6.2012.

84 | Stefan Benedik

Durch die permanente gemeinsame Erwähnung verweisen ganz unterschiedliche Begriffe auf das Phänomen Betteln. In Graz ist der Name des Dorfes, aus dem in der populären Vorstellung alle Bettler_innen stammen, zum Schlagwort geworden.31 Wie problematisch diese enge Verknüpfung werden kann, zeigt auch die Berichterstattung über einen Mord im Land Salzburg Ende 2012. Die Tatverdächtigen werden quer durch alle Medien bis hin zur für genaue Recherchen bekannten Süddeutschen Zeitung als „Rumänen“, oder „Bettler“ bezeichnet, obwohl das Verbrechen nicht in Zusammenhang mit Betteln, sondern mit einem Überfall begangen wurde.32 In der Abendzeitung München kulminierte der gedachte Zusammenhang schließlich in der Schlagzeile „BettelMafia tötet Rentnerin“33 womit sowohl die Mafia-Erzählung wiederholt wird, als auch die Gefährlichkeit von Betteln und dessen Nähe zur Kriminalität scheinbar bestätigt wird. Betteln wird nicht mehr als Tätigkeit betrachtet, sondern als Eigenschaft, vielleicht sogar als bestimmendes Charakteristikum einer ganzen Gruppe.

Woher andere

das alles kommt

Verweise

– H istorische

und

Mit einem solchen Blick auf die Debatte stellt sich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass dermaßen krasse Fehleinschätzungen quer durch die gesamte Berichterstattung verbreitet sind. Hier kann eine Perspektive helfen, die in die Vergangenheit gerichtet ist und die Diskussion über die konkrete Region hinaus verbreitert. In den Diskussionen über Betteln haben wir es einerseits oft mit Bildern zu tun, die als „antiziganistisch“ bezeichnet werden können, also mit Stereotypen gegenüber als „Zigeunerinnen“ oder „Zigeunern“ bezeichneten Menschen. Andererseits werden diese Vorstellungen aber hier nur deshalb so wirkmächtig, weil sie mit etablierten Images über Migration, den Osten oder (Post-)Kommunismus verbunden werden. Sprache und Darstellung haben eine Geschichte, die oft erst ihre aktuelle Wahrnehmung erklärt – genau dasselbe gilt für Handlungen. Im Bereich von Behörden und Exekutive lassen sich zahlreiche Beispiele für eine kontinuierliche, sehr langfristige Verfolgungspolitik finden: 2010 forderte der Salzburger Vizebürgermeister, dass das österreichische Innenministerium ein „zentrales

31 Vgl. Kleine Zeitung, 17.7.1999. 32 Vgl. heute [Tageszeitung], 23.1.2013; Süddeutsche Zeitung, 21.1.2013. 33 Abendzeitung München, 24.1.2013.

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Bettelregister“ anlegen solle.34 Das war keine neue Idee – die bayrische Polizei führte selbst in den 1990er-Jahren noch eine Kartei, die explizit Rom_nija erfasste.35 Auch in Österreich hatte schon einmal eine „Zigeunerkartothek“ existiert, angelegt wurde sie noch in der demokratischen Ersten Republik, die NS-Behörden zogen sie als Grundlage für Deportationen in Konzentrationsund Vernichtungslager heran.36 Diese Listen erklären unter anderem, wa­ rum von den österreichischen Rom_nija nur ein äußerst geringer Anteil die Verfolgungsmaßnahmen der NS-Herrschaft überlebte.37 Bei der Forderung nach einem „Bettelregister“ 2010 fällt aber ein weiterer Aspekt auf. Als (vermeintliche) Begründung für die polizeiliche Registrierung gab der Vizebürgermeister die vorbeugende Bekämpfung von kriminellen Banden an. Das erinnert – ohne dass dieser Bezug dem Urheber bewusst gewesen sein muss – unmittelbar an jenen Scheingrund, mit dem die Nationalsozialist_innen rechtfertigten, dass sie Menschen, die sie als „Zigeuner“ oder „Zigeunerinnen“ klassifizierten, in Konzentrationslager einwiesen – als Ursache für die Inhaftierung nannten sie „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“.38 Einen ähnlichen historischen Kontext hat die Darstellung von Rom_nija als „Parasiten“. Wenn Bettler_innen als „richtiggehende Heimsuchung“39 oder „einfallende“40 „Schwärme“41 beschrieben wurden, führt uns das erstens zurück zu nationalsozialistisch geprägten Sprachbildern (gegen Jüdinnen/Juden und 34 Vizebürgermeister Harry Preuner (ÖVP) in Salzburger Nachrichten, 4.5.2010. 35 Vgl. Sybil Milton, Sinti and Roma in Twentieth-Century Austria and Germany, in: German Studies Review 23 (2000), S. 317–331, hier S. 317. 36 Vgl. Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, unsichtbar. NSHerrschaft. Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008, S. 89–90. 37 Florian Freund, Gerhard Baumgartner, Harald Greifeneder, Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NSZeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Bd. 23/2, Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti, Wien 2002, S. 50–55; Florian Freund, Gerhard Baumgartner, Der Holocaust an den österreichischen Sinti und Roma, in: Michael Zimmermann (Hg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 87–95. 38 Sybil Milton weist auf exakt diese Analogie in der Institutionalisierung der Kriminalisierung von Rom_nija im Bayern der 1990er-Jahre hin. Vgl. Milton, Sinti and Roma, S. 317. 39 Steirerkrone, 8.7.1999. 40 Ebda. 41 Steirerkrone, 5.12.1996.

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„Zigeunerinnen“/“Zigeuner“), zweitens zu Vorurteilen aus der wissenschaftlichen „Zigeunerforschung“ und drittens zu allgemein verbreiteten Bildern des „Schmarotzens“. Vermittelt wird der Eindruck, eine ‚gute‘, ‚wertvolle‘ Gruppe würde von einer anderen Gruppe ‚ausgesaugt‘, die folglich nur ‚schlecht‘ und ‚wertlos‘ sein kann.42 Solche vermeintlich eindeutigen Unterschiede können nur hergestellt werden, indem auf die Biologie und deren Vokabular zurückgegriffen wird: Über die Auswirkung eines Parasiten kann es keine geteilten Meinungen geben. Grundsätzlich ist dieser Angriff nicht auf Rom_nija beschränkt, sondern lässt sich allgemein gegenüber Migrant_innen oder armen Menschen feststellen. In der österreichischen Diskussion ist besonders häufig die Rede davon, dass das österreichische Sozialsystem von Bettler_innen ausgebeutet würde, was in sich widersprüchlich ist, da Menschen ja eben betteln müssen, weil weder Wirtschaftssystem noch Transferleistungen in den Herkunftsländern ein Überleben ermöglichen und Migrant_innen der Zugang zum Sozialstaat im Zielland verwehrt bleibt. Auch im folgenden Zitat erfindet die dahinter stehende Salzburger Stadtpartei Pläne, Steuermittel für Bettler_innen einzusetzen, nur als Schreckensszenario. Mit dem Bild, dass der Staat auf das Geld der Leser_innen zugreife, verschleiert sie, dass Betteln auf Freiwilligkeit und zivilgesellschaftlichem Engagement beruht: „Sicher ist nur, dass die Belästigungen enorm zunehmen werden und unsere Steuerzahler die Zeche des ganzen Blödsinns werden blechen müssen.“43 Viele populäre Bilder, die eine lange Tradition in rassistischen, migrationsfeindlichen Kampagnen haben, werden gegen Bettler_innen in einer speziellen Form eingesetzt. Wenn davon die Rede ist, dass Bettler_innen in „Wellen“ auftreten würden, oder gar eine „Bettlerflut“ zu beobachten sei, dann wird damit wie auch schon bei den vorhin beschriebenen Bildern das Individuum unsichtbar gemacht hinter einer anonymen Masse.44 Zusätzlich dazu wird mit Begriffen wie „Lawinen“45 oder „Überschwemmung“46 der schon beschriebene Ausnahmezustand ganz konkret, die Bedrohung wird greifbar in der Vorstellung eines besonders massenhaften, riesigen Phänomens. Unterstützt wird das durch die Behauptung, dass es Bettler_innen „an jeder Straßenecke“ gäbe.47 Betteln 42 Vgl. Markus End, Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg 2014, S. 150, S. 216. 43 Presseaussendung ÖVP Salzburg, 4.10.2013. 44 Vgl. Leo R. Chavez, Covering Immigration, Popular images and the politics of the nation, Berkeley–Los Angeles 2001, S. 71. 45 Graz im Bild, 28.12.2006. 46 Steirerkrone, 5.12.1996. 47 Krone Salzburg, 5.5.2014.

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erscheint damit nicht mehr als menschengemacht, sondern als naturhaft und katastrophenartig. So lässt sich auch eine unmenschliche politische Antwort rechtfertigen.48

„R eiche Pflaster“ – Was N abelschau sieht

man nur bei einer

All den Begriffen und Bildern, Vorstellungen und Schreckensszenarien, die bisher erörtert wurden, ist gemeinsam, dass sie sich wie erwähnt auf eine eindeutige, ganz klar abgegrenzte Gruppe beziehen: die gedachten ‚Anderen‘. Wirklich verstehen lassen sich die extremen Emotionen, die mit der Berichterstattung über verarmte Migrant_innen hervorgerufen werden, aber nur, wenn wir auch diejenige Gruppe berücksichtigen, die sich durch diese Gegenüberstellung selbst bestätigt: Den ‚Anderen‘ gegenüber steht ein eindeutiges und klares ‚Wir‘.49 Das ‚eigene‘ Selbstverständnis, also Vorstellungen davon, was die ‚eigene Gesellschaft‘ ausmacht und ausmachen sollte, wovon sie sich abgrenzen kann und wie sie sich entwickeln sollte, sind oft entscheidender als das, was im Zusammenhang mit Migration tatsächlich passiert. Sichtbar wird das an Vorstellungen, was denn die ‚eigene Stadt‘ sei, oder, genauer gesagt, welche Eigenschaften der ‚eigenen Stadt‘ denn durch das Betteln sichtbar werden: Schon 1998 bündelte die Ortsparteigruppe der Grazer FPÖ die zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre lang kolportierten Übertreibungen und Bedrohungsvorstellungen in der Formel von Graz als „Bettlerhauptstadt“.50 Gemeint ist mit diesem dystopischen Negativ-Stadtmarketing, dass Graz besonders naiv oder zu menschenfreundlich sei. Die zugrundeliegende Behauptung, 48 Vgl. dazu ausführlicher Benedik, Tiefenbacher, Zettelbauer, Die imaginierte „Bettlerflut“, S. 46–56. 49 Vgl. dazu grundsätzlich die Klassiker von Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, (= Edition Suhrkamp), Frankfurt am Main 1990; Hall, Stuart, Old and New Identities, Old and New Ethnicities, in: Anthony King (Hg.), Culture, Globalisation and the World-System. Contemporary Conditions for the Representation of Identity, Minneapolis 1997, S. 31–68; Elisabeth Beck-Gernsheim, Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere Mißverständnisse, Frankfurt am Main 22007; Mario Erdheim, Das Eigene und das Fremde. Über ethnische Identität, in: Andrea Wolf (Hg.), Neue Grenzen. Rassismus am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1997, S. 99–124. 50 Unser Bezirk Heute [Mitteilungen der FPÖ Stadtpartei], 10/1998; Unser Bezirk Heute, 3/1999.

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dass es in Graz mehr Bettler_innen gäbe als anderswo, ist nicht das Ergebnis seriöser Vergleiche, sondern einer Selbsteinschätzung, wie ein Vergleich mit den Selbstwahrnehmungen anderer Städte vor Augen führt. Die Bundeshauptstadt reklamiert für sich ebenso den Status als die Stadt mit den meisten Bettler_innen Österreichs.51 Dass die Formulierung in Graz so viel früher auftaucht liegt an den in Graz sehr früh eingespielten temporären Migrationen zum Betteln – besonders Rom_nija aus der Südslowakei kommen seit 1996 regelmäßig nach Graz und werden hier seither auch in Notschlafstellen für die wenigen Wochen, die sie in der Steiermark verbringen, um durch Betteln Geld zu verdienen, versorgt. Das konkrete Bild der „Bettlerhauptstadt“ hat sich ausgehend von Graz dann über ganz Österreich verbreitet, aber nicht darüber hinaus.52 Auch wenn anderswo die angebliche „Überzahl“ von Bettelnden auch eine Rolle spielt, entwickelt sich kein solcher Negativwettlauf unter einzelnen Gemeinden und regionalen Medien. In Österreich hingegen wanderte diese Bezeichnung zuerst von Graz nach Salzburg,53 bis 2014 die Kronen Zeitung im Rahmen einer Kampagne auch für die Hauptstadt Oberösterreichs warnte, „Linz verkommt zur BettlerHauptstadt“.54 Diese Selbsteinschätzungen bestätigen neben Boulevardmedien auch die Unterstützer_innen von Bettler_innen, wenn sie für dringliche Hilfsmaßnahmen Aufmerksamkeit gewinnen wollen. NGOs treten dann auch mit der Behauptung gegenüber der Lokalpolitik auf, dass eben an diesem bestimmten Ort ihrer Tätigkeit besonders viele Menschen ihre Betreuung brauchen würden und die Politik deshalb in dieser außergewöhnlichen Lage gefordert sei, zu helfen. Dabei wird unterschlagen, dass Betteln für keine dieser Regionen typisch ist und Betteln in den meisten Zusammenhängen sehr vergleichbar abläuft. Ein Blick über die jeweils eigenen Städte hinaus würde offenbaren, dass es sich bei Betteln um ein europäisches Phänomen handelt. Diese Regel gilt auch für die Herkunftsregionen von migrierenden Bettler_innen, in denen genauso Menschen vor Supermärkten und in Einkaufsstraßen um eine Spende bitten. Auch die Aufforderung, die Migrant_innen mögen in Rumänien, Bulgarien oder der Slowakei auf der Straße sitzen, geht also ins Leere. Auch wenn der ironische Titel der „Bettlerhauptstadt“ kein konsensfähiger Begriff ist, verweist er also auf einen scheinbaren Gemeinplatz, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Positionen zum Betteln in einer 51 Vgl. Kurier, 3.7.2014. 52 Mit der einzigen Ausnahme einer Bezugnahme in einem Blog eines Volontärs des Berliner Kuriers. http://blogs.berliner-kurier-online.de/volldasleben/?p=125 [10.10.2014]. 53 Vgl. Kurier, 19.10.2012. 54 Krone Oberösterreich, 17.5.2014.

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österreichischen Stadt, dass nämlich Betteln gerade hier, gerade in diesem Fall besonders präsent, besonders relevant sei (gleichgültig, welche Region das ist). Daraus lassen sich leicht Vorstellungen von Bedrohung ableiten, wie ich sie schon angesprochen habe. Genauso ist diese Idee von der Stadt, die für Bettler_innen besonders attraktiv sei, aber auch einfach abzuwandeln in eine Erklärung, die besonders weit von der Realität von Migrationen abweicht. Sowohl Regionalpolitiker in Wien, Graz wie auch Salzburg rechtfertigten sich öffentlich für bettelfeindliche Positionen mit der Behauptung, dass die „verfehlte Integrationspolitik Osteuropas“ oder die „Probleme der Roma“ nicht in der jeweiligen österreichischen Stadt gelöst werden könnten.55 Die europäische Perspektive wird also eingesetzt, aber nur, um zu behaupten, dass die eigene Stadt am stärksten „belastet“ sei. Im Versuch, eine verantwortungsvolle Position zu signalisieren, wird Betteln als Ergebnis von Armut angesprochen, gleichzeitig aber die Bedingungen, mit denen das dem Migrationsdiskurs untergeordnet wird, nicht verändert. Offen signalisiert wird mit diesen Aussagen, dass es um Armut geht, die man den Armen schlecht zum Vorwurf machen kann. Gleichzeitig wird aber betont, dass es sich um eine ‚fremde‘ Armut handelt, für die man eben unzuständig sei. Ignoriert wird damit übrigens, dass strukturelle Probleme in den postkommunistischen Staaten mit einem Wirtschaftssystem zusammenhängen, das möglichst niedrige Steuersätze u.a. durch die Reduktion von Transferleistungen finanziert, wovon österreichische Firmen direkt profitiert haben. Der Umstand, dass beispielsweise Menschen mit Behinderung in Bulgarien weder arbeiten noch von Renten überleben können oder dass die slowakischen Familienbeihilfen regelmäßig weiter gekürzt werden, hat auch viel mit internationalen Zusammenhängen zu tun. Daraus könnte auch eine politische Verantwortung von ‚westeuropäischen‘ Staaten für die monierten „sozialen Missstände“ im Postkommunismus abgeleitet werden, doch stattdessen werden diese mit teils rassistischen und den Osten Europas abwertenden Pauschalformulierungen scheinbar begründet: „Die Roma“ sind ein Problem und „der Osten“ produziert Probleme.

55 Vgl. pars pro toto für Graz die Aussage von Landeshauptmann Voves (SPÖ): Steirerkrone, 3.5.2011; für Salzburg das Statement von Bürgermeister Schaden (SPÖ): Salzburger Nachrichten, 25.4.2014.

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Diese Selbstwahrnehmung von Städten karikierte das graz.museum, indem es für eine Ausstellung 2011 eine Ortstafel mit der Aufschrift „Bettlerhauptstadt“ ausstellte. Nicht ironisch war hingegen die genau gleiche Form der Darstellung durch die Salzburger ÖVP im Gemeinderatswahlkampf 2014 gemeint. Dort wurde der Spitzenkandidat mit einer Ortstafel, auf der „Organisierte Bettlerbanden“ durchgestrichen wurde, inszeniert oder ein solches Verkehrsschild mit der Aufschrift „Salzburg / Stadt der organisierten Bettlerbanden?“ affichiert.56 Die Wanderung dieses Begriffs von Graz nach Salzburg zeigt, wie sich solche Etikettenbegriffe entwickeln, wie sie durch unterschiedliche Bereiche der Diskussionen weitergereicht und akzeptierter werden. Selbst für die FPÖ-Stadtpartei in Graz war der „Bettlerhauptstadt“-Begriff nur für die Überschrift einer Parteizeitschrift geeignet. Rund zwanzig Jahre später ist er also österreichweit verbreitet und findet sich als zentraler Aufhänger von politischen oder medialen Kampagnen wieder. Das lässt sich vor allem mit der Zeit erklären, die seither vergangen ist und in der das Thema Betteln zu einem der am heftigsten diskutierten Gegenstände öffentlicher Auseinandersetzung wurde. Die linke Kritik an diesen Übertreibungen und an den teilweise sehr aggressiv geführten politischen Konflikten, die damit begründet werden, hat sich in Salzburg ebenso stark an den etablierten Stadtbildern orientiert. Um polemisch gegen Bettelverbote zu argumentieren, wurde vor allem behauptet, es gehe den Bettelfeind_innen lediglich um das touristische Image, um Salzburg als große barocke Idylle, die nicht durch sichtbare Armut gestört werden dürfe. Das trifft in gewisser Hinsicht zu, wenn man die Stellungnahmen von Kaufleuten in Medien berücksichtigt, die Bettler_innen zwar als nicht „geschäftsschädigend“, aber trotzdem „nicht gut für das Altstadtbild“57 einschätzen. Dabei wird auch die Oberfläche der Stadt in den Vordergrund gerückt, aber es ist unklar, ob sich das nur auf den Vermarktungswert als Reiseziel bezieht. In der kritischen Auseinandersetzung mit bettelfeindlichen Stellungnahmen wurde hervorgehoben, dass in Salzburg Betteln oft als ästhetische Kränkung betrachtet würde, als Schönheitsfleck, der dem Stellenwert als Mozartstadt schaden würde. Mit dieser Betonung wird ein lokales Spezifikum der Salzburger Auseinandersetzung übersehen: Geschäftsleute geben bei Interviews in Zeitungen nämlich eher zu Protokoll, dass sie sich um die Attraktivität der Stadt für Kund_innen sorgen, von Tourismus sprechen sie dabei ausdrücklich nicht.58 Jene Salzburger Lokalpolitiker schließlich, die 56 ÖVP-Werbematerial zur Gemeinderatswahl am 9.3.2014, vgl. auch Salzburger Nachrichten, 26.2.2014. 57 Kurier, 24.8.2012. 58 Vgl. Salzburger Nachrichten, Lokalausgabe Salzburg Stadt, 13.4.2014.

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Bettler_innen am schärfsten angegriffen haben, betonen, dass Betteln nicht des Tourismus wegen ein Problem sei, sondern wegen der „Beschwerden von Salzburgern“.59 An der Salzach erscheinen die Bettler_innen also eher als Ärgernis für die Einheimischen denn für die bezahlenden Fremden, zumindest in der politischen Argumentation. Diese feinen Unterschiede möchte ich zum Ausgangspunkt für einen Vergleich nehmen, weil die Konstellation in Graz eine ganz andere war. Während sich in Salzburg die meisten Diskussionen um Behinderung und angebliche Kriminalität drehten, wurde in der steirischen Landeshauptstadt die Optik des Bettelns zum zentralen Streitpunkt in bettelfeindlichen Äußerungen erhoben. Das Grazer Stadtbild würde durch „organisiertes Bettlerwesen verschandelt“60 oder „gestört“.61 Die Auseinandersetzung um die Bettler_innen fand ihren symbolischen Mittelpunkt schon sehr bald in der Frage, wieviele Menschen in der Herrengasse um Hilfe bitten dürften. Die Herrengasse wird dabei als Aushängeschild der Stadt betrachtet, das durch die Anwesenheit von Bettler_innen besonders arg in Mitleidenschaft gezogen würde. Warum aber war die Aufregung darüber, dass vermeintlich ‚schmutzige‘ Bettler_innen auf die ‚schöne’ Stadt abfärben könnten, in der Steiermark so viel größer als in Salzburg? In beiden Fällen sind Vorstellungen vom ‚dreckigen Zigeuner‘ und ‚hässlicher Armut‘ wohl gleich weit verbreitet.62 In beiden Fällen sind die sozialen Praktiken des Bettelns sehr ähnlich, trotzdem wird es nur in Graz als tatsächliche Bedrohung für das Image der Stadt gesehen. Ausgerechnet die etablierte Tourismusstadt Salzburg regt Betteln nicht als fremdenverkehrsfeindlich auf. Genau diese Widersprüche legen sehr deutlich frei, dass Betteln in öffentlich-medialen Diskussionen zur Reibungsfläche wird, an der Unsicherheiten in den eigenen Gesellschaften, schmerzhafte Diskussionen über die eigene Position, Befürchtungen und Irritationen aus der eigenen Geschichte offenliegen. Die Migrant_innen und ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit sind die Folie, auf die ‚wir‘ das projizieren, wessen wir ‚uns selbst‘ nicht sicher sind. Salzburg muss nicht um seine Position als berühmtes Tourismusziel kämpfen, deshalb entzündet sich auch die Auseinandersetzung nicht vordergründig daran. Graz hingegen ist noch nicht lange im Wettbewerb um den Städtetourismus, dementsprechend treten in den Leser_innenbriefen seit den 1990er-Jahren immer „ausländische Gäste“, „Besucher“ oder 59 salzburg.orf.at, 7.4.2014; Salzburg Krone, 8.4.2014. 60 Leserbrief, Steirerkrone, 16.12.2006. 61 Grazer im Bild, 14.4.2006. 62 Vgl. End, Antiziganismus, S. 124–133, S. 200; Michail Krausnick, Daniel Strauß, Von Antiziganismus bis Zigeunermärchen. Informationen zu Sinti und Roma in Deutschland, Neckargemünd 2008, S. 73.

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„Touristen“ als Referenzgröße auf. Wenn diese sich beschweren, so lautet der Vorwurf, sei allerhöchste Zeit zum Handeln. Gesellschaften orientieren sich aber nicht nur an aktuellen ökonomischen oder kulturellen Bedürfnissen, sondern auch am kulturellen Gedächtnis. Für Städte wie Salzburg oder Graz speisen sich daraus ganz unterschiedliche sinnstiftende Erzählungen: In Salzburg mögen es Elemente wie „Festspiel- und Musikstadt“ oder ähnliche Etiketten sein, die das Selbstverständnis ausmachen. Eben diese Stichworte finden sich auch in Betteldebatten wieder, aber die wirkliche Empörung entzündet sich eher am „Mafia“-Vorwurf, weil doch sicher scheint, dass die barocke Stadtfassade nicht an den Bettler_innen zerbröckeln wird und die Stadt um ihre Position, ihren Reichtum nicht fürchten muss. „Die Stadt Salzburg gilt als besonders attraktiv, weil hohe Beträge zu holen sind.“63 So klingt dementsprechend auch die zentrale Vorstellung von Salzburg als wohlhabende, gut situierte Stadt. In einem solchen Zusammenhang muss die Mafiageschichte im Zentrum stehen, schließlich würde sich in Salzburg das Geschäft lohnen, auch für angeblich kriminelle Bettelorganisationen. In Graz stützt das regionale kulturelle Gedächtnis das Selbstbewusstsein auf ganz andere Weise, nämlich mit martialischen Bedrohungsszenarien, wie den „Bollwerk“-Mythen, die die steirische Hauptstadt im 19. Jahrhundert als belagerte und gefährdete Außenfestung des ‚Deutschtums‘ präsentierten. Vor diesem Hintergrund entzündet sich die Diskussion über Betteln in Graz an anderen Ängsten. In Graz wurde der Streit von Befürchtungen in Gang gebracht, die Stadt könnte einer „Verbalkanisierung“ zum Opfer fallen.64 Auch wenn militärische Metaphern in diesem Zusammenhang immer wieder verwendet wurden, um die Anwesenheit von Bettler_innen als gefährlich darzustellen, war das nicht der Aspekt, der Betteln als „balkanisch“ erscheinen ließ. Vielmehr wurde das Aussehen und die optische Wirkung der Bettler_innen bzw. der Gegensatz zwischen der ‚schönen‘ Stadt und sichtbar armen Menschen als Grund genannt, der die Reputation der Stadt gefährden würde, ja eben die Position von Graz als ‚westliche’ Stadt in Frage stellen würde. Was in der Geschichte die vorgestellte Gefährdung durch ‚slawische Horden‘ war, 65 dem entspricht in der Gegenwart die Konjunktur von „Ostbanden“ in den Leser_innenbriefen. 63 Krone Salzburg, 19.1.2014. 64 Vgl. Leserbrief, Kleine Zeitung, 24.4.1993. 65 Vgl. Heidemarie Uhl, „Bollwerk deutscher Kultur“. Kulturelle Repräsentationen und „nationale“ Politik in Graz um 1900, in: Heidemarie Uhl (Hg.), Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der kulturellen Moderne in Zentraleuropa um 1900, (=Studien zur Moderne 4), Wien 1999, S. 39–81; Heidrun Zettelbauer, „Die Liebe sei Euer Heldentum“. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt am Main–New York 2005, S. 113–120.

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Diese Gegenüberstellung zeigt deutlich, dass Betteln nicht der Bettler_in­ nen wegen zum Gegenstand hitzig geführter öffentlich-medialer Auseinan­ dersetzungen wird. Als Phänomen liegt es am Schnittpunkt zweier Tabus der vorherrschenden gesellschaftlichen Wahrnehmung: öffentlich gezeigte Armut und ‚Fremdheit‘. Zweifelsohne ist es die Anwesenheit von Bettler_innen, die diese in Frage stellt, an ihnen rüttelt, in die etablierte Wahrnehmung der Stadt interveniert. Entscheidend für die Geschichten und Bilder, die dann über diese Menschen erzählt werden, sind aber die Ängste und Konflikte in ‚unseren‘ Gesellschaften.

L iteratur Elisabeth Beck-Gernsheim, Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere Mißverständnisse, Frankfurt am Main 22007. Wolfgang Benedek, Das Bettelverbot in der Steiermark aus menschenrechtlicher Sicht, in: Beatrix Karl et al. (Hg.), Steirisches Jahrbuch für Politik 2011, Graz 2012, S. 77–81. Stefan Benedik, Barbara Tiefenbacher, Heidrun Zettelbauer, Die imaginierte „Bettlerflut“. Temporäre Migrationen von Roma/Romnija. Konstrukte und Positionen, (= drava diskurs), Klagenfurt/Celovec 2013, S. 35–81. Stefan Benedik, ‚Zigeunerlieder’ und Viehwaggons. Verweise auf historische Diskursformationen in Debatten um Grazer Bettler_innen seit 1989, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 42 (2012), S. 503–532. Stefan Benedik, Define the Migrant, Imagine the Menace. Remarks on Narratives in Recent Romani Migrations to Graz, in: Helmut Konrad, Stefan Benedik (Hg.), Mapping Contemporary History II, 25 Years of Contemporary History Studies at Graz University | 25 Jahre Zeitgeschichte an der Universität Graz, Wien–Köln–Weimar 2010, S. 159–176. Claudia Breger, Ortlosigkeit des Fremden. „Zigeunerinnen“ und „Zigeuner“ in der deutschsprachigen Literatur um 1800, (= Literatur-Kultur-Geschlecht 10), Köln 1998. Rogers Brubaker, Ethnicity without groups, in: Montserrat Guibernau, John Rex (Hg.), The Ethnicity Reader. Nationalism, Multiculturalism and Migration, Cambridge–Malden 2010, S. 33–45. Leo R. Chavez, Covering Immigration, Popular images and the politics of the nation, Berkeley–Los Angeles 2001. Markus End, Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg 2014.

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„Bettlerhauptstadt “ – Bedrohungs - und Feindbilder in der Berichterstattung | 95

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Migration als historische Normalität am Beispiel des Migrationsraums Steiermark ab 1945 K arin M. S chmidlechner , Ute S onnleitner , Verena L orber , M anfred P faffenthaler

E inführende Ü berlegungen Die Auseinandersetzung mit der historischen Dimension des Themas Migration war in Österreich bis vor wenigen Jahren ein Randthema und konzentrierte sich lange Zeit auf die Zuwanderung in die Monarchie, bzw. was das Thema Arbeitsmigration anlangt, bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Besonders spät haben Forschungen zur Migration nach 1945 eingesetzt,2 wobei die histo1 Vgl. Dirk Rupnow, Deprovincializing Contemporary Austrian History. Plädoyer für eine transnationale Geschichte Österreichs als Migrationsgesellschaft, in: Zeitgeschichte Jg. 40 (2013) Heft 1, S. 5–21, S. 9. Siehe dazu auch: Eugene Richard Sensenig-Dabbous, Von Metternich bis EU Beitritt. Reichsfremde, Staatsfremde und Drittausländer. Immigration und Einwanderungspolitik in Österreich (Ludwig Boltzmann-Institut für Gesellschafts- und Kulturgeschichte), Salzburg 1998; Vida Bakondi, Renee Winter, Marginalisierte Perspektiven. Kontinuitäten der Arbeitsmigrationspolitik in Österreich, in: Zeitgeschichte Jg. 40 (2013) Heft 1, S. 22– 35, 27f. 2 Aber auch Auswanderung, die statistisch nur schwer nachzuweisen war, da sie erst ab 1974 erfasst wurde, war nur sehr selten ein Thema. Forschungen zur österreichischen Emigration konzentrieren sich zunächst vor allem auf die Zeit vor 1945. Für einen Überblick über die Geschichte der österreichischen Migration der letzten 150

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rische Kontextualisierung von Arbeitsmigration nach Österreich erst mit der Aufarbeitung der Gastarbeiterbewegung begann.3 Für die Steiermark kann diesbezüglich festgestellt werden, dass es – mit wenigen Ausnahmen4 – noch einen besonders großen Bedarf an Forschungen über Migrationsbewegungen in diesem Raum gibt, seit einiger Zeit aber zumindest die aktuelle Dimension von Migration sowie Migrationen ab 1945 und dabei verstärkt die Thematik der Arbeitsmigration im Fokus von Forschungsarbeiten, vor allem im universitären Bereich, stehen. Dabei wird – unter Anwendung von qualitativen Methoden der Sozialforschung – den individuellen Erfahrungen der Migranten und vor allem der Migrantinnen besonderes Augenmerk geschenkt.5 Jahre siehe: Traude Horvath, Gerda Neyer (Hg.), Auswanderungen aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien 1996; Adelheid BauerFraiji, Abderrahim Fraiji, Auswanderung von Österreichern und Österreicherinnen nach 1945. Statistische Darstellung, in: Horwath, Neyer (Hg.) Auswanderungen, S. 282. Erst in den letzten Jahren wurden diesbezügliche Studien erstellt. Vgl. Astrid Tumpold-Juri, „Skim off the cream”: Auswanderung von Österreich nach Australien 1945–1978, phil. Diss. Graz 2008; Anita Prettenthaler-Ziegerhofer, Karin M. Schmidlechner, Ute Sonnleitner (Hg.), „Haustochter gesucht“: Steirische Arbeitsmigrantinnen in der Schweiz, Graz 2010. 3 1974 erfolgte erstmals eine Erhebung über jugoslawische Gastarbeiter, 1981 eine weitere, 1983 wurde eine Studie des IHS publiziert, eine Auftragsstudie über ausländische Arbeitskräfte in Österreich sowie 1984 wiederum von der Wiener Geografin Elisabeth Lichtenberger eine Monographie über Gastarbeiterleben in zwei Gesellschaften. 1977 folgte die Publikation einer Studie über die Vielzahl der relevanten Faktoren, die für Gastarbeiter eine einheitliche soziale Realität darstellen. Vgl. Rupnow, Deprovincializing Contemporary Austrian History, S. 8. 4 Vgl. u.a.: William H. Hubbard, Der Wachstumsprozess in den österreichischen Gross-Städten 1869–1910: eine historisch-demographische Untersuchung, in: Peter Christian Ludz, Soziologie und Sozialgeschichte: Aspekte und Probleme, Opladen 1972, S. 386–418; Johann Meisterl, „Italiener” in der Steiermark. Ein Beitrag zur Migrations-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, phil. Diss. Graz 1997; Barbara Krump, Familien im Umbruch: Migrationsgeschichte im Zeitalter des Ersten Weltkrieges, phil. Diss. Graz 2008. 5 Vgl. z.B. Petra Maria Wlasak, Flucht als Chance? Verändernde Geschlechterrollen von alleinstehenden, alleinerziehenden, tschetschenischen Frauen mit anerkanntem Asylstatus in Graz, unveröffentlichte Masterarbeit Graz 2012; Daniela Feiner, Zuhause und doch fremd? Migrationserfahrungen von BosnierInnen in der Steiermark, unveröffentlichte Diplomarbeit Graz 2010; Edith Pöhacker, Zur Situation von Migrantinnen in Graz, unveröffentlichte Diplomarbeit Graz 2003; Ines Zacharias, Flucht in die

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M igrationen

ab der

Frühen N euzeit

Generell haben Forschungen zur Frühen Neuzeit ergeben, dass die Gesellschaften auch damals schon sehr mobil waren. Das zeigt sich sowohl an der transatlantischen Mobilität, damit sind Auswanderungen aus Europa gemeint,6 als auch an Migrationen innerhalb Europas.7 Als ein Beispiel für die Steiermark sei diesbezüglich auf den Zuzug von italienischen MigrantInnen im 16. und 17. Jahrhundert hingewiesen.8 Schon um 1500 wanderten italienische Kaufmannsfamilien ein, die sich vor allem in Pettau/Ptuj niederließen und sich durch Einheiraten in die etablierten einheimischen Kaufmannsfamilien wirtschaftlich und sozial integrieren konnten. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wanderten Angehörige italienischer Kaufmannsfamilien vorwiegend nach Leoben, in Graz ließen sich italienische Kaufleute zu Beginn des 17. Jahrhunderts nieder. Daneben kam es auch zu Einwanderungen italienischer Ärzte und Apotheker sowie von Baumeistern, Bildhauern, Malern und Musikern. Aber auch in der Verwaltung am Hof des Erzherzogs Karl nahmen Italiener wichtige Positionen ein.9 In den folgenden Jahrhunderten können wir für weite Teile Europas neben trans- und internationalen Migrationen auch eine verstärkte interregionale, innerstaatliche Migration feststellen. Im 19. Jahrhundert war diese auch auf den Ausbau des Transportwesens, vor allem seit den 1830er Jahren zurückzuFremde. Frauenspezifische Migration nach Österreich im Zuge der Jugoslawienkriege der 90er Jahre, unveröffentlichte Masterarbeit Graz 2013. 6 Während für die Frühzeit keine genauen Zahlen bekannt sind, kann für das 19. Jahrhundert festgestellt werden, dass bis zu den 1930er Jahren etwa 55 Millionen Menschen Europa verlassen haben und vor allem nach Amerika ausgewandert sind. Vgl. Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010; Klaus J. Bade et al., Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn–München 2007. 7 Diesbezüglich ist zu erwähnen, dass, nachdem die Dynastien der Habsburger und der Romanovs die Grenzen des muslimischen-osmanischen Reiches zurückgedrängt hatten, ganze Landstriche, aus denen die ansässige Bevölkerung vertrieben worden war, mit Zuwandererfamilien aus jenen Gebieten, in denen Bedarf an Land bestand, besiedelt wurden. Vgl. Bade, Enzyklopädie Migration in Europa. 8 Vgl. Meisterl, „Italiener” in der Steiermark. 9 Nach dem Tode Kaiser Ferdinands I. (1564) wurden die habsburgischen Erblande unter seinen drei Söhnen aufgeteilt. Erzherzog Karl, der Innerösterreich erhalten hatte, bestimmte Graz zu seiner Residenz und zum Herrschaftsmittelpunkt und richtete hier seinen Hofstaat ein. Vgl. Meisterl, „Italiener” in der Steiermark.

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führen, der notwendig wurde, um die schon damals massenhaft produzierten Industriewaren zu transportieren. Durch diesen Ausbau, der dazu führte, dass Großbaustellen mit tausenden zugewanderten Arbeitskräften entstanden, wurde nicht nur Menschen aus der jeweiligen ländlichen Umgebung, sondern auch Arbeitssuchenden aus anderen Gebieten Arbeit geboten.10 Dazu kam noch ein weiterer Faktor, nämlich, dass sich die industrielle Arbeit verändert hatte. Es wurde gelernte Arbeit in immer kleinere Fertigungsschritte unterteilt, so dass es auch ungelernten ArbeiterInnen, die zum größten Teil aus der Landwirtschaft abgewandert und ohne handwerkliche Ausbildung waren, möglich war, in den Fabriken zu arbeiten. Hierfür stellt auch die Steiermark ein eindrucksvolles Beispiel dar. Beschäftigt man sich mit der Frage, woher die Arbeitskräfte, die in der Steiermark Ende des 19. Jahrhunderts in Industrie- und Gewerbebetrieben beschäftigt waren, stammten, stellt sich heraus, dass der Bedarf an Arbeitskräften, wenn nicht genügend Einheimische zur Verfügung standen, durch Zuzug aus näheren oder weiter entfernten Gebieten, gedeckt wurde. Dabei ist für das Jahr 1890 festzustellen, dass von je 1.000 in der Industrie als ArbeiterInnen beschäftigten Personen 233 aus der Gemeinde des Aufenthaltes stammten, 227 aus einer anderen Gemeinde desselben Bezirkes, 277 aus einem anderen Bezirk der Steiermark, 206 aus einem anderen Kronland innerhalb der Monarchie und 57 aus dem Ausland. In Graz stammten von 1.000 Beschäftigten lediglich 295 aus Graz, 407 kamen aus einem anderen Bezirk der Steiermark, 203 aus einem anderen Kronland und 95 aus dem Ausland. Besonders markant sind die Zahlen aus Leoben, wo von 1.000 Beschäftigten nur 199 direkt aus Leoben kamen.11 An diesen Zahlen zeigt sich, dass Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Wien oder die USA Migrationsziele für die Bevölkerung aus der Monarchie darstellten, sondern auch die Steiermark, die – wie auch Niederösterreich – zehntausende transleithanische magyarische und slawische MigrantInnen,12 aber auch sol-

10 So wuchs das Schienennetz Europas von 330 km im Jahre 1831 auf 300.000 km im Jahre 1876. Wir finden Belege für diese Bautätigkeit auch in der Literatur der damaligen Zeit, hier sei nur Ferdinand von Saars Novelle „Die Steinklopfer“ erwähnt, in der sehr eindrucksvoll die entsetzliche Lage der ArbeiterInnen beim Bau der Semmeringbahn dargestellt wurde. 11 Vgl. Karin Maria Schmidlechner, Die steirischen Arbeiter im 19. Jahrhundert (= Materialien zur Arbeiterbewegung 30), Wien 1983, S. 37–38. 12 1890 betrug der Anteil der in Ungarn geborenen GrazerInnen 7 %, womit in Graz nach Wien die meisten ungarischen StaatsbürgerInnen lebten. Vgl. Hubbard, Der Wachstumsprozess, S. 395.

Migration als historische Normalität am Beispiel des Migrationsraums Steiermark | 101

che aus Böhmen aufnahm.13 So waren 13.000 der um 1900 in der Steiermark lebenden Personen in Böhmen geboren.14 Was die cisleithanischen Länder anlangt, kamen die meisten ZuwanderInnen aus Kärnten.15 Sehr bedeutend ist die Attraktion, die bereits seit dem 18. Jahrhundert Städte auf ZuwanderInnen ausübten, wobei die Mehrzahl dieser zugewanderten Menschen ungelernte Arbeitskräfte waren. Dazu kam, dass diese Städte aufgrund der starken Zuwanderung einen großen und verstärkten Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten hatten, so dass sich um sie herum auch agrarische Gürtel bildeten, für welche dann wiederum Arbeitskräfte benötigt wurden.16 So wurde für Graz erhoben, dass das zwischen 1869 und 1910 erzielte Bevölkerungswachstum von 96,2 % größtenteils auf Zuwanderungen zurückzuführen war, wobei es sich vorwiegend um Binnenwanderungen handelte, die zum Bevölkerungswachstum beitrugen.17 Von den Personen, die um 1890 aus dem Raum Steiermark nach Graz migrierten, waren um 10 % mehr Frauen als Männer, was auf den großen Bedarf an Hausangestellten zurückzuführen ist. Bei den nicht aus der Steiermark stammenden ZuwanderInnen waren die Männer in der Überzahl.18 Insgesamt waren im Jahre 1890 nur 33,3 % der Grazer Bevölkerung auch in Graz geboren, 30,9 % stammten aus einem anderen Bezirk, 20,5 % wurden im Inland und 8,9 % im Ausland geboren. Im Jahre 1900 lebten in Graz 30,9 %, die in Graz, 38,9 % in einem anderen Bezirk, 21,3 % im Inland und 9,8 % im Ausland geboren worden waren.19 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Bezug zwischen der sozioökonomischen Position und der Herkunft der Grazer Bevölkerung. Hier zeigt sich, dass fast die Hälfte der Angestellten, mehr als ein 13 Die Gebirgsprovinzen Vorarlberg, (Nord)Tirol und Salzburg waren klassische Aufnahmeländer für fremdsprachige Arbeiter aus Südtirol und Böhmen und staatsfremde EinwanderInnen aus Italien. Böhmen, Mähren und die Slowakei lieferten BinnenwanderInnen nach Ober- und Niederösterreich. Vgl. Eugene Sensenig-Dabbous, Von Metternich bis EU Beitritt. Reichsfremde, Staatsfremde und Drittausländer. Immigration und Einwanderungspolitik in Österreich, Salzburg 1998, S. 98. 14 Vgl. Josef Ehmer, Annemarie Steidl, Hermann Zeitlhofer, Migration Patterns in Late Imperial Austria, in: KMI Working Paper 3 (2004), S. 14. 15 Vgl. Hubbard, Der Wachstumsprozess, S. 395. 16 Solche Zuwanderungen machten im 17. und 18. Jahrhundert den Großteil der Migrationsbewegungen aus. Vgl. Helma Lutz (Hg.), Migration and domestic work. A European Perspective on a Global Theme, Ashgate 2008. 17 Vgl. Hubbard, Der Wachstumsprozess, S. 395. 18 Vgl. ebda., S. 395. 19 Vgl. ebda., S. 394.

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Drittel der Selbständigen und etwa 20 % der TaglöhnerInnen 1890 aus anderen Kronländern der Monarchie stammten, der Anteil der gebürtigen GrazerInnen an diesen Erwerbskategorien betrug nur rund 25 %.20 Viele dieser ZuwanderInnen kamen aus der „Untersteiermark“ – die heute ein Teil Sloweniens ist – und siedelten sich vorwiegend in der Murvorstadt – die heutigen Bezirke Lend und Gries – an. Weitere Zuwanderungen aus der „Untersteiermark“ wurden – als Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs – um 1900 registriert, wobei sich die primär aus dem bäuerlichen Milieu stammenden MigrantInnen dieses Zeitraumes vorwiegend in der Jakomini-Vorstadt ansiedelten.21 Forschungen über Migrationsbewegungen aus der Untersteiermark nach Graz im Zeitalter des Ersten Weltkrieges haben ergeben, dass über 80 % der untersuchten untersteirischen MigrantInnen in diesem Zeitraum ebenfalls aus dem kleinstädtischen oder ländlichen Milieu stammten, wobei der Großteil der Migranten im Bereich Industrie und produzierendes Gewerbe tätig war, während die Migrantinnen vorwiegend dem Bereich Handel, Verkehr und Dienstleistung zugeordnet werden konnten. Über 60 % dieser untersteirischen ZuwanderInnen wurden der slowenischen Sprachgruppe zugeordnet.22

M igrationen

im

20. Jahrhundert

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich die Migrationsziele innerhalb Europas stark verändert. Während die transatlantische und etwas später auch die koloniale Auswanderung fast zum Erliegen kamen, waren seit Mitte der 1950er Jahre verstärkt Einwanderungen nach Europa zu verzeichnen.23 Somit war an die Stelle der früheren West-Ost und späteren Ost-West-Wanderung ein Süd-Nord-System von ArbeitsmigrantInnen, das vor allem Menschen aus dem Mittelmeerraum bzw. aus Südeuropa, einschließlich des damaligen Jugoslawien, betraf, getreten und in gewisser Weise eine europäische Arbeitsmarktunion entstanden. 24 Während die Regierungen der Aufnahmeländer im allgemeinen solche Zuwanderungen als temporäre Bewegungen verstanden hatten, entschlossen 20 Vgl. ebda., S. 395. 21 Vgl. Kleine Zeitung (8.9.2013). 22 Vgl. Krump, Familien im Umbruch. 23 So kam es nach 1945 in Europa zu einer beträchtlichen Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien, davon betroffen waren vor allem Frankreich, Großbritannien, Portugal und die Niederlande. Vgl. Bade, Enzyklopädie Migration in Europa. 24 Thomas Geisen, Arbeitsmigration. WanderarbeiterInnen auf dem Weltmarkt für Arbeitskraft, Frankfurt am Main–London 2005.

Migration als historische Normalität am Beispiel des Migrationsraums Steiermark | 103

sich viele dieser „Pionier-ArbeitsmigrantInnen“, die bezeichnenderweise „GastarbeiterInnen“25 genannt wurden, für eine dauerhafte Niederlassung, was von den Angehörigen der Aufnahmeregionen – darunter auch der Steiermark – mit großer Skepsis wahrgenommen wurde.26 Seit dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien und der damit verbundenen großen Zahl von Flüchtlingen, die in Österreich und dabei auch sehr häufig in der Steiermark Zuflucht fanden und zu einem großen Teil nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten bzw. wollten, ist das Thema Migration zu einem fixen Bestandteil des öffentlichen Diskurses in Österreich und auch in der Steiermark geworden. Dieser Diskurs hat einerseits durch den Zuzug afrikanischer MigrantInnen, andererseits durch die mit dem Fall des Eisernen Vorhanges und der darauf folgenden EU-Mitgliedschaft verbundenen Öffnung des Arbeitsmarktes für die BewohnerInnen der osteuropäischen Staaten und der daraus resultierenden Angst um Arbeitsplätze von österreichischen ArbeitnehmerInnen noch an Heftigkeit zugenommen. Von bestimmten politischen Gruppierungen wurden Bilder einer wahren Flut von ZuwanderInnen heraufbeschworen, die eine als sesshaft imaginierte Österreichische Gesellschaft „überschwemmen“ würden. Die Tatsache, dass zahllose ÖsterreicherInnen auch nach 1945 in verschiedenste Teile der Welt migriert sind, ist darüber in Vergessenheit geraten.27

Steirer I nnen

in der

S chweiz

Ein Projekt der Karl-Franzens-Universität Graz und ein durch „Spectro“28 finanziertes Folgeprojekt haben sich der Aufgabe gewidmet, eine dieser Auswanderungsbewegungen zu beleuchten: Frauen und Männer, die zwischen 1945 und 1955 aus der Steiermark in die Schweiz aufgebrochen sind, um dort 25 Für die Steiermark siehe weiter unten. 26 Für Österreich kann diesbezüglich darauf verwiesen werden, dass diese Skepsis gegenüber ArbeitsmigrantInnen bereits Tradition hat, wie der kurze Hinweis auf die gesetzliche Situation in Bezug auf ArbeitsmigrantInnen vor 1945 zeigt. Bereits in der Monarchie war Anfang der 1880er Jahre die Notwendigkeit einer „geordneten Arbeitsmigration“ in den westlichen Reichsratsländern erkannt worden. Vgl. Sensenig, Von Metternich bis EU Beitritt, S. 82ff. 27 Zu Auswanderungen aus Österreich ist als Standardwerk zu nennen: Horvath, Neyer (Hg.), Auswanderungen aus Österreich. 28 Spectro gemeinnützige Gesellschaft für wissenschaftliche Forschung GmbH – http:// www.spectro.st/.

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zu leben und zu arbeiten.29 Die Projekte sind als „politisch“ zu verstehen: mit wissenschaftlichen Methoden wurde aufgezeigt, wie einseitig und falsch viele Darstellungen zu „Migration und Österreich“ mit ihren vereinfachenden Erklärungen und Pauschalisierungen sind. Zudem galt es darauf hinzuweisen, dass entscheidende Aspekte Österreichischer Geschichte, weil sie im politischen Diskurs unliebsam waren, keine Erwähnung fanden. Migrationen von ÖsterreicherInnen wurden ignoriert, hätten sie doch dem konstruierten Bild einer stabilen und vor allem sesshaften Bevölkerung widersprochen.30 Fundierte Untersuchungen sollten dem entgegengestellt werden. Im Zuge der geschilderten Projekte zu „Migrationen in die Schweiz“ haben 27 Personen über ihre Erlebnisse und Erfahrungen berichtet. Ihnen verdanken wir zentrales Wissen über die Lebensverhältnisse in Österreich und der Schweiz jener Jahre und der Bedingungen ihrer Auslandsaufenthalte. Ein lebendiges Bild des Migrationsgeschehens konnte gezeichnet werden. Zusätzlich zu den Interviews mit ZeitzeugInnen wurden Zeitungsberichte und Inserate analysiert und an Hand von Dokumenten die rechtlichen Bestimmungen, die der „Regelung“ des Migrationsgeschehens galten, eruiert. Zahlreiche ÖsterreicherInnen sind in der Phase der Nachkriegszeit aufgebrochen um im Ausland „ihr Glück“ zu suchen – neben den „exotischen“ ÜberseeWanderungen, die über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügen, waren innereuropäische Bewegungen ein stark ausgeprägtes Phänomen. Großbritannien und die Niederlande, in späteren Jahren auch Deutschland, stellten oftmals Zielländer dar, herausragender Beliebtheit erfreute sich aber ohne Zweifel die Schweiz. 1950 hielten sich rund 22.000 ÖsterreicherInnen in der Schweiz auf, zwei Drittel von ihnen waren Frauen. 11.800 Menschen österreichischer Herkunft waren als Arbeitskräfte vermerkt, leider sind keine näheren Angaben über ihren Aufenthaltsstatus bekannt.31 Nach Schweizer Rechtslage des 1934 29 Aus dem Projekt an der Universität Graz ist unter anderem folgende Publikation hervorgegangen: Anita Prettenthaler-Ziegerhofer, Karin M. Schmidlechner, Ute Sonn­ leitner, „Haustochter gesucht“ Steirische Arbeitsmigrantinnen in der Schweiz, Graz 2010. 30 Besonders interessant erscheinen in dieser Hinsicht Erkenntnisse, wonach ein enger Zusammenhang zwischen der Thematisierung „eigener“ Migrationen und dem Umgang mit „Einwanderungen“ in einem Land bestehen. Vgl. Irial Glynn, Emigration, memories and immigration. Realities in Ireland and Italy, in: Brian Fanning, Ronaldo Munck (Hg.), Globalization, migration and social transformation. Ireland in Europe and the world, Farnham 2011, S. 66. 31 Vgl. Ulrike Pröll, Österreichische Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Schweiz, in: Horvath, Neyer (Hg.), Auswanderungen, S. 433–457.

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bzw. 1936 verabschiedeten und in Kraft gesetzten und bis 2007 gültigen ANAG (Ausländer Niederlassung und Aufenthalts Gesetz) bestanden für AusländerInnen fünf verschiedene Rechtsformen des legalen Aufenthaltes in der Schweiz: „Niedergelassene“, „Aufenthalter“, „Saisonarbeiter“ und „Grenzgänger“, sowie „Asylwerber“.32 Die Frauen und Männer aus der Steiermark verfügten in der Regel über den Status der „Aufenthalter“, suchten also in regelmäßigen Ab­ ständen um Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligungen an. Teilweise waren sie auch als „Saisonarbeiter“ angestellt und „pausierten“ nach mehrmonatigem Schweizaufenthalt für einige Monate in Österreich, ehe sie ein neues Arbeitsver­ hältnis in der Schweiz aufnehmen konnten. Der Aufbruch tausender Frauen und Männer in die Schweiz ist in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Chancenwahrnehmung zu verstehen. In der Phase der Entscheidung, ins Ausland aufzubrechen, waren verschiedene Komponenten ausschlaggebend: persönliche Überlegungen, gesetzliche Vorgaben, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, sowohl im Heimatland wie auch im Zielland, spielten eine Rolle und standen miteinander in Zusammenhang. Vereinfachende Erklärungsansätze wie „Arbeitslosigkeit führt zu Migration“ entsprechen oftmals nicht den Realitäten. So auch im Falle der steirischen Migrationen in die Schweiz. Anfang der 1950er Jahre herrschte zwar in der Steiermark hohe Arbeitslosigkeit, dem stand aber als paradoxe Ergänzung ein Personalmangel in den Bereichen des Haushalts (Dienstmädchen, Köchinnen) und der Land- und Forstwirtschaft (Mägde und Knechte) gegenüber. Auch in der Schweiz, die sich in einer Phase der Hochkonjunktur befand, wurde nahezu händeringend nach Arbeitskräften für eben diese Arbeitsfelder gesucht. Somit wurden Frauen und Männer insbesondere in jenen Branchen des Schweizer Arbeitsmarktes nachgefragt, die in gleichem Maße in Österreich Mangelberufe darstellten. Die SteirerInnen hätten auch in der Steiermark Arbeitsplätze gefunden. Arbeitslosigkeit und Arbeitssuche waren somit 32 Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) wurde 1931 per Verfassungsänderung verabschiedet und gelangte 1934 zur Geltung. Vgl. dazu: Prettenthaler-Ziegerhofer, Schmidlechner, Sonnleitner, „Haustochter gesucht“, S. 25. Vgl. auch: Heidi Armbruster, Der rechtliche Rahmen. Einwanderungsbestimmungen einiger Zielländer österreichischer Nachkriegsmigration, in: Horvath, Neyer (Hg.), Auswanderungen aus Österreich, S. 323–360; Pröll, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, S. 435–436. Das ANAG war bis 2007 gültig. Vgl. Jana Häberlein, Von Ehehäfen und Ausschaffungsflügen: (Persistente) Geschlechternormen und normalisierende Regulationen im neuen Schweizer Ausländergesetz, in: Antonia Ingelfinger, Meike Penkwitt (Hg.), Migration–Mobilität–Geschlecht, Leverkusen 2011, S. 193–210.

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keinesfalls die alleinigen Faktoren für den Entschluss, ins Ausland zu gehen. Anna R., die 1951 von Deutschlandsberg nach Einsiedeln (Kanton Schwyz) ging und dort bis 1954 bei zwei Familien als „Haustochter“ (Dienstmädchen) arbeitete, führte beispielsweise aus, dass sie problemlos als Näherin in der Steiermark Arbeit gefunden hätte. Die Verdienstmöglichkeiten in der Schweiz aber waren weitaus höher, weshalb sie sich dafür entschied, in der Schweiz zu arbeiten.33 Christine T., die am Bauernhof ihrer Großeltern in Bad Gams aufgewachsen war, hatte bereits Arbeitserfahrungen in Wien gesammelt als sie sich entschloss, in die Schweiz zu gehen. Nach den Gründen befragt erzählte sie: „Ich wollte eigentlich einfach nicht zu Hause bleiben und am Bauernhof [arbeiten, Ergänzung U.S.], das wollte ich nicht machen – mich hat es immer in die Fremde gezogen. Ja und dann haben wir irgendwie erfahren, dass die Schweiz sehr nach Frauen und Mädchen gesucht hat. Und dann habe ich mich einmal angemeldet.“34 1948, im Alter von 19 Jahren, brach Frau T. auf und erwartete, in der Schweiz das „Paradies“ zu finden.35 Mit ihren Vorstellungen stellte sie keinen Einzelfall dar, die Schweiz bedeutete für zahllose Menschen ein Traumziel – Vorstellungen von einem Schlaraffenland bestanden. War eine Anstellung in den sozial minder bewerteten Arbeitsbereichen des Haushalts (domestic-care-sectors), der Gastund Landwirtschaft nicht zu vermeiden, so sollte zumindest eine angemessene Bezahlung einen Ausgleich bieten. Diese wiederum war in der Schweiz sichergestellt, stand in keinerlei Verhältnis zu dem niedrigeren österreichischen Lohnniveau. Die Migrierenden versuchten, Chancen, die sich ihnen boten, zu nutzen; reagierten sehr flexibel auf Angebote. Stellenwechsel bildeten keine Seltenheit, das Verhältnis zu den ArbeitgeberInnen war dabei von untergeordneter Bedeutung. Viele der Frauen und Männer verstanden sich sehr gut mit den Chefs und Chefinnen. Die überwiegende Mehrheit der SteirerInnen lebte mit ihnen im selben Haushalt. Die enge Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten führte dazu, dass sich die SteirerInnen teilweise sogar als Teil der Schweizer Familie fühlten – boten sich aber anderswo bessere, interessantere Möglichkeiten, wurde ein Wechsel des Arbeitsplatzes vollzogen. Franziska Z., aus Radkersburg stammend, hatte zu Beginn der 1950er Jahre für zwei Familien in Zürich gearbeitet.36 Insbesondere bei der zweiten Familie hatte sie sich äußerst wohl gefühlt, hatte es genossen, auf Urlaube37 mitgenommen zu werden. Dennoch zögerte sie nicht, 33 Interview mit Anna R., 29.4.2009. Die Transkripte sämtlicher im Text verwendeter Interviews befinden sich im Besitz der VerfasserInnen. 34 Interview mit Christine T., 2.8.2010. 35 Ebda. 36 Interview mit Franziska Z., 16.2.2009. 37 Für Frau Z. stellten Urlaubsfahrten mit den ArbeitgeberInnen keinen Urlaub dar –

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als sich ihr die Chance des Wechsels in das weitaus besser bezahlte Gastgewerbe bot. Die Arbeitsverhältnisse waren nicht immer von Übereinstimmung mit den Vorstellungen der MigrantInnen geprägt, extrem lange Dienstzeiten und mangelnde Freizeit etwa wurden immer wieder beklagt. Oftmals bestanden regelrechte Ausbeutungsverhältnisse: Elfriede T., die von 1951 bis 1953 im Kanton Schaffhausen in einem Familienbetrieb (Gasthaus und angeschlossener Laden) tätig war, musste auch mit gebrochenem Bein weiterarbeiten, da sie sonst keinen Lohn erhalten hätte und auch über keine Versicherung verfügte.38 Dennoch fiel das Resümee ihres Schweizaufenthaltes äußerst positiv aus. „Hart aber fair“ seien die Arbeitsbedingungen gewesen, erinnerte sich Elfriede T.. Eine Feststellung, die zahlreiche SteirerInnen zusammenfassend über ihre Arbeitsmigration teilten. Sehr bedeutsam für die durchwegs positive Einstellung gegenüber der in der Schweiz verbrachten Lebenszeit waren die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, die sich den Migrierenden – spärlich aber doch – boten. Meist wurden die freien Stunden mit anderen ArbeitsmigrantInnen aus Österreich verbracht. Gemeinsame Ausflüge wurden unternommen, Veranstaltungen besucht, auch die Angebote der zahlreich bestehenden „Österreicher-Clubs“39 genutzt. Zudem wurden die Möglichkeiten des erstmaligen Konsumgenusses wahrgenommen. Viele SteirerInnen erinnern sich, die erste Banane ihres Lebens in der Schweiz verspeist zu haben. Das große Schokolade-Sortiment blieb bis in die Gegenwart in lebhafter Erinnerung, ebenso wie das vielfältige Angebot an Kleidung. Zwar versuchte die Mehrheit der steirischen ArbeitsmigrantInnen, Geld zu sparen, in einigen Fällen wurden auch große Beträge zur Unterstützung der Verwandten in die Steiermark gesendet. „Belohnungseinkäufe“ unternahmen dennoch alle von ihnen – der Stolz über die neu erworbenen Kleidungsstücke wurde auf Fotos dokumentiert. In der neuen „Sonntagskleidung“ wurden vor touristischer Kulisse Bilder aufgenommen, die als schöne Erinnerungen und Beweise des erreichten Erfolges aufbewahrt wurden. Zahlreiche ArbeitsmigrantInnen aus Österreich blieben schließlich dauerhaft in der Schweiz. Die Entscheidung zur endgültigen Niederlassung war meist mit dem Kennenlernen eines/einer Schweizer Ehepartners/Ehepartnerin verbunden. sie war selbstverständlich im Dienst und hatte ihre Arbeitsleistung zu erbringen. Dennoch waren die Fahrten eine willkommene Abwechslung zum Alltag, es wurde als Auszeichnung wahrgenommen, die ArbeitgeberInnen in den Urlaub zu begleiten. 38 Interview mit Elfriede T., 28.2.2011. 39 Diese Einrichtungen waren von ÖsterreicherInnen initiiert worden, die bereits seit längerer Zeit in der Schweiz wohnhaft waren. Das Spektrum der gemeinsamen Aktivitäten könnte unter „geselliges Beisammensein“ subsummiert werden.

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Die Liebe wiederum bewog auch viele HeimkehrerInnen zur Rückkehr in die Steiermark: oftmals war es die geplante Heirat in der Steiermark, die einen derartigen Entschluss herbeiführte. Die Heimkehrentscheidung nach einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von zwei bis vier Jahren erfolgte meist ebenso pragmatisch und relativ kurzentschlossen, wie dies bereits beim Aufbruch in die Schweiz der Fall gewesen war. Ganz im Sinne der Chancenoffenheit wurde von den ArbeitsmigantInnen bei Antritt ihrer Reise die Rückkehr nicht fixiert, beziehungsweise kein Zeitrahmen der Aufenthaltsdauer festgelegt. Der Arbeitsaufenthalt war, trotz durchaus thematisierter Schwierigkeiten, von allen Migrierenden als Chance und Bereicherung wahrgenommen worden. Im Zuge wissenschaftlicher Projekte über die Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten, stellte für sämtliche Betroffenen ein echtes Anliegen dar. Die MigrantInnen zeigten sich im Zuge der Interviews erfreut über die Möglichkeit, von ihren Auslandserfahrungen erzählen zu können, die schönen Erinnerungen nach mehr als 50 Jahren zu teilen – weshalb auch aus dieser Perspektive die Durchführung der Projekte als entscheidender und wichtiger Beitrag zu einer steirisch-österreichischen (Migrations-)Geschichte zu verstehen ist. Über das konkrete Geschehen der 1940er und 1950er Jahre hinaus ist die Bedeutung der steirischen/österreichischen Migrationsbewegungen in die Schweiz nicht zu vernachlässigen. Die steirischen Arbeitskräfte in der Schweiz sind als Teil des „GastarbeiterInnen-Systems“ zu verstehen. In der Schweiz sollte mit der Einführung des ANAG ein System des Arbeitskräfte-Austausches je nach Bedarf etabliert werden. Das ANAG nahm gleichsam das Konzept der „Gastarbeiter“-Anwerbung vorweg, bzw. stellte in der Schweiz deren frühe rechtliche Grundlage dar. Der Schweiz wird daher in der „Gastarbeiter-Politik“ eine „Initiatorenrolle“ zugeschrieben.40

Gastarbeiter I nnen

in der

Steiermark

In Österreich war die Beschäftigung von ArbeitsmigrantInnen durch die deutsche „Verordnung über ausländische Arbeitnehmer“ aus dem Jahr 1933 geregelt. Diese trat 1941 in Kraft, wurde 1945 mittels Reichsüberleitungsgesetz in den Rechtsbestand der Zweiten Republik übernommen und galt bis zur Einführung des „Ausländerbeschäftigungsgesetzes“ am 1.1.1976. Demnach musste der Einsatz von ArbeitsmigrantInnen in jedem Einzelfall von den Arbeitsämtern geprüft werden und war von der Arbeitsmarktlage sowie den Bedürfnissen 40 Vgl. Armbruster, Rahmen, S. 341.

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der Wirtschaft abhängig. Diese restriktive Handhabung der Beschäftigung von ArbeitsmigrantInnen stand Ende der 1950er Jahre, in den sogenannten „Wirtschaftswunderjahren“, den Bedürfnissen der österreichischen Wirtschaft entgegen. So kam es in bestimmten Branchen zu einem Mangel an Arbeitskräften. ArbeitgeberInnen gerieten zunehmend unter Druck, die Löhne, speziell in den Niedriglohnbranchen, zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund forderte die Bundeswirtschaftskammer (BWK) eine Erweiterung des Arbeitskräftepotentials durch eine vermehrte Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften sowie die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, um das Wirtschaftswachstum weiterhin sicherzustellen. Im Gegensatz dazu trat der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) für einen verstärkten Einsatz von österreichischen ArbeitnehmerInnen ein. Mittels aktiver Arbeitsmarktpolitik sollte die „stille Arbeitskräftereserve“41 erschlossen werden.42 Im September 1961 konnten die Sozialpartner ihre Kontroversen im „RaabOlah-Abkommen“ beilegen und schufen den institutionellen Rahmen für die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Sie einigten sich darauf, jährlich ein Kontingent von ArbeitsmigrantInnen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt zuzulassen. Man entschied sich, ein temporäres Beschäftigungsmodell nach Schweizer Vorbild einzuführen, dem ein Rotationsprinzip zugrunde lag. Be­ schäftigungsbewilligungen wurden jeweils nur für ein Jahr erteilt und nicht direkt an die ausländische Arbeitskraft, sondern an den Betrieb vergeben. Diese örtliche und zeitliche Beschränkung der Beschäftigungsbewilligung bildete das zentrale Steuerungselement der „Gastarbeitsmigration“ in Öster­ reich. Hinsichtlich der Lohn- und Arbeitsbedingungen waren ausländische DienstnehmerInnen ÖsterreicherInnen formal gleichgestellt.43 Um die 41 Als „stille Reserve“ wurden vorwiegend schwer vermittelbare Personen und ArbeitnehmerInnen, die von Saisonarbeitslosigkeit betroffen waren, angesehen. 42 Vgl. Hannes Wimmer, Zur Ausländerbeschäftigungspolitik in Österreich, in: Hannes Wimmer (Hg.), Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Frankfurt am Main–New York 1986, S. 5–9; Andreas Weigl, Migration und Integration. Eine widersprüchliche Geschichte (Österreich – Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive, Bd. 20), Innsbruck 2009, S. 36–37; Eveline Wollner, Auf dem Weg zur sozialpartnerschaftlich regulierten Ausländerbeschäftigung in Österreich. Die Reform der Ausländerbeschäftigung und der Anwerbung bis Ende der 1960er Jahre, unveröffentlichte Diplomarbeit Wien 1996, S. 21–32. 43 Ausländische Arbeitskräfte mussten über ein ärztliches Attest verfügen, DienstgeberInnen waren für die Unterbringung von ArbeitsmigrantInnen verantwortlich und ausländische mussten vor inländischen ArbeitnehmerInnen entlassen werden.

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Beschäftigung von ArbeitsmigrantInnen zu forcieren, wurden zwischenstaatliche Anwerbeabkommen mit Spanien (1962)44, der Türkei (1964) und dem damaligen Jugoslawien (1966) geschlossen. Die BWK wurde mit der Rekrutierung von ArbeitsmigrantInnen betraut. Ziel der Maßnahmen war es, den Arbeitskräftemangel auszugleichen, um die internationale Konjunktur weiterhin nutzen zu können.45 Somit wurde Österreich Teil eines europäischen Migrationssystems, in dessen Rahmen im Zeitraum von 1955 bis 1973 rund 15 Millionen Arbeitskräfte europaweit angeworben wurden und das 1973/74 infolge der internationalen Ölkrise und einsetzenden Rezession in dieser Form zu existieren aufhörte.46 Im Zeitraum von 1961 bis 1973 kamen rund 265.000 MigrantInnen auf diesem Weg nach Österreich. Den größten Anteil an ausländischen Arbeitskräften wiesen die österreichischen Bundesländer Wien, Niederösterreich, Oberösterreich und Vorarlberg auf. In der Steiermark, in Kärnten und im Burgenland war der Anteil an ArbeitsmigrantInnen am geringsten. Die meisten ArbeitsmigrantInnen waren im Jahr 1973, dem Höhepunkt der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in Österreich, als ArbeiterInnen in der Lederindustrie, der Textilindustrie, der Bauwirtschaft und im Tourismussektor tätig.47 44 Das Abkommen mit Spanien blieb weitgehend unbedeutend. Österreich war wegen seines niedrigen Lohnniveaus gegenüber anderen westeuropäischen Anwerbestaaten nicht konkurrenzfähig. 45 Vgl. Weigl, Migration, S. 35–48; Rainer Münz, Peter Zuser, Josef Kytir, Grenz­ überschreitende Wanderungen und ausländische Wohnbevölkerung: Struktur und Entwicklung, in: Heinz Fassmann, Irene Stacher (Hg.), Österreichischer Migrationsund Integrationsbericht. Demographische Entwicklungen – sozio-ökonomische Struk­t uren – rechtliche Bestimmungen, Klagenfurt 2003, S. 21–22. 46 Das Migrationssystem erreichte seinen Höhepunkt im Zeitraum von 1967 bis 1972, als es 18 Staaten umfasste, die durch mehr als 40 bilaterale Anwerbeverträge miteinander verbunden waren. Vgl. Christoph Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974 (Studien zur historischen Migrationsforschung 19), Paderborn 2010, S. 14–23. 47 Vgl. Gudrun Biffl, Zuwanderung und Segmentierung des österreichischen Arbeits­ marktes. Ein Beitrag zur Insider-Outsider-Diskussion, in: Karl Husa, Christoph Panreiter, Irene Stacher (Hg.), Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts?, Frankfurt am Main–Wien 2000; Münz, Zuser, Kytir, Wanderungen, S. 22; Helga Matuschek, Ausländerpolitik in Österreich 1962–1985. Der Kampf um und gegen die ausländische Arbeitskraft, in: Journal für Sozialforschung 25/2 (1985), S. 159–198.

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Die Beschäftigung von ArbeitsmigrantInnen in der Steiermark kann – wie in ganz Österreich – darauf zurückgeführt werden, dass in bestimmten Wirtschaftszweigen ein Mangel an Arbeitskräften bestand sowie für bestimmte Tätigkeiten keine steirischen Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Laut Volkszählungsdaten von 1971 arbeiteten in diesem Jahr 7.333 „GastarbeiterInnen“ in der Steiermark, 99 % (7.260) stammten aus Jugoslawien, 0,1 % (68) aus der Türkei und fünf aus Spanien. Rund 91 % der ArbeitsmigrantInnen waren als ArbeiterInnen beschäftigt und nur ein geringer Anteil von 5 % stand in einem Angestelltendienstverhältnis. Der jährliche Anteil an Frauen an der Arbeitsmigration betrug laut Beschäftigungsgenehmigungen für die Steiermark im Zeitraum zwischen 1961 und 1971 zwischen 20 und 30 %.48 Die regionale Beschäftigung von ArbeitsmigrantInnen korrelierte mit ihren Tätigkeiten in den einzelnen Wirtschaftszweigen. Jene Bezirke, in denen das verarbeitende Gewerbe und die Industrie sowie das Bauwesen und der Tourismus besonders stark ausgeprägt waren, wiesen einen höheren Anteil an ausländischen Arbeitskräften auf. Die steirischen Bezirke Graz, Graz-Umgebung, Liezen, Leoben, Bruck an der Mur und Bad Radkersburg49 hatten einen Anteil von über 5 % an unselbstständigen ausländischen Arbeitskräften. In den Bezirken Judenburg und Knittelfeld betrug der Anteil zwischen 2,5 und 5 %, in den restlichen Bezirken lag er unter 2,5 %. Jugoslawische Männer waren am stärksten im Bauwesen sowie im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie beschäftigt. Frauen aus Jugoslawien arbeiteten am häufigsten im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie, aber auch im Beherbergungs- und Gaststättenwesen sowie bei persönlichen, sozialen, öffentlichen Diensten und in der Haushaltung. Türkische Männer wie auch Frauen waren am zahlreichsten im verarbeitenden Gewerbe und der Industrie tätig.50 Die Migrationsmotive jener ArbeitsmigrantInnen, die in den 1960er und 1970er Jahren in die Steiermark kamen, waren genauso vielfältig wie ihre Migrationsbiografien. Viele sahen in der Arbeitsmigration eine Chance, ihre individuellen Lebensrealitäten zu verbessern.51 Ivanka S. sah in der Migration 48 Vgl. Statistik Austria, Volkszählungsdaten 1971: Erwerbspersonen in der Steier­ mark nach Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Stellung im Beruf bzw. Wirtschaftsabteilung, Landesarbeitsamt Steiermark, Jahresberichte 1961–1971. 49 Der hohe Anteil an ausländischen Beschäftigten kann in Bad Radkersburg vor allem auf den vermehrten Einsatz von GrenzgängerInnen in der Landwirtschaft zurückgeführt werden. 50 Vgl. Statistik Austria, Volkszählungsdaten 1971: Erwerbspersonen in der Steier­ mark nach Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Stellung im Beruf bzw. Wirt­ schaftsabteilung, Landesarbeitsamt Steiermark, Jahresbericht 1973, S. 36. 51 Die folgenden Interviewauszüge wurden im Rahmen des Dissertationsprojektes

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eine Möglichkeit, mit geringer Schulbildung eine Arbeitsstelle zu erhalten. Auf die Frage eines Bekannten, ob sie nach Graz kommen möchte, antwortete sie: „Und natürlich habe ich ja gesagt! Nur weg, weil ohne Ausbildung kriegt man in Slowenien keinen Job.“52 Die besseren Verdienstmöglichkeiten waren für Stephan L. der Auslöser, sich für die Arbeitsmigration zu entscheiden. Der gelernte Maurer, der im heutigen Kroatien eine Arbeitsstelle hatte, erzählt: „Es hat geheißen, dass du in Österreich oder in Deutschland mehr verdienst. Und weil ich ungebunden war, bin ich dann hinauf gekommen und dann bin ich da geblieben.“53 Aber auch die Tatsache, ein lediges Kind auf die Welt zu bringen, war für einige Frauen ein Grund, sich für eine Arbeitsmigration zu entscheiden. Die alleinerziehende Slavica T. aus dem heutigen Serbien führt dazu aus: „Also, ich habe ein Kind bekommen, da war ich relativ jung, ich war 19 Jahre alt. Und der Mann hat mich verlassen. […] 70er Jahre war das eine Schande, ein Kind auf die Welt zu bringen ohne Papa und ohne heiraten. Und das war eine kleine Provinz, wo ich gelebt habe, und da habe ich weggehen müssen.“54 Die ersten Lebens- und Arbeitserfahrungen in der Steiermark beschreibt Nedim H. folgendermaßen: „Wir sind von Zagreb nach Trieben mit dem Zug gefahren, die ganze Nacht. In der Früh sind wir dann aus dem Zug ausgestiegen, dann sind wir in die Wohnung und um 9.00 Uhr haben wir angefangen zu arbeiten. […] es waren viele Menschen von unten, unsere Leute, die auch die Sprache teilweise gekonnt haben, wo ich mich dann leichter zurechtfinden konnte.“55 Ein harter Arbeitsalltag prägte das Leben vieler ArbeitsmigrantInnen. Schwere, vor allem körperliche Tätigkeiten wurden ausgeführt, zahlreiche Überstunden gemacht und man hatte kaum Freizeit. Unbezahlte Überstunden gehörten auch zum Arbeitsalltag von Hilde L., die als Kellnerin in der Obersteiermark arbeitete. Sie schildert: „Die Stunden wurden nie bezahlt. Ich habe mein Fixum gehabt, aus basta.“56 Auch Maria P., die in einem Feinkostladen in der Südsteiermark arbeitete, machte ähnliche Erfahrungen: „Du hast erst heimgehen können, wenn alles fertig war. […] Ja, manchmal war es zu viel. An manchen Tagen habe ich gevon Verena Lorber zum Thema „Lebensrealitäten von ‚GastarbeiterInnen‘ in der Steiermark (1961–1975)“ und eines von Spectro (gemeinnützige Gesellschaft für wissenschaftliche Forschung) finanzierten Forschungsprojektes über die gegenwärtige Lebenssituation von ehemaligen „GastarbeiterInnen“ mithilfe der Methode der Oral History geführt. 52 Interview mit Ivanka S., 27.1.2011. 53 Interview mit Stephan L., 7.5.2013. 54 Interview mit Slavica T., 27.10.2011. 55 Interview mit Nedim H., 13.2.2014. 56 Interview mit Hilde L., 7.5.2013.

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dacht: ,Mein Gott, stehe ich das durch?‘ Aber in der Früh bin ich trotzdem wieder hingegangen.“57 Herr Petar B. hingegen machte durchwegs positive Erfahrungen. Er berichtet: „Nein, ich habe nie Probleme gehabt. Kein einziges Mal. […] Wir haben auch immer offiziell [gearbeitet, Ergänzung V.L.] und dafür haben wir eigentlich auch immer schöne Löhne bekommen.“58 Viele ArbeitsmigrantInnen reisten nicht über die offiziellen Anwerbestellen der BWK nach Österreich. Arbeitsplätze wurden über Bekannte oder Verwandte vermittelt. Stephan L. führt dazu aus: „Die Firmen haben damals Arbeiter gebraucht und da hat einer den anderen gefragt, ob man mitgehen will. […] Einer hat den anderen geholt.“59 Ende der 1960er Jahre wurden die Anwerbestellen der BWK immer seltener genutzt und die „Gastarbeitsmigration“ trat in eine neue Phase der Verselbstständigung. Die „Touristenbeschäftigung“ gewann immer mehr an Bedeutung. Auch Ruza S., eine Arbeitsmigrantin aus dem heutigen Serbien, ist auf diesem Weg eingereist. Sie führt aus: „Wie ein Tourist. Zuerst gehst du dich zur Polizei anmelden und nachher suchst du dir eine Arbeit.“60 Die Periode der expandierenden „Gastarbeitsmigration“ in Österreich fand mit dem Anwerbestopp infolge der internationalen Ölkrise 1973/74 und der Einführung des „Ausländerbeschäftigungsgesetzes“ im Jahr 1976 ein Ende. Ab diesem Zeitpunkt galt es, die Neubeschäftigung von ausländischen Arbeitskräften zu beschränken und die Zahl der ArbeitsmigrantInnen in allen österreichischen Bundesländern zu minimieren.61 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ArbeitsmigrantInnen, die in die Steiermark kamen, eine sehr heterogene Gruppe darstellen. Sie unterschieden sich nicht nur hinsichtlich ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer Herkunftsregion und ihres Bildungsgrads, sondern auch in Bezug auf ihre ethnischen wie auch religiös-kulturellen Charakteristika und politischen Positionen. Einige kehrten 57 Interview mit Maria P., 15.11.2013. 58 Interview mit Petar B., 27.2.2012. 59 Interview mit Stephan L., 7.5.2013. 60 Interview mit Frau Ruza S., 20.5.2011. 61 Im Zeitraum von 1974 bis 1976 mussten rund 55.000 ausländische ArbeitnehmerInnen in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Diese Maßnahmen bewirkten einen unerwarteten Nebeneffekt. Durch die geänderte Gesetzeslage mussten sich ausländische ArbeitnehmerInnen zwischen einem Leben in Österreich oder einer Remigration entscheiden. Viele entschlossen sich zum Verbleib. Durch den einsetzenden Familiennachzug wurde die staatlich forcierte Rückwanderung weitgehend kompensiert und die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung in Österreich blieb relativ konstant. Vgl. Bernhard Perchinig, Von der Fremdarbeit zur Integration, in: Viel Glück! Migration heute, Wien–Belgrad–Zagreb–Istanbul 2010, S. 142–160.

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nach kurzer Zeit wieder in ihre Herkunftsregionen zurück, andere verschoben das Datum ihrer Rückkehr fortwährend und ließen sich dauerhaft in der Steiermark nieder. Wieder andere wanderten nach einer Phase der Remigration erneut ab und einige migrierten immer dorthin, wo die besten Arbeits- und Einkommensbedingungen gegeben waren. Wie eingangs bereits erwähnt, hat das Thema „Migration“ in den letzten Jahrzehnten eine starke Polarisierung erfahren und wird vorwiegend als Phänomen der Gegenwart diskutiert. Eine historisierende Betrachtung der österreichischen Migrationsgesellschaft fehlt im öffentlichen Diskurs. Es gilt daher, die gesamtgesellschaftlichen Wechselund Auswirkungen der Geschichte der Migration zu erfassen. Bislang wurden MigrantInnen weder im kollektiven Gedächtnis eigene Geschichten zuerkannt noch gelten sie als Bestandteil der Geschichte Österreichs. Aus diesem Grund ist es wichtig, diese durch die Perspektive von MigrantInnen zu ergänzen.62 In Bezug auf die Steiermark ist die „Gastarbeitsmigration“ vor allem durch die „Gastarbeiterroute“ im offiziellen Gedächtnis verankert. Viele SteirerInnen assoziieren mit dieser Migrationsform das hohe Unfallgeschehen entlang des steirischen Streckenabschnitts und weniger die Tatsache, dass zahlreiche ArbeitsmigrantInnen in der Steiermark beschäftigt waren, die einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung leisteten und zur Vielfalt der steirischen Gesellschaft beitrugen.

D ie Steiermark als Transitland A rbeitsmigration

internationaler

Die Steiermark war nicht nur Ausgangs- und Zielland internationaler Arbeits­ migration, sondern auch ein bedeutendes Transitland eben solcher. In den 1970er und 1980er Jahren pendelten vor allem jugoslawische und türkische ArbeitsmigrantInnen, die in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt waren, beinahe regelmäßig zwischen Herkunfts- und Beschäftigungsort. Meist führte ihr Weg durch die Steiermark, wo die MigrantInnen schon bald zu NamensgeberInnen jener Bundesstraßenverbindung wurden, der sie auf ihrer Reise folgten. Diese sogenannte „Gastarbeiterroute“ erlangte hierzulande tragische Bekanntheit, da sie als eine der meistbefahrenen und unfallgefährlichsten Straßen Österreichs galt. In Folge wird ein kurzer Überblick über den Transitverkehr und die daraus entstandenen Probleme gegeben sowie auch 62 Vgl. Veronika Settele, Verena Sauermann, „Guter Eindruck!“ Arbeitsmigration seit 1960 in österreichischen Firmenarchiven, in: Archiv und Wirtschaft 47/2 (2014), S. 78–86.

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auf die Erfahrungen der ArbeitsmigrantInnen eingegangen, die entlang dieses Migrationsweges unterwegs waren. Die knapp 300 Kilometer lange „Gastarbeiteroute“ verlief in südöstlicher Richtung von Mandling an den Grenzübergang zu Jugoslawien in Spielfeld.63 Ab den späten 1960er Jahren wurde entlang dieser Strecke eine kontinuierliche Zunahme des „Gastarbeiterverkehrs“ aus der Bundesrepublik Deutschland verzeichnet. Bereits in den Jahren davor intensivierte sich dort die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, mit der Unterzeichnung der Anwerbeabkommen mit der Türkei und Jugoslawien. Die ArbeitsmigrantInnen reisten anfänglich überwiegend mit der Bahn, doch wurde bald die Anschaffung eines eigenen Autos zur erstrebenswerten Alternative. Somit vollzog sich allmählich ein Übergang vom behördlich organisierten kollektiven Transfer der Arbeitskräfte zur individuellen Mobilität der ArbeitsmigrantInnen. Der verstärkt nach dem Anwerbestopp einsetzende Familiennachzug begünstigte diese Entwicklung, da es preiswerter war, mit dem eigenen Fahrzeug die Reise anzutreten, als für die ganze Familie Bahn- oder Flugtickets zu kaufen. Ein weiteres Argument für die Fahrt mit dem Auto war, dass damit sowohl Geschenke als auch verschiedenste Gebrauchsgegenstände einfacher transportiert werden konnten. Der eben skizzierte Übergang zur individuellen Mobilität der Arbeits­ migrantInnen führte entlang der „Gastarbeiterroute“ zu einem massiven Anstieg des Transitverkehrs, der mit der Kapazität der Bundestraße kaum verträglich war. Von 1970 bis 1975 – also innerhalb von nur fünf Jahren – nahm der durchschnittliche tägliche Verkehr um ganze 60 % zu. Besonders problematisch war dabei, dass der „Gastarbeiterverkehr“ vor allem in den Sommermonaten und zu den übrigen Ferienzeiten, wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten, verstärkt auftrat. Zu diesen Verkehrsspitzenzeiten zählte man bis zu 30.000 Fahrzeuge am Tag, was für eine zweispurige und abschnittsweise schlecht ausgebaute Bundesstraße eine absolute Rekordbelastung bedeutete.64 Für die BewohnerInnen der Anrainergemeinden bedeutete der Transitverkehr mitunter eine deutliche Verringerung der Lebensqualität. Besonders problematisch war die Situation in den gewachsenen Straßendörfern, wo die Bundesstraße oft mitten durch den Ortskern führte und die Verkehrskolonne den Ort buchstäblich in zwei Hälften teilte.65 Die ansässige Bevölkerung protestierte zunehmend gegen die für sie unerträglich gewordene Verkehrssituation, indem sie 63 Der Ort Mandling liegt an der Landesgrenze zu Salzburg. Die „Gastarbeiterroute“ führte von dort nach Liezen und weiter nach Leoben und Graz Richtung Spielfeld. 64 Vgl. Christian Theussl, Peter Pritz, A 9 Pyhrnautobahn. Gastarbeiterroute durch die Steiermark, Graz 1976, S. 2–5. 65 Solche Ortsdurchfahrten gab es etwa in Stainach, Niklasdorf, Peggau oder Wildon.

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etwa Unterschriften für Umfahrungsstraßen sammelte oder die Bundesstraße blockierte.66 Ein Ende der Belastung brachte erst der sukzessive Ausbau der A 9 Pyhrnautobahn, der aber erst mit der Eröffnung des Teilstückes Schoberpaß im Jahr 1993 sein Ende fand. Neben der starken Belastung der Anrainergemeinden, war das erhöhte Unfallgeschehen eine weitere Konsequenz des starken Verkehrsaufkommens. Im Jahr 1975 wies rund die Hälfte der Bundesstraße eine Unfalldichte von fünf Unfällen pro Straßenkilometer innerhalb von nur sechs Monaten auf, wobei gerade der obersteirische Abschnitt der „Gastarbeiterroute“ als besonders unfallgefährlich galt.67 Die vielen Verkehrsunfälle waren meist das Resultat der starken Verkehrsfrequenz in Kombination mit falschem Fahrverhalten. Laut einer Studie des Kuratoriums für Verkehrssicherheit, die zwischen 1970 und 1972 durchgeführt wurde, lag der Anteil der als „Gastarbeiterunfälle“ bezeichneten Verkehrsunfälle durchschnittlich bei 32 % und zu Verkehrsspitzenzeiten sogar bei 50 %. Als Ursache für die starke Beteiligung der ArbeitsmigrantInnen an Unfällen wurden der oft schlechte Zustand der Autos sowie das Überladen der Fahrzeuge angeführt. Eine weitere häufige Unfallursache war Übermüdung, da viele der ArbeitsmigrantInnen schon mehrere Stunden unterwegs waren, bevor sie die Steiermark passierten.68 Um den hohen Unfallzahlen entgegenzuwirken, wurden einige Initiativen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit unternommen, die speziell für die durchreisenden ArbeitsmigrantInnen gedacht waren. Ein besonders ambitioniertes Projekt zur Unfallvorsorge stellte dabei der sogenannte „Moslem Rastplatz“ – auch „Kervanserei“ genannt – in Mautern dar. Dieser, im Sommer 1985 erstmals errichtete und vom Kuratorium für Verkehrssicherheit betreute, Rastplatz war speziell für muslimische ArbeitsmigrantInnen adaptiert worden. So wurden etwa die im Imbiss angebotenen Speisen ohne Schweinefleisch und Alkohol zubereitet. Daneben gab es einen Spielplatz, eine Station des Roten Kreuzes und ein provisorisch errichtetes Gebetshaus.69 Im Zuge einer weiteren Initiative zur Erhöhung der Verkehrssicherheit wurden mehrsprachige Hinweis- und Warnschilder entlang der Bundesstraße aufgestellt. In unterschiedlichen Sprachen, vornehmlich auf Türkisch und Serbokroatisch, aber auch auf Arabisch, wurden Aufforderungen 66 Für Aufsehen sorgten etwa Sitzstreiks in den Gemeinden Wildon 1974 und Peggau 1977. 67 Vgl. Theussl, Pritz, A 9 Pyhrnautobahn, S. 12. 68 Vgl. W. Bereza-Kudrycki, Gastarbeiterunfälle, in: Verkehrstechnischer Informations­ dienst 1 (1973), S. 16–18. 69 Vgl. Michael Lohmeyer, Unfallfrei in die Heimat. Ein österreichisches Modell aktiver Unfallverhütung, in: Verkehrspolitik 2/5(1988), S. 38–39.

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wie „Mach Rast!“ auf Tafeln am Straßenrand angebracht. Auch die im Jahr 1988 durchgeführte österreichweite Aktion „Gefährliche Strecke – Licht auch am Tag“ fand eine mehrsprachige Ausfertigung auf den Verkehrstafeln entlang der „Gastarbeiterroute“.70 Die vielen Unfall- und Staumeldungen in Tageszeitungen sowie im Radio und TV führten letztlich zu einem pejorativen Diskurs, der den Ruf der „Gastarbeiterroute“ als „Todesstrecke“ weitgehend festigte. Dabei wurde in den Medien nicht mit Kritik an den politisch Verantwortlichen gespart, von denen eine umgehende Verbesserung der Verkehrssituation gefordert wurde, die man vor allem durch den raschen Ausbau der Pyhrnautobahn gewährleistet sah. Gleichzeitig wurde den durchreisenden ArbeitsmigrantInnen häufig eine indigene Fahrlässigkeit unterstellt, vor allem dann, wenn sie mit leicht­ sinnigem Fahrverhalten Unfälle provozierten. Daneben fanden sich in der Berichterstattung immer wieder historisierende Darstellungen, die sich auf die Herkunftsländer der MigrantInnen bezogen. So wurden zum Beispiel stereotype Bilder des Orients rekonstruiert, indem der „Gastarbeiterverkehr“ unter Anderem als „Karawane“ oder „Orient-Konvoi“ beschrieben wurde.71 Auch in Deutschland wurde über diese Transitroute der ArbeitsmigrantInnen berichtet, wie etwa in der Süddeutschen Zeitung, in der die „Gastarbeiterroute“ kurzerhand zum „Schicksalsweg“ erklärt wurde.72 Mit solchen Zuschreibungen erfuhr die Straße eine massive Aufwertung, die sie von anderen Bundestraßen deutlich unterschied. So repräsentierte dieser „Schicksalsweg“ nicht nur den Kampf der AnrainerInnen gegen den Transitverkehr, sondern auch die Hoffnung der ArbeitsmigrantInnen auf eine bessere Zukunft. Für die ArbeitsmigrantInnen waren die jährlichen Fahrten entlang der „Gastarbeiterroute“ wesentlicher Teil der Migrationserfahrung. Um ihren Urlaub bei Familie und Freunden zu verbringen, nahmen sie oft eine Strecke von mehreren tausend Kilometern in Kauf, und das obwohl sie sich der Gefährlichkeit der Straße durchaus bewusst waren.73 Den Urlaub in Deutschland zu verbringen, war für viele ArbeitsmigrantInnen damals so gut wie undenkbar. Auch für Goran M., dessen Familie aus Serbien stammte und der als Kind nach Deutschland gekommen war, stellte die Reise ein wiederkehrendes Ereignis dar, das mit dem Beginn 70 Vgl. Unbekannt, Laßt Taten folgen, in: Auto Touring 10 (1988), S. 109. 71 Kleine Zeitung (21.12.1969). 72 Süddeutsche Zeitung (5.8.1980). 73 Manche ArbeitsmigrantInnen waren regelmäßig zwischen Norddeutschland und Anatolien unterwegs, wie Interviews des Autors mit ehemaligen „GastarbeiterInnen“, die heute in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, gezeigt haben. Die folgenden Ausführungen sind Ergebnisse dieser Interviews.

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der Sommerferien zusammenviel. Die jährlichen Fahrten zu seinen Großeltern beschreibt er als wichtigen Teil seiner Kindheit. Das war eine Prozedur, die jedes Jahr kam. Also sobald die Schule frei hatte, die Sommerferien, sechs Wochen; von den sechs Wochen hat man dann fünf Wochen in Serbien verbracht. Das gehörte zum Leben dazu, das ist ein Ritual, was jährlich wieder kommt. Das ist wie es so schön in diesem Film ist: Und täglich grüßt das Murmeltier. Das gehörte einfach zum Leben dazu. […] Also das ist schon ein fester Bestandteil des Lebens. Es ist ja nicht so gewesen, dass man einen Sommer fährt, dann fährt man fünf Sommer nicht oder, dass man einen Sommer nach Jugoslawien fährt und dann nach Spanien, nach Italien, das war ja nicht der Fall. Das heißt es war ein fixer Punkt, das war klar: Sommerferien, Jugoslawien, Punkt.74

Wie in der Familie von Goran M. war es auch in anderen Familien üblich, den Urlaub im Herkunftsland zu verbringen. Kaum jemand zog in Betracht, zur Ferienzeit wo anders hinzufahren. Die jährlich wiederkehrende Reise wurde meist von vielen Ritualen begleitet. Solche Rituale betrafen bereits die Reisevorbereitungen, zu denen vor allem das Besorgen der Geschenke für Ver­ wandte gehörte, sowie die Fahrt selbst, bei der man häufig an denselben Orten Rast machte. Auch in der Steiermark gab es Orte, an denen gerne Rast gemacht wurde. Dies waren häufig Rastplätze mit Imbisstuben, wo Hähnchen oder Fisch angeboten und die gezielt für die durchreisenden ArbeitsmigrantInnen beworben wurden. Frau Meryem A., die die Fahrten in die Türkei immer gemeinsam mit ihrem Mann und den Kindern unternommen hat, erinnert sich noch gut da­ ran. „Wenn wir nach Österreich fuhren, gab es immer sehr schöne Hähnchen. Da waren immer türkische Fahnen und da stand alles auf Türkisch geschrieben. Mittagessen auf Türkisch: halbes Hähnchen oder Fisch, gegrillter Fisch. Da standen unterwegs, ein paar Kilometer vorher, schon Schilder, hier gibt es Mittagessen. […] Das fand ich toll.“75 Signifikante Orte waren vor allem auch die jeweiligen Grenzen, die auf der Fahrt ins Herkunftsland passiert werden mussten. Der Grenzübergang Spielfeld war ebenfalls ein solcher, der unter den ArbeitsmigrantInnen für seine Rückstauungen und langen Wartezeiten bekannt war. Während jedoch die jugoslawischen MigrantInnen mit dem Grenzübertritt ihr Herkunftsland erreicht hatten und dem Ziel ihrer Reise schon nahe kamen, hatten die türkischen ArbeitsmigrantInnen noch eine weite Strecke vor sich.

74 Interview mit Goran M., 30.4.2010. 75 Interview mit Mervem A., 31.3.2010.

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An dieser Stelle darf nochmals festgehalten werden, dass die Integration der südosteuropäischen Staaten in den internationalen Arbeitsmarkt Millionen Menschen in Bewegung setzte. Eine Konsequenz daraus war die massive Zunahme des Transitverkehrs durch die Steiermark. Die „Gastarbeiterroute“ galt dabei als eine der unfallgefährlichsten Straßen in ganz Österreich. Obwohl die AnrainerInnen der Straße und die durchreisenden ArbeitsmigrantInnen meist sehr unterschiedliche Perspektiven auf diesen Migrationsweg hatten, blieb entlang der Straße noch genügend Platz für so manche unerwartete Begegnung. So beschreibt etwa Hans K. eine Begegnung mit muslimischen ArbeitsmigrantInnen, die am Straßenrand gebetet haben, als ein faszinierendes Ereignis in seiner Kindheit, das ihm bis heute lebhaft in Erinnerung blieb.76 Das Ende der „Gastarbeiterroute“ brachte der Kriegsbeginn in Jugoslawien im Jahr 1991, doch ergab sich durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs, zumindest für die türkischen ArbeitsmigrantInnen, die Möglichkeit, eine alternative Route zu wählen. Heute ist die „Gastarbeiterroute“ ein Erinnerungsort der Arbeitsmigration und das nicht nur für die MigrantInnen, die auf dieser Route unterwegs waren, sondern auch für die Menschen, die entlang der Straße lebten. Für die Anrainergemeinden ist die Straße weiterhin ein Teil der regionalen Identität. Im Jahr 2005 schlossen sich etwa sieben obersteirische Gemeinden zum Tourismusverbund „Rastland“ zusammen, wobei die Namenswahl auf die Zeit verweist, „als die Leute auf der klassischen Gastarbeiterroute nach Süden gefahren sind“, wie ein verantwortlicher Tourismusexperte festhält.77

S chlussüberlegung Mit den hier vorgestellten Beispielen sollte aufgezeigt werden, dass Migrationen auch in der Steiermark kein hauptsächlich in den letzten Jahren auftretendes Phänomen sind, wie vor allem von jenen, die die durch Migrationen entstehende Heterogenität der Gesellschaft ablehnen, immer wieder behauptet wird, sondern eine lange zurückreichende historische Kontinuität aufweisen, sozusagen den „Normalfall“ der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen. Was die Themenfelder der aktuellen Migrationsdebatten anlangt, ist darauf hinzweisen, dass sie in erster Linie politisch bestimmt sind. Das Thema „Migration“ wurde seit den 1980er Jahren vor allem von den zunehmend nationalistisch agierenden Parteien politisch funktionalisiert, unter anderem dadurch, dass vorhandene Ängste – dabei sind vor allem jene vor einem Verlust des 76 Interview mit Hans K., 20.10.2011. 77 Kleine Zeitung (01.03.2005).

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Arbeitsplatzes zu nennen – der Bevölkerung aufgegriffen und dadurch verstärkt wurden. In diesem Zusammenhang entstand auch – nicht zufällig – der ausschließlich negativ konnotierte Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“. Der Versuch, in einem anderen Land als dem Geburtsland ein ökonomisch gesichertes Leben zu führen, wurde als regelrecht verwerflich dargestellt, Arbeitsmigrationen ausschließlich in ein negatives Licht gerückt, auch in der Steiermark, die durch Arbeitsmigrationen verschiedenster Art eine deutliche Prägung erfahren hat, eine Tatsache, die allerdings für lange Zeit weder im kollektiven Gedächtnis verankert war noch wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Dass auf die migrationsskeptische Einstellung der Bevölkerung, für die auch der nicht aufgearbeiteten Rassismus der NS-Zeit – in der ein nicht unbeträchtlicher Teil der heute in Österreich lebenden Menschen sozialisiert wurde – zweifellos eine wichtige Rolle spielt,78 mit sukzessiven Verschärfungen der diesbezüglichen Gesetze, wie etwa dem Asylgesetz, und nicht bzw. erst spät mit integrationsfördernden Maßnahmen reagiert wurde, hat nicht zur Entspannung der Lage beigetragen, sondern zu einer Zunahme der Fremdenfeindlichkeit geführt, wie die 2014 stattgefundenen Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Aufnahme von Flüchtlingen – und das in diesem Zusammenhang erfolgte unwürdige Feilschen über die Anzahl der aufzunehmenden Personen im jeweiligen Bundesland, sowie in Gemeinden, die als Aufnahmestationen in Betracht kamen – aus Syrien zeigen. Sie stellen einen weiteren traurigen Beleg 78 Hier soll auch darauf hingewiesen werden, dass für die gesetzliche Regelung der Arbeitsmigration bis lange Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die geringe Distanzierung von der entsprechenden NS-Gesetzgebung charakteristisch war. So wurde die Polizeiverordnung von 1938 erst 1954 vom neuen Fremdenpolizeigesetz abgelöst. Bevor das Ausländerbeschäftigungsgesetz 1975 in Kraft trat, galt die 1941 in Österreich übernommene deutsche Verordnung über ausländische Arbeit­ nehmer vom Jänner 1933. Diese Verordnung wurde in Österreich zwar mittels Erlässen vor und nach 1945 novelliert, allerdings wurden diese Novellierungen der Verordnung über ausländische Arbeitnehmer von 1933 nach einer Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes im Jahre 1959 als verfassungswidrig erklärt, womit die Verordnung in ihrer Form von 1933 wieder in Kraft trat. Mit dem Inkrafttreten des Betriebsrätegesetzes 1947 wurden Möglichkeiten, dass sich „staatsfremde Arbeiter in Betrieben mit hohem Ausländeranteil theoretisch in der Gewerkschaftshierarchie hoch arbeiten könnten und somit den Versuch starten können, die Ausgrenzung von Ausländern in der paritätischen Vergabe von Beschäftigungsbewilligungen zu untergraben (...)“ gesetzlich unterbunden. Erst im Jahre 2006 wurde nach Interventionen von EU-Kommissionen das passive Betriebsratswahlrecht für MigrantInnen eingeführt. Vgl. Bakondi, Winter, Marginalisierte Perspektiven, S. 27–28.

Migration als historische Normalität am Beispiel des Migrationsraums Steiermark | 121

für eine tendenziell ablehnende Haltung gegenüber MigrantInnen in Österreich dar. Ob die in der Steiermark zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Angehörigen der Aufnahmegesellschaft und MigrantInnen im Jahre 2011 vom Steiermärkischen Landtag beschlossene „Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark“, welche als Grundlage zahlreicher seither erfolgter Bemühungen und Maßnahmen um Integration in der Steiermark fungiert und österreichweit große Beachtung gefunden hat, eine gravierende Veränderung dieser negativen Einstellung erreichen kann, wird sich noch herausstellen, allerdings besteht kein Zweifel daran, dass sie als wichtiger Schritt in die richtige Richtung zu betrachten ist.

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Migration als historische Normalität am Beispiel des Migrationsraums Steiermark | 123

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Menschenrechte zwischen Anspruch und Realität: Von der Menschenrechtsstadt Graz zur Menschenrechtsregion Steiermark Wolfgang Benedek

E inleitung Die Menschenrechte sind heute in Österreich kaum noch kontrovers. Es besteht ein breiter Grundkonsens darüber, dass diese in unserer Gesellschaft einzuhalten sind, während von manchen Ländern des Ostens oder globalen Südens das „westliche Konzept“ der Menschenrechte in Frage gestellt wird. Dieser Grundkonsens beruht auf der innerstaatlichen Tradition der Grundrechte, die auf das Staatsgrundgesetz von 1867 zurückgeht und durch die Anerkennung der Grundrechtecharta der Europäischen Union von 2000 als mögliches Verfassungsrecht bekräftigt wurde.1 Bereits im Jahr 1964 wurde die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 durch das österreichische Parlament in den Verfassungsrang erhoben. Zusammen mit den in einer Vielzahl von Konventionen der Vereinten Nationen verbrieften Menschenrechten, bilden diese Dokumente die Grundlage für die menschenrechtlichen Verpflichtungen Österreichs.

1 Siehe Verfassungsgerichtshof, Urteil vom 14. März 2012 in der Rechtssache U 466/11.

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M enschenrechte

zwischen

A nspruch

und

R ealität

Die Einhaltung dieser Grund- und Menschenrechte ist jedoch nicht nur eine Sache des Staates, sondern eine gemeinsame Verantwortung aller. Dies soll im folgenden anhand von Städten und Regionen, die sich ausdrücklich zu den Menschenrechten bekennen, näher erläutert werden. Menschenrechtsprobleme treten oft auf lokaler oder regionaler Ebene auf und sollten auch dort gelöst werden. Gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 sollen sich jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft bemühen, durch Unterricht und Achtung diese Rechte und Freiheiten zu fördern und durch Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereich ihre Verwirklichung in der Bevölkerung zu gewährleisten. Dies spricht auch die soziale Verantwortung der Universität an, sowohl im Bereich der Menschenrechtsbildung durch die Lehre als auch im Bereich der Forschung ihren Beitrag zu leisten. Leider zeigt eine im Auftrag des Wissenschaftsministeriums vom Europäischen Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie der Universität Graz (UNI-ETC) erstellte Studie, dass hier österreichweit noch große Defizite und somit ein Aufholbedarf bestehen.2 Die Universität Graz hat in dieser Hinsicht bereits in den 1990er Jahren mit der Einrichtung eines Menschenrechtspreises ein Zeichen gesetzt. Damit sollen Menschen, die hervorragende Leistungen für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Menschenrechte erbracht haben, ausgezeichnet werden. So ging der letzte Menschenrechtspreis der Universität Graz an den international bekannten Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim, der mit seinem west-östlichen Divan-Orchester für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Volksgruppen im Nahostkonflikt eintritt. Im Jahr 2009 wurde das UNIETC als Zentrum der rechtswissenschaftlichen Fakultät mit einer Ausrichtung auf die Gesamtuniversität eingerichtet, während die Kooperation mit dem seit 1999 bestehenden außeruniversitären ETC Graz bestehen blieb. Beide Teile bieten ein breites Lehr- und Veranstaltungsprogramm zu den Menschenrechten und sind darüber hinaus auf lokaler und internationaler Ebene in einer Reihe von Forschungsaktivitäten involviert, die Graz zu einem Zentrum der Menschenrechtsforschung haben werden lassen.

2 Vgl. Wolfgang Benedek, Nora Scheucher, Menschenrechtsbildung an österreichischen Universitäten. Ergebnisse der Basisstudie für Österreich, in: Claudia Brunner, Josefine Scherling (Hg.), Jahrbuch Friedenskultur 2012: Bildung, Menschenrechte, Universität. Menschenrechtsbildung an Hochschulen im Wandel als gesellschaftliche Herausforderung, Klagenfurt 2012, S. 159–170.

Menschenrechte zwischen A nspruch und Realität | 127

Wenn wir heute um uns blicken, finden wir die gravierendsten Menschen­ rechts­verletzungen derzeit in Syrien, wo seit Jahren ein erbitterter Krieg tobt, der bereits Millionen von Flüchtlingen verursacht hat. Obwohl diese Vorgänge wie im Schaufenster beobachtet werden können und die Vereinten Nationen im Jahr 2006 sich zum Grundsatz einer Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) bekannt haben,3 wirken in diesem Fall die durch regelmäßige Berichte des Menschenrechtsrates informierten Vereinten Nationen, insbesondere der Sicherheitsrat, wie gelähmt.4 Der hohe Anspruch der Menschenrechte lässt sich oft aus politischen Gründen nicht erfüllen. Auch Österreich ist im Hinblick auf die Erfüllung der Menschenrechte keine „Insel der Seligen“, wie etwa die Jahresberichte der Österreichischen Liga für Menschenrechte oder von Amnesty International zeigen.5 Im Jahr 2011 hatte sich Österreich wie alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auch der regelmäßigen Überprüfung seiner Menschenrechtssituation durch einen so genannten Peer Review zu unterziehen. Als Mitglied des Menschenrechtsrates nahm es diese Prüfung, die wie auch bei anderen Ländern üblich mehr als 100 Empfehlungen ergab, besonders ernst. Derzeit erfolgt die Umsetzung dieser Empfehlungen in Kooperation mit der Zivilgesellschaft und den betroffenen Ministerien. Dies zeigt, dass es auch in Österreich viel Raum für Verbesserung gibt. Die nächste Prüfung wird im Jahr 2015 erfolgen. Eine besondere Herausforderung ist die Umsetzung der Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1950 im Rahmen des Asyl- und Flüchtlingsrechts der Europäischen Union. Mangels der Bereitschaft der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zur Aufteilung der Flüchtlinge im Sinne einer europäischen Solidarität haben manche Länder wie Italien, Deutschland, aber auch Österreich mit hohen Flüchtlingszahlen zu kämpfen. Andererseits stellt die Europäische Union eine der stärksten institutionellen Kräfte für die Menschenrechte dar. Trotzdem hat es den Anschein, als würden die Werte Europas im Mittelmeer ertrinken, wo jedes Jahr Tausende Opfer der von Schleppern organisierten Überfahrten gezählt werden. Inzwischen hat die Europäische Union 3 Siehe GV-Res. 60/1 als Ergebnis des Weltgipfels 2005, Abs. 138 und 139. 4 Vgl. Karen Abuzayd u.a., The Imperative of a Political Settlement in Syria: Perspectives of the UN Independent Commission of Inquiry, in: Wolfgang Benedek u.a. (Hg.), European Yearbook on Human Rights 2013, Wien–Graz 2013, S. 19–30. 5 Österreichische Liga für Menschenrechte, Menschenrechtsbefund 2014, abrufbar unter:

http://www.liga.or.at/wp-content/uploads/MRB-2014-digi.pdf

(20.1.2015);

Amnesty International, Amnesty International Report 2013. The State of the World’s Human Rights, abrufbar unter: http://files.amnesty.org/air13/AmnestyInternational_ AnnualReport2013_complete_en.pdf (20.1.2015).

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auf die Kritik reagiert und durch die Aktion Mare Nostrum mit Hilfe der italienischen Marine viele Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Doch Italien sieht sich außer Stande, all diese Flüchtlinge, darunter zunehmend Kriegsflüchtlinge aus Syrien, aufzunehmen und lässt sie mangels eines europäischen Verteilungssystems oft weiter ziehen. An den österreichischen Grenzen, wie etwa am Brenner, werden diese dann zurückgewiesen, da nach dem Dublin-System Italien zuständig ist, ihr Asylverfahren durchzuführen. Schaffen es die Flüchtlinge aus Italien nach Österreich, werden sie nach demselben System von der österreichischen Polizei zurückgeführt. So spricht die italienische Polizei von rund 5.000 von Österreich zurückgewiesenen Flüchtlingen allein für das Jahr 2014.6 Wenn man den Herkunftsstaat der Flüchtlinge jedoch nicht bestimmen kann, so hat Österreich das Asylverfahren durchzuführen und auch hier gab es in den letzten Jahren einen stetigen Anstieg, der 2014 in einer Zahl von etwa 25.000 Asylanträgen gipfelte.7 Deren Unterbringung stellt die gemeinsam mit dem Innenministerium zuständigen Ländern vor große Probleme, insbesondere da manche Gemeinden sich weigern, eine größere Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Damit rücken ferne Konflikte und Menschenrechtsprobleme direkt vor unsere Haustüre, wir sind mit Menschen aus Tschetschenien, Afghanistan oder Syrien, die durch schreckliche Erfahrungen in ihrer Heimat oder auf der Flucht oft traumatisiert sind, unmittelbar konfrontiert. Dadurch stellt sich vor Ort die Frage der Realität der Menschenrechte, etwa in Form der Aufnahme und Behandlung von Flüchtlingen und darüber hinaus in der Frage des Umgangs mit Menschen anderer Herkunft, mit Fremden aus fernen Ländern, die oft eine andere Religion haben und aus einer anderen Kultur kommen. Hier lassen sich leicht Ängste schüren, worin auch ein Rezept populistischer Parteien liegt, um Wählerstimmen zu gewinnen. Der menschenrechtskonforme Umgang mit Menschen anderer Herkunft ist heute europaweit zu einer der großen Herausforderungen geworden. Wie Zahlen der in Wien ansässigen Europäischen Grundrechteagentur zeigen, haben wir es europaweit mit zunehmenden Problemen der Diskriminierung, ja des Rassismus, gegen andere ethnische Gruppen zu tun. Zugleich wird auch ein zunehmender Antisemitismus beobachtet. Besonders betroffen sind verletzliche Gruppen wie die Roma und Sinti, die zwar in Europa die größte ethnische Minderheit darstellen, jedoch in so gut wie allen Ländern, in denen sie leben oder sich aufhalten, Diskriminierungen ausgesetzt sind. Die Menschenrechte gelten jedoch für alle, wie schon der Titel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 6 Vgl. Die Presse, 5. Jänner 2015, S. 9. 7 Bundesministerium für Inneres, Asylwesen. Statistiken 2014, abrufbar unter: http:// www.bmi.gv.at/cms/BMI_Asylwesen/statistik/start.aspx (20.1.2015).

Menschenrechte zwischen A nspruch und Realität | 129

der Vereinten Nationen zeigt. Gemäß Artikel 21 der Grundrechtecharta der Europäischen Union ist jede Form der Diskriminierung, insbesondere aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, der Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung und anderen Gründen, verboten. Entsprechende Richtlinien der EU waren von den Mitgliedsstaaten im nationalen Recht umzusetzen.8 Artikel 22 der Grundrechtecharta enthält ein Bekenntnis zur Vielfalt, in dem kurz und klar festgehalten wird: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“ Dies entspricht den in Artikel 3 des Vertrages über die Europäische Union festgehaltenen Zielen der Union, darunter dem Ziel der Wahrung des Reichtums der kulturellen und sprachlichen Vielfalt Europas. Religiöse Intoleranz und die Manipulation von Ängsten im Sinne einer Islamophobie stehen im diametralen Gegensatz zu diesen Selbstverpflichtungen. Derartige Diskussionen finden jedoch täglich an den Stammtischen oder in den Medien und somit mitten unter uns statt. Gerade auf der kommunalen und regionalen Ebene wirkt sich Rassismus dramatisch auf die Lebenssituation der Betroffenen, aber auch auf das Gemeinwesen insgesamt aus.9 Umso wichtiger sind klare Aussagen der Politik und gesellschaftlich relevanter Akteure zu diesen Problemkreisen. In diesem Zusammenhang ist die in einem breiten Vorbereitungsprozess ausgearbeitete Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark hervorzuheben, die 2011 vom Landtag Steiermark beschlossen wurde. Der darin angestrebte „zukunftsorientierte Umgang mit der gesellschaftlichen Vielfalt“ und dem Bekenntnis zur Entwicklung einer offenen Gesellschaft auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention erscheint auch aus heutiger Sicht zukunftsweisend. Der Ansatz der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeit für alle EinwohnerInnen und der Abstellung 8 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft; Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf; Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancen­ gleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen. 9 Vgl. Simone Philipp, Klaus Starl, Lebenssituationen von Schwarzen in urbanen Zen­ tren Österreichs. Bestandsaufnahme und Implikationen für nationale, regionale und lokale Menschenrechtspolitiken. ETC, Graz 2013. Vgl. auch Simone Philipp, Isa­bella Meier, Klaus Starl, Margareta Kreimer, Auswirkungen von mehrfachen Diskri­ minierungen auf Berufsbiografien. Eine empirische Erhebung, Wiesbaden 2014.

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jeder Diskriminierung sowie das Bekenntnis zur Vielfalt auf Grundlage der Chancengleichheit sind geeignet, eine gute Grundlage für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft zu ermöglichen und damit zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen. Die steirische Landesverwaltung will damit ein Vorbild für die Regionen, Städte und Gemeinden der Steiermark geben, in denen das tägliche Zusammenleben stattfindet.10

Von der M enschenrechtsstadt M enschenrechtsregion

zur

Die Stadt Graz hat sich bereits 2001 zur Menschenrechtsstadt erklärt. In der Menschenrechtserklärung vom 8. Februar 2001 hat der Grazer Gemeinderat einstimmig beschlossen, dass sich die Stadt Graz in ihrem Handeln von den internationalen Menschenrechten leiten lassen wird und dabei auch VerantwortungsträgerInnen in Körperschaften, Organisationen und Vereinen einbinden will. Defizite im Bereich der Menschenrechte sollen aufgefunden und darauf soll entsprechend reagiert werden. Die EinwohnerInnen, insbesondere die Jugendlichen, sollen über geltende Menschenrechte und ihre damit verbundenen Rechte und Pflichten informiert werden.11 Auf dieser Grundlage hat die Stadt Graz eine Reihe von Schritten gesetzt, um die Menschenrechtsstadt zu institutionalisieren. Im Jahr 2003, als Graz Europäische Kulturhauptstadt war, gab es auch ein Projekt unter dem Titel Kultur der Menschenrechte. Im Jahr 2006 trat die Stadt Graz der auf Initiative der UNESCO gegründeten Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus bei. Im Jahr 2007 wurde der Menschenrechtsbeirat der Stadt eingerichtet, der seither einen jährlichen Menschenrechtsbericht erstellt, in dem nach dem System der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte menschenrechtlich relevante Fragen analysiert und Empfehlungen erstattet werden. Als Geschäftsstelle fungiert das ETC Graz. Seit 2007 findet bei allen Gemeinderatswahlen ein menschenrechtliches Wahlkampfmonitoring des Menschenrechtsbeirates statt. 2008 gab es gemeinsam mit dem ORF-Landesstudio Steiermark das Projekt Facing Nations, das 123 übergroße Ölbilder von in Graz lebenden MigrantInnen zeigte. 2012 wurde gemeinsam mit dem Land Steiermark die Antidiskriminierungsstelle, eine 10 Siehe die Charta des Zusammenlebens in Vielfalt, http://www.landtag.steiermark.at/ cms/beitrag/11398924/58064506/ (29.1.2015). 11 Siehe Menschenrechtserklärung der Stadt Graz, abrufbar unter: www.graz.at/cms/ ziel/5885402/DE/ (20.1.2015).

Menschenrechte zwischen A nspruch und Realität | 131

langjährige Forderung des Menschenrechtsbeirates, verwirklicht. 2013 wurde anlässlich einer großen interreligiösen Konferenz (ComUnitySpirit) die Grazer Deklaration über Dialog zwischen den Glaubensrichtungen verabschiedet.12 Eine Reihe von Institutionen befassen sich mit Teilaspekten der Men­ schenrechtsthematik, wie etwa der MigrantInnenbeirat, der Interreligiöse Beirat oder der Behindertenbeirat, während das Büro für Frieden und Entwicklung, die Integrationsabteilung der Stadt Graz, oder das Afro-Asiatische Institut sowie die Kulturvermittlung Steiermark, letztere hinsichtlich des Programms Writers in Exile, wesentliche Beiträge leisten. Als Geschäftsstelle des Menschenrechtsbeirates dient das Europäische Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie (ETC), das den Menschenrechtsstadtprozess von allem Anfang an unterstützt und begleitet hat. Mit einer Landeshauptstadt als erster europäischer Menschenrechtsstadt – inzwischen haben sich auch Salzburg und Wien zu Menschenrechtsstädten erklärt – war es naheliegend, auch die Frage nach einer Menschenrechtsregion Steiermark zu stellen. Nachdem ich diesen Vorschlag anlässlich eines Vortrages zum Tag des Rechtsstaates in der Grazer Burg unterbreiten konnte, fand als erster Schritt am 9. Dezember 2009 eine Enquete „Menschenrechte“ des Landtages Steiermark statt.13 Bei dieser Veranstaltung im Grazer Gemeinderatssaal wurden verschiedene Bereiche der Menschenrechte behandelt und dann in Workshops vertieft. So befasste sich Workshop I mit „Die Steiermark als Menschenrechtsregion“. In meinem Eröffnungsreferat über die Menschenrechtsstadt Graz konnte ich eine Reihe von Anknüpfungspunkten für die Entwicklung einer Menschenrechtsregion aufzeigen. So verfügt die Steiermark über eine Reihe von menschenrechtlich relevanten Einrichtungen wie die Kinder- und Jugendanwaltschaft, die Behindertenanwaltschaft, die Gleichbehandlungsbeauftragte oder die Patien­ tenombudsstelle, und es gibt auch eine Menschenrechtskoordinatorin. Darüber hinaus vergibt das Land Steiermark seit Jahren einen Menschenrechtspreis. Das ORF-Landesstudio Steiermark versteht sich auch als Menschenrechtsstudio und hat schon zwei Filme über die Menschenrechtsstadt Graz gedreht, wovon einer, der einen Vergleich von Menschenrechtsstädten in verschiedenen Weltregionen darstellt, auch weltweit auf Interesse gestoßen ist.14

12 Siehe ComUnitySpirit, www.interrelgraz2013.com (20.1.2015). 13 Siehe Landtag Steiermark, XV. Gesetzgebungsperiode, http://www.landtag.steiermark.at/cms/beitrag/11208856/5076210/ (29.1.2015). 14 Menschenrechtsstädte dieser Welt / Human Rights Cities of the World, ein Film von Gernot Lercher und Erhard Seidel, Idee und Organisation Michael Schaller, Leitung Gerhard Draxler, siehe www.menschenrechtsstadt.at (20.1.2014).

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Eine Reihe von Institutionen der Zivilgesellschaft, aber auch des Landes befassen sich bereits mit menschenrechtlichen Themen, etwa die ARGE Jugend gegen Gewalt, die Caritas, ISOP (Innovative Sozialprojekte) oder, wenn es um die Kulturszene geht, Rotor – Zentrum für zeitgenössische Kunst. Im Bereich der Sicherheitsexekutive finden die Menschenrechte in den Polizeitrainings regelmäßige Beachtung. Auch die Universität Graz ist aktiv, wo es unter anderem ein interdisziplinäres Doktoratsprogramm Menschenrechte, Demokratie, Diversität und Gender sowie eine Reihe anderer Angebote, wie etwa einen Ausbildungsschwerpunkt Menschenrechte an der rechtswissenschaftlichen Fakultät, gibt. Auch andere steirische Universitäten befassen sich immer wieder mit menschenrechtlichen Themen. Die Steiermark hat ebenso als Standort und Veranstaltungsort für menschenrechtlich relevante Themen an Bedeutung gewonnen, wobei etwa die Sommer­ schulen des ETC in Graz,15 ein Treffen von MenschenrechtsbildungsexpertInnen aus aller Welt in Seggauberg oder die Europaratskonferenz anlässlich des österreichischen Europaratsvorsitzes im März 2014 Shaping the Digital Environment: Ensuring our Rights on the Internet16 zu erwähnen sind. Hier besteht die Möglichkeit, einen Standortvorteil durch eine internationale Positionierung der Steiermark im Bereich der Menschenrechte zu gewinnen. Hervorzuheben sind auch die UNESCO-Schulen in der Steiermark, die sich immer wieder mit Menschenrechtsfragen befassen, oder die Richteraus- und -fortbildung im Bereich Antidiskriminierung und Menschenrechte am für Steiermark und Kärnten zuständigen Oberlandesgericht Graz in Kooperation mit dem ETC,17 ein jährliches Fortbildungsseminar für Mitglieder der Sicherheitsexekutive aus ganz Österreich oder die Vortragsreihe an der Universität Graz mit der islamischen Religionsgemeinde für Steiermark und Kärnten über Integration und Beteiligung der Muslime in der Gesellschaft.18 Das im Auftrag des Außenministeriums ent15 So fand im September 2014 eine internationale Sommerakademie zum Thema How to manage Human Rights and the City statt, die vom ETC Graz organisiert wurde, siehe www.etc-graz.at (20.1.2015). 16 Siehe Europarat-Konferenz zu Internet und Menschenrechten in Graz, derStandard.at vom 6. März 2014. 17 Die Menschenrechtsbildung der österreichischen Justiz ist auch international sehr anerkannt. Vgl. auch Klaus Starl, Human Rights Education for the Judiciary to improve Access to Justice for All, in: Benedek u.a. (Hg.), Global Standards – Local Action, Vienna 2009, sowie Klaus Starl, Veronika Apostolovski, Ingrid Nicoletti, Human rights education for the judiciary – an assessment of a decade of training experience, in: Benedek u.a. (Hg.), European Yearbook on Human Rights 2015, im Erscheinen. 18 Vgl. Wolfgang Benedek, Kamel G. Mahmoud (Hg.), Der Islam in Österreich und

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wickelte Handbuch der Menschenrechtsbildung Menschenrechte verstehen, das heute in mehr als 15 Sprachen weltweit verfügbar ist,19 wurde ebenfalls in Graz durch das ETC erarbeitet. Auch andere Regionen, wie die italienische Region Veneto, bekennen sich zu den Menschenrechten. So hat diese Region seit 1999 eine eigene Rechtsgrundlage für „regionale Maßnahmen zur Förderung der Menschenrechte, einer Kultur des Friedens, Entwicklungszusammenarbeit und Solidarität“20 geschaffen und einen Ausschuss für Menschenrechte und die Kultur des Friedens eingerichtet, der aus VertreterInnen der lokalen Behörden, der Zivilgesellschaft, der akademischen Welt, der Wirtschaft und der Sozialpartner besteht. Er berät die Regionalregierung bei der Umsetzung der jährlichen Aktionspläne im Rahmen eines Dreijahresprogrammes. Darüber hinaus bestehen eine Reihe einschlägiger Institutionen, wie die einer Ombudsperson. Die wissenschaftliche Betreuung erfolgt vor allem über das Menschenrechtszentrum der Universität Padua. Die Region Veneto könnte daher in mancher Hinsicht als Beispiel guter Praxis gesehen werden. Die soziale Innovation der Menschenrechtsstadt Graz hat inzwischen eine Ausstrahlung auf andere europäische Städte entwickelt.21 Neben Salzburg und Wien haben auch Utrecht, zeitweilig auch die Gemeinde Pöls und andere europäische Städte sich dieser Erfahrung für eigene Ansätze bedient. Weiters war Graz im Wege des ETC bei der Entwicklung der Menschenrechtsstadt Utrecht beratend tätig.22 Das Beispiel der Stadt Wien ist für die im Aufbau befindliche Menschen­ rechtsregion Steiermark von besonderem Interesse, da Wien ja nicht nur Bundeshauptstadt, sondern auch ein Bundesland ist. Die dort in der Ausar­ beitung der Menschenrechtserklärung und in der Startphase gewonnenen in Europa: Die Integration und Beteiligung der Muslime und Musliminnen in der Gesellschaft, Graz 2011. 19 Vgl. Wolfgang Benedek (Hg), Understanding Human Rights. Manual on Human Rights Education, Wien–Graz 2012, sowie www.manual.etc-graz.at (20.1.2015). 20 Siehe den Bericht über die Region Veneto, in: Italian Yearbook of Human Rights 2013, Brüssel u.a. 2013, S. 141–154. 21 Zu den positiven Aspekten einer kommunalen Menschenrechtspolitik vgl. Andreas Accardo, Jonas Grimheden, Klaus Starl, The Case for Human Rights at Local Level: A Clever Option?, in: Wolfgang Benedek u.a. (Hg.), European Yearbook on Human Rights 2012, Wien–Graz 2012, S. 33–45. 22 Vgl. Barbara Oomen, Moritz Baumgärtel, Human Rights Cities, in: Anja Mihrand, Mark Gibney (Hg.), The SAGE Handbook of Human Rights, Volume II, London 2014, S. 709–729.

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Erfahrungen sind auch für die Institutionalisierung einer Menschenrechtsregion Steiermark relevant. Die relativ ausführliche Menschenrechtserklärung, die vom Wiener Gemeinderat am 19. Dezember 2014 angenommen wurde, war sowohl durch eine grundlegende Studie, Projekte des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte und eine Bestandsaufnahme in Form eines Berichts der Menschenrechtskoordinatorin der Stadt Wien zusammen mit der Prozesskoordinatorin sowie verschiedene Veranstaltungen unter Einbezug einer Reihe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vorbereitet worden. Als nächste Schritte werden die Entwicklung eines Maßnahmenplans für vier Jahre, die institutionelle Verankerung der Menschenrechte in der Verwaltung als Querschnittsthema sowie die Einrichtung eines internen sowie eines externen Monitorings genannt. Die Deklaration bekennt sich zu einer umfassenden Beteiligung der Zivil­ ge­ sellschaft sowie zur Förderung des Menschenrechtslernens unterschiedlicher Akteure durch die Stadt, wozu unter anderem bereits Volkshoch­ schul­ veranstaltungen geplant sind. Von besonderem Interesse ist, dass ein externes Monitoringgremium von unabhängigen ExpertInnen eingerichtet werden soll, um Menschenrechtsprobleme zu identifizieren und die Umsetzung von Maßnahmen zu beobachten. Dieses Gremium soll auch Empfehlungen abgeben und einen regelmäßigen Bericht veröffentlichen. Bei der Ausarbeitung des Maßnahmenplans soll die zivilgesellschaftliche Expertise entsprechend einfließen.23 Hinsichtlich des internationalen Interesses ist auch hervorzuheben, dass schon zwei Mal eine koreanische Delegation die Menschenrechtsstadt Graz besucht hat, um sich über deren Zielsetzungen und Fortschritte zu informieren. Nach einem ersten Besuch im Jahr 2006 wurde in Gwangju ein jährliches internationales Treffen von Menschenrechtsstädten und -regionen eingerichtet.24 Dieses Forum verabschiedete 2012 auch Guidelines for a Human Rights City. Im Jahr 2014 fand der zweite Besuch in der Menschenrechtsstadt Graz statt. Auch zu einer internationalen Tagung in Rabat, Marokko, wurde das ETC Graz eingeladen, um das Beispiel der Stadt Graz zu präsentierten.25 International ist das Beispiel der Stadt Graz auch bei der Grundrechteagentur der Europäischen Union in Wien auf Interesse gestoßen, welche sich in ei23 Siehe die Deklaration auf der Webseite, Wien – Stadt der Menschenrechte, https:// www.wien.gv.at/menschen /integration /projektarbeit/menschenrechtsstadt/ (20.1.2015). 24 Vgl. World Human Rights Cities Forum 2012, Gwangju, 16.–17. Mai 2011, Session Presentation and Reference Documents, Gwangju 2012. 25 Forum Régional des Droits de l’Homme: Pour une ville digne de ses habitants, Rabat, 27.–28. September 2014.

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nem Projekt mit der Stärkung der Menschenrechte auf lokaler Ebene, insbesondere mit Fragen einer joined-up governance im Bereich des Grund- und Menschenrechtsschutzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Verwaltungsebenen befasst und dafür eine eigene tool box entwickelt hat.26 Auch der Europarat hat im Rahmen seines Kongresses der Gemeinden und Regionen besonderes Interesse am Beispiel der Stadt Graz gezeigt. So fand im Dezember 2013 eine Tagung zu Menschenrechten auf lokaler Ebene in Graz statt.27 Dabei wurden verschiedene Empfehlungen vorgestellt, die der Kongress seit 2010 zu dieser Thematik beschlossen hat.28 Eine weitere große Tagung des Europarates zu diesem Thema ist für Mai 2015 in Graz geplant. Dabei werden auch Vorschläge diskutiert, das ETC Graz in Kooperation mit der Stadt Graz und dem Land Steiermark zu einer Unterstützungseinrichtung für den Europarat in diesem Bereich auszubauen. Während die Vorschläge der Enquete im Jahr 2009 nicht zuletzt aufgrund der darauffolgenden Landtagswahlen vorerst nicht weiter verfolgt wurden, ermöglichte es der mit der „Charta der Vielfalt“ eingeleitete Prozess der zuständigen Landesrätin Vollath, dieses Thema wieder aufzugreifen und so wurde in der XVI. Gesetzgebungsperiode ein Entschließungsantrag verabschiedet, wonach aufbauend auf der Aufgabe, menschenrechtliche Bekenntnisse im Alltag aller Menschen zu verankern, und der Menschenrechts-Enquete des Landtages vom Dezember 2009 sowie der Charta des Zusammenlebens in Vielfalt von 2011 beschlossen wurde, „die notwendigen Grundlagen, Hintergründe und Analysen für eine Selbstverpflichtung des Landes als ‚Menschenrechtsregion Steiermark‘ auszuarbeiten und die Ergebnisse dem Landtag Steiermark zuzuleiten“.29 Das 26 Siehe EU Fundamental Rights Agency, Making rights real: a guide for local and regional authorities, Wien, 2. Dezember 2014; siehe auch www.fra.europa.eu/en/joinedup/home (20.1.2015) sowie den Vortrag des Direktors der EU-Grundrechteagentur Morten Kjaerum anlässlich der 10-Jahresfeier der Menschenrechtsstadt Graz über “International Human Rights – Local Delivery: Why a joined-up approch to human rights implementation is essential”, Graz, 24. März 2011. 27 Siehe The Congress of Local and Regional Authorities, Human Rights at Local Level: The Role of the Cities and the Congress of Local and Regional Authorities, Graz, 3. Dezember 2013. 28 Siehe eine Kompilation auf der Homepage des Congress of Local and Regional Authorities unter https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=2272565&Site=COE&BackC olorInternet=C3C3C3&BackColorIntranet=CACC9A&BackColorLogged=EFEA9C &RefreshDocsCache=yes (20.1.2015). 29 Siehe Landtag Steiermark, XVI. Gesetzesperiode, Entschließungsantrag betreffend Menschenrechtsregion Steiermark vom 12. Dezember 2013.

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ETC Graz wurde mit der Ausarbeitung einer Grundlagenstudie betraut. Hier geht es sowohl um eine Bestandsaufnahme der menschenrechtlichen Probleme und vorhandenen Lösungsansätze bzw. Einrichtungen in der Steiermark als auch um die Frage, welche zusätzlichen Kooperationsformen und Einrichtungen von Nutzen wären. Die Erfahrungen der Menschenrechtsstadt Graz und anderer Menschenrechtsstädte und -regionen können dafür nützlich sein.

S chlussfolgerungen Es ist heute allgemein anerkannt, dass die lokale und die regionale Ebene eine wichtige Ergänzung zur nationalen und internationalen Ebene des Menschen­ rechtsschutzes darstellen, um eine bessere Verwirklichung der Menschenrechte zu erzielen. Die rasche Zunahme der Zahl der Menschenrechtsstädte und -regionen in Europa, das Interesse der internationalen und europäischen Institutionen und die zunehmende Vernetzung und Kooperation der Menschenrechtsstädte und -regionen auf internationaler Ebene sind ein Beweis dafür. Viele menschenrechtliche Probleme lassen sich am besten auf lokaler und regionaler Ebene lösen, freilich in Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen auf allen Ebenen. Die völkerrechtliche Verantwortung für die Achtung, den Schutz und die Erfüllung der Menschenrechte trägt der Staat, der dafür Sorge tragen muss, dass alle Gebietskörperschaften im Sinne einer joined-up governance an der Umsetzung mitwirken. Diese sollten das auch im eigenen Interesse tun, geht es doch nicht nur um die Umsetzung von Verpflichtungen, sondern um die Lösung von Problemen, die auf Grundlage der Menschenrechte besser und nachhaltiger erfolgen kann, weil die Menschenrechte einen gemeinsamen Bezugsrahmen für alle Menschen darstellen. Dies bedeutet nicht, dass nun unbegrenzte Forderungen etwa im Bereich der Sozialhilfe oder der Behindertenförderung erhoben werden können. Doch sind wirtschaftliche und soziale Rechte, wie das Recht auf Bildung, auf Gesundheit oder soziale Sicherheit im Rahmen der Möglichkeiten schrittweise mit allen geeigneten Mitteln sowie ohne jede Diskriminierung zu erfüllen.30 Oft, wie etwa im Fall der Umsetzung der Behindertenrechtekonvention der Vereinten Nationen von 2006, geht es um eine optimale Umsetzung der Verpflichtungen und nicht um maximale Leistungen. Ein menschenrechtlicher Lösungsansatz beginnt mit der Achtung der Person aufgrund der für alle gleichen Menschenwürde. Wo immer möglich sollen die Betroffenen in das Verfahren einbezogen werden. Dies bedeutet Information und 30 Vgl. Artikel 2, Abs. 1 und 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

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Partizipation, um eine Mitwirkung an einer Lösung im Sinne der Menschenrechte zu ermöglichen. Zugleich sollten auch alle eingebunden werden, die zu einer Lösung beitragen können. Dies kann in Form von institutionalisierten Beiräten oder von ad hoc bestellten Arbeitsgruppen oder „Runden Tischen“ erfolgen. Den zuständigen politischen Organen bleibt in der Regel die letzte Entscheidung, doch diese wird leichter fallen, besser erklärbar und damit auch eher akzeptierbar sein, wenn sie durch breit aufgestellte ExpertInnengruppen vorbereitet wurde und sich auch auf die Autorität des Bemühens um eine menschenrechtskonforme Lösung stützen kann. Dies entspricht dem eingangs zitierten Anspruch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die umfassende Vorbereitung politischer Entscheidungen mit Menschen­ rechtsbezug sollte soweit als möglich auch auf regionaler Ebene institutionalisiert werden, sei es durch Beratungsorgane wie einen Menschenrechtsbeirat oder durch allgemein zugängliche Erstanlaufstellen oder spezialisierte Hilfseinrichtungen für spezifische Bereiche. So hat sich hier etwa die vom Land Steiermark zusammen mit der Stadt Graz eingerichtete Antidiskriminierungsstelle sehr bewährt. Auch der Interreligiöse Beirat oder der Behindertenbeirat haben neben dem Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz wesentliche Beiträge geleistet. Für eine Menschenrechtsregion Steiermark sollte ähnlich wie im Fall der Stadt Graz durch eine unabhängige ExpertInnengruppe ein regelmäßiger Menschenrechtsbericht mit Empfehlungen erstellt werden, der auch im Landtag diskutiert wird. Alternativ könnte der Bericht von der Verwaltung erstellt und durch eine unabhängige ExpertInnengruppe geprüft werden, wie das in Wien vorgesehen ist. Ein menschenrechtliches Wahlkampfmonitoring nach dem Muster von Graz könnte das Profil der Menschenrechtsregion stärken. Der offizielle Start der Menschenrechtsregion könnte entweder mit der Verabschiedung einer Menschenrechtserklärung oder mit der Einrichtung eines Menschenrechtsgremiums, in dem Vertreter der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft, der Kirchen, der Gerichte, der Exekutive, der Verwaltung sowie der Parteien mitwirken, erfolgen. Wichtige zu klärende Fragen betreffen etwa die Einbindung der Bezirke und Gemeinden. Kontakte und Kooperationen mit anderen Regionen mit menschenrechtlichen Aktivitäten sollten entwickelt werden. Der Frage der Menschenrechtsbildung kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Nur wenn die Menschen sich ihrer Rechte, aber auch deren Grenzen sowie der Rechte anderer bewusst sind und diese verstehen,31 kann 31 Siehe in diesem Zusammenhang das Handbuch für Menschenrechtsbildung „Menschenrechte verstehen“ des ETC Graz, herausgegeben von Wolfgang Benedek, das bereits in 15 Sprachen übersetzt wurde, abrufbar unter www.manual.etc-graz.at (20.1.2015).

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ein Gemeinwesen menschenrechtliche Standards verwirklichen. Dies wird sowohl in der Grazer als auch in der Wiener Menschenrechtserklärung anerkannt. Dazu bedarf es einer Menschenrechtsbildungsstrategie, die in Zusammenarbeit mit Akteuren der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft entwickelt und gemeinsam mit diesen auch umgesetzt wird. Menschenrechtsbildung kann auch einen wichtigen Beitrag zum Umgang mit Diversität leisten. In Zeiten zunehmender Islamophobie, von Antisemitismus und von Hasspropaganda im Internet sowie einer Radikalisierung mancher Jugendlicher bedarf es der Werte und der Orientierung der Menschenrechte, die den gleichen Wert jeder Person und die Achtung der Rechte des anderen sowie Respekt gegenüber anderen Religionen lehren. Gegen Islamisierung kann eine Aufrüstung der Sicherheitsdienste wenig ausrichten, wohl kann dies durch Aufklärung und bessere Bildungsangebote und eine verstärkte politische Bildung und Menschenrechtsbildung erfolgen. Ziel muss eine „Kultur der Menschenrechte“ sein, das heißt, dass menschenrechtliche Umgangsformen zur Alltagskultur werden oder wie es Shulamit Koenig ausdrückt, zu einem „way of life“.32 Dies würde eine höhere menschenrechtliche Lebensqualität in der Steiermark zur Folge haben und könnte auch ein Beispiel für andere Regionen sein und damit weit über die Steiermark hinausstrahlen.

L iteratur Karen Abuzayd u.a., The Imperative of a Political Settlement in Syria: Perspectives of the UN Independent Commission of Inquiry, in: Wolfgang Benedek u.a. (Hg.), European Yearbook on Human Rights 2013, Wien–Graz 2013, S. 19–30. Andreas Accardo, Jonas Grimheden, Klaus Starl, The Case for Human Rights at Local Level: A Clever Option?, in: Wolfgang Benedek u.a. (Hg.), European Yearbook on Human Rights 2012, Wien–Graz 2012, S. 33–45. Wolfgang Benedek, Kamel G. Mahmoud (Hg.), Der Islam in Österreich und in Europa: Die Integration und Beteiligung der Muslime und Musliminen in der Gesellschaft, Graz 2011. Wolfgang Benedek, Nora Scheucher, Menschenrechtsbildung an österreichischen Universitäten. Ergebnisse der Basisstudie für Österreich, in: Claudia Brunner, Josefine Scherling (Hg.), Jahrbuch Friedenskultur 2012: Bildung, 32 Vgl. Shulamit Koenig, Learning and Integrating Human Rights as a Way of Life – a Journey we must all take, in: Wolfgang Benedek (Hg.), Understanding Human Rights. Manual on Human Rights Education, Wien–Graz 2012, S. 25–26.

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Menschenrechte, Universität. Menschenrechtsbildung an Hochschulen im Wandel als gesellschaftliche Herausforderung, Klagenfurt 2012, S. 159–170. Wolfgang Benedek (Hg.), Understanding Human Rights. Manual on Human Rights Education, 3. Auflage, Wien–Graz 2012. Wolfgang Benedek (Hg.), Menschenrechte verstehen. Handbuch zur Menschenrechtsbildung, 2. Auflage, Wien–Graz 2009. Interdepartmental Centre on Human Rights and the Rights of Peoples, University of Padua (ed.), Veneto, in: Italian Yearbook of Human Rights 2013, Brüssel u.a. 2013, S. 141–154. Shulamit Koenig, Learning and Integrating Human Rights as a Way of Life – a Journey we must all take, in: Wolfgang Benedek (Hg.), Understanding Human Rights. Manual on Human Rights Education, Wien–Graz 2012, S. 25–26. Simone Philipp, Klaus Starl, Lebenssituationen von Schwarzen in urbanen Zentren Österreichs. Bestandsaufnahme und Implikationen für nationale, regionale und lokale Menschenrechtspolitiken. ETC, Graz 2013. Simone Philipp, Isabella Meier, Klaus Starl, Margareta Kreimer, Auswirkungen von mehrfachen Diskriminierungen auf Berufsbiografien. Eine empirische Erhebung, Wiesbaden 2014. Klaus Starl, Human Rights Education for the Judiciary to improve Access to Justice for All, in: Benedek u.a. (Hg.), Global Standards – Local Action, Vienna 2009. Klaus Starl, Veronika Apostolovski, Ingrid Nicoletti, Human rights education for the judiciary – an assessment of a decade of training experience, in: Benedek u.a. (Hg.), European Yearbook on Human Rights 2015 (im Erscheinen). Barbara Oomen, Moritz Baumgärtel, Human Rights Cities, in: Anja Mihrand, Mark Gibney (Hg.), The SAGE Handbook of Human Rights, Volume II, London 2014, S. 709–729.

Sprachenfreundliche Räume schaffen: die Wertschätzung von Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext am Beispiel des Projekts ZusammenReden Barbara S chrammel-L eber

S prachenvielfalt österreichischen

und

M ehrsprachigkeit

S chulen

an

Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt sind an österreichischen Schulen Realität. Im Schuljahr 2012/13 hatten österreichweit 25 %1 der SchülerInnen an Allgemein bildenden Pflichtschulen eine andere Erstsprache als Deutsch.2 Dabei ist zu beachten, dass es hier regional große Unterschiede gibt. Betrachtet man einzelne Bundesländer, so fällt auf, dass der Prozentsatz in Wien mit knapp 60 % viel höher ist als zum Beispiel in der Steiermark mit 15 % Kindern mit

1 Im internationalen Vergleich, gemessen am Anteil von mehrsprachigen Kindern unter den 15-jährigen Schülerinnen und Schülern im Jahr 2009, befindet sich Österreich mit einem Anteil von 10,5 % geringfügig vor Deutschland und Australien, aber hinter den USA, Kanada, Neuseeland und der Schweiz (13 %–15 %). Vgl. Barbara HerzogPunzenberger, Philipp Schnell, Die Situation mehrsprachiger Schüler/innen im österreichischen Schulsystem – Problemlagen, Rahmenbedingungen und internationaler Vergleich, Nationaler Bildungsbericht Österreich 2012, Band 2, S. 238. 2 Vgl. SchülerInnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch. Statistische Übersicht Schuljahre 2006/07 bis 2012/13, Informationsblätter des Referats für Migration und Schule Nr. 2/2013–14.

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anderen Erstsprachen als Deutsch.3 Innerhalb der Bundesländer gibt es je nach Schulstandorten große Unterschiede. So findet man in Graz Volksschulen mit einem Anteil von Kindern mit anderen Erstsprachen als Deutsch von über 90 %, während andere Volksschulen im Stadtgebiet Prozentsätze von unter 10 % aufweisen.4 Diese schulstandortspezifischen Unterschiede beschränken sich nicht nur auf den städtischen Bereich, sondern sind auch im ländlichen Raum anzutreffen.5 Die bildungspolitische Relevanz des Themas Mehrsprachigkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass mehrsprachige Kinder (= Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch) in Österreich schulisch weniger Erfolg haben als einsprachige Kinder.6 Dass nicht die Mehrsprachigkeit an sich kausal als Erklärungsmuster für geringeren Schulerfolg von mehrsprachigen Kindern in Österreich herangezogen werden kann, wird klar durch einen differenzierteren Blick auf die Statistik, der zeigt, dass nicht alle Gruppen von mehrsprachigen Kindern schulisch weniger erfolgreich sind. Auch der internationale Vergleich weist auf komplexere Kausalitäten hin, denn nicht in allen Ländern sind mehrsprachige Kinder im Schnitt schulisch weniger erfolgreich.7 Anders als in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Mehrsprachig­keit Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts8 ist heute wissenschaftlich eindeutig belegt, dass mehrsprachiger Spracherwerb Kinder in ihrer sprachlichen und allgemein kognitiven Entwicklung keineswegs behindert.9 Das ist besonders wichtig zu erwähnen, da in der landläufigen Meinung bis heute immer noch Mehrsprachigkeit per se oder die Förderung der Erstsprachen als Ursache des mangelnden Deutscherwerbs und in weiterer Folge des mangelnden Schulerfolgs von Kindern mit anderen 3 Vgl. ebda. 4 Eigene Dokumentation im Rahmen des Projekts ZusammenReden. 5 Eigene Dokumentation im Rahmen des Projekts ZusammenReden. 6 Vgl. Barbara Herzog-Punzenberger, Philipp Schnell, Die Situation mehrsprachiger Schüler/innen im österreichischen Schulsystem – Problemlagen, Rahmenbedingungen und internationaler Vergleich, Nationaler Bildungsbericht Österreich 2012, Band 2, S. 238. 7 Vgl. Herzog-Punzenberger, Schnell, Nationaler Bildungsbericht Österreich 2012, S. 230. 8 Für einen historischen Überblick vgl. Hans Bickes, Ute Pauli, Erst- und Zweit­sprach­ erwerb, Paderborn 2009, S. 86–89. 9 Vgl. z.B. Ellen Bialystok, Effects of bilingualism on cognitive and linguistic performance across the lifespan, in: Ingrid Gogolin, Ursula Neumann (Hg.), Streitfall Zwei­ sprachigkeit – The Bilingualism Controversy, Wiesbaden 2009, S. 53–67; Rosemarie Tracy, Wie Kinder Sprachen lernen: Und wie wir sie dabei unterstützen können, 2. überarbeitete Auflage, Tübingen 2008.

Sprachenfreundliche R äume schaffen | 143

Erstsprachen als Deutsch genannt werden.10 Obwohl die Tatsache einer anderen Erstsprache als Deutsch weder etwas über die Kenntnisse in der Erstsprache noch über die Kenntnisse des Deutschen aussagt, wird Mehrsprachigkeit, vor allem unter Beteiligung der zahlenmäßig stärksten MigrantInnensprachen wie z.B. Türkisch und Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, im deutschsprachigen Raum gern als Behinderung für den Schulerfolg und als ein Unterschichtsphänomen gesehen.11 Oft wird in diesem Zusammenhang der Begriff Semilingualismus oder doppelte Halbsprachigkeit bemüht – ein Konzept, das beschreiben soll, dass Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, Gefahr laufen, keine Sprache „richtig“ zu erwerben. Die Existenz eines Phänomens der Halbsprachigkeit wird inzwischen wissenschaftlich in Frage gestellt.12 Es gibt keine „halben Sprachen“, vielmehr erwerben Kinder im Laufe ihrer Sozialisation unterschiedliche Register einer oder mehrerer Sprachen. Das individuelle sprachliche Repertoire ist ein dynamisches System, das sich je nach Lebenssituation und sprachlichen Bedarfen in jedem Alter verändern und erweitern kann.13 Je nachdem welchen sprachlichen Input ein Kind bis zum Schuleintritt erlebt, verfügt es zum Schuleintritt mehr oder weniger über diejenigen bildungssprachlichen Kompetenzen des Deutschen, die in der Schule besonders gefordert sind. Das gilt nicht nur für mehrsprachige Kinder, sondern auch für einsprachig aufwachsende Kinder. Auch bei einsprachigen Kindern lässt sich eine schulische Benachteiligung feststellen, falls sie zum Zeitpunkt des Schuleintritts über keine oder nur sehr geringe Kenntnisse des Registers der Bildungssprache Deutsch verfügen. Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich der formale Bildungsgrad des Elternhauses nachhaltiger im Schulerfolg der Kinder niederschlägt als die in der Familie gesprochene Sprache.14 Schon seit der Sprachbarrierediskussion der 1960er Jahre ist bekannt, dass sprachliche Bildung eine Schlüsselrolle für Chancengleichheit im Bildungssystem spielt.15 Dabei ist 10 Vgl. z.B. Hans Winkler, Deutsch als Nachteil, Kleine Zeitung 12.09.2012. 11 Vgl. Herzog-Punzenberger, Schnell, Nationaler Bildungsbericht Österreich 2012, S. 232. 12 Vgl. Rudolf de Cillia, Spracherwerb in der Migration, Informationsblätter des Refe­ rats für Migration und Schule Nr. 3/2014–15, S. 4. 13 Vgl. Dieter W. Halwachs, Polysystem, Repertoire und Identität, in: Grazer Linguis­ tische Studien 39–40 (1993), S. 71–90; Brigitta Busch, Mehrsprachigkeit, Wien 2013, S. 20–24. 14 Vgl. Ingrid Gogolin, Imke Lange, Bildungssprache und durchgängige Sprachbildung, in: Sara Fürstenau, Mechthild Gomolloa (Hg.), Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit, Wiesbaden 2012, S. 108–111. 15 Vgl. Rudolf de Cillia, Spracherwerb in der Migration, Informationsblätter des Refe­ rats für Migration und Schule Nr. 3/2014–15, S. 16.

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es wesentlich, alle vorhandenen sprachlichen Ressourcen miteinzubeziehen und wertzuschätzen, seien dies nun andere Sprachen als Deutsch oder dialektale Varietäten des Deutschen. Aktuelle Ergebnisse der Sprachlehrforschung weisen auf den Wert der Einbeziehung von allen bereits vorhandenen Sprachkenntnissen für den Erwerb weiterer Sprachen hin.16 Obwohl schon im letzten Regierungsprogramm17 der Republik Österreich die Chancengleichheit zum Zeitpunkt des Schuleintritts und die Förderung von Mehrsprachigkeit als klar deklarierte Ziele aufschienen, hat sich in der vorwiegend monolingual geprägten österreichischen Schullandschaft wenig geändert. Die Förderung des Deutscherwerbs ist klare Priorität, die Förderung der Erstsprachen ist zwar auch im Schulwesen verankert, steht aber außerhalb der Pflichtfächer und steht auch in keinem Austausch zum fremdsprachlichen Sprachunterricht als Teil des Lehrplans. Darüber hinaus ist der Zugang zum muttersprachlichen Unterricht Kindern mit anderen Erstsprachen als Deutsch vorbehalten. Hier zeigt sich deutlich, dass es im schulischen Kontext eine klare Trennung zwischen dem als Bildungsziel deklarierten Fremdspracherwerb, zumeist in den klassischen Schulsprachen (Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und mancherorts auch Russisch) und der mitgebrachten Mehr­sprachig­ keit der Schülerinnen und Schüler gibt. Auch eine Diversi­fizierung von als Fremdsprachen unterrichteten Sprachen ist bislang an Österreichs Schulen nicht zu beobachten, obwohl schon jetzt zwölf Sprachen im Lehrplan der AHS und 13 Sprachen im Lehrplan der Neuen Mittelschulen verankert sind.18 Die politische und mediale Aufregung der letzten Jahre in Bezug auf die Einführung von Türkisch als Maturafach unterstreicht das unterschiedliche Prestige, das 16 Vgl. Elisabeth Allgäuer-Hackl, Ulrike Jessner, Mehrsprachigkeitsunterricht aus mehr­sprachiger Sicht: Zur Förderung des metalinguistischen Bewusstseins, in: Eva Vetter (Hg.), Professionalisierung für sprachliche Vielfalt. Perspektiven für eine neue LehrerInnenbildung, Hohengehren 2013. 17 Vgl. Republik Österreich, Regierungsprogramm 2008–2013, Gemeinsam für Österreich, Regierungsprogramm für die XXIV. Gesetzgebungsperiode, http://www. austria.gv.at/DocView.axd?CobId=32965, Zugriff am 31.1.2015. 18 Als Lebende Fremdsprache im AHS-Lehrplan verankert sind: Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Spanisch, Tschechisch, Slowenisch, Bosnisch/Kroatisch/Ser­ bisch, Ungarisch, Kroatisch, Slowakisch, Polnisch, im Lehrplan der Neuen Mittel­ schule verankert sind: Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Spanisch, Tsche­ chisch, Slowenisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Ungarisch, Kroatisch, Slowa­ kisch, Polnisch, Türkisch. Vgl. Österreichisches Bundesministerium für Bil­dung und Frauen, Lehrplan für AHS und Neue Mittelschule, https://www.bmbf.gv.at/schulen/ unterricht/lp/lp_abs.html, Zugriff am 31.1.2015.

Sprachenfreundliche R äume schaffen | 145

Sprachen zugeordnet wird.19 Schon die Einbeziehung von türkischen Wörtern in den Volksschulunterricht zum Erlernen bestimmter Laute hat den Protest bestimmter Politiker hervorgerufen.20 Während die gesetzliche und institutionelle Verankerung von Unterrichtsprinzipien zur Förderung von Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt die Grundvoraussetzung für einen Wandel im Umgang mit Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext darstellt, bedarf es auch Initiativen „von unten“ um einen gesellschaftlichen Wertewandel in Gang zu setzen. Das in diesem Beitrag besprochene Projekt ZusammenReden – Sprachenfreundliche Räume gestalten versteht sich als eine solche Initiative und hat gemeinsam mit Schulen Modelle erprobt, wie die Wertschätzung und Miteinbeziehung aller sprachlichen Ressourcen an steirischen Volksschulen gelingen kann.

S prachenfreundliche R äume

schaffen

Das Projekt ZusammenReden – Sprachenfreundliche Räume gestalten widmete sich, auf Initiative des Integrationsressorts des Landes Steiermark, der sprachlichen Vielfalt an steirischen Volksschulen. Die Ausgangsfragen des Projekts waren: Wie kann ein Zusammeleben in vielen Sprachen an der Schule gelingen? Wie kann man diesen Prozess unterstützen? Was zeichnet sprachenfreundliche Räume aus? Das übergeordnete Ziel des Projekts war, einen gesellschaftlichen Wertewandel in Gang zu setzen, nämlich Mehrsprachigkeit als individuelle wie gesellschaftliche Ressource wahrzunehmen. Desweiteren war es Ziel des Projekts, auf die vielfältigen Kompetenzen von Kindern mit anderen Erstsprachen aufmerksam zu machen, anstatt nur das Faktum der „nicht-deutschen Muttersprache“ zu betonen. Das Projetk ZusammReden war bewusst interdisziplinär aufgebaut, um verschiedene Wissensformen und -bereiche einander ergänzen und bereichern zu lassen. Unter der Anleitung von Sprachwissenschafterinnen von treffpunkt spra­ chen – Zentrum für Sprache, Plurilingualismus und Fachdidaktik an der KarlFranzens-Universität Graz, mit der Expertise der Pädagogischen Hochschule Steiermark und mit der langjährigen Erfahrung der Akademie Graz in der 19 Vgl. Julia Neuhauser, Bernadette Bayrhammer, Übertriebener Wirbel um Türkisch als Maturafach, Die Presse, Print-Ausgabe 7.4.2011, http://diepresse.com/home/ bildung/schule/hoehereschulen/648196/Uebertriebener-Wirbel-um-Turkisch-alsMaturafach, Zugriff am 29.1.2015. 20 Vgl. Rosa Winkler-Hermaden, Türkische Wörter im Unterricht: „Das ist die Zukunft“, 23.8.2012

http://derstandard.at/1345164817026/Tuerkische-Woerter-im-Unterricht-

Das-ist-die-Zukunft, Zugriff am 29.1.2015.

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Konzeption und Durchführung von Wissenschaftsvermittlungsprojekten, sowie dem künstlerischen Input des Künstlerinnen-Duos Resanita, konnten gemeinsam mit den Schulen gute Beispiele für sprachenfreundliche Räume erarbeitet werden. Wesentlich in der Projektkonzeption war es, Schulen nicht mit einem Standardprogramm zum Umgang mit Mehrsprachigkeit zu bespielen, sondern die Schulen aktiv in die Gestaltung des Aktionstages und der Kunstprojekte miteinzubeziehen. Die Teilnahme am Projekt erfolgte über eine Ausschreibung des Landes­ schulrats an alle steirischen Volksschulen. Aus den Volksschulen, die sich für die Teilnahme beworben haben, wurden in einem Auswahlverfahren vom Projekt­ team elf Schulen ausgewählt. Dabei wurde auf eine regionale Verteilung in der Steiermark geachtet. In der Auswahl wurden nicht nur Schulen berücksichtigt, die aufgrund einer hohen Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit anderen Erstsprachen als Deutsch eine gewisse Dringlichkeit in Bezug auf das Thema Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt verspürten, sondern auch solche, die sich bisher nur wenig oder gar nicht mit dem Thema beschäftigt haben. So variierten die teilnehmenden Schulen bezüglich der an den Schulen vorhandenen Sprachenvielfalt. Es gab Schulen mit bis zu 26 verschiedenen Sprachen unter den SchülerInnen und solche mit nur sieben verschiedenen Sprachen. Mit der Teilnahme am Projekt verpflichteten sich die Schulen zur Teilnahme an einem Aktionstag mit Forsch- und Spielstationen zu den Sprachen der Welt, der mithilfe der Wanderausstellung Sprachenlandschaft Deluxe durchgeführt wurde. Die Aktionstage waren derart gestaltet, dass alle Klassen einer Schule teilnehmen konnten. Nach dem Aktionstag wurde die Wanderausstellung Sprachenlandschaft Deluxe den Schulen für einen bestimmten Zeitraum zur individuellen Weiterarbeit zur Verfügung gestellt. Desweiteren gab es im Rahmen des Projekts für die LehrerInnen der Schulen vertiefende Informationen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext in Form einer schulinternen LehrerInnenfortbildung. Essentieller Teil des Projekts war die Erarbeitung eines Kunstprojekts an jeder der teilnehmenden Schulen zum Thema: Wie können sprachenfreundliche Räume aussehen? Wie können alle sprachlichen Ressourcen an der Schule sichtbar werden? Die konkrete Idee für das Kunstprojekt wurde in Zusammenarbeit mit der Schule vom Künstlerinnenduo Resanita entwickelt. Vorrangiges Ziel dabei war es, immer alle Kinder einer Schule einzubinden, die sprachliche Expertise der Kinder und deren Eltern in der Recherche für die Projekte als Ressource zu nutzen und die sprachliche Vielfalt an der Schule nachhaltig im Raum sichtbar zu machen.

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D ie S ichtbarkeit

von

S prachen

Ein zentraler Aspekt von sprachenfreundlichen Räumen ist die Sichtbarkeit von sprachlichen Ressourcen. Das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Sprachen in einem bestimmten Territorium, z.B. dem öffentlichen Raum einer Stadt oder im Schulraum, hat eine symbolische Aussagekraft. Stark präsente Sprachen zeugen von einer demografisch oder institutionell hohen Vitalität einer SprecherInnengemeinschaft. Wenig sichtbare Sprachen wiederum weisen darauf hin, dass eine SprecherInnengemeinschaft demografisch und/oder institutionell nur sehr schwach verankert ist. Als relativ junge Forschungsrichtung untersucht die Linguistic Landscape Forschung21 den schriftlichen Gebrauch von Sprache im öffentlichen Raum. Dabei werden Straßen- und Informationsschilder, Ladenaufschriften, Leuchtreklamen, Plakate usw. untersucht. Relevante Krite­ rien für die Auswertung der fotografisch festgehaltenen Dokumente sind die Urheberschaft der Zeichen (handelt es sich um ein von offizieller Seite aufgestelltes Schild oder handelt es sich um die Eigeninitiative einer bestimmten ethnolinguistischen Gruppe), die Inhalte, die in den jeweiligen Sprachen wiedergegeben werden (handelt es sich um positive Inhalte wie Begrüßungen und Informationen oder um Gebote und Aufforderungen) und die grafische Dar­ stellung der einzelnen Sprachen (Anordnung der Sprachen, Schriftgröße). In der Untersuchung des Stadtraums von Graz wird z.B. deutlich, dass Sprachen wie Englisch und Italienisch viel häufiger im Stadtraum vorkommen, während andere Sprachen, wie Slowenisch und Ungarisch, beinahe gänzlich im Stadtraum fehlen. Diese Verteilung entspricht nicht der demografischen Zusammensetzung der Grazer Bevölkerung, gibt aber Auskunft über den Status, der einzelnen Sprachen zugeordnet wird. Das wird vor allem auch in der Analyse der Inhalte der Aufschriften deutlich. Während Italienisch und Englisch bei Aufschriften an Sehenswürdigkeiten vorkommen, findet man Slowenisch in einer Warnung für Diebe am Eingang einer Bank und Ungarisch in einem Verbotsschild an der Zufahrt eines Müllablagerungsplatzes. Im Rahmen der Schulsprachenprofile22 wurde die Methodologie der Linguis­ tic Landscape Forschung auch im Schulraum angewandt. Durch fotografische Dokumentation, Interviews und teilnehmende Beobachtung wurden in den 21 Vgl. Rodrigue Landry, Richard Y. Bourhis, Linguistic landscape and ethnolinguistic vitality: An empirical study, in: Journal of Language and Social Psychology, Vol 16(1), 1997, S. 23–49; Durk Gorter (Hg.) Linguistic Landscape: A new approach to multilingualism, Bristol 2006. 22 Vgl. Brigitta Busch, Schulsprachprofile: Sprachliche Heterogenität sichtbar machen und als Potenzial nützen, Erziehung und Unterricht 161/1–2 (2011), S. 49–55.

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Schulsprachenprofilen die lokalen Sprachenregimes explizit und die vorhandenen sprachlichen Ressourcen sichtbar gemacht. Abb.1: Kinder beim gestalten der mehrsprachigen Farbenwand in der VS Engelsdorf (Graz)

Im Projekt ZusammenReden spielte die Sichtbarkeit von Sprachen im Schulraum eine zentrale Rolle. Bei ersten Besuchen in den teilnehmenden Schulen wurde der Schulraum in Hinblick auf die sichtbaren Sprachen untersucht. Dabei fiel auf, dass, neben Aufschriften in Deutsch, so gut wie keine weiteren Sprachen im Schulhaus sichtbar waren. Im Gespräch mit den Direktorinnen und Direktoren wurden in Folge besondere Bedürfnisse der Schule in Bezug auf die vorhandenen Sprachen besprochen und ein für den jeweiligen Schulraum geeignetes Kunstprojekt entwickelt. Die Zielsetzung für die Erarbeitung der Kunstprojekte war, die sprachlichen Ressourcen der Schule nachhaltig im Schulraum sichtbar zu machen. Dabei entstanden mehrere dreidimensionale Wörterbücher, die Begriffe aus dem Schulleben, Tier- oder Farbbegriffe in vielen Sprachen zeigen, ein mehrsprachig beschrifteter Garten; zwei Schulen gestalteten Wände mit Farbbezeichnungen in den an der Schule vorhandenen Sprachen, und in einer Schule formierten sich die Kinder als Buchstaben und schrieben das Wort la­ chen in vielen Sprachen. In allen Schulen sind die Kunstobjekte oder gestalteten Räume in einer sehr prominenten Position und tragen so nachhaltig zu einem veränderten Schulraum bei. Die Erarbeitung der Kunstprojekte war auch die Basis für Modelle, wie die sprachlichen Ressourcen der Kinder und auch derer Eltern im schulischen Alltag wertschätzend miteinbezogen werden können.

Sprachenfreundliche R äume schaffen | 149

D ie Wertschätzung der S chule

aller sprachlichen

R essourcen

in

Ein zentrales Anliegen des Projekts ZusammenReden war es, Modelle aufzuzeigen, wie die sprachlichen Ressourcen von Kindern mit anderen Erstsprachen als Deutsch wertschätzend in den Schulalltag einbezogen werden können. Dabei ist festzuhalten, dass die Einbeziehung aller in einer Schule vorhandenen Sprachkenntnisse einen Gewinn für alle Schülerinnen und Schüler darstellt. Bereits erprobte mehrsprachige Unterrichtsmodelle23 zeigen, dass die Einbeziehung vorhandener Sprachkenntnisse in den Unterricht, vor allem durch den Vergleich von Strukturen und Wörtern unterschiedlicher Sprachen, zu einem gesteigerten Bewusstsein über Unterschiede und Ähnlichkeiten in Sprachen führt. Dieses metasprachliche Bewusstsein trägt erwiesenermaßen positiv zum Erwerb jeder weiteren Sprache bei.24 Auch Erfahrungen aus anglophonen Ländern der letzten 20 Jahre zeigen, dass Language Awareness Projekte, in denen spielerisch mit Sprachvergleichen gearbeitet wird, positive Auswirkungen auf die Schulleistungen der Kinder haben.25 Ein weiteres Argument für die Einbeziehung und Wertschätzung aller Sprachkenntnisse in den Schulalltag liegt auf einer emotionalen Ebene. Sprache ist nicht nur Kommunikationswerkzeug, sondern eng mit Identität und emotionalem Erleben verbunden. Vielmehr als zu diskutieren, welchen Nutzen die Einbeziehung der sprachlichen Ressourcen aller Kinder in den Schulalltag bringt, stellt sich die Frage, was es für Kinder bedeutet, wenn ihre Sprachen in der Schule vollkommen ignoriert oder gar sanktioniert werden, z.B. in Form von Sprachverboten.26 Das Verbot, eine bestimmte Sprache im Schulkontext verwenden zu dürfen, drückt eine Wertigkeit aus, die dazu führen kann, dass sich Kinder für ihren sprachlichen Hintergrund zu schämen beginnen. Wiederholte Schamerfahrungen können schließlich bewirken, dass eine bestimmte Sprache in der Öffentlich nicht mehr verwendet oder vollstän23 Vgl. Elisabeth Allgäuer-Hackl, Ulrike Jessner, Mehrsprachigkeitsunterricht aus mehrsprachiger Sicht: Zur Förderung des metalinguistischen Bewusstseins, in: Eva Vetter (Hg.), Professionalisierung für sprachliche Vielfalt. Perspektiven für eine neue LehrerInnenbildung, Hohengehren 2013. 24 Vgl. ebd., S. 130–131. 25 Vgl. Doris Ulrich-Hinterecker, Elisabeth Großschmidt-Thierer, Zur Effektivität von Language-Awarness-Konzepten, in: Erziehung und Unterricht 161/1–2 (2011), S. 90– 97. 26 Im Rahmen von Schulworkshops zum Thema Mehrsprachigkeit berichten uns Kinder von Verboten, ihre Erstsprachen in der Schule zu sprechen. Diese Verbote betrafen nicht nur die Unterrichtszeit, sondern auch die Pausenzeit.

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dig aufgegeben wird.27 Demgegenüber zeigt die Minderheitenforschung, dass die Berücksichtigung von Sprache und Kultur von Minderheiten im Schulunterricht zu einem positiven Selbstbild und zu einer höheren Identifikation mit der Institution Schule seitens der ganzen Familie führt.28 Abb.2: Kinder schreiben das chinesische Schriftzeichen für „Baum“ in der VS Neuhart (Graz)

Im Projekt ZusammenReden erfolgte die Einbeziehung der sprachlichen Kompe­ tenzen der Kinder am Sprachenaktionstag selbst: zahlreiche Spiele­ stationen waren so gestaltet, dass Beispiele aus Sprachen, die häufig an steirischen Schulen vertreten sind, Teil der Spiele oder Rätselaufgaben waren. Kinder mit Kenntnissen in diesen Sprachen traten als Expertinnen und Experten auf, die arabische Schriftzeichen lesen konnten, die kroatische Auszählreime übersetzen konnten, die die Zahlen von 1 bis 6 in zahlreichen Sprachen beitragen konnten usw. Durch die Sprachkenntnisse der Kinder konnten Spiel- und Rätselaufgaben gelöst, Sprachvergleiche angestellt und so Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Deutschen in der Klasse besprochen werden. Die in den Workshops durchge27 Vgl. Brigitta Busch, Mehrsprachigkeit, Wien 2013, S. 27. 28 Vgl. Dieter W. Halwachs, Romani teaching: some general considerations based on model cases, in: European Yearbook of Minority Issues 9 (2011), Leiden–Boston, S. 249–269.

Sprachenfreundliche R äume schaffen | 151

führten Spiele, Rätsel und Sprachvergleiche waren so gestaltet, dass sie in weiterer Folge auch von Lehrerinnen und Lehrern ohne sprachwissenschaftliches ExpertInnen­wissen durchgeführt werden können. Abb. 3: Rätsel und Spiele im Rahmen der Sprachenaktionstage an der VS St. Johann (Graz) und der VS Deutschlandsberg

Als besonders erfolgreich hat sich die Einbeziehung der Kinder und deren Eltern als SprachexpertInnen in Bezug auf das Sammeln von Wortschätzen erwiesen. Für die Kunstprojekte wurden Begriffe aus dem Schulbereich in möglichst vielen Sprachen gesammelt. Wir wollten von den Kindern wissen, was Bleistift, Heft, Radiergummi oder Spitzer in ihren Sprachen heißt. Auch Begriffe für Tiere und Farben wurden gesammelt. Nicht immer kannten alle Kinder die Begriffe in ihren Sprachen, oder waren sich nicht ganz sicher, wie man sie schreibt. Wir baten sie daher, ihre Eltern um Hilfe zu bitten, die auf diese Weise ins Projekt eingebunden wurden. Viele Eltern erfuhren zum ersten Mal eine positive Wertschätzung ihrer Sprachen im schulischen Kontext. In einigen Fällen wurden Eltern in Folge auch über das Projekt hinaus in der Schule aktiv. Gerade in der Elternarbeit funktioniert die Einbeziehung über die Sprache sehr gut. Eltern haben mit ihrer Mehrsprachigkeit Kompetenzen, die in der Schule oft fehlen. Sie um das Einbringen dieser Kompetenzen zu bitten, bringt Wertschätzung und Anerkennung und macht eine Kommunikation auf Augenhöhe möglich.

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Projektergebnisse

und

N achhaltigkeit

Im Rahmen des Projekts ZusammenReden baten wir die Direktorinnen und Direktoren der beteiligten Schulen um Kurzinterviews, in denen es um Ein­ stellun­gen und Forderungen im Zusammenhang mit der Sprachenvielfalt an der Schule ging. Alle Interviews waren gekennzeichnet von einer sehr posi­ tiven Haltung Mehrsprachigkeit gegenüber. In Bezug auf die größten Heraus­ forderungen in Bezug auf Mehrsprachigkeit im Schulalltag nannten alle befragten Personen als wichtigste Maßnahme finanzielle und personelle Ressourcen, vor allem für den muttersprachlichen Unterricht und für die Förderung von Deutsch als Bildungssprache. Aber auch die Herausforderung, Akzeptanz für Mehrsprachigkeit zu schaffen, sowohl bei den Eltern als auch im eigenen Team, war in vielen Interviews ein Thema. Vielfach wurde auch angesprochen, dass Schulen, die hoch motiviert und wertschätzend mit der vorhandenen Sprachenvielfalt arbeiten und dadurch wichtige integrative Arbeit leisten, wenig gesellschaftliche und institutionelle Anerkennung erfahren. Schulen mit einem sehr hohen Anteil an Kindern mit anderen Erstsprachen als Deutsch stehen vor anderen Herausforderungen als andere Schulen. Dennoch gibt es eine Gleichbehandlung von Schulen, sowohl in der Zuteilung von Ressourcen als auch in der Bewertung der Schulleistungen der Kinder in genormten Vergleichstests. Die Schulteams fordern daher eine Differenzierung in Bezug auf Ressourcen und Unterstützung nach einem sozialen Index. Ein Modell dafür könnte der kanadische learning opportunity index29 sein, der die sozialen Benachteiligungen, mit denen Schulen in bestimmten Bezirken konfrontiert sind, ausgleichen und gleichzeitig verhindern kann, dass SchülerInnen aufgrund ihres sozialen Hintergrunds frühzeitig aus dem Bildungssystem fallen. Ein weiterer Punkt, der häufig in den Interviews angesprochen wurde, ist der dringende Bedarf an Fachwissen über Mehrsprachigkeit und Sprachen im allgemeinen im schulischen Kontext. In dieser Hinsicht leistet das Projekt ZusammenReden einen nachhaltigen Beitrag. Anstatt einer reinen Projektdokumentation entstand im Rahmen des Projekts der Reader Sprachenfreundliche Räume gestalten,30 der als Lehr- und Arbeitsbuch zentrale Themen in Bezug auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext diskutiert, die Kunstprojekte dokumentiert und so eine Weiterarbeit an sprachenfreundlichen Räumen in weiteren Schulen ermöglicht. 29 Toronto District School Board, The 2014 learning opportunities index: questions and answers, http://www.tdsb.on.ca/Portals/0/AboutUs/Research/LOI2014.pdf, Zugriff am 31.1.2015. 30 Astrid Kury, Katharina Lanzmaier-Ugri, Barbara Schrammel-Leber, Sprachenfreund­ liche Räume gestalten, Grazer Plurilingualismus Studien, Graz 2014.

Sprachenfreundliche R äume schaffen | 153

Das Buch spiegelt den interdisziplinären Charakter des Projekts wider, indem es sowohl Fachwissen enthält, aber auch Lösungsansätze und Vorschläge, wie mit konrekten Themen in Bezug auf Mehrsprachigkeit in der schulischen Praxis gearbeitet werden kann. Besonders erfreulich ist, dass diese Publikation seitens der Pädagogischen Hochschule Steiermark in der LehrerInnenaus- und -weiterbildung zum Einsatz kommt. Die bisherigen Rückmeldungen von Pädagoginnen und Pädagogen zeigen, dass die im Buch angesprochenen Themen genau den Bedarfen in Bezug auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext gerecht werden. Als weitere Projektpublikation entstand das mehrsprachige Kinderbuch: Unsere Sprachen: Farben, das Farbbezeichnungen in vielen an steirischen Schulen gesprochenen Sprachen enthält. Das Buch wird sowohl in Kindergärten und Schulen als auch in Vereinen zur Sprachförderung eingesetzt. Ein weiteres sehr positives Projektergebnis im Sinne der Nachhaltigkeit ist, dass einige der beteiligten Schulen ausgehend von der Teilnahme am Projekt das Thema Mehrsprachigkeit als ein Thema ihres Schulentwicklungsprozesses gewählt haben.

L iteratur Elisabeth Allgäuer-Hackl, Ulrike Jessner, Mehrsprachigkeitsunterricht aus mehrsprachiger Sicht: Zur Förderung des metalinguistischen Bewusstseins, in: Eva Vetter (Hg.), Professionalisierung für sprachliche Vielfalt. Perspektiven für eine neue LehrerInnenbildung, Hohengehren 2013, S. 111–147. Ellen Bialystok, Effects of bilingualism on cognitive and linguistic performance across the lifespan, in: Ingrid Gogolin, Ursula Neumann (Hg.), Streitfall Zweisprachigkeit – The Bilingualism Controversy, Wiesbaden 2009, S. 53– 67. Hans Bickes, Ute Pauli, Erst- und Zweitspracherwerb, Paderborn 2009. Brigitta Busch, Schulsprachprofile: Sprachliche Heterogenität sichtbar machen und als Potenzial nützen. Erziehung und Unterricht 161/1–2 (2011), S. 49–55. Brigitta Busch, Mehrsprachigkeit, Wien 2013. Rudolf de Cillia, Spracherwerb in der Migration, Informationsblätter des Referats für Migration und Schule Nr. 3/2014–15. Ingrid Gogolin, Imke Lange, Bildungssprache und durchgängige Sprachbildung, in: Sara Fürstenau, Mechthild Gomolloa (Hg.), Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit, Wiesbaden 2012, S. 107–127. Durk Gorter (Hg.) Linguistic Landscape: A new approach to multilingualism, Bristol 2006.

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Dieter W. Halwachs, Polysystem, Repertoire und Identität, Grazer Linguistische Studien 39–40 (1993), S. 71–90. Dieter W. Halwachs, Romani teaching: some general considerations based on model cases., in European Yearbook of Minority Issues 9 (2011), Leiden– Boston, S. 249–269. Barbara Herzog-Punzenberger, Philipp Schnell, Die Situation mehrsprachiger Schüler/innen im österreichischen Schulsystem – Problemlagen, Rahmen­ bedingungen und internationaler Vergleich. Nationaler Bildungs­ bericht Österreich 2012, Band 2. Ulrich-Hinterecker, Doris/Großschmidt-Thierer, Elisabeth, Zur Effektivität von Language-Awarness-Konzepten. Erziehung und Unterricht 161/1–2 (2011), S. 90–97. Astrid Kury, Katharina Lanzmaier-Ugri, Barbara Schrammel-Leber, Sprachen­ freund­liche Räume gestalten, Grazer Plurilingualismus Studien, Graz 2014. Rodrigue Landry, Richard Y. Bourhis, Linguistic landscape and ethnolinguistic vitality: An empirical study. Journal of Language and Social Psychology, Vol 16(1), 1997, S. 23–49. Lehrplan für AHS und Neue Mittelschule, https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_abs.html, Zugriff am 31.01.2015. Julia Neuhauser, Bernadette Bayrhammer, Übertriebener Wirbel um Türkisch als Maturafach, Die Presse, Print-Ausgabe 07.04.2011, http://diepresse.com/ home/bildung/schule/hoehereschulen/648196/Uebertriebener-Wirbel-umTurkisch-als-Maturafach, Zugriff am 29.01.2015. Hans Winkler, Deutsch als Nachteil, Kleine Zeitung 12.09.2012 Rosa Winkler-Hermaden, Türkische Wörter im Unterricht: „Das ist die Zukunft“, 23.08.2012 http://derstandard.at/1345164817026/Tuerkische-Woerter-imUnterricht-Das-ist-die-Zukunft, Zugriff 29.01.2015. Toronto District School Board, The 2014 learning opportunities indes: questions and answers, http://www.tdsb.on.ca/Portals/0/AboutUs/Research/LOI2014. pdf, Zugriff am 31.01.2015.

Die transnationale Familie als Ort fluider Identitäten Silvia S chultermandl

Ja ,

es geht auch anders  …

Neulich las meine fast fünfjährige Tochter im Kindergarten das Buch And Tango Makes Three, ein Kinderbuch über ein Pinguin-Kücken mit zwei Vätern.1 Das Buch war im Jahr 2006 ein Bestseller in den USA, wo es zahlreiche Diskussionen über alternative und fluide Familienkonzepte angeregt hat. Die Geschichte über die beiden Pinguin-Männchen, die erfolgreich ein Kücken aufziehen, trifft auf aktuelle gesellschaftliche Debatten wie die der gleichgeschlechtlichen Ehe, der Adoption durch schwule Paare und der queeren Erziehung. Dass meine Tochter dieses Buch während meines Forschungsaufenthalts in den USA, auf den mich meine Familie begleitet hat, kennengelernt hat, wirft zusätzliche Fragen auf, wie Familie im Kontext globaler Mobilität, neue Rollenbilder innerhalb der heteronormativen Kernfamilie und transnationale Verwandtschaft anders gedacht werden müssen. Unser dichtes Netz an Familie und Hilfe für fünf Monate aufzugeben und stattdessen mit zwei kleinen Kindern in die USA zu gehen, hat mir klar gemacht, wie anders man Kernfamilie leben kann. Gleichzeitig wurden uns durch den USA-Aufenthalt gesetzliche Einschränkungen (Väter, die wie mein Mann Kindergeld beziehen, müssen sich vorwiegend am österreichischen Hauptwohnsitz aufhalten, die fünf Mutter-Kind-Pass Untersuchungen im ersten Lebensjahr unserer zweiten Tochter dürfen nicht im Ausland gemacht werden) bewusst, und damit die Grenzen der globalen Mobilität eines WissenschaftlerInnenehepaars, das die Chance der geteilten Elternkarenz zur 1 Peter Parnell, Justin Richardson, And Tango Makes Three, New York 2005.

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beruflichen Weiterbildung nutzen möchte. Auch wir haben, bei all den Privilegien der globalen Mobilität im universitären Kontext, Grenzen erfahren. Wie meine Tochter im Kindergarten gelernt hat: Ja, es geht auch anders, aber die herrschenden Normen werden dabei stets noch sichtbarer gemacht. Familie wird gerade in Zeiten gesellschaftlichen Wandels immer mehr zum Gegenstand nationaler Narrative, die durch unterschiedliche Taktiken Ausdruck finden: einerseits durch die Reproduktion nationaler Werte in der patriarchalen, heteronormativen Kernfamilie, anderseits durch Berufung auf die eigene Progressivität anhand alternativer Familienmodelle. Die bunte, queere Familie steht zwar im Widerspruch zur traditionellen Kernfamilie, wird aber auch immer öfter Gegenstand nationaler Narrative westlicher Länder, die somit ihre Liberalität als neuen nationalen Wert für ihre demokratischen Gesellschaftsbilder ausweisen.2 Nationale Identitäten werden demnach sowohl dadurch konstruiert, dass traditionelle Familienbilder hochgehalten werden als auch dadurch, dass die queere Familie als ein Ausdruck gesellschaftlicher Progressiviät vermittelt wird. Transnationale Familien, ob homo oder hetero, stehen ausserhalb dieses traditionellen Konzepts. Der Begriff der Transnationalität bezieht sich in diesem Kontext nicht nur auf das Erleben von Transnationalität als Resultat von internationaler Migration, sondern auch auf das Erleben von Transnationalität als eine Transgression nationaler Normen (zu denen auch die der traditionellen Kernfamilie gehören kann). Sanjeev Khagram und Peggy Levitt sprechen von einem philosophical transnationalism, das heißt einer Form von Transnationalität, die darauf basiert, dass alles an sozialem Leben einen transnationalen Ursprung hat.3 Familien, die sich bewusst ausserhalb nationaler Normen verorten, verbindet eine transnationalen Sensibilität, welche begins by looking at life in and on borders, yet it goes beyond these inarguably contested subjects. It involves looking at the person who is looking and can be fruitfully applied to hybridized subjects as well as to those whose identities are presumed to be fixed. As such, this transnational sensibility sees a lack of fixity as simultaneously inevitable and rich in possibility. A transnational sensibility is both a methodology and a mode of inquiry: 2 Jasbir Puar benennt solche Praktiken mit den Begriffen Homonationalismus und pinkwashing. Vgl. Jasbir Puar, Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times, Durham 2007. 3 Übersetzung der Autorin; im englischen Original beschreiben Khagram und Levitt „philosophical transnationalism“ als „based on the metaphysical view that social life is transnational to begin with.“ Sanjeev Khagram, Peggy Levitt, Constructing Trans­ na­tional Studies, in: Sanjeev Khagram, Peggy Levitt (Hg.), The Transnational Studies Reader: Intersections and Innovations, New York 2007, S. 8.

Die transnationale Familie als Ort fluider Identitäten | 157

a way of seeing and deliberately not-knowing, a way of living within the spaces between questions and answers.4

Diese transnationale Sensibilität beschreibt die Erfahrungen transnationaler Familien, die gesellschaftliche Einschränkungen erleben, weil sie einerseits mit physischen Grenzen, wie etwa jener eines Nationalstaates, oder mit konzeptuellen Grenzen, wie etwa rigiden Geschlechterkonstrukten, konfrontiert werden. Sich aus der Konfrontation mit diesen Grenzen neue Strategien zum familiären Alltag zu überlegen ist charakteristisch für Familien, die gesellschaftlichen Wandel bewusst sichtbar machen. Diese Familien sind, kurzgesagt, ein Ort fluider Identitäten.

Fluide I dentitäten Die transnationale Familie als Ort fluider Identitäten ist ein Konstrukt im Bereich der kulturwissenschaftlichen Identitätsstudien, in welchen die Kategorie Identität selbst immer mehr als fluides Selbstverständnis verstanden wird und welche essentialistische Annahmen, dass einer Person immer nur eine Identität zugeschrieben werden kann, in Frage stellen. An die Stelle einer monolithischen Identität treten Definitionen von Identität als Form von Intersubjektivität, in welcher das Selbst und das Andere in einer dialektischen Beziehung stehen. Ausgehend von Jessica Benjamins Diskussion von Identität als Resultat gegenseitiger Erkennung zwischen dem Selbst und dem Anderen, ist Intersubjektivität immer außerhalb von binären Konstrukten und als fluider und dynamischer Prozess zu denken.5 Feministische, queere, postkoloniale und transnationale Theorien haben gleichermaßen die Idee der fluiden Identität aufgegriffen und somit bestehende, monolithische Identitätskonzepte durch eine Annäherung an ein hybrides und ambivalentes Selbstverständnis ersetzt. In Zusammenhang mit Phänomenen globaler Mobilität (ob gewollt oder ungewollt) bietet dieses hybride und ambivalente Selbstverständnis ein Konzept, das die vielen unterschiedlichen und oft widersprüchlichen kulturellen Einflüsse auf das Selbst zu bündeln vermag. Ein solcher Zugang zu Identität gesteht ein, dass Eltern in heterosexuellen Beziehungen ihre Kinder auch queer erziehen können, genauso wie Eltern 4 May Friedman, Silvia Schultermandl, Introduction, in: May Friedman, Silvia Schul­ termandl (Hg.), Growing Up Transnational: Identity and Kinship in a Global Era, Toronto 2011, S. 5. 5 Vgl. Jessica Benjamin, Shadow of the Other: Intersubjectivity and Gender in Psycho­ analysis, New York 1998.

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in homosexuellen Beziehungen traditionelle Werte an ihre Kinder weitergeben können. In postmodernen Identitätstheorien, besonders in Hinblick auf hybride Identitäten, dominiert ohnedies das Konzept eines self in transition. Stuart Halls Verwendung der Begriffe eines being und becoming zur Beschreibung der Vielschichtigkeit postmoderner Subjektivitäten basiert auf „critical points of deep and significant difference which constitute ‚what we really are‘; or rather – since history has intervened – ‚what we have become‘“.6 Demzufolge postuliert Hall ein Konzept von Identität sowohl als „a matter of ‚becoming‘ as well as ‚being‘. It belongs to the future as much as to the past. It is not something which already exists, transcending place, time, history, and culture“.7 Aus Halls Unterscheidung zwischen being und becoming kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass kulturelle Identitäten per se „unstable points of identification“8 sind, welche im Spannungsfeld widersprüchlicher Einflüsse auf eine Person stehen. Damit trägt Hall zu einem post-identity Diskurs bei, durch welchen der Begriff einer stabilen Identität selbst in Frage gestellt wird, da dieser den fluiden Charakter postmoderner Subjektivität nicht umfassen kann. Stattdessen entwirft Hall den Begriff der identification, dessen implizite Dynamik sich klar von Überlegungen zu Identität als etwas Vererbtes oder Angeborenes distanziert und Identität als einen bewussten, aktiven Ausdruck eines fluiden Selbstverständnisses versteht.9 Ein solches Selbstverständnis impliziert immer auch die Möglichkeit zur eigenen Gestaltung des kulturellen Alltagslebens sowie dessen Grenzen. Halls Differenzierung zwischen being und becoming betont den Prozess der Selbstzuschreibung von Identität, bezieht sich aber wenig auf externe Prozesse, die dazu beitragen, dass die Personen, die außerhalb der hegemonialen Mehrheit stehen, als Minorität, Ausländer oder Fremde definiert werden. Dies trifft auch zu auf Werner Sollors Einführung der Begriffe consent (Aspekte kultureller Identität, die innerhalb einer Familie vermittelt werden) und descent (aktive Ablehnung kulturell tradierter Identität) in der Beschreibung von Sozialisationsprozessen ethnischer Minderheiten in den USA. Sollors geht davon aus, dass kulturelle Identifikation selbstbestimmt ist und nicht im Dialog

6 Stuart Hall, Cultural Identity and Diaspora, in: Jonathan Rutherford (Hg.), Identity: Community, Culture, and Difference, London 1998, S. 394. 7 Ebda. 8 Ebda. 9 Vgl. ebda. S.222; Vgl. auch Silvia Schultermandl, Sebnem Toplu, A Fluid Sense of Self: The Political of Transnational Identity in Anglophone Literature, in: Sil­via Schultermandl, Sebnem Toplu (Hg.), A Fluid Sense of Self: The Politics of Transna­ tional Identity, Wien 2010, S. 11–23.

Die transnationale Familie als Ort fluider Identitäten | 159

mit externen Einflüssen steht.10 Im Gegensatz dazu liegt der Fokus bei Paul Gilroys Identitätstheorien auf der diskursiven und dialektischen Konstruktion von Identität, und zwar nicht als Ausdruck einer kulturellen Herkunft, sondern der gegenwärtigen gesellschaftlichen Einflüsse auf das Selbstverständnis einer Person. In diesem Sinne unterscheidet Gilroy zwischen einem where you’re from und einem where you’re at, wobei ersteres sich auf den kulturellen Ursprung einer Person bezieht und zweiteres auf die Art, wie sich diese Person gegenüber ihrer eigenen kulturellen Herkunft positioniert, indem sie sie abwandelt, mitgestaltet, transformiert oder sogar ignoriert.11 Demnach mag die nationale Herkunft einer Person wenig mit ihrem gelebten Alltag zu tun haben, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie. Die Fortführung kultureller Traditionen durch MigrantInnen im neuen Heimatland oder deren Aufgabe zugunsten kultureller Assimilierung stellen zwei Extreme eines breiten Spektrums kultureller Identifikation dar: In transnationalen Familien werden diese beiden Extreme tagtäglich neu verhandelt, ganz besonders in Zusammenhang mit Erfahrungen jener Grenzen, die das Normale von dem Anderen trennen. Im Kontext des heutigen sozialen Wandels sind diese Ausdrucksformen von fluiden Identitätskonzepten allgegenwärtig. Internationale Migration, Diaspora und die resultierende Transnationalisierung sozialen Lebens und von Verwandtschaftsverhältnissen bilden den Rahmen für immer mehr und immer komplexere Begegnungen mit kulturellen Unterschieden, mit Diversität und Multikulturalität. Deren Auswirkungen auf das Ideal der heteronormativen Kernfamilie sowie auf das Erleben von Familie und Verwandtschaft in einem transnationalen Setting stehen im Spannungsfeld zwischen Tradition und Veränderung gesellschaftlicher Strukturen. Welche Rolle dabei die Familie spielt bzw. spielen kann, ist ein zentraler Aspekt dieses Aufsatzes.

Zwei Pinguine

machen

G eschichte

Die Geschichte von Roy und Silo, auch als „die beiden schwulen Pinguine“ bekannt, ist ein Zeichen ihrer Zeit, was Diskussionen alternativer Familienmodelle betrifft. Wenngleich sich das Kinderbuch der wahren Geschichte der beiden Pinguin-Männchen, die um die Jahrtausendwende im New York City Central 10 Vgl. Werner Sollors, Beyond Ethnicity: Consent and Descent in American Culture, New York 1987. 11 Vgl. Paul Gilroy, „It Ain’t Where You’re From, It’s Where You’re At…“: The Dialectics of Diasporic Identification, in: Third Text 13 (1990–91), S. 3.

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Park Zoo ein Pinguin-Kücken „adoptiert haben“, mit viel Phantasie annähert, so ist es dennoch ein kulturelles Ereignis, das mit vielen tagespolitischen Themen in den USA räsoniert: es positioniert sich inmitten der kontroversiell diskutierten Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die im progressiven Bundesstaat Massachusetts, wo meine Tochter in den Kindergarten geht, 2003 zugelassen wurde, und zwar im gleichen Jahr, in dem im konservativen Bundesstaat Texas das gemeinsame Wohnrecht schwuler und lesbischer Paare per Höchstgerichtsbeschluss abgeschafft wurde. Ein kurzer Blick auf die kulturelle Geschichte rund um dieses Kinderbuch ist bezeichnend dafür, wie sehr die Kernfamilie ein umstrittenes Konzept ist: in vielen Diskussionen zu diesem Thema liegt der Fokus auf dem Wohlergehen des Kindes, für das traditionelle Familienwerte wichtig seien. Roy und Silo sind zu Ikonen der LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) Community geworden, was auch in der für Juni 2015 angekündigten 10th Anniversary Edition so gefeiert wird. Es ist daher kaum verwunderlich, dass sich die Geschichte um Roy und Silo in diversen Blogs im Zusammenhang mit dem im Frühjahr 2013 diskutierten Defense of Marriage Act (DOMA)12 neuer Beliebtheit erfreute; und auch heute noch, einige Jahre nachdem sich Roy und Silo getrennt haben,13 stehen die feinen, sanften Kinderbuchillustrationen und das dadurch evozierte Gefühl von Heimeligkeit im Kontrast zu den unqualifizierten und untergriffigen Kommentaren bezüglich der Homo-Ehe, in welchen die heteronormative, patriarchale Kernfamilie als Ideal einer universell gültigen Norm gesellschaftlicher Werte und Tradition angesehen wird. Die Geschichte von Roy und Silo verdeutlicht die unterschiedliche Bedeutung der Familie in nationalen Kontexten in den USA, als positives Beispiel eines alternativen Familienmodells sowie als Angriff auf die traditionelle Kernfamilie. Da die Geschichte von Roy und Silo eine Geschichte über Familien ist, spiegelt sie auch Entwicklungen und Tendenzen innerhalb der Gesellschaft wider, wie es Familien eben tun.

12 In der online Zeitung The Dish, berichtete Andrew Sullivan, zum Beispiel, ausführlich über die gesellschaftliche Stimmung in Bezug auf DOMA und referenziert auf Roy und Silo in seiner Kritik an den Urteilen des amerikanischen Höchstgerichts gegen die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe auf nationaler Ebene. Vgl. http://dish.andrewsullivan.com/2013/03/28/highlights-from-the-doma-debate/?utm_ source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed%3A+andrewsullivan %2FrApM+%28The+Dish%29. 13 Vgl. Jonathan Miller, New Love Breaks Up a 6-Year Relationship, New York Times, 24. Sept. 2005.

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D ie Familie

im gesellschaftlichen

Wandel

Abseits des emotionalen Raums, den Familien darstellen, sind sie auch repräsentativ für gesellschaftliche Phänomene und deren Veränderungen. Demnach sind Familien immer an der Schnittstelle zwischen Nation, Ethnie und sozialer Klasse angesiedelt. Was in Diskussionen zum Thema traditionelle Familie und der Norm, die durch die heteronormative, patriarchale Familienstruktur vorgegeben wird, oft wenig Beachtung findet, ist, dass die traditionelle Familie ein gesellschaftliches und kulturelles Konstrukt ist. In Mitteleuropa und Nordamerika besteht die traditionelle Familie etwa aus einem heterosexuellen Elternpaar, deren leiblichen Kindern, eingebettet in eine Familienstruktur, in der die finanzielle Erhaltung dem Vater und die Erhaltung des Haushaltes sowie die Versorgung der Kinder der Mutter zugeschrieben wird. Die daraus resultierende Hierarchie innerhalb der Familie spiegelt patriarchale Gesellschaftsstrukturen wider, welche, wie Adrienne Rich aufgezeigt hat, die Sozialisierung von männlichen und weiblichen Rollenmodellen innerhalb der Familie bestimmt. In ihrer einflussreichen Studie Of Woman Born: Motherhood as Experience and Institution (1976) zeigt Rich auf, wie das Patriarchat nicht nur die Machtverhältnisse zwischen den Familienmitgliedern, sondern auch die Kindererziehung innerhalb der traditionellen Familie reguliert. Dies nimmt Rich zum Anlass, in der Definition von Mutterschaft zwischen Erfahrung, das heißt dem biologischen und emotionalen Erleben von Mutterschaft, und der Institution Mutterschaft, also der Regulierung dieser Erfahrung durch gesellschaftliche Normen wie z.B. Geschlechternormen oder Praktiken, die definieren, was eine (gute) Mutter ist, zu unterscheiden.14 Demzufolge zeigt Rich das Paradoxon auf, dass alle Beziehungen innerhalb einer Familie, besonders auch die Beziehungen zwischen Müttern und Kindern, die Regulierung von Mutterschaft innerhalb des Patriarchats widerspiegeln und somit die inhärenten Rollenbilder an die nachfolgende Generation tradieren. Mutter sein in der traditionellen Familie bedeutet für Rich das Umsetzen der patriarchalen Hierarchie in die Praxis, wobei die Mutter das Lacansche Gesetz des Vaters an sich selbst und an ihren Kindern anwendet. Sich vom traditionellen Familienbild abzuwenden ist daher als eine Form der Rebellion gegen den Status Quo vorherrschender traditioneller Geschlechternormen zu verstehen. Während Rich Mutterschaft nicht außerhalb patriarchaler Strukturen konzipiert, zeigt Andrea O’Reilly subversive Praktiken von Mutterschaft – und zwar nicht nur von heterosexuellen Frauen – auf.15 O’Reilly bezieht sich dabei auf Richs 14 Vgl. Adrienne Rich, Of Woman Born: Motherhood as Experience and Institution. New York 1995. 15 Vgl. Andrea O’Reilly, Mother Outlaws: Theories and Practices of Empowered

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Unterscheidung zwischen motherhood und mothering, wobei sich mothering auf die individuelle Auslebung des Mutter-Seins bezieht. Bei Richs Analyse steht zum größten Teil die patriarchale Familie in einem anglo-amerikanischen Mittelklassekontext im Fokus; bei Patricia Hill Collins hingegen ist es die afro-amerikanische Familie. Im Zentrum ihrer Arbeit zu Intersektionalität zwischen „Rasse“, Gender und Nation stehen die komplexen Zusammenhänge zwischen Geschlechterungleichheit in der traditionellen Familie und Aspekte kultureller und nationaler Identität. Davon ausgehend argumentiert sie in ihrem Aufsatz „It’s All in the Family: Intersections of Gender, Race, and Nation“ (1998), dass „[th]e power of [the] traditional family ideal lies in its dual function as an ideological construction and as a fundamental principle of social organization.“16 Hill Collins schreibt der Familie die ideologisch wichtige Funktion zu, gesellschaftliche Konstrukte zu implementieren und zu normalisieren: “Individuals typically learn their assigned place in hierarchies of race, gender, ethnicity, sexuality, nation, and social class in their families of origin. At the same time, they learn to view such hierarchies as natural social arrangements, as compared to socially constructed ones. Hierarchy becomes ‚naturalized‘ because it is associated with seemingly ‚natural‘ processes of the family“.17 Hill Collins kommt also zu der Schlussfolgerung, dass in einer Familie Narrative über Geschlechternormaliät und über nationale Identität konvergieren. Gesellschaftliche Diskurse bezüglich der Frage, wem Elternschaft zugesprochen wird oder was eine gute Mutter ausmacht, sind demnach immer Indiz für nationalistische Diskurse, welche von der Grundüberlegung ausgehen, dass Veränderungen innerhalb der traditionellen Familie die gesellschaftliche und nationale Kohärenz gefährden. Diese Ablehnung gegenüber gesellschaftlicher Heterogenität aus der Sorge um die Weiterführung einer nationalen Tradition ist es dann, die in regulierenden Maßnahmen wie die des DOMA in den USA und anderen Praktiken konservativer Körperpolitik sichtbar wird. Wenn im Kontext solcher traditionellen Familien vom Wohl des Kindes gesprochen wird, dann ist dieses Wohl meist eine Metapher für die nationalen Werte einer Gesellschaft. Der Zusammenhang zwischen Familie und Nation wird auch sprachlich hervorgehoben und somit im erlebten Alltag reproduziert. Wenn die Nation, wie Benedict Anderson behauptet, eine imagined commu­ nity ist, dann werden emotionale Verbundenheit und Zugehörigkeit mit dieMothering, Toronto 2004; Green Fiona J., May Friedman, (Hg.), Chasing Rainbows: Exploring Gender Fluid Parenting, Toronto 2013. 16 Patricia Hill Collins, „It’s All in the Family“: Intersections of Gender, Race, and Nation, in: Hypatia: A Journal of Feminist Philosophy 13.3 (1998), S. 63. 17 Ebda, S. 64.

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ser imagined community auch sprachlich evoziert.18 Wenn der Nationalstaat durch Begriffe wie Vaterland, motherland, colonial mother country Ausdruck findet, so wird dadurch einerseits emotionale Nähe impliziert und anderseits die Kernfamilie als Verortung dieser Gefühle angenommen. Dem zugrunde liegt wiederum die Annahme, dass die Familie ein Abbild der Werte und Traditionen eines Nationalstaates ist. Dies argumentiert auch Donna Haraway, die, ähnlich wie Anderson, diskursive Praktiken gesellschaftlicher Konstrukte beleuchtet. Haraway weist darauf hin, dass zu allen historischen Perioden der westlichen Moderne rechtliche, wissenschaftliche, literarische, und religiöse Texte Geschlechterkonzepte geprägt haben, sodass die Begriffe Vater und Mutter im Zusammenhang mit einer nationalen Identität immer als Ausdruck der bestehenden Geschlechterungleichheit zu verstehen sind. Oder, wie es Judith Lorber auf den Punkt bringt: „gender inequality […] is not an individual matter but is deeply engrained in the structure of societies“.19 Die Narrative, die Geschlechternormen beschreiben aber auch vorschreiben, beziehen sich meistens auf den vergeschlechtlichten Körper. Weil diese Narrative ständig gesellschaftliche Strukturen beeinflussen, bezeichnet sie Haraway als „regulatory fictions“.20 Metaphern, die Familie und Nation in Verbindung bringen, tragen zur Etablierung und Verbreitung dieser regulierenden Narrative bei. So ist zum Beispiel der Begriff Mutter der Nation ein weitverbreitetes Sprachbild, das die Rolle der Frau innerhalb nationalistischer und faschistischer Kunst und Politik verdeutlicht.21 Das Bild der Mutter, die sich um das Wohl der Kinder, und in diesem Sinne auch um das Wohl der Nation bemüht, ist eines vieler Beispiele in diesem Zusammenhang. Die Aufgabe einer Mutter, gute und verantwortungsbewusste BürgerInnen zu erziehen, wird auch auf der Ebene der Populärkultur immer öfter hervorgehoben. Nordamerikanische und europäische Reality TV Shows wie Nanny 911 und Supernanny bedienen sich dabei einer Darstellung von Müttern, die als inkompetent und überfordert dargestellt werden, um im Verlauf einer Episode von einer Mary-Poppins-artigen Coach mit effektiveren 18 Nicht ob eine community echt oder unecht ist steht bei Benedict Andersons Überlegungen zum Nationalstaat im Mittelpunkt, sondern „the style in which they are imagined“. Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections of the Origin and Spread of Nationalism, London 2007, S. 6. 19 Judith Lorber, Gender Inequality: Feminist Theories and Politics, New York 2010, S. 7. 20 Donna Haraway, Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 135. 21 Vgl. etwa Anne K. Mellor, Mothers of the Nation: Women’s Political Writing in England 1780–1830, Indianapolis 2002.

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Erziehungsmethoden vertraut gemacht zu werden, mit deren Hilfe diese Frauen am Ende der Episode brave und guterzogene Kinder präsentieren können. Solche Shows zielen in erster Linie darauf ab, Frauen in ihrer Rolle als Mütter zu bemängeln und eines Besseren zu belehren, ohne darauf einzugehen, in welche Strukturen diese Frauen eingebettet sind: Dass nur sie – nicht die Väter, nicht die fehlende Infrastruktur an passender und finanziell leistbarer Kinderbetreuung, nicht die überzeichnete Erwartung an perfekte Familienbilder – im Mittelpunkt stehen, ist bezeichnend für die ideologische Botschaft solcher Shows und wie sie die dargestellte „Realität“ konstruieren. Familie wird also nur als die Aufgabe und das Resultat der Fähigkeit einer Frau thematisiert und somit außerhalb eines größeren gesellschaftlichen Kontexts gestellt.22 Gleichzeitig wird die Familie als Diskussionsgegenstand herangezogen, um für das Fortbestehen traditioneller Werte zu argumentieren, was wiederum die Verbindung zwischen Familie und Nation unterstreicht. So argumentiert etwa Lee Edelman in No Future: Queer Theory and the Death Drive (2004), dass die Rhetorik politischer Innovationen in Europa und Nordamerika sich meistens darauf stützt, eine bessere Zukunft für unsere Kinder schaffen zu wollen, eine Form von „reproductive futurism“, die sich des Gedankens bedient, dass Kinder die Zukunft der Nation und deren gesellschaftliche Werte und Normen symbolisieren.23 Die Darstellung von Familienleben in And Tango Makes Three beruft sich in erster Linie auf diese Form eines reproductive futurism, nur eben im Kontext einer gleichgeschlechtlichen Beziehung, die ebenso traditionelle Werte vermitteln kann. Es wird besonders darauf geachtet, dass Roy und Silo als ganz normale Eltern dargestellt werden, die sich von Hetero-Eltern in ihrem Verhalten dem Kücken gegenüber nicht unterscheiden. Sich ein traditionelles Familienbild so anzueignen ist vermutlich Teil der Strategie des Buches, bestehende Vorurteile gegenüber Homo-Eltern abzufedern. Im Kindergarten meiner Tochter stehen Roy und Silo für die Toleranz, die die Kinder – alles Kinder aus HeteroFamilien – gegenüber anderen aufbringen sollen. Sie sind Teil eines Narrativs um die progressive Haltung des Kindergartens und des Bundesstaates, der ja schon seit Jahrzehnten das Recht auf gleichgeschlechtliche Beziehungen als einen Teil amerikanischer Identität versteht. And Tango Makes Three entspricht zwar nicht dem Vater-Mutter-Kind Modell, das die Kindergartenkinder beim 22 Vgl. Fiona J. Green, Real(ity) TV Practices of Surveillance: Evaluating Mothers in Supernanny and Crash Test Mommy, in: Elizabeth Podnieks (Hg.), Mediating Moms: Mothering in Popular Culture, Montreal 2012, S. 86–109. 23 Vgl. Lee Edelman, No Future: Queer Theory and the Death Drive, Durham 2004, S. 2.

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Spielen oft reproduzieren, adaptiert aber die gleichen Geschlechterverhältnisse der traditionellen Familie, die Anliegen der konservativen Kritiker der HomoEhe sind.

Familie

und globale

M obilität

Ganz anders ist es bei transnationalen Familien, ob hetero oder nicht, die bewusst nationale Bilder der Familie in Frage stellen. Besonders durch ihre globale Mobilität und Transnationalisierung (als Kollektiv oder der einzelnen Angehörigen) werfen sie die Frage auf, was der Begriff Familie heutzutage bedeutet, bewirkt und aushält. Im Forschungsfeld zur kulturellen Globalisierung und ihre Auswirkung auf Familie und Verwandtschaft ergeben sich dadurch auch neue Fragen zum gesellschaftlichen Wandel durch internationale Migration, Diaspora und Transnationalität. Ausgehend von der Annahme, dass die Familie ein Abbild der Gesellschaft ist, kann man auch annehmen, dass sich innerhalb der Familie die Auswirkungen der Globalisierung auf Familienstrukturen und Praktiken familiären Zusammenlebens widerspiegeln. Globale Mobilität stellt Konzepte der traditionellen Familie in Frage. Dass Kindergeld-BezieherInnen die Zeit ihrer Karenz in Österreich verleben müssen, ist ein Beispiel dafür, inwieweit traditionelle Ideen von Familienleben sich nicht mit globaler Mobilität vereinbaren lassen. Das trifft im Allgemeinen dann zu, wenn ganze Familien mittel- oder langfristig auswandern oder wenn einzelne Familienmitglieder ihre Verwandtschaftsverhältnisse aus der Ferne leben. Auch was als Familie gilt, hängt mit den Veränderungen einer globalen Welt zusammen. Einer rezenten Studie zu generationenübergreifenden Verwandtschaftsverhältnissen und Globalisierung zufolge, ergibt sich, dass „practices of intergenerational relations mediate large-scale processes of globalization“.24 Das betrifft besonders die Kinder von Familien mit Migrationshintergrund,25 die Familienstrukturen nur außerhalb des Herkunftslandes ihrer Eltern erleben, wobei ihre Eltern aber oft genau diese Strukturen als erstrebenswert empfinden. Peggy Levitt and Mary Waters kommen in The Changing Face of Home: The 24 Jennifer Cole, Deborah Durham (Hg.), Generations and Globalization: Youth, Age, and Family in the New Economy, Indianapolis 2007, S. 5. 25 Dasselbe gilt für die 1,5 Generation, das heißt für Menschen, die in Kindesjahren immigriert sind, sodass ihre Sozialisation hauptsächlich außerhalb des Herkunftslandes ihrer Eltern stattgefunden hat. Vgl. Ruben G. Rumbaut, Ages, Life Stages, and Generational Cohorts: Decomposing the Immigrant First and Second Generations in the United States, in: International Migration Review, 38.3 (2004), S. 1160–1205.

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Transnational Lives of the Second Generation (2002) zu der Schlussfolgerung, dass „synergy, rather than an antagonism, between assimilation and transnational practices“26 im Alltagsleben der Kinder von Familien mit Migrationshintergrund dominiert. Darüber hinaus argumentieren Levitt und Waters, dass internationale Migration nicht länger als ein „one-way process“, sondern als ein „complex, multidirectional exchange between home and host country on the level of economic, political, social, and cultural transformations“27 gesehen werden muss. Das bedeutet auch, dass Familie anders gedacht werden muss, einerseits weil das Konzept der traditionellen Familie die Multilokalität transnationaler Familien nicht widerspiegelt und anderseits, weil Familienmitglieder ständig mit transnationalen Verwandtschaftsverhältnissen in Berührung kommen, sogar wenn nicht sie selbst, sondern ihre Familienmitglieder international mobil sind.28 In den Phänomenen, die Levitt and Waters als „transnational practices of the children of immigrants“29 bezeichnen, werden auch Geschlechterrollen neu verhandelt. Zu dieser Erkenntnis kommen auch Karen Dion und Kenneth Dion, deren Untersuchung der Dynamik zwischen Eltern mit Migrationshintergrund und deren Kindern zeigt, dass „[g]ender provides an important framework for understanding“.30 Dies wird etwa an der Tatsache sichtbar, dass Töchter generell mit strengeren und konservativeren Geschlechterkonzepten erzogen werden als Söhne, meistens weil Eltern davon ausgehen, dass es die Aufgabe der Töchter sein wird, die kulturellen Traditionen der Eltern und deren Herkunftslands fortzuführen und an ihre eigenen Kinder weiterzugeben.31 Die Auswirkungen der Globalisierung und Transnationalität auf bestehende Familienstrukturen fordern auch neue Zugänge zu der Frage ein, wie Familienleben im Alltag praktiziert wird. Arbeitsmigration, die vormals vorwiegend männliche Arbeitskräfte mobilisierte – wie besonders in den sogenannten Gastarbeiterkulturen in Europa und der asiatischen Immigration nach Nordamerika 32 – bewirkte Veränderungen in den Strukturen patriarchaler 26 Peggy Levitt, Mary Waters, Introduction, in: Peggy Levitt, Mary Waters (Hg.), The Changing Face of Home: The Transnational Lives of the Second Generation, New York 2002, S. 5. 27 Ebda. 28 Vgl. ebda. S. 11. 29 Ebda., S. 3. 30 Karen Dion, Kenneth Dion, Gender, Immigrant Generation, and Ethnocultural Identity, in: Sex Roles 50. 5–6 (2004), S. 347. 31 Vgl. ebda. S. 348. 32 In beiden Fällen dominieren bachelor societies, die dadurch enstanden, dass vorerst nur die Männer und erst nach geraumer Zeit ihre Familienangehörigen emigrierten.

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Familien, wo sich aufgrund der Abwesenheit der Väter Geschlechterrollen neu verteilten. Derzeit besteht am internationalen Arbeitsmarkt verstärkt Bedarf an Frauen zur Ausübung sogenannter typischer Frauenberufe wie zum Beispiel als Haushaltshilfe. In Global Women: Nannies, Maids and Sex Workers in the New Economy zeigen Barbara Ehrenreich und Arlie Hochschild auf, dass in den vergangenen 25 Jahren die globale Arbeitsmigration von Frauen etwa aus ehemaligen Kolonialstaaten zur Ausübung von Tätigkeiten im Bereich der Altenpflege, der Kinderbetreuung und der Prostitution drastisch zugenommen hat, sosehr, dass sie von einer „feminization of migration“ sprechen.33 Viele der Frauen, die im Ausland Hausarbeit anbieten, haben Familie und ermöglichen ihren Kindern durch ihre Arbeit eine finanziell sichere Zukunft. Dafür nehmen sie in Kauf, längere Zeit von ihrer Familie getrennt zu leben und die Kinderbetreuung ihren Müttern zu übertragen. Dadurch verändert sich auch die Familienstruktur der Arbeit gebenden Familie, in der eine Delegation der Reproduktionsarbeit an eine dritte Person neue Machtstrukturen einführt: Wenn westliche Frauen andere Frauen anstellen, damit sie an ihrer Stelle das Ausmaß an Hausarbeit, das in der traditionellen, patriarchalen Familie generell Frauen zugewiesen wird, übernehmen und die westlichen Frauen dann wiederum Familie und Karriere vereinbaren können, wie verändern sich dadurch Geschlechterrollen innerhalb der Kernfamilie? Und inwieweit sind diese Veränderungen anders als jene in den Familien der Frauen, die als Haushaltshilfe angestellt werden? In beiden Fällen, abseits der vorherrschenden historischen Machtverhältnisse, die durch die Globalisierung des Arbeitsmarkts sichtbar werden, vereint beide Typen von Frauen die Tatsache, dass sie außerhalb ihres Eigenheims arbeiten, dass sie dazu die Kinderbetreuung delegieren müssen und dass sie in erster Linie die Verantwortung für den Haushalt tragen. In beiden Fällen zeigt sich ein Beispiel eines Phänomens, das Saskia Sassen als „feminization of survival“ bezeichnet.34 Ein weiterer Effekt der Globalisierung auf Familienstrukturen zeigt sich in der aktiven Erhaltung eines gefühlten Familienzusammenhalts innerhalb transnationaler Familien. Ausgehend von Linda Stones Definition von Verwandtschaft als „an ideology of human relationships“, durch welche „cultural ideas about how humans are created and the nature and meaning of their biological and

33 Barbara Ehrenreich, Arlie Hochschild. Introduction, in: Barbara Ehrenreich, Arlie Hochschild (Hg.), Global Women: Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy, New York 2002, S. 5. 34 Saksia Sassen, Global Cities and Survival Circuits, in: Barbara Ehrenreich, Arlie Hochschild (Hg.), Global Women, S. 265.

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moral connections with others“ hervorgehoben werden,35 zeigt sich, dass neue Kommunikationsmedien einen entscheidenden Beitrag im Zusammenhalt transnationaler Familien leisten. Beziehungen mit Familienmitgliedern, die zuvor beinahe ausschließlich in internationalen Call Centers (aufgrund der dort günstigen Auslandstarife) auch über die weite geographische Distanz aufrecht erhalten werden konnten, können durch Internet-basierte Kommunikationstechnologien wie Skype, Twitter und Instagram ständig und losgelöst von Orten wie Call Centers ausgelebt werden. Daraus entsteht das Gefühl der Nähe und Verbundenheit über nationale Grenzen hinweg, was auch Eltern, die im Ausland leben, eine neue Form der Präsenz im Leben und in der Erziehung ihrer Kinder gibt. Mirca Manianous und Daniel Millers Studie Migration and New Media: Transnational Families and Polymedia36 untersucht zum Beispiel die Beziehung zwischen Kindern in den Philippinen und deren Eltern, die in Großbritannien leben und arbeiten. Die qualitativen Interviews und Beobachtungen ihrer Studie ergeben, dass transnationale Familien durch die Verwendung von „polymedia“, das heißt die Verwendung mehrerer interaktiver Kommunikationstechnologien, eine Möglichkeit für Eltern darstellen, auf das Leben ihrer (erwachsenen) Kinder Einfluss zu nehmen, besonders im Bereich der Alltagsgestaltung, der Fortführung kultureller Traditionen und der Vermittlung von Werten. Familie online zu leben ist eine weitere Realität im familiären Alltagsleben transnationaler Familien.

S chlussfolgerung All diese Praktiken transnationalen Familienlebens stehen im Zusammenhang mit fluiden Identitätskonzepten, die daraus resultieren, dass in einem transnationalen Kontext Identität und Familie gleichermaßen neu gedacht werden müssen. Ob als Resultat von internationaler Migration oder von Transgression nationaler, patriarchaler Normen, diese neuen Formen von Familie stehen im Spannungsfeld gesellschaftlichen Wandels und spiegeln diesen in neuen Ausdrucksformen dessen wider, was als Familie gilt. Familienbilder konstituieren sich immer wieder neu, und eine Berufung auf traditionelle Werte ist oft eine Heraufbeschwörung essentialistischer, nationaler Identitätskonzepte, die aus binären und dichotomen Strukturen abgeleitet werden. Es gibt sie noch immer, die traditionelle Kernfamilie, aber es gibt eben auch andere etablierte Formen von Familienleben, in denen fluide Identitäten nicht als Abweichung von einer Norm, sondern als 35 Linda Stone, Gender and Kinship: An Introduction, Bolder 2000, S. 6. 36 Mirca Madianou, Daniel Miller, Migration and New Media: Transnational Families and Polymedia, London 2011.

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Ausdruck gesellschaftlicher Vielfalt gelten. Das hat auch meine Tochter aus dem Kinderbuch And Tango Makes Three gelernt, denn bei unserem Besuch des New York City Central Park Zoo hat sie, auf die Frage, wer von den vielen Pinguinen denn Roy und Silo seien, gemeint, dass das nicht wichtig sei, wo doch alle Eltern werden können.

L iteratur Anderson Benedict, Imagined Communities: Reflections of the Origin and Spread of Nationalism, London 2007. Benjamin Jessica, Shadow of the Other: Intersubjectivity and Gender in Psychoanalysis, New York 1998. Cole Jennifer, Deborah Durham (Hg.), Generations and Globalization: Youth, Age, and Family in the New Economy, Indianapolis 2007. Dion Karen, Kenneth Dion, Gender, Immigrant Generation, and Ethnocultural Identity, in: Sex Roles 50. 5–6 (2004), S. 374–355. Edelman Lee, No Future: Queer Theory and the Death Drive, Durham 2004. Ehrenreich Barbara, Arlie Hochschild, Introduction, in: Barbara Ehrenreich, Arlie Hochschild (Hg.), Global Women: Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy, New York 2002, S. 1–13. Friedman May, Silvia Schultermandl, Introduction, in: May Friedman, Silvia Schultermandl (Hg.), Growing Up Transnational: Identity and Kinship in a Global Era, Toronto 2011, S. 3–18. Gilroy Paul, „It Ain’t Where You’re From, It’s Where You’re At…“: The Dialectics of Diasporic Identification, in: Third Text 13 (1990–91), S. 3–16. Green Fiona J., May Friedman, (Hg.), Chasing Rainbows: Exploring Gender Fluid Parenting, Toronto 2013. Green Fiona J., Real(ity) TV Practices of Surveillance: Evaluating Mothers in Supernanny and Crash Test Mommy, in: Elizabeth Podnieks (Hg.), Mediating Moms: Mothering in Popular Culture, Montreal 2012, S. 86–109. Hall Stuart, Cultural Identity and Diaspora, in: Jonathan Rutherford (Hg.), Identity: Community, Culture, and Difference, London 1998, S. 222–237. Haraway Donna, Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991. Hill Collins Patricia, „It’s All in the Family“: Intersections of Gender, Race, and Nation, in: Hypatia: A Journal of Feminist Philosophy 13.3 (1998), S. 62–82. Khagram Sanjeev, Peggy Levitt, Constructing Transnational Studies, in: Sanjeev Khagram, Peggy Levitt (Hg.), The Transnational Studies Reader: Intersections and Innovations, New York 2007, S. 1–18.

170 | Silvia Schultermandl

Levitt Peggy, Mary Waters, Introduction, in: Peggy Levitt, Mary Waters (Hg.), The Changing Face of Home: The Transnational Lives of the Second Generation, New York 2002, S. 1–30. Lorber Judith, Gender Inequality: Feminist Theories and Politics, New York 2010. Madianou Mirca, Daniel Miller, Migration and New Media: Transnational Families and Polymedia, London 2011. Mellor Anne K., Mothers of the Nation: Women’s Political Writing in England 1780–1830, Indianapolis 2002. Miller Jonathan, New Love Breaks Up a 6-Year Relationship, New York Times 24. Sept. 2005. n.pag. http://www.nytimes.com/2005/09/24/ nyregion/24penguins.html?_r=0 . O’Reilly Andrea, Mother Outlaws: Theories and Practices of Empowered Mothering, Toronto 2004. Parnell Peter, Justin Richardson, And Tango Makes Three, New York 2005. Rich Adrienne, Of Woman Born: Motherhood as Experience and Institution, New York 1995. Puar Jasbir, Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times, Durham 2007. Rumbaut Ruben G., Ages, Life Stages, and Generational Cohorts: Decomposing the Immigrant First and Second Generations in the United States, in: International Migration Review, 38.3 (2004), S. 1160–1205. Sassen Saksia, Global Cities and Survival Circuits, in: Barbara Ehrenreich, Arlie Hochschild (Hg.), Global Women: Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy, New York 2002, S. 254–273. Schultermandl Silvia, Sebnem Toplu, A Fluid Sense of Self: The Political of Transnational Identity in Anglophone Literature, in: Silvia Schultermandl, Sebnem Toplu (Hg.), A Fluid Sense of Self: The Politics of Transnational Identity, Wien 2010, S. 11–23. Sollors Werner, Beyond Ethnicity: Consent and Descent in American Culture, New York 1987. Stone Linda, Gender and Kinship: An Introduction, Bolder 2000.

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Warum Frauen so viel arbeiten und so wenig verdienen … M argareta K reimer

1. Warum Frauen

so viel arbeiten



Die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit in Österreich zeigte in den vergangenen Jahrzehnten Muster, wie sie in allen industrialisierten Ländern zu finden waren: Die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist kontinuierlich gestiegen, Frauen sind in neue und mittlerweile wohl auch alle Berufsfelder eingedrungen, sie sind im Management und in Führungspositionen tätig, und sie teilen auch die Schattenseiten der Arbeitsmarktentwicklung wie Arbeitslosigkeit und atypische Beschäftigungsverhältnisse mit ihren männlichen Kollegen. Auf der Ausbildungsebene haben Frauen in den jüngeren Kohorten ihre männlichen Kollegen überholt, die Mehrheit der Studierenden wie auch der AbsolventInnen im tertiären Bereich in Österreich ist weiblich.1 Berufsunterbrechungen aufgrund familiärer Verpflichtungen sind zwar immer noch primär ein Merkmal weiblicher Erwerbstätigkeit, sie sind aber deutlich seltener und kürzer geworden. Die gesetzlich verankerte Gleichbehandlungspolitik und, wenn auch noch zögerlich, betriebliche Frauenfördermaßnahmen unterstützen diese Eroberung aller Bereiche des Arbeitsmarktes durch Frauen. 1 An der Universität Graz stellen Frauen knapp zwei Drittel der Erstsemestrigen, 61 % der Studierenden, 67 % der AbsolventInnen und immerhin noch 52 % der DoktoratsabsolventInnen. Österreichweit liegt der Frauenanteil bei den Studierenden bei rund 54 %, bei den AbsolventInnen bei 56 % (zu den Daten vgl. unidata – Datawarehouse Hochschulbereich, https://oravm13.noc-science.at/apex/ f?p=103:36:0::NO:::).

172 | Margareta Kreimer

Im Folgenden seien zwei Aspekte hervorgehoben, die verdeutlichen sollen, dass diese „Eroberung“ des Arbeitsmarktes von Seiten der Frauen mit der Übernahme von „viel Arbeit“ verbunden war und ist: Frauen sind massiv in den Erwerbsarbeitsmarkt eingestiegen, ohne ihr Engagement in der Reproduktions­ sphäre wesentlich zu verringern. 1.1 Steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen 2013 waren 81,2 % der Männer und 71,1 % der Frauen erwerbstätig. Der Gender Gap Beschäftigung, d.h. die Differenz der Männer- und Frauenerwerbsquote in Prozentpunkten, hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten nahezu halbiert: 1994 betrug der Gap noch fast 20 Prozentpunkte, 2013 nur mehr 10,1 Prozentpunkte.2 Diese Annäherung in den Erwerbsquoten geht fast ausschließlich auf das Konto der gestiegenen weiblichen Erwerbsbeteiligung, während sich die Erwerbsquote der Männer kaum verändert hat. Der Anstieg der weiblichen Erwerbsquote wird jedoch durch die Teilzeit­ beschäftigung relativiert, denn diese ist primär Frauensache. 2013 arbeiteten 8,5 % der unselbständig beschäftigten Männer in Teilzeit, aber 45,9 % der Frauen. Mehr als 80 % der Teilzeitbeschäftigten sind Frauen.3 Dies wirft die Frage auf, ob Frauen tatsächlich „mehr“ arbeiten? Auf den ersten Blick nicht, wohl aber, wenn auf die Altersverteilung der Teilzeitbeschäftigten und die Gründe für Teilzeitarbeit eingegangen wird: Bei Männern konzentriert sich Teilzeitbeschäftigung auf die Phasen des Berufseinstiegs und vor allem des -ausstiegs (d.h. den Übergang in den Ruhestand), während bei den Frauen Teilzeit in den mittleren Altersklassen dominiert.4 Das geschlechtsspezifische Muster ist nicht zu übersehen: Frauen arbeiten Teilzeit, um Familie und Beruf zu vereinbaren, Männer arbeiten Teilzeit während der Ausbildungsphase und beim Übergang zur Pension. Der mit der Teilzeit verbundene hohe Arbeitseinsatz der Frauen wird allerdings nur dann sichtbar, wenn der Fokus der Analyse erweitert und die im Privaten informell und unbezahlt geleistete Arbeit in die Analyse einbezogen wird. 2 Die Erwerbsquote umfasst die Erwerbstätigen und Arbeitslosen im Alter von 15 bis 64 Jahren bezogen auf die Wohnbevölkerung im selben Altersbereich, vgl. http:// www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/erwerbsstatus/index.html. 3 Zu den Daten vgl. http://www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/arbeitszeit/teilzeitarbeit_teilzeitquote/. 4 2012 waren 70,9 % der Frauen im Alter von 25 bis 49 Jahren mit Kindern unter 15 Jahren teilzeitbeschäftigt, aber nur 5 % der Väter betreuungsbedürftiger Kinder; vgl. http://www.statistik.at/web_de/statistiken/soziales/gender-statistik/vereinbarkeit_ von_beruf_und_familie/index.html.

Warum Frauen so viel arbeiten und so wenig verdienen … | 173

1.2 Haus- und Betreuungsarbeit ist immer noch Frauensache Alle Erhebungen5 zeigen die Asymmetrie zwischen den Geschlechtern in der innerfamiliären Arbeitsteilung: Frauen sind die Hauptzuständigen für die Haus­ halts­f ührung und die Kinderbetreuung, relativ unabhängig davon, ob sie selbst im Erwerbsarbeitsmarkt tätig sind oder nicht. Diese Asymmetrie wirkt sich tendenziell zuungunsten der Gesamtarbeitsbelastung von Frauen aus: Frauen haben über ihre gestiegene Arbeitsmarktpartizipation ihr Arbeitspensum deutlich erhöht, ohne dass Männer in einem entsprechenden Ausmaß Arbeitsleistungen im Bereich des Haushalts und der Kinderbetreuung übernommen hätten. Nach den Ergebnissen der jüngsten Zeitverwendungsstudie 2008/09 leisten Frauen zwei Drittel der unbezahlten Arbeit (Hausarbeit, Kinderbetreuung, Pflege und ehrenamtliche Tätigkeiten), das sind im Wochendurchschnitt 32,1 Stunden bei den Frauen und 17,6 Stunden bei den Männern. Erwerbstätige Frauen erledigen mit 27 Wochenstunden zwar etwas weniger unbezahlte Arbeit, aber an der Asymmetrie der Arbeitsteilung ändert dies wenig: erwerbstätige Männer übernehmen 16,1 Stunden unbezahlte Arbeit.6 Die Frage, ob Frauen insgesamt mehr arbeiten als Männer, kann beantwortet werden, wenn bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammen betrachtet werden. Die Zeitverwendungsstudie zeigt hier immer noch einen Gender Gap zuungunsten der Frauen: Erwerbstätige Frauen arbeiten pro Woche nicht nur rund 16 Stunden mehr als alle Frauen, sondern auch fast zwei Stunden mehr als erwerbstätige Männer. Im Gegenzug bleibt diesen Frauen weniger Zeit für Freizeitaktivitäten.7 Insgesamt bestätigen alle Ergebnisse die klare Zuständigkeitsverteilung: Frauen sind relativ unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit für die Haushalts­ führung und die Kinderbetreuung „zuständig“, Männer „helfen mit“. Diese Zuständigkeit bedeutet nicht in jedem Fall, dass Frauen die Arbeiten alleine leisten, aber es obliegt ihnen, sich Hilfe und „Ausfallshaftungen“ für unvorhersehbare Krankheitsfälle etc. zu organisieren. Der Aufbau eines mehrschichtigen sozialen Netzes und die Kommunikation mit allen Beteiligten darf hinsichtlich des dahinter steckenden Arbeitsaufwandes keinesfalls unterschätzt werden. Eine annähernd egalitäre Arbeitsteilung ist relativ selten zu finden, und wenn, dann

5 1981, 1992 und zuletzt 2008/09 wurden im österreichischen Mikrozensus Zeitbudgets erhoben, 1995 und 2002 wurde jeweils ein Mikrozensussonderprogramm zur Haushaltsführung und Kinderbetreuung durchgeführt. 6 Vgl. Statistik Austria, Zeitverwendung 2008/09. Ein Überblick über geschlechtsspezifische Unterschiede, Wien 2009, S. 33–36. 7 Vgl. ebda.

174 | Margareta Kreimer

am ehesten bei den jungen Frauen und Männern.8 Dies gibt immerhin Anlass zur Hoffnung auf Veränderung.9

2. …

und so wenig verdienen

Frauen arbeiten – bezahlt und unbezahlt – mehr als Männer. Dass sie nicht auch entsprechend mehr Einkommen generieren, ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass Frauen einen deutlich größeren Anteil unbezahlter Arbeit ausüben. Aber wie schaut es im bezahlten Teil, in der Erwerbsarbeit aus mit der Einkommensgerechtigkeit, mit „gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit“? Gibt es darüber hinaus auch Unterschiede hinsichtlich der Armuts- und Aus­ grenzungsgefährdung? 2.1 Einkommensdifferenzen in der Erwerbsarbeit – Gender Pay Gap Alle Daten zur Einkommenssituation von Frauen und Männern in Österreich zeigen, dass der Gender Pay Gap relativ hoch und stabil ist: Das mittlere Einkommen der ganzjährig vollzeitbeschäftigten unselbständig erwerbstätigen Frauen beträgt nur rund 82 % des entsprechenden Männereinkommens.10 Im EU-Vergleich zählt Österreich immer noch zu den Ländern mit den größten Einkommensunterschieden. Im Vergleich zu den 1980er Jahren hat sich die Verkleinerung der Einkommensdifferenz deutlich verlangsamt. Eine Detailanalyse auf der Basis der Verdienststrukturerhebung 2010 ergibt, dass sich der Gender Gap bei den Bruttostundenverdiensten von 24 % auf 14,9 % verringern würde, gäbe es keine Unterschiede zwischen den Geschlech­ tern in Bezug auf Branche, Beruf, Ausbildungsniveau, Alter, Dauer der Unternehmenszugehörigkeit, Vollzeit/Teilzeit, Art des Arbeitsvertrages, Region und Unternehmensgröße.11 Innerhalb dieser erklärbaren Faktoren spielen vor allem die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarktes, sowie die Dauer 8 Vgl. ebda., S. 53–54. 9 Vgl. Elli Scambor, Anna Kirchengast, Gleichberechtigte Teilhabe. Zur Wahlfreiheit von Frauen und Männern in der Übernahme von Betreuungsaufgaben. Im Auftrag des Landes Steiermark, Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 6 Bildung und Gesellschaft, Referat Frauen, Gleichstellung und Integration, Graz 2014. 10 Vgl. Rechnungshof, Reihe Einkommen 2014/1, Wien, S. 25–28. 11 Vgl. Tamara Geisberger, Thomas Glaser, Geschlechtsspezifische Verdienstunter­ schiede. Statistische Nachrichten 3/2014, Wien, S. 8.

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der Unternehmenszugehörigkeit und das Beschäftigungsausmaß eine große Rolle. Um diese Faktoren bereinigte Berechnungen zeigen jedoch, dass Frauen immer noch fast 15 % weniger verdienen würden als ihre männlichen Kollegen. Anders ausgedrückt: Nur 38 % und damit deutlich weniger als die Hälfte des gesamten Gap kann durch die genannten Faktoren erklärt werden, 62 % des Gap bleiben unerklärt.12 2.2 Einkommensarmut und Ausgrenzungsgefährdung 2013 waren 12 % der Männer ab 20 Jahren in Österreich armutsgefährdet im Sinne von einkommensarm, aber 15 % der Frauen ab 20 Jahren.13 Nochmals nach Alter differenziert sehen wir eine erhöhte Armutsgefährdung bei den 20- bis 39jährigen Frauen und bei den Frauen ab 65 Jahren. Dies verweist auf die beiden zentralen Lebenslagen, in denen Frauen überproportional von Einkommensarmut betroffen sind: alleinerziehende Frauen und Frauen im Pensionsalter. Wird nicht nur die Einkommensdimension berücksichtigt, sondern auch die Ressourcenausstattung sowie die Erwerbsintensität der Haushalte, lässt sich der Indikator der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung ermitteln.14 Auch in dieser erweiterten Betrachtung sind Frauen mit einer Quote von 20 % stärker betroffen als Männer (16 %). Generell ist anzumerken, dass die Daten zur Armutsgefährdung auf Haus­ halts­ebene erhoben werden und daher davon ausgegangen werden kann, dass die Armutsgefährdung von Frauen eher unterschätzt wird: Der Haushalt insgesamt ist demnach arm oder nicht arm – wie die Einkommens- und Ressourcenverteilung innerhalb des Haushaltes aussieht, wissen wir nicht. Es mag daher arme Frauen in nicht-armen Haushalten geben, die mit den derzeitigen Statistiken nicht erfasst werden (dasselbe gilt auch für Kinder). 12 Vgl. ebda., S. 8–11. 13 Als armutsgefährdet gelten Personen mit einem Haushaltseinkommen unterhalb von 60 % des Medians des äquivalisierten Jahresnettoeinkommens. Zu den Daten vgl. Statistik Austria, Tabellenband EU-SILC 2013. Einkommen, Armut und Lebensbedingungen, Wien. 14 Als erheblich materiell depriviert gelten jene Haushalte, auf die zumindest vier der folgenden neun Merkmale zutreffen: Der Haushalt hat Zahlungsrückstände bei Miete, Strom oder Kreditraten; der Haushalt kann keine unerwarteten Ausgaben tätigen; der Haushalt kann sich nicht leisten: Heizen, ausgewogene Ernährung, Urlaub, PKW, Waschmaschine, TV, Festnetztelefon oder Handy. Als Haushalte mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität werden jene bezeichnet, in denen die Erwerbsintensität der Haushaltsmitglieder im Erwerbsalter (18–59 Jahre, ausgenommen Studierende) weniger als 20 % des gesamten Erwerbspotentials beträgt.

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Eindeutige Belege für die höhere Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung von Frauen liefern die Daten zu Haushalten mit nur einer erwachsenen Person: Ein-Eltern-Haushalte – dies sind vorwiegend alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern – verzeichnen mit einer Quote von 39 % die höchste Ausgren­ zungsgefährdung nach dem Haushaltstyp. Die Altersarmut wird insbesondere bei alleinlebenden Pensionistinnen sichtbar: 28 % sind armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.

3. Warum Frauen so viel arbeiten und so verdienen – drei E rklärungsansätze

wenig

Die Gründe dafür, warum Frauen trotz ihrer quantitativ und qualitativ gestiegenen Erwerbsbeteiligung immer noch Einkommensnachteile gegenüber Männern und höhere Armutsrisiken hinnehmen müssen, sind vielfältig.15 Drei Begründungszusammenhänge sollen im Folgenden dargestellt werden: – Frauen erledigen erstens den größten Teil der unbezahlten Arbeit bzw. teilintegrierten Arbeit mit geringer Bezahlung und ungenügender sozialer Absicherung, d.h. die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung ist nach wie vor zuungunsten der Frauen asymmetrisch. – Im Erwerbsarbeitsmarkt sind Frauen zweitens in den „falschen“ Berufen und Branchen aktiv, nämlich in jenen mit ungünstigeren Bedingungen und geringerer Bezahlung. Die geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation liefert einen essentiellen Beitrag zum Gender Pay Gap. – Drittens bekommen Frauen für gleichwertige Arbeit weniger bezahlt, Arbeitsmärkte sind immer noch Austragungsort diskriminierender Mecha­ nis­men und Prozesse. 3.1 Asymmetrie der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung Sowohl die ungleich verteilte Haus- und Betreuungsarbeit als auch die höhere Präsenz von Frauen in der Teilzeitarbeit bzw. generell in atypischen Beschäftigungsverhältnissen verweisen auf eine Asymmetrie in der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die historische Wurzeln hat: Die Arbeitsteilung in der Form der Trennung von Familien- und Erwerbsleben 15 Für eine Analyse geschlechtsspezifischer Unterschiede in Österreich siehe beispielsweise Margareta Kreimer, Ökonomie der Geschlechterdifferenz. Zur Persistenz von Gender Gaps, Wiesbaden 2009.

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hat sich mit der Entwicklung marktwirtschaftlicher Systeme durchgesetzt.16 Die Lebenswelten von Frauen und Männern wurden getrennt, eine geschlechtliche Arbeitsteilung im Sinne einer „ursprünglichen Segregation“ wurde installiert. Vor dem Hintergrund des bürgerlichen Ideals der oberen Mittelschichten wurde den Frauen der Haushalt und den Männern die Berufsarbeit zugeordnet. Das male breadwinner – female caretaker Modell (auch „Ernährermodell“) beschreibt die traditionelle Arbeitsteilung, wonach der Mann sich auf die Erwerbsarbeit spezialisiert, die Familie „ernährt“ und folglich auch entsprechend entlohnt werden muss, die Frau sich auf Hausarbeit und Kinderbetreuung spezialisiert und am Arbeitsmarkt höchstens als „Dazuverdienerin“ in Erscheinung tritt. Ohne die Zuweisung der Reproduktionsarbeit an AkteurInnen (de facto an Frauen) außerhalb des Marktes hätte sich die Erwerbsgesellschaft nicht in dieser Weise entwickeln können, der Reproduktionsbereich war und ist funktional für den Erwerbsarbeitsbereich. Der Gender Gap in der unbezahlten Arbeit ist somit nicht nur das Ergebnis der Mechanismen der Arbeitsteilung in der Erwerbssphäre, sondern auch der funktionalen Hierarchie zwischen marktvermittelter und privater Arbeit geschuldet. Die starke Präsenz von Frauen in atypischen Beschäftigungsformen17 liegt insbesondere darin begründet, dass sie um die „guten“ Arbeitsplätze seltener konkurrieren können, da gerade diese Arbeitplätze häufig ein hohes Ausmaß an zeitlicher Verfügbarkeit und Flexibilität erfordern. Zeit ist jedoch gerade jene Ressource, die Frauen infolge der asymmetrischen geschlechtlichen Arbeitsteilung einfach nicht haben.18 Verstärkt wird dies durch Tendenzen qualitativer Flexibilisierung, die immer mehr den Einsatz der „ganzen“ Arbeitskraft unter den Vorgaben von zeitlicher, geographischer und örtlicher Verfügbarkeit und unter dem Diktat der Zielorientierung anstelle der Orientierung an einer Regelarbeitszeit erfordern.19 Da zugleich immer mehr Frauen die alleinige 16 Vgl. Kreimer, Ökonomie der Geschlechterdifferenz, S. 21–23; sowie Margareta Kreimer, Arbeitsteilung als Diskriminierungsmechanismus: Theorie und Empirie geschlechtsspezifischer Arbeitsmarktsegregation, Frankfurt am Main [u.a.] 1999. 17 Insgesamt gingen 2012 rund 50 % der Frauen, aber nur rund 14 % der Männer in der Haupttätigkeit einer atypischen Beschäftigung (Teilzeiterwerbstätigkeit, freier Dienstvertrag, Leih- bzw. Zeitarbeitsverhältnis, geringfügige Beschäftigung unter 12 Stunden/Woche, Befristung) nach; vgl. http://www.statistik.at/web_de/statistiken/ soziales/gender-statistik/erwerbstaetigkeit/index.html. 18 Vgl. Margareta Kreimer, „Wenig Zeit, viel zu tun!“ Arbeitszeitflexibilsierung und Geschlechterdifferenz, in: Karl Franzens Universität Graz (Hg.), Zeit, Graz 2010, S. 91–106. 19 Vgl. Kreimer, Arbeitsteilung, insbesondere S. 213–245.

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Zuständigkeit für Familien- und Betreuungsarbeit verweigern, um bei den guten Jobs konkurrenzfähig sein zu können, kommt es zu Polarisierungen innerhalb des Frauenarbeitsmarktes. In Ermangelung von male caretakers bleibt hochqualifizierten und erwerbsorientierten Frauen nur der Rückgriff auf wiederum weibliche Ressourcen in der Form unterbezahlter Kinderbetreuerinnen, teilzeitbeschäftigter Haushälterinnen, geringfügig beschäftigter Kindermädchen, informell arbeitender Babysitterinnen und Putzhilfen, und prekär beschäftigter 24-Stunden-Pflegerinnen infolge des steigenden Bedarfs im Bereich der Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger. Diese Spaltung innerhalb des Frauenarbeitsmarktes hat somit ein Verstärkungselement eingebaut, das umso mehr zum Tragen kommt, je massiver vor allem gut qualifizierte Frauen eine kontinuierliche, vollzeitige und gegenüber den Männern konkurrenzfähige Arbeitsmarktpartizipation anstreben – sei es aus dem Emanzipationsgedanken heraus, und/oder aus der Notwendigkeit fehlender sozialer Absicherung abseits immer seltener vorhandener „Ernährerfamilien“. Wie den Daten zur Zeitverwendung zu entnehmen ist, basiert diese Neuord­ nung innerfamiliärer Arbeit nur zu einem geringen Teil auf einem Abbau der Geschlechterasymmetrie im Privaten. Statt „Halbe-Halbe“ in den Familien wird Betreuungsarbeit in Ermangelung anderer Alternativen an Migrantinnen ausgelagert, die ihrerseits ihre Kinder und Angehörigen in ihren Herkunftsländern zurücklassen müssen. Dass diese „globalen Versorgungsketten“ hohe Kosten für alle Beteiligten aufweisen, ist evident.20 3.2 Der Beitrag der Arbeitsmarktsegregation zum Gender Pay Gap Die Berufs- und Branchenstruktur unserer Arbeitsmärkte ist immer noch durch eine geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation gekennzeichnet. Die meisten Berufe werden von einem Geschlecht dominiert, sind folglich „Frauen-“ oder „Männerberufe“ (horizontale Segregation); nur ein kleiner Teil der Erwerbstätigen ist in „integrierten“ Berufen mit einer annähernd dem Durchschnitt der Erwerbstätigen entsprechenden Verteilung von Frauen und Männern tätig. Alle vorhandenen Studien zur Segregation zeigen die Dauer­ haftigkeit dieses Phänomens.21 20 Vgl. beispielsweise Ewa Palenga-Möllenbeck, Globale Versorgungsketten: Ge­ schlecht, Migration und Care-Arbeit, in: Brigitte Aulenbacher, Maria Dammayr (Hg.), Für sich und andere sorgen. Krise und Zukunft von Care in der modernen Ge­ sell­schaft, Weinheim–Basel 2014, S. 138–148. 21 Vgl. Kreimer, Arbeitsteilung, S. 213–245; Kreimer, Ökonomie der Geschlech­ter­

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Das Faktum der horizontalen Segregation wäre als solches noch nicht benachteiligend, sondern könnte auch Ausdruck unterschiedlicher Präferenzen der Geschlechter sein. Allerdings zeigen alle Studien, dass horizontale Segregation immer auch vertikale Segregation nach sich zieht. Diese wiederum wird im geringeren Einkommensniveau in Frauenberufen sichtbar, in unterschiedlichen Aufstiegsmustern der Geschlechter in segregierten Berufen, in unterschiedlichen Verwertungschancen von Qualifikation oder unterschiedlichen Weiterbildungsmöglichkeiten – und letztlich immer wieder in geschlechtsspezifischen Einkommensdifferenzen. Die bereits angeführte Analyse der Verdienststruktur22 beziffert den Effekt der branchen- und berufsspezifischen Segregation auf den Gender Pay Gap je nach Modellspezifikation mit einem Fünftel bis zu einem Viertel des gesamten Einkommensunterschiedes. Warum sind die Bedingungen in Frauenberufen ungünstiger als in Männer­ berufen? Die wesentlichste Ursache liegt in der Verhinderung oder Verschleierung von Vergleichsmöglichkeiten: Die Konzentration von Frauen in Frauenberufen oder -branchen erleichtert die geschlechtsspezifische Definition und Bewertung von Tätigkeiten (z.B. unterschiedliche kollektivvertragliche Einstufungen). Je mehr Männer und Frauen nebeneinander ähnliche Tätigkeiten ausführen, desto schwieriger werden solche geschlechtsspezifischen Bewertungsverfahren. Dies führt unmittelbar dazu, dass die daraus resultierende Ungleichbehandlung nicht oder nur schwer sichtbar ist und daher auch nur schwer bekämpft werden kann. Dies gilt vor allem in sehr stark berufsständisch verankerten Systemen wie Österreich. Den Frauen in Frauenbranchen fehlt häufig – neben anderen Faktoren – die Vergleichsbasis, um eine Besserstellung verlangen zu können.23 Eine hohe Konzentration in spezifischen Bereichen führt zudem zu sehr spezifischem Humankapital, was ein Wechseln in andere Berufe und auch Branchen erschwert. Auch hier steht im Hintergrund wieder unser relativ starres berufliches System (starkes Seniori­tätsprinzip, inflexible Ausbildungsanerkennungen etc.). Frauen, die mit den Bedingungen in ihrer Frauenbranche nicht zufrieden differenz, S. 125–148; Francesca Bettio, Alina Verashchagina, Gender segregation in the labour market: root causes, implications and policy responses in the EU, Luxem­ burg 2009. 22 Vgl. Abschnitt 2.1 sowie Geisberger/Glaser, Verdienstunterschiede, S. 8–11. 23 2011 wurden in Österreich Bestimmungen zur „Einkommenstransparenz“ eingeführt, wonach Stellenausschreibungen Gehaltsangaben enthalten müssen und betriebsinterne Einkommensberichte Löhne und Gehälter nach Geschlecht getrennt auflisten, vgl. BMBF, Der Einkommensbericht. Ein Praxis-Ratgeber, Wien 2014. Es gibt derzeit noch keine Informationen dazu, inwieweit diese Maßnahmen tatsächlich greifen.

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sind, können schwer ausweichen. Und schließlich sind Frauenberufe häufiger als Männerberufe nicht mit entsprechenden Karriereleitern verbunden, d.h. es gibt auch real weniger Aufstiegsmöglichkeiten. Frauenberufe sind somit häufiger Sackgassenberufe. Flexibilisierung und Globalisierung bedingen zunehmenden Konkurrenz­ druck am Arbeits­markt mit vielfach negativen Folgen für die ArbeitnehmerInnen. Allerdings liegt in der Konkurrenz grundsätzlich auch ein Potenzial für Frauen: Unter Konkurrenzbedingungen sollten sie zeigen können, dass sie mit den Männern gleichgezogen haben und daher auch um die „guten“ Jobs konkurrieren können. Wenn allerdings große Bereiche des Arbeitsmarktes von jeweils einem Geschlecht dominiert werden, ist der Wechsel in attraktivere Arbeitsmarktsegmente nicht nur eine Frage der eigenen Qualifikation, sondern auch des Geschlechts. Segregierte Arbeitsmarktstrukturen behindern Kon­ kurrenz durch eine Vielzahl von strukturellen und institutionellen Barrieren zwischen Frauen- und Männerbereichen. Konkurrenz findet folglich innerhalb, aber kaum zwischen geschlechterdifferenten Arbeitsmarktsegmenten statt. 3.3 Diskriminierung am Arbeitsmarkt – ungleicher Lohn für gleichwertige Arbeit Ist es Diskriminierung, dass Frauen immer noch deutlich weniger verdienen als Männer, oder ist der Gender Pay Gap eine Folge der tatsächlich existierenden Unterschiede zwischen Frauen und Männern und somit durch diese Unterschiede gerechtfertigt? Anders ausgedrückt: Bekommen Frauen gleich viel bezahlt wie ihre männlichen Kollegen, wenn sie mit gleicher Ausbildung und Berufserfahrung in vergleichbaren Jobs und Firmen arbeiten? Die übliche Methodik in der Ökonomik, Diskriminierung zu messen, besteht darin, diese Merkmalsunterschiede zwischen den Geschlechtern zu erfassen bzw. festzustellen, welcher Unterschied bestehen bleibt, dem keine Merkmalsunterschiede gegenüber stehen. Diskriminierung wird dann diagnostiziert, wenn der Einkommensunterschied nicht durch beobachtbare und messbare Produktivitätsunterschiede zwischen den Geschlechtern erklärt werden kann. Neben der bereits erwähnten Verdienststrukturanalyse24 zeigen auch alle anderen Studien zu geschlechtsspezifischen Einkommensunterschieden in Österreich, dass in der Regel weniger als die Hälfte des gesamten Gap durch Merkmalsunterschiede erklärt werden kann; der weitaus größere Teil bleibt un-

24 Vgl. Abschnitt 2.1 sowie Geisberger/Glaser, Verdienstunterschiede, S. 8–11.

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erklärt.25 Selbst wenn berücksichtigt wird, dass in diesem „unerklärten Rest“ Teile enthalten sind, die nicht auf diskriminierendes Verhalten, sondern auf nicht beobachtbare Unterschiede zurückgehen und der Anteil der Diskriminierung somit überschätzt wird, bleibt ein erheblicher Anteil an Diskriminierung bestehen, der sich zudem in den vergangenen zwei Jahrzehnten kaum verändert hat. Wenn weiters berücksichtigt wird, dass das deutlich gestiegene Bildungsniveau der Frauen deren Produktivitätsrückstand und somit die beobachtbaren Merkmalsunterschiede verringert haben müsste, ist dies nochmals ein Indiz für die Stabilität von Diskriminierungsprozessen.26 Häufig wird dagegen argumentiert, es handle sich dabei ‚nur‘ um statistische Diskriminierung: Unternehmen haben bei der Einstellung von Arbeitskräften Informationsmängel, sie wissen nicht, wie produktiv die Arbeitskraft letztlich wirklich ist. Also orientieren sie sich am statistischen Durchschnitt. Da beispielsweise statistisch Frauen ihre Berufskarriere häufiger und länger unterbrechen als Männer und sich diese Unterbrechung je nach Qualifikationsstufe negativ auf ihre Produktivität nach dem Wiedereinstieg auswirkt, werden Männer Frauen vorgezogen, unabhängig davon, ob die konkrete Bewerberin unterbrechen will oder nicht. ÖkonomInnen bezeichnen dies als „statistische Diskriminierung“ gegenüber Frauen. Abgesehen von der Tatsache, dass gegenüber der konkreten Bewerberin jedenfalls auch eine Diskriminierung im rechtlichen Sinn vorliegen kann, muss auch kritisch angemerkt werden, dass die Grenze zwischen der unterstellten unternehmerischen Suche nach der optimalen Arbeitkraft unter unvollständiger Information einerseits und die Umsetzung von Vorurteilen gegenüber Frauen andererseits wohl sehr fließend ist.27

25 Beispielsweise René Böheim, Helmut Hofer, Christine Zulehner, Wage differences between Austrian men and women: semper idem?, in: Empirica 34 (2007), S. 213–229. 26 Zu den ökonomischen Ansätzen zur Erklärung von Diskriminierung vgl. Kreimer, Ökonomie der Geschlechterdifferenz, insbesondere S. 67–74; Doris Weichselbaumer, „Diskriminierung“ in der ökonomischen Literatur, in: Lemke, Meike et al. (Hg.), Genus Oeconomicum. Ökonomie – Macht – Geschlechterverhältnisse, Konstanz 2006, S. 189–204. 27 Zu den Mechanismen und Prozessen geschlechtsspezifischer Diskriminierung vgl. Barbara Hönig, Margareta Kreimer, Konstellationen und Mechanismen geschlechtlicher Lohn-Diskriminierung in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Sozio­ logie, 30 (2005), S. 44–66.

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4. Was

tun?

G leichstellungspolitische Perspektiven

Einkommensdiskriminierung, Segregation und Asymmetrien in der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung sind komplexe Phänomene, die über das Zusammenspiel vieler Mechanismen am Arbeitsmarkt und im Wohlfahrtsstaat erhalten werden und zudem durch traditionelle Normen und Einstellungen immer wieder gestützt werden. Dies macht die Verortung der Ursachen so mühsam, weil sie hinter einer Menge von alltäglichen und individuell verständlichen Begründungen verborgen sind. Welche Ansatzpunkte ergeben sich nun für gleichstellungspolitische Initiativen, um das Missverhältnis rund um die Arbeitsleistungen von Frauen und den dabei lukrierten Verdiensten aufzulösen? Hinsichtlich der asymmetrischen Arbeitsteilung gibt es grundsätzlich zwei sehr konträre Vorschläge: Zum einen kann eine Art Entlohnung für unbezahlte Arbeit eingeführt werden, zum anderen kann eine Neuverteilung der unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern angestrebt werden. Der sogenannte „Hausfrauenlohn“, aber auch ein bedingungsloses Grundeinkommen wären Instrumente für die erste Variante, deren Ziel nicht primär in einer Veränderung der Arbeitsteilung liegt, sondern in einer Reduktion der Kosten für jene, die den unbezahlten Teil erledigen. Gleichstellungspolitisch gibt es eine Reihe von Einwänden gegen eine solche Strategie, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.28 Instrumente, die eine Neuverteilung der Arbeit (im Idealfall „HalbeHalbe“) unterstützen können, sind bereits Teil der Familienpolitik, beispielsweise Förderungen für Väter die in Karenz gehen oder Papamonate in Anspruch nehmen. Auch die Verlagerung von unbezahlter Arbeit in bezahlte Arbeit kann zu einer symmetrischen Arbeitsteilung beitragen, z.B. über den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen. Klar ist jedoch, dass diese OutsourcingStrategie begrenzt ist; eine vollständige Verlagerung von Reproduktionsarbeit in Erwerbsarbeit ist nicht möglich. Die Einbeziehung der Männer in Haus- und Betreuungsarbeit ist daher für eine geschlechtergerechte Arbeitsteilung unerlässlich. Die geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation ist ein facettenreiches und persistentes Phänomen auf Arbeitsmärkten, was den Einsatz eines breiten 28 Ein zentraler Einwand besteht darin, dass die bestehende asymmetrische Arbeitsteilung durch eine solche voraussichtlich gering bemessene Abgeltung für unbezahlte Arbeit auf Dauer zementiert werden würde, da kaum davon auszugehen ist, dass Männer diese gering bezahlte Arbeit übernehmen, während sich die Chancen von Frauen im Erwerbsarbeitsmarkt durch eine solche Maßnahme nicht verbessern würden.

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Spektrums von Maßnahmen zum Abbau der Segregation erfordert. In dieses Spektrum fallen die Hinterfragung bestehender Arbeitsbewertungssysteme auf allen Ebenen (z.B. Unterschiede in den Einstiegsgehältern in Frauen- und Männerberufen bei gleichwertiger vorhergehender Ausbildung) ebenso wie die Höherbewertung frauendominierter Bereiche über Höherqualifizierungen und Gehaltsanpassungen (z.B. tertiäre Ausbildung für KindergartenpädagogInnen und entsprechende Abgeltung) und spezifische Maßnahmen, die männerdominierte Bereiche Frauen und Mädchen näherbringen sollen (wie Girl’s Days oder sogenannte FIT Programme, die Frauen in die Technik bringen sollen).29 In Bezug auf Einkommensdiskriminierung ist ebenfalls eine Vielzahl von Instrumenten erforderlich. Besonders relevant ist die Intransparenz in Bezug auf Einkommensfragen, die auf der individuellen Ebene die Wahr­ nehmung von Diskriminierung erschwert, aber auch auf der gesellschaftlichen Ebene über die Tabuierung des Einkommensthemas den Diskurs über Einkommensgerechtigkeit behindert. Hier wären Sensibilisierungsmaßnahmen geboten, zudem könnten die Anreize für mehr Transparenz in Unternehmen verstärkt werden. Bei den Einstufungen von Tätigkeiten, bei den Zulagensystemen etc. ist die Sensibilisierung für ungerechtfertige Einkommensunterschiede bei allen jenen von großer Bedeutung, die Lohnverhandlungen gestalten (z.B. Interessensvertretungen, Kollektivvertragspartner, Betriebsräte). Eine gewichtige Rolle spielen Verfahren, mit denen einzelne Tätigkeiten bewertet und vergleichbar gemacht werden können (sogenannte Arbeitsbewertungsverfahren), das Ziel sind diskriminierungsfreie Bewertungssysteme.30 Auch klassische Instrumente der Gleichbehandlung haben nach wie vor ihre Berechtigung bzw. müssten verstärkt eingesetzt werden: Antidiskriminierungsrecht und entsprechende Gleichbehandlungsinstitutionen zu dessen Durchsetzung; Frauen­ fördermaßnahmen wie Mentoring und Verhandlungstrainings für Frauen; und schließlich auch positive Diskriminierung über Quotenregelungen.

29 Informationen zu diversen Maßnahmen finden sich auf der Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Frauen: https://www.bmbf.gv.at/frauen/index. html. 30 Vgl. Edeltraud Ranftl, Birgit Buchinger, Ulrike Gschwandtner, Oskar Meggeneder (Hg.), Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, München–Mering 2002.

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5. Fazit Warum Frauen so viel arbeiten und so wenig verdienen fußt auf vielfachen und tief verankerten Mechanismen. Ein großer Teil der bisherigen Fortschritte geht auf Anpassungsleistungen von Frauen zurück, vor allem im Feld der Qualifizierung und der Ausweitung der Erwerbsarbeit. Dass noch viel zu tun ist, zeigen allein die Tatsachen, dass die Forderung nach gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit schon mehr als 100 Jahre alt ist und dass es bereits seit einigen Jahrzehnten gleichstellungspolitische Aktivitäten gibt.31 Es bedarf in Österreich noch vielfacher Anstrengungen und Maßnahmen auf allen Ebenen; einige Ansatzpunkte wurden zuvor angesprochen. Und es bedarf schließlich eines klaren politischen Bekenntnisses zur Gleichstellung der Geschlechter als Grundlage für eine wirkungsvolle Gleichstellungspolitik – auch diesbezüglich herrscht nach wie vor Verbesserungsbedarf.

L iteratur Francesca Bettio, Alina Verashchagina, Gender segregation in the labour market: root causes, implications and policy responses in the EU, Luxemburg 2009. BMBF (Bundesministerium für Bildung und Frauen), Der Einkommensbericht. Ein Praxis-Ratgeber, Wien 2014. René Böheim, Helmut Hofer, Christine Zulehner, Wage differences between Austrian men and women: semper idem?, in: Empirica 34 (2007), S. 213–229. Tamara Geisberger, Thomas Glaser, Geschlechtsspezifische Verdienst­unter­ schiede. Statistische Nachrichten 3/2014, Wien, S. 1–12. Barbara Hönig, Margareta Kreimer, Konstellationen und Mechanismen geschlechtlicher Lohn-Diskriminierung in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 30 (2005), S. 44–66. Margareta Kreimer, Arbeitsteilung als Diskriminierungsmechanismus: Theorie und Empirie geschlechtsspezifischer Arbeitsmarktsegregation, Frankfurt am Main [u.a.] 1999. Margareta Kreimer, „Wenig Zeit, viel zu tun!“ Arbeitszeitflexibilsierung und Geschlechterdifferen, in: Karl Franzens Universität Graz (Hg.), Zeit, Graz 2010, S. 91–106.

31 In Österreich wurde beispielsweise bereits 1979 das Gleichbehandlungsgesetz für die Privatwirtschaft beschlossen, 1993 folgte das Gleichbehandlungsgesetz für den öffentlichen Bereich.

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Margareta Kreimer, Ökonomie der Geschlechterdifferenz. Zur Persistenz von Gender Gaps, Wiesbaden 2009. Ewa Palenga-Möllenbeck, Globale Versorgungsketten: Geschlecht, Migration und Care-Arbeit, in: Brigitte Aulenbacher, Maria Dammayr (Hg.), Für sich und andere sorgen. Krise und Zukunft von Care in der modernen Gesellschaft, Weinheim–Basel 2014, S. 138–148. Edeltraud Ranftl, Birgit Buchinger, Ulrike Gschwandtner, Oskar Meggeneder, (Hg.), Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit. Praktische Beispiele diskriminierungsfreier analytischer Arbeitsbewertung, München–Mering 2002. Rechnungshof, Reihe Einkommen 2014/1, Wien 2014. Elli Scambor, Anna Kirchengast, Gleichberechtigte Teilhabe. Zur Wahlfreiheit von Frauen und Männern in der Übernahme von Betreuungsaufgaben. Im Auftrag des Landes Steiermark, Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 6 Bildung und Gesellschaft, Referat Frauen, Gleichstellung und Integration, Graz 2014. Statistik Austria, Tabellenband EU-SILC 2013. Einkommen, Armut und Lebensbedingungen, Wien 2014. Statistik Austria, Zeitverwendung 2008/09. Ein Überblick über geschlechtsspezifische Unterschiede, Wien 2009. Doris Weichselbaumer, „Diskriminierung“ in der ökonomischen Literatur, in: Meike Lemke, Cornelia Ruhe, Marion Woelki, Béatrice Ziegler (Hg.), Genus Oeconomicum. Ökonomie – Macht – Geschlechterverhältnisse, Konstanz 2006, S. 189–204.

Statistische Q uellen unidata - Datawarehouse Hochschulbereich, https://oravm13.noc-science.at/ apex/f?p=103:36:0::NO:::; abgerufen am 16.1.2015. Statistik Austria, Erwerbsstatus, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/erwerbsstatus/index.html; abgerufen am 16.1.2015. Statistik Austria, Teilzeit, Teilzeitquote, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/arbeitszeit/teilzeitarbeit_teilzeitquote/; abgerufen am 16.1.2015. Statistik Austria, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, http://www.statistik.at/ web_de/statistiken/soziales/gender-statistik/vereinbarkeit_von_beruf_und_ familie/index.html; abgerufen am 16.1.2015. Statistik Austria, Erwerbstätigkeit, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/soziales/gender-statistik/erwerbstaetigkeit/index.html; abgerufen am 16.1.2105.

Alter(n) – Vielfalt erforschen C laudia G erdenitsch

Alter(n) gehört gegenwärtig zu den spannungsreichsten Feldern westlicher Gesellschaften. Nicht nur zunehmende Langlebigkeit, auch fortschreitende ‚Unterjüngung‘ und die „ungewöhnliche ‚Produktion‘ von Alten“1 durch Früh­ ver­rentungen – und die damit in Verbindung gebrachten Folgen –, haben das Alter ins Zentrum der sozial- und gesellschaftspolitischen Strategien rücken lassen. Dabei sind das Alter als Lebensphase und das Altern als Prozess höchst viel­f ältige, heterogene und in sich spannungsreiche Phänomene. Die Komplexität des Alters/Alterns ergibt sich einerseits aufgrund der Viel­ schichtigkeit menschlicher Existenz, die körperliche/biologische, geistige und emotionale, soziale und erscheinungsmäßige Aspekte umfasst.2 Diese Viel­ schichtigkeit spiegelt sich auch im Alter(n) wider: körperliche Vorgänge prägen ‚das Alter‘ ebenso wie persönliches Erleben, bewusste Gestaltung, soziale Eingebundenheit und räumliche und materielle Kontexte. Darüber hinaus kann Altern als ein Prozess verstanden werden, der in verschiedenen Richtungen und bezogen auf alle Ebenen dynamisch und interindividuell sehr differenziert verläuft. Hans Werner Wahl und Vera Heyl sprechen daher davon, dass das Altern nicht nur als „multidimensionaler“, sondern auch als „differentieller“ und „multidirektionaler Prozess“ zu verstehen sei.3 Wie alle Lebensphasen vollzieht Alter(n)

1

Gerd Göckenjan, Hans-Joachim von Kondratowitz, Altern – Kampf um Deutungen und um Lebensformen, in: Peter Kemper und Ulrich Sonnenschein (Hg.), Globalisierung im Alltag, Frankfurt am Main 2002, S. 234–248, hier S. 235.

2 Vgl. Hans-Werner Wahl, Vera Heyl, Gerontologie – Einführung und Geschichte, Stuttgart 2004, S. 49. 3 Ebda., S. 42.

188 | Claudia Gerdenitsch

sich außerdem in einem Wechselspiel von Personen und Umwelten, sodass neben den vielfältigsten Lebensbedingungen auch persönliche Entscheidungen und Faktoren individueller Lebensgestaltung maßgeblich für die Vielfalt des Alters und des Alterns sorgen. Andererseits – und zweitens – ist Alter(n) ein Phänomen sozialer und kultureller Konstruktion.4 Nicht nur altern wir in sozialen Bezügen; diese bestimmen auch mit, wer oder was als ‚Alter‘ oder ‚alt‘ gilt und wie das Altern selbst erlebt wird. „Man wird alt, wenn es einen die anderen wissen lassen“.5 Wie Gender ist auch Alter eine Kategorie sozialer Zuschreibung, die Lebensräume und Handlungsspielräume präformiert und Diskriminierung (i.S.v. Herstellung von Unterschieden, die Unterschiede machen) legitimiert: „Altsein ist eine soziale Distinktion, die je nach Umständen privilegiert oder stigmatisiert wird. Altsein nimmt seine Determination nicht aus eigenen Qualitäten, sondern diese muß zugewiesen werden.“6 So gehen unter anderem Klaus R. Schroeter und Harald Künemund davon aus, dass „Altern a) in einem umfassenden symbolischen Verweisungszusammenhang konstruiert wird, sich b) in der sozialen Organisation gesellschaftlichen Handelns als objektive Struktur realisiert, sich c) in der Somatisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse materialisiert und d) zugleich in seiner sinnlich empfundenen Qualität konstitutiver Bestandteil subjektiver Identitäten ist.“7 Die soziale und kulturelle Konstruktion von Alter(n) vollzieht und realisiert sich also auf verschiedenen Ebenen, was die Komplexität der Phänomene Alter und Altern auch in diesem Bereich erklärt. Eine weitere und dritte Dimension der Komplexität des Alter(n)s liegt in der persönlichen und existentiellen Betroffenheit begründet. Da ‚Alter‘ uns alle angeht, verbinden sich höchst individuelle und damit vielfältige Vorstellungen mit dem Alter(n), die aus biographischen Erfahrungen im Generationenverhältnis ebenso gespeist werden wie von Zukunftshoffnungen und -ängsten. Dies gilt sowohl für die soziale und individuelle Realität des Alter(n)s wie auch für die wissenschaftliche und professionelle Auseinandersetzung mit Alter(n). Mit der sich hier abzeichnende Vielfalt der Phänomene Alter und Altern steht die Alter(n)sforschung (Gerontologie) vor vielfältigen Herausforderungen. Die 4 Vgl. Klaus R. Schroeter, Harald Künemund, „Alter“ als Soziale Konstruktion – eine soziologische Einführung, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 393–401. 5 Göckenjan, Kondratowitz, Altern – Kampf um Deutungen und um Lebensformen, S. 235. 6 Ebda. 7 Klaus R. Schroeter, Harald Künemund, „Alter“ als Soziale Konstruktion, S. 393–394.

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adäquate multidimensionale Beschreibung und Untersuchung ist eine solche Herausforderung. In der Gerontologie begegnet man ihr mittels interdisziplinärer Zugänge. Interdisziplinarität als „integrative Synthese der verschiedenen Ansätze und Erkenntnisse“ stellt sich als Anspruch für die Gerontologie, weil es nur so möglich scheint, dem Facettenreichtum und der Multidimensionalität der Phänomene auch in den wissenschaftlichen Zugängen gerecht zu werden. Dabei geht Interdisziplinarität über die bloße Zusammenstellung von Forschungen unterschiedlicher Richtungen und Disziplinen hinaus.8 Interdiszi­ plinarität erfordert eigene Aktivitäten, die sich auf die disziplinübergreifende Formulierung von Problemstellungen, die disziplinübergreifende gemeinsame Definition des Forschungsgegenstandes, das koordinierte Abstimmen von theoretischen und methodischen Ansätzen, sowie die gemeinsame Interpretation und Formulierung von Ergebnissen beziehen.9 Ob die Gerontologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin aufgefasst werden kann oder als interdisziplinär strukturiertes inhaltliches Feld, ist nach wie vor Gegenstand der Diskussion. Es zeichnen sich zwei Tendenzen ab, die Hermann Brandenburg mit Blick auf die Gerontologie als Profession charakterisiert als „Professionalisierung der Gerontologie“, welcher er „Gerontologisierung der Professionen“10 gegenüber stellt. Ähnliches ist auch für die Gerontologie als Disziplin zu beobachten: Einerseits gibt es Bestrebungen, die Gerontologie als eigenständige, interdisziplinär strukturierte Disziplin zu entwickeln („Disziplinierung der Gerontologie“); gleichzeitig ist zu beobachten, dass es zu einer „Gerontologi­ sierung der Disziplinen“ kommt, unter weitgehender Wahrung der bestehenden Disziplingrenzen.11 Alter(n) gewinnt als Aspekt der Untersuchung also mehr und mehr Bedeutung in den einzelnen Disziplinen. Als gebündeltes Forschungsinteresse über Disziplingrenzen hinweg tritt Altern jedoch nicht durchwegs in Erscheinung. Alter(n)sforschung beschreibt und erforscht das Alter(n) in seiner Vielfalt und Heterogenität nicht nur aus unterschiedlichen Perspektiven, sondern ist darüber hinaus an der Gestaltung und Veränderung der Wirklichkeit beteiligt, die sie erforscht. Dieser Umstand ist nicht nur einer „auf Aktivität und Gestaltung 8 Vgl. Hermann Brandenburg, Gerontologie und Pflege, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 34 (2001) 2, S. 129–139, hier S. 130; vgl. Jürgen Mittelstraß et. al., Wissenschaft und Altern, in: Paul B. Baltes, Jürgen Mittelstraß, Ursula M. Staudinger (Hg.), Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie, Berlin 1994, S. 695–720, hier S. 697. 9 Vgl. Brandenburg, Gerontologie und Pflege, S. 130. 10 Ebda., S. 131. 11 Vgl. Wahl, Heyl, Gerontologie, S. 218.

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hin ausgerichteten interventionistischen Grundhaltung“12 der Gerontologie geschuldet, sondern auch darauf zurückzuführen, dass sich gerontologische Forschung als gesellschaftliche Praxis selbst in einem historischen, sozialen und kulturellen Kontext vollzieht, der sie rahmt und auf den sie sich implizit bezieht. Ergebnisse und Interpretationen gerontologischer Forschungen greifen einerseits auf soziale Konstruktionen und Bedeutungszusammenhänge des Alter(n)s zurück, andererseits verändern oder reproduzieren sie diese auch, sodass gesellschaftliche Praxis und gerontologische Forschung einander wechselseitig bedingen und verändern. Beide Facetten, die „interventionistische Grundhaltung“ der Gerontologie, wie auch ihre Einbettung in den Zusammenhang der sozialen Konstruktionen von Alter(n) wird mit dem Begriff der Transdisziplinarität als Merkmal der Gerontologie und als Anspruch an die Alter(n)sforschung beschrieben: Wissenschaftliche Auseinandersetzung überschreitet ihre eigenen Grenzen, bezieht Praktiker_innen ebenso in ihre Forschungen ein wie die Forschungsperspektive der beforschten Personen13 und bezieht sich sowohl in ihrer Konzeption als auch in Umsetzung und Konsequenzen ihrer Forschung auf gesellschaftliche und institutionelle Praxis. Auch an der Universität Graz wird Gerontologie in multi- und interdisziplinärer Hinsicht betrieben – und zeigt sich sowohl in Forschung und Lehre. Neben einem Masterstudium zur Interdisziplinären Gerontologie14 und Angeboten der allgemeinen wissenschaftlichen Weiterbildung – etwa der Vita Activa15 – gibt es sowohl Forschungen zum Alter(n) innerhalb der verschiedensten Disziplinen und Richtungen wie auch Bemühungen um interdisziplinäre Arbeitsansätze und die interdisziplinäre Diskussion. Interdisziplinarität ergibt sich nicht von selbst. Sie erfordert Raum und Zeit, die beide häufig nicht zur Verfügung stehen und aktiv besorgt werden müs12 Paul B. Baltes, Margret M. Baltes, Gerontologie: Begriff, Herausforderung und Brennpunkte, in: Baltes, Mittelstraß, Staudinger (Hg.), Alter und Altern, S. 1–34, hier S. 2. 13 Vgl. François Höpflinger, Gerontologie – Definition und Entwicklung im Blick auf den gesellschaftlichen Fortschritt, online verfügbar unter: http://www.hoepflinger. com/fhtop/fhalter1O.html, 2012, abgerufen am 03.03.2015. 14 Der Masterstudiengang „Interdisziplinäre Gerontologie“ ist an der Uni for Life, Seminarveranstaltungs GmbH angesiedelt, die universitäre berufliche Weiterbildung anbietet. 15 Diese Seminarreihe und andere Veranstaltungen werden vom Zentrum für Weiter­ bildung der Uni Graz angeboten, das sich auch in Forschung und Entwicklung schwerpunktmäßig mit den Zielgruppen älterer Menschen befasst.

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sen. Zu diesem Zweck wurde im Frühjahr 2013 an der Universität Graz eine Koordinationsstelle Alter(n) im Pilotbetrieb eingerichtet, die den dringend nötigen, bisher allerdings nicht systematisch bereit gestellten Raum für interdisziplinäre Auseinandersetzung, Diskussion und Verständigung bietet.16 Über Forschung und Lehre hinaus ist die Vielfalt des Alter(n)s für die Universität Graz aber auch insofern relevant, als sie sich als gesellschaftliche Institution in einer ‚alternden Gesellschaft‘ positionieren und bewähren muss. Außerdem beginnt das Alter(n) auch im ‚Betrieb‘ der Universität zu einem ausdrücklichen Thema für Personal und Management zu werden. Die Interdisziplinarität kann, es wurde bereits darauf hingewiesen, sowohl als Merkmal der Gerontologie, als auch als Anspruch verstanden werden; denn die Realität eines Forschungsfeldes ist von mehr Faktoren bestimmt als von den Notwendigkeiten des untersuchten Phänomenbereichs. Dieser doppelte Zugang zu Interdisziplinarität ist auch eines der Ergebnisse, die eine Studie der Koordinationsstelle Alter(n) über „Alter(n)sforschung und Interdisziplinarität an der Karl-Franzens-Universität Graz“ hervor gebracht hat.17 Dabei zeigte sich ein im Gegenstandsfeld Alter(n) fundiertes Interesse der Forschenden an Interdisziplinarität. Sowohl in der Durchführung als auch in der Rezeption von interdisziplinären Forschungen wird Interdisziplinarität von Alternsforscher_innen der Uni Graz als sinnvoll und erhellend erlebt. Ebenso führt die Erkenntnis, dass das Wissen der eigenen Disziplin für die Bearbeitung einer (komplexen) Fragestellung nicht ausreicht, zur Entwicklung und Umsetzung interdisziplinärer Ansätze. Gleichzeitig wurden Herausforderungen für interdisziplinäres Forschen benannt, die sichtbar machen, dass sich Interdisziplinarität primär als Anspruch äußert, in der Realität aber oft an mangelnden Voraussetzungen scheitert. Die Strukturiertheit der Forschung und des Wissenschaftsbetriebes entlang von Disziplinen und methodischen Richtungen eröffnet ein Spannungsverhältnis zwischen Disziplinorientierung und Interdisziplinarität. Dieses Spannungs­ ver­hältnis tritt auch innerhalb interdisziplinärer Vorhaben zutage, wenn es um Methodenverständigung oder die Entwicklung einer gemeinsamen, interdisziplinären Fachsprache und die disziplinübergreifende Verständigung geht. Aber auch Faktoren der Organisation werden als Einflussfaktoren für Interdisziplinarität erlebt, allen voran die verfügbare Zeit. Interdisziplinarität stellt sich also nicht 16 Nähere Informationen zur Koordinationsstelle Alter(n) der Universität Graz und zu ihren Angeboten und Aktivitäten erhalten Sie auf der Website unter koordinationaltern.uni-graz.at. 17 Vgl. Susanna Finker, Claudia Gerdenitsch, Alter(n)sforschung und Interdisziplinarität an der Karl-Franzens-Universität Graz. Projektbericht, Graz 2015.

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von alleine oder selbstverständlich ein. Sie bedarf sorgfältiger Planung und genügend Zeit und Raum, um aktiv entwickelt zu werden. Für sich genommen ist das Faktum des Alter(n)s neutral. Spezifische Prob­ lem­stellungen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Art ergeben sich erst in einem spezifischen Kontext der Problembeschreibung und vor normativen Hintergründen. Die Auseinandersetzung mit Heterogenität und Kohäsion, mit Vielfalt und Zusammenhalt auf den unterschiedlichsten Ebenen – beispielsweise methodologisch, theoretisch oder sozial – zeigt die Relativität der Perspektiven im interdisziplinären und transdisziplinären Zusammenspiel. Die Vielfalt der Perspektiven offen zu halten und dabei die alternden Personen, ihre Bedeutungszuschreibungen und ihre Lebensrealitäten zu berücksichtigen – auch partizipativ18 – ist ein Beitrag der angewandten wie der Grundlagenforschung in der Gerontologie zur kritischen Bearbeitung und Durchdringung gesellschaftlicher Verhältnisse und Realitäten. Darin zeigt sich auch an der Uni Graz die gesellschaftliche Bedeutung der Alter(n)sforschung jenseits von Anwendbarkeit, unmittelbarer Praxisrelevanz oder Politikberatung. Gerade das Thema Alter(n) macht deutlich, dass Universität und universitäre Forschung Teil der Gesellschaft sind, und ihr nur bedingt gegenüber stehen (wie die Rede vom Wissenstransfer in die Gesellschaft manchmal irreführend vermittelt). Wesentliches Medium dazu ist die Vermittlung universitärer Alternsforschung – sei es in Publikationen, sei es in der Lehre, sei es in Formaten, die öffentliche Diskussion anregen und fördern (wie etwa die Vortragsreihe, auf die sich die vorliegende Publikation bezieht). Universität und ihre Tätigkeiten in Forschung und Lehre sind „die Zeit und der Raum, die bzw. den die Gesellschaft sich selbst gibt, um über sich selbst zu reflektieren.“19 Neben ökonomischen Funktionen, die die Universität selbstverständlich hat, ist sie Ort der gesellschaftlichen Selbstkritik und Selbst­ vergewisserung. Diese Reflexion umfasst im Falle des Alters und Alterns alle Bereiche und Ebenen: von biologisch-molekularen Prozessen bis hin zur Frage nach dem guten Leben im Alter und ist im besten Falle offen für die interdisziplinäre Auseinan­ dersetzung mit der Vielfalt des Alter(n)s und Vielfalt im Alter(n).

18 Vgl. Hella von Unger, Partizipative Forschung, Wiesbaden 2014. 19 Jan Masschelein, Der andere Wert des Wissens. Unterricht als Problematisierung, in: Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999), S. 549–566, hier S. 562.

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L iteratur Paul B. Baltes, Margret M. Baltes, Gerontologie: Begriff, Herausforderung und Brennpunkte, in: Paul B. Baltes, Jürgen Mittelstraß, Ursula M. Staudinger (Hg.), Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie, Berlin 1994, S. 1–34. Hermann Brandenburg, Gerontologie und Pflege, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 34 (2001) 2, S. 129–139. Susanna Finker, Claudia Gerdenitsch, Alter(n)sforschung und Interdisziplinarität an der Karl-Franzens-Universität Graz. Projektbericht, Graz 2015. Gerd Göckenjan, Hans-Joachim von Kondratowitz, Altern – Kampf um Deutun­ gen und um Lebensformen, in: Peter Kemper und Ulrich Sonnenschein (Hg.), Globalisierung im Alltag, Frankfurt am Main 2002, S. 234–248. François Höpflinger, Gerontologie – Definition und Entwicklung im Blick auf den gesellschaftlichen Fortschritt, online verfügbar unter: http://www.hoepflinger.com/fhtop/fhalter1O.html, 2012, abgerufen am 03.03.2015. Jan Masschelein, Der andere Wert des Wissens. Unterricht als Problematisierung, in: Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999), S. 549–566. Jürgen Mittelstraß et. al., Wissenschaft und Altern, in: Paul B. Baltes, Jürgen Mittelstraß, Ursula M. Staudinger (Hg.), Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie, Berlin 1994, S. 695–720. Klaus R. Schroeter, Harald Künemund, „Alter“ als Soziale Konstruktion – eine soziologische Einführung, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 393–401. Hella von Unger, Partizipative Forschung, Wiesbaden 2014. Hans-Werner Wahl, Vera Heyl, Gerontologie – Einführung und Geschichte, Stuttgart 2004.

Die Kunst, Vielfalt dar- und nachzustellen Joachim H ainzl

Maryam Mohammadi ist Fotokünstlerin. Sie ist eine Frau, die um ihr Rechte weiß und darum kämpft. Sie ist Iranerin und eine, die in ihrem Land drei Jahrzehnte gelebt hat und noch im Kontakt ist mit vielen ihrer ehemaligen Studierenden der Teheraner Universität, an der sie als Dozentin gelehrt hat. Sie hat als Kind mehrere Jahre Kriegsalltag über- und erlebt. Sie lebt inzwischen in Österreich, migriert vom vielgeliebten Trubel einer 18 Millionen-Metropole in die beschauliche Welt Österreichs. Ihr jahrelanges soziales Engagement im Iran und in Österreich – sei es ihre Arbeit mit Drogenabhängigen, TodesstrafenkandidatInnen, misshandelten Frauen, jugendlichen Migrantinnen oder BewohnerInnen im Altersheim – bringt sie nahe an die Menschen heran. All diese Teile ihrer Identität und ihrer persönlichen Betroffenheit widerspiegeln sich in den Themen und Motiven ihrer Arbeiten. Maryams Arbeiten sind daher keine, in welchen es um selbstverliebtes Formales oder um die verzückte Exzentrik einer kreativen Idee geht. Es sind kaum Fotografien, die sich eignen, für behübschende „Dekorationszwecke“ in einem Büro oder Wohnzimmer aufgehängt zu werden. Ihre Arbeiten, in welchen zumeist der Mensch als Mensch im Mittelpunkt steht, sind emotional, teilweise verstörend und ausgestattet mit einer sozialen oder politischen Botschaft für mehr Rechte und Gerechtigkeit. Dieses persönliche und künstlerische Engagement zeigt sich darin, dass Maryam in den etwas mehr als fünf Jahren ihres steirischen Karriereabschnittes von zahlreichen NGOs (wie ISOP, UNIT, rotor und vielen anderen) zur Mitarbeit eingeladen wurde und gerade dies sich zudem als Begründung für die Verleihung des Grazer Kunstförderungspreis 2013 an Maryam finden. Das Projekt „8. März“ zeigt Frauen mit ihrer Arbeit (und nicht nur an ihrem Arbeitsplatz) und abseits des Aspekts „typischer“ Frauen- und Männerberufe.

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Denn, ausgestellt in der Grazer Arbeiterkammer anlässlich des „Equal Pay Day“, geht es um die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern in Österreich. Ein für Maryam skandalöser Umstand, noch dazu in einem Land, in dem immer wieder von einer „europäischen Rechtsordnung“ gepredigt wird. Es sind ebenfalls Frauen, welchen sich „„Es liegt in den Frauenhänden“ widmet. Dafür hat Maryam über 100 Migrantinnen in Deutschkursen von Danaida (einer Grazer Beratungs- und Bildungseinrichtung für Migrantinnen) gebeten, sich mit Gegenständen abbilden zu lassen, welche für ihre migrantische Biographie eine hohe emotionale Bedeutung haben. Entstanden sind so wunderschöne einfühlsame Bildergeschichten, ergänzt um persönliche Anmerkungen der Migrantinnen zu ihrer Geschichte. Die Fotografien illustrieren eine Vielfalt und stellen Portraits von Frauen dar, ohne dazu deren Gesichter zeigen zu müssen. „Nicht Heimat – aber mein Zuhause“ lautet der programmatische Titel einer Arbeit mit Studierenden des Afro-Asiatischen Instituts, welche in Graz studieren und zumeist auf einige Jahre beschränkt hier leben. Bei diesen großflächigen Portraitfotos, welche bis heute als integrierter Teil der Umbauten im „Quartier Leech“ zu sehen sind, hat Maryam ihr Konzept von „Es liegt in den Frauenhänden“ ausgebaut. Nun sind es nicht nur Gegenstände, sondern überdies von den Portraitierten ausgewählte Sätze, welche über die eigene Beheimatung erzählen. Dass diese Botschaften für jene, welche dieser Sprachen nicht mächtig sind, unverständlich und gar unleserlich bleiben, verweist gewollt oder ungewollt darauf, dass vieles der migrantischen Kulturen, das mitgebracht wird, hier unverstanden bleibt. Dass die Migrationserfahrung sich nicht nur in die Haut, sondern noch tiefer – bis in die Identität einer Person – eingräbt und diese nicht nur unmerklich verändert, das hat Maryam als Migrantin in den letzten Jahren am eigenen Körper selbst erfahren. In „That’s – not – my ID!“ macht sich die Künstlerin selbst zum Anschauungsobjekt und setzt dabei gekonnt auf die Inszenierungstechnik der „Stage Photography“, welche mit ihren theatralisch anmutenden Rollenspielen von zahlreichen feministischen Fotokünstlerinnen zur Demaskierung gesellschaftspolitischer Machtverhältnisse genutzt wird. Insofern ist es nur konsequent, dass Maryam, welche übrigens ihre ersten Preise im Iran für ihre Arbeiten als Theaterfotografin bekam, sich in ihrer phd-Arbeit mit Feminismus und Fotografie auseinandersetzt. Dass „That´s - not - my ID!“ innerhalb von zwei Monaten sowohl in einer Teheraner Galerie als auch im Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten gezeigt wurde, zeigt wie wichtig Maryam weiterhin das Leben und Akzeptiertwerden in mehr als nur einer Heimat ist. Dass man/frau sich aber in den eigenen Heimaten bisweilen sehr fremd fühlen kann, das erzählen die beiden Arbeiten „Hier ist nicht der Frühling“

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und „ Remember us“. Beide Male geht es um das Dokumentieren des ansonsten Nichtdokumentierten. Hier um Foltererfahrungen von Frauen in den Gefängnissen der Diktaturen dieser Welt, dort um Erinnerungen an teilweise namentlich unbekannte Bombenopfer im steirischen Selzthal gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Zu beiden Themen hat Maryam lange recherchiert. In Selzthal geschah dies im Rahmen des Regionale-Projekts „Fremdsehen“, noch eher am Anfang ihrer Zeit in der Steiermark. Trotz noch nicht sehr großer Deutschkenntnisse wurde sie von vielen im Ort verstanden. Etwa von jenen Volksschulkindern, welche ihr in der Klasse gebannt zuhörten, als Maryam von den Bombenangriffen erzählte, die sie selbst erlebte, als sie in deren Alter war. Und ja, sie war traurig, als ihre beste Freundin tot aus dem zerbombten Nachbarhaus getragen wurde. So kann es eine Verbundenheit geben zwischen Generationen, zwischen Lebenden und Verstorbenen, zwischen Menschen unterschiedlicher Sprachen. Wie schwer nachfühlbar vieles trotz gezeigter Sichtbarkeit bleibt, zeigte die Reaktion auf die nachgestellten Gefängnisszenen von „Hier ist nicht der Frühling“. Am interessantesten fanden nicht wenige, dass die Fotos in einem Teheraner Keller gemacht wurden. In ihren Arbeiten hat Maryam Mohammadi in den letzten Jahren eine eigene Formsprache entwickelt, um die Vielfalten unserer Gesellschaften sichtbar und zugleich fühlbar zu machen. Zu ihren Stärken zählt dabei, dass ihre Kamera zu einem Empowerment-Werkzeug wird, da die von ihr Portraitierten weiterhin Subjekte und Persönlichkeiten bleiben dürfen, in Maryams Projekten mit einem klaren künstlerischen Konzept. In jenen Arbeiten jedoch, in welchen die Künstlerin sich selbst schonungslos inszeniert, geht es ums Aufrütteln. Und dies gelingt ihr ebenfalls. Mehr Arbeiten der Künstlerin unter www.maryammohammadi.at

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Maryam Mohammadi, „8. März“

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Maryam Mohammadi, „Es liegt in den Frauenhänden“

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Maryam Mohammadi, „Nicht Heimat – aber mein Zuhause“

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Maryam Mohammadi, „Nicht Heimat – aber mein Zuhause“

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Maryam Mohammadi, „That’s – not – my ID!“

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Maryam Mohammadi, „Hier ist nicht der Frühling“

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Maryam Mohammadi, „Remember us“

Vielschichtige, veränderbare „Heimaten“ H elmut Konrad

In einer bemerkenswerten Autobiographie, die ich vor einigen Monaten im Rahmen meines Aufenthaltes in Yale im Leo Baeck Institut in New York unter jenem Material finden konnte, das noch nicht online zur Verfügung steht, bündeln sich für mich viele der Gedanken zum Thema Heimat. Jakob Kellmann hat diesen Text im August 1940 in schöner Handschrift und weitgehend fehlerfreiem Deutsch für seine Tochter Hedwig zum zwölften Geburtstag geschrieben. Ort der Niederschrift war Colon, in der Republik Panama, wo die Familie zwei Jahre zuvor ein neues zu Hause gefunden hatte. Jakob Kellmann wurde 1895 in Jagielnica in Galizien geboren. Heute ist das ein Teil der Ukraine, der Ort liegt in der Nähe von Chartkiv, südöstlich von Lemberg und etwa 40 km nördlich von Czernowitz. Sein Vater war ein jüdischer Kaufmann in der kleinen Gemeinde, die Kunden waren polnische Bauern, denen alle negativen Vorurteile zugeschrieben wurden. Die Polen galten als unzuverlässig, diebisch oder faul. Der Vater, orthodox jüdisch, wollte den Sohn zum Rabbi erziehen (oder zumindest Schächter sollte er werden). Die Mutter hatte als künftigen Beruf für den Sohn den Arzt ausgewählt, sie hatte also den sozialen Aufstieg im Auge. Jakob stand also zwischen Orthodoxie und vorsichtiger Modernisierung. Er selbst aber sah sich als Handlungsreisender und brannte schon im Schulalter mit Geld, das er seinem Vater geklaut hatte, zu einem Onkel nach Wien durch. Er wurde postwendend zurückgeschickt, aber schließlich wurde dem brennenden Wunsch des jungen Mannes nachgegeben. Er durfte in Wien leben, wo er rasch, erst bei seinem Onkel und dann selbständig, als Kaufmann Karriere machte. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Jakob tapfer und vielfach dekoriert in der Armee der Habsburger an der Front im Osten. Nach Kriegsende durchlief er als Jude und treuer Österreicher einen Spießrutenlauf nach Wien, durch das neue

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Polen und die neue Tschechoslowakei. In beiden Ländern wurde er als habsburgtreuer Jude geschmäht. In Wien angekommen, grenzte ihn das Rote Wien aus, da angeblich schon zu viele Juden in Wien lebten und verwies auf sein Heimatrecht in Jagielnica, nunmehr Polen. Er sollte also ausgewiesen werden. Erst mit Bestechung und der gar nicht selbstlosen Hilfe eines konservativen Politikers erhielt er einen Aufenthaltstitel in Österreich. Durch Schmuggel nach Ungarn kam er zu Geld und konnte zwei Schwestern nach Wien holen. Als er sich 1924, 29 Jahre alt, entschloss zu heiraten, fuhr er allerdings nach Jagielnica, um sich in der Synagoge die von den Eltern erwählte Braut zuführen zu lassen. Der „Anschluss“ änderte seine Staatsbürgerschaft erneut. Als Deutscher mosaischen Glaubens finden wir ihn im August 1938 mit seiner Frau und zwei Kindern auf einem Schiff von Bremerhafen nach Panama, wo er sich eine neue Existenz aufbaute. Er war also ein Kind der Habsburgermonarchie, Galizier, dann formal Pole, schließlich Österreicher, Deutscher und Panamese, als er 43 Jahre alt geworden war. Heimat als Rechtsform und mit Rechtsanspruch hatte er im galizischen Dorf, das seine staatliche Zugehörigkeit bis heute zur Ukraine mehrfach ändern musste. Ja, dort war er aufgewachsen, und ja, die jüdische Gemeinde dort strukturierte lange sein Leben. Er fühlte sich aber als Wiener, Wien akzeptierte ihn und dieses Gefühl aber anfänglich nicht. Und der Nationalsozialismus gab ihm mit grausamer Gewalt zu verstehen, dass er nicht dazu gehörte. Ob er in der Lebensmitte Panama als „Heimat“ begriff, erschließen uns die Quellen leider nicht. Jedenfalls ist Jakob Kellmann ein gutes Beispiel dafür, wie sich Vertriebene bemühen, ein Stück „Heimat“ in die jeweils neuen Lebensverhältnisse mitzunehmen. Ein weiteres Beispiel: Jay Winter, der führende Historiker der Geschichte des Ersten Weltkrieges, Ehrendoktor der Karl-Franzens-Universität Graz und mehrerer anderer führender Universitäten in Europa, mein Arbeitspartner in Yale, erzählte mir auf die Frage nach dem Begriff Heimat seine Lebensgeschichte. Er ist im Mai 1945 in New York geboren, wohin sein Vater als einziger Überlebender einer verzweigten jüdischen Familie aus Warschau und aus Czernowitz fliehen konnte. Die Einwanderungsbehörde in New York verpasste dem Vater den Namen Winter, da der alte osteuropäische Name zu kompliziert zu schreiben war, nach der Jahreszeit der Ankunft auf Ellis Island. Jay sollte den alten Namen der Familie Jahrzehnte nicht erfahren. Der jüdische Traditionsvorname Jakob wurde zu Jay, und in Long Island wuchs, traditionslos und unverwurzelt, der junge Jay Winter heran. Seine akademische Karriere startete er schließlich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in England. Cambridge wurde sein Lebensmittelpunkt, seine Staatsbürgerschaft, seine Ehe, seine Kinder, all das sah England als Zentrum. Eine zweite Ehe führte ihn dann nach Israel, und letztlich landete er wieder in

Vielschichtige, veränderbare „Heimaten“ | 215

den USA. Seit wenigen Wochen ist nun sein Wohnort Paris, wo er mit seiner Frau, die kein Englisch spricht oder auch nur versteht, eine französische Existenz aufzubauen beginnt. Nach Warschau fuhr er erst kürzlich zum ersten Mal. An der Adresse seines Vaterhauses fand er nur eine verwahrloste Grünfläche. Warschau, New York, Cambridge, Tel Aviv, New Haven, Paris – Jiddisch, Englisch, Hebräisch, Französisch – was ist hier Heimat? Ein amerikanischer, ein englischer, ein israelischer und vielleicht bald ein französischer Pass? In unseren langen Diskussionen dazu zog Jay bei einer guten Flasche Wein für sich den Schluss: „Heimat“ sei für ihn geradezu der Gegenbegriff zu „Menschenrecht“. Letzteres ist universell gültig, Heimat schließt notwendigerweise Menschen ein und andere dafür aus, mit allen Konsequenzen einer solchen Exklusion. Und „Heimat“ ist für ihn auch politisch besetzt, der Begriff sei nationalistisch. Er persönlich wolle an diesem Begriff nicht einmal anstreifen. „Heimat“ ist ein Begriff, der nur schwer in andere Sprachen transportierbar ist, zumindest in seiner Emotionalität und Vielschichtigkeit. „Home“, im Amerikanischen meist enger verstanden, spielt manchmal mit vergleichbaren Gefühlen („country road, take me home, to the place I belong“ oder „Sweet Home Alabama“, „Georga on my mind“), aber bei „homeland“ landet man gleich bei „homeland security“, im militärischen Sicherungsbereich. Die Bindung an Häuser, Orte, Landschaften ist jedenfalls geringer. „Heimat“ ist in jenen Sprachen und Ländern von größerer Bedeutung, die ihren Platz in der Welt kriegerisch erreichen oder behaupten wollten oder wollen. „Furusato“ nennen es die Japaner, und die entsprechende Musikrichtung „Enka“, eine Art japanischer Volksliedverschnitt, spielt im gesamten 20. Jahrhundert eine Rolle und vermittelt ein vormodernes, rückwärtsgewandtes Weltbild, eine heile, unversehrte Idylle, ohne Hiroshima und ohne Fukushima. Es wird das Japan der Kimonoträgerinnen in einer heilen Umwelt imaginiert. Bei uns musste „Heimat“ 1918 den Kaiser ersetzen, und ein neuer, weitgehend ungeliebter und nur mit Druck akzeptierter Staat bot keine Alternative. Also wurde „Heimat“ auf der Länderebene fixiert. Noch heute werde ich als Kärntner, meine Frau als Vorarlbergerin identifiziert, mit all den großteils falschen Klischees und der oberflächlichen Verbundenheit mit den Menschen, die im selben Bundesland geboren sind. Die Steirer in Wien, das ist eine absurdkomische Mischung, die sich zu künstlerischen oder gesellschaftlichen Events trifft. Und die Kärntner in Graz erkennt man an ihrer lautstarken Defensive. Man könnte nun einwenden, dass meine zwei Fallbeispiele am Beginn Diaspora-Geschichten sind, dass Judentum und Heimat überhaupt erst mit Theodor Herzls Judenstaat und dem Zionismus eine Verbindung eingegangen sind. Das ist nicht bestreitbar, aber es gilt selbst dort, wo regionale Räume nur geringfügig verlassen werden. Ich nehme mich selbst als ein Beispiel:

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Mein Geburtsort Wolfsberg im Lavanttal verschleiert meine Herkunft, denn im Krankenhaus Wolfsberg wurden fast alle Lavanttaler geboren. Meine Eltern und Geschwister wohnten damals in St. Michael, etwa fünf Kilometer außerhalb der Stadt. Ich habe an ein Heimathaus überhaupt keine Erinnerung, denn ich war etwa zwei Jahre alt, als wir nach St. Gertraud übersiedelten und eine Lehrerwohnung im Schulhaus (drei verschiedene Wohnungen über die Jahre) bezogen. Frantschach-St. Gertraud, viel belächelt oder mit einem bezeichnenden Naserümpfen kommentiert, prägte meine Kindheit. Unlängst, bei einem Klassentreffen, musste ich zur Kenntnis nehmen, dass mehr als die Hälfte meiner ehemaligen Schulkameradinnen und -kameraden bereits gestorben waren. Auch meine Eltern erreichten im Schnitt das 60. Lebensjahr nicht – Heimat hat also hier mit ganz schlechten Umweltbedingungen und geringen Lebenschancen zu tun. Mit elf Jahren ins Volkshilfeheim in Klagenfurt transferiert, verlebte ich die prägenden sieben Jahre bis zur Matura in einer Törless-Situation in einer zumindest damals langweiligen Stadt, als der relativ „Arme“ in der Masse der Ärzte- oder Anwaltssöhne, die teils mit meiner Hilfe die Matura schafften, deren Zukunftsbett aber schon überzogen war. Außer meiner Liebe zum KAC, die immer wieder bittere Stunden zu durchlaufen hat, besonders gerade derzeit wieder, bindet mich nur wenig an diese Stadt und deren Bewohner. Das Gehen am alten Schulweg, das ich manchmal versuche, weckt keine Emotionen. Wien war dann ein Neustart. Das Studium in einer Zeit des Aufbruchs an der Universität, die Liebe, die neuen Freiheiten, die Kultur, die Politik. Wohl war Wien damals, in den sechziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts noch grau, aber für jemanden, der der Enge des Lavanttals und den Zwängen des Volkshilfeheimes entfliehen konnte, war das die Welt. Wien ist mir bis heute vertraut, aber Heimat ist die Stadt für mich nicht. Dann kam Linz, 1972–1983, fast zwölf Jahre der rasanten Karriere an der Universität, des Lebens unter den Fittichen eines Mannes, den die Nazis vertrieben hatten und der nach drei Exiljahrzehnten nach Österreich zurückgeholt wurde. Der Freundeskreis, die Lebenspartnerschaft, all das hat sich dort entwickelt, fast alle unsere Freunde sind Freunde aus jenen prägenden Jahren in Linz. Dennoch, die Stadt war für mich und meine Familie letztlich nur eine Durchzugsstation. Auf einer Reise, als meine Frau und ich den Kindern unsere alte Wohnung zeigen wollten, habe ich mich sogar verlaufen. Und seit 1984 ist Graz nunmehr Lebensmittelpunkt, unterbrochen von etwa sechs Halbjahren in anderen Weltgegenden. Ja, Graz ist vertraut, in Graz fühle ich mich wohl, hier ist unser jüngeres Kind geboren, hier leben wir in der Vorstadt im guten Einvernehmen mit den Nachbarn. Hier kenne ich die notwendigen und für mich wichtigen Leute, hier habe ich den Kaiser-Josef-Markt (ein

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einmaliges Juwel!), hier weiß ich, welcher Arzt zu rufen ist, wenn etwas passiert. Von der Gemüsebäuerin bis zum Brotgeschäft, vom Bürgermeister bis zum Landeshauptmann, hier kann ich mich als integriert bezeichnen. Aber Heimat? Meine Frau wird als Vorarlbergerin erkannt und damit werden ihr sprachliche und verhaltensmäßige Besonderheiten zugeschrieben. Ich gelte als Kärntner (O-Ton meiner Schwiegermutter zu meiner Frau vor dem ersten Zusammentreffen: „Pass auf, Kärntner sind wilde Hund“), und spreche die Kärntner Dehnung bis heute. In Klagenfurt als „Halbsteirer“ gehänselt, weil aus dem Lavanttal kommend, bin ich heute nicht mehr sicher, ob das für mich eigentlich ein Schimpfwort ist. Wo ist also Heimat? Wolfsberg? St. Michael? St. Gertraud? Klagenfurt? Wien? Linz? Graz? Oder Ithaca, N.Y., wo wir als Kernfamilie wohl die bisher glücklichste Zeit verlebten? Oder Guilford in Connecticut, wo ich schon drei Semester bestens integriert zu leben das Privileg habe? Die Salzburger Nachrichten vom 5.1.2015 hatten auf der Titelseite die Nachricht, dass mehr als ein Drittel der Salzburger nicht im Land geboren wurde. Von diesem guten Drittel kommt die Hälfte aus anderen Bundesländern, die anderen Hälfte aus dem Ausland. Jeder sechste Salzburger hat also Migrationshintergrund, jeder dritte ist kein „echter“, meint gebürtiger Salzburger. In den Städten schaut das noch viel dramatischer aus, da hat oft die Hälfte der Bewohner schon Migrationshintergrund. Was machen wir also mit dem Heimatbegriff? Als ich ihn vor etwa 25 Jahren in einem Artikel für die Kulturzeitung „Sterz“ in den Plural setzte, von „Heimaten“ sprach (Sterz. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Politik, Graz 1987), was zwar grammatikalisch ein Unfug ist, politisch aber gelebte Realität von vielen, erntete ich heftige Kritik. Heimat, das war für die Kritiker ganz klar eine fixierte geographische Verortung, ein genau verortetes vormodernes Gebilde. Anton Wildgans hat das in seinem Gedicht: „Ich bin ein Kind der Stadt“ so deutlich auf den Punkt gebracht. Wildgans, der spätere Direktor des Wiener Burgtheaters, hat das Gedicht 1911 geschrieben. Er bringt damit klar zum Ausdruck, wie schwer der Heimatbegriff in eine moderne, urbane Lebensrealität zu verpflanzen ist. (Ich zitiere hier, auch um die Verbreitung zu verdeutlichen, aus: „Jungösterreich – Die Zeitschrift der österreichischen Schuljugend“, 1. Jahrgang, 1. Heft, November 1945, Sonderheft Österreich, Hg. von Hans Moritz)

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Ich bin ein Kind der Stadt Ich bin ein Kind der Stadt – Die Leute meinen und spotten leichthin über unsereinen, Daß solch ein Stadtkind keine Heimat hat. In meine Spiele rauschten freilich keine Wälder. Da schütterten die Pflastersteine, Und bist mir doch ein Lied, du liebe Stadt. Und immer noch, so oft ich dich für lange Verlassen habe, ward mir seltsam bange, Als könnt es ein besondrer Abschied sein. Und jedesmal, heimkehrend von der Reise, Im Zug mich nähernd, überläuft´s mich leise, Seh’ ich im Dämmer deinen Lichterreihn. Und oft im Frühling, wenn ich einsam gehe, Lockt es mich heimlich raunend in die Nähe Der Vorstadt, wo noch meine Schule steht. Da kann es sein, dass eine Straßenkrümmung, Die noch wie damals ist, geweihte Stimmung In mir erglühen macht wie ein Gebet. Da ist ihr Laden, wo ich Heft und Feder, Den ersten Zirkel und das erste Leder Und all die neuen Bücher eingekauft, Die Kirche da, wo ich zum ersten Male Zur Beichte ging, zum heiligen Abendmahle, Und dort der Park, in dem ich viel gerauft. Dann lenk’ ich aus den trauten Dunkelheiten Der alten Vorstadt wieder in die breiten Gassen, wo all die lauten Lichter glühn. Und bin in dem Gedröhne und Geschrille Nur eine kleine, ausgesparte Stille, In welcher alle deine Gärten blühn. Und bin der flutend-namenlosen Menge, Die deine Straßen anfüllt mit Gedränge, Ein Pünktchen nur, um welches du nicht weißt. Und hab´ in deinem heimatlichen Kreise Gleich einem fremden Gaste auf der Reise Kein Stückchen Erde, das mein eigen heißt.

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In jenen Jahren, der Zeit vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg, war Heimat, wie auch am Beispiel Kellmann gezeigt, ein rechtlicher Begriff. „Heimatrecht“, im „Auszug aus der Heimatrolle“ dokumentiert, war ein Rechtstitel, der Versorgung im Alter, im Krankheits- oder Armutsfalle durch die Heimatgemeinde garantierte. Allerdings nur durch diese, und in mobilen Gesellschaften, vor allem aber im Ersten Weltkrieg, als völlig neue Grenzen gezogen wurden, war das obsolet. Was macht Jakob Kellermann mit dem Heimatrecht in einer nunmehr polnischen Gemeinde, wo er nicht einmal die Sprache spricht, wenn er, in Galizien aufgewachsen, nun in Wien seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat, allerdings auch nur in trügerischer Sicherheit? Was macht die Hälfte der Bevölkerung mit einem Rechtsanspruch fern vom Lebensmittelpunkt? Wien wuchs von 1800 bis 1900 auf das Zehnfache, von 200.000 auf zwei Millionen Einwohner. Nur ein Bruchteil hatte Wien als Geburtsort, war also mit Heimatrecht ausgestattet. Ferdinand Hanusch, der Schöpfer der österreichischen Sozialgesetzgebung der Jahre 1918 bis 1920, war in Nordmähren geboren und wurde in den Jahren vor seiner politischen Laufbahn immer wieder per „Schub“, das meint nach polizeilichem Aufgriff und unter Begleitung und Kontrolle der Exekutive, in sein Heimatdorf zurückgebracht, wenn er „auf der Waltz“ wieder einmal keine Arbeit fand. Zu Hause aber warteten keine Arbeitsplätze, sondern das Armenhaus, oder aber das Gefängnis. Das Erlebnis teilten damals viele, allzu viele. Ein geographisch verorteter Heimatbegriff ist also in Zeiten mobiler Gesellschaften hohl geworden. Egal, ob Wanderbewegungen freiwillig oder erzwungen erfolgen, „Heimat“ ist maximal ein temporärer Begriff, gebunden an eine Wohnadresse, eventuell an einen Arbeitsplatz, eine Schule, eine Umgebung, die das Leben oder zumindest das Überleben garantiert. „Heimat“ ist dann ein Gefühl von Vertrautheit, von bekannten Wegen, Abläufen und Verhaltensmustern. „Heimat“ ist die Möglichkeit der Kommunikation, des Lebens mit jenen Menschen, mit denen man verbunden ist oder sich verbunden fühlt, sei es durch ähnliche Lebenswege, sei es durch die simple Akzeptanz des Andersseins. „Heimat“ ist also, selbst wenn diese Sicht nicht alle teilen, voluntaristisch zu sehen, ist maximal mittelfristig fixiert, wird durch den Lebenslauf verändert und in unterschiedlichen Kontexten selbst zeitgleich unterschiedlich definiert. Sie kann manchmal eng gesehen werden, als Haus, als Straße, als Wohnviertel. Dann wieder in regionalen Grenzen, als ein Tal, ein Herkunfts- oder Wohnbezirk, dann aber auch, und das ist häufig der Fall, wird „Heimat“ nach unseren Bundesländern definiert. National ist Heimat dann, wenn etwa im Sport Emotionen wach werden, oder europäisch, wenn man sich fern von unserem Kontinent befindet. „Heimat“ ist als geographischer Begriff also weder in der Dimension fixiert, noch hat „Heimat“ einen mit einer Nadel festgepinnten Punkt auf der Landkarte

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als Zentrum. Klar, gewisse Landschaftsformen (dass es nirgendwo so schön sein kann wie in Kansas, weiß die kleine Dorothy im Zauberer von Oz ganz genau. Und ich weiß auch, dass ich gewisse Landschaften besonders mag), gewisse Sprachfärbungen, gewisse Traditionen, gewisse Speisen halten sich als verklärte Erinnerung oft lange (Zu Hause wurde Weihnachten ganz speziell gefeiert. Meine Mutter fabrizierte den besten Apfelstrudel der Welt etc.). Aber das sind sentimentale, meist gar nicht der Realität entsprechende Gefühle, schräge Erinnerungen an Farben, Gerüche, Geräusche und Formen. „Heimat“ ist ein Begriff, der uns aber durchaus nicht nur in der Form eines geographischen fixierten Ortes begegnet. Wir finden „Heimat“ in vielen anderen Kontexten: Sprache, Kultur, Musik etc. Aber auch gilt zumindest für mich der Grundsatz, dass „Heimat“ voluntaristisch zu verstehen ist. So sind etwa unsere Kinder bilingual aufgewachsen, und meine Tochter hat zudem drei der letzten vier Jahre in Japan verbracht. Ihre Masterarbeit, die ich zum Korrekturlesen durchzuschauen hatte, war voll von Anglizismen, die ich so herauszustreichen hatte, wie mein Sohn meine englischsprachigen Texte auf Germanismen durchsieht. Die Hauptsprache meiner Tochter ist kaum genau zu definieren: am ehesten Japanisch, ohne dass sie Japan als „Heimat“ und japanisch als „Muttersprache“ definieren würde. Bei meinem letzten Gastsemester in den USA, wo in meinem Umfeld niemand Deutsch sprach oder verstand, hatte ich Robert Musil, Maja Haderlap und Ingeborg Bachmann auf meinem Nachtkästchen liegen, um vor dem Einschlafen deutschsprachige Texte zu lesen, in der Hoffnung, dann Deutsch zu träumen, was leider nur manchmal funktionierte. In jedem Fall aber zeigt dieser Versuch, dass es schon so etwas wie eine Sehnsucht nach der eigenen Sprache für mich gegeben hat. Und das war dann nicht einfach Deutsch, sondern ganz klar die österreichisch gefärbte Besonderheit. Aber Sprachen sind wechselbar. Viele slowenisch-sprachliche Familien im südlichen Kärnten haben die Sprache innerhalb einer einzigen Generation gewechselt. Von über 80 % slowenischsprachiger Bevölkerung sank dieser Anteil in St. Kanzian in Unterkärnten innerhalb von ganz wenigen Jahrzehnten auf gut 20 % ab, wie uns die statistischen Tafeln der Habsburgermonarchie zeigen. Sprachwahl hängt mit den Zukunftserwartungen, den ökonomischen Chancen, der Akzeptanz des Umfeldes ab. Bei uns wird diskutiert, dass die deutsche Sprache vor der Zuwanderung zu erlernen ist. Man tut so, als wäre Österreich ein deutschsprachiges Land. („Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch“, heißt ein bemerkenswerter Sammelband literarischer Texte, herausgegeben von Gerald Kurdoglu-Nitsche). Die Schweizer aus Genf oder Lausanne mit mäßigen Deutschkenntnissen wären also bei uns keine „guten“ Migranten. Die Schweiz selbst ist zumindest

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viersprachig, Belgien ist zweisprachig und in Kanada sang meine Tochter jeden Tag bei Schulbeginn die Hymne in beiden Landessprachen, die erste Strophe in Englisch, die zweite auf Französisch. Klar, Frankreich hat mit Gewalt die Sprachgrenzen an die Staatsgrenzen ausgedehnt und von Bretonisch bis Elsässisch, von Baskisch bis Okzitanisch die kleinen Sprachgruppen überformt. Aber die Habsburgermonarchie funktionierte gut in ihrer Sprachenvielfalt, und man zog für den Kaiser in den Krieg in deutscher, tschechischer, ungarischer, kroatischer, bosnischer etc. Befehlssprache. Und man war lange Zeit etwa einfach „Böhme“, egal, ob man zu Hause Tschechisch, Deutsch oder Latein sprach. Man war auch lange „Kärntner“, unabhängig davon, welche der beiden Landessprachen zu Hause verwendet wurde. Sprache und „Heimat“ ist also ebenso unbestimmt wie Region und „Heimat“. Kunst, Kultur etc. definiert wohl eher Schichtzugehörigkeit als einen ominösen „Kulturkreis“. Die Metropolitan Opera in New York spielt Puccini, die Mailänder Skala Wagner und die Wiener Staatsoper Janaček. Der Musikantenstadl macht Station in Florida (und meine Tante aus Toronto reist an, weil sie das für „Österreichisch“ hält). Ich trage T-Shirts und Mützen des FC Barcelona, und leide im amerikanischen Football mit den Steelers aus Pittsburg, nicht zuletzt, weil deren Quarterback aus dem Emmental in der Schweiz stammt. Kultur, auch Sport und Alltagskultur, sind längst globalisiert, schichtspezifisch oder nach Alterskohorten strukturiert. Als meine Tochter in diesen Tagen ihre ungeheure Manga-Sammlung auf Facebook zum Verschenken anbot, trieb sich kurzzeitig eine junge, japanophile Subkultur bei uns herum, wobei sogar Mädchen dabei waren, die sich in ihrer Freizeit als japanische Comicheldinnen verkleiden. Kulturelle, geistige Heimat ändert sich daher auch im Lebenszyklus. Die kleine Manga-Heldin wird vielleicht im späteren Leben in Bayreuth im Publikum sitzen und die Meistersinger genießen. Wie auch immer: Heimat, als ein Bestandteil unserer Identitätskonstruktionen dient dazu, eine Bezugsgruppe zu konstituieren. Das bedeutet, es gehören einige Menschen dazu, andere nicht. Heimat zieht Grenzen, grenzt also aus. Ob Region, Sprache, Kultur, Religion als Heimat definiert wird, es gibt ein „wir“ und es gibt die „anderen“, und diese haben die von uns definierte Grenzlinie auf jeden Fall zu respektieren. Heimat ist also in den meisten Fällen ein Kampfbegriff. Heimat muss verteidigt werden, für die Heimat kann man sterben, das ist süß und ehrenvoll. „Heimat? Da war ich noch nie“, lautete das Motto des Friedensfestes 2014 in Augsburg. Das klingt vorerst gut, denn es deutet auf eine „Heimat“ ohne Raumbezug, auf eine geistige Heimat. Aber das ändert eigentlich wenig. Heimat ist immer ein Bestandsteil von Identitätskonstruktionen, und definiert somit

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Zugehörigkeit und Ausschluss. Heimat zieht Grenzen, räumlich, sprachlich, sozial, kulturell, und zwar enger als es politische Grenzen sein können Dabei gibt es viele Leute mit mehreren Staatsbürgerschaften, es gibt das Überschreiten von Grenzen täglich millionenfach, in Flugzeugen, Autos, Zügen, ja sogar auf Wanderwegen. Aber Eindringen in eine Welt, in der die Grenzen durch Gefühle, Erinnerungen und Emotionen gezogen werden, ist für jemanden, der nicht dazugehört, fast unmöglich. Denn es ist immer die Gruppe „innen“, die es erlauben oder verbieten kann, die Grenze zu überschreiten. Heimat ist also in jedem Fall ein Begriff, der jeweils den allergrößten Teil der Menschen ausschließt. Der Begriff war historisch nur allzu oft ein hochpolitisch aufgeladener Kampfbegriff. Welche Möglichkeiten bleiben also: Heimat dynamisch, vervielfältigbar zu lesen und damit jedes Geborgen­ heitsgefühl, auch ein kurzzeitiges, in den Heimatbegriff zu inkludieren. Dann ist Heimat ein Plural, kann ein Stammlokal, einen Sportverein, einen Urlaubsort, einen Studienaufenthalt im Ausland und vieles mehr umfassen. Eine solche inflationäre Verwendung erschwert die politische Aufladung. Damit würde der Begriff zwar beliebig, dafür aber verwendbar, ohne alle jene auszugrenzen, die sich in Bewegung befinden. Und wer die Zahl der heute unfreiwillig mobilen Menschen aus Syrien, auf den Schiffen vor Lampedusa, in den überfüllten Flüchtlingsherbergen etc. bedenkt, der kann Heimat wohl nur in dieser Breite verstehen. Ob das allerdings für diese betroffenen Menschen schon einen gangbaren Ansatz darstellt, ist wohl eher nur zu hoffen als zu erwarten. Für diesen Heimatbegriff steht die erstgenannte Biographie, jene von Jakob Kellmann. Den Begriff zu vermeiden, ihn tatsächlich als Gegenbegriff zu der universellen Gültigkeit der Menschenrechte zu sehen und ihn auf die Liste der politisch unkorrekten Begriffe zu setzen. Dafür steht das Selbstverständnis von Jay Winter. Das würde allerdings bedeuten, ihn als Kampfbegriff sogar aufzuwerten und die Chancen nicht zu nutzen, die sich in einer differenzierten, die Emotionen berücksichtigenden Annäherung ergeben. Vielleicht bieten sich auch noch andere Auswege an. Ich verhehle nicht, von den beiden Möglichkeiten die erstgenannte zu präferieren.

Autorinnen und Autoren

Julian Anslinger, wissenschaftlicher Projektmitarbeiter am Institut für Psychologie (Arbeitsbereich Sozialpsychologie) der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Soziale Gerechtigkeit, Stereotype, Informations­ verarbeitung, Beurteilung und Entscheidungsfindung sowie Science and Techno­ lo­g y Studies. Aktuelle Publikation: AG Queer STS. Geschlechterwissen in der Hirnforschung: Ein queerer Blick aus den Science and Technology Studies, in: Freiburger Zeitschrift für Geschlechterstudien, 19, 2013, S. 67–84. Email: [email protected] Ursula Athenstaedt, ao. Universitätsprofessorin am Institut für Psychologie (Arbeitsbereich Sozialpsychologie) der Universität Graz. Sie ist beteiligt an den Forschungsschwerpunkten Gehirn und Verhalten und Heterogenität und Kohäsion. Zu ihren aktuellen Publikationen zählen: Geschlechterrollen und ihre Folgen (gemeinsam mit Dorothee Alfermann), Stuttgart 2011; Sex differences in neural efficiency: Are they due to the stereotype threat effect? (gemeinsam mit Beate Dunst, Mathias Benedek, Sabine Bergner und Aljoscha C. Neubauer), in: Personality and Individual Differences, 55, 2013, S. 744–749; The development of trust and altruism during childhood (gemeinsam mit Anthony M. Evans und Joachim I. Krueger), in: Journal of Economic Psychology, 36, 2013, S. 82–95. Email: [email protected] Wolfgang Benedek, Universitätsprofessor am Institut für Völkerrecht und internationale Beziehungen der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte im Bereich des internationalen und regionalen Menschenrechtsschutzes, insbesondere europäischer Menschenrechtsschutz, der

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menschlichen Sicherheit, Informationsgesellschaft und Menschenrechte sowie Menschenrechtsbildung, wirtschaftliche Globalisierung und Südosteuropa. Zu seinen aktuellen Publikationen zählen: Freedom of Expression and the Internet (gemeinsam mit Matthias Kettemann), Strassburg 2014; EU Action on Human and Fundamental Rights, in: Wolfgang Benedek, Wolfram Karl, Matthias C. Kettemann, Florence Benoit-Rohmer, Manfred Nowak (Hg.), European Yearbook on Human Rights, Wien–Berlin–Antwerpen (erscheint jährlich); Herausgeber von: Understanding Human Rights. Manual on Human Rights Education, Wien–Graz, 3rd ed., 2012. Email: [email protected] Stefan Benedik, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Repräsentationen von Geschlecht, Migration und Nationalismen, Rassifizierung, Geschlechtergeschichte von Wissen und Erinnerung. Zu seinen aktuellen Publikationen zählen: Seductive Bodies: (In)Escapable Belonging: Sexualisation and Racialisation of the Romani Subject in Contem­ porary Central European Performances, in: Jan Selling, Markus End, Hristo Kyuchukov, Pia Laskar, Bill Templer (Hg.), Antiziganism: What’s in a Word?, Cambridge 2015, S. 160–170; Die imaginierte „Bettlerflut“. Temporäre Migra­ tionen von Roma/Romnija – Konstrukte und Positionen (gemeinsam mit Barbara Tiefenbacher und Heidrun Zettelbauer), Klagenfurt/Celovec 2013. Email: [email protected] Claudia Gerdenitsch, Universitätsassistentin am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. Seit 2014 Leiterin der Koordinations­ stelle Alter(n) an der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Historisch-systematische Grundlagenforschung der Pädagogik, Bildung im Alter, Frauenbildungsbewegungen, Pädagogische Profes­ sio­nali­sierungsdiskurse. Zu ihren aktuellen Publikationen zählen: Unterricht an Universitäten? Systema­ tische Überlegungen zum intradisziplinären Transfer, in: Anke Karber, Cornelia Wustmann, Rudolf Egger (Hg.), Forschungsgeleitete Lehre, Wiesbaden 2015, S. 77–92; Lehrer/innenbildung zwischen politischem Auftrag und pädagogischer Begründung, in: Elmar Anhalt, Dariusz Stepkowski (Hg.), Erziehung und Bildung in politischen Systemen, Jena 2012, S. 147–160. Email: [email protected]

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Joachim Hainzl, Kulturwissenschaftler, Gründer von XENOS in Graz. Seit zwei Jahrzehnten im Feld soziokultureller Forschung, Vermittlung und Dokumentation tätig. Daneben künstlerische Projekte, vor allem Arbeiten im öffentlichen Raum, Installationen, Fotografie und Ausstellungen. Kuratierung mehrerer Ausstellungen zur Kulturgeschichte des Rauchens, u.a. „Vom Diwan in den Sattel oder: wie der Marlboro Man den Orient besiegte“ (2008) und „Verrauchte Minuten“ (2009). Mehr dazu unter: www.verein-xenos.net Helmut Konrad, Universitätsprofessor für Allgemeine Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte, Arbeitergeschichte, Universitäts­ ent­wicklung, Erster Weltkrieg. Zu seinen aktuellen Publikationen zählen: Die Steiermark und der Große Krieg (gemeinsam mit Nicole Goll), Graz 2014; Welche Nationen? Welche Staaten? Zur politischen Umsetzung der sogenannten „nationalen Einigungen“ im 19. Jahrhundert, in: Florika Griessner, Adriana Vignazia (Hg.), 150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen, Wien 2014; Batir la Paix, in: Jay Winter (Hg.), La Premiere Guerre Mondial, Vol. 2, Paris 2014. Email: [email protected] Margareta Kreimer, ao. Universitätsprofessorin am Institut für Volks­wirt­ schaftslehre der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Arbeitsmarktökonomik, Geschlechtergleichstellung, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Care-Ökonomie, Feministische Ökonomie. Zu ihren aktuellen Publikationen zählen: Haushaltsnahe Dienstleistungen als Herausforderung einer neuen Care-Ökonomie, in: Brigitte Aulenbacher, Maria Dammayr (Hg.), Für sich und andere sorgen, Weinheim–Basel 2014, S. 194–204; Auswirkungen von mehrfachen Diskriminierungen auf Berufsbiografien. Eine empirische Erhebung (gemeinsam mit Simone Philipp, Isabella Meier und Klaus Starl), Wiesbaden 2014; Zwischen permanenter Sorge, mangelnder Freizeit und hohen Leistungsanforderungen: Zur Situation von working carers an der Universität Graz (gemeinsam mit Isabella Meier), in: Erna Appelt et al (Hg.), Elder Care. Intersektionelle Analysen der informellen Betreuung und Pflege alter Menschen in Österreich, Innsbruck 2014, S. 131–145. Email: [email protected] Verena Lorber, Dissertantin am Institut für Geschichte (Zeitgeschichte) der Universität Graz. In ihrer Dissertation setzt sie sich mit dem Thema „Gastarbeit“ in der Steiermark im Zeitraum von 1961 bis 1976 auseinander. Zu ihren aktuellen Publikationen zählen: 50 Jahre Gastarbeit in der Steiermark,

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in: Ali Özbas, Joachin Hainzl, Handan Özbas (Hg.), Gast(?)Arbeit in Österreich. Wissenschaftliche Analysen und Lebensgeschichten, Graz 2014, S. 73–83; „Unsere Wirtschaft hat sie gebraucht“. ArbeitsmigrantInnen in der Steiermark von 1961 bis 1975, in: Karin M. Schmidlechner, Annette Sprung, Ute Sonnleitner (Hg.), Migration und Arbeit in der Steiermark, Graz 2013, S. 32–46. Email: [email protected] Joseph Marko, Universitätsprofessor am Institut für Österreichisches, Euro­ päisches und Vergleichendes Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre der Universität Graz; seit 2011 Dekan der Rechtswissen­ schaft­ lichen Fakultät; zahlreiche Veröffentlichungen zu Menschen- und Minderheitenrechten, Konfliktmanagement und vergleichendes Verfassungs­ recht. Zu seinen aktuellen Publikationen zählen: Vom Diskriminierungsverbot zu „effektiver“ Gleichheit? Zur Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung von JuristIn­nen und SoziologInnen, in: Simone Philipp, Isabella Meier, Veronika Aposto­lovski, Klaus Starl, Karin Schmidlechner (Hg.), Intersektionelle Benach­ teiligung und Diskriminierung – Soziale Realitäten und Rechtspraxis, BadenBaden 2014, S. 19–42; Foreign judges: a European perspective, in: Simon N. M. Young, Yash Ghai (eds.), Hong Kong’s Court of Final Appeal. The Development of the Law in China’s Hong Kong, New York 2014, S. 637–665. Email: [email protected] Maryam Mohammadi, Fotografin und Kunsthistorikerin. Langjährige internationale Künstlerinnenkarriere und Lehrtätigkeit an der Teheraner Universität. 2009 Umzug nach Österreich und seitdem zahlreiche Fotoprojekte und Ausstellungen in der Steiermark, viele davon zu Geschlechteridentität, Migration, sozialen und gesellschaftspolitischen Themen. 2013 Kunstförderungspreis der Stadt Graz. Aktuell phd-Studentin zum Thema „Feminismus und Fotografie“. Mehr zu ihren Arbeiten unter: www.maryammohammadi.at. Manfred Pfaffenthaler, Universitätsassistent am Institut für Geschichte (Südost­europäische Geschichte) der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Migrationsbewegungen aus, nach und in Südosteuropa, Konzepte der Migration im Kontext kulturwissenschaftlicher Mobilitäts- und Raum­forschung. Zu seinen aktuellen Publikationen zählt: Räume und Dinge. Kulturwissenschaf­ tliche Perspektiven (hg. gemeinsam mit Stefanie Lerch, Katharina Schwabl und Dagmar Probst), Bielefeld 2014. Email: [email protected]

Autorinnen und Autoren | 227

Robert Reithofer, Studium der Geschichte und Germanistik, sozialisiert in der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (u.a. in der Betreuung von AsylwerberInnen), seit 1990 Geschäftsführer von ISOP, engagiert in Projekten, die sich der Bekämpfung sozialer Ausgrenzung, der Unterstützung arbeitsloser Menschen, der Förderung von Basisbildung, dem Nachholen des Pflichtschulabschlusses sowie der interkulturellen Kompetenzbildung und Antidiskriminierung widmen. Ausgewählte Publikationen: Frauen schreiben – Positionen aus Südosteuropa (gemeinsam mit Birgit Pölzl und Dragana Tomašević), Graz 2006; Gegenwelten. Rassismus – Kapitalismus – soziale Ausgrenzung (gemeinsam mit Maruša Krese und Leo Kühberger), Graz 2007; Ohne Angst verschieden sein (gemeinsam mit Maruša Krese und Meta Krese), Graz 2008; Grenzenlos. Basisbildung zwischen Empowerment und Antidiskriminierung, Graz 2010. Email: [email protected] Katharina Scherke, ao. Universitätsprofessorin am Institut für Soziolo­gie der Universität Graz; seit 2007 Vizedekanin der Sozial- und Wirtschafts­wissen­ schaftlichen Fakultät und Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehand­ lungsfragen (AKGL) der Universität Graz. Sprecherin des universitären Forschungsschwerpunktes Heterogenität und Kohäsion. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Kunstsoziologie, Geschichte der Sozio­lo­ gie, Soziologische Theorie, Wissenschaftssoziologie. Zu ihren aktuellen Publikationen zählen: Emotionen als Forschungsgegenstand der deutschsprachigen Soziologie, Wiesbaden 2009; Transnationalität als Heraus­ for­derung für die soziologische Migrationsforschung, in: Gertraud MarinelliKönig, Alexander Preisinger (Hg.), Zwischenräume der Migration, Bielefeld 2011, S. 79–90; Die soziale Regelung von Gefühlen – Lachen und Weinen, in: Alfred Bellebaum, Robert Hettlage (Hg.), Unser Alltag ist voll von Gesellschaft, Wiesbaden 2014, S. 211–228. Email: [email protected] Karin M. Schmidlechner, ao. Universitätsprofessorin für Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz. Herausgeberin der Grazer-GenderStudies (= Veröffentlichungen zur interdisziplinären historischen Frauen- und Geschlechterforschung). Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Regionale Frauen- und Geschlechter­ geschichte, Geschlechtsspezifische Migration. Zu ihren aktuellen Publikationen zählen: Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung – Soziale Realitäten und Rechtspraxis (herausgegeben gemeinsam mit Simone Philipp, Isabella Meier, Veronika Apostolovski und Klaus Starl),

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Baden-Baden 2014; Migration und Arbeit in der Steiermark (herausgegeben gemeinsam mit Annette Sprung und Ute Sonnleitner), Graz 2013. Email: [email protected] Silvia Schultermandl, Assistenzprofessorin am Institut für Amerikanistik der Universität Graz. Zu ihren Publikationen im Bereich der amerikanischen Literatur- und Kultur­ wissenschaft zählen: Transnational Matrilineage: Mother-Daughter Relationships in Asian American Literature, Münster 2009; A Fluid Sense of Self: The Politics of Transnational Identity (herausgegeben gemeinsam mit Sebnem Toplu), Wien 2010; Growing Up Transnational: Identity and Kinship in a Global Era (herausgegeben gemeinsam mit May Friedman), Toronto–Buffalo 2011; Contact Spaces of American Culture: Localizing Global Phenomena (herausgegeben gemeinsam mit Petra Eckhard, Klaus Rieser), Wien–Berlin 2012. Email: [email protected] Barbara Schrammel-Leber, Mitarbeiterin bei treffpunkt sprachen – Zentrum für Sprache, Plurilingualismus und Fachdidaktik der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Minderheitensprachen mit dem Schwerpunkt Romani, Mehrsprachigkeit mit dem Schwerpunkt gesellschaftliche Herausforderungen in Bezug auf Mehrsprachigkeit. Zu ihren aktuellen Publikationen zählen: Romani, in: Manfred Krifka, Joanna Błaszczak, Annette Leßmöllmann et al (Hg.), Das mehrsprachige Klassenzimmer, Wiesbaden 2014; Sprachenfreundliche Räume gestalten (gemeinsam mit Astrid Kury und Katharina Lanzmaier-Ugri), Grazer Plurilingualismus Studien, Graz 2014; Roma und Romani in Österreich (gemeinsam mit Dieter W. Halwachs), in: Erika Thurner et al (Hg.), Roma und Travellers. Identitäten im Wandel, Innsbruck 2013. Email: [email protected] Ute Sonnleitner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte (Zeit­geschichte) der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechterforschung, historische Migrationsforschung, Widerstand und Theatergeschichte (sowie deren Wechsel­ be­ziehung). Zu ihren aktuellen Publikationen zählen: Fluchtraum oder patriotische Bühne. Das Medium Theater in der Steiermark 1914–1918: Inklusionen, Exklusionen und das Beispiel Mella Mars, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich, Themenheft „Österreichische Städte im Ersten Weltkrieg“, Heft 19/2014, S.  57–72; „Klare Ziele müssen definiert wer-

Autorinnen und Autoren | 229

den …“ Steirische Jugendliche zwischen Schule und Lehre – die Beratungsarbeit von ISOP, in: Karin Schmidlechner, Annette Sprung, Ute Sonnleitner (Hg.), Arbeitsmigration in der Steiermark, Graz 2013. Email: [email protected]

Anhang

SPANNUNGSFELD GESELLSCHAFTLICHE VIELFALT Vorträge, Diskussionen, künstlerische Interventionen

DIE CHARTA DES ZUSAMMENLEBENS IM DISKURS

PROGRAMM

IMPRESSUM: Herausgeber: ISOP - INNOVATIVE SOZIALPROJEKTE GmbH, Dreihackengasse 2, 8020 Graz, Tel.: 0316/76 46 46, www.isop.at, E-Mail: [email protected], Redaktion: Robert Reithofer, Layout: Jutta Zniva

5.11.2013, Universität Graz, Aula, 18.30 Uhr Menschenrechte zwischen Anspruch und Realität Vortrag: Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Benedek, Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen Impulse: Wolfgang Pucher (Vinzenzgemeinschaft), Mag. Alexandra Köck (Verein Zebra), Mag. Robert Reithofer (ISOP) 10.12.2013, Joanneumsviertel, Auditorium, 18.30 Uhr Mehrsprachigkeit als Normalität, Ressource und Chance Vortrag: Ass.-Prof. Mag. Dr. Dieter Halwachs, Mag. Barbara Schrammel-Leber, Treffpunkt Sprachen – Zentrum für in Kooperation mit Sprache, Plurilingualismus und Fachdidaktik Impulse: Mag. Albena Obendrauf, Birgit Fedl-Dohr (ISOP), Mag. Kerstin Fischer (DANAIDA), Mag. Ursula Newby (Sprachennetzwerk Graz) 28.1.2014, Joanneumsviertel, Auditorium, 18.30 Uhr Migration als historische Normalität am Beispiel des Migrationsraums Steiermark Vortrag: Ao. Univ.Prof. Dr. Karin M. Schmidlechner, Dr. Ute Sonnleitner, Mag. Verena Lorber, Mag. Manfred Pfaffenthaler,, Institut für Geschichte, Allgemeine Zeitgeschichte Impulse: Mag. Godswill Eyawo (MigrantInnenbeirat der Stadt Graz), Mag. Silvia Göhring (ISOP) 25.3.2014, Joanneumsviertel, Auditorium, 18.30 Uhr Familie – ein fluider Begriff in Theorie und Praxis, Geschichte und Gegenwart Vortrag: Univ.-Prof. Dr. Karl Kaser,, Institut für Geschichte, Südosteuropäische Geschichte Impulse: Martina Weixler (RosaLila PantherInnen), Dipl.-Ing. Barbara Binder (Kinderfreunde), Mag. Bernhard Seidler (Kinderbüro) 6.5.2014, Joanneumsviertel, Auditorium, 18.30 Uhr Warum Frauen soviel arbeiten und trotzdem sowenig verdienen ... Vortrag: Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Margareta Kreimer, Institut für Volkswirtschaftslehre Impulse: Mag. Christina Lind (AMS Steiermark), Gertrude Peinhaupt (nowa/zam Stmk.) 17.6.2014, Joanneumsviertel, Auditorium, 18.30 Uhr Zusammenleben - Zusammenaltern: Kulturwissenschaftliche Überlegungen zu Zeit und Erfahrung Vortrag: Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Roberta Maierhofer,, Zentrum für Interamerikanische Studien Impulse: Mag. Sylvia Groth (Frauengesundheitszentrum), Dr. Ingrid Franthal (Frauenservice), Franz Küberl (Caritas) 21.10.2014 , Joanneumsviertel, Auditorium, 18.30 Uhr as uns die Sozialpsychologie zum Thema V orurteil sagen k ann Was Vorurteil kann Wir und die anderen: W Vortrag: Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Ursula Athenstaedt, Institut für Psychologie Impulse: Mag. Joachim Hainzl (Verein Xenos), Mag. Stefan Benedik (Uni Graz) 9.12.2014, Joanneumsviertel, Auditorium, 18.30 Uhr Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit Vortrag: Univ.-Prof. Dr. Joseph Marko, Institut für Österreichisches, Europäisches und Vergleichendes Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre Impulse: Mag. Daniela Grabovac (Antidiskriminierungsstelle des Landes), Fred Ohenhen (ISOP), Dr. Sabine SchulzeBauer (Landes-Gleichbehandlungsbeauftragte) 20.1.2015, Joanneumsviertel, Auditorium, 18.30 Uhr Vielschichtige, veränderbare Heimaten Vortrag: Univ.-Prof. Dr. Helmut Konrad, Institut für Geschichte, Allgemeine Zeitgeschichte Impulse: Wolf Steinhuber (Plattform Bleiberecht), Maryam Mohammadi, M.A. (Künstlerin), Dr. Wolfram Dornik (Museum im Tabor)

Ein Projekt des Forschungsschwerpunkts „Heterogenität und Kohäsion“ der Universität Graz und von ISOP, in Kooperation mit dem Land Steiermark im Rahmen der Integrationspartnerschaft Steiermark

in Kooperation mit

Gesellschaft der Unterschiede Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter Leben im Ruhestand Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft 2014, 464 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2277-5

Reimer Gronemeyer, Gabriele Kreutzner, Verena Rothe Im Leben bleiben Unterwegs zu demenzfreundlichen Kommunen September 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2996-5

Oliver Marchart Die Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung 2013, 248 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2192-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Gesellschaft der Unterschiede Oliver Marchart (Hg.) Facetten der Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben 2013, 224 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2193-8

Leiv Eirik Voigtländer Armut und Engagement Zur zivilgesellschaftlichen Partizipation von Menschen in prekären Lebenslagen August 2015, ca. 330 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3135-7

Monika Windisch Behinderung – Geschlecht – Soziale Ungleichheit Intersektionelle Perspektiven 2014, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2663-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Gesellschaft der Unterschiede Kay Biesel, Reinhart Wolff Aus Kinderschutzfehlern lernen Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie 2014, 184 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2386-4

Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Katja Hartosch (Hg.) Repräsentationen von Arbeit Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen

Carolin Kölzer »Hauptsache ein Job später« Arbeitsweltliche Vorstellungen und Bewältigungsstrategien von Jugendlichen mit Hauptschulhintergrund 2014, 486 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2848-7

Hannes Krämer Die Praxis der Kreativität Eine Ethnografie kreativer Arbeit

2013, 538 Seiten, kart., 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2242-3

2014, 422 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2696-4

Gabriele Fischer Anerkennung – Macht – Hierarchie Praktiken der Anerkennung und Geschlechterdifferenzierung in der Chirurgie und im Friseurhandwerk

Alexandra Manske Kapitalistische Geister in der Kulturund Kreativwirtschaft Kreative zwischen wirtschaftlichem Zwang und künstlerischem Drang (unter Mitarbeit von Angela Berger, Theresa Silberstein und Julian Wenz)

August 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3062-6

Christoph Hoeft, Johanna Klatt, Annike Klimmeck, Julia Kopp, Sören Messinger, Jonas Rugenstein, Franz Walter Wer organisiert die »Entbehrlichen«? Viertelgestalterinnen und Viertelgestalter in benachteiligten Stadtquartieren 2014, 290 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2731-2

Adrian Itschert Jenseits des Leistungsprinzips Soziale Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2233-1

August 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2088-7

Nancy Richter Organisation, Macht, Subjekt Zur Genealogie des modernen Managements 2013, 344 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2363-5

Kathrin Schrader Drogenprostitution Eine intersektionale Betrachtung zur Handlungsfähigkeit drogengebrauchender Sexarbeiterinnen 2013, 452 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2352-9

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