Sozialwissenschaften und Gesellschaft: Neue Verortungen von Wissenstransfer 9783839434024

The transfer of knowledge between (social) sciences and society has increasingly gained importance, and today enjoys pri

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German Pages 342 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Eine disziplinäre Perspektive auf Wissenstransfer – zur Einführung
Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften
Fragmentierter Wissenstransfer der Sozialwissenschaften: Zur Relevanz disziplinenspezifischer Kontextfaktoren
Transfer! Welcher Transfer? Disziplinäre Selbstverständnisse zum Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften
Die Soziologie als Beratung: Anwendungsabstinenz oder ein Berufsfeld?
Sozialwissenschaften und Gesellschaft: Ein Verhältnis im Wandel
Die Sehnsucht nach der Praxis: Beobachtungen zur Identitätsarbeit der Sozialwissenschaften
Rätsel und Paranoia als Methode – Vorschläge zu einer Innovationsforschung der Sozialwissenschaften
Ewig umstritten: Soziologie zwischen Engagement und Distanzierung
Wissenstransfer im öffentlichen Raum
Infrastrukturen: Bahnen des Wissenstransfers?
Zur Bedeutung und Wirkung von Wissensmilieus
Arbeitsforschung im Wandel des deutschen Produktionsmodells: Responsivität transdisziplinärer Forschung als Erfolgsfaktor und Risiko
Autorinnen und Autoren
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Sozialwissenschaften und Gesellschaft: Neue Verortungen von Wissenstransfer
 9783839434024

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Anna Froese, Dagmar Simon, Julia Böttcher (Hg.) Sozialwissenschaften und Gesellschaft

Anna Froese, Dagmar Simon, Julia Böttcher (Hg.)

Sozialwissenschaften und Gesellschaft Neue Verortungen von Wissenstransfer

Der Sammelband basiert auf einer Konferenz, die im Rahmen des Forschungsprojektes »Unbekanntes Terrain? Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften« im Dezember 2013 stattgefunden hat. Das Projekt wurde von 2012 bis 2014 gemeinsam vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem Kennzeichen 03FO16005E gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Anne Vonderstein Satz: Nina Scheuble, Bettina Kausch Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3402-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3402-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

E INLEITUNG Eine disziplinäre Perspektive auf Wissenstransfer – zur Einführung

Anna Froese, Dagmar Simon | 9

WISSENSTRANSFER IN DEN S OZIAL- UND RAUMWISSENSCHAFTEN Fragmentierter Wissenstransfer der Sozialwissenschaften: Zur Relevanz disziplinenspezifischer Kontextfaktoren

Anna Froese, Natalie Mevissen | 31 Transfer! Welcher Transfer? Disziplinäre Selbstverständnisse zum Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften

Dagmar Simon, Sebastian Lentz | 65 Die Soziologie als Beratung: Anwendungsabstinenz oder ein Berufsfeld?

Tatjana Zimenkova | 99

S OZIALWISSENSCHAFTEN UND G ESELLSCHAFT: E IN VERHÄLTNIS IM W ANDEL Die Sehnsucht nach der Praxis: Beobachtungen zur Identitätsarbeit der Sozialwissenschaften

David Kaldewey | 129 Rätsel und Paranoia als Methode – Vorschläge zu einer Innovationsforschung der Sozialwissenschaften

Martin Reinhart | 159 Ewig umstritten: Soziologie zwischen Engagement und Distanzierung

Natalie Mevissen | 193

WISSENSTRANSFER IM ÖFFENTLICHEN RAUM Infrastrukturen: Bahnen des Wissenstransfers?

Eva Barlösius | 235 Zur Bedeutung und Wirkung von Wissensmilieus

Peter Meusburger | 263 Arbeitsforschung im Wandel des deutschen Produktionsmodells: Responsivität transdisziplinärer Forschung als Erfolgsfaktor und Risiko

Heike Jacobsen | 307 Autorinnen und Autoren | 339

Einleitung

Eine disziplinäre Perspektive auf Wissenstransfer – zur Einführung A NNA F ROESE , D AGMAR S IMON

Angesichts einer zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung moderner Wissenschaft (Stichweh 1994; Weingart 2012) wird es für die Wissenschaftsforschung immer wichtiger, zentrale Konzepte hinsichtlich ihrer disziplinären Besonderheiten zu untersuchen. Dieser Ansatz folgt der Feststellung, dass sich Disziplinen in Hinblick auf ihre epistemischen Normen und sozialen Praktiken signifikant unterscheiden (Becher/Trowler 2001; Knorr-Cetina 2002). Es wird sogar zunehmend kontrovers diskutiert, ob der von Autoren wie Merton (1973) konstatierte Kanon gemeinsamer Normen für die Wissenschaft noch immer Bestand hat (Torka 2015). Disziplinäre Kulturen prägen das Denken und Handeln ihrer Mitglieder auf entscheidende Weise – sei es die Form der Wissensproduktion, seien es das Selbstverständnis und Rollenbild der Wissenschaftler/-innen, die Adressatengruppen oder das Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis. Ausgangspunkt für diesen Band war die Annahme, dass die jeweilige Disziplin nicht nur Forschung und Lehre, sondern auch Wissenstransfer in hohem Maße beeinflusst, also auch für den Übergang von Theorie zu Praxis ein konstitutiver Faktor ist. Dieses Argument aufgreifend, werden im vorliegenden Band Konzepte des Wissenstransfers für die Sozialwissenschaften untersucht und auch – zumindest ausschnittsweise – mit den Raumwissenschaften kontrastiert. Basierend auf neueren Modellen der Innovationsforschung (BraunThürmann 2005; Schmoch/Licht/Reinhard 2000) definieren wir Wissens-

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transfer als Prozess des Austauschs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft (Froese et al. 2014: 4). Das Konzept des Wissenstransfers ist ein für die Wissenschaft zentrales Thema, welches den Kern wissenschaftlichen Arbeitens berührt: das Rollen- und Selbstverständnis der Wissenschaftler/innen in der Gesellschaft (Bourdieu 1984; Ben-David 1972, 1984; Guston 1994; Weber 2002[1919]), ihre Autonomie in akademischen Institutionen (Berdahl 1990; Clark 1983; Schelsky 1963) sowie die Frage geeigneter Bewertungskriterien für Forschung (Wahrheitswert versus Nützlichkeit [Kuhn 2003; Luhmann 2005; Polanyi 1985; Popper 1998]). Da das Konzept des Wissenstransfers ursprünglich aus der Innovationsforschung stammt, sind Natur- und Ingenieurwissenschaften vergleichsweise gut untersucht (siehe stellvertretend Bozeman 2000; Perkmann et al. 2013; Schmoch/Licht/Reinhard 2000). Die Beobachtung, dass Sozialwissenschaften in hohem Maße fragmentiert (Whitley 1984) und Transferleistungen schwer erfassbar sind (Wissenschaftsrat 2008), veranlasste uns, zu überprüfen, ob eine spezifische Problematik für Wissenstransfer besteht und wie sich diese erklären lässt. Für die Sozialwissenschaften existieren bisher nur wenige Kenntnisse über das Verständnis, die Formate, Zielgruppen und Kriterien von Wissenstransfer (erste Ansätze sind Arbeiten von Franz et al. 2003; Olmos-Peñuela/Castro-Martínez/D’Este 2014). Zugleich hat das Konzept der „sozialen Innovation“ sowohl in der Wissenschaftsforschung als auch im wissenschaftspolitischen Diskurs zusehends an Relevanz gewonnen: Sozialwissenschaften sind immer mehr gefragt, ihren Beitrag in gesamtgesellschaftlichen Innovationsprozessen zu leisten (Howaldt/Schwarz 2012; Zapf 1994). Der Sammelband basiert auf dem Forschungsprojekt „Unbekanntes Terrain? Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften“, das von zweitausendzwölf bis zweitausendvierzehn gemeinsam vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig durchgeführt wurde. 1 Untersucht wurden außeruniversitäre Forschungsinstitute der Sozial- und Raumwissenschaften in der LeibnizGemeinschaft. Im Rahmen der Abschlusskonferenz im Dezember zweitausenddreizehn diskutierten wir unter dem Motto „Making knowledge useful,

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Das Projekt „Unbekanntes Terrain? Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften“ wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem Förderkennzeichen 03FO16005E gefördert.

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making useful knowledge“ 2 unsere Ergebnisse in einem Kreis von Kolleg(inn)en, deren Beiträge die Basis für die Artikel dieses Bandes bilden. Zu den Sozialwissenschaften zählen wir in Anlehnung an die Struktur der DFG-Fachkollegien die Soziologie und die Politikwissenschaften, wobei wir den Schwerpunkt auf die Soziologie legen, da in Letzterer eine besonders diffuse Vorstellung von Wissenstransfer anzutreffen ist, während in den Politikwissenschaften zumindest eine Fokussierung auf die Politikberatung konstatiert werden kann. Raumwissenschaften bezeichnen ein interdisziplinäres Feld (Kerndisziplinen: Geographie, Stadt- und Regionalplanung), das sich mit Gesellschaften und ihren physisch-materiellen Bedingungen auseinandersetzt sowie mit der Frage, wie diese Raum „produzieren“ und gestalten (siehe auch Simon/Lentz in diesem Band). Disziplinen sind (aus den lateinischen Begriffen discipulus = Schüler und disciplina = Lehre, Schule) ihrer etymologischen Bedeutung nach stark mit dem Konzept von Konformität hinsichtlich kognitiver und habitueller Normen innerhalb einer bestimmten Wissenscommunity verbunden (für die folgenden Ausführungen vgl. Krishnan 2009). Individuelle Karriereziele erreichen die Mitglieder einer Disziplin nur, wenn sie einen signifikanten Beitrag zum Erreichen kollektiver Wissensziele leisten, das heißt professionellen und sozialen Normen entsprechen. Insofern konvergieren individuelle Aktivitäten der Forschenden in den Disziplinen stark, da sie an kollektiven Erwartungen ausgerichtet sind. Disziplinen bieten einen „homogenen Kommunikationszusammenhang“, einen in Form von Lehrbüchern fixierten Kanon wissenschaftlichen Wissens, ein Set an konsensual geteilten Methoden, Fragestellungen sowie Problemlösungen, eine spezifische Karrierestruktur sowie institutionalisierte Sozialisationsprozesse (Stichweh 1994; 2003: 17). All diese Aspekte haben einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf individuelle Präferenzen und Einstellungen gegenüber Wissenstransfer. Der Einfluss disziplinärer Charakteristika auf die Umsetzung von Wissenstransfer lässt sich anhand von drei Bereichen verdeutlichen, die laut Wissenschaftsforschung als zentral gelten (Becher/Trowler 2001; Mintzberg 1991): epistemische Normen, Ausbildung/Sozialisation des wissenschaftlichen Nachwuchses und Bewerten wissenschaftlicher Leistungen.

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Dabei handelt es sich um den Titel des Keynote-Vortrags der Konferenz am 05./06. Dezember 2013 von Edward J. Hackett, Arizona State University.

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1. W IRKUNG VON D ISZIPLINEN Sozialwissenschaften zeichnen sich durch einen hohen Grad an Fragmentierung aus (Whitley 1984). Es handelt sich bei ihnen um ein differenziertes und spezialisiertes Wissenschaftsfeld, in dem Individuen und Kleingruppen vergleichsweise autonom und isoliert voneinander arbeiten und in dem selten Koordinationsaktivitäten stattfinden. Aufgrund ihrer Fragmentierung sind die Sozialwissenschaften insgesamt durch instabile intellektuelle Ziele und Prioritäten geprägt. Charakteristisch ist die Existenz wenig standardisierter Forschungspraktiken und Erhebungsinstrumente sowie unklarer und diverser Bewertungsstandards. Typisch ist weiterhin, dass es aufgrund eines wahrgenommenen Reputationsdefizits Bestrebungen gibt, Standards anderer, anerkannterer Disziplinen, zum Beispiel der Ökonomie, zugrunde zu legen, die die Orientierung auf einen bestimmten Publikationstypus normieren. Des Weiteren sind die externen Zielgruppen in hohem Maße divers und verfolgen unterschiedliche Ziele. Aus diesen Charakteristika ergibt sich, dass sich sozialwissenschaftlicher Wissenstransfer durch Heterogenität in Bezug auf Formate und Zielgruppen (Politik, Wirtschaft, NGOs, Stiftungen u. Ä.) auszeichnet. Eine weitere Besonderheit besteht hinsichtlich der Erfassbarkeit von Transferleistungen. Diese sind nur in geringem Maße standardisiert, quantifizierbar und nur mit hohem Aufwand überhaupt festzuhalten. Informelle Leistungen, zum Beispiel der Aufbau und die Pflege von Netzwerken mit außerwissenschaftlichen Praxispartnern, die regelmäßig erbracht werden, lassen sich kaum dokumentieren (Olmos-Penuela/Molas-Gallart/CastroMartinez 2014). Es wurden jedoch in den letzten Jahren erste institutionalisierte Formen der Dokumentation und Bewertung von Transferleistungen entwickelt, darunter das Forschungsrating des Wissenschaftsrates (Wissenschaftsrat 2008). Für die Sozialwissenschaften besteht darüber hinaus die Problematik, dass sich in Hinblick auf Transfer für Außenstehende ein sehr diffuses Bild ergibt (Whitley 1984). Zudem ist es sowohl für Forschende als auch für Externe schwierig, geeignetes Wissen und Kooperationspartner/-innen für Wissenstransfer zu identifizieren. Die Fragmentierung der Disziplin hat zur Folge, dass Orientierungsmuster und Praktiken in Bezug auf Transfer auf der Ebene von Forschungsgebieten, -gruppen und einzelnen Forschenden sehr stark ausdifferenziert sind und variieren.

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Wissenstransfer lässt sich in Anlehnung an Musselin (2007), die Forschung und Lehre betrachtet, ebenfalls als „unclear technology“ verstehen. Das Konzept wurde in Abkehr von Organisationsmodellen, die auf der Prämisse rationaler Entscheidungsträger und klarer Strukturen basieren, entwickelt. „Unclear technologies“ sind ein zentrales Merkmal von Organisationen, die in Umwelten mit einem hohen Maß an Komplexität, Ambivalenz und Dynamik, zum Beispiel in Universitäten, verortet sind (Cohen/March/Olsen 1972). Wie andere „unclear technologies“ lässt sich auch Wissenstransfer anhand von vier Merkmalen charakterisieren: x

x x

x

Bei Wissenstransfer handelt es sich um eine schwer zu beschreibende Aufgabe, das heißt, ein großer Teil des Prozesses entzieht sich direkter Analysierbarkeit und Reflexion (Musselin 2007). Der Kompetenzerwerb für Wissenstransfer erfolgt in einer eher unstrukturierten, auf persönlicher Kommunikation basierenden Form. Transfer oder Transferkonzept sind schwer zu reproduzieren, da Akzeptanz und Diffusion von Wissen in der Gesellschaft unter anderem von diversen externen Faktoren abhängen. Es bestehen ambivalente Kausalbeziehungen zwischen Aufgabe und Ergebnis. Dies trifft auf Wissenstransfer noch stärker als auf Forschung und Lehre zu, da die Effekte von Transfer oft erst mit einer Zeitverzögerung von Jahren oder Jahrzehnten einzuschätzen sind. Häufig lässt sich kein direkter Zusammenhang herstellen, etwa bei der Frage, inwieweit ein wissenschaftliches Gutachten Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse genommen hat.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich bei Wissenstransfer um eine Aufgabe mit einem hohen Maß an Komplexität, Unvorhersehbarkeit und Zielambiguität handelt. Die für die Aufgabenerfüllung erforderliche Spezifität stellt besondere Herausforderungen an die Vermittlung relevanter Transferfähigkeiten. Das Erlernen solcher Fähigkeiten ist nicht Teil der akademischen Ausbildung und Sozialisation. Die Kompetenzen für und Erfahrungen mit Wissenstransfer werden unsystematisch und individuell, das heißt nicht rückgekoppelt an einen Gesamtkorpus an Wissen, erworben. Für die Forschenden führt diese Problematik auf der individuellen Ebene unter anderem zu diversen Zeit- und Ressourcenkonflikten.

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Das hohe Maß an Fragmentierung des Feldes, ein unklares Transferverständnis und die Komplexität der Aufgaben führen dazu, dass insbesondere in der Soziologie kein Konsens in Bezug auf die Relevanz von Wissenstransfer besteht. Seit der Entstehung der Disziplin wird in den Fachgemeinschaften kontrovers diskutiert, inwieweit Wissenstransfer zum Kanon guter Soziologie gehört (siehe Mevissen in diesem Band). Innerhalb der Disziplin lässt sich nur eine unklare, nicht eindeutige Position gegenüber Transfer erkennen. Explizit formulierte Richtlinien oder Stellungnahmen zu dem Thema bleiben die Ausnahme. 3 Aufgrund der oben genannten disziplinären Besonderheiten sowie historischer Entwicklungen (Identitätssuche, wahrgenommene geringere Bedeutung im Vergleich zu anderen Disziplinen wie der Ökonomie, Abgrenzung gegenüber der gesellschaftlichen Praxis) hat sich ein soziologisches Reputationssystem entwickelt, demzufolge Leistungen in der Grundlagenforschung und Theorieentwicklung stark betont und belohnt werden (Knie 2005). Dies geht mit einer starken Dominanz von Artikeln in international referierten Journals als zentralem Veröffentlichungsformat sowie einer geringen Bedeutung von Transferleistungen für die wissenschaftliche Karriere einher. Durch eindimensionale Karrierewege entsteht für junge Forschende, die Transfer betreiben, ein individuelles Karriererisiko (siehe auch Froese/Mevissen in diesem Band). Ungeachtet all dieser Befunde ergab unsere Studie, dass sich die Sozialwissenschaften durch eine lebhafte Transferpraxis auszeichnen: Forschende engagieren sich in der Politikberatung, verfassen Gutachten, bekleiden Ämter in außerwissenschaftlichen Gremien und sind mit vielfältigen Beiträgen in Zeitungen und Radiointerviews im öffentlichen Diskurs präsent. Für viele Wissenschaftler/-innen wird der Austausch mit der Praxis zum Ausgangspunkt, um neue Forschungsfragen aufzuwerfen und Ergebnisse zu validieren. Für die Mehrheit der Forschenden besteht sogar so etwas wie eine moralische Verpflichtung, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.

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Ein Beispiel für eine der wenigen Ausnahmen ist die Initiative „DGS goes public“, die sich, prominent vor allem durch Stephan Lessenich unterstützt, dafür einsetzt, soziologische Expertise in die Öffentlichkeit zu tragen. Vgl. http://www.soziologie.de/index.php?id=195&tx_ttnews[tt_news]=2525&cHash =2acfb6c84c (Zugriff vom 18.06.2015).

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In den Raumwissenschaften finden sich starke Gemeinsamkeiten mit den Sozialwissenschaften: eine Unschärfe des Begriffs Transfer in einem ähnlich fragmentierten Feld, die Schwierigkeit, ihn zu erfassen und sein ebenfalls geringer Stellenwert im Reputationssystem (für die folgenden Ausführungen siehe auch Simon/Lentz in diesem Band). Im Unterschied zu den Sozialwissenschaften existiert für die Raumwissenschaften im Bereich der Planung jedoch ein festes Berufsfeld, das heißt ein institutionalisierter Transferweg: Verfahren der Raum- und Stadtplanung und der Regionalentwicklung schaffen eine Verbindung an der Schnittstelle von Grundlagenforschung und Anwendung. Auch dadurch, dass Geographie als Schulfach gelehrt wird, besteht eine Brücke zwischen Forschung, Lehre und Transfer. Zudem ist raumwissenschaftliches Wissen häufig in Form von Grafiken und Karten kodifiziert, die auch für Laien verständlich sind. Aber auch hier wird durch die zunehmende Verwissenschaftlichung, Mathematisierung und Betonung des Zeitschriftenartikels als Publikationsformat eine Distanz zu den klassischen Adressaten raumbezogenen Wissens wie Planung und Schule geschaffen. Aus diesen Ausführungen zu den drei zentralen Einflussbereichen wissenschaftlicher Communities lässt sich die Notwendigkeit ableiten, eine konzeptionell und empirisch gestützte Verortung sozialwissenschaftlichen Transfers vorzunehmen. Dies umfasst ein re-formuliertes Verständnis, das im Folgenden anhand von drei Grundlinien skizziert wird:

2. J ENSEITS DES LINEAREN M ODELLS : I NTEGRATION VON W ISSENSGENERIERUNG UND - TRANSFER Versteht man Wissenstransfer als hochspezifische, komplexe und dynamische Aufgabe, ist es sinnvoll, die Prozesshaftigkeit (Roessner 2000) von Transfer zu betonen. Neuere Ansätze der Innovationsforschung erweitern die dominante Perspektive des längst tot geglaubten, aber immer noch diskutierten linearen, unidirektionalen Modells (Braun-Thürmann 2005; Schmoch/Licht/Reinhard 2000) von der Grundlagenforschung zur Anwendung und betonen demgegenüber die Rekursivität des Prozesses. „Ironically, even with the growing acceptance of multi-dimensional innovation systems approaches, the linear model still persists […] many innovation policies and in-

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struments are still predicated on linear models of basic research followed by applied research leading to development, production and diffusion and that such models are retained and are active in the cognitive maps of the innovation process used by numerous policy makers.“ (Shapira/Smits/Kuhlmann 2010: 451)

Prominente Debatten um neuere Formen der Wissensgenerierung, die die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis thematisieren, verdeutlichen, wie wichtig es ist, die bisherige enge Sichtweise zu erweitern (Etzkowitz 2008; Gibbons 1994; Nowotny/Scott/Gibbons 2001). Nach den Erkenntnissen der neueren Innovationsforschung verfügt Wissenstransfer dann über ein hohes Innovationspotenzial, wenn er als wechselseitiger, rückgekoppelter und iterativer Prozess zwischen Wissenschaft und Praxis verstanden wird. Vor diesem Hintergrund haben wir Wissenstransfer in enger Verbindung mit Prozessen der Wissensgenerierung und Wissensnutzung konzipiert (siehe Froese et al. 2014). Dieses Prozessmodell ermöglicht einen integrativen Zugang: Wissenstransfer ist somit stark durch die in der Wissensgenerierung verwendeten Fragestellungen, Methoden und Konzepte beeinflusst. Von entscheidender Relevanz ist demnach, wie Forschungsfragen entwickelt werden und inwieweit sie Problemstellungen aus der Praxis aufgreifen. Der Prozess des Wissenstransfers hat wiederum einen Einfluss auf die tatsächliche Wissensnutzung (Bergmann 2010; Bergmann/Schramm 2008). Der Grad der Wissensnutzung hängt davon ab, ob das Wissen neben „epistemischer Robustheit“ auch „soziale“ (Nowotny 2003) beziehungsweise „politische Robustheit“ (Weingart/Lentsch 2008) aufweist. Wissensnutzung erfolgt in unterschiedlicher Abstufung von Rezeption, Verstehen über Implementierung bis zu einem messbaren Nutzen für gesellschaftliche Gruppen. Dieser Ansatz ermöglicht eine erweiterte Konzeption von Innovationsprozessen jenseits des linearen Modells und wird somit den Gegebenheiten der Sozialwissenschaften gerechter (siehe auch Reinhart in diesem Band).

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Abb. 1: Prozessmodell des Wissenstransfers

(Quelle: eigene Darstellung)

Das Prozessmodell (siehe Abb. 1) ist als Heuristik zu verstehen, in der sowohl unterschiedliche Forschungstypen als auch Wissensgenerierung, Wissenstransfer und Wissensnutzung lediglich auf analytischer Ebene zu trennen sind. In der Forschungspraxis greifen sie jedoch ineinander. Aus diesem Grund lässt sich unter anderem weder der Entstehungs- noch der Zielort von Wissen a priori und eindeutig bestimmen. Innerhalb unterschiedlicher Forschungstypen, hier idealtypisch als Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung skizziert, orientiert man sich bei der Auswahl der Forschungsfragen in der Regel an Diskursen, die sich im Fall der Grundlagenforschung eher an die wissenschaftliche Gemeinschaft, im Fall der anwendungsorientierten Forschung eher an Praxisdiskurse anlehnen. Der Forschungstypus der problemorientierten Grundlagenforschung adressiert im Idealfall beide Diskurse. Typischerweise betrachtet die Wissenschaftsforschung Wissenstransfer auf der Mikroebene, das heißt auf der konkreten Ebene des Austauschs von Wissen zwischen Individuen (Roessner 2000). Dies impliziert ein enges und eher operatives Transferverständnis. Ein weiterer Ansatz der Transferforschung beschäftigt sich mit einer Bandbreite unterschiedlicher organisationaler und institutioneller Interaktionen (Mesoebene), zum Beispiel mit der Interaktion zwischen Forschungsinstituten und spezifischen politischen

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Zielgruppen (Roessner 2000). Mit diesem Sammelband erweitern wir die vorherrschende Perspektive, indem wir Wissenstransfer neben der Mikround Mesoebene auch auf der Makroebene verorten. Während sich die Beiträge von Tatjana Zimenkova und Anna Froese/Natalie Mevissen auf die Mikro- und Mesoebene konzentrieren, wirft Peter Meusburger mit dem Konzept der Wissensmilieus einen Blick auf die Makroebene. Eva Barlösius, Heike Jacobsen und Martin Reinhart entwickeln dagegen eine Konzeption von Wissenstransfer, die die langfristige, strukturelle und strategische Komponente betont. Mit einer Öffnung in Richtung Makroebene erweitert sich das Potenzial für die Ableitung neuer Forschungsfragen und -methoden. Zudem lässt sich die Bandbreite in der Praxis existierender Vielfalt eher abbilden. Wissenschaft und Gesellschaft werden immer noch als „Oppositionspaar“ (z. B. Koselleck 2006) und Wissenstransfer als Brückenkonzept verstanden, welches die Grenzen zwischen den beiden Welten überwindet (siehe Barlösius in diesem Band). Dieser Zugang transportiert oft die implizite Vorstellung eines „Rationalitätsgefälles“ (Beck/Bonß 1989): Wissenschaft und Gesellschaft werden auf unterschiedlichen Ebenen verortet, wobei wissenschaftlichem Wissen im Vergleich zu anderen Wissensarten Überlegenheit attestiert wird. Unser Verständnis ermöglicht hingegen eine Perspektive, in der diese Trennung partiell aufgehoben wird. Werden etwa Praktiker/-innen und Bürger/-innen in die Generierung von Forschungsergebnissen einbezogen, verändern sich sowohl das Verhältnis zwischen Wissen und Gesellschaft als auch die Qualität des generierten Wissens. Hierdurch kann eine Interaktion bei der Wissensproduktion erreicht werden, die sich durch mehr Gleichberechtigung auszeichnet (Beck/Bonß 1989). Unser Ansatz öffnet damit den Blick für die Komplexität und Interdependenz des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft, das einer genaueren wissenschaftlichen Analyse bedarf (siehe auch Kaldewey in diesem Band). Studien zum Wissenstransfer als einer Grenzaktivität sind besonders geeignet, fundierte Aussagen zu diesem (veränderten) Verhältnis zu treffen.

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3. AUFBAU

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B ANDES

3.1 Wissenstransfer in den Sozialund Raumwissenschaften Der erste Teil beleuchtet das Phänomen des Wissenstransfers aus der Perspektive der Sozial- und Raumwissenschaften, wobei insbesondere epistemische Praktiken, kulturelle Praktiken und spezifische Kontextfaktoren beschrieben werden. Den Mittelpunkt des Beitrags „Fragmentierter Wissenstransfer in den Sozialwissenschaften: Zur Relevanz disziplinenspezifischer Kontextfaktoren“ von Anna Froese und Natalie Mevissen bilden die Konzeptualisierung von Transfer und die Analyse disziplinenspezifischer Charakteristika. Da bisher kein einheitliches und eindeutiges Verständnis von Wissenstransfer existiert, entwickeln die Autorinnen eine Systematik, um Transferleistungen besser in ihrer Komplexität und Heterogenität darstellen zu können. Der Artikel betrachtet Wissenstransfer im Spannungsfeld (teilweise) widersprüchlicher Anforderungen aus der Disziplin und aus Forschungsorganisationen, die weitreichende Konsequenzen für das Wissenschaftssystem haben. Er führt damit bisher weitgehend unverknüpfte Forschungsansätze aus der Wissenschafts- und Organisationsforschung zusammen. Unter dem Titel „Transfer! Welcher Transfer? Disziplinäre Selbstverständnisse in den Sozial- und Raumwissenschaften“ beleuchten Dagmar Simon und Sebastian Lentz in einem Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten Wolfert von Rahden epistemologische Besonderheiten der beiden Disziplinen, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, ihre historischen und aktuellen Entwicklungen, ihre jeweilige Rolle in der Gesellschaft sowie das Verständnis und die Praxis von Wissenstransfer. Tatjana Zimenkova beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Die Soziologie als Beratung: Anwendungsabstinenz oder ein Berufsfeld?“ mit der Frage der außerakademischen Anwendung soziologischen Wissens. Sie argumentiert, dass die Beratung sowohl von Seiten akademischer als auch nichtakademischer Soziolog(inn)en als einzig legitimer außerakademischer Beruf definiert wird. Da Beratung weder exklusive Berufsfelder für sich beansprucht noch eine direkte Intervention anstrebt, lässt sie sich als eine Form professionellen Handelns fassen, das weiterhin primär die wissenschaftliche Disziplin adressiert. Die Autorin konzipiert Beratung als „Begleiterschei-

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nung“ von Grundlagenforschung, insofern die Tätigkeit primär am Ziel der Nicht-Einmischung ausgerichtet ist, das der Wahrung einer Balance zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Identität dient. Dies ermöglicht Soziolog(inn)en, in der Praxis tätig zu sein, ohne in ihrer Selbstwahrnehmung den Wissenschaftsbezug einzubüßen. 3.2 Sozialwissenschaften und Gesellschaften: ein Verhältnis im Wandel? Der zweite Teil nimmt das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Gesellschaft in den Blick und fragt nach den Besonderheiten dieses Verhältnisses sowie nach spezifischen historischen Entwicklungen und aktuellen Trends. In seinem Beitrag „Die Sehnsucht nach der Praxis: Beobachtungen zur Identitätsarbeit der Sozialwissenschaften“ widerspricht David Kaldewey der gängigen Auffassung, Wissenstransfer sei eine als externe Anforderung an Forschende herangetragene Aufgabe, die erfüllt werde, um Erwartungen zu entsprechen. Seine These lautet, das Bedürfnis, unabhängig von innerwissenschaftlichen Wahrheitskriterien in die gesellschaftliche Umwelt hineinzuwirken, stelle vielmehr ein konstitutives Element wissenschaftlicher Identität dar. Mit dem Konzept der Identitätsarbeit erreicht er sowohl eine Reformulierung als auch eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis jenseits einer simplifizierenden Reduktion auf eine Innen/Außen-Logik, die das häufig zitierte Bild des Elfenbeinturms nahelegt. Abschließend analysiert er beispielhaft historische Diskurse (Werturteilsstreit, Positivismusstreit u. a.), in denen das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft verhandelt wurde. In ihrem Beitrag „Ewig umstritten: Soziologie zwischen Engagement und Distanzierung“ attestiert Natalie Mevissen der Soziologie eine epistemologische und ontologische Sonderposition in Bezug auf ihren Untersuchungsgegenstand. Anhand einer Aufarbeitung disziplinärer Debatten im historischen Verlauf zeigt sie auf, dass Normativität ein inhärentes Element von Soziologie ist. Mevissen konstatiert, neben einer „Sehnsucht nach der Praxis“ (David Kaldewey) sei an zentralen Diskussionen der Soziologie auch eine „Sehnsucht nach Objektivität und Neutralität“ ablesbar. Am Beispiel einiger Debatten reflektiert sie, wie das Theorie-Praxis-Verhältnis in-

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nerdisziplinär ausgehandelt wurde und welche Implikationen dies für das Verständnis von Wissenstransfer hat. Martin Reinhart entwirft in seinem Beitrag „Verdächtige Sozialwissenschaften. Rätsel und Paranoia als Methode“ ein Konzept des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft jenseits des linearen Innovationsmodells und eines auf Naturwissenschaften zugespitzten Innovationsverständnisses. Seinen Ausführungen liegt die These zugrunde, dass sich die Erzählmuster von Sozialwissenschaften und Kriminalgeschichte durch eine innere Verwandtschaft auszeichnen. Die grundlegende Innovationsleistung der Sozialwissenschaften bestehe in der Bereitstellung von Deutungsangeboten für gesellschaftliche Selbstbeschreibungen. Ein solches Verständnis hat Implikationen für die Konzeption eines Innovationsmodells, das, will es den Spezifika der Sozialwissenschaften gerecht werden, „evolutionär“ angelegt sein muss. Zugleich sollte es sich verabschieden von der Unterscheidung zwischen Technischem und Sozialem und stattdessen auf die Sinndimension als Ort der Innovation setzen. 3.3 Wissenstransfer im öffentlichen Raum Die Beiträge des dritten Teils integrieren die sozial- und raumwissenschaftliche Perspektive, indem sie das Phänomen des Wissenstransfers im öffentlichen Raum beispielsweise über Infrastrukturen und innerhalb von Wissensmilieus beleuchten. In „Infrastrukturen: Bahnen des Wissenstransfers?“ betrachtet Eva Barlösius den Aspekt des Wissenstransfers auf der Makroebene. Sie argumentiert, dass Wissenschaft und Praxis in der Wissenschaftsforschung als begriffliches und real existierendes Oppositionspaar definiert werden und Wissenstransfer als Brücke zwischen beiden als entsprechend fragiles, problembehaftetes Unterfangen gilt. Anhand des Konzepts der Infrastrukturen zeigt sie, wie Letztere in Wissenschaft und Praxis miteinander verwoben sind und als Institutionen des Wissenstransfers fungieren. Infrastrukturen können zugleich als „Übersetzungsbüros“ wirken (Transfer von Wissenschaft in Praxis und umgekehrt) und Produkte des Wissenstransfers sein. Der Beitrag „Zur Bedeutung und Wirkung von Wissensmilieus“ von Peter Meusburger fokussiert auf den räumlichen Aspekt des Wissenstransfers und untersucht die Frage, warum die Arbeitsstätten von Nobelpreisträgern für Chemie, Physik und Medizin in den vergangenen hundert Jahren

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an nur wenigen Universitäten konzentriert waren. Mit dem Konzept der Wissensmilieus erklärt er, unter welchen Rahmenbedingungen es gelingt, kreative und originelle Ideen zu verwirklichen, zu herausragenden Forschungsergebnissen zu kommen und eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere einzuschlagen. Heike Jacobsen widmet sich in ihrem Beitrag „Arbeitsforschung im Wandel des deutschen Produktionsmodells: Responsivität transdisziplinärer Forschung als Erfolgsfaktor und Risiko“ der Frage, wie die Forschung zu Problemen der Arbeitsorganisation und der Arbeitswelt in Deutschland in den letzten vierzig Jahren organisiert wurde. Sie zeigt anhand des Beispiels der Programmlinie „Humanisierung des Arbeitslebens“, wie Forschung realpolitische und wirtschaftliche Bedingungen mitprägen kann. In ihrer Untersuchung von Wissenstransfer stehen der intersektorale Austausch und langfristige, strukturelle Elemente im Vordergrund.

4. I MPLIKATIONEN FÜR W ISSENSCHAFTSFORSCHUNG UND - POLITIK Nimmt man den Wissenstransfer als wichtige Aufgabe neben Forschung und Lehre ernst, hat dies weitreichende Konsequenzen für wissenschaftliche Communities. Eine stärkere Integration des Wissenstransfers würde dreierlei erfordern: eine Einbindung in epistemische Normen und Praktiken, in die Ausbildung des Nachwuchses sowie eine Abbildung in den Reputationssystemen. Dies impliziert eine verstärkte Reflexion über Nutzen und Form des Wissenstransfers von Seiten der Wissenschaftler/-innen als eine innerdisziplinäre Debatte (Burawoy 2005). Für Wissenschaftsorganisationen und die Wissenschaftspolitik hätte die Integration des Wissenstransfers in das akademische Aufgabenfeld ein neues Verständnis der Organisationsentwicklung zur Folge. Durch eine akademische Anerkennung von Transferleistungen könnten typische Spannungsfelder (z. B. Zentralität, Dezentralität) reduziert werden. Konzeptualisiert man Disziplinen in Anlehnung etwa an Toulmin (1972) und Hull (1988) als dynamische, responsive Einheiten und Gebilde (Mulkay 1975; Murmann 2003), scheint ein solcher Prozess trotz aller Herausforderungen realisierbar. In Abkehr von Platons Modell, nach dem wissenschaftliche Ideen als zeitlose Entitäten zu verstehen sind, entwickeln

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Toulmin und Hull ein evolutionäres Modell konzeptionellen Wandels (für die folgenden Ausführungen vgl. Krishnan 2009). An evolutionstheoretische Ansätze anknüpfend, begreifen sie akademische Disziplinen als durch eine je spezifische „Population“ an Ideen konstituierte Gebilde, die sich über die Zeit hinweg dergestalt verändern, indem Wissenschaftler/-innen neue Ideen entwickeln, bestehende Ideen modifizieren, re-kombinieren oder verwerfen. Das Anliegen dieses Bandes ist es, ausgehend von den Sozialwissenschaften das Konzept des Wissenstransfers zu untersuchen und durch eine konzeptionelle und empirische Fundierung analytisch zu schärfen. Der dargestellte Ansatz soll den Raum für weitere Untersuchungen öffnen. Er ist ein Plädoyer für eine höhere Vielfalt an Forschungsfragen, Methoden und Modellen bei künftigen Studien. Mit diesen soll der Weg für ein spezifischeres, diverseres und komplexeres Innovationsverständnis geebnet werden, das der in der Praxis bereits existierenden Bandbreite an Innovationsprozessen gerechter zu werden vermag. Untersuchungen des Transferverständnisses in anderen Disziplinen können das Konzept weiter fundieren. Unser Ansatz verdeutlicht ferner, dass es sinnvoll ist, Wissenschafts- und Innovationsforschung, die derzeit wenig Bezug aufeinander nehmen, stärker zu integrieren.

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Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften

Fragmentierter Wissenstransfer der Sozialwissenschaften: Zur Relevanz disziplinenspezifischer Kontextfaktoren A NNA F ROESE , N ATALIE M EVISSEN

1. E INLEITUNG In den letzten Jahrzehnten wurde die Kooperation zwischen Wissenschaft und anderen Sektoren (z. B. Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft) wissenschaftspolitisch stark gefördert. Dieser Austausch wird meist unter dem Begriff des Wissenstransfers gefasst. Er etablierte sich im Diskurs zu einem Schlüsselfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Innovationsund Wissenschaftssystems (vgl. Meier/Krücken 2011). Als vergleichsweise offen gehaltenes Konzept ist er geeignet, einer Vielzahl wissenschaftspolitischer Ziele – unter anderem der Förderung „systemischer Innovationen“ – dienlich zu sein (vgl. stellvertretend Bundesministerium für Bildung und Forschung [BMBF] 2013: 40ff.). Wissenstransfer wird in Form von Forschungsprogrammen (z. B. „Erkenntnistransfer“ der DFG) unterstützt und durch Instrumente wie Evaluierungen in Ansätzen formalisiert und institutionalisiert. Auch die Sozialwissenschaften geraten hinsichtlich ihres Beitrags zur Innovationsfähigkeit wissenschaftspolitisch in den Fokus. Die Forderung nach sogenannten „sozialen Innovationen“ hat Eingang in den wissenschaftspolitischen Diskurs gefunden, und Förderprogramme für Wissenstransfer übersteigen zusehends den bisher üblichen disziplinären Fokus auf die Natur- und Technikwissenschaften. Zudem sehen sich die Sozial-

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wissenschaften selbst in einem gewissen Maße dazu angehalten, vermehrt ihren spezifischen Beitrag für die Gesellschaft unter Beweis zu stellen. Wissenstransfer hat in der Wissenschafts- und Innovationsforschung in den letzten Jahren an Prominenz gewonnen (vgl. Meier/Krücken 2011; Mevissen/Simon 2013). Bislang wurde er jedoch überwiegend in Hinblick auf die Natur- und Technikwissenschaften und hinsichtlich seiner Bedingungen, Effekte und Formate (u. a. Patente, Lizenzen und Ausgründungen) analysiert (siehe stellvertretend für viele andere Bozeman 2000; Heinze 2005; Schmoch/Licht/Reinhard 2000). Obwohl das Thema des Wissenstransfers im weiteren Sinn kein neues für die Sozialwissenschaften darstellt, sind Kenntnisse über das Verständnis, die Formate, Zielgruppen und Kriterien von Wissenstransfer in den Sozialwissenschaften kaum vorhanden (erste Ansätze sind Arbeiten von Franz et al. 2003; Olmos-Peñuela/CastroMartínez/D’Este 2014). Der Austausch mit der außerwissenschaftlichen Praxis wurde in der Forschung meist mit Aktivitäten wie Politikberatung (vgl. z. B. Weingart/Lentsch 2008) oder soziologischer Organisationsberatung (vgl. z. B. Howaldt/Kopp 2002; Instinsky 2012; Latniak/Wilkesmann 2004) abgedeckt. Umfassende, integrierende Konzepte und Modelle liegen bisher nicht vor. Die Art und Weise, wie Wissenstransfer betrieben und definiert wird, ist im Sinne einer zunehmenden Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen und Praktiken (vgl. Becher 1981; Becher/Trowler 2001; Galison/Stump 1996; Knorr-Cetina 2002) abhängig von der Disziplin und dem institutionellen Kontext, in dem er stattfindet (siehe auch Simon/Lentz in diesem Band). Im vorliegenden Artikel wird deshalb argumentiert, dass Wissenstransfer auf zwei interdependenten Ebenen analysiert werden muss: in Hinblick auf die Art des Wissens, die durch bestimmte Disziplinen generiert wird, und den organisationalen Kontext, in dem Wissen erzeugt wird. Gegenstand dieses Beitrags ist daher die Erkundung des bisher weitgehend unbekannten Terrains des sozialwissenschaftlichen Wissenstransfers und des Umgangs von Forschungsinstituten mit der wissenschaftspolitischen Forderung nach mehr Wissenstransfer in den Sozialwissenschaften. Die Datenbasis bilden fünfundvierzig leitfadengestützte Interviews, die mit Forschenden und Institutsleitungen, Repräsentanten wichtiger Fachverbände (Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen) sowie wissenschaftspolitischer Organisationen

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(etwa dem Wissenschaftsrat), mit Förderorganisationen (z. B. DFG) und Vertreter/-innen von Nutzergruppen im Zeitraum von Dezember zweitausendzwölf bis Juli zweitausenddreizehn geführt wurden. Die Auswertung erfolgte softwarebasiert mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2010). Ergänzend wurden Dokumentenanalysen (Forschungsrating für Soziologie des Wissenschaftsrats, Projektanträge und Evaluierungsberichte) erstellt. Im ersten Teil des Artikels wird zunächst eine Untersuchung des Wissenstransfers in den Sozialwissenschaften vorgenommen. Wie beeinflussen disziplinäre Besonderheiten den Wissenstransfer, und welche Erwartungen werden von Seiten der Disziplinen an Forschende gestellt? Sozialwissenschaften zeichnen sich im Allgemeinen durch eine hohe Fragmentierung und schwache interne Organisation aus (vgl. Whitley 1984a, 1984b). Ihre Adressaten sind divers, genauso wie ihre Formate des Wissenstransfers. Im zweiten Teil des Artikels wird anhand eines Fallbeispiels eines außeruniversitären sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts untersucht, welches Selbstverständnis von Wissenstransfer auf organisationaler und individueller Ebene existiert. Es wird betrachtet, wie Wissenstransfer in der Forschungseinrichtung umgesetzt wird und welche Rolle disziplinenspezifische Kontextfaktoren spielen. Außeruniversitäre Forschungsinstitute (kurz: AUF) sind insofern besonders interessant, als sie eher „betriebsförmig“ organisiert sind und die Institutsleitung dort eine stärkere Stellung hat als in Universitäten (vgl. Meier 2009). Zugleich sind AUF als „professionelle Organisationen“ zu begreifen, in denen die Entscheidungsmacht der strategischen Spitze maßgeblich durch externe wissenschaftliche Communities eingeschränkt wird, die über Karrieren entscheiden und zentrale Ressourcen wie Fördergelder zur Verfügung stellen (vgl. Cohen/March/Olsen 1972; Mintzberg 1991; Weick 1976). Das Verhältnis zwischen Organisation und Disziplin wurde in den vergangenen Jahren vermehrt in den Blick genommen, und es wurden einige Untersuchungen an der Schnittstelle von Wissenschafts- und Organisationsforschung durchgeführt: Dabei positioniert sich ein Diskurs um das Argument der „Organisationswerdung“ und der damit verbundenen Hierarchisierung und Rationalisierung akademischer Organisationen (siehe hierzu „complete organizations“, Brunsson/Sahlin-Andersson 2000, „organisational actor“, Meier 2009 sowie Clark 1998; Schimank 2005), während andere Autor(inn)en den ungebrochenen Einfluss der Disziplinen und die Spezifi-

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tät organisationaler Merkmale von Universitäten betonen (vgl. Froese 2013; Hüther/Krücken 2011; Musselin 2007). Die bisherigen Debatten konzentrieren sich überwiegend auf theoretische Überlegungen oder Modellierungen auf der Makroebene. Erkenntnisse darüber, welche Wechselwirkungen zwischen Organisation und disziplinären Spezifika bestehen, welche Orientierungen Forschende in Bezug auf Wissenstransfer ausbilden und wie konfliktäre Erwartungen auf der Mikroebene verarbeitet werden, existieren dagegen kaum (vgl. Mevissen/Simon 2013). Diese Lücke zu schließen, ist Gegenstand des Artikels.

2. W ISSENSTRANSFER IN DEN S OZIALWISSENSCHAFTEN Wissenstransfer ist historisch betrachtet kein neues Phänomen. Insbesondere in der Soziologie gab es bereits viele kontrovers geführte Debatten zum Verhältnis der eigenen Disziplin zur „Praxis“ (vgl. Clemens 2001; FritzVannahme 1996; Wagner 1990; siehe auch Kaldewey und Mevissen in diesem Band). In Bezug auf die Wissenschafts- und Innovationsforschung hat das Konzept des Wissenstransfers in den Sozialwissenschaften dennoch bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Franz et al. 2003; OlmosPeñuela/Castro-Martínez/D’Este 2014, siehe auch den Beitrag von Reinhart in diesem Band). Elaborierte Definitionen oder ein einheitliches Begriffsverständnis sind nicht zu finden. Wissenstransfer wird wissenschaftspolitisch mit der Erwartung verbunden, dass Austausch und Zusammenwirken unterschiedlicher Wissensformen zum Entstehen von Innovationen in Form neuer Leistungen und Produkte auf dem Markt beitragen. Neuere Modelle der Innovationsforschung gehen davon aus, dass das Innovationspotenzial dann besonders hoch ist, wenn der Wissenstransfer sich in einem rekursiven Prozess des Austauschs von Wissen unterschiedlicher Akteure vollzieht (vgl. Braun-Thürmann 2005; Schmoch/Licht/Reinhard 2000) und sich entgegen dem lange Zeit populären linearen Modell (Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis) durch zahlreiche Feedbackschleifen zwischen Wissenschaft und Praxis auszeichnet (Froese et al. 2014: 4). Ausgehend von existierenden Definitionen auf dem Gebiet des Wissens- und Technologietransfers, die vor allem für die Technik- und Naturwissenschaften entwickelt wurden

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(siehe u. a. Beckert/Bührer/Linder 2008; Bozeman 2000; Perkmann/King/ Pavelin 2011; Schmoch/Licht/Reinhard 2000), verstehen wir Wissenstransfer im Folgenden als Austausch zwischen Wissenschaft und außerwissenschaftlichen Akteuren wie Stiftungen, NGOs, Unternehmen. Dies subsumiert die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse an Praxisakteure ebenso wie Feedbackschleifen und interaktive Austauschprozesse zwischen Wissenschaft und Praxis. Im Folgenden werden disziplinäre Spezifika von Wissenstransfer in den Sozialwissenschaften genauer in den Blick genommen (2.1). In einem zweiten Schritt (2.2) werden Formate und Prozesse des sozialwissenschaftlichen Wissenstransfers beschrieben und im Kontext der Reputationshierarchie der Sozialwissenschaften reflektiert. 2.1 Disziplinäre Kontextabhängigkeit: die Sozialwissenschaften als fragmented adhocracies Disziplinen unterscheiden sich sowohl in der Art und Weise, wie sie Wissen produzieren, als auch in Hinblick auf die Adressaten ihrer Forschung (vgl. Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991; Galison/Stump 1996; Lammers 1974; Whitley 1985). Hinsichtlich ihrer Wissensproduktion zeichnen sich die Sozialwissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften durch eine besondere Problematik aus: Eine Trennung zwischen Alltagsmeinung und wissenschaftlichem Diskurs ist ungleich unklarer als in anderen Wissenschaften. Sozialwissenschaftliche Analysen und Problembeschreibungen konkurrieren mit Alltagsvorstellungen über soziale Phänomene und müssen sich deshalb in besonderem Maße von anderen Gesellschaftsbeschreibungen abgrenzen, um Legitimation zu erlangen (vgl. Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991). In diesem Sinn sind die Sozialwissenschaften auch als heteronome Felder zu begreifen, die sich unter anderem dadurch auszeichnen, dass politische Belange Eingang in sie finden und sich „[…] weniger fachkundige Leute dort immer wieder im Namen heteronomer Belange einmischen können, ohne schlagartig disqualifiziert zu werden. Wenn Sie heutzutage gegenüber Biologen zu behaupten versuchen, daß eine ihrer Entdeckungen links sei, oder rechts, katholisch oder unkatholisch, werden Sie offene Heiterkeit hervor-

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rufen, aber das war nicht immer so. In der Soziologie können Sie immer noch derartige Dinge behaupten.“ (Bourdieu 1998: 19f.)

Ein wissenschaftliches Feld verfügt dagegen dann über ein hohes Maß an Autonomie, wenn es äußere Zwänge und Anforderungen „brechen und in eine spezifische Form“ (Bourdieu 1998: 19) bringen kann. Die Naturwissenschaften zeichnen sich in der Regel durch eine stärkere Autonomie aus als die Sozialwissenschaften und genießen aufgrund materiell nachweisbarer Erfolge auch eine höhere öffentliche Akzeptanz, ihr gesellschaftlicher Nutzen wird meist weniger hinterfragt als in den Sozialwissenschaften (vgl. Lammers 1974). Hinsichtlich der Adressaten ihrer Forschung variieren die Sozialwissenschaften stark (siehe Abschnitt 2.2). Whitley bezeichnet die Sozialwissenschaften, insbesondere die Soziologie, in diesem Sinn als „fragmented adhocracies“ (Whitley 1984a: 34). Whitley versteht darunter hoch differenzierte, spezialisierte und multiparadigmatische Wissenschaftsfelder, in denen Individuen und Kleingruppen vergleichsweise isoliert voneinander mit unterschiedlichen Forschungsansätzen und Zielen arbeiten. Charakteristisch für fragmented adhocracies ist ein geringer Grad an gegenseitiger Abhängigkeit der Forschenden und ein hohes Maß an Aufgabenunsicherheit, welche sich nach Whitley so darstellen: „[…] research in this field tends to produce rather diffuse and broad contributions to general intellectual problems which are subject to contrasting interpretations and evaluations. Work is undertaken on a wide variety of concerns which are formulated in different ways for different intellectual purposes. It leads to unstable and ambiguous results which are understood in a number of different ways by different groups who sometimes dispute their relevance for particular goals. Assessment standards tend to be highly tacit and diffuse, such as general norms of ,good scholarship‘[…].“ (Whitley 1984b: 36)

Gegenseitige Abhängigkeit entsteht unter anderem durch die Bezugnahme Forschender bei der Wissensgenerierung auf andere Kollegen (Methoden, Ergebnisse) und das strategische Interesse, gemeinsam Forschungsstrategien zu entwickeln und Ressourcenallokationen zu beeinflussen (Whitley 1984a: 87ff.). In den Sozialwissenschaften ist diese Abhängigkeit niedrig, weil nur wenige konsensual definierte intellektuelle Ziele existieren und

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Forschende sich nicht in systematischer Weise aufeinander beziehen. Intellektuelle und politische Koordinationsaktivitäten finden selten statt. Auch wird die Deutungshoheit immer wieder von äußeren Konkurrenzdeutungen infrage gestellt (beispielsweise durch Alltags- oder Laienwissen). „Characterizing sociologists language as ,jargon ridden‘, for instance, is a way of denying the legitimacy of esoteric analysis of social phenomena and asserting the subservience of sociological work to general cultural norms and standards.“ (Whitley 1984a: 241)

Sozialwissenschaften verfügen deshalb nach Whitley (1984a) über eine geringe autonome Reputationsvergabe, was zu einer Entwicklung fluider Reputationsstandards führt. So können beispielsweise populärwissenschaftliche Bücher oder Lehrbücher unter Umständen zu einem höheren Renommee führen als eine Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift. Typisch für eine fragmented adhocracy ist weiterhin, dass es aufgrund eines wahrgenommenen Reputationsdefizits Bestrebungen gibt, Standards anderer, anerkannterer Disziplinen, zum Beispiel der Ökonomie, zugrunde zu legen. Dank diverser Beschäftigungsmöglichkeiten sind Wissenschaftler/-innen in der Lage, unterschiedliche Ziele zu verfolgen und ihre Abhängigkeit voneinander und von intellektuellen Führungsfiguren zu reduzieren. Für die Sozialwissenschaften treffen auch heute noch wesentliche Aspekte einer fragmented adhocracy zu. Sie zeichnen sich durch eine Diversität unterschiedlicher Zugänge und Fragestellungen aus und sind hoch ausdifferenziert. Es scheint weiterhin, dass die Sozialwissenschaften sich in der Tat zunehmend an Standards anerkannter Disziplinen orientieren. Dieser Trend kann auf zunehmende Forderungen nach mehr Internationalisierung und auf die Notwendigkeit der Darstellung sogenannter wissenschaftlicher Exzellenz in Evaluierungs- und Berufungsverfahren zurückzuführen sein. Dies führt in Ergänzung zu Whitleys Argumentation zu einer Homogenisierung von Bewertungsstandards wissenschaftlicher Leistungen in Form englischsprachiger, referierter Zeitschriftenartikel im Sinne eines restriktiveren Reputationssystems, das sich auf den Kern wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion beruft.

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2.2 Zur Spezifik sozialwissenschaftlichen Wissenstransfers So fragmentiert die Disziplin sich darstellt, so vielfältig sind die Formate und Adressaten sozialwissenschaftlichen Transfers. Es herrscht in diesem Sinn wenig Konsens darüber, welche Kriterien für die Darstellung und Bewertung von Wissenstransfer in den Sozialwissenschaften geeignet sind. Zu diesem Ergebnis kam der Wissenschaftsrat im Forschungsrating für das Fach Soziologie, der den Wissenstransfer in der Soziologie nach den Kriterien „Transfer in andere gesellschaftliche Bereiche“ und „Wissensvermittlung und -verbreitung“ unterteilt und darauf hinweist, dass eine Bewertung dieser Bereiche aufgrund der sehr heterogenen Datenlage nur grob in drei Stufen („unterdurchschnittlich“, „durchschnittlich“, „überdurchschnittlich“) vorgenommen werden könne (Wissenschaftsrat 2008: 26). „Dies war in der Heterogenität der schwer standardisierbaren Datengrundlage und dem Mangel an quantitativen Indikatoren zu diesen Kriterien begründet, die eine differenziertere Bewertung nach Auffassung der Bewertungsgruppe nicht möglich machte.“ (Wissenschaftsrat 2008: 13)

Nach Whitley (1985) erweist sich neben der Problematik der Messbarkeit auch die Heterogenität der Adressaten im sozialwissenschaftlichen Wissenstransfer als folgenreich für die Transferformate. Je größer und heterogener eine Adressatengruppe, desto weniger spezifisch erfolgt der Wissenstransfer. Als Beispiel nennt er die Darstellung wissenschaftlichen Wissens in den Medien, die nur sehr selten von den Adressatengruppen angezweifelt wird und in der Regel als „wahr“ und „gesichert“ gilt (vgl. Whitley 1985). Im Umkehrschluss wird Wissen umso spezifischer, je kleiner und homogener die Gruppe ist, an die es sich richtet. Beispielhaft sind hier Beratungsleistungen zu nennen, die umfänglich durch Sozialwissenschaftler/-innen erbracht werden. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Darstellung und mögliche Bewertung von Transferleistungen in den Sozialwissenschaften vor erheblichen Herausforderungen steht. Basierend auf den genannten Besonderheiten sowie existierenden Ansätzen der Erfassung von Wissenstransfer (vgl. Expertenkommission Forschung und Innovation [EFI] 2010; OlmosPeñuela/Castro-Martínez/D’Este 2014; Schmoch/Licht/Reinhard 2000; Wissenschaftsrat 2008; Wissenschaftsrat 2011) wurde daher eine Systema-

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tik entwickelt, um die Komplexität und Heterogenität von Leistungen in den Sozialwissenschaften besser zu erfassen (vgl. für eine ausführlichere Darstellung auch Froese et al. 2014). 1. Transferbasierte Forschungsleistungen beruhen auf einem engen Aus-

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tausch und kollaborativen Aktivitäten mit potenziellen Wissensnutzern. Sie können in Form von gemeinsamen Publikationen durch Forschende und Praxispartner/-innen veröffentlicht werden. Beratungsleistungen sind ein typisches Format für Transferleistungen, deren Träger Sozialwissenschaftler/-innen sind. Diese umfassen die Erstellung von Gutachten oder Expertisen wie auch die Übernahme von Ämtern, beispielsweise in Beiräten, Kommissionen oder Ausschüssen der Bundesregierung. Informationsleistungen können in Form der Bereitstellung von Datenbanken (z. B. Statistiken), Download- sowie Recherchediensten, Software und weiterem Informationsmaterial erbracht werden. Wirtschaftliche Aktivitäten wie Patente und Lizenzen sind in den Sozialwissenschaften wenig verbreitet, da deren Leistungen selten die Anforderungen hierfür erfüllen. Zu wirtschaftlichen Aktivitäten können aber etwa Ausgründungen zählen, in denen beispielsweise Innovationsplattformen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bereitgestellt werden. Qualifizierungsleistungen umfassen die Entwicklung von Studiengängen, Weiterbildungs- und Personalentwicklungsangeboten sowie ELearning-Angeboten für außerwissenschaftliche Partner. Vernetzungsleistungen werden erbracht, wenn Forschende sich beim Aufbau und der Pflege von Netzwerken mit Praktikern/Praktikerinnen engagieren. Akademische Organisationen unterstützen eine solche Vernetzung mit externen Bereichen durch Austauschprogramme. Öffentlichkeitswirksame Transferleistungen werden meist durch Medien, unter anderem in Form von Artikeln in Zeitungen und Fachzeitschriften, Radiointerviews, der Beteiligung an Ausstellungen und öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen, zum Beispiel „Lange Nacht der Wissenschaften“ und „Science Slams“, vermittelt.

Richtet sich der Wissenstransfer an eher unspezifische Adressaten, also eine große heterogene Gruppe, so ist es wahrscheinlich, dass er wenig inter-

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aktiv – also eher von der Wissenschaft in die Praxis – verläuft und die Art des vermittelten Wissens unspezifisch ist. Dies zeigt sich etwa an öffentlichkeitswirksamen Transferleistungen, die meist über die Medien vermittelt und in der Anzahl der erbrachten Leistungen zählbar und somit darstellbar sind. Im starken Kontrast zu öffentlichkeitswirksamen Transferleistungen beruhen transferbasierte Forschungsleistungen dagegen auf dem engen Austausch mit potenziellen Nutzern von Wissen und sind deshalb in hohem Maße interaktiv. Wissensgenerierung und Wissensnutzung überlappen meist und der Wissenstransfer ist insofern nur schwer quantifizier- und darstellbar. Auch bei Beratungsleistungen erfolgt der Wissenstransfer überwiegend und in unterschiedlichen Abstufungen interaktiv, da sie sich in der Regel an spezifische Adressaten richten und die Kommunikation durch – mehr oder weniger – ausgeprägte Feedbackschleifen gekennzeichnet ist. Das transferierte Wissen ist meist ebenfalls hoch spezifisch und liegt in Form unterschiedlicher Leistungen wie Gutachten oder Berichten vor. Zudem ist es möglich, dass auf eine gemeinsam erbrachte forschungsbasierte Transferleistung, die sich durch hohe Interaktion auszeichnete, eine öffentlichkeitswirksame Transferleistung folgt, in der Ergebnisse, die mit einem spezifischen Publikum generiert wurden, an einen breiteren Adressatenkreis kommuniziert werden. Ebenso können parallel Vernetzungsleistungen stattfinden oder Qualifizierungsleistungen entwickelt werden. 2.3 Reputationssystem der Sozialwissenschaften Welchen Stellenwert hat der Wissenstransfer in den sozialwissenschaftlichen Fachgemeinschaften? In der Regel sah man Wissenstransfer bisher selten als ein karriererelevantes Kriterium an. So wurde etwa im Rahmen des Forschungsratings in der Soziologie nach von einer Arbeitsgruppe in der Community anerkannter Soziolog(inn)en erarbeiteten Kriterien eine Fokussierung der Forschungsexzellenz (Forschungsqualität, Impact, Forschungsleistung) vorgenommen: „Faktisch ist es aber so, dass fast alle […], seien es Gutachter, seien es Betroffene, immer gesagt haben, Forschungsqualität ist das Wichtigste, alles andere muss sich dem unterordnen […]. In der Praxis der Kommunikation über Leistungserwartungen und tatsächliche Leistungen fällt das [Wissenstransfer, Anm. d. Autoren] immer noch sehr stark hinten runter, man muss wirklich sehr dafür werben, dass das über-

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haupt einen größeren Platz einnimmt, von gleichrangig würde ich da noch gar nicht reden.“ (Interview „UT“ Nr. 27)

Dies zeigte sich ebenso in der Community wie auch in den Fachvertretungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft hinsichtlich der Selektion von Forschungsanträgen, in denen Wissenstransfer nur eine geringe Rolle spielt. Wenig Einigkeit herrscht auch bezüglich des Stellenwerts von Wissenstransfer in der Reputationshierarchie der Disziplin: Er ist nicht Teil der akademischen Ausbildung beziehungsweise der Sozialisation des wissenschaftlichen Nachwuchses. Jedoch zeigte sich in der empirischen Untersuchung, dass Wissenstransfer einerseits die Reputation stärken kann, sich aber andererseits auch negativ auf die akademische Glaubwürdigkeit auswirkt, insbesondere wenn die Forschenden eine eher schwache Stellung innerhalb des disziplinären Diskurses innehaben.

3. S OZIALWISSENSCHAFTLICHER T RANSFER IN O RGANISATIONEN 3.1 Struktur von Forschungseinrichtungen Wie gehen sozialwissenschaftliche Forschungseinrichtungen mit Wissenstransfer um? Welches Verständnis hat die Organisation (strategische Spitze, dezentrale Einheiten) von Wissenstransfer und welche Instrumente werden eingesetzt, um Transferhandeln zu organisieren und zu strukturieren? Welche Erwartungen stellt die Organisation an die Forschenden in Bezug auf den Transfer? Ergänzend zu diesen Fragen untersuchen wir in einem zweiten Schritt, wie diese Erwartungen auf der individuellen Ebene verarbeitet werden. Die Analyse lehnt sich an das Konzept der professional bureaucracy (vgl. Mintzberg 1991) an. Mintzberg untergliedert professionelle Bürokratien unter anderem in eine strategische Spitze und einen betrieblichen Kern (dezentrale Einheiten), wobei er den dezentralen Einheiten eine tragende Rolle sowie ein hohes Maß an Autonomie zuweist. Die strategische Spitze hat aufgrund einflussreicher wissenschaftlicher Communities eine vergleichsweise schwache Position inne. In unserer Analyse gehen wir insbesondere der in aktuellen Diskursen der Wissenschafts- und Organisationsforschung kontrovers diskutierten Frage nach, ob die strategische Spitze

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eine zunehmend steuernde Rolle einnimmt (vgl. Brunsson/Sahlin-Andersson 2000; Clark 1998; Froese 2013; Hüther/Krücken 2011; Musselin 2007; Schimank 2005). Als empirisches Fallbeispiel wird ein sozialwissenschaftliches außeruniversitäres Forschungsinstitut herangezogen. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen stellen besonders interessante Beispiele für Wissenschaftsorganisationen dar, da sie im Vergleich zu Universitäten vermehrt unter Legitimierungs- und Profilierungsdruck stehen (vgl. Hohn 2010) sowie der Forderung ausgesetzt sind, die wirtschaftliche, soziale und technologische Relevanz ihrer Forschungsaktivitäten nachzuweisen (vgl. Kuhlmann 2009). Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen sind in unterschiedlichen Rechtsformen (gGmbH, e.V., Stiftung) und mithin eher „betriebsförmig“ organisiert. Das bedeutet auch, dass die Institutsleitung eine stärkere Stellung gegenüber ihren Mitgliedern hat, als dies für die Führungsebene der Universitäten gilt (vgl. Meier 2009). Das hier als Fallbeispiel herangezogene Forschungsinstitut betreibt einerseits sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung, hat es sich aber andererseits zum Ziel gesetzt, einen relevanten Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten zu leisten. Das Institut bearbeitet im Gegensatz zu Universitäten, die disziplinär organisiert sind, komplexe Themen interdisziplinär durch Wissenschaftlergruppen verschiedener Karrierestufen im Rahmen zeitlich befristeter Forschungseinheiten (vgl. Besio 2012; Heinze/Arnold 2008; Meier 2009). 3.2 Strategische Spitze Ein ausformuliertes Leitbild, das Transfer umfasst, wurde auf organisationaler Ebene nicht erarbeitet (zur Rolle von Leitbildern in akademischen Organisationen siehe Kosmützky 2010), aber aus der Zielsetzung des Instituts leitet sich für die Geschäftsführung die organisationale Aufgabe des Wissenstransfers ab. Das Institut möchte neben den wissenschaftlichen Communities relevante gesellschaftliche Akteursgruppen adressieren. Bei der Auswahl von Themenfeldern innerhalb des Instituts wird darauf geachtet, dass neben wissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen auch Relevanzüberlegungen für die Gesellschaft berücksichtigt werden. Das Institut soll dabei nicht unmittelbare Entscheidungshilfe für die Politik ermöglichen, sondern forschungsbasiert ein vertieftes Verständnis von Problemfeldern gewinnen. Die Erwartung, Wissenstransfer zu betreiben, wurde in den letz-

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ten Jahren auch von externen Akteuren immer stärker an das Institut herangetragen. Wissenstransfer wird zwar intern als Aufgabe ernst genommen und als reputationsförderlich ausgewiesen, aber nicht in gleichem Maße honoriert wie Forschungsleistungen. Das Institut verfügt über öffentlichkeitswirksame Formate, die sowohl die externe Sichtbarkeit als auch die Wahrscheinlichkeit der Rezeption der Ergebnisse erhöhen sollen und den Forschenden Möglichkeiten zur Darstellung ihrer Ergebnisse bieten. Des Weiteren offeriert das Institut Weiterbildungsangebote für Wissenschaftler/-innen, etwa Interviewtraining mit Journalisten. Darüber hinaus stehen weitere Formate, die geeignet sind, Wissenstransfer zu ermöglichen, zur Verfügung: Austauschprogramme, die die intersektorale Zusammenarbeit fördern, sowie Ausgründungen (vgl. Lengwiler 2005). Die Forschungseinrichtung gründete ein Institut, das als eine Innovationsplattform konzipiert ist, in der über unterschiedliche Sektoren hinweg neue Fragen für die Forschung generiert und Lösungen für die Praxis erarbeitet werden. Die Mitarbeitenden kommen aus einem breiten Spektrum von Wissenschaft (Geographie, Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften) und Praxis. Obwohl Wissenstransfer als wichtige Aufgabe definiert wird, existieren jedoch kaum konkrete Zielvorgaben bezüglich des Umfangs, der Häufigkeit und der Formate von Wissenstransfer. Das hier aufgeführte Transferverständnis der Organisation weicht von dem der Forschenden ab. Die Bedeutung diverser Wissenstransferformate wird von Organisation und Forschenden jeweils unterschiedlich gewichtet. Diese Differenz lässt sich vor allem auf die Erfassbarkeit von Transferleistungen zurückführen: Auf zentraler Ebene sind quantifizierbare Transferleistungen wie die Anzahl von Artikeln in Tageszeitungen und Radiointerviews relevant. Informelle Transferaktivitäten (vgl. Olmos-Peñuela /MolasGallart/Castro-Martinez 2014) wie Beratungsgespräche mit Praktikern sind von geringer Relevanz für die Organisation, da diese nur in eingeschränktem Maße erfasst werden können: Informelle Aktivitäten werden dementsprechend als Nebentätigkeit und nicht als Teil der institutionellen Tätigkeit gesehen. Während für die Organisation Beratungsleistungen und öffentlichkeitswirksame Transferleistungen im Vordergrund stehen, sind für die Forschenden selbst Formate aus transferbasierten Forschungsleistungen und die enge Kooperation innerhalb externer Netzwerke (Vernetzungsleistungen) bedeutsamer. Letztere lassen sich auf der Ebene der Organisation

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schlechter erfassen, sind jedoch für Forschende wertvoller, da sie hier oft Anregungen für ihre Forschung gewinnen. Wissenschaftler/-innen, die selbst viel Transfer betreiben, haben in der Regel ein weiter gefasstes Verständnis des Begriffes Wissenstransfer, welches eine große Formatvielfalt umfasst. Wissenstransfer ist ebenso ein Kriterium im Rahmen der Evaluierung, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt wird. Bewertet wird, wie sich die Einrichtung inhaltlich und strukturell entwickelt hat und inwieweit unter anderem in Wissenschaft und Forschung und in der Nachwuchsförderung überzeugend gearbeitet wird. Wissenstransfer war stets Bestandteil von Verfahren wissenschaftlicher Leistungserfassung. Meist findet eine Hierarchisierung zugunsten wissenschaftlicher Exzellenz durch die externen Gutachter statt. 3.3 Die Rolle dezentraler Forschungseinheiten Dezentrale Forschungseinheiten beeinflussen das Transferhandeln in hohem Maße. Diese Ergebnisse bestätigen Ausführungen von Autoren wie Krohn/Küppers (1989), die argumentieren, dass Forschungsabteilungen eigene „Überzeugungen“ (Gruppenmatrix) und Identitäten ausbilden. Sie benennen vier Ebenen, die Bestandteil einer Gruppenmatrix sind: die kognitive, die soziale, die emotionale und die reflexive Ebene. Aufgrund von Interaktionen der Mitglieder einer Forschungsgruppe wird 1. ein gemeinsamer Denkstil ausgebildet (kognitive Ebene); 2. das Gruppenverhalten stabilisiert (soziale Ebene); 3. das Engagement in der Gruppe verstärkt, je deutlicher gemeinsame Normen und Werte geteilt wurden und je reputationsträchtiger die Gruppe von außen erscheint (emotionale Ebene); 4. eine Gruppenidentität ausgebildet, indem ein eigenes Selbst- und Fremdbild entwickelt wird und sich die Gruppe so von anderen Gruppen abgrenzt (reflexive Ebene). Die Gruppe charakterisiert sich demzufolge durch gemeinsame „Überzeugungen“. Diese sind einerseits theoretischen und methodologischen Charakters, andererseits zeichnen sie sich ebenfalls durch spezifische Annahmen der inner- und außerwissenschaftlichen Relevanz und der Schaffung unterschiedlicher Projektpläne als koordinierende Instanz (Krohn/Küppers 1989: 34ff.) aus. Es wird deutlich, dass auf der Ebene der dezentralen Forschungseinheiten die Bedeutung der Disziplinen zum Tragen kommt, da die Leitung de-

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zentraler Forschungseinheiten nicht nur aus Mitgliedern der Organisation besteht, sondern auch eine wichtige Stellung innerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen einnimmt. In unserer Untersuchung zeigte sich, dass die Vorbildwirkung von Leitungspersonen mit einem hohen persönlichen Transferengagement (Geschäftsführung, Leitung dezentraler Einheiten) einen wichtigen Faktor für die Umsetzung von Transferaufgaben (vgl. Whittington 1990) darstellt. Im Sinne von Krohn/Küppers (1989) sind insbesondere Leitungsgremien dezentraler Forschungseinheiten in der Lage, eine Transferkultur und demensprechend einen Orientierungsrahmen für die Mitglieder der Einheiten zu schaffen. Einige Leitungen formulierten spezifische Erwartungen an ihre Mitglieder hinsichtlich Wissenstransferaktivitäten (z. B. eine bestimmte Anzahl von Transferaktivitäten pro Jahr) und thematisierten diese im Rahmen von Mitarbeiter-Vorgesetzten-Gesprächen. Die Vorgaben reduzieren Unsicherheit und ermöglichen eine Fokussierung der Ressourcen. Auf diese Weise gelingt es, Anforderungen der Organisation und der Disziplin in das Programm dezentraler Einheiten zu integrieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Wissenstransfer auf organisationaler Ebene als relevante Aufgabe definiert ist, ohne dass jedoch spezifizierte Erwartungen an Transfer (Umfang, Formate, Zielgruppen) gestellt werden. Das Verhältnis von Wissenstransfer und Forschung bleibt vergleichsweise vage und diffus. Die Organisation schafft einen Rahmen für Wissenstransfer, indem sie vor allem auf Möglichkeits- und Unterstützungsstrukturen setzt; direkte Steuerungsversuche werden hingegen nicht unternommen. Transferleistungen werden auf zentraler Ebene nicht direkt incentiviert oder sanktioniert. Dezentrale Forschungseinheiten spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle: Transfer soll je nach Thema der Einheit und persönlicher Begabung betrieben werden und muss aus individuellen Forschungsfragen und echter Begeisterung entstehen. Die Verantwortung für die Ausgestaltung der Transferaufgaben wird den Leitungen dezentraler Forschungseinheiten und Forschenden übertragen. 3.4 Individuelle Ebene Im Sinne der Ausführungen Krohn/Küppers (1989) wird deshalb angenommen, dass dezentrale Forschungseinheiten in diesem Zusammenhang bedeutsam sind, weil sie eigene „Überzeugungen“ ausbilden und unter-

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schiedliche Projektpläne verfolgen. So divers die Themen, Methoden und Konzepte in den Sozialwissenschaften sind, so divers sind auch die Orientierungen, die Forschende in Bezug auf Wissenstransfer entwickeln. Es zeigte sich, dass die Interviewpartner/-innen neben ihren Forschungstätigkeiten auch den Wissenstransfer grundsätzlich als eine wichtige Aufgabe ansehen. Je nach dem Motiv für das Transferengagement unterscheidet sich dieses in seiner Intensität. Grundlegend kann zwischen zwei Antriebskräften unterschieden werden, die für Wissenstransfer bedeutsam sind: dem Selbst- und Rollenverständnis der Forschenden und dem Nutzen, den sie sich von ihrem Engagement versprechen. Die zentrale Antriebskraft für Transferaktivitäten speist sich aus dem Selbst- und Rollenverständnis. Integraler Bestandteil ist die Motivation, dem Ideal der Gemeinwohlorientierung zu entsprechen und einen Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten zu leisten. Einerseits empfanden Forschende die Verpflichtung, „Gegenleistungen“ für öffentliche Gelder, die die Forschung finanzieren, zu erbringen. Andererseits ging diese Verpflichtung über eine Begründungs- und Legitimations-Rhetorik hinaus. Für viele wird der Wunsch, Denkprozesse anzuregen, zu informieren und gesellschaftlich etwas verändern zu wollen, zu einer zentralen Antriebskraft für Forschungs- und Transferhandeln. Für alle Forschenden leitet sich die Erwartung, Wissenstransfer zu betreiben, auch aus der Zielsetzung der Forschungsorganisation ab. Da diese jedoch relativ vage formuliert ist, bestehen hier große Interpretationsspielräume: Die Organisationsmitglieder teilen das Grundverständnis, dass Forschende und dezentrale Einheiten sich an Wissenstransferaktivitäten beteiligen sollten. Jedoch entwickelte jede Einheit eine eigene Vorstellung davon, wie der Transfer zu betreiben sei. Verständigungsprozesse über Abteilungsgrenzen hinweg fanden nur in Ansätzen statt. Transferhandeln speiste sich zudem aus der Erwartung, dass Transferaktivitäten einen individuellen oder organisationalen Nutzen haben könnten. So kann Transfer etwa betrieben werden, um Zugang zu Praxisakteuren zu gewinnen, der für die Konzeption künftiger empirischer Untersuchungen und Datenerhebungen wichtig sein kann. Da Wissenstransfer ein vertieftes Verständnis von Praxisproblemen ermöglicht, empfanden Forschende es als hilfreich, das geplante Forschungsdesign mit externen Experten zu besprechen und sich Finanzierungsquellen für künftige Forschungsprojekte zu erschließen. Zudem war die Diskussion mit Praxisakteuren hinsichtlich der

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Validierung von Wissen gewinnbringend. Das so gewonnene Feedback ermöglichte es, die Implikationen und nicht intendierten Folgen bestimmter Aussagen zu reflektieren. In diesem Sinn war Transfer auch deshalb gewinnbringend, weil er sowohl die individuelle als auch die organisationale Reputation bei wissenschaftsexternen Zielgruppen erhöhte. Allerdings besteht auch die Gefahr des Reputationsverlustes: Werden Forschungsergebnisse stark verkürzt dargestellt oder Implikationen abgeleitet, die wichtige Erkenntnisse verzerren, kann dies dem Ansehen der Forschenden schaden. Wissenstransfer stellte sich als karriereförderlich für Aktivitäten außerhalb der Wissenschaft dar, da das berufliche Netzwerk außerhalb der wissenschaftlichen Communities erweitert wurde. Forschende entwickelten individuelle Transferorientierungen, die in unterschiedliche Formen der Selbstdarstellung mündeten. In Anlehnung an eine Heuristik von Lam (2010) werden im Folgenden drei Transferorientierungen Forschender beschrieben, wobei diese von schwach bis stark variieren. Dabei handelt es sich zunächst um idealtypische Darstellungen, die differierende Auffassungen darüber umfassen, inwieweit Transfer neben Grundlagenforschung als Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit gesehen und betrieben wird. Aus Organisationsperspektive entsteht ein Setting, in dem unterschiedliche Orientierungen nebeneinander existieren, die aus zentraler Sicht nicht integriert und abgestimmt werden. Orientierung: „Überwiegend Forschung“ Dieser Typus Forschender bezeichnet den Erkenntnisfortschritt als Hauptmotiv für die wissenschaftliche Arbeit. „Ich würde schon sagen, dass grad’ bei uns in der Abteilung der Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt, wissenschaftlicher Anerkennung auch im Sinne von grundlagenwissenschaftlichen Arbeiten im Vordergrund steht und die Frage der Anwendung nicht uninteressant ist und nicht als unerwünscht gesehen wird, aber im Prinzip sekundär ist.“ (Interview „UT“ Nr. 12)

Die Wissenschaftler/-innen dieses Typs bestehen auf einer Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und ihren jeweiligen Funktionslogiken. Forschung und Wissenstransfer werden als voneinander getrennte

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Aktivitäten betrachtet; Wissenstransfer wird als „Add-on“, als abgeleitete, der Forschung nachgelagerte Aktivität gesehen. Wissenstransfer wird insofern auch nur in geringem Umfang, höchstens punktuell und wenig intentional betrieben. Ebenso wird stark auf die Strategie der Abteilung Bezug genommen. Mit Rückbezug auf Krohn/Küppers (1989) spielt in diesem Zusammenhang auch der Kontext von Forschungsgruppen in der Ausbildung einer Gruppenmatrix (siehe Abschnitt 3.3) eine entscheidende Rolle. Orientierung: „Transfer nach Forschung“ Für diesen Typus Forschender haben nicht nur die Grundlagenforschung, sondern auch der Transfer eine Relevanz für die wissenschaftliche Arbeit. Neben der wissenschaftlichen Community existieren relevante externe Zielgruppen, die regelmäßig adressiert werden. Forschenden dieser Kategorie geht es darum, aufzuklären, in gesellschaftlichen Debatten präsent zu sein und die Öffentlichkeit für Problemlagen zu sensibilisieren. In einer solchen Konzeption werden externe Akteure als vergleichsweise passive Rezipienten von Forschungsergebnissen angesehen. „[…] ist das auch innerhalb der Scientific Community einfach zu sagen, ich weiß was, das ist toll und spannend und das möchte ich jetzt auch anderen erzählen. Im engeren Sinne überlege ich mir einen Kreis von Adressaten, die von dem, was ich weiß, profitieren könnten […]. Es bringt nichts zu sagen, lies meinen KölnerZeitschrift-Artikel, sondern dass man das so aufbereitet. Das gehört für mich dazu“. (Interview „UT“, Nr. 9)

Orientierung: „Integration von Forschung und Transfer“ Bei Forschenden dieses Typs wird Transfer als integraler Bestandteil ihrer Tätigkeit gesehen, wobei Praxisakteure eng in die Wissensgenerierung einbezogen werden sollen. Das Forschungshandeln ist überwiegend darauf ausgerichtet, aufklärerisch und gestalterisch in die Gesellschaft einzuwirken. Forschung soll Problemursachen identifizieren und einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten. Forschung und Wissenstransfer werden in einer solchen Konzeption eng zusammengedacht, da Forschung Fragestellungen aus der Praxis adressiert und enge Verbindungen zu Praktikern und Praktikerinnen bestehen.

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„Es gibt auch ein paar Grundlagenprojekte mit der DFG, aber die Idee ist, man will Aufklärung betreiben und gestalten. Ehrlicherweise war das immer meine Motivation, warum ich Soziologie studiert habe, […] weil das das ist, was man machen soll, aufklären und gestalten.“ (Interview „UT“ Nr. 15)

Ein entsprechendes Wissenschaftsverständnis, das sich durch professionelle Standards, Normen und Werte der Wissenscommunity (vgl. Becher/ Trowler 2001), der diese Forschenden sich zugehörig fühlen, auszeichnet, ist handlungsleitend für Transfer. Bezogen auf eigene Hintergrundvorstellungen von Gesellschaft (lay images, vgl. Lammers 1974) spielt auch eine normative Komponente für Forschung eine Rolle: So sind beispielsweise Forschende, die sich mit Themen sozialer Ungleichheit beschäftigen, häufig motiviert, einen Beitrag zur Reduktion sozialer Probleme zu leisten. Je nach Transferorientierung differiert das Transferhandeln zwischen Individuen und dezentralen Einheiten hinsichtlich der Formate, des Umfangs und der Zielgruppen stark. Dieses fragmentierte Verständnis von Wissenstransfer drückt sich unter anderem dadurch aus, dass der Wissenstransfer meist in Form punktueller Aktivitäten einzelner Wissenschaftler/innen im Rahmen von Forschungsprojekten erfolgte.

4. S PANNUNGSFELDER IM K ONTEXT VON W ISSENSTRANSFER Wie gezeigt wurde, stellen die Organisation und die Disziplin unterschiedliche Erwartungen an die Forschenden. Die Disziplin erwartet und belohnt vor allem „Forschungsexzellenz“, die Organisation erwartet überwiegend „Forschungsexzellenz“, legt jedoch ebenso Wert auf Wissenstransfer. Es manifestierte sich ein Spannungsfeld zwischen Forschungsexzellenz und gesellschaftlich relevanter Forschung auf verschiedenen Ebenen. Dieses kristallisiert sich insbesondere in Form von Ressourcenkonflikten, Karriererisiken und unklaren Standards heraus, die auf der Mikroebene austariert werden müssen. Ressourcenkonflikte kamen dann auf, wenn Forschende Wissenstransfer und Forschung zugleich betrieben. Wissenstransfer stellte sich für sie in der Regel als zusätzlicher Aufwand heraus, weil etwa Übersetzungsleistungen zwischen Wissenschaft und Praxis erbracht werden müssen (zu Barrie-

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ren des Wissenstransfers siehe Hippel 1994; Nahapiet/Ghoshal 1998; Niedergassel 2011; Wentland et al. 2012). Als schwierig empfanden es die Wissenschaftler/-innen, die richtige Sprache, Komplexitätsreduktion und Balance zwischen erforderlicher Abstraktionshöhe und angemessenem Konkretisierungsgrad zu finden. Ein zweiter Aspekt, der zu Ressourcenkonflikten führte, war der Aufbau von langfristig angelegten vertrauensvollen Kooperationen zwischen Wissenschaft und Praxis. Ein dritter Aspekt war der Lernprozess, der Voraussetzung für einen erfolgreichen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis war. Fähigkeiten und Erfahrungen im Austausch mit Externen mussten erst allmählich in der Praxis erworben werden, da diese nicht Teil der akademischen Ausbildung sind. Diesen Lernprozess beschreiben die Beteiligten als zeitintensiv. Finanzielle und zeitliche Ressourcen sind in den häufig eng getakteten Projektplänen in der Regel nicht vorgesehen. Die Problematik besteht insbesondere für Drittmittelbeschäftigte, die noch während eines Projekts ihre Anschlussfinanzierung sicherstellen müssen. In diesem Sinn können Wissenstransferaktivitäten in Konkurrenz zu wissenschaftlichem Arbeiten stehen (vgl. Froese et al. 2014) und in Karriererisiken für eine akademische Laufbahn münden: „[…] also sagen wir mal, für die wissenschaftliche Karriere ist der Transfer völlig unerheblich und definitiv egal. Und in dem Sinne ist es eher von Nachteil, wenn man dafür Zeit investiert, um das erst mal klarzustellen“ (Interview „UT“, Nr. 23). Konflikte ergaben sich daraus vor allem für transferaffine Nachwuchswissenschaftler/-innen, die noch keine dauerhafte Perspektive im Wissenschaftssystem haben (zur Personalstruktur des deutschen Wissenschaftssystems vgl. Enders 2008; Janson/Schomburg/Teichler 2007; Sørensen/Opolka 1992). Sind diese motiviert, Transfer zu betreiben, minimieren sie im schlimmsten Fall ihre Chancen auf eine wissenschaftliche Karriere. Nur ein geringer Teil der Nachwuchswissenschaftler/-innen erreicht eine Lebenszeitprofessur; Karrierewege neben der Professur existieren nicht, und eine dauerhafte Beschäftigung im Mittelbau ist aufgrund der Befristungspolitik nicht möglich. Dieser Konflikt wird durch Rahmenbedingungen der Unsicherheit wie intransparente Berufungsverfahren, einen geringen Anteil von Professuren am gesamten wissenschaftlichen Personal und fehlende Karriereperspektiven außerhalb des wissenschaftlichen Systems (vgl. Wissenschaftsrat 2014) verschärft. Von den durch Wissenstransfer möglichen Re-

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putationsvorteilen profitiert lediglich eine Minderheit arrivierter Wissenschaftler/-innen, die langfristig in der Organisation verbleiben. Die oben benannten Spannungsfelder konnten teilweise – wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad – von der Organisation austariert werden. Die besondere Problematik besteht darin, die beschriebenen unterschiedlichen Handlungslogiken, Sprachen und Anforderungen aus Wissenschaft und Gesellschaft, die durch diverse Zielgruppen repräsentiert sind (zur allgemeinen Problematik siehe Braun-Thürmann/Knie/Simon 2010; Luhmann 2005; Nooteboom 2001; Weingart/Lentsch 2008), zu integrieren. Dezentrale Forschungseinheiten nehmen eine wichtige Position bei der Balancierung der Spannungsfelder ein, wobei die Verantwortung dafür vor allem den jeweiligen Leitungen obliegt. Eine mögliche Balancierungsstrategie besteht darin, Wissenstransfer arbeitsteilig zu organisieren. Im Rahmen von Mitarbeiter-Vorgesetzten-Gesprächen werden je nach Karrierestufe und -perspektive Vereinbarungen in Hinblick auf Transferleistungen getroffen. Doktoranden konzentrieren sich auf ihre Qualifikationsarbeiten, während sich Postdoktoranden und Senior Researchers stärker im Transfer engagieren. Eine weitere Balancierungsstrategie besteht darin, Wissenstransfer phasenweise durchzuführen. So können Vorgesetzte ihre Mitarbeitenden dahingehend unterstützen, dass sie beispielsweise nach einem transferintensiven Projekt Haushaltsmittel für Anschlussprojekte oder für weitere Qualifikationsleistungen (z. B. wissenschaftliche Publikationen) bereitstellen. Die strategische Spitze unterstützt ihre Organisationsmitglieder in Teilen dabei, die beschriebenen Spannungen und Konflikte zu reduzieren, indem sie Unterstützungsleistungen bereitstellt. Sie profitiert im Gegenzug durch Reputationsgewinn und die Einwerbung von Drittmitteln für anwendungsorientierte Projekte. Das Austarieren gelingt jedoch nicht vollständig und das Transferrisiko wird von einzelnen Forschenden getragen.

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5. F RAGMENTIERTER W ISSENSTRANSFER DER S OZIALWISSENSCHAFTEN – Q UO VADIS ? Wie in diesem Artikel gezeigt wurde, zeichnen sich die Sozialwissenschaften durch eine Vielzahl von Charakteristika aus, die ihr Verhältnis zur Praxis und zum Wissenstransfer beeinflussen: 1. Die Grenzen zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen sind wenig trennscharf und bringen permanente Grenzziehungsprozesse mit sich. Das Feld der Sozialwissenschaften zeichnet sich durch eine relativ geringe Autonomie und durch diverse Adressatengruppen aus. 2. Sozialwissenschaften konstruieren ihren Forschungsgegenstand mithilfe diverser methodischer (technischer), intellektueller Zugänge und sind durch ein hohes Maß an Fragmentierung und Diversität gekennzeichnet. 3. Auf der Ebene der internen Organisation zeichnen sie sich deshalb durch ein hohes Maß an Aufgabenunsicherheit und durch ein geringes Maß an gegenseitiger Abhängigkeit aus. Der innere Zusammenhalt und die Bündelung des Fachs zur Erreichung kollektiver Ziele sind deshalb eher als gering einzuschätzen. 4. Zusammengenommen führt dies zu einem heteronomen intellektuellen Feld, das über geringere autonome Reputationsvergabe verfügt, als dies in bestimmten Feldern der Naturwissenschaften der Fall ist. Sozialwissenschaftlicher Wissenstransfer ist deshalb durch hohe Heterogenität in Form unterschiedlicher Leistungen, Adressaten und Wissensformate gekennzeichnet. Bislang existieren kaum Standards, um erbrachte Leistungen zu erfassen und zu bewerten. Auch innerhalb der hoch ausdifferenzierten Sozialwissenschaften existiert weder Konsens über eine angemessene Popularisierung des Wissens noch über allgemein anerkannte Qualitätsstandards solcher Transferleistungen. Da in komplexen rekursiven Transfervorgängen das generierte Wissen nicht scharf vom Endprodukt abgegrenzt werden kann, ist es selten möglich, den Transferprozess im Ganzen noch in seiner Effektivität abzubilden. Dies erhöht die Problematik der Identifikation, Erfassung und Bewertung von Wissenstransfer. Hinsichtlich der Anerkennung von Wissenstransfer in der Reputationshierarchie der Sozialwissenschaften bedeutet dies zumindest für den deutschen Kontext, dass Wissenstransfer eine geringe Rolle im disziplinären Diskurs spielt. In die-

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sem Sinn lässt sich sozialwissenschaftlicher Wissenstransfer als fragmentiert bezeichnen. Das Spannungsfeld zwischen Forschungsexzellenz und Wissenstransfer ruft Konflikte auf den Ebenen der Disziplin, der Organisation und der Forschenden hervor, ist aber vor allem für Forschende virulent und manifestiert sich in Form von Ressourcenkonflikten und Karriererisiken. Die Essenz unserer Analyse lässt sich in Form des folgenden Konsistenzmodells des Wissenstransfers darstellen (siehe Abb. 1). Es zeigt, dass die Wahrnehmung der Aufgaben von Forschungseinrichtungen durch drei wesentliche Strukturelemente beeinflusst wird: 1. Disziplin, 2. Organisation und 3. Individuum, wobei alle drei Elemente wechselseitig aufeinander einwirken. Wissenstransfer ist auf der Ebene der Organisation abhängig von unterschiedlichen Faktoren, wie dem Institutsprofil, der Art der Organisation oder der Personalpolitik. Die Ebene der Disziplin zeigt, dass sowohl der Grad der internen Kohäsion, das Reputationssystem wie auch Art und Formate des Wissenstransfers bedeutsam sind. Auf der individuellen Ebene sind das Selbst- und Rollenverständnis sowie daraus folgende Transferorientierungen und die Karriereperspektiven hervorzuheben. Das Konsistenzmodell ist sowohl als analytisches als auch als normatives Konzept zu verstehen. Die Organisation passt sich demnach bestimmten Bedingungen der Disziplin an und integriert je nach Institutsprofil die Anforderungen der wissenschaftlichen Community. Die strategische Spitze verfügt zwar über ein Set an hierarchischen Steuerungsinstrumenten, setzt aber hauptsächlich auf kollegiale und partizipative Steuerung, die die Freiwilligkeit der Transferleistungen in den Vordergrund stellt, nicht zuletzt, um die Motivation der Forschenden anzuregen. Dies ist auf die Rolle der – in diesem Fall fragmentierten – Disziplin zurückzuführen, die bezüglich des Transfers unklare Orientierungsmuster bietet. Die Disziplin lässt sich als relevantes Strukturelement der Organisation identifizieren. Die zentrale Spitze verhält sich (immer noch) im Sinne der Rolle, die ihr bereits in der Konzeption der professional bureaucracy zugewiesen wird. Anhand unserer Fallstudie lässt sich beobachten, dass dezentrale Einheiten trotz einer starken strategischen Spitze weiterhin ein hohes Maß an Autonomie behalten. Konzeptualisiert man Wissenstransfer als unclear technology (vgl. Musselin 2007), scheint diese Form der Steuerung eine sinnvolle, da kontingente Strategie zu sein. Aufgaben, die als unclear technology klassifiziert werden, zeichnen sich

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durch ein hohes Maß an Komplexität und Unvorhersehbarkeit sowie ambivalente Kausalbeziehungen zwischen Aufgaben und Ergebnis aus. Abschnitt 2 zeigt, dass diese Kriterien für Wissenstransfer in hohem Maße erfüllt sind. Es existieren enge Grenzen für eine hierarchische Steuerung sowie für Koordinations- und Integrationsaktivitäten (vgl. Musselin 2007). Abb. 1: Konsistenzmodell des Wissenstransfers

(Quelle: eigene Darstellung)

Im hier untersuchten Fall delegiert die strategische Spitze einen Teil der Verantwortung auf die Leiter/-innen dezentraler Forschungseinheiten, die in ihrer doppelten Rolle als Disziplin- und Organisationsmitglieder teilweise Spannungen reduzieren können. Die Tatsache, dass die Organisation die Community integriert, manifestiert sich in der starken Rolle der Abteilungen. Das Ausbalancieren externer Erwartungen, zum Beispiel der Drittmittelgeber oder wissenschaftlicher Communities, wird zu einer zentralen

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Steuerungsaufgabe (siehe auch das Konzept „vielfältiger Organisationen“ von Mevissen/Simon 2013). Im Sinne eines normativen Verständnisses lässt sich das Dreieck ebenso als Konsistenzmodell konzipieren, wonach zum Zweck einer sinnvollen Aufgabenerfüllung ein Austarieren zwischen den drei Strukturelementen anzustreben ist: Wenn Förderung von Wissenstransfer sowohl ein Ziel der Organisation wie auch der Wissenschaftspolitik sein soll, obliegt es der Organisation, Bedingungen zu schaffen, die mit den Anforderungen der Disziplin im Einklang stehen. Die Konflikte und Spannungsfelder auf der individuellen Ebene (z. B. zwischen Forschungsexzellenz und Transfer, kurzund langfristiger Orientierung) müssen ausbalanciert werden. Um die Spannungsfelder für die Forschenden zu reduzieren, sind auf der organisationalen wie auf der institutionellen Ebene vielfältige Maßnahmen umzusetzen (ausführlicher dazu Froese et al. 2014). Eine Nachsteuerung, etwa durch die Etablierung diversifizierter Karrierewege und das Bereitstellen zusätzlicher Ressourcen für Transfer auf wissenschaftspolitischer Ebene, ist erforderlich. Der vorliegende Beitrag zeigt, dass es lohnenswert ist, Organisation, Disziplin und Forschende enger zusammenzudenken und in ihren jeweiligen Wechselwirkungen zu reflektieren. Letztlich geht es darum, dass zwischen den unterschiedlichen Ebenen von Disziplin, Organisation und Individuum einerseits gemäß dem Autonomieprinzip Räume für autonomes Handeln geschaffen werden, andererseits gegenseitige Anerkennungsprinzipien zur Geltung kommen, die die Vereinbarkeit zwischen Forschung und Wissenstransfer fördern, zumindest dann, wenn dies von den Beteiligten als sinnvoll erachtet wird und erwünscht ist. Jedoch spielen organisationale Instrumente, die auf die Anerkennung von Transferleistungen und das Schaffen nachhaltiger Beschäftigungsstrukturen abzielen, nur dann für die Forschenden eine Rolle, wenn Transferleistungen auch in den disziplinären Reputationssystemen Resonanz finden. Die Förderung von sozialwissenschaftlichem Transfer ist also vor große Herausforderungen gestellt, denn es besteht ein unklares Verständnis von Wissenstransfer, er ist in geringem Maß erfassbar und verläuft meist diffus. Die starke Rolle der Disziplin respektierend, steuert die Organisation den Wissenstransfer nicht mit Unterstützung hierarchischer Instrumente. Dies wiederum heißt, dass sozialwissenschaftlicher Transfer in außeruniversitären Forschungsinstituten nur in bedingtem Maße institutionalisier- und pro-

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fessionalisierbar ist, obwohl diese betriebsförmiger organisiert sind als Universitäten und formale Steuerungsinstrumente dort zur Verfügung stehen. Innerhalb der wissenschaftlichen Communities können Selbstverständigungs- und Reflexionsprozesse dazu beitragen, ein durch breiteren Konsens getragenes Transferverständnis zu erreichen. Die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses innerhalb der Communities ist die Basis für eine Bewertung sozialwissenschaftlicher Transferleistungen. Aufgrund der hohen Fragmentierung und kognitiven Differenzierung scheint diese interne Selbstverständigung mit großen Herausforderungen verbunden zu sein. Für Organisation und Steuerung akademischer Organisationen folgt aus unseren Ausführungen, dass Organisationsstrukturen und Steuerungsinstrumente nicht nur durch die Natur der Aufgabe und die organisationalen Ziele beeinflusst werden, sondern stets auch die Passfähigkeit zur jeweiligen Disziplin erreicht werden muss. Für die Steuerungsinstrumente an Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie für innovationspolitische Programme heißt das, dass die Besonderheiten von Disziplin und Organisation bei der Gestaltung jeweils zu berücksichtigen sind. Es ist deshalb lohnenswert, Ansätze der Wissenschafts- und Organisationsforschung stärker miteinander zu verbinden. Die Transferforschung sollte in ihren Analysen zukünftig disziplinenspezifischen Kontextfaktoren eine größere Bedeutung einräumen als bisher.

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Transfer! Welcher Transfer? Disziplinäre Selbstverständnisse zum Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften D AGMAR S IMON UND S EBASTIAN L ENTZ IM G ESPRÄCH MIT W OLFERT VON R AHDEN

1. G EGENSTANDSBEREICH

UND

M ETHODE

Wolfert von Rahden: Wie würden Sie das Erkenntnisinteresse und den Gegenstandsbereich beider Disziplinen beschreiben: einerseits Sozialwissenschaft oder Sozialwissenschaften, anderseits Raumwissenschaft oder Raumwissenschaften? Im Plural oder im Singular? Die Raummetapher führt ja auch immer eine Assoziation des Allumgreifenden mit sich. Man denkt beim „Raum“ zunächst intuitiv an unendliche Weiten und markiert damit eigentlich einen Gegensatz zum Hochspeziellen, zum Partikulären. Sebastian Lentz: Ich glaube, wenn man Raumwissenschaften und Raumwissenschaft unterscheidet, dann drückt der Plural schon aus, dass es tatsächlich ein Spektrum von Disziplinen gibt, die einer allgemeineren und prinzipiell räumlichen Zugangsweise zur Welt offenstehen. Und wenn der Singular benutzt wird, dann wird damit sehr häufig eine engere Sichtweise bezeichnet, nämlich eine, die in hohem Maße quantitativ und positivistisch arbeiten will und die rationale Ansätze und Erklärungsmodelle verfolgt, die aus primär raumbezogenen Analysen entstehen sollen. Im weiteren Umfeld der Raumwissenschaften finden wir dann aber Disziplinen wie die, denen

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auch ich mich zuordnen würde: so etwas wie eine Sozialgeographie, die inzwischen häufig mit poststrukturalistischen Ansätzen arbeitet. Sie will verstehbar machen, wie Gesellschaften ihre physisch-materiellen Bedingungen bewerten, wie sie Raum „machen“, ihn gestalten, wie sie Raum erst produzieren. Das heißt, der „harte“ Raumwissenschaftsbegriff ist für eine ganze Reihe von disziplinären Aufspaltungen so nicht mehr tragfähig. Dennoch kann man nicht leugnen – und das ist, glaube ich, in unserem Zusammenhang wichtig –, dass die Erwartungen einer Öffentlichkeit das Bild jener Disziplin prägen, die unter dem Etikett „Raumwissenschaft“ daherkommt. Die Geografen werden dafür in Anspruch genommen, dass sie einer Öffentlichkeit in Formaten und in Arrangements etwas erklären, was sie selbst nicht mehr unbedingt für den Kern ihrer Disziplin halten. Denn dieser Kern wären eben solche harten raumwissenschaftlichen Erklärungsmodelle wie zum Beispiel, dass Distanzen eine entscheidende Rolle spielen in der Gestaltung der Gesellschaft, von räumlichen Verhältnissen der Gesellschaft… WvR: Das wäre etwa die Proxemik, welche die Distanzverhältnisse zwischen interagierenden Personen untersucht und damit auch als ein Bindeglied zwischen Mikrosoziologie und Raumwissenschaften gesehen werden kann? SL: Ja, genau, nämlich danach fragend, welche Rolle sozial konstruierten oder bewerteten räumlichen Differenzen für das individuelle oder gesellschaftliche Handeln zukommen. Dagmar Simon: Die Debatte über die Sozialwissenschaft oder Sozialwissenschaften wird zurzeit nicht intensiv geführt, im Plural werden darunter mindestens die Soziologie und die Politikwissenschaft verstanden, wir haben uns in dem Projekt 1 auf die Soziologie konzentriert. Ihr Gegenstand ist relativ einfach zu beschreiben. Es ist nichts anderes als die Gesellschaft selbst in all ihren Facetten, also die Interaktionen zwischen den Mitgliedern

1

Die Diskussion bezieht sich auf Ergebnisse des Projektes „Unbekanntes Terrain? Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften“, das vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, 2012 – 2014 durchgeführt wurde.

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einer Gesellschaft und ihre Konstitutionsbedingungen (Institutionen, Normen, Werte, Praktiken). Das ist aber auch schon eines der wenigen wirklich gemeinsamen Momente der Soziologie, denn es gibt eine enorme Ausdifferenzierung in die sogenannten Bindestrich-Soziologien, also Teil- oder Subdisziplinen. Wenn man die Frage stellt, was hält die Soziologie eigentlich zusammen, dann sehen wir schon bei der Frage des Erkenntnisinteresses sehr unterschiedliche Ansätze. Geht es nur um die Erklärung der Reproduktion der Gesellschaft, der Strukturen und Handlungsformen? Oder geht es auch um Fragen der Entwicklung der Gesellschaft, der Transformation der Gesellschaft? Wir sehen in der Soziologie, dass man nicht von dem Paradigma oder dem theoretischen Konzept sprechen kann, sondern dass gerade in den letzten Dekaden eine weitere Ausdifferenzierung erfolgte. Die Entwicklung in den letzten zehn, zwanzig Jahren führte zu einer Verselbstständigung von Subdisziplinen, aber auch von theoretischen Ansätzen und Konzepten. Das heißt, die Interaktion oder Diskussion innerhalb der Soziologie über bestimmte Themenfelder hinaus ist nicht mehr besonders ausgeprägt. 1989 bildete eine bedeutende Zäsur, weil in Bezug auf Gesellschaftsmodelle mehr oder weniger nur noch das westlich geprägte kapitalistische Modell als erfolgreich oder „überlebensfähig“ übrig blieb. Ab diesem Zeitpunkt gingen die Debatten über Gesellschaftskonzepte als solche peu à peu zurück. Das heißt auch, dass eine lebendige Debatte von theoretischen Konzepten nicht mehr in dem Ausmaß stattfand und sich die Diskussion auf die Subdisziplinen zurückzog, etwa auf die Arbeitssoziologie, die Geschlechter-Soziologie oder der Soziologie der sozialen Ungleichheit. WvR: Kann man eine ähnliche Entwicklung auch für die Raumwissenschaften oder die Sozialgeographie konstatieren? SL: Ja, durchaus, da sehe ich Analogien; solche disziplinären Verzweigungen können aber nicht zuletzt auch Ergebnisse von Paradigmenwechseln sein, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass auch von solchen „Untereinheiten“ Theoriebeiträge kommen, die Gültigkeitsansprüche für die gesamte Disziplin erheben. Wenn wir uns auf die oben erwähnte Sozialgeographie konzentrieren, und überlegen, wo die Grenze zwischen Soziologie und Sozialgeographie oder sozialwissenschaftlichen Raumwissenschaften verläuft, dann würde

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ich einen analogen Prozess der Ausdifferenzierung feststellen. Dieser verläuft entlang von Themen mittelfristiger Reichweite. Ich vermute, dass das Ende der großen gemeinsamen Sozialwissenschaft auch etwas mit einer Desillusionierung im Verlauf der Modernisierung zu tun hat: Man konnte den großen Erklärungsanspruch, die großen Theorien nicht mehr weiterverfolgen oder aber musste sie als desavouiert ansehen, während Teilthemen an Bedeutung gewannen und zunehmend als das eigentlich Spannende galten. Ich glaube auch, dass es sich hier um Anzeichen von Etablierung in akademischen Zusammenhängen handelt, wenn sich von der Humangeographie eine Sozialgeographie abspaltet. Wir sollten aber über der Fokussierung auf akademische Aufspaltungen nicht vergessen, dass die Raumwissenschaften auch einen ganz starken praktischen Zweig beinhalten mit einem relativ festen Berufsbild, nämlich im Bereich der Planung. Institutionelle Verfahren der Raumplanung, der Regionalentwicklung, der Stadtplanung usw. gehören zum Bereich der Raumwissenschaften. Zudem haben Raumwissenschaften aus epistemologischer Sicht Verbindungen zu den Geowissenschaften, wo diese räumliche Dimensionen ihrer Gegenstände behandeln, wenn zum Beispiel ein Geologe die räumliche Verbreitung von gesteinsbildenden Prozessen rekonstruiert. Aber: Gibt es denn bei Ihnen in der Soziologie Phantomschmerzen? Gibt es Protagonisten, die wieder nach der Einheit der Sozialwissenschaften rufen? Oder ist das Thema eigentlich passé? DS: Wie gesagt, soweit ich das für die Soziologie beobachte, ist das eigentlich weitgehend passé. Es gibt natürlich immer wieder grundsätzliche Debatten. Der viel zu früh verstorbene Ulrich Beck hat gerade vor ein paar Monaten auf dem Trierer Soziologie-Kongress eine Diskussion angestoßen mit der Frage: Was hält uns eigentlich zusammen? Es ging auch um den – eben schon genannten – Aspekt, dass wir nicht immer nur erklären können, warum und wie sich die Gesellschaft reproduziert, sondern dass wir wieder zu Erklärungsmomenten kommen müssen, wie sie sich weiterentwickeln oder auch transformieren kann. Das hat sich ja am Beispiel der arabischen Staaten gezeigt, die gewaltige, nicht prognostizierbare Transformationsprozesse durchlaufen: Die Sozialwissenschaften haben mit einigen Ausnahmen nicht gerade viel dazu beizutragen, und wenn, dann kommen interessanterweise die Beiträge eher aus politikberatenden wissenschaftlichen Einrich-

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tungen. Aber so wie ich es sehe, sind es in der Soziologie nur wenige Figuren, die sich für solche Themen interessieren – es ist kein Trend im eigentlichen Sinne. Ich wollte aber gern noch einmal auf Ihren Punkt zu sprechen kommen, weil ich glaube, da unterscheidet sich die Soziologie zumindest von den Raumwissenschaften im Plural. Sie sagten, dass Methoden und Inhalte der Raumwissenschaften offiziell in die Planungspraxis mit eingehen und da auch einen legitimen Ort gefunden haben. Das ist bei der Soziologie eher weniger der Fall. Es wird zwar viel beraten, Soziologen sind in Unternehmen präsent, in Kommunalverwaltungen und anderen Institutionen als Berater, aber das ist kein „offizieller“ Teil der Soziologie (siehe dazu Zimenkova in diesem Band). In diese Beratungen geht viel soziologisches Wissen ein, aber es verschwindet als solches auch wieder. Und die Akteure – Professorinnen und Professoren in der Regel – treten in dieser Funktion auch nicht als Soziologen oder Soziologinnen auf. Es handelt sich eher um getrennte Welten. Und das macht natürlich, auf die Geschichte bezogen, auch letztendlich die Entwicklung der Soziologie seit Max Weber aus. Man hat den Eindruck, der Werturteilsstreit ist immer noch ein Stück weit präsent. In der Soziologie – oder allgemeiner auch in den Sozialwissenschaften – der siebziger und achtziger Jahre gab es Vorstellungen, gruppiert um den Kampfbegriff „Verwendungsforschung“, über die Verwendung von soziologischem Wissen, von Konzepten und empirischen Ergebnissen, um sie direkt in Planungsprozesse einzubeziehen. In dieser Frage trat in den achtziger Jahren eher eine Ernüchterung ein. SL: Da sehe ich eine Analogie zum Ausbildungsgang des Diplomgeografen. Der entspricht vielleicht dem, was vermutlich jener des Diplomsoziologen war. Wir hatten ja im Verlauf unseres Projekts anekdotisch festgestellt, dass durchaus Konkurrenzverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt bestehen. Also der Diplomgeograf ist das große unbekannte Wesen, er wird ausgebildet und verschwindet dann in einem nicht mehr festen Berufsbild. Er zeichnet sich vor allem durch Flexibilität aus, und man findet ihn hinterher in der Immobilienberatung ebenso wie in Kreativunternehmen oder bei der Altlastenbeseitigung, und niemand identifiziert ihn mehr als Geografen. Stattdessen wird er irgendwie im Laufe seines Studiums durch Praktika und anderes zum Experten. Ähnlich gilt heute für das breite Feld von Bachelor- und Masterstudiengängen, deren Absolventen irgendwo in die Arbeitswelt ge-

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hen, wo wir sie anschließend nur noch schwer als Fachabsolventen identifizieren. DS: Geografen erleben wir ein bisschen als „Allzweckwaffe“; auch in vielen Forschungsprojekten, die eigentlich soziologisch ausgeschrieben waren, haben wir häufig eine beträchtliche Anzahl Bewerbungen von Geografen. Und da zeigte sich oft, dass sich Geografen hier sehr schnell hineinfinden können und sich so ein Stückchen herauspicken können, das sie dann für sich als Geografen adaptieren. WvR: Trügt der Anschein, dass die Raumwissenschaften vom Selbstverständnis her doch eher als die Sozialwissenschaften den Nützlichkeitsaspekt im Blick haben? Kennzeichnet demgegenüber das Bild des Soziologen in der Öffentlichkeit, aber auch in der Selbsteinschätzung – zumindest in der jüngeren Vergangenheit – nicht eher die Haltung der kritischen Distanz als die eines Service-Leisters für die Gesellschaft? Oder anders gefragt: Versteht sich die Soziologie eher als „Korrekturwissenschaft“ oder eher als eine „positive“ Leitwissenschaft? Differieren in diesem Punkt die beiden Disziplinen oder charakterisiert die Raumwissenschaften auch ein kritischer Impetus, etwa in der Sozialgeographie, und nähern sie sich da den Sozialwissenschaften an? DS: Der „kritische Impetus“ war in den siebziger und achtziger Jahren viel präsenter als Selbstverständnis einer kritischen „Korrekturwissenschaft“ mit aufklärerischen Momenten und auch als „oppositionelle“ Wissenschaft. Gleichzeitig – und das hat die Soziologie gerade in den siebziger und auch noch achtziger Jahren ein Stück weit zerrissen – ging es auch um ein Instrumentarium der Planungswissenschaft. Das damalige Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) zum Beispiel hat auf sozialwissenschaftliches Wissen gesetzt. Solche großen Programme wie das der Humanisierung der Arbeit waren entscheidend von sozialwissenschaftlichem Wissen geprägt. Und das waren wirklich bedeutende Projekte, um die Arbeitswelt in ihrer schnellen industriellen Veränderung besser erfassen und verstehen zu können. Wie gesagt, es ging um Einmischung in die Gesellschaft beziehungsweise darum, kritisches aufklärerisches Wissen in irgendeiner Weise zur Verfügung zu stellen – mit Betonung auf „in irgendei-

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ner Weise“, weil die Art und Weise alles andere als klar war, und das prägt die Soziologie immer noch ein Stück weit. Das Bild, das Sie eben gezeichnet haben, ist sicherlich das offizielle Bild, da würde ich Ihnen zustimmen. Aber es gibt ja immer unterschiedliche Bilder. Und ich denke schon, dass wir heute durchaus eine Reihe von für die Disziplin wichtigen Soziologinnen und Soziologen haben, die den Impetus, Orientierungswissen für die Praxis zur Verfügung zu stellen, ablehnen würden als eine Art „Beschmutzung der Disziplin“. Aber – und das haben wir ja in diesem Projekt auch herausbekommen – es gibt auch viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler innerhalb der Soziologie, die sich durchaus als Grundlagenwissenschaftler verstehen und denen dennoch der Bezug zur Praxis wichtig ist, wenn sie beispielsweise über soziale Ungleichheit forschen. Dieses Wissen muss auch irgendwie wieder in die Gesellschaft einfließen, an sie zurückgegeben werden. Aber wie – und darauf kommen wir auch noch zu sprechen –, das ist völlig unklar. Wenn man genauer nachfragt und nachhakt, ergibt sich ein differenzierteres Bild, als wenn man über die Soziologie im Allgemeinen spricht oder sich die offiziellen Dokumente der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) anschaut. Dazu muss allerdings ergänzt werden, dass sich die DGS gerade in den letzten Jahren unter dem von Michael Burawoy geprägten Begriff der Public Sociology für die „Einmischung“ in die gesellschaftliche Praxis einsetzt, fokussiert auf eine öffentlichkeitwirksame Soziologie. SL: Ich sehe da durchaus zeitliche Parallelen. Also die Raumwissenschaften, so wie Sie, Herr von Rahden, sie angesprochen haben, entsprechen eigentlich dem Idealbild von Mitte der sechziger bis Ende der achtziger Jahre. Bezogen auf die Sozialgeographie entspricht das dem, was wir als „funktionalistische Phase“ bezeichnen; eine, wie es ein Kollege einmal formuliert hat, „gemütliche Sozialgeographie“, weil mehr oder weniger unpolitisch. Eine Wissenschaft, die glaubt, sich auf ein räumliches, entpolitisiertes Feld begeben zu können, wo sie aus den Sozialwissenschaften Funktionen entlehnt, die Raumansprüche mit sich bringen, um dann die Raumnutzungskonflikte auf eine rationale Art und Weise zu lösen. Dabei geht es darum, der Gesellschaft zu helfen und Machtfragen als rational aushandelbar zu verstehen. Dieser Ansatz erledigt sich durch zwei Entwicklungen: durch TheorieImporte aus dem anglofonen Raum während der achtziger Jahre und durch

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1989. Also, nicht nur die Geschichts- oder die Politikwissenschaft waren überrascht durch die Ereignisse 1989, sondern auch die Geographie. Die hatte sich zwar weniger auf das Blockdenken eingelassen, sondern eher regional differenziert, war aber doch ziemlich ahnungslos und musste sich eingestehen, wie unpolitisch sie letztendlich war. Seitdem ging die Entwicklung in Richtung einer sich stärker als gesellschaftskritisch verstehenden Wissenschaft im Bereich der sozialen Geographie. Dies geschieht ganz wesentlich durch den Import des konstruktivistischen Paradigmas, das den Primat der physisch-materiellen Welt weit zurückfährt und im Gegenzug wertbehaftete Raumvorstellungen und Raumkonstrukte als die eigentlichen Triebkräfte gesellschaftlichen Handelns betont. Die radikale Änderung der Perspektive geht einher mit einer „Verwissenschaftlichung“ der Disziplin, was bedeutet, dass eine Distanz zu den klassischen Adressaten raumbezogenen Wissens entsteht. Denn diese Entwicklungen sind etwas, was zunächst gar nicht in der Praxis ankommt. Schule wie Planung, beispielsweise, pflegen eine idealistisch-aufklärende Raumwissenschaft, die einen essenzialistischen Raumbegriff voraussetzt. Für unseren Kontext des Transfers scheint mir wichtig, dass ausgehend von Impulsen, die aus den Natur-, Lebens- und Technikwissenschaften kommen, aber auch von den Wirtschaftswissenschaften früh adaptiert wurden, eine Art Metrisierung und im schlechteren Sinne Professionalisierung des wissenschaftlichen Nachwuchses und seiner Optionen wissenschaftlicher Betätigung betrieben wird. Dadurch werden Publikationsformen und Karrierewege nahegelegt, die eine Distanz zu dem klassischen AbnehmerPublikum geographischen Wissens schaffen. Also, es ist im Zweifelsfall dann wichtiger, den theorieorientierten referierten Aufsatz zu schreiben, als den Vortrag vor der Bürgerversammlung über die Quartiersentwicklung zu halten. Diese Aufspaltung der Wege hängt in meiner Wahrnehmung durchaus zusammen mit diesem kritischen Selbstverständnis. Die Gesellschaftskritik wird ein bisschen gesellschaftslos, sie wird abstrakter. WvR: Noch einmal zum Stichwort „Verwissenschaftlichung“: Wie stehen Sie zu der Auffassung, die bisweilen geäußert wird, Herr Lentz, dass im Grunde genommen Geographie und Raumwissenschaften noch an ihrem „minderen“ Ursprung als „Volkswissenschaft“ kränkeln und eigentlich immer noch dabei seien, diesen „Minderwertigkeitskomplex“ abzuarbeiten und sich deswegen zur Raumwissenschaft „aufgeblasen“ hätten, gewisser-

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maßen als Kompensationssyndrom. Diese Ansicht hat prononciert etwa Gerhard Hard vertreten. 2 Allgemeiner formuliert: Man kann beobachten, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt sich zunehmend an „harten“ methodologischen Standards orientieren, dass sie den Naturwissenschaften hinterherlaufen, um ein bestimmtes methodologisches Ideal zu erreichen, das ihnen womöglich gar nicht gemäß ist. Also Stichwort: die verstärkte Hinwendung zur „Formalisierung und Mathematisierung“ in Sozial-, Kultur- und Raumwissenschaften. Wie bewerten Sie diese Einschätzung? SL: Ich teile diese Einschätzung als historischen Befund durchaus. Hard – das beschreibt er ja zum ersten Mal in den siebziger Jahren – analysiert sehr gut in seiner „Anamnese“ des „Patienten Geographie“, wie eine Quantifizierung, eine Mathematisierung der Wissenschaft versucht, den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu beseitigen. Aber das ist auch eine Generationenfrage. Bei der Welle von Lehrstuhlbesetzungen beispielsweise, die nach dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit dann in den siebziger Jahren stattfand, änderte sich viel. Für uns Geografen steht als Urknall oder Stichtag der Kieler Geographentag von 1969, wo Studentenschaft und Mittelbau aufgestanden sind und versucht haben, das herrschende Paradigma der Länderkunde und der Landschaftskunde zu beseitigen. In der Folge tritt dann eine Quantifizierungswelle auf, eine Verwissenschaftlichung, die auch dem oben beschriebenen raumwissenschaftlichen Paradigma sehr nahe ist. Also Verwissenschaftlichung beziehungsweise Mathematisierung bedeutet hier, um ein Beispiel zu nennen, die Einführung des schon erwähnten Distanzdeterminismus, der allerdings mit dem Werkzeug des GIS eine ganz starke Verbindung in die Berufspraxis hat. Das Messbare wird zum Entscheidenden in dieser Geographie. Später kommt es zu der beschriebenen Gegenbewegung, die wieder eine stärkere Hinwendung zur Sozialwissenschaft bedeutet und auch eine intensive Auseinandersetzung mit hermeneutischen Verfahren mit sich bringt, die aber auch das Politische in einer ursprünglicheren Form überhaupt erst wieder in die Raumwissenschaften hineinbringt. Raumtheorie und Raumkonzepte werden in sozialwissenschaftlichem und geisteswissenschaftli-

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Gerhard Hand (1979): Die Disziplin der Weißwäscher. Über Genese und Funktion des Opportunismus in der Geographie.

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chem Sinne problematisiert. Damit werden Raumkonstrukte und Raumkonzepte komplexer, aber zugleich anschlussfähiger, sodass die Geographie ein massives Interesse aus den Nachbarwissenschaften erfährt. Dort entstand mit dem spatial turn das Interesse, sich bei der Geographie einmal umzuschauen und zu sehen, was die denn für Raumkonzepte zu bieten hat. Also dass es eine verräumlichte Stadtgeographie oder eine Sozialwissenschaft des Raumes gibt, das ist, glaube ich, auch auf Anleihen aus beziehungsweise auf Theoriearbeit der Geographie zurückzuführen. WvR: Da stellt sich auch die Frage nach den Differenzen und nach den Gemeinsamkeiten. Sind übergreifende, gemeinsame sinnstiftende Paradigmen für beide Gebiete festzustellen oder anzustreben? Oder ist die Zersplitterung in Subdisziplinen so stark – man denke an die „BindestrichWissenschaften“: Bindestrich-Soziologien, Bindestrich Raumwissenschaften –, dass hier kaum gemeinsame Paradigmen tragfähig sind? Träfe in diesem Kontext denn der von Erika Spiegel erhobene Vorwurf zu, dass die Soziologie an einer „Raumvergessenheit“ leide? Spiegel meint, dass eine Annäherung der beiden Disziplinen eher von der Sozialgeographie ausgegangen sei und nicht so sehr von der Soziologie‚ […] doch hart im Raume stoßen sich die Sachen‘ – Zur Aktualität eines Schiller-Zitats im Grenzbe3 reich zwischen Soziologie und Sozialgeographie“ . DS: Was Gemeinsamkeiten angeht, möchte ich an die Ausführung von Herrn Lentz anknüpfen. Ich sehe durchaus ähnliche Entwicklungen in der Soziologie. Dabei muss man auch bedenken, dass diese Disziplin im Vergleich zu anderen Disziplinen erst spät – in den fünfziger Jahren nämlich – die volle Anerkennung als universitäres Fach gefunden hat. Das ist nicht ganz unwichtig. Man hat ja lange Zeit nur von den zwei Wissenschaftskulturen, den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften, gesprochen. Wolf Lepenies hat dann die Sozialwissenschaften als „dritte Kultur“ mit eingebracht. Das ist ja noch nicht so lange her. In der Tat hat die Soziologie einen unglaublichen Professionalisierungsschub erfahren, und darauf hat man sich dann gerade auch in den letzten Dekaden konzentriert. Also,

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In: Sozialgeographie und Soziologie: Dialog der Disziplinen, hrsg. v. Heinritz, Günter; Helbrecht, Ilse, Münchner geographische Hefte, 78, Passau: L.I.S. Verlag, S. 43 – 56.

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was Theorien, was methodische Ansätze angeht, prägt eine starke Ausdifferenzierung die Soziologie. Die Methodenentwicklung ist insgesamt beeindruckend. Und hier sehen wir etwas Ähnliches wie in den Raumwissenschaften dahingehend, dass quantitative Methoden eigentlich nach wie vor eine dominante Rolle spielen. Das hat immer den – ich sag’ jetzt mal bewusst – „Geruch“ von Repräsentativität. Denn – und das zeigte sich sogar noch auf dem letzten Kongress in Trier – qualitative Verfahren, wenn wir also mit Interviews arbeiten, mit ethnologischen oder ethnografischen Methoden, geraten immer in so etwas wie eine Begründungs- oder Legitimationspflicht. Qualitative Methoden sind zwar anerkannt, mittlerweile auch sehr weit entwickelt, aber letztendlich ist immer das Quantifizierende gefragt, wenn es um das „Verobjektivierbare“ geht. Darüber hinaus sind qualitative Methoden eben nicht nur Methoden, sie hängen mit theoretischen Annahmen zusammen, mit Konzepten. Da steckt in jedem Fall weit mehr dahinter, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Zu dem, was Sie gerade angesprochen hatten, Herr von Rahden, mit der Frage nach dem Verbindenden zwischen unseren Disziplinen: die Raumsoziologie als etablierte und institutionell verankerte Subdisziplin. Im Zuge des Konstruktivismus, der ja in der Soziologie auch eine bedeutende Rolle gespielt hat, stellte sich die Frage nach dem Raum, der Raumkonstruktion im Sinne einer Basis oder Grundlage für Strukturen, für Handlungen, Akteurskonstellationen, kulturelle Prägungen und Ähnliches. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, Herr Lentz, aber so würde ich es ungefähr charakterisieren. SL: Ich glaube, das Fazit können wir tatsächlich ziehen, dass das konstruktivistische Paradigma letztendlich für beide Wissenschaften im Moment ein sehr fruchtbares ist. Selbst wenn es immer noch Kollegen gibt, die das für sich ablehnen und sagen: „Ich brauche diesen theoretischen Unterbau nicht, um meine Wissenschaft gut zu betreiben. Ich kann durchaus mit einem Realbild, mit einem ,realistischen‘ Ansatz an die Dinge herangehen.“

2. W ISSENSTRANSFER WvR: Kommen wir zum Terminus des Transfers, des Wissenstransfers: Was heißt eigentlich Wissenstransfer für Ihre Disziplinen? Als Linguist

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frage ich mich zunächst bei diesem Begriff: Was wird warum woher wie von wem wann wohin transferiert? DS: Man muss eingestehen, dass der Begriff Wissenstransfer in der Soziologie keine große oder zumindest doch keine bedeutende Rolle spielt. Der Begriff kommt jetzt in letzter Zeit vermehrt vor, aber eher in der Public Sociology, und da geht es direkt um das Verhältnis der Soziologie zur Öffentlichkeit beziehungsweise zu unterschiedlichen Öffentlichkeiten. Die Diskussion über Wissenstransfer kommt viel mehr aus der Innovations- und aus der Wissenschaftsforschung, wo man sich über unterschiedliche Formen der Wissensproduktion Gedanken macht, etwa in den „new forms of knowledge production“ à la Helga Nowotny, wo die Frage eines Wissenstransfers immer schon impliziert ist, weil man die Erkenntnisproduktion neu denkt. Der Ansatz ist nicht mehr: Ausgehend von der Grundlagenforschung kommt irgendwann mal etwas Verwendungsfähiges dabei heraus; vielmehr geht man davon aus, dass es unterschiedliche Formen der Wissensproduktion gibt und durchaus auch Formen, wo von vornherein Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit Praktikern direkt zusammenarbeiten. Das ist zwar nicht neu, und es kursiert immer noch zumindest in den Köpfen das sogenannte „lineare Modell“ – das betrifft nicht nur die Soziologie, sondern gilt generell für die Wissenschaft. Wenn es um die Frage geht, wie Wissen, Erkenntnis produziert wird und dann vielleicht auch einmal in irgendeiner Weise verwertet werden kann, dann wissen wir aus der Innovationsforschung, dass es sich um rekursive Prozesse handelt und eben nicht um lineare Prozesse. Bezeichnenderweise hält sich aber dennoch das gewohnte Bild immer noch ein Stück weit, dass eigentlich Innovationen so ablaufen: Da gibt man etwas an Forschung in den Trichter hinein und es kommt dann ein iPad heraus (allerdings dann wahrscheinlich nicht von den Soziologen produziert). Wenn man jetzt von der generellen Debatte um den Wissenstransfer zur Soziologie übergeht, dann ist Folgendes interessant: Wir haben unsere Interview-Partner dazu befragt, und als Erstes ging es dann um den Wissenstransfer innerhalb der Scientific Community. Das ist ja auch verständlich, wir transferieren ja permanent Wissen via Artikel, via Bücher, via Rundfunkbeiträge oder wie auch immer in unterschiedliche Öffentlichkeiten. Die Tatsache, dass es eben nicht nur die Öffentlichkeit der wissenschaftlichen Fachgemeinschaft gibt, sondern darüber hinaus die der Gesellschaft, ist na-

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türlich allen bekannt und bewusst. Aber eine Debatte innerhalb der Soziologie, wie wichtig oder wie unwichtig diese Öffentlichkeit ist oder was man da macht oder wie die Wege laufen, fand kaum statt, erst wieder in den letzten Jahren. Es stellt sich die Frage, was die Soziologie als Disziplin möglicherweise von einem Wissenstransfer hat? Ich habe von einem „rekursiven Modell“ gesprochen: Das bedeutet aber, dass nicht immer nur wir etwas für die Praxis leisten können, sondern es auch umgekehrt geht. Diese Debatte ist, würde ich sagen, eher unterentwickelt. Und das hängt auch mit den Organisationsformen zusammen; es gibt die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und es gibt den Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen, das ist eine richtig schöne Aufteilung. Der Berufsverband befasst sich nicht mit soziologischer Theoriebildung, sondern mit anwendungsorientierter sozialwissenschaftlicher Forschung und mit Berufsfeldern für Soziologinnen und Soziologen. Und in der Community der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ist diese Diskussion eher nachrangig. Interessant ist dabei, was das Forschungsrating des Wissenschaftsrates erbracht hat. Da ging es ja darum, unterschiedliche Disziplinen unter dem Aspekt zu bewerten, was sie eigentlich leisten, und die Soziologie war ein Pilotprojekt. Eines der Kriterien bezog sich auf Beratung und Wissenstransfer, und da hat sich herausgestellt, dass Soziologen und Soziologinnen sehr viel beraten, und zwar jenseits ihrer Professur insbesondere in öffentlichen Verwaltungen. Die Bewertungskommission – also die Soziologen und Soziologinnen, die vom Wissenschaftsrat gebeten worden sind, die Soziologie insgesamt zu bewerten –, nicht wenige waren erstaunt, in welchem Ausmaß beraten wird. Und darauf wollte ich eigentlich hinaus: Diese Beratungspraxis spielt in der offiziellen Debatte keine oder nur eine marginale Rolle. Aber sie findet statt. Doch was man möglicherweise lernen kann, wenn man in Planungsprozesse der Kommunalpolitik einbezogen ist und was das nicht nur in Bezug auf die Forschung, sondern auch auf die Lehre bedeutet: Solche Fragen werden allenfalls am Rande in der Soziologie thematisiert. Diese Debatte wird jetzt ein Stück weit forciert, was auch ad personam mit einem neuen Vorsitzenden in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, mit Stephan Lessenich, verbunden ist. Aber dieser Diskussionsprozess wird meines Erachtens noch etwas verengt unter dem Begriff der „public sociology“ geführt.

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SL: Ja, ich sehe wieder Parallelen und auch kleine Abweichungen. Die Parallelen sehe ich dort, wo auch unser Fach Geographie sich in Bezug auf das Transferdenken organisatorisch und institutionell aufspaltet. Auch wir haben einen Deutschen Verband für Angewandte Geographie und einen Verband der Geographen an Deutschen Hochschulen, um zunächst die wichtigsten „Antagonisten“ zu nennen. Dann gibt es den Verband Deutscher Schulgeographen und einen Hochschulverband für Geographiedidaktik. Beim Verband für Angewandte Geographie und bei den Schulgeographen zeigt sich meist das, was man als das „klassische Transferbild“ bezeichnen kann: eine Einbahnstraße der Wissensvermittlung, die besagt, dass in der Uni etwas erforscht und gelehrt wird, das dann irgendwann in der Schule ankommt. In diesem klassischen Bild kommt nur wenig Rückkopplung zustande. Darin drückt sich meiner Meinung nach aus, dass wir tatsächlich die Welten als sehr getrennte wahrnehmen. Die eigentlichen Praktiken der Wissensgenerierung sind Wissenschaftlern oft gar nicht bewusst, etwa in welchen Kontakten sie eigentlich ihre Fragen, ihr Vorwissen erzeugen, bevor sie selbst Forschungsprojekte auflegen. Durchaus spannend finde ich in diesem Zusammenhang, dass unsere Kollegen, wenn wir sie befragen, unter Transfer sofort den Transfer in andere Disziplinen verstehen, statt diese Kontakte als Kommunikationsprozesse innerhalb derselben Community aufzufassen. Das deutet schon auf ein bestimmtes Selbstverständnis hin. Für die Raumwissenschaften hat die Tatsache, dass Geographie „schon immer“ an Schulen gelehrt wird, das Verständnis von Transfer sehr geprägt. Die Frage stellte sich so gar nicht, sondern gut ausgebildete Studierende, die als Lehrer in die Schule gehen, waren und sind automatisch ein wichtiges „Transferprodukt“ der akademischen Forschung und Lehre, ganz im Sinne des von Ihnen, Frau Simon, erwähnten linearen Konzepts. Wenn wir akzeptieren, dass die Kommunikation mit anderen Wissenschaftlern Bestandteil des Qualifizierungsprozesses ist, den Wissenschaft unbedingt braucht, dann bleibt als ein Definitionsmerkmal für Transfer der Kontakt zur außerwissenschaftlichen Welt. Dieser Kontakt aber ist keine Einbahnstraße, sondern findet in verschiedensten Konstellationen und in unterschiedlichsten Momenten des Produktionsprozesses von neuem Wissen statt, ist zwei- oder auch mehrseitig. Die Arbeit an den Modifikationen dieser Transferbegriffe und deren Inhalten ist letztendlich auch ein Hintergrund unseres Projekts. Zu erwähnen wäre noch, was wir dabei festgestellt

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haben, nämlich dass bei aller Verwissenschaftlichung ein ganz wichtiges Momentum von den Wissenschaftlern persönlich ausgeht: Wissenstransfer betreiben Wissenschaftler, die für sich selbst beanspruchen, auch nützlich sein zu wollen für die Gesellschaft, und die schlichtweg motiviert sind, sich an die Gesellschaft, an mögliche Adressaten zu wenden. DS: Wir haben ja in dem Projekt nach dem Verständnis von Wissenstransfer gefragt. Und da ergab sich ein Blumenstrauß von Antworten, der reichte wirklich von innerwissenschaftlicher Kommunikation bis zu Ausgründungs- und Firmengründungsplänen. (Was ja in der Sozialwissenschaft nicht sehr verbreitet ist.) Für die Soziologie haben wir gesehen, dass bei den Soziologen und Soziologinnen einerseits großes Interesse besteht, mit dem soziologischen Wissen auch etwas anzufangen, es anzuwenden. Andererseits bestehen nicht geringe Probleme, dies innerhalb eines drittmittelfinanzierten Zwei- oder Dreijahresprojekts zu realisieren, wenn man promovieren will oder sich habilitieren möchte. In der Soziologie, aber bei Weitem nicht nur dort, zielt der nahe liegendeWeg der Karriere sehr eng auf eine Professur ab. Da ist praktisches Engagement – das muss man ganz schlicht sagen – nicht viel Wert. Wissenstransfer hat da den Stellenwert von netten Add-ons, aber es nützt Ihnen wenig, wenn der Mitbewerber oder die Mitbewerberin mehr Journal-Artikel vorweisen kann. Und das ist ein Grundproblem. Was das individuelle Interesse angeht, sehen wir kaum mehr diese Trennung von der Praxis, also dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nur für die Scientific Community etwas beitragen wollen, aber die institutionellen Rahmenbedingungen und das Reputationssystem des Wissenschaftssystems – gerade in der Soziologie sehr rigide – machen es schwierig, über den Tellerrand der Universität hinauszusehen. WvR: Spielt der Transfer von Wissen in die Gesellschaft überhaupt eine Rolle für die Karrierewege in Ihren Disziplinen? Da liegt ja eher die Vermutung nahe, dass das nicht der Fall ist, wenn man den Ausführungen folgt, die Sie gerade eben gemacht haben, Frau Simon. Es gibt ja höchst unterschiedliche Berufsbilder und Karrierewege. Man denke etwa an die Wissensvermittlung an ein Publikum, das gesellschaftlich ja sehr heterogen aussieht. Diese fragmentierten Öffentlichkeiten können nur über verschiedenste Formate, Medien und „Übersetzungen“ erreicht werden; nicht nur über Bücher oder einen Beitrag in Journalen, Rundfunk, Film und Fern-

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sehen, sondern auch ein Theaterstück oder Hörspiel können diesen Transfer leisten. Es bietet sich eine Fülle von Möglichkeiten. Aber im deutschen Wissenschaftssystem, so scheint mir, dominiert die Auffassung, dass derartige Aktivitäten eher als „unwissenschaftlich“ und „populistisch“ geächtet werden – ganz im Unterschied zu angelsächsischen Ländern und tendenziell auch zu Frankreich, wo auch die öffentliche, nicht nur die wissenschaftsinterne Vermittlung des Wissens als eher selbstverständlich für das berufliche Profil des Wissenschaftlers angesehen wird. Also stellt sich die Frage: Sind Reputation und Anerkennung in Ihren Wissenschaften überhaupt an Leistungen des Wissenstransfers gekoppelt? Trifft nicht gar das Gegenteil zu – behindert der Zwang des gradlinigen Karriereweges nicht den Kontakt zur Praxis? Es gibt genügend Beispiele dafür, dass Ausflüge in wissenschaftsfernere Bereiche eher bestraft werden und sich sehr nachteilig auf die Karriere auswirken können. DS: Wie Sie schon sagten, es gibt eigentlich unterschiedliche Wege für Wissenschaftskarrieren. Dabei ist die Betonung dieses „Eigentlich“ wichtig. Natürlich gibt es diese Wege: Es werden Soziologinnen und Soziologen ausgebildet, die dann sehr attraktive Jobs bekommen, in der Politikberatung, in Ministerien, wo auch immer jenseits des Wissenschaftssystems. Wir tun das, aber eine Anerkennung findet dieser Weg im Wissenschaftssystem in Form eines Ausbildungsziels nicht. Wir wissen, dass bei sechzig Bewerbungen auf eine Professur sich neunundfünfzig um irgendetwas anderes kümmern müssen. Aber es existiert nicht einmal eine Anerkennung dieser Diversität. Alles ist ausgerichtet auf die akademische Karriere, obgleich wir alle wissen, dass die Realität anders aussieht. Wissenstransfer in den unterschiedlichen Formaten ist allenfalls ein Nice-to-have. Aber er zählt nicht tatsächlich. Das drückt sich aus in unseren Bewertungssystemen, in Evaluationen: Mittlerweile wird alles gezählt und aufgenommen, was wir irgendwie betreiben, auch wenn wir irgendwo nur mal drei Sätze sagen. Aber es gibt eine implizite – so pflege ich das zu nennen – Reputationshierarchie. Denn letzten Endes wird doch nach Artikeln in den Journals geschaut und bewertet.

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WvR: Und dann nach dem Impact-Faktor ... DS: Ja, das kommt auch noch alles dazu. Dass die innerwissenschaftliche Kommunikation für die Wissenschaft natürlich das zentrale Moment ist, das würden oder wollen wir ja gar nicht bestreiten, aber wir bestreiten, dass dieses „Darüber-hinaus“ einfach nur ein „Darüber-hinaus“ ist. Im Gegenteil: Wir sehen den befruchtenden und impulsgebenden Charakter für unsere Fragestellungen, für die Weiterentwicklung von Ideen und Themen. Anstöße kommen nicht immer nur aus innerwissenschaftlichen Diskussionen. In manchen Subdisziplinen sieht es ein bisschen anders aus, das hängt auch ein wenig von den Hochschulen ab. Aber im Grunde, wenn man es mal so holzschnittartig sagen kann, findet Wissenstransfer in die Gesellschaft keine direkte disziplinäre Anerkennung. SL: Das verhält sich durchaus ähnlich bei uns, auch wenn die Geographie als eine Art Folk-Science einmal diesen didaktischen Aspekt hatte, Welt zu vermitteln. Und in den klassischen Geographie-Ausbildungen, glaube ich, finden sich noch deutlich mehr Elemente, die auf eine Vermittlungskompetenz hinweisen. Aber das endet mit dem ersten Examen an der Uni, wenn die Konzentration auf innerwissenschaftliche Kommunikation an die erste Stelle rückt: Es gibt bei uns keine Doktorandenkurse, in denen das Schreiben eines Essays gelehrt wird oder mal ein anderes Format vorgenommen wird, das auf Kommunikation mit der außeruniversitären Öffentlichkeit zielt. Vielleicht müssen wir, auch gerade weil wir vom deutschen System sprechen, noch einmal genauer hinsehen. Wir alle wissen, es gibt Promotionen, die werden von Kandidaten angegangen, die definitiv eine wissenschaftliche Karriere anstreben. Und es gibt Promotionen, die auf das symbolische Kapital des Titels abzielen. Bei solchen Promotionen würde es durchaus naheliegen, praktische Themen, auch Themen, die näher an der Anwendung liegen, zuzulassen, um praxisnähere Probleme angemessen wissenschaftlich bearbeiten zu lassen. Das heißt, Arbeiten dieser Art nicht als „billige“ Promotion anzusehen, die allein um der Pragmatik und des Titels willen „durchgehen“. Was ich daraus ableiten will, ist die Frage, ob wir solche „idealen“ Überlegungen auch für die außeruniversitäre Forschung und ihre Karrierewege annehmen können. Denn Sie sagen es zu Recht, wir schleusen in dem aktuellen System jede Menge Qualifikation in Form von Doktoranden und

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auch Habilitanden durch. Und dabei wissen wir ganz genau, dass nur ein Bruchteil der Kandidaten in der harten wissenschaftlichen Welt sein Brot verdienen können wird. Die anderen bringen wir sehenden Auges auf einen Weg, der sich letztendlich als Sackgasse erweist, aus der sie zurückfinden müssen zu irgendwelchen nicht-akademischen Anwendungen. Es stellt sich also erstens die Herausforderung, Karrierewege, die aus der Wissenschaft herausgehen, zu denken und zu organisieren; und zweitens geht es darum, auch innerhalb des Wissenschaftssystems und im System der außeruniversitären Forschung Anerkennung für Transfer in die Gesellschaft zu etablieren. Das wäre beispielsweise durch die Etablierung von entsprechenden Leistungsmerkmalen in den Evaluierungssystemen möglich. DS: Ein schönes Beispiel ist das Wissenschaftsmanagement als ein Berufsfeld, das in den letzten zehn, fünfzehn Jahren immer mehr Anerkennung gefunden hat. Das geht nicht nur „schwups!, da muss jemand mal etwas organisieren“, sondern es hat gerade dann eine Bedeutung, wenn wissenschaftsnah organisiert werden muss. Und wir sehen eine Menge Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen, die in diesen – zum Teil wirklich attraktiven – Positionen untergekommen sind. Wir sehen zurzeit eine starke Ausdifferenzierung innerhalb des Wissenschaftsmanagements, insbesondere im Rahmen der Exzellenzinitiative wurden wissenschaftsnahe Leitungspositionen (z. B. Geschäftsführer/-in) geschaffen, die mittlerweile auch eine entsprechende Anerkennung im Wissenschaftssystem finden. Der Doktortitel ist dabei durchaus relevant, bei dieser Art von Positionen wird durchaus danach geschaut, ob die Leute promoviert sind oder nicht. Für die Einstellenden spielt das Wissenschaftsaffine eine große Rolle. Das hat aber bislang keine sichtbaren Auswirkungen auf die Art der Ausbildung. Eine Promotion in der Soziologie ist eine Promotion, dafür gibt es sozusagen nur ein Bild. Und die Frage, inwieweit da eine Differenzierung nötig wäre, weil es schließlich auch um Berufsfelder geht, ist bis jetzt noch nicht einmal richtig gestellt, geschweige denn durchdacht worden. Dabei wäre das ein wichtiger Ansatz. Stattdessen beobachten wir eher immense Schwierigkeiten, zum Beispiel mit inter- oder transdisziplinär angelegten Promotionskollegs. Und das kann sich für diejenigen als Problem herausstellen, die dort „interdisziplinär“ promoviert werden und dann irgendwann doch in ihrer Disziplin unterkommen müssen.

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SL: Die Gretchenfrage, oder? DS: Genau.

3. T HEORIE , E MPIRIE , P RAXIS WvR: Das spielt auch auf die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis in Wissenschaftsdisziplinen insgesamt an. Während diese Beziehung für die technischen Wissenschaften oder auch für Medizin und Jura offenbar kein großes Problem darstellt, weil diese Ausbildungsgänge einen stärkeren immanenten Praxisbezug aufweisen, scheint doch für die Sozialwissenschaften, vielleicht noch mehr als für die Raumwissenschaften, eine bestimmte methodologische Praxisferne zu gelten. Stichwort: „theoriefreie Empirie versus empiriefreie Theorie“ als die beiden entgegengesetzten Pole dieser Spannung. Dahinter steht ja nicht nur die Frage, wie die Beziehung von Theorie und Praxis aussieht, sondern auch die Beziehung von grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung. Oder ist es vielleicht eher so, dass auch diese „traditionelle“ Trennung zunehmend obsoleter wird: hier einerseits die „zweckfreie“ Grundlagenforschung, dort anderseits die „nutzen- und anwendungsgebundene“ praktische Forschung. Hat diese Trennung für Ihre Disziplin noch einen grundsätzlichen Sinn, oder würden Sie sie eher relativieren? DS: Zunächst haben die von Ihnen angesprochenen Punkte nicht viel miteinander zu tun. Medizin und Jura haben im Sinne einer Profession berufliche Anwendungsfelder herausgebildet, die sich stark in der universitären Ausbildung niederschlagen; die Soziologie hat dagegen keinen institutionalisierten Praxisbezug entwickelt. Dann zum Verhältnis von Theorie und Empirie und Theorie und Praxis: Ich glaube, wir können Empirie und Praxis nicht gleichsetzen. Empirie beschreibt zunächst auch eine Methode beziehungsweise muss methodisch fundiert sein. Theoretisch angeleitete empirische Projekte müssen mit Praxis erst einmal gar nichts zu tun haben. Außer dass sie sich in irgendwelchen Praxisfeldern bewegen, dass also etwa Personen einer Verwaltung oder eines Unternehmens interviewt werden, aber das hat mit Praxisnähe sehr wenig zu tun. Im Fall der Soziologie hat man manchmal den Eindruck, da sie sich eigentlich immer in der Gesellschaft

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befindet oder Teil ihres eigenen Untersuchungsgegenstands ist, dass sie desto mehr den Drang hat, sich zu distanzieren und sozusagen Mauern aufzubauen, damit die Disziplin nicht zu sehr von gesellschaftlichen Problemlagen „gesteuert“ wird. Aber um auf Ihre Frage zu sprechen zu kommen, was die Trennung von anwendungsorientierter Forschung und Grundlagenforschung angeht: Diese Begriffe haben nach wie vor eine Relevanz. Grundlagenforschung benötigt in bestimmten Phasen auch Ruhe und eine gewisse Abschottung, aber die Begriffe haben auch eine rhetorische Funktion. Sie sind wichtig, wenn es um die Forschungsförderung geht. Wenn Sie für die DFG einen Antrag schreiben oder für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), dann können Sie das rhetorisch anders einbetten. Wir sprechen in der Wissenschaftsforschung hierbei von boundary work. Ich will damit nicht ausdrücken, dass verschiedene Formen der Wissensproduktion immer ineinander übergehen. Aber die Übergänge sind oft viel fließender, als dies im öffentlichen Diskurs reflektiert wird. WvR: Ist die Betonung der anwendungsorientierten Komponente bei Forschungsanträgen eher als Legitimationsstrategie gegenüber den Geldgebern zu verstehen? DS: Sowohl als auch – das kommt auf den Förderer an. Bei bestimmten BMBF-Projekten zum Beispiel muss die Frage der Anwendbarkeit eine Rolle spielen. Und bei den EU-Projekten ist es ganz brutal: Und wenn sie noch so sinnlos sein mögen, irgendwelche Empfehlungen müssen herauskommen. Aber was wir beobachten – und ich habe mir das mal genauer angeschaut auf Seiten der Bewertung von Forschung, von Forschungsinstituten –, ist die erstaunliche Karriere des Begriffs „problemorientierte Grundlagenforschung“. Das ist der Versuch einer Verbindung der zwei Orientierungen, den ich ganz geschickt finde. Es geht um neue Forschungsthemen und um die Frage, wo knüpfen wir da in der soziologischen oder in der raumwissenschaftlichen Debatte an. Und zugleich stellt sich die Frage, können wir damit vielleicht auch eine gesellschaftliche Problemlage, wenn schon nicht lösen, so doch uns damit im wissenspraktischen Sinn beschäftigen. Das Interessante sind die Folgen, denn ein Begriff ist ja nie nur ein Begriff. Wir sehen das selbst bei der Max-Planck-Gesellschaft, die sich ja wunderbar dadurch darstellen kann, dass sie Grundlagenforschung betreibt

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und ab und zu ein paar Nobelpreisträger produziert – das ist eigentlich schon die Legitimation für alles. Aber auch da lässt sich interessanterweise in der öffentlichen Darstellung in letzter Zeit der Bezug zu gesellschaftlichen Problemen stärker wiederfinden. Und ich will damit nicht sagen, dass wir uns alle auf „problemorientierte Grundlagenforschung“ verständigt hätten. Das sind sowieso alles sehr implizite und keine offiziellen Verständigungen. Aber diese weitgehend rhetorische Trennung ergibt durchaus insofern einen Sinn, als man auch Zeit, Raum und Ruhe für Grundlagenforschung benötigt. Das würden wir nie bestreiten. Mit konkreten Vorgaben, wenn man von vornherein sagt, mit dieser Forschung muss das Problem xy gelöst werden, kann man wissenschaftliche Neugier in der Soziologie und auch in den Raumwissenschaften zerstören. Aber andererseits, wenn man sich Forschungsverläufe anschaut, dann ist die Annahme einer Trennung von Grundlagen- und anwendungsbezogener Forschung, die man durchhalten muss, um zu einem Ergebnis zu kommen, stark zu bezweifeln. WvR: Gesellschaftliche Relevanz, gesellschaftliche Bedeutsamkeit sind entscheidender als Qualität? DS: Das muss sich nicht widersprechen … WvR: Aber das Gütesiegel gibt dann vermutlich doch den Ausschlag? DS: Praxisrelevanz geht nicht unbedingt auf Kosten der wissenschaftlichen Güte – heutzutage heißt das natürlich der „wissenschaftlichen Exzellenz“. SL: Das können völlig entkoppelte Begriffe sein, müssen es aber nicht. Letztendlich ist unser Projekt ja ein schönes Beispiel dafür.

4. Q UALITÄTSMASSSTÄBE , K RITERIEN , I NDIKATOREN … WvR: Könnten Sie Ihr gemeinsames Projekt „Unbekanntes Terrain? Wissenstransfer in den Sozial- und Raumwissenschaften“ kurz skizzieren? Wie sieht denn konkret die Kooperation zwischen den beiden Disziplinen aus?

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SL: Unser Projektauftrag war es, Formen des Wissenstransfers zu untersuchen in unmittelbarem Kontakt mit denjenigen, die dafür verantwortlich sind. Was sind förderliche und was hinderliche Bedingungen für den Transfer? Und ich finde, an unserem Beispiel zeigt sich gut, wie ein solches Projekt in der Grauzone zwischen Grundlagenforschung und Anwendung steht. Je nachdem, wie wir das Projektende gestalten, können wir es dabei belassen, allen unseren Adressaten die Projektergebnisse zu zeigen, und ihnen überlassen, ob sie diese zum Spiegel für sich machen. So würden wir den klassischen Aufklärungsimpetus bedienen. Wir können aber auch mit dem, was wir da erarbeitet haben, sozusagen durch die Lande ziehen und Workshops veranstalten. Wir können die Mühsal eines langen Projektberichts oder einiger referierter Journalartikel umgehen und stattdessen gleich den Transfer betreiben und in die Anwendung gehen. In dieser Weise haben wir ja auch unsere Interviews gestaltet: Wir haben einerseits recht zweckfrei die Grundbedingungen abgefragt und andererseits in den Gesprächen immer auch nach Möglichkeiten der Veränderungen gefragt, nach Schwierigkeiten, nach Lösungen, die schon praktiziert werden. Und die Arbeit mit derartigen Äußerungen bringt die Anwendung dann gleich ganz nahe, ohne dass man gleich die viel gescholtenen EUHandlungsempfehlungen daraus machen muss. So erhält das Projekt auf der einen Seite den Charakter von Grundlagenforschung, denn jeder kann sich mit den Grundlagen noch einmal auseinandersetzen; auf der anderen Seite gibt es so eine Art „Digest“ von unserer Seite, der direkt auf den Anwendungsbezug zielt und denjenigen einen Leitfaden gibt, die nicht lange nachdenken, sondern handeln wollen. WvR: Wie lautete denn die Leitfrage von beiden Seiten konkret? Können Sie die Intention auf eine griffige Kurzformel bringen? SL: Ja, es geht um das unbeleuchtete Feld des Wissenstransfers. In unseren Wissenschaften wird viel Transfer praktiziert, der mehr oder minder subkutan und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle verläuft. Dieser Transfer ist nicht systematisiert, sondern wird eher als Problem wahrgenommen, weil er nicht in die entsprechenden Reputationssysteme eingebettet ist. Es besteht eine öffentliche Erwartung an uns, Transfer zu betreiben, was auch immer darunter zu verstehen ist. Zugleich gibt es ein soziales Fürsorgeproblem, weil die Wissenschaft auf eine Art und Weise strukturiert ist, dass

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Transfer, wenn er von Personen in nicht gesicherten Positionen betrieben wird – also Qualifikanten jeglicher Couleur –, ein echtes Risiko für die Karriere beinhaltet. Zunächst ging es also darum, einen Überblick zu gewinnen und bestimmte Lösungen zu präsentieren, dann aber auch für uns selbst einen Spiegel aufzustellen. DS: Also, es geht um Wissenstransfer, um ein tatsächlich unbekanntes Terrain, wo wir uns auf Spurensuche begeben haben. Wir hatten zu Beginn natürlich gewisse Vorstellungen, was unter Wissenstransfer zu verstehen ist – zum Teil betreiben wir ihn ja selbst –, aber wir wollten eruieren, vor allem aus der Sicht der Forschenden, aber auch der Institutionen, der Forschungseinrichtungen und auch aus der Sicht des Wissenschaftssystems: Was wird jeweils unter Wissenstransfer verstanden? Soll der Transfer gefördert werden oder eher nicht? Und was die Handlungsbedingungen von Individuen angeht, was wären förderliche Bedingungen und was wäre eher hinderlich? Wir haben Empfehlungen erarbeitet für die drei Ebenen, für das Wissenschaftssystem, für die Organisationsebene der Forschungsinstitute und schließlich für die der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, wobei sich viele Gemeinsamkeiten für die Raumwissenschaften und die Soziologie ergaben. Wir fragten, was man tun kann, wenn man Wissenstransfer will; denn das muss man auch mal sagen, nicht überall muss Wissenstransfer sein, das wäre ganz fatal für die Wissenschaft. Wo es sinnvoll ist und wo die Akteure eine Aufgabe darin sehen, da haben wir versucht, etwas konkreter zu werden und Handlungsempfehlungen zu entwickeln. WvR: Da stellt sich die Frage nach der Qualität des Wissenstransfers und die Frage nach den Kriterien. Wie sind Sie an dieses Problem herangegangen? DS: Ich würde sagen, dieses Problem ist noch nicht so richtig gut gelöst – Sie sprechen da einen wichtigen und wunden Punkt an: Wir haben ja für wissenschaftliche Qualität anscheinend eindeutige Indikatoren: Journals, die einem Peer-Review-Prozess unterliegen und die für wissenschaftliche Qualität bürgen sollen. Das stimmt auch in ganz vielen Fällen, aber es ist auch schon wieder fast eine Einbahnstraße, wie man sich jetzt wissenschaftliche Qualität und ihre Bewertung vorstellt.

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So stellt sich etwa die Frage: Was ist eigentlich guter Transfer, was ist auch vielleicht völlig unsinniger Transfer? Das liegt nicht so auf der Hand. Sie können das schlecht in irgendwelchen Zahlen ausdrücken oder mit irgendeinem Indikator. Für die wirtschaftliche Verwertung nimmt man immer Patente und Lizenzen. Das ist überhaupt kein valider Indikator für Transfer. Aber man hat nichts anderes. Und um „guten Transfer“ bestimmen zu können, müsste man im Grunde genommen mit Mitteln arbeiten, die viel aufwendiger sind. Man müsste etwa die Nutzer fragen: Was habt ihr davon gehabt? War der Transferweg sinnvoll? Könnt ihr das Produkt irgendwie nutzen oder war es allenfalls eine schöne Art der Kommunikation? Wir haben in dem Projekt eine Reihe von Kriterien und Indikatoren entwickelt, und man kann gut sehen, dass es viel mehr als beispielsweise nur Politikberatung ist. Aber es ist schwierig in einem System, das sich explizit an bestimmen Indikatoren orientiert. SL: Ja, ich habe da immer den Kollegen von Frau Simon bewundert, Andreas Knie, der hat mir das bei unserem ersten Treffen hier so nonchalant hingeknallt: „Reputations- und Referenzsysteme“. Das betet man gern nach. Aber erst wenn man dann darüber nachdenkt, wird einem klar, es gibt mit dem Referenzsystem so etwas wie halbwegs messbare Elemente, während die Reputationssysteme symbolische Werte sind. Es wäre ja schön, wenn es tatsächlich nur die referierten Aufsätze wären, die zählen würden. Aber da gibt es ja ein weites Spektrum – nicht nur die eingeworbenen Drittmittel, die sich noch messen lassen. Dann kommt die Zahl der abgelehnten Rufe, dann kommen die Forschungsfreisemester, die Einladungen zu Gastprofessuren, die Einladung als Keynote-Speaker zu irgendeinem Kongress auf Hawaii. Also das, was man „als mein Pferd, mein Auto, meine Ferienwohnung“ oder so ähnlich aufgeblättert hat in dieser unsäglichen Sparkassenwerbung – das gibt es auch im Transfer-System. Da wäre dann „mein ARD-Interview im Frühstücksfernsehen“, „mein KanzlerinGespräch“, „mein Vortrag vor den evangelischen Landfrauen“. Da eröffnet sich eine ungeahnte Bandbreite … WvR: Nicht zu vergessen „mein Auftritt als Berater im Dschungelcamp“ … SL: Was ich damit meine: Wir müssen an der Etablierung dieser Formen noch enorm arbeiten. Da gibt es bisher wenig. Wir sind uns einig darüber,

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dass die im Bereich der Wissenschaft etablierten Methoden keineswegs alle zuverlässig und wirklich vollständig aussagekräftig sind. Es ist aber auch, glaube ich, nicht unbedingt notwendig, das bis ins Letzte durchzudeklinieren – auch wenn wir dazu aufgefordert sind im Zuge unserer Evaluierungen. Die Metrisierung von Wissenschaft in jeglicher Hinsicht wird uns auch einfach vor den Zwang stellen, so etwas wie eine Prioritätenliste, einen Impact, eine Marke, an der Verbesserung ablesbar wird, und anderes vorzuschlagen. Das ist absehbar. Das Schlimmste, was eben passieren kann – und deswegen haben wir dieses Projekt installiert –, wäre, dass Evaluierungskommissionen spontan auf die Idee kämen, während der Evaluierung jetzt einen Katalog zu erfinden, was gut sei und was nicht. Unser Projekt ist ein Beitrag dazu, unter Kollegen die Reflexion der Situation anzuregen und das Feld für eigenes Handeln vorzubereiten. WvR: Die Historiker haben ja bekanntlich konsequent die Evaluation für ihr Fach abgelehnt, gewissermaßen in einem „heroischen“ Akt der Verweigerung … SL: Man kann es als Heroik bezeichnen, man kann aber auch sagen, vielleicht gehört es auch zum Selbstverständnis, aus dem heraus historische Forschung in Deutschland sakrosankt ist, indem man davon ausgeht, dass ihre Ergebnisse per se handlungsleitende Erkenntnisse befördern. Während die Sozialwissenschaften und die Geografen noch ein wenig um ihre Berechtigung kämpfen müssen … DS: Das hat einen spannenden Nebeneffekt zur Folge gehabt – ich finde die Nebeneffekte ohnehin mitunter interessanter als die „Haupteffekte“ von bestimmten Entwicklungen – und zu einem Prozess geführt im Historikerverband, aber auch darüber hinaus unter den Historikern und Historikerinnen. Die Kritik der Historiker war ja, dass sich die Evaluation immer nur auf die Journals konzentriere, während sie als Historiker halt ihre schönen Monografien schreiben, Handbücher, die für die disziplinäre Verständigung sehr wichtig sind, herausgeben etc. Das Spiel wollten sie so nicht mehr mitmachen. Aber die Evaluationsfrage hat dann intern einen produktiven Prozess ausgelöst. Was sind denn unsere Kriterien? Woran wollen wir denn gemessen werden? An unseren Interviews in der FAZ oder an den dickleibigen Bänden oder woran?

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5. Z IELGRUPPEN WvR: Es gibt noch ein Problem, das wir bisher nur gestreift haben und das mich aufgrund meiner Profession als Wissenschaftsredakteur besonders interessiert, nämlich: Gibt es ein bestimmtes Publikum oder ganz spezifische Zielgruppen, die Ihre Disziplinen ansprechen möchten? Und gibt es besondere Verfahren oder Medien oder Formate, die dabei zum Einsatz kommen? Wie verläuft denn ein normaler Wissenstransfer? Läuft das über Institutionen, über die Presse oder über die neuen Medien? Hängt das in erster Linie vom Engagement einzelner Personen ab? Die Frage ist ja, ob ausgetretene Vermittlungspfade nur eingeschränkte Teile der Gesellschaft erreichen und ob dann etwa ein Internet-Wissenschaftsblog ein anderes oder erweitertes Publikum erreicht. Zudem kann man beobachten, dass die Aufgabe der Wissensvermittlung zunehmend an andere Instanzen delegiert wird. Das kann der Wissenschaftsjournalismus sein, es können aber auch Public-Relations- oder Werbe-Agenturen sein. Hier übernimmt dann nicht mehr der Wissenschaftler selbst den Wissenstransfer, sondern der Transfer wird „outgesourct“. Eine Kollegin von mir bietet zum Beispiel „Schönheitssalons“ für Wissenschaftstexte an, weil die häufig sehr sperrig daherkommen und damit das geneigte Publikum eher abschrecken. Gerade Initiativen wie PUSH – „Public Understanding of Science“ – oder „Wissenschaft im Dialog“ haben sich darum bemüht, wissenschaftliches Wissen für eine breitere Öffentlichkeit verständlich zu vermitteln. Dieses Konzept ist dann aber zum Teil, so muss man einschränken, zum reinen Event verkommen – zum bloßen Infound Entertainment. Man denke etwa an die eigentlich gute neue Idee des Formats Science Slam, bei dem häufig der Slam am besten ankommt, der am witzigsten vorgetragen wird, auch wenn er inhaltlich am schlechtesten war. Oder andere aktuelle Beispiele: Wissenschaftsausstellungen werden von Medien-Agenturen kuratiert oder eine Werbefirma organisiert Veranstaltungen zu Wissenschaftsthemen als „Event“, und nur allzu häufig bleibt dabei der wissenschaftliche Wissenstransfer auf der Strecke. Allgemeiner gefragt: Wie weit darf die Komplexitätsreduktion gehen? Wie sähen da die Wege aus, die Sie sich für Ihre Disziplinen am ehesten vorstellen könnten? SL: Wir haben in der Geographie einen ganz klassischen Weg: Wir haben an vielen Universitätsstandorten Geographische Gesellschaften, die oft von

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den Instituten gegründet wurden oder in ihrem Zusammenhang entstanden sind. Manchmal haben auch die Gesellschaften zuerst existiert, und sie haben dafür gesorgt, dass an der jeweiligen Uni Geographie installiert wurde. Die Gesellschaften veranstalten Exkursionen, Vorträge und Ähnliches, also vergleichsweise klassische Instrumente des Transfers, sind auch in ihrer gesamten Didaktik häufig traditionell. Jetzt im Folgeprojekt arbeiten wir mit diesen Gesellschaften zusammen und überprüfen im Grunde genommen deren Re-Innovationsfähigkeit angesichts neuer Verständnisse von Lehre und neuer technischer Möglichkeiten. Aber je nachdem, wie man das Zielpublikum für seine Erkenntnisse definiert, können auch andere klassische Medien sehr wirksam sein: Ich denke oft, wenn ich so eine „Seite drei“ in den Zeitungen sehe, ganz gleich ob in Papier oder als E-Paper: Das hätte jetzt auch ein Geograf schreiben können und vielleicht sogar besser. Das Thema hätte es jedenfalls hergegeben. Aber es wird nicht gemacht. Da schreiben dann vielmehr der Historiker, der Politikwissenschaftler, einzelne Figuren, die das sehr gut beherrschen, die ich auch dafür bewundere – deswegen auch mein Einwand vorhin. Wir lehren es nicht, unsere Themen so zu transformieren, dass die spannenden gesellschaftlichen Fragen, die wir behandeln, deutlicher sichtbar werden – und sie dann auch noch essayistisch auszudrücken. WvR: Übrigens anders als im angelsächsischen Bereich, wo das Schreiben von verständlichen wissenschaftlichen Texten zum Teil in die Studiengänge selbst integriert ist als creative writing und essay writing … SL: Genau. Hinzu kommt, dass wir Transfer oft „gestreut“ betreiben. Inhalte werden entsprechend für ein imaginiertes Publikum ohne genauere Prüfung auf Websites gestellt. Das kann man letztendlich mit einem Schrotschuss ins Dunkle vergleichen, weil man überhaupt nicht weiß, wer diese Seite jetzt findet. Auf Rückkopplung wird kaum Wert gelegt und Feedback ist eigentlich selten erwünscht. Als nächster Schritt läge es ja nahe, die Neuen Medien miteinzubeziehen, soziale Medien, auch Blogs, Twitter und Facebook. Aber die werden vergleichsweise wenig eingesetzt. Das Schreiben von Blogs und das Twittern werden noch als ein relativ starker Zusatzaufwand verstanden, der, wenn er erfolgreich sein soll, auch ein ordentliches Engagement verlangt. Das steht dann wieder in Konkurrenz etwa zu den Qualifizierungszwängen, und es leidet auch allein schon daran, dass

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diese Art der Publikationsform nie als Zeitbudget irgendwo in Projekten vorgesehen ist. Bei Facebook und Ähnlichem ergibt sich schlichtweg das Problem des Datenschutzes und eines oft ethischen Konflikts mit uns als Wissenschaftlern. Wenn wir für uns selbst die Transparenz von Wissenschaft als hohes Gut ansehen und in ein Medium und einen Modus transferieren, in dem alles, aber nicht die Auswertung transparent gemacht wird, dann ist es für uns durchaus problematisch, und es birgt auch Organisationsprobleme. Das heißt, solange man rein sachlich über Ereignisse und Ergebnisse berichtet, ist das in Ordnung. Aber relativ schnell kommen natürlich auch die Beschäftigten an den Institutionen selbst ins Spiel, und dann haben wir natürlich ein Problem mit Datenschutz und Persönlichkeitsrechten. Andererseits sind Raumwissenschaftler beziehungsweise Geografen auch oft als Berater von Transferformaten aktiv, die nicht primär aus der Wissenschaft kommen: Mein Lieblingszitat gegenüber unseren Mitarbeitern lautet, dass wir „Geographie“ nicht genügend als Public Science wahrnehmen, nämlich zum Beispiel in den dritten Programmen der öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Und mein Lieblingsprojekt wäre letztendlich eigentlich ein You-Tube- oder ähnlicher Dauerkanal der Community, in dem wir in fünf bis zehn Minuten Clips aus den Raumwissenschaften verarbeiten. Dort könnten wir zum Beispiel die DFG-Projekte der Geographie aufarbeiten, die Ergebnisse dieser Projekte aus ihrer puren Wissenschaftlichkeit einmal herausholen. DS: Es gibt in der Soziologie nicht den Wissenstransferweg, sondern – Sie haben die Palette im Grunde genommen schon angesprochen – es gibt unterschiedlichste. Wenn man das einmal sortiert, kann man sagen, dass die Form der Beratung oder auch die Figur der Beraterin oder des Beraters – nicht nur der Politikberatung, sondern durchaus der Gesellschaftsberatung – die anerkannteste Figur und damit auch Aktivität darstellt. Und es sind natürlich auch Politikwissenschaftler, aber auch Soziologinnen und Soziologen in sehr vielen Kommissionen sehr stark vertreten, etwa in Regierungskommissionen, Kommissionen der Ministerien und Ähnlichem. Das taucht im öffentlichen Diskurs so nicht auf und es sagt auch kein Mensch öffentlich, aber man ist auch stolz als Soziologe oder Soziologin, da ist man gefragt, da kann man vielleicht doch einmal relevantes Wissen produzieren.

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Das ist ein wichtiger Zusammenhang, nicht nur in dem Sinne: „Es war schön, eine schöne Debatte mit Ihnen.“ Vielmehr – und das kann ich aus eigener Erfahrung sagen – ergeben sich daraus produktive Interaktionen, gerade wenn solche Kommissionen aus sehr heterogenen Personen bestehen, von ihrer Herkunft her, von ihrem Berufsfeld, von ihrem Zusammenarbeiten. Wir lernen von der Politik, und die Politik lernt aber auch von uns. Diese Erfahrung machen Sie kaum, wenn Sie mal an einem Workshop teilnehmen; aber wenn Sie eineinhalb Jahre in einer Kommission zusammensitzen und dann schließlich einen Bericht produzieren müssen, gibt es diesen wechselseitigen Transfer. Der überwiegende Anteil des Wissenstransfers findet in dieser Form der Politik- und Gesellschaftsberatung statt. Dazu gehört auch die Beratung anderer Regierungen, also anderer Länder, auch gerade der Dritten Welt. Hier geschieht einiges, das Sie aber, nebenbei gesagt, auf den Homepages der Institute jener, die das betreiben, nie sehen. Und zu den Medien: Es ist höchst aufschlussreich, wenn Sie das beispielsweise mit Frankreich oder Italien vergleichen. Für einen Pierre Bourdieu etwa war das eine Art von Selbstverständlichkeit, sich zum Beispiel in Libération oder Le Monde mehr oder weniger regelmäßig zu Wort zu melden. Und man kann Bourdieu nun wirklich nicht Theoriefeindlichkeit unterstellen. Also dieses verschiedene Agieren ist eigentlich, wenn man das jetzt auf das deutsche System, die deutsche Soziologie bezieht, nicht der Normalfall, sondern eher die Ausnahme. Ich denke an Jürgen Habermas, Ulrich Beck und Ralf Dahrendorf. Darüber hinaus glaube ich, dass uns die Neuen Medien insgesamt noch viel beschäftigen werden als wir gedacht haben: dieses Transparenzgebot, alles online, die Formen von Blogs, die Frage der Citizen Science, also dass Bürger und Bürgerinnen mit uns über Wissenschaft, wissenschaftliche Qualität und wie man sie wann bewerten soll diskutieren. Wir wollen das gar nicht weiter werten, welche Ausmaße das alles angenommen hat, aber da haben andere Disziplinen viel schneller reagiert. Die Geistes- und Sozialwissenschaften waren hier eher zurückhaltend. Aber wir sehen in den letzten Jahren auch einen Wandel – es ist wohl auch eine Generationenfrage. Jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gehen damit einfach anders um, etwa in Blogs. Es wird immer mehr zur Normalität, sich auch mit den neueren Kommunikationsformen zu befassen. Das sehe ich auch in unserer Forschungsgruppe.

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SL: Ich sehe das auch, dass sich da vor allem die Medien, nicht aber die Tatsache, dass Transfer betrieben wird, geändert haben. Aber ich hatte genauso Kollegen, die als Promovenden beispielsweise eher das Einzelhandelsgutachten für die Mittelstadt in der Nachbarschaft gemacht haben als den referierten Aufsatz zu schreiben und die anschließend in die angewandte Forschung oder die „Praxis“ gegangen sind. Und die standen dann auch, trotz befristeter Stellen, gerade dafür und haben vorm Gemeinderat, vor der Bürgerversammlung ihre Ergebnisse präsentiert. Ich glaube, dass es diese Personen immer gegeben hat und sich die Zeiten nur hinsichtlich der technischen Möglichkeiten geändert haben. Damit stellt sich aber auch die Frage, ob das eher die Wissenschaftler tun sollten oder eine z.B. eine spezialisierte Agentur: Die ganze Bandbreite gilt. Wir haben in unserem Institut eine intensive Diskussion darüber geführt; als wir ein Transferkonzept aufgestellt haben, hieß es: Wissenschaft ist dann glaubwürdig, wenn die Wissenschaftler den Transfer möglichst selber machen. Man sollte da nicht spezielle Beauftragte in den Instituten haben. Es gibt die Öffentlichkeitsarbeiter, die die Anbahnungen machen können, aber dann sollten Wissenschaftler die Glaubwürdigkeit durch ihre Person nach wie vor herstellen. Das kann nicht jeder gleich gut. Es liegt an uns, das möglichst zu schulen, auch den Umgang mit Journalisten. DS: Das sehe ich ganz ähnlich. Was auffällt: Vor ungefähr zehn Jahren sahen Sie auf einmal Stellenanzeigen ohne Ende, was die PR-Abteilungen oder heute auch IuK, also Informations- und Kommunikationsabteilungen von wissenschaftlichen Einrichtungen angeht. Das war früher eher eine zu vernachlässigende Größe … SL: Sofern es sie gab. DS: … sofern es sie überhaupt gab. Und da hat es ja – ich formuliere einmal neutral – einen „Professionalisierungsschub“ gegeben. Da wurde richtig aufgerüstet, und im Zeitalter der „Exzellenz“ wurden die Aktivitäten noch einmal verstärkt. Aber vom Selbstverständnis von Soziologen und Soziologinnen her sehe ich es ganz ähnlich. Was man wirklich schätzt, ist eine professionelle Unterstützung, eine Hilfestellung, wie man mit den Medien umgeht. Aber ich glaube, das ist auch kein erfolgreiches Konzept, Vermittler einzustellen oder anzusetzen nach der Devise: Hier habe ich mein sozio-

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logisches Wissen, jetzt mach’ etwas daraus. Es geht um eine professionelle Zusammenarbeit, aber es gibt inzwischen auch Untersuchungen über die Wissensvermittler, gerade an Hochschulen. Und wenn sich diese komplett verselbstständigt, haben beide Seiten nichts mehr davon. SL: Entscheidend ist, dass wir in der Steuerung von Wissenschaft auch Budgets in Form vor allem von Zeit vorsehen und dass die ProjektRhythmen, die wir so pflegen, mehr auseinandergezogen werden, um diese Art von Verwertung der Ergebnisse auch weiter vorzusehen.

6. AUSBLICK WvR: Machen wir zum Schluss den Sprung vom Raum zur Zeit – und zwar in die Zukunft: Erwarten Sie im „außerwissenschaftlichen“ Kontakt neue Themen und Verfahren für die Wissenschaften? Wäre der Wissenstransfer in diesem Kontext denn bedeutsam für Innovationen in Ihrer Disziplin? SL: Ich sehe durchaus eine Bedeutsamkeit. Das beinhaltet aber ein Verständnis von Transfer, das weiter gefasst ist. In dem engen Verständnis von Transfer ist der Wissenschaftler ja immer Wissenschaftler. Den gibt es gar nicht als Menschen, als Individuum. In einem weiteren Verständnis ist er aber ständig auch Individuum; er ist Normalbürger und nimmt als solcher ja Anregungen in den Themen auf, ohne dass er dabei sein Wissenschaftlersein verliert – beim Gespräch am Rande einer Party etwa, wo man beim Small Talk sagt: „Ach, du bist Geograf, was machst du denn so?“ Solche Gespräche, in denen Anregungen und Ideen ausgetauscht werden, sind mindestens ebenso wichtig für die Generierung einer neuen Forschungsfrage oder etwa eines innovativen DFG-Projekts wie die Diskussion unter Kollegen. Wir neigen nur dazu, diese Seite unserer Realität als Mitglieder der Gesellschaft zu ignorieren. Wenn ich jetzt dieses Extrembeispiel ein wenig abmildere, dann würde ich sagen, die Diskussion der Bürgerversammlung um die Quartiersentwicklung oder die Diskussion mit den Militärs der mittleren und oberen Ebene über Sicherheitspolitik im östlichen Europa sind mindestens ebenso wichtig wie die Diskussion mit den Peers über den Aufsatz, den ich gerade geschrieben habe und zu dem ich anonym ein Gutachten bekomme.

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Diese Schleifen jedoch, welche die Regenerierung unseres Wissensbestandes bedeuten, blenden wir meiner Meinung nach systematisch aus, und zwar aufgrund des von Frau Simon erwähnten Referenzsystems der referierten Zeitschriften. Dieser „außerwissenschaftliche“ Kontakt wird systematisch unterbewertet. Das bedeutet nicht, dass man jeden Kontakt mit einem Publikum als durchweg erfreulich und anregend erfährt. Aber man sollte trotzdem nicht unterschätzen, was man vermutlich mehr oder weniger unbewusst mit sich trägt als Erfahrungsgewinn aus solchen Begegnungen. Ich jedenfalls würde jeden Wissenschaftler immer dazu ermuntern – gerade auch junge Wissenschaftler, die oft dazu neigen, sich erst einmal zu entkoppeln von einer Öffentlichkeit, um sich in ihr Thema zu stürzen –, auch frühzeitig den Kontakt mit dem Publikum zu suchen, und zwar mit einem außerwissenschaftlichen Publikum. DS: Ich sehe das ganz ähnlich. Ich muss auch persönlich sagen, ich habe viel gelernt für meine Forschungsprojekte und Forschungsideen durch Debatten mit Personen, die sich in dem Themenfeld auskannten, aber halt in Verwaltungen gesessen haben oder in Unternehmen und politikberatenden Institutionen arbeiten oder Ähnlichem. Wir haben ja – um das noch einmal zu betonen – das außergewöhnliche Privileg der freien Verwendung unserer Informationen. In meinem Forschungsinstitut (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, WZB) können wir unsere Forschungsthemen frei wählen und betreiben nur in absoluten Ausnahmefällen Auftragsforschung. Und wenn wir im WZB sagen, wir müssen einen anderen Weg probieren, dann fällt diese Entscheidung erst einmal in den Bereich unserer Autonomie. Das ist das hohe Gut von Forschungseinrichtungen, die so agieren können und die nicht ausschließlich auf Aufträge von Dritten angewiesen sind. Das ist in der Tat dann ein anderes Spiel. Und aus der Innovationsforschung wissen wir, dass Innovationsprozesse auch initiiert werden durch vielfältigste Interaktionen heterogener Akteure. Uns ging es in dem gemeinsamen Projekt auch darum, dass Transferleistungen offiziell anerkannt werden als Leistungen von den Sozial- und Raumwissenschaften, anerkannt von den Institutionen und vom Wissenschaftssystem – auch um jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen eine Orientierung zu geben.

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SL: Ja, das schlägt den Bogen zurück zu dem, was wir ganz am Anfang gesagt haben, nämlich zu dem Streben nach Objektivierung in unserer Wissenschaft. Wir tun gern so, als würden wir jeweils – gerade in den Sozialwissenschaften, aber auch in den Raumwissenschaften – die Gegenstände, mit denen wir uns beschäftigen, unter Laborbedingungen behandeln können, als würden wir objektive Forschungssituationen schaffen können. Wenn wir uns damit mehr beschäftigen, dann können wir sagen: Die meisten Projekte – und auf keinen Fall die schlechtesten – sind Betroffenenforschung. Das heißt, die Wahrnehmung eines Problems in der problemorientierten Grundlagenforschung kommt durch ein Individuum, durch ein Subjekt zustande. Es kommt nicht von irgendwo herangeschwebt und landet dann auf unserem Schreibtisch, woraufhin wir die Frage daraus machen; sondern oft genug haben wir etwas erlebt, haben uns über etwas geärgert oder haben eine Anregung bekommen – gerade auch in der Auseinandersetzung mit der Präsentation von anderen Forschungsergebnissen. Und diesen ständigen Verwertungszyklus, in dem wir uns als Wissenschaftler verwirklichen, gilt es für ein Konzept von Wissenschaft deutlicher zu machen und zu zeigen, dass wir in unseren Disziplinen als Wissenschaftler eigentlich so etwas wie embedded science, also gesellschaftlich eingebettete Wissenschaft betreiben, ohne den Anspruch auf kritisches Wissen aufzugeben. Das wäre, denke ich, eine Lösung, um diese Exklusivität von Wissenschaft aufzubrechen und um von diesem sehr sterilen Transfergedanken einmal wegzukommen.

Die Soziologie als Beratung: Anwendungsabstinenz oder ein Berufsfeld? T ATJANA Z IMENKOVA

1. Z UR I MAGINATION DER

SOZIOLOGISCHEN

P RAXIS

Bereits vor der Neustrukturierung des Soziologiestudiums im Rahmen des Bologna-Prozesses haben sich die Studierenden im Fach die Frage gestellt, auf welche berufliche Praxis sie in ihrem Studium vorbereitet werden. Der Berufsverband Deutscher Soziologen forderte schon im Jahre 1984 eine Standardisierung des Studiums in der Soziologie (Berufsverband Deutscher Soziologen e.V. 1984), die auf eine Anpassung an die außerakademische 1 1

Es ist im Falle der Soziologie problematisch, Tätigkeitsfelder als außerwissenschaftlich zu beschreiben. Spätestens wenn man die Perspektive der (laut Selbstbeschreibung) soziologisch außerhalb des Wissenschaftsbetriebes Tätigen und im Fach Ausgebildeten einnimmt, stellt man fest, dass die „außerakademischen Tätigkeiten“ von ihnen als wissenschaftliche soziologische Tätigkeiten bezeichnet werden. Das könnte nach Meinung der Autorin daran liegen, dass es bis heute jenseits der Wissenschaft keine Konsolidierungsmöglichkeit und somit keine Entwicklung der außerwissenschaftlichen soziologischen Zugehörigkeit für die in Soziologie Ausgebildeten gibt (vgl. Zimenkova 2007). Wissenschaft bezeichnet in solchen Selbstdarstellungen nicht (nur) den Wissenschaftsbetrieb, sondern auch Zielsetzung und Modi der Wissensproduktion. Solch eine Selbstzuschreibung zur Wissenschaft auch außerhalb der „Akademia“ ist ein insbe-

100 | T ATJANA ZIMENKOVA

soziologische Berufstätigkeit abzielte. Auch dreißig Jahre später stellt sich immer noch die Frage, was denn ein außerakademischer soziologischer Beruf überhaupt wäre. Die einzige außerakademische Anwendung des soziologischen Wissens, welche bislang fachintern als legitim gilt, ist die Beratung, also das Zurverfügungstellen von soziologischer Expertise für eine Klientel zu deren eigenständiger Nutzung. Dabei wird Beratung nicht nur als eine mit Besonderheiten einhergehende Form der Professionalisierung in der Soziologie verstanden, sondern auch als eine Transferleistung betrachtet, die weder exklusive Berufsfelder für sich beansprucht oder benötigt noch eine direkte Intervention anstrebt. Dementsprechend ist sie ein professionelles Handeln, das weiterhin auf die wissenschaftliche Disziplin und in dieser Disziplin produziertes Wissen als einzige Quelle zurückgreift. Die besondere Rolle der Beratung in der Soziologie ist auf noch näher auszuführende soziologische Spezifika zurückzuführen, etwa auf die Verwendung einer komplizierten Sprache als Abgrenzungsmechanismus gegenüber Laien und zur Behauptung von Professionalität, auf NichtIntervention als Garant/Instrument zur Aufrechterhaltung von Wissenschaftlichkeit etc. (vgl. Zimenkova 2007). Der Terminus Beratung wird dabei sowohl von der wissenschaftlichen Disziplin Soziologie und von der Soziologie in ihrer Eigenschaft als Ausbildungsdisziplin als auch von ihrem Selbstverständnis nach außerakademischen Soziolog(inn)en als Dachbegriff für die Beschreibung von zulässigen soziologischen Tätigkeiten jenseits der Wissenschaft verwendet; „zulässig“ in dem Sinne, dass den beratenden Soziolog(inn)en durch das Ausüben dieser Tätigkeit nicht die Infragestellung ihrer Qualifikation durch die (imaginäre) soziologische Community droht. Beratungsleistung kann als eine spezifische Form des Transfers gelten (Froese et al. 2014: 6), in dem zwar ein Tausch von Wissen, nicht aber von Interventionspotenzial gegen Geld vorgesehen ist. Das Interventionspotenzial bleibt beim Transfer ausgeblendet oder gilt jedenfalls nicht als genuiner

sondere für die Betrachtung von Transferleistungen wichtiges Phänomen, weswegen in diesem Artikel für soziologische Tätigkeiten jenseits des Wissenschaftsbetriebes der Begriff außerakademisch gewählt wurde, ohne in die Diskussion einzusteigen, inwiefern sie auch als außerwissenschaftlich gelten (sollten).

D IE S OZIOLOGIE ALS B ERATUNG

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Bestandteil der Transferleistung, insofern diese auf der Ebene der Beratung bleibt. Anders gesagt: Die Klientel erhält zwar durch die Beratung Informationen, die sie ohne Rückgriff auf die Soziologie nicht erhalten hätte und die möglicherweise ihre Handlungspraxis verändern. Die Soziolog(inn)en in ihrer Rolle als Expert(inn)en zielen oder bestehen aber bei der Durchführung ihrer Intervention nicht darauf, dass ihr Wissen auch in die Praxis überführt und angewandt wird, sondern verstehen sich als Instanz zur Eröffnung möglicher Perspektiven oder der Erschließung von Komplexität. Ob die durch die Beratung vermittelten neuen Perspektiven auch zum Handeln verleiten, ob und vor allem, wie die Handlungspraxis der Klientel sich verändert, liegt also außerhalb des soziologischen Interesses. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wieso Beratung sowohl von Seiten akademischer als auch von Seiten nichtakademischer Soziolog(inn)en als (einzig) legitimer außerakademischer soziologischer Beruf definiert wird. Dabei geht es nicht um den Aspekt der Anwendbarkeit soziologischen Wissens per se, sondern vielmehr darum, welche Anwendungs- und Transfermöglichkeiten in Bezug auf soziologisches Wissen in der Selbstwahrnehmung der Disziplin und vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Professionalisierung (Abbott 1988; Ben-David 1961; Stichweh 1994 u. ö.) zulässig sind. Die Darstellungen in diesem Beitrag basieren auf empirischen Daten und Analyseergebnissen aus zwei von mir durchgeführten Studien. 2 Für

2

Das erste dieser Projekte ist meine Promotion „Soziologen in der Praxis: Grenzen und Grenzüberschreitungen eines disziplinären Selbstverständnisses“, die zweitausendsechs am Graduiertenkolleg „Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“ am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT) der Universität Bielefeld abgeschlossen (für die anteilige Finanzierung durch den DAAD bedankt sich die Autorin) und unter dem Titel „Die Praxis der Soziologie: Ausbildung, Wissenschaft, Beratung. Eine professionstheoretische Untersuchung“ zweitausendsieben veröffentlicht wurde (Zimenkova 2007). Bei dem zweiten Projekt handelt es sich um eine vergleichende Studie, die unter dem Titel „Academic Status Systems Study“ (2010–2011) am Center for Fundamental Research, Higher School of Economics, Russland (mit finanzieller Unterstützung des russischen Bildungsministeriums) das Zusammenspiel von symbolischen, administrativen und wirtschaftlichen Faktoren bei der Herausbildung der akademischen Statussysteme in Russland, Deutschland, Großbritannien, den USA

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mein Dissertationsprojekt habe ich über dreißig ein- bis zweistündige Leitfadeninterviews mit Professor(inn)en der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld sowie mit einigen zum Zeitpunkt der Untersuchung im Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen in Schlüsselpositionen tätigen Soziolog(inn)en 3 durchgeführt. Im Rahmen des Academic Status Systems Study-Projekts habe ich für die deutsche 4 Teilstudie acht Leitfadeninterviews mit als „Gatekeeper“ identifizierten akademischen Soziolog(inn)en durchgeführt (Professor[inn]en, Leiter und Leiterinnen großer Forschungsprojekte/Institute, Herausgeber/-innen relevanter Zeitschriften). 5 Die Interviews wurden nach den Konventionen des gesprächsanalytischen Transkriptionssystems (GAT) transkribiert (Selting et al. 1998) und sequenzanalytisch analysiert (Oevermann 1979, 1993; Wernet 2000). Die theoretische Einbettung der Analyseergebnisse erfolgte unter Rückgriff auf Professionalisierungstheorien in der Soziologie (Oevermann 1996, 2003; Stichweh 1994, 2005; Abbott 1988, Kühl/Tacke 2003; Kühl 2004), um die Frage nach Formen der Professionalisierung, Statusmerkmalen, Qualitätskontrollen und Regulierungen der Zugehörigkeiten in der Soziologie als Profession zu beantworten. Eine eingehende Erläuterung der sequenzanalytischen Interpretation (Oevermann 1979, 1993; Wernet 2000) der im Folgenden aufgeführten Zitate findet sich bereits in meiner Dissertationsschrift (Zimenkova 2007) und in meinem Dissertationsmanuskript (Zimenkova 2006), weswegen ich an dieser Stelle mit Hinweis auf diese Quellen auf eine erneute Schilderung sowie auf die ausführliche Erläuterung der Analyseergebnisse der einzelnen Zitate verzichte. Die im Folgenden aufgeführten Interviewzitate stellen nur einen kleinen Teil des empirischen Materials dar, das die Grundlage für meine Thesen

und Frankreich untersucht. Die Autorin war für die deutsche Teilstudie verantwortlich. 3

Detailliertere Angaben sind hier aufgrund der Anonymisierung leider nicht möglich.

4

Einen klassischen internationalen Vergleich der Soziologien mit Blick auf die Rahmung des Transfers kann dieser Beitrag nicht leisten – nicht zuletzt, weil die Historien der Entwicklungen nationaler Soziologien unterschiedliche Schwerpunktsetzungen zulassen. Es handelt sich in diesem Beitrag um die Ausarbeitung des empirischen Materials aus der deutschen Soziologie.

5

Weitere Angaben sind aufgrund der Anonymisierung nicht möglich.

D IE S OZIOLOGIE ALS B ERATUNG

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über die Kontextualisierung des Praxisbezugs der Soziologie durch akademische und außerakademische Soziolog(inn)en bildete und die Fragestellung, warum diese Kontextualisierung anhand des Beratungsbegriffes geschieht. Eine anhand der empirischen Daten ausdifferenzierte Definition des Beratungsbegriffs, die es ermöglicht, ihn in allen Facetten und Bedeutungen für die Transferleistungsproblematik deutlich zu machen, findet sich am Ende des vorliegenden Beitrags. Eingangs erlaube ich mir, mit einer reduzierten Definition zu beginnen: „Beratung ist eine berufliche Expertentätigkeit, die sich nicht auf exklusive Berufsfelder bezieht, sondern auf den Einsatz besonderer soziologischer Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen des Alltags und in den Berufsfeldern anderer Professionen. […] Soziologische Beratung unterstellt also die Anwendung soziologischen Wissens zur Weiterentwicklung des Wissens ihrer Klientel.“ (Zimenkova 2007: 109)

Natürlich erhebt der vorliegende Beitrag keinen Anspruch auf Repräsentativität – bei dem Individualisierungsgrad der Soziologie als Disziplin, aber auch als Berufspraxis, erweist sich allein der Wunsch nach Repräsentativität bereits als utopisch. Die im Folgenden entwickelten Thesen zu den Besonderheiten der soziologischen Profession gehen aber auf zentrale, in vielen Interviews wiederkehrende Argumentationspunkte zurück, die für einen soziologischen Selbstbeschreibungsdiskurs als kennzeichnend gelten können. Dieser von den Hochschullehrenden gepflegte Diskurs findet unweigerlich auch Einzug in die soziologische Ausbildung.

2. S OZIOLOGIE UND P RAXISBEZUG : Z WISCHEN B LASPHEMIE UND B ERUFSWUNSCH Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, wie die Berufsfeldvorstellung Beratung in der Soziologie entstanden ist, wieso die Soziologie ihrem außerakademischen Berufsfeld, beziehungsweise ihren Transferleistungen das Label „Beratung“ verleiht und warum das Prinzip der Nicht-Einmischung einen essenziellen Aspekt dieses Berufsbildes darstellt.

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Folgendes Zitat 6 eignet sich dazu, das Ausgangsproblem zu umreißen: „[…] gerade die Juristen und Mediziner, beratende Berufe, sind die, die mit viel mehr, als das Soziologen normalerweise tun, mit eben Nicht-Juristen und NichtMedizinern zu tun haben in einer beratenden Form, und da verstellt sich die Sprache [...] zwischen (Kommunikanten) und das find’ ich schon problematisch / Z: aber die Ärzte müssen das irgendwie können / I: Ja, sie sprechen dann zwei Sprachen, sie sprechen ’ne professionelle Sprache untereinander und ’ne andere mit den Patienten, aber sie haben auch Probleme umzusteigen, und sie haben Probleme, in der Alltagssprache zu erklären, was sie medizinisch eigentlich denken. Z: Würden Sie sagen, dass Soziologie auch eine wissenschaftliche und professionelle Sprache hat? I: Nein, weil es keine soziologische Profession in diesem engeren Sinne gibt, also es gibt die Soziologie als Wissenschaft, das ist ja eben hier, aber es gibt keinen speziel7

len Beruf für Soziologen in der Gesellschaft [Int16] .“ (Zimenkova 2007: 232).

Die Frage danach, ob soziologisches Wissen Nicht-Soziolog(inn)en zugänglich gemacht werden kann und soll und wenn ja, auf welchem Wege dies zu geschehen habe – mithin die Frage nach einer außerakademischen soziologischen Profession und nach den Möglichkeiten des Wissenstransfers aus der „Akademia“ in die „Nicht-Akademia“ – führt meine Interviewpartner/-innen zu der Überlegung, dass die Kommunikation zwischen Soziolog(inn)en und der Außenwelt der Soziologie sich insofern als schwierig erweist, als die Soziologie keine außerakademische Profession hat. Die Soziologie ist in der Wahrnehmung meiner Interviewpartner/-innen mit der Produktion des wissenschaftlichen Wissens und der gleichzeitigen Garantie eines Nicht-Interventionscharakters dieses Wissens gleichgesetzt.

6

Zum Zwecke der Lesbarkeit wurden die Zitate bereinigt, das heißt, etwa Pausenzeichen (.) wurden durch Punktation ersetzt, aber keine zusätzlichen Punktation hinzugefügt. Die für die Analyse benutzten Sequenzen sind unter Zimenkova (2007 und 2006) nachzulesen (siehe oben).

7

Die Kodierung [Int] verweist auf im Wissenschaftsbetrieb tätige Soziolog(inn)en, die Kodierung [Ext] auf außerhalb des Wissenschaftsbetriebes tätige, die Nummer in eckigen Klammern, hier etwa [Int16], ist die Kodiernummer des Interviews.

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Nach diesem Selbstverständnis kann soziologisches Wissen zwar von Nicht-Soziolog(inn)en mit der Zielsetzung der Intervention angewendet werden, nicht aber von Soziolog(inn)en– jedenfalls nicht, solange diese sich als solche verstehen und von ihrer Community auch als solche wahrgenommen, beziehungsweise anerkannt werden wollen. Wie das aufgeführte Zitat beispielhaft verdeutlicht, wird die Wissenschaftlichkeit der Soziologie in direkten Zusammenhang gesetzt mit der Unverständlichkeit der soziologischen Sprache für Außenstehende und insofern eine Grenze zwischen Soziologie und interventionsorientierter Nutzung soziologischen Wissens jenseits der Wissenschaft gezogen. Soziologie kann, so dieser Diskurs, schon alleine aufgrund der Kommunikationsunmöglichkeit keinen Transfer leisten und demzufolge auch nicht die außerakademische Lebenspraxis verändern (wollen). Dies wird – zumindest von den Angehörigen des Wissenschaftsbetriebes, die ja zugleich Angehörige der Ausbildungseinheit in der Soziologie sind – allerdings nicht als problematisch empfunden. An dieser Stelle ist ein Exkurs in die für den Beitrag relevanten Professionalisierungstheorien in der Soziologie notwendig. Was soziologisch unter Beruf, Profession oder Professionalisierung zu verstehen ist und welche Entwicklungen die soziologischen Diskussionen um diese Begriffe durchlaufen haben, ist im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht auch nur annähernd erschöpfend darzulegen. Grob skizziert, lassen sich jedoch zwei Stränge von Professionalisierungstheorien in der Soziologie unterscheiden. Einmal wird Professionalisierung als Institutionalisierung einer akademischen Disziplin verstanden, ein andermal von Professionalisierung als Prozess der Herausbildung eines Anwendungsbezugs (vgl. Zimenkova 2007: 72ff.) gesprochen: x

Professionalisierung als Institutionalisierung beziehungsweise Organisationsbildung der akademischen Disziplin (Klima 1976; Oevermann 2003, 1993), die eine Grenzziehung zwischen den Mitgliedern der Disziplin und denen anderer Disziplinen und Laien ermöglicht, dem disziplinären Wissen Exklusivität verleiht und Vergleichbarkeit der Qualifikationen unter den Professionsangehörigen sichert usw. Dieses Professionalisierungskonzept ist davon unberührt, ob sich zu einer professionalisierten Disziplin auch eine damit korrespondierende anwendungsbe-

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x

zogene Tätigkeit herausbildet (Parsons 1968), durch die Probleme eines Klienten/einer Klientin bearbeitet werden Professionalisierung als Prozess der Herausbildung eines (mit der akademischen Disziplin korrespondierenden) Anwendungsbezugs, bei dem der Bezug zum Problem eines Klienten/einer Klientin im Zentrum steht (Stichweh 1994).

Zum ersten Konzept gehören etwa die Entwicklung von Zertifikaten, Ethikcodices (Carr-Saunders/Wilson 1964; Hughes 1958; Weingart 1983: 236; Bledstein 1976) oder Curricula. Zu beiden Konzepten gehören Qualitätskriterien (inkl. Kontrolle des Zugangs zur Berufsausübung, vgl. Ben-David 1961; Oevermann 1990), professionelle Organisationen (Ben-David 1961: 113; Barber 1963) und Kontrollmechanismen (Oevermann 1990). Vom Standpunkt der ersten Definition aus betrachtet, weist die Soziologie als akademische Disziplin einige Besonderheiten (bzw. Defizite) auf, etwa das Fehlen eines Wissenskanons, der bei anderen akademischen Professionen (Jura, Medizin) als unabdingbares Merkmal der Professionszugehörigkeit gilt (Barber 1963: 672) und Vergleichbarkeit gewährleistet. Demgegenüber kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Personen, die ein Soziologiestudium absolviert haben, auch die gleichen Kompetenzen und das gleiche Wissen im Studium erworben haben (Grühn/Schneider 1985; Link 1985). Auch weitere in der soziologischen Professionalisierungstheorie als essenziell für die Herausbildung einer akademischen Profession betrachtete Kriterien – etwa anerkannte Qualitätskriterien und dazugehörige Mechanismen des Ausschlusses aus der professionellen Community bei Nichterfüllung dieser Kriterien (Guggenheim 2003) oder eine Kontrolle des Zugangs zur Berufsausübung (Ben-David 1961; Oevermann 1990) – fehlen in der Soziologie. Aber auch der zweiten Definition zufolge, wonach Professionalisierung als Prozess der Herausbildung eines (mit der akademischen Disziplin korrespondierenden) Anwendungsbezugs zu verstehen ist, erweist sich die Beschreibung der Professionalisierung der Soziologie als problematisch. So lassen sich keine eindeutigen außerakademischen Strukturierungen des soziologischen Berufsfeldes herausarbeiten, es fehlt beispielsweise an Kriterien für die Professionalität, wie sie in anderen Berufen vorhanden sind, an der Abgrenzung eines Arbeitsfeldes usw. (vgl. etwa Abbot 1988; Stichweh 1994, 2000, 2005; Oevermann 1996; Parsons 1959; Dewe 1991).

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Die Soziologie lässt sich demzufolge anhand ihrer eigenen Professionalisierungstheorien weder als professionalisierte wissenschaftliche Disziplin noch als professionalisierter außerwissenschaftlicher Anwendungsbezug beschreiben. Aufgrund des Fehlens eines die Angehörigen der Profession exklusiv auszeichnenden Wissenskanons, des Fehlens von Qualitätskriterien und Qualitätskontrollen sowie von Mechanismen des Ausschlusses aus der Community erweist sich auch die Positionierung von Soziolog(inn)en als Expert(inn)en gegenüber Nicht-Soziolog(inn)en, also ihrer potenziellen Klientel, als problematisch. Umso interessanter ist es, dass sowohl Soziolog(inn)en innerhalb als auch solche außerhalb des Wissenschaftsbetriebes, immer wieder auf das Berufsbild der Beratung verweisen, wenn es um die Beschreibung von außerakademischen soziologischen Tätigkeiten geht. Warum ist das so? Inwiefern vermag das Berufsbild der Beratung eine Antwort auf die (unvollständige?) Professionalisierung der Soziologie als Disziplin und auf das Fehlen eines Anwendungsbezugs zu geben und inwiefern kann die Beratungstätigkeit von Soziolog(inn)en als Transferleistung gelten? Meines Erachtens ist das Fehlen der beschriebenen Kriterien für den Professionalisierungsprozess (Zertifikate, Ethikcodices, Kriterien der Qualitätsprüfung, Exklusionsmechanismen etc.) essenziell in Hinblick auf eine Erklärung der zentralen Rolle des Beratungskonzeptes in den (Selbst-)Beschreibungen der soziologischen Praxis. Um die Frage nach der Bedeutung der Beratung als Tätigkeit beziehungsweise nach der Möglichkeit der Transferleistungen der Soziolog(inn) zu beantworten, sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) folgende Begriffe der Profession/des Berufes relevant: x x

wissenschaftliche Profession, die nicht mit der Lösung der Probleme einer konkreten Klientel verbunden ist (Oevermann 1996 und 2003); außerwissenschaftlicher soziologischer Beruf (Berufssoziologie) – anwendungsbezogene Soziologie, die das wissenschaftliche soziologische Wissen in einer Praxis mit Klientelbezug anwendet.

Diese beiden Begriffe beschreiben einerseits die Grundunterscheidung zwischen dem Idealtypus Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung (Froese et al. 2014: 3) und sind andererseits wichtig, um Beratung zu beschreiben. Entspricht Beratung, wie sie in der Soziologie ge-

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rahmt wird, dem Hybridtypus der problemorientierten Grundlagenforschung (ebd.)? Und wie wird sie im innersoziologischen Diskurs gerahmt?

3. S OZIOLOGIE UND P RAXIS : T RANSFERLEISTUNGSDEFIZITE

DER

S OZIOLOGIE ?

Wie stellt sich die Praxis der Soziologie im innersoziologischen Diskurs dar? Und welche Möglichkeiten außerwissenschaftlicher soziologischer Berufe werden wahrgenommen? Eine Explikation dessen, was als soziologische Tätigkeiten und als soziologische Berufe zu betrachten sei, fiel sowohl den Interviewten aus dem akademischen als auch denen aus dem außerakademischen Betrieb schwer. Die Schwierigkeiten mit einer Rahmung und Definition des außerwissenschaftlichen soziologischen Berufes sind durchaus vielschichtig. In ihren Selbstbeschreibungen mittels der Professionalisierungstheorien vergleicht sich die Soziologie gerne mit den sogenannten „klassischen“ Professionen (Abbott 1988), die sich durch Merkmale wie geschlossene Zünfte, klar definierbare Qualifikationen, Exklusivität des professionellen Feldes und Klient(inn)en-Bezug sowie Expertentum (ebd.) auszeichnen. Ungeachtet der Veränderungen durch Technologieentwicklungen, neue Prozesse der Wissensgenerierung sowie einer Interdisziplinarität der Expertise (vgl. Vogd 2002), denen auch diese klassischen Professionen unterliegen, gelten Disziplinen wie Medizin oder Jura im soziologischen Professionalisierungsdiskurs weiterhin als Idealtypen der Professionen, eine Ansicht, die auch in den Interviewdaten zum Ausdruck kommt. Dabei ergibt sich aus der empirischen Untersuchung, dass der Soziologie im Vergleich zu „klassischen“ Professionen einige Besonderheiten oder vielmehr Defizite in Bezug auf die Anwendung oder mögliche Transferleistungen zugeschrieben werden, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 3.1 Hat die Soziologie einen exklusiven Gegenstand? Die Soziologie hat Schwierigkeiten, einen exklusiven fachspezifischen Gegenstand zu definieren, beziehungsweise für sich zu beanspruchen. Der Gegenstand der Soziologie – wie auch immer dieser definiert werden könnte (Goldenberg 1997), ob als die Gesellschaft im Ganzen, das soziale Ver-

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halten oder das Zusammenleben der Menschen – sichert ihr jedenfalls kein ausschließlich ihren eigenen Kompetenzen zugängliches Berufsfeld. Ihren Gegenstand und dessen Betrachtung teilt die Soziologie vielmehr mit Angehörigen anderer Professionen sowie mit Laien. Das Proprium der Soziologie besteht ihren eigenen Theorien zufolge eher in einer besonderen Betrachtungsweise, die Soziolog(inn)en sich aneignen und nie wieder aufgeben können (Goldenberg 1997: 49), worunter aber kein methodisches Handwerkszeug zu verstehen ist, sondern etwas eher Undefinierbares wie „the sociological imagination“ (Mills 1959). „[…] gerade der Umstand, dass eben die Soziologen auch Menschen wie alle anderen sind […] und deshalb auch sehr viele Laien den Soziologen sagen: Was ihr sagt, das habe ich mir auch schon überlegen können […] dadurch wird man ja permanent frustriert, dass also eigentlich die Wissenschaftlichkeit unseres Tuns dem Laien sehr schwer vermittelbar ist […] was wir tun, man könnte fast sagen, es ist am vollkommensten, wenn man den Wissenschaftscharakter nicht mehr ansieht, wenn wir […] das ist meine Auffassung, zunächst dann muss (sich) der Soziologe sich von seinem Gegenstand deshalb gerade so angestrengt distanzieren, weil er Teil von ihm ist, deshalb sage ich normalerweise einem, um ein guter Soziologe zu werden, muss man irgendwelche biografischen Brüche gehabt haben [Int02].“ (Zimenkova 2007: 57)

Auf die Frage nach den wahrnehmbaren Leistungen sowie nach einem auch Fachfremden ersichtlichen exklusiven Wissen und Können von Soziolog(inn)en, also nach den Kriterien, die für das Herausbilden eines außerakademischen Berufes essenziell sind, sowie auf die Frage, wie gute Soziolog(inn)en entstehen, verweisen gestandene akademische Soziolog(inn)en auf die Schwierigkeit, Außenstehenden zu vermitteln, worin eigentlich die Exklusivität des soziologischen Wissens und folglich die spezifisch soziologische Expertise besteht. Damit noch nicht genug, die soziologischen Kompetenzen – worunter all das zu verstehen ist, was die Professionsangehörigen im Unterschied zu ihrer Klientel erlernt haben und anwenden können sollten – seien keine erlernten Fertigkeiten, sondern werden (wie dem obigen Zitat zu entnehmen ist) als etwas nahezu Mystisches beschrieben, als etwas Schicksalhaftes („biografische Brüche“). Diese genuin soziologischen Kompetenzen sind folglich für Außenstehende nicht wahrnehmbar und nicht erlernbar. Was bedeutet das für die

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Möglichkeit, einen außerakademischen Beruf zu etablieren und sich anderen Professionen oder der eigenen Klientel gegenüber als Expert(inn)en zu behaupten? „[…] und ich habe gelegentlich Soziologen, die in der Praxis sind, zum Beispiel in den Unternehmensberatungsfirmen tätig sind, gefragt: Sie sind in der Unternehmensberatungsfirma, sie konkurrieren dort mit Betriebswirten, mit Volkswirten, mit Psychologen und, und, und, was (haben Sie dann) bleibt das Gefühl, was sie besser können, als die anderen? Eine Antwort, die ich mehrfach bekommen habe und die mir sehr einleuchtend war: Wir können besser mit schlecht definierten Problemen umgehen, also der Ökonom, wenn er sein Problem einmal eindeutig definiert hat, dass er anfangen kann zu rechnen, dann rechnet er viel besser als wir, aber eben diese Diagnose, zuerst mal erkennen, worum es sich dabei überhaupt handelt, und in der sozialen Wirklichkeit handelt es sich sehr häufig um Dinge, die nicht eindeutig (definierbar) sind[…] und sich dann darauf noch einen Reim zu machen, das scheint etwas zu sein, was diese undisziplinierte Disziplin, wie man die Soziologie ja auch schon genannt hat, besser kann, als die stärker paradigmatisch verfestigten Disziplinen: Rechtswissenschaft, Ökonomie und so weiter [Int02].“ (Zimenkova 2007: 58)

Die Kompetenz und (wie unschwer zu erkennen) zugleich die Schwierigkeit der Soziologie 8 besteht also darin, dass sie undefinierbare Probleme zu definieren und dann an andere Disziplinen zu übergeben vermag, die mit diesen Problemen besser umgehen können, sobald die Soziologie ihnen erst einmal geholfen hat, diese zu erkennen. Um in der Praxis erfolgreich und überhaupt nachgefragt zu sein, muss die Soziologie anderen Disziplinen aber zunächst greifbar machen, dass ihre eigenen Kompetenzen zentral für die Ermöglichung der Problemlösung durch diese anderen sind. Noch schärfer formuliert: Es ist potenziellen Klient(inn)en der Soziologie nicht ohne Weiteres möglich, die spezifisch soziologische Leistung überhaupt wahrzunehmen. Denn die Leistung der Soziologie besteht darin, dass sie Probleme diagnostizieren und rahmen kann, auf die die anderen Disziplinen „sich keinen Reim machen können“.

8

Interessanterweise ist „sociological imagination“ ein Teil des Titels der für zweitausendfünfzehn geplanten Konferenz der European Sociological Association, vgl. http://www.esa12thconference.eu/ (Zugriff vom 28.11.2014).

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So verstanden, bestünde die exklusive Leistung zumindest der praxisorientierten Soziologie darin, einen exklusiven, zunächst nur ihr selbst verständlichen Gegenstand zu besitzen und (mögliche) Klient(inn)en davon überzeugen zu können, diesen Gegenstand als Problem wahr- und sich seiner anzunehmen. So gewinnt die Soziologie zwar einen exklusiven Gegenstand (die Definition von Problemen), welcher jedoch für Nicht-Soziolog(inn)en nicht sichtbar ist – was den Klient(inn)en-Bezug erschwert. 3.2 Methoden und Kompetenzen im Umgang mit dem Gegenstand Dass wissenschaftliche Disziplinen oder Professionen sich das Interesse an ein und demselben Gegenstand teilen, ist per se noch kein Hinweis auf ein Defizit der Professionalisierung. Problematisch wird die Beanspruchung eines exklusiven Berufsfeldes erst, wenn eine Profession nicht die Exklusivität der Kompetenzen im Umgang mit dem entsprechenden Gegenstand nachzuweisen vermag. Daher bezeichnen meine Interviewpartner/-innen es als ein besonderes Problem der Soziologie, dass auch ihre im Studium vermittelten Methoden nicht exklusiv sind und sie in Bezug auf die außerakademische Berufspraxis keine Methoden-Gegenstand-Kombination (vgl. Kühl/Tacke 2003) vorweisen kann, die nicht von einer anderen Profession (Psychologie, Statistik, VWL, Erziehungswissenschaften etc.) ebenfalls angewendet würde. Dasselbe gilt für den Feldzugang (also die Kontaktaufnahme mit den zu beforschenden Gruppen und forschungsfeldspezifischen Besonderheiten der Datenerhebung) der Soziologie. Die Nicht-Exklusivität von Gegenstand, Methoden und Feldzugang der Soziologie führt in Kombination mit der oben dargelegten Überzeugung von besonderen Kompetenzen der Gegenstandsbetrachtung („thinking sociologically“, Goldberg 1997), der Definition des Undefinierbaren, der Vorbereitung des Feldes für andere Disziplinen zum Herausbilden einer besonderen Selbstwahrnehmung der Soziologie als einer Tandem-Disziplin 9 oder in den Worten Ulrich Becks: Die soziologische Praxistätigkeit setzt in diesem Sinne „mindestens eine Dreiecksbeziehung“ voraus (Beck 1985: 138). Tandem-Disziplin meint eine Disziplin, die anderen Disziplinen sowie Expert(inn)en bzw. in dem Feld tätigen Repräsentant(inn)en anderer

9

Ich bedanke mich bei Wolfgang Krohn für diesen Terminus.

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Professionen zuarbeitet und die finale Problemlösung an die anderen überträgt. Kann aber eine solche Zuarbeit als exklusives Berufsfeld gelten? Und (wie) lassen sich die genannten soziologischen Kompetenzen auch nach außen als solche kommunizieren? 3.3 Sprache als Zugehörigkeitsmerkmal Wie aus dem zuvor Gesagten hervorgeht, steht die Soziologie anderen Disziplinen, aber auch Laien gegenüber vor der Herausforderung, zu demonstrieren, dass sie über exklusives, „hartes“ Wissen verfügt. Den Beweis ihrer Wissenschaftlichkeit versucht sie, wie meine Daten zeigen, durch eine Verkomplizierung der Sprache zu erbringen. Der Nicht-Bereitschaft, über den soziologischen Gegenstand anschlussfähig zu kommunizieren, liegt also die Befürchtung zugrunde, das soziologische Wissen drohe bei sprachlicher Vereinfachung seine Exklusivität/Wissenschaftlichkeit zu verlieren (Zimenkova 2007: 221ff., aber auch Kühl 2004; Kühl/Tacke 2003). Das Beherrschen einer (Nicht-Soziolog(inn)en kaum verständlichen) soziologischen Fachsprache dient dabei in Ermangelung anderer Möglichkeiten offenbar als Mechanismus der Zugehörigkeitsherstellung in der Soziologie, als Beweis für die erfolgreiche Sozialisation oder Integration in die Soziologie. Zwar gilt für jede wissenschaftliche Disziplin, dass sie im Besitz einer Fachsprache ist, die zur Erleichterung, Verschlüsselung, aber auch zur Verkürzung der Kommunikation dient, da sie die Implikation bestimmter Wissensblöcke ermöglicht (zum Überblick vgl. Steinhoff 2007). Diese wird aber in der Regel vereinfacht, übersetzt oder entschlackt, wenn es um die Kommunikation mit Laien und einer möglichen Klientel geht. Von anderen Professionen unterscheidet sich die Soziologie in dieser Hinsicht gerade dadurch, dass die soziologische Community (die einzige Institution, die die Zugehörigkeit und damit die Professionalität eines Soziologen oder einer Soziologin bestätigen kann [Zimenkova 2007] eine vereinfachte Sprache als Zeichen des Qualifikations- oder Qualitätsverlustes deutet. Im Vergleich: Die Ärztekammer etwa wird eine Kollegin nicht als eine schlecht qualifizierte Ärztin betrachten, weil sie einem Patienten ohne Rückgriff auf lateinische Fachtermini seinen Gesundheitszustand und mögliche Behandlungsformen zu erklären vermag.

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Das Beherrschen und Verwenden des Fachjargons ist, da es sich dabei in der Soziologie um einen Mechanismus der Zugehörigkeitsetablierung handelt, vor allem in der Phase der Etablierung in der Profession essenziell: „Ich, glaub Ich glaub, (jüngere Leute) wollen ihre ganze Wissenschaftlichkeit, durch die Art, wie sie sprechen dann auch [zum…] Ausdruck bringen und das macht es für’n Leser nicht so schön für’n Hörer auch nicht so gut. Wenn sie dann sagen, na ja gut, ich hab’s nicht mehr nötig, mich als besonders komplex denkenden und also ganz hoch ausgewiesenen Akademiker zu präsentieren, sondern sehe das eher locker, dann kann man glaub ich einfacher und klarer darüber [über soziologische Theorien und Befunde] reden, als wenn man das noch nicht so gelernt hat wie ein junger Mensch das wegen des Selbstbildes, des Images, das man von sich selber hat, muss er unbedingt kompliziert und [...] hochgestochen reden [Int19].“ (Zimenkova 2007: 243)

Die Nicht-Anschlussfähigkeit gilt somit innersoziologisch nicht als Problem, sondern wird im Gegenteil zum Beweis der Wissenschaftlichkeit. Zwar liest sich die Aussage in der zitierten Sequenz so, als entschieden sich jüngere Soziolog(inn)en bewusst für die Wissenschaftlichkeit und gegen die Verständlichkeit – und das heißt, auch gegen die Transferierbarkeit ihres Wissens nach außen. Die Freiwilligkeit solch einer Entscheidung für die Verkomplizierung der Sprache ist jedoch zu bezweifeln, angesichts der Tatsache, dass es nach Auffassung der interviewten Person erst nach der Etablierung im eigenen Berufsfeld möglich wird, auf die Selbstpräsentation als Akademiker/-in mit komplexer Denkweise zu verzichten und es „locker“ zu nehmen. Meine Daten zeigen, dass die soziologische Sprache in Abwesenheit anderer Mechanismen der Wissenschaftlichkeitskontrolle eine Integrationsfunktion der Profession nach innen und eine Abgrenzungsfunktion nach außen übernimmt. Ferner zeigen die Daten, dass der Diskurs über das Sprachproblem eine identitätsstiftende Funktion hat. Das Kommunizieren über die gemeinsame Besonderheit, die in der kommunikativen Abgegrenztheit der Soziolog(inn)en von Fachfremden besteht, bestätigt diskursiv sowohl die Exklusivität der Soziologie als auch die Existenz einer Community. Auch die nicht in der Wissenschaft tätigen Soziolog(inn)en pflegen, wie die Daten zeigen (Zimenkova 2007: 256ff.), den Diskurs über das Sprachproblem der Soziologie. Die Nicht-Anschlussfähigkeit der Sprache

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stellt demzufolge eine Barriere für die Transferleistungen dar, ihre Einfachheit und Anschlussfähigkeit ist hingegen ein Problem für die Anerkennung durch die Community und für die Selbstwahrnehmung als Soziolog(inn)en. Die Pflege des Sprachproblemdiskurses erfüllt – vor allem nach innen, aber auch nach außen – einen Zweck: Sie ermöglicht es, die Grenzziehungs- und mithin Identitätsbildungsfunktion der soziologischen Sprache beizubehalten und zugleich einen Transfer des Wissens als Option nicht gänzlich auszuschließen. Den Transferleistungen wird diskursiv eine Übersetzungsleistung vorgeschaltet (vgl. dazu etwa Habermas 1981; Beck 1982; Rossi/Whyte 1983: 15; Harrach 1995: 185; Bulmer 1986: 14) und damit nach außen kommuniziert, dass man als Klient/-in eine auf den eigenen Bedarf zugeschnittene, verständlich formulierte soziologische Expertise erhält, hinter der ein anderen Wissenschaften vergleichbares „hartes“, exklusives und Laien ebenfalls nicht verständliches Wissen steckt. Die Pflege des Sprachproblemdiskurses wird mithin zum Beweis der Wissenschaftlichkeit von Soziologie und der Zugehörigkeit von Soziolog(inn)en zur (imaginierten) Community der Soziolog(inn)en. Durch die Pflege dieses Diskurses oder den Hinweis auf die besondere Fähigkeit zum Lösen des Sprachproblems gelingt außerakademisch tätigen Soziolog(inn)en eine Rückbindung an ihre wissenschaftliche Disziplin, indem sie sich als echte Soziolog(inn)en positionieren, also als Wissenschaftler/-innen, die während ihrer Ausbildung eine unverständliche Sprache internalisiert haben und in der Praxis erst lernen mussten, dass eine Übersetzung in eine andere Sprache, die sie sich mühsam angeeignet haben, möglich ist. Zusammengenommen ergeben all diese Kriterien der Selbstpositionierung der Soziologie – die Pflege des Sprachproblemdiskurses, die Wahrnehmung der eigenen Expertise als Definition von undefinierbaren Problemen, die Selbstpositionierung als Tandem-Disziplin, die Handlungsfelder für andere Professionen vorbereitet – dass Soziolog(inn)en nicht Teil des Praxisfeldes werden, sondern in gewisser Distanz zu ihm bleiben. Es sind beratende Expert(inn)en, die hinzugezogen werden können, um kurzzeitig nach außen verständlich zu kommunizieren, um für die anderen das Feld klar zu strukturieren und es dann den anderen zu überlassen.

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3.4 Gesellschaftlicher Auftrag Ein weiteres für die Soziologie charakteristisches Merkmal, das aus den drei zuvor beschriebenen Besonderheiten (Defiziten?) der Soziologe entweder entsteht oder – zumindest für meine Interviewpartner/-innen nicht leicht zu entscheiden – diese nur hinzukommend erschwert, ergibt sich aus der Tatsache, dass an die Soziologie im Vergleich zu den klassischen Professionen kein oder nur ein unklarer gesellschaftlicher Auftrag gerichtet wird und dieser überdies in der Soziologieausbildung auch kaum eine Rolle spielt. Ob es solch eines Auftrages bedarf, ob Soziologie alternativ für sich selbst Einflussfelder definieren will oder ob sie eine auf Einmischung verzichtende Selbstreflexion der Gesellschaft bleiben sollte, ist eine weitere Diskussion, die in der Soziologie national und international mit einer gewissen Regelmäßigkeit geführt wird (siehe etwa die Diskussionen um die public sociology (Burawoy 2005). Im vorliegenden Zusammenhang mag der Hinweis genügen, dass meine Interviewpartner/-innen das Fehlen solch eines gesellschaftlichen Auftrages jedenfalls für eine weitere Ursache der Schwierigkeit halten, feste soziologische Berufsfelder jenseits des Wissenschaftsbetriebes zu etablieren und Nicht-Soziolog(inn)en soziologische Expertise verständlich zu machen.

4. Q UINTESSENZ ODER Q UELLE DER D EFIZITE ? H ERAUSFORDERUNG DER SOZIOLOGISCHEN S ELBSTWAHRNEHMUNG UND T RANSFERLEISTUNGEN Die exklusiven Kompetenzen der Soziolog(inn)en sind (Fachfremden) unklar, ebenso das Berufsfeld der Soziologie; es ist ferner nicht mit Bestimmtheit festzustellen, ob die Soziologie für eine potenzielle Klientel etwas Exklusives leisten kann. Die Vereinfachung der Sprache für den Transfer ist mit dem Risiko des disziplinären Zugehörigkeitsverlustes verbunden – und nicht zuletzt fehlt es der Soziologie auch noch an einem gesellschaftlichen Auftrag. Damit kommen allerhand Herausforderungen für die außerakademischen Tätigkeiten sowie die Transferleistungen von Soziolog(inn)en zusammen – und eine weitere hat bislang keine Erwähnung gefunden. Die

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Soziologie legt auf die Transferierbarkeit ihres Wissens selbst keinen Wert, wie es sich zumindest beispielhaft aus einem Interview ergibt: „[…] die Soziologie hat ja in den siebziger Jahren durch die Übernahme des Soziologenjargons hier den Anschluss [zum breiten Publikum] bis heute wohl sich verdorben, denn sie steht unter dem Verdacht, dass sie sich nicht verständlich äußern kann, ein Verdacht, der dann ja den größeren Verdacht nach sich zieht, dass sie auch gar nicht verständlich denkt und dass sie eben sich eigentlich gar nicht gesellschaftlich beteiligen kann, weil ihre Denkweise der Gesellschaft nicht vermittelt werden kann, weil die Soziologie die Gesellschaft als solche nur in ihren Kategorien wahrnimmt und nicht in einheimischen Kategorien, und da ist sicher für […] ein Chemophysiker käme ja auch nicht auf den Gedanken, in chemophysikalischen Formeln die Bedeutung seiner Forschung darzulegen, da hat die Soziologie sicher immer noch ein Defizit bis in die Gegenwart, weil der innerprofessionelle Diskurs natürlich darauf keine Rücksicht nehmen muss [Int12].“ (Zimenkova 2007: 237)

Auch hier bleibt unbestimmt, warum die Soziologie es in der Wahrnehmung vieler Soziolog(inn)en nötig hat, soziologisches Wissen außerhalb der Wissenschaft anzuwenden oder zu kommunizieren. Ist diese Selbstwahrnehmung der Grund für oder die Folge aus oben beschriebenen Defiziten in Bezug auf die Transferleistung? Geht das Desinteresse am Transfer lediglich auf die identitätsstiftende Funktion der Fachsprache zurück, wonach das Nach-außen-nichtverständlich-Sein gleichgesetzt wird mit soziologisch sein? Oder sind die Schwierigkeiten in den Transferleistungen darauf zurückzuführen, dass die ausbildende Disziplin auf die Transferfähigkeit soziologischen Wissens meint verzichten zu können, weil sie sich keinem gesellschaftlichen Auftrag verpflichtet fühlt, beziehungsweise sogar die Möglichkeit eines solchen Auftrages ablehnt? Beide Überlegungen wurden im Rahmen meiner empirischer Untersuchungen von den Interviewten mit dem immer wiederkehrenden Hinweis zurückgewiesen, die Trennung zwischen akademischer Disziplin (mit wissenschaftlichen Fragen befasst) und soziologischer Praxis (mit Anwendungsbezug) sei klar und bedürfe keiner näheren Betrachtung. Dass diese Erklärung der beruflichen Realität von nichtakademischen Soziolog(inn)en allerdings nicht gerecht wird, dürfte weiter oben vor allem mit Bezug auf das Sprachproblem deutlich geworden sein.

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Angesichts der Tatsache, dass für Soziolog(inn)en keine außerhalb des Wissenschaftssystems gültigen Exklusivitätsbeweise (oder Exklusionsmöglichkeiten aus der Zunft) existieren und dass die Wissenschaftlichkeit der Sprache auch für außerhalb des Wissenschaftsbetriebs tätige Soziolog(inn)en ein identitätsstiftendes Merkmal darstellt, wird das Dilemma deutlich, das aus der Entscheidung für eine Transferleistung folgt: Wie kann es Soziolog(inn)en gelingen, ihre Fachidentität aufrechtzuerhalten, ihr Wissen als professionell und exklusiv zu behaupten und zugleich anschlussfähig an die Außenwelt zu sein? Die wissenschaftliche Soziologie, das heißt die ausbildende Disziplin, bereitet ihre Absolvent(inn)en nicht auf einen soziologischen Wissenstransfer vor, sondern vermittelt ihnen vielmehr, dass die außersoziologische Anwendung der Soziologie mit der Gefahr der Entsoziologisierung des Wissens einhergeht (Kühl 2004; Kühl/Tacke 2003). Auch für nichtakademische Soziolog(inn)en wird die akademische Disziplin als einzig gültiger Referenzrahmen positioniert (Hirsch-Kreinsen 2003; Stichweh 1994: 324) und den meisten Fachangehörigen bleiben Tätigkeiten als Soziologe/Soziologin außerhalb der Wissenschaft oder von noch nicht wissenschaftlichen Berufen unbekannt: „[…] aber ich hab’ den Eindruck, dass die meisten sich eher doch an die Wissenschaftler [halten], dass die meisten, die Sozialwissenschaft studieren, sich […] eher mit der Wissenschaft [beschäftigen], ich will das auch nicht beurteilen […]. Z: Aber es kann doch nicht sein, dass alle da bleiben wollen. I: Doch, viele, ich hab den Eindruck, dass viele, die Sozialwissenschaft studieren, auch sozialwissenschaftlich forschend tätig sein wollen, weil die meisten auch gar nicht wissen, dass es die sozialwissenschaftliche Praxis ist. Also, ich glaub, wir haben da sehr viel Mühe immer noch, als Verband (BDS – TZ) deutlich zu machen, dass es wirklich eine […] entwickelte und auch sehr vielschichtige Praxis der (Soziologie) gibt, also es sind Tausende von Berufsfeldern [Ext04].“ (Zimenkova 2007: 104)

Die Bedeutung dieser Ausblendung der Transferleistungen und der soziologischen Berufsfelder außerhalb des Wissenschaftsbetriebes ist in den empirischen Daten sichtbar. Gefragt nach ihrer Tätigkeit als Soziolog(inn)en antworten die nichtakademisch Beschäftigten unter den von mir Interviewten (zum Zeitpunkt der Untersuchung allesamt in Schlüsselpositionen des

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Berufsverbandes Deutscher Soziologinnen und Soziologen tätig 10) immer wieder, sie erwarteten von sich selbst Theorieleistungen. Derartige Vorstellungen sind selbst in solchen Berufsfeldern anzutreffen, die weder Theorieleistungen ermöglichen noch fordern. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Soziologie als ausbildende Disziplin keine Erfahrungen mit Klient(inn)en-Orientierung hat und auch eine Notwendigkeit des Transfers in der Ausbildung nicht thematisiert wird. Am obigen Zitat wird allerdings deutlich, dass ein erfolgreicher außerakademischer Soziologe nichtsdestotrotz die Ansicht vertritt, es gebe eine berufliche Praxis der Soziologie, und darauf hinweist, diese sei vielfältig und damit undefinierbar. Auch der Verband der nicht im Wissenschaftsbetrieb tätigen Soziolog(inn)en betrachtet es als seine Aufgabe, den Soziologieabsolvent(inn)en zu zeigen, dass es auch eine Soziologie jenseits der Wissenschaft gibt.

5. B ERATUNG : ANTWORT

AUF WELCHE

F RAGE ?

Zusammenfassend kann mit Bezug auf die Transferierbarkeit und Anwendung des soziologischen Wissens festgehalten werden, dass die ausbildende Disziplin kaum Vorstellungen von der außerakademischen Tätigkeit der Soziolog(inn)en hat, diese in der Ausbildung ausblendet und den Wissenstransfer in der Soziologie zumindest als kritisch ansieht. Darunter leidet die Anschlussfähigkeit der Soziologie an die Lebenswirklichkeit einer möglichen Klientel ebenso wie die Kommunizierbarkeit des soziologischen Wissens an Nicht- Soziolog(inn)en, weil beides unter Umständen innerhalb der soziologischen Community als Zeichen der Nichtwissenschaftlichkeit des Wissens kritisiert wird. Die (deutsche) 11 Soziologie versteht sich als wis-

10 Weitere Spezifizierung ist hier aufgrund der Anonymisierung leider nicht möglich. 11 Zwei Phänomene weisen darauf hin, dass diese Besonderheiten in der deutschen Soziologie stärker ausgeprägt (oder stärker reflektiert) zu sein scheinen als in den anderen nationalen Soziologien. Zum einen wurde der Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen als in Europa erste und einzige Berufsvereinigung für Soziolog(inn)en außerhalb der Wissenschaft gegründet. Die Gründung der Organisation ist als Versuch zu sehen, weiterhin zu den Sozio-

D IE S OZIOLOGIE ALS B ERATUNG

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senschaftliche Soziologie ohne klar strukturierte Formen der außerakademischen Wissensanwendung, beziehungsweise des außerakademischen Wissenstransfers, und eine Zugehörigkeit zum Fach kann nur mit wissenschaftlichen Mitteln hergestellt werden. Demzufolge versuchen auch außerakademisch tätige Soziolog(inn)en, eine Verbindung zur akademischen Disziplin aufrechtzuerhalten und bezeichnen ihre Tätigkeiten als wissenschaftsnah. Einerseits stehen ihnen keine Möglichkeiten zur Verfügung, ihr professionelles Tun als soziologisch und zugleich nichtwissenschaftlich zu positionieren. Andererseits fällt es ihnen selbst schwer, soziologische Beschäftigungen jenseits des Wissenschaftsbetriebes zu definieren. Folglich steht eine Soziologie, die einen außerakademischen Bezug wagen will, vor der Frage: Wie kann man sich einem diffusen nichtexklusiven Gegenstand mithilfe nichtexklusiver Methoden so nähern, dass die Klientel die angebotene Expertise vertrauenswürdig und verständlich findet und zugleich der Experte/die Expertin nicht aus der (imaginierten) Community der Soziolog(inn)en ausgeschlossen wird beziehungsweise weiterhin die Möglichkeit hat, sich selbst als Mitglied ihrer (imaginierten) Community zu betrachten? Im nun folgenden letzten Teil meines Beitrags möchte ich zeigen, dass sich der Begriff Beratung als Antwort auf diese Frage anbietet, denn er fungiert als gemeinsamer Nenner der außerakademischen soziologischen Tätigkeiten, wie sie seitens akademischer und nichtakademischer Soziolog(inn)en gerahmt werden. Der Begriff Beratung ist in vielfältigen Kontexten in Bezug auf die Diskussion des soziologischen Berufes vorzufinden (vgl. etwa BlättelMink/Katz 2004; Moldaschl/Holtgrewe 2003: 232; Schneider 1985), nicht nur in der soziologischen Literatur (Beck 1985; Oevermann 2003; Dewe 1991; Stichweh 1994) und in den Interviewdaten, sondern auch in der Beschreibung der soziologischen Berufsfelder seitens des Berufsverbandes

log(inn)en zählen zu dürfen, auch wenn die eigene berufliche Tätigkeit im Transfer besteht. Zum anderen muss die jahrzehntelange Weigerung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), auch nichtpromovierte Soziolog(inn)en als solche zu betrachten und ihnen eine Mitgliedschaft zu gewähren, als Nicht-Bereitschaft der wissenschaftlichen und somit auch ausbildenden Einheit gedeutet werden, außerwissenschaftliche Tätigkeiten als soziologische anzusehen.

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Deutscher Soziologinnen und Soziologen. 12 Dennoch musste eine Definition von Beratung, die geeignet wäre, die im Rahmen meiner empirischen Studie deutlich gewordenen Erwartungen und Praxiskontexte der soziologischen Tätigkeiten zu umfassen, von mir erst entwickelt werden. Diese lautet: „Beratung ist eine berufliche Expertentätigkeit, die sich nicht auf exklusive Berufsfelder bezieht, sondern auf den Einsatz besonderer soziologischer Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen des Alltags und in den Berufsfeldern anderer Professionen. Soziolog(inn)en

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als Beratende sind als Helfer/-innen bei der Definition und Lö-

sung von Problemen, aber nicht unbedingt als Mitgestalter/-innen (von Problemlösungen) tätig. Beratung setzt keine [notwendige] Einmischung in die Lebenspraxis bzw. die Berufspraxis anderer Professionen voraus; sie ist als eine primär auf Ratschläge bzw. Problemdiagnose gerichtete Tätigkeit konzipiert. Soziologische Beratung unterstellt also die Anwendung soziologischen Wissens zur Weiterentwicklung des Wissens ihrer Klientel. Die Soziologie als Beratung hilft, Probleme vorzudefinieren, bevor sich die anderen Professionen mit diesen Problemen beschäftigen (können), und delegiert gegebenenfalls deren Lösung an die für jedes Berufsfeld verantwortlichen Professionellen. Beratung beansprucht demzufolge kein Monopol auf ein bestimmtes Berufsfeld, sondern postuliert exklusives Wissen, das die Soziologie zur Kooperation mit anderen Professionen [und Disziplinen] befähigt (Tandem-Funktion).“ (Zimenkova 2007: 109)

Die besondere Leistung der Soziologie als Tandem-Disziplin besteht, wie oben bereits dargelegt, nicht in ihrer Problemlösungskompetenz, sondern in der Kompetenz zur Komplexitätssteigerung und anschließenden Komplexitätsreduktion. Durch ihre spezifische Fähigkeit zur Distanzierung von ihrem Gegenstand kann die Soziologie die von anderen Disziplinen/Professionellen behandelten Probleme neu kontextualisieren und dadurch den Zuständigen eine neue Sichtweise auf die Probleme beratend anbieten – ob diese Sichtweise zum Handeln anderer Beteiligter führt, bleibt diesen selbst überlassen.

12 Vgl. http://bds-soz.de/?page/id=98 (Zugriff vom 05.08.2014). 13 Für den vorliegenden Beitrag wurde die Definition gegendert.

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Genau betrachtet, stellt die Beratung eine Antwort auf alle oben genannten Herausforderungen der außerakademischen soziologischen Tätigkeiten und damit die Möglichkeit der Transferleistung dar (Tabelle 1). Tabelle 1: Berufsfeld Beratung als Antwort auf die Spezifika der Soziologie Probleme/Defizite Undefinierbarer Gegenstand Kein exklusives Berufsfeld

Beratung als Lösung Beratung definiert Probleme und gestaltet/definiert/formt den Gegenstand neu, teilt Felder mit anderen Berufen, ohne sie exklusiv zu beanspruchen

Darstellung der Soziologie als „hartes“ Wissen

Problemdiagnose als exklusive Kompetenz (Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge)

Exklusive Kompetenzen?

Tandem-Beruf

Undefinierbare Problme

„Gefahr“ des Wissenschaftlichkeitsverlusts

Fehlende Selbstverortung außerhalb der Wissenschaft

Problemlösung kann an die anderen („härteren“?) Disziplinen/Professionen delegiert werden

Soft Skills, keine Einmischung in die Lebensund Berufspraxis, keine End-Verantwortung; Weiterentwicklung des Wissens ihrer Klientel (quasiwissenschaftliche Aufgabe) Selbstwahrnehmung als „Reflexion“ der Praxis weiterhin möglich

(Quelle: eigene Darstellung)

Im Tätigkeitsfeld der Beratung werden Soziolog(inn)en definiert als Expert(inn)en, die über (nicht zugängliches), ihrer Übersetzung bedürfendes Wissen verfügen, große gesellschaftliche Zusammenhänge überschauen und Arbeitsfelder für andere Disziplinen vorbereiten. Das macht soziologi-

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sche Expertise – und damit soziologischen Wissenstransfer – unersetzlich. Als so verstandene Expert(inn)en konkurrieren Soziolog(inn)en nie mit anderen Professionen und müssen sich nie gänzlich von ihrer ausbildenden wissenschaftlichen Disziplin trennen, denn durch ihren Sprachproblem- und Übersetzungsdiskurs, durch ihre Distanzierung vom Gegenstand sowie durch die Wissensproduktion als primäre Aufgabe verweisen sie kontinuierlich auf ihre Verbindung zur wissenschaftlichen Disziplin der Soziologie. Der Beratungsbegriff ermöglicht es demzufolge, die in unterschiedlichen Berufsfeldern ausgeübten soziologischen Tätigkeiten zu systematisieren. Ferner etabliert der Beratungsbegriff einen zwingenden Bezug zwischen dem soziologischen Gegenstand, der soziologischen Ausbildung, dem soziologischen Wissen (sowie dem Wissenstransfer) und dem außerakademischen soziologischen Beruf. Somit kann eine soziologische Identität der nichtakademischen Soziolog(inn)en mit Bezug auf die wissenschaftliche Soziologie ermöglicht werden. Die Beratungsleistung stellt eine Form des Transfers dar, (Froese et al. 2014: 6) mit der Besonderheit, dass die Anwendung des soziologischen Wissens jenseits des Wissenschaftsbetriebes in Form einer Beratung die Zielsetzung einer Veränderung der Lebenswelt der zu Beratenden ausblendet. Transferleistung innerhalb der soziologischen Beratung kann somit als Aufklärungsaufgabe beschrieben werden. Soziologisches Wissen wird außerhalb der Wissenschaft den Nicht-Soziolog(inn)en, Klient(inn)en sowie den anderen am Beratungsprozess beteiligen Professionen zur Verfügung gestellt, um ihnen die Entscheidung für oder gegen eine Intervention zu ermöglichen. Für die Soziologie selbst als beratende Profession und Wissensproduzentin ist diese Intervention nicht relevant. Weil die Beratungstätigkeit sich primär am Ziel der Nicht-Einmischung und Wissensproduktion ausrichtet, ist es sogar möglich, sie als Begleiterscheinung der Grundlagenforschung in der Soziologie erscheinen zu lassen. Die Nicht-Einmischung dient mithin nicht nur als Absicherung von Fehlentscheidungen in der Berufspraxis, sondern auch der permanenten Wahrung der Balance zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Identität.

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Sozialwissenschaften und Gesellschaft: Ein Verhältnis im Wandel

Die Sehnsucht nach der Praxis: Beobachtungen zur Identitätsarbeit der Sozialwissenschaften D AVID K ALDEWEY

Der vorliegende Beitrag reformuliert das Problem des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis am Beispiel der Sozialwissenschaften als ein Problem der Identitätsarbeit wissenschaftlicher Disziplinen. Nach einer einleitenden Skizze zu populären Narrativen, die aufzeigen, dass und wie das Problem des Praxisbezugs konstitutiv in den Kern des Selbstverständnisses der Sozialwissenschaften hineinwirkt (1), wird ein zentrales Deutungsmuster fokussiert, das bis heute in vielfältiger Weise unser Reden und Denken über das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis prägt: das Bild des Elfenbeinturms und das damit einhergehende Vorurteil, Wissenschaftler/-innen würden sich quasi von ihrer Natur her von ihrer gesellschaftlichen Umwelt abschotten (2). Um die Wirkmächtigkeit dieses Deutungsmusters zu verstehen, wird in Anlehnung an die strukturalistische Literaturwissenschaft auf das Konzept semantischer Räume zurückgegriffen (3). Von dieser erzähltheoretischen Perspektive lässt sich eine Brücke schlagen zum wissenschaftssoziologischen Konzept der boundary work. Allerdings gilt es, dessen simplifizierte Innen/Außen-Logik zu korrigieren: Die Analyse des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis ist nicht nur dann unbefriedigend, wenn man die im Bild des Elfenbeinturms kodifizierte Innen/Außen-Differenz reifiziert, sondern auch dann, wenn man sie vorschnell ideologiekritisch dekonstruiert.

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An die Stelle der falschen Alternative von Reifikation oder Dekonstruktion der Elfenbeinturmprämisse setzt der vorliegende Beitrag die empirische Frage, wie das Problem des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis innerhalb des durch die Grenzziehungsprozesse abgezirkelten semantischen Raumes selbst wieder thematisch wird. Damit werden boundary work und identity work als zwei komplementäre Prozesse begriffen (4). Vor diesem Hintergrund analysiert der Beitrag die für das Selbstverständnis vieler Sozialwissenschaftler/-innen prägende „Sehnsucht“ nach der Praxis, das Bedürfnis also, unabhängig von innerwissenschaftlichen Wahrheitskriterien in die gesellschaftliche Umwelt hineinzuwirken (5). Diskutiert werden abschließend beispielhafte historische Diskurskontexte, in denen die gesellschaftliche Relevanz der Sozialwissenschaften verhandelt wurde: etwa die zwischen der Antike und der Renaissance immer wieder neu formatierte Unterscheidung von Vita contemplativa und Vita activa, die Diskurse zur Nützlichkeit der Universität seit der Aufklärung, die Debatten des Werturteilsstreits und des Positivismusstreits, die Paradigmen der Aktionsforschung und der Verwendungsforschung sowie die jüngere US-amerikanische Debatte um eine öffentliche Soziologie (6).

1. D AS V ERHÄLTNIS UND P RAXIS

VON

W ISSENSCHAFT

Das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis ist in der Wissenschaft wie in der Praxis schon immer Gegenstand von Beobachtung und Reflexion, aber auch von Sehnsucht und Spott gewesen. Legendär ist die thrakische Magd, die den Philosophen Thales auslacht, weil er, in Kontemplation versunken und ohne Augen für die Realitäten der Lebenswelt, in einen Brunnen fällt (siehe auch Barlösius in diesem Band). Hans Blumenberg hat diese Anekdote als „die nachhaltigste Vorprägung aller Spannungen und Unverständnisse zwischen Lebenswelt und Theorie“ beschrieben (1987: 11) und aufgezeigt, wie sie in der Rezeption der Philosophen beständig neu erzählt und neu gedeutet wurde. Tatsächlich sind die „Fallgruben des praktischen Daseins“ (Blumenberg 1987: 16) seit über zwei Jahrtausenden – also nicht erst seit den Wissenstransfer- und Innovationsdiskursen des 20. Jahrhunderts – Gegenstand wissenschaftlicher Selbstreflexion. Dies gilt für die Sozialwissenschaften zunächst nicht mehr und nicht weniger als für die Geistes- und

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P RAXIS

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Naturwissenschaften. Die späte Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der Sozialwissenschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie die die Ausdifferenzierung rahmenden gesellschaftlichen Krisendiskurse – man denke nur an die „soziale Frage“ – scheinen jedoch dazu geführt zu haben, dass das Problem des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis unmittelbarer in den Kern und in das disziplinäre Selbstverständnis hineinwirkt als etwa in den Naturwissenschaften. Deutlich wird dies in der Werturteilsfrage, deren Erörterung es den Klassikern der Soziologie ermöglicht hatte, ihre Disziplin als „Sozialwissenschaft“ von der „Sozialpolitik“ abzugrenzen (Weber 1968[1904]), zugleich aber daran festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit sozialen Fragen für das disziplinäre Selbstverständnis unabdingbar sei. So formuliert Durkheim in seiner Studie über soziale Arbeitsteilung: „Aber weil wir uns vorgenommen haben, die Wirklichkeit zu studieren, folgt daraus nicht, daß wir auf ihre Verbesserung verzichten: wir meinen, daß unsere Untersuchungen nicht der Mühe wert wären, wenn sie nur spekulatives Interesse hätten. Wenn wir auch sorgfältig die theoretischen von den praktischen Problemen trennen, wollen wir die letzteren damit keineswegs vernachlässigen: wir wollen uns im Gegenteil auf diese Weise dafür rüsten, sie besser zu lösen.“ (Durkheim 1988[1893]: 77)

Diese gleichzeitige Trennung (boundary work) und Verbindung (identity work) von Theorie und Praxis ist jedoch keine Erfindung der Sozialwissenschaften, sondern, das zeigt schon die Anekdote der thrakischen Magd, ein Gemeinplatz der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. So wurde das Theorie-Praxis-Verhältnis zwischen der Antike und der Renaissance im Rahmen der Frage nach dem Verhältnis und dem jeweiligen Wert der Vita contemplativa und der Vita activa umfassend und in vielfältiger Weise thematisiert. Auch im Kontext der Ausdifferenzierung der modernen Erfahrungswissenschaften im 17. Jahrhundert ist die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaften prominent verhandelt worden. Francis Bacon etwa erläutert im „Novum Organum“, dass Wissen und Macht nicht nur miteinander vereinbar, sondern notwendig aufeinander verwiesen seien: Nur wenn wir die Natur verstehen, können wir sie beherrschen. Eben deshalb gelinge es der Erfahrungswissenschaft, „das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu bereichern“ (Bacon 1990[1620]: 173). Im Verlauf

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des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt sich aus diesem Argument die Unterscheidung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung sowie das sogenannte lineare Modell, demzufolge jede wissenschaftliche Erkenntnis in the long run zu verwertbaren Anwendungen führt, die mittels entsprechender Transfermaßnahmen in marktgängige Innovationen übersetzt werden können (vgl. Godin 2006; Stokes 1997). In den letzten Jahrzehnten jedoch hat die Kritik an derartig idealisierten Erzählungen zugenommen. Die klassische Durkheimsche und Webersche Lösung des Werturteilsproblems wird heute meist verworfen und das lineare Innovationsmodell seit den neunzehnhundertachtziger Jahren regelmäßig für tot erklärt. Der Transfer von Wissen, so liest man in unzähligen Studien, verlaufe nicht einseitig von der Wissenschaft zu den Anwendern. Betont wird beispielsweise, dass Grundlagenforschung vielfach durch technische Entwicklungen erst angestoßen werde oder dass das wertvolle Wissen von Laien und weiteren gesellschaftlichen Stakeholdern nicht aus der Wissensproduktion exkludiert werden dürfe. In den neueren Transfer- und Praxisdiskursen spricht man gerne von Feedback-Schlaufen zwischen Anwendungs- und Forschungszusammenhängen, von Transdisziplinarität und partizipativen Verfahren, von einer Demokratisierung der Wissenschaft sowie von neuen Formen der Verantwortlichkeit und Reflexivität. Der Versuch, dieser Vielfalt und Komplexität gerecht zu werden, hat insbesondere in der jüngeren Literatur zu einer Pluralisierung von Erklärungsansätzen und quasiwissenschaftspolitischen Programmatiken geführt, über deren Qualität und Fruchtbarkeit im Einzelfall zu streiten wäre und die nicht ganz frei von semantischen Entgleisungen sind. So spricht man etwa bürokratisch-ernsthaft von „Responsible Research and Innovation“ (Owen/Macnaghten/Stilgoe 2012), ironisch-eklektizistisch von „Mode 3 Knowledge Production in Quadruple Helix Innovation Systems“ (Carayannis/Campbell 2012), staatstragend-demokratisch von „Research in the Public Interest“ (Carrier 2011) oder sportlich-emphatisch von „Grand Societal Challenges“ (European Commission 2011). Im vorliegenden Beitrag geht es nicht darum, diese zeitgenössischen Variationen der wissenschaftlichen Selbstreflexion im Spannungsfeld zur gesellschaftlichen Umwelt zu diskutieren oder in ihrem reflexiven Potenzial zu bewerten. Auch auf die Klärung der Rolle, die in den jeweiligen Paradigmen den Sozialwissenschaften zukommt, soll hier verzichtet werden. Versucht wird stattdessen, tiefer anzusetzen und zunächst ein spezifisches Deutungsmuster

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zu erläutern, das sich als eine Art gemeinsamer Nenner gleichermaßen in den klassischen wie in den aktuellen Transfer- und Praxisdiskursen nachweisen lässt. Gemeint ist eine kaum hinterfragte, meist nur implizit mitgeführte Grundannahme, die sich in den meisten Konzeptionalisierungen des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis nachweisen lässt: die Annahme, dass Wissenschaftler/-innen, wissenschaftliche Disziplinen oder auch die „Wissenschaft“ im Allgemeinen wann immer möglich auf ihrer Autonomie beharren und sich gewissermaßen instinktiv gegen gesellschaftliche Erwartungen, insbesondere gegen utilitaristische Indienstnahmen, zur Wehr setzen. Dieses Vorurteil suggeriert, dass im Hinblick auf die erhoffte Praxisrelevanz Anreize geschaffen werden müssen, mit denen Wissenschaftler/innen motiviert werden, sich nicht allein der Wahrheit zu widmen oder ihrer Neugier zu folgen, sondern ebenso (oder zumindest mehr, als es bislang geschieht) die Anwendungs- und Transferpotenziale ihrer Forschung im Blick zu behalten. Beispielhaft ausformuliert ist ein solches Modell in Uwe Schimanks akteurszentrierter Differenzierungstheorie. Folgt man diesem Ansatz, dann zeichnen sich Wissenschaftler/-innen, beziehungsweise die Rollenträger/-innen des Wissenschaftssystems, durch eine „monomanische Fixierung auf den teilsystemischen Leitwert“ der Wahrheit aus (Schimank 2011: 263). Wer die Rolle des Forschenden innehabe, so Schimank, der kenne „keinerlei weitere Bedürfnisse außer dem unstillbaren Drang zu neuen Erkenntnissen“ (ebd.: 262). Und wenn die Wissenschaft trotz dieses gewissermaßen programmierten Widerstandes gegen jede externe Relevanzanforderung dennoch „Leistungen“ für andere Teilsysteme, etwa für die Ökonomie oder die Politik, erbringe, dann nur deshalb, weil ein entsprechender „Außendruck“ ausgeübt und durch diesen das Rollenhandeln der Wissenschaftler/-innen in eine „gesellschaftsfähig[e]“ Form gezwungen werde (ebd.: 266). Ich werde dieses Deutungsmuster im Folgenden als Elfenbeinturmprämisse bezeichnen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sind vorweg noch zwei Anmerkungen notwendig: Erstens geht es mir nicht darum, das Deutungsmuster des Elfenbeinturms hinsichtlich seiner mangelnden Passung mit der Wirklichkeit zu kritisieren. Die Wirkmächtigkeit eines kommunikativen Artefakts und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die soziale Wirklichkeit können bekanntlich untersucht werden, ohne über die Wahrheit der Prämissen zu befinden. Zweitens ist nicht behauptet, dass es hier um das

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einzige relevante Deutungsmuster geht, mit dem Akteure das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis deuten: Der Vielfalt der tatsächlich kursierenden Deutungsmuster kann ich im Rahmen des vorliegenden Beitrages nicht gerecht werden. Wohl aber vermute ich, dass die Elfenbeinturmprämisse von ihrer impliziten Struktur her letztlich vielen scheinbar alternativen Deutungsmustern zugrunde liegt.

2. D IE E LFENBEINTURMPRÄMISSE Oberflächlich betrachtet, verweist das Bild des Elfenbeinturms auf die einsamen und freien Forscher/-innen und die weltfremden Tüftler/-innen, die vor sich hinarbeiten, ohne sich für die Anforderungen der Gesellschaft zu interessieren. Interessant dabei ist, dass dieses Bild auf der expliziten Ebene heute kaum noch zur Charakterisierung wissenschaftlicher Tätigkeiten verwendet wird, implizit aber als Deutungsmuster wirkmächtig bleibt. Entsprechend kann der Elfenbeinturmverdacht immer wieder Empörung hervorrufen, obwohl es sich um eine ziemlich ausgelaugte Form der Kritik handelt: Seit über fünfzig Jahren wird der „Abschied vom Elfenbeinturm“ 1 gefordert und wie ein Mantra wiederholt, obwohl (aber das fällt dann schon kaum mehr auf) nur wenige je behauptet haben, im Elfenbeinturm wohnen bleiben zu wollen. 2 Verwandte Formen der Kritik finden sich in unzähligen Diskurskontexten, nicht zuletzt in der wissenschaftspolitischen Diskussion über mögliche oder notwendige Mechanismen, mit denen die Wissenschaft

1

Im deutschen Sprachraum wurde die Metapher 1960 durch das entsprechend gewählte Motto des VI. Deutschen Studententages in Berlin popularisiert (VDS 1960). Eine umfassende Begriffsgeschichte des Elfenbeinturms steht noch aus. Für den englischen Sprachraum hat Steven Shapin (2012) eine instruktive Studie zur Entwicklung der Metapher und ihrer wandelnden Konnotationen vorgelegt.

2

Ausnahmen finden sich eher im Bereich der Kunst als im Bereich der Wissenschaft. In Wissenschaft und Wissenschaftspolitik sind allenfalls vorsichtige Reformulierungen zu finden, die etwa darauf zielen, dass der Elfenbeinturm, wenn man auf ihn hinaufsteige, nicht nur „Weltferne“, sondern auch „Weitsicht“ bedeuten könne, und er es damit der Wissenschaft ermögliche, die Gesellschaft mit den „Zukunftsvisionen“ zu versorgen, die sie für ihre „Weiterentwicklung“ benötige (Kleiner 2007).

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dazu gebracht werden könne, sich auf relevante Problemstellungen im Sinne des Gemeinwohls oder zumindest im Sinne wirtschaftlichen Wachstums einzulassen. Entscheidend für die Funktionsweise der Elfenbeinturmprämisse ist also nicht der wörtliche Bezug auf die Elfenbeinturmmetapher, sondern das in vielen Transfer- und Praxisdiskursen transportierte Vorurteil, Wissenschaftler/-innen interessierten sich ohne entsprechenden Außendruck nicht für ihre gesellschaftliche Umwelt. Im Hinblick auf die erwähnten Praxisdiskurse, die die Entstehung der Wissenschaften von Anfang an begleitet haben, sowie angesichts des aktuellen Standes der empirischen Wissenschaftsforschung, die sich seit Langem nicht mehr nur mit internalistischen Rekonstruktionen des wissenschaftlichen Fortschritts beschäftigt, sondern die vielfältigen Verflechtungen und Interaktionskonstellationen zwischen der Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Umwelt aufgezeigt hat (siehe etwa Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik 2012), liegt der Schluss nahe, dass die Elfenbeinturmprämisse, insbesondere die Annahme, dass die Umsetzung wissenschaftlichen Wissens in die Praxis wesentlich durch Außendruck oder äußere Zwänge erkämpft werden müsse, der Realität nicht gerecht wird und auch in historischer Perspektive kaum je gerecht wurde. Die Elfenbeinturmprämisse ist empirisch also nur schwer aufrechtzuerhalten. Eben deshalb ist die Hartnäckigkeit, mit der sich die Vorstellung von der Wissenschaft als eines von der Gesellschaft abgeschotteten Unternehmens hält, erklärungsbedürftig. Meine Vermutung ist, dass die Elfenbeinturmprämisse unter anderem deshalb so einflussreich ist, weil sie in der Kommunikation über die Wissenschaft eine wichtige Funktion erfüllt: Sie macht den abstrakten Gegenstand Wissenschaft mittels einer räumlichen Metaphorik begreifbar und 3 sichtbar. Das Bild transportiert die Idee, dass zwischen Wissenschaft und Gesellschaft eine scharfe Grenze, eine Wand aus Elfenbein, verläuft. Es transportiert zugleich eine Idee über die Funktionsweise von Wissenschaft, indem sie ein Bild zeichnet, in welchem Elfenbeinturmbewohner/-innen in einem geschützten Raum und in sicherer Distanz zum Alltag ihren selbstzweckhaften Tätigkeiten nachgehen. Insgesamt stabilisiert sich damit die

3

Man könnte hier auch in Anlehnung an kulturwissenschaftliche Theorien von der Erzeugung von „Präsenz“ oder von „Präsentifikation“ sprechen (siehe zum Forschungsstand Ernst/Paul 2013).

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schwierige Unterscheidung von Theorie und Praxis in der viel einfacheren Unterscheidung eines Innen und eines Außen, ohne dass damit die Möglichkeit ausgeschlossen wäre, beide Seiten durch vielfältige und keineswegs immer kohärente Konnotationen weiter mit (mehr oder weniger beliebigem) Sinn aufzuladen. In einer Reflexion über die Theorie-PraxisUnterscheidung hat Peter Fuchs die gängigen Konnotationen bissig kommentiert: „Die Praxis erscheint real, welt- und lebensnah, sie ist erfahrungsgesättigt. Sie hat die Aura der Fraglosigkeit, der Selbstverständlichkeit, der Weltlichkeit. Diese Markierung wird eingesetzt, als bezeichne sie das Apriori jeder möglichen Theorie, die vor dem Hintergrund dieser scharfen Auslenkung sich gedankenblaß, weltfremd, abgehoben darstellt. Die Theorie ist kalt, sie wird von überbezahlten egg-heads betrieben, die in Elfenbeintürmen hausen und kalte Füße haben oder wenigstens wie Blaise Pascal: Zahnschmerzen.“ (Fuchs 2000: 64)

Fuchs führt performativ vor, wie einfach es ist, sich dieser Rhetorik zu bedienen, wie leicht man also – in der Tradition der thrakischen Magd – über die Elfenbeinturmbewohner/-innen lachen kann. Das Bild lässt sich ohne Mühe aufgreifen und zu scheinbar provokanten Thesen modellieren. Man kann den Auszug, die Sprengung oder den Abriss des Turmes fordern. Man kann den Wissens- und Technologietransfer von Universitäten als „Brücken zum Elfenbeinturm“ charakterisieren (Jonas 2000) oder die alte Abschiedsforderung durch positiv besetzte Gegenbegriffe variieren: „Vom Elfenbeinturm zum Leuchtturm“ (Heinze 2009), „Vom Elfenbeinturm ins Rampenlicht“ (Dernbach 2012). Während Fuchs diese Rhetorik und ihre soziale Funktionalität soziologisch reflektiert, folgen die meisten Beiträge schlicht der Eigendynamik des eingeschliffenen Deutungsmusters und reifizieren damit die alten Vorurteile.

3. D AS K ONZEPT

SEMANTISCHER

R ÄUME

Fuchs’ Anmerkungen zur rhetorischen Funktion der Theorie-PraxisUnterscheidung sind ein erster Schritt zum Verständnis der andauernden Wirkmächtigkeit der Elfenbeinturmprämisse.

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Um darüber hinaus die mit den Stichworten „Wissenstransfer“ und „Innovativität“ angedeuteten normativen Erwartungen zu verstehen, sind weitere Analysen notwendig. Im Folgenden wird skizziert, dass und wie dies mithilfe des Konzeptes „semantischer Räume“ geleistet werden kann. In Anlehnung an die strukturalistische Literaturwissenschaft von Jurij Lotman (1972) lässt sich das in den vielfältigen Transfer- und Praxisdiskursen evozierte Bild des Elfenbeinturms als ein mit narrativen und poetischen Mitteln erzeugter semantischer Raum begreifen. Folgt man Lotman, dann ist das wichtigste topologische Merkmal eines solchen Raumes die „Grenze“, die „zwei disjunkte Teilräume“ (Lotman 1972: 327), einen „Innenraum“ und einen „Außenraum“ (Schäfke 2010: 28), erzeugt. In der fiktionalen Literatur dienen beispielsweise die Unterscheidungen von Freunden und Feinden, Lebenden und Toten oder Armen und Reichen dazu, dichotome semantische Räume aufzuspannen, die dann in ihrer „Unüberschreitbarkeit“ als tragende Struktur der entsprechenden Erzählung fungieren (Lotman 1972: 327). Offensichtlich ist auch die Literatur der Wissenschaftsforschung durch solche Aufteilungen geprägt: Unterschieden wird etwa zwischen Experten und Laien, zwischen Wissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern, zwischen Akademikern und Unternehmern oder auch, abstrakter, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Lotman vermutet nun, dass historisch und nationalsprachlich variierende „Raummodelle“ nicht einfach für verschiedene Vorstellungen von Poetik oder Ästhetik stehen, sondern vielmehr als ein Organisationsprinzip verstanden werden müssen, das dem Aufbau eines „Weltbildes“, beziehungsweise eines „ganzheitlichen ideologischen Modells“ zugrunde liegt (Lotman 1972: 313). Aus einer ähnlichen Annahme speist sich das in der Wissenschaftsforschung gebräuchliche Boundary-Work-Konzept (Gieryn 1983): Auch hier geht es um den Zusammenhang von semantischen Grenzziehungen und gesellschaftlichen Ideologien – wenn auch nur in Bezug auf die professionelle Identität der Wissenschaft, nicht auf die Kultur oder das Weltbild der Gesellschaft schlechthin. Die angedeuteten Analogien zeigen, dass sich in Anlehnung an literaturwissenschaftliche Ansätze neue und aufschlussreiche Perspektiven auf das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis eröffnen: Gängige Deutungsmuster wie die Elfenbeinturmprämisse werden in ihrer Eigenlogik verständlich, und die dabei erzeugten semantischen Räume können auf ihre Genese und rhetorische Bedeutung hin untersucht werden. Forschungspraktisch

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liegt darin die Aufforderung, genauer zu bestimmen, wie etwa in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, nicht zuletzt in der Wissenschaftsund Innovationsforschung, aber auch in der Wissenschaftspolitik oder im Wissenschaftsmanagement über das Verhältnis der zwei disjunkten Teilräume – Wissenschaft und Praxis – gesprochen wird. Im Folgenden soll eine spezifische Parallele zwischen fiktionaler Literatur und den in wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Kommunikationskontexten erzeugten Narrationen hervorgehoben werden: das Motiv der „Grenzüberschreitung“. Erzähltheoretisch ist die Grenzüberschreitung zentral, weil sie zu einem „inkonsistenten Zustand“ führt, der dann im Fortgang der Erzählung in der Regel wieder ausgeglichen wird – wenngleich natürlich Abweichungen von diesem „Konsistenzprinzip“ möglich sind (Schäfke 2010: 29). Ein Beispiel aus der fiktionalen Literatur wäre der Raub einer Prinzessin durch einen Troll. Mit der Befreiung der Prinzessin durch einen Prinzen ist dann die Ordnung des semantischen Raumes – und damit auch das Weltbild, welches von einer zivilisierten „Innenwelt“ des Königshofes und einer diesen bedrohenden „Außenwelt“ von Trollen ausgeht – wiederhergestellt. Mit anderen Worten: Grenzüberschreitungen erscheinen in solchen Geschichten als problematische Verletzung der Ordnung der Welt. Von dieser Erzählstruktur – eine Grenzüberschreitung führt zur Reparatur und damit zur Bestätigung der Grenze – weichen nun Erzählungen, die sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis beschäftigen, in einer bemerkenswerten Hinsicht ab. Einerseits setzen die Begriffe und Theorien, mit denen die Anwendung wissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft zu beschreiben und zu erklären versucht wird, notwendig eine Grenze voraus, andererseits wird die Grenzüberschreitung nicht als Problem, als Verletzung einer Ordnung beschrieben, sondern umgekehrt als Projekt, wenn nicht sogar als Mission propagiert. Auch die Forderung nach einem Abschied vom Elfenbeinturm sprengt das klassische Erzählschema, denn die Existenz einer Grenze ist hier negativ, die Möglichkeit einer Grenzüberschreitung positiv konnotiert. Die Differenz in der Wertung der Grenzüberschreitung ändert jedoch nichts daran, dass die Erzählung in beiden Kontexten wesentlich mithilfe räumlicher Metaphern strukturiert wird. Das zeigt sich vielleicht nirgends deutlicher als beim klassischen Transferbegriff: Um das Gelingen der Grenzüberschreitung zu unterstützen, wer-

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den an Universitäten Technology Transfer Offices etabliert, die den Wissens- und Technologietransfer, insbesondere die Gründung von Spin-offs fördern sollen, 4 und auch Forschungsprojekte, die versprechen, zu diesem Ziel einen Beitrag zu leisten, idealerweise also erfolgreiche, empirisch plausible Erzählungen mit Happy End vorlegen, gerne finanziert. Auch in anderen einflussreichen Semantiken der letzten Jahrzehnte wird die aus erzähltheoretischer Perspektive unerwartete Wertschätzung von Grenzüberschreitungen sichtbar. So zielt der Begriff Interdisziplinarität einem heute weitgehend durchgesetzten Begriffsverständnis nach auf die Überschreitung der wissenschaftsinternen Grenze zwischen den Disziplinen, während der Begriff Transdisziplinarität darüber hinaus eine Überschreitung der Grenze zwischen Forschung und den Problemen der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt beansprucht. Ähnlich betont der vor allem in der medizinischen Forschung populär gewordene Begriff translational research die Übersetzung zwischen bislang getrennten räumlichen Bereichen: „from bench to bedside“ (vgl. Woolf 2008: 211). Wissenschaftspolitisch instruktiv ist weiter der im Rahmen der Institutionalisierung des European Research Council von einer Expertenkommission vorgeschlagene Begriff frontier research, der in mehrfacher Hinsicht als grenzüberschreitend charakterisiert wird (European Commission 2005: 18). Am markantesten ist die Programmatik der Grenzüberwindung aber in der die Wissenschaftsforschung der neunzehnhundertneunziger Jahre prägenden Rede von „blurring boundaries“, „Entdifferenzierung“ und „Entgrenzung“ (vgl. Böschen 2010). Während der Transferbegriff oder die Semantik von Inter- und Transdisziplinarität die Grenzen selbst nicht grundsätzlich infrage stellen, solange die Möglichkeit der Überschreitung gegeben ist, hat sich beispielsweise die Akteur-Netzwerk-Theorie die vollständige Überwindung der alten Dichotomien auf die Fahnen geschrieben. So naheliegend die mit der Entgrenzungsrhetorik formulierte Kritik an der Elfenbeinturmprämisse, beziehungsweise am verkrusteten Denken in Kategorien von innen und außen auch sein mag, so fraglich ist allerdings die etwa von Bruno Latour vorgeschlagene Lösung, nun einfach jeden Unterscheidungsgebrauch als ideologisch zu verwerfen. Zu Ende gedacht, würde damit der semantische Raum,

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Knie/Simon/Flink (2010: 489) weisen darauf hin, dass es sich bei solchen Institutionen immer auch um „diskursive Strategien“ handelt, die als „Nachweis der Nützlichkeit von Forschungspolitik“ dienen.

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in dem Wissensproduktion und Wissenstransfer gleichermaßen organisiert werden, schlicht negiert. So wird das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis nicht geklärt, sondern einfach wegdefiniert. Damit wird die kommunikative Realität der Elfenbeinturmprämisse ignoriert, also die Tatsache, dass die Grenze zwischen Wissenschaft und Praxis eine (wie immer konstruierte) soziale Tatsache ist, deren Funktionalität und Nebenfolgen empirisch untersucht werden können.

4. B OUNDARY W ORK UND I DENTITY W ORK Die Wirkmächtigkeit semantischer Räume und damit auch die praktische Relevanz des Deutungsmusters „Elfenbeinturm“ ist in der Wissenschaftsforschung bislang nicht systematisch untersucht worden. 5 Es finden sich aber Ansätze, die es weiterzuverfolgen lohnt, insbesondere das bereits erwähnte Boundary-Work-Modell von Thomas Gieryn (1983, 1995), demzufolge Grenzen als Resultat sozialer Aushandlungsprozesse und diskursiver Strategien betrachtet werden müssen. Die Realität von Grenzen gründet demnach in den sozialen Strukturen, sowie, um die literaturwissenschaftliche Analogie noch einmal zu bemühen, den poetischen und erzählerischen Strukturen, in denen sie ausgearbeitet wurden und in die sie eingebettet bleiben. Als Soziologe geht Gieryn nun über die literaturwissenschaftliche Analyse insofern hinaus, als er danach fragt, wer diese Grenzen erzeugt und welche Interessen damit verknüpft sind. Die Wissenschaftsforschung ist einerseits selbst Akteur in der Konstruktion solcher Grenzen, etwa wenn sie im Sinne der klassischen Wissenschaftstheorie die Differenz zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft oder auch, vorsichtiger, zwischen guter und schlechter Wissenschaft zu bestimmen sucht, andererseits kann sie, mit mehr Distanz zum Gegenstand, untersuchen, wie andere Akteure diese Grenzen erzeugen, stabilisieren oder verschieben. Wissenschaftsforschung kann, mit anderen Worten, essentialistisch oder konstruktivistisch beobachten: „Essentialists do boundary-work; constructivists watch it get done by

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Den Forschungsstand sowie mögliche weiterführende Perspektiven habe ich an anderer Stelle ausführlicher diskutiert (Kaldewey 2013).

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people in society“ (Gieryn 1995: 394). Gieryn plädiert für die zweite Perspektive und begreift damit die gesellschaftliche Sphäre der Wissenschaft als einen semantischen Raum, dessen Qualitäten nicht inhärent gegeben sind, sondern nur vor dem Hintergrund kontextbezogener sozialer Prozesse bestimmt werden können: „But what is science? Nothing but a space, one that acquires its authority precisely from and through episodic negotiations of its flexible and contextually contingent borders and territories. Science is a kind of spatial ,marker‘ for cognitive authority, empty until its insides get filled and its borders drawn amidst context-bound negotiations over who and what is ,scientific‘.“ (Gieryn 1995: 405)

Vergleicht man das hier skizzierte Konzept eines semantischen Raumes mit demjenigen von Lotman, dann liegt es nahe, Gieryns Vorschlag als ein soziologisches Update der strukturalistischen Erzähltheorie zu begreifen: In den Blick geraten nun die strategische Interessenverfolgung, die Sicherung von Autorität und Prestige sowie Praktiken der Inklusion und Exklusion. Diese Konzentration auf die Stabilisierung und Sicherung eines exklusiven, gegenüber konkurrierenden Akteursgruppen isolierten semantischen Raumes der Wissenschaft führt allerdings zugleich zu konzeptuellen Engführungen: Zum einen gerät die im literaturwissenschaftlichen Modell noch konstitutiv mitgedachte Möglichkeit von Grenzüberschreitungen aus dem Blick, zum anderen wird wiederum ein basales Innen/Außen-Modell zementiert – wenn auch nicht in essentialistischer, sondern in konstruktivistischer Manier. In gewisser Weise bleibt damit auch der Boundary-WorkAnsatz der Elfenbeinturmprämisse verhaftet. Zwar vermeidet Gieryn den beispielsweise in Schimanks Differenzierungstheorie formulierten Kurzschluss, demzufolge Wissenschaftler/-innen qua Rolle allein auf die Wahrheitssuche ausgerichtet sind. Doch auch Gieryn beschreibt Wissenschaftler/-innen als monomanische Akteure, die kein anderes Ziel kennen als das der eigenen Autonomie- und Autoritätssicherung. Beide Positionen bauen auf eine Art methodologischen Internalismus und beide vernachlässigen damit die empirischen Einsichten in die Realität eines Wissenschaftssystems, in dem schon immer auch andere Werte als Wahrheit, Autonomie oder Autorität zur Geltung kommen – und zu einer entsprechenden Vielfalt von Rollen führen.

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Um hier weiterzukommen, gilt es, die Innen/Außen-Unterscheidung weder zu negieren noch zu reifizieren. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Wissenschaftsforschung nicht allein mit der Konstruktion und Stabilisierung von Grenzen beschäftigt, sondern darüber hinaus untersucht, wie das Problem des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis innerhalb des durch die Grenzziehungsprozesse abgezirkelten Raumes selbst wieder thematisch wird. Zu untersuchen wäre, mit anderen Worten, ob und in welcher Weise die Wissenschaft nicht einfach defensiv auf den gesellschaftlichen Außendruck reagiert, sondern darüber hinaus aus eigenem Antrieb die gesellschaftliche Relevanz und die Anschlussfähigkeit der eigenen Forschung in verschiedenen Praxiszusammenhängen reflektiert. Oder, um die Metapher des Elfenbeinturmes zu variieren: Zu fragen ist, ob sich die Elfenbeinturmbewohner/-innen nicht immer schon Gedanken darüber gemacht haben, welche Rolle ihnen außerhalb des Turmes zukommt und zukommen könnte. In systemtheoretischer Terminologie könnte man diesbezüglich auch von einem re-entry der Unterscheidung von Wissenschaft und Praxis auf der Seite der Wissenschaft sprechen. Eine Möglichkeit, diese zunächst sehr abstrakte Forschungsfrage zu operationalisieren, besteht in der Analyse der Selbstbeschreibungen des Wissenschaftssystems, also von Texten und Erzählungen aller Art, in denen die Identität der Wissenschaft verhandelt wird (vgl. Kaldewey 2013). Zu achten ist dabei auf die Ziele und Werte, die in solchen Selbstbeschreibungen transportiert werden. Das gängige Vorurteil, beziehungsweise die Elfenbeinturmprämisse, ließe ja erwarten, dass es in den Selbstbeschreibungen (anders als in den Fremdbeschreibungen) um das Ziel der Wahrheit, um selbstzweckhafte Erkenntnis sowie um Autonomie und Autorität gehen müsse. Eben diese Annahme aber lässt sich empirisch nicht bestätigen. Sowohl in historischer Perspektive wie auch im Blick auf gegenwärtige Selbstbeschreibungen lässt die Empirie keinen Zweifel daran, dass die gesellschaftliche Relevanz der Forschung zumindest in indirekter Form fast immer thematisch wird, wenn von Wissenschaft die Rede ist. Wenn Wissenschaftler/-innen über das Außen der Wissenschaft, über die Praxis sprechen, dann geht es nicht einfach um die strategische Konstruktion einer Innen/Außen-Grenze, sondern um die Reflexion der eigenen Zielsetzungen und Werte, um die Arbeit an der eigenen Identität im Spannungsfeld von Autonomie und externen Erwartungen. Mit anderen Worten: boundary work geht grundsätzlich mit identity work einher. Man kann von der Wahr-

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heit nicht reden, ohne auch die Nützlichkeit des Wissens anzusprechen. Für die Identitätsarbeit der Wissenschaft gilt demnach das Gleiche wie für die Identitätsarbeit von Individuen oder sozialen Gruppen: Sie lässt sich nicht von heteronomen Aspekten und internalisierten Fremdbeschreibungen isolieren, sondern folgt einer „internal-external dialectic“ (Jenkins 2004: 49).

5. D IE S EHNSUCHT NACH DER P RAXIS IN DEN S OZIALWISSENSCHAFTEN Die bisherigen Überlegungen bezogen sich auf das gesamte Wissenschaftssystem, unterschieden also nicht systematisch zwischen Natur-, Technik-, Geistes- und Sozialwissenschaften oder zwischen noch kleinteiligeren Subdisziplinen und Forschungsfeldern. Im Folgenden möchte ich mich auf die Sozialwissenschaften konzentrieren und, wie im Titel schon angedeutet, ein konkretes und eigenwilliges empirisches Phänomen herausgreifen: die Sehnsucht nach der Praxis, oder weniger plakativ formuliert, den Wunsch vieler engagierter Sozialwissenschaftler/-innen, die eigene Forschung auf die gesellschaftliche Praxis zu beziehen und idealerweise einen Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel zu leisten. Verwandt damit ist die Hoffnung, dass die Praxis – etwa die Politik, die Wirtschaft oder zumindest die Zivilgesellschaft – doch zur Kenntnis nehmen möge, was und wie viel die Sozialwissenschaften ihr anzubieten haben. Sehnsüchte, das sei vorweg betont, gibt es natürlich auch in den anderen wissenschaftlichen Kulturen, und sie finden auf verschiedene Weise Eingang in deren Selbstbeschreibungen. Den Geisteswissenschaften hat Hans Ulrich Gumbrecht (2005) eine „neue Sehnsucht nach Substantialität“ attestiert. Gemeint ist damit die Hoffnung, aus den hermeneutischen Reflexionsschlaufen auszubrechen, um die Phänomene selbst in ihrer unmittelbaren „Präsenz“ zu erfahren. Diese Sehnsucht ist der sozialwissenschaftlichen Sehnsucht nach der Praxis insofern verwandt, als auch sie für ein Leiden am Elfenbeinturm steht. In den Natur- und Technikwissenschaften sind derartige Sehnsüchte, zumindest auf den ersten Blick, weniger verbreitet. Auf den zweiten Blick zeigt sich indes, dass diese – und hier greift noch immer das lineare Innovationsmodell – mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit annehmen, die eigene Forschung könne mittelfristig zur Grundlage technischer Anwendungen

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und Innovationen werden. Evident ist das in Forschungsfeldern wie der Bio- oder Nanotechnologie, aber selbst Disziplinen wie die Mathematik oder die Astronomie sind auch heute noch in weiten Teilen relativ problemlos mit diversen Anwendungskontexten verknüpfbar. Gerade die Selbstverständlichkeit der Anwendungsrelevanz ist aber ein Hinweis darauf, dass die Rede von einer Sehnsucht nach der Praxis in diesem Fall wenig sinnvoll wäre. Etwas anders gelagert ist der Fall der Ingenieurwissenschaften, die sich vielfach durch ein spielerisches Interesse an technischen Herausforderungen auszeichnen, das dann beispielsweise in quasiwissenschaftlichen Events wie dem RoboCup, einem Fußballturnier für Roboter, oder der DARPA Grand Challenge, einem Wettrennen vollautomatisierter Fahrzeuge, seinen Ausdruck findet. Da es hier, der Logik des Sports entsprechend, um Sieg und Niederlage geht, entsteht wiederum ein Raum für Sehnsüchte. Allerdings beziehen sich diese Sehnsüchte im Kern nicht auf den Wissensund Technologietransfer, sondern auf das Glück im Spiel oder den Erfolg im Wettbewerb. Emphatische, unmittelbar auf die Praxisrelevanz fokussierte Sehnsüchte lassen sich dagegen im Bereich der medizinischen Forschung und der Lebenswissenschaften finden, da hier zumindest unterschwellig alte menschliche Wünsche nach einem Leben ohne Schmerz, Krankheit und Tod anklingen. Dem auf vielfältige Weise mit den neuen Technowissenschaften assoziierbaren Enhancement-Diskurs etwa wird unterstellt, er spiegle „die alte Sehnsucht nach dem ‚neuen Menschen‘, nach der Perfektionierung eines Mängelwesens“ (Bender/Kanitscheider/Treml 2012: 9). Nun geht es im vorliegenden Beitrag nicht darum, den Status und die Bedeutung von Sehnsüchten in den Wissenschaften zu klären, sondern nur um den Hinweis, dass man es im Wissenschaftssystem – und zwar in allen Disziplinen und Kulturen – nie mit der Sehnsucht nach Wahrheit und Erkenntnis allein zu tun hat, wie es etwa das Schimanksche Bild des monomanischen Wahrheitssuchers vermuten lässt, sondern man darüber hinaus beständig auf tief sitzende Motive trifft, deren gemeinsamer Nenner in dem Wunsch besteht, die Isolation des Elfenbeinturms entweder zu überwinden oder zumindest dadurch erträglicher zu machen, dass man die eigene Arbeit als gesellschaftlich relevant erfährt. Was genau zeichnet nun die sozialwissenschaftliche Sehnsucht nach der Praxis aus? Anstatt diese Frage generalisierend zu beantworten, möchte ich den Topos zunächst anhand eines Beispiels illustrieren. In einem Text über

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die Zukunft der Stadtsoziologie formuliert Jürgen Friedrichs en passant folgende These: „Die sozialwissenschaftliche Sehnsucht nach der Praxis, so berechtigt sie ist, dient tatsächlich eher der reformerischen Befriedigung und dem demonstrativen Engagement des Forschers einerseits und der Legitimation behördlichen Handelns andererseits – weniger den jeweils Betroffenen“ (Friedrichs 1988: 10f.). Interessant an dieser Bemerkung ist, dass Friedrich einerseits auf die „Befriedigung“ und das „Engagement“ des Forschers verweist, zugleich aber infrage stellt, ob die „Betroffenen“, das heißt die Menschen außerhalb der Wissenschaft, von diesem Engagement profitieren. Damit wird deutlich, dass die Sehnsucht nach der Praxis ganz unabhängig von der Frage der Erfolgsbilanz eine Funktion innerhalb der wissenschaftlichen oder disziplinären Gemeinschaft hat: Sie befriedigt die Stadtforscher/-innen, die ansonsten, so legt es der Umkehrschluss nahe, unbefriedigt blieben. Hier drängt sich die Vermutung auf, dass die Wahrheit allein nicht genug Motivation erzeugt und dass die Praxis im sozialwissenschaftlichen Forschungsethos einen notwendigen komplementären Wert darstellt. Die Praxisorientierung wäre dann aber nicht weniger als die vermeintlich weltfremde Wahrheitssuche der einsamen Elfenbeinturmbewohner/-innen: wesentliche Selbstbefriedigung. Unabhängig davon, wie weit man diese These zuspitzen oder generalisieren will, verweist sie auf das Grundproblem der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis: Dieses ist nämlich methodologisch und theoretisch nur dann in den Griff zu bekommen, wenn wir berücksichtigen, dass es sich bei der Sehnsucht nach der Praxis um eine Art wissenschaftsinterne Motivationsstruktur handelt. Wie sich diese Struktur dann zu den Motiven der Wahrheitssuche oder zu den Autonomie- und Autoritätsbestrebungen der Profession verhält, ist im Einzelfall nur empirisch zu klären. Ein distanzierter Blick auf das Phänomen der Praxissehnsucht legt somit eine Perspektivenverschiebung nahe: Anstatt die vielbeschworene Praxis vorschnell mit dem Außen der Wissenschaft gleichzusetzen, gilt es nun, sie als wissenschaftsinternes semantisches Artefakt zu begreifen, als Moment disziplinärer Selbstbeschreibungen, als die Konstruktion des Anderen, welche in jedem Identitätsnarrativ eine zentrale Rolle spielt. Dass es darüber hinaus eine reale Umwelt – oder, mit Friedrichs Worten, „Betroffene“ – gibt, die mit dem sozialwissenschaftlichen Wissen konfrontiert ist und

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mit diesem etwas anfangen kann oder auch nicht, ist damit nicht ausgeschlossen, aber diese Umwelt ist eben nicht identisch mit der von den Sozialwissenschaftler/-innen in ihren jeweiligen Forschungszusammenhängen konstruierten oder imaginierten Praxis. Die bisherigen Überlegungen lassen sich in der These zusammenfassen, dass sich die Wissenschaftsforschung, insbesondere wenn es um Fragen des Wissenstransfers und der Praxisrelevanz verschiedener Disziplinen geht, nicht hinreichend von der Elfenbeinturmprämisse gelöst hat. Eine den Realitäten des Wissenschaftssystems angemessenere Forschungsperspektive lässt sich erreichen, wenn nicht nur die Konstruktion und Überwindung von Grenzen thematisiert (boundary work vs. blurring boundaries), sondern auch die Konstruktion und Transformation komplexer disziplinärer und interdisziplinärer Identitäten innerhalb der je gegenwärtigen – und in ihrer Geschichtlichkeit und Kontextabhängigkeit (natürlich) kontingenten – Grenzen in den Blick genommen werden (identity work). Mit Bezug auf die Sozialwissenschaften bedeutet das, die Sehnsucht nach der Praxis als konstitutives Moment ihrer Selbstbeschreibung zu verstehen und ihre praktischen Konsequenzen zum Gegenstand der Forschung zu machen. Was bedeutet es beispielsweise für eine wissenschaftliche Disziplin, wenn der Wert der Praxis höher gewichtet wird als der Wert der Wahrheit? Kommt den komplementären Werten von Wahrheit und Nützlichkeit eine jeweils spezifische Orientierungsfunktion zu? Gibt es Zielkonflikte oder gelingt es, die Spannung mittels entsprechender Identitätsarbeit in Schach zu halten oder sogar produktiv werden zu lassen?

6. D ISKURSE ZUR R ELEVANZ DER S OZIALWISSENSCHAFTEN Diese Fragen können hier nur aufgeworfen, nicht beantwortet werden. Ich beschränke mich abschließend auf die weitere Erläuterung der These, dass die Sehnsucht nach der Praxis konstitutiv in die Selbstbeschreibungen der Sozialwissenschaften hineinwirkt. Hervorzuheben ist hier zunächst die einleitend schon formulierte Einsicht, dass das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis nicht erst im 20. Jahrhundert zum Reflexionsproblem wurde, sondern untrennbar mit der Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Denkens und der Institutionalisierung wissenschaftlicher Disziplinen ein-

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hergeht. Wenn man die Sozialwissenschaften etwas weiter fasst als heute üblich und etwa die praktische Philosophie, die Staatskunde, die Jurisprudenz oder die verschiedenen historischen Ausprägungen des Humanismus mitberücksichtigt, dann bieten Philosophie-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte eine weite Auswahl an einschlägigen identitätsstiftenden Praxisdiskursen. 6 Ein naheliegender (wenn auch wiederum kontingenter) Ausgangspunkt ist der antike, auf Platon und Aristoteles zurückführbare Diskurs über Theorie und Praxis als Lebensformen, der über Jahrtausende, etwa im Frühchristentum und in der Scholastik, variiert und restabilisiert wurde. In diesen Kontexten klingt oft die Sehnsucht nach einer erfüllenden Verbindung von Vita contemplativa und Vita activa im Rahmen der je individuellen Biografie an. Verwandt damit ist die in der römischen Republik von Autoren wie Cicero, Sallust oder Seneca thematisierte Spannung von otium (Muße) und negotium (Beschäftigung). Die entsprechenden Schriften, die teilweise im politischen Exil verfasst wurden, zeugen von der Idee des Dienstes an der res publica und verweisen oft explizit auf den Wunsch nach politischer Wirkmächtigkeit. In der Renaissance werden diese Themen wiederentdeckt und reformuliert, es geht nun wesentlich um die Frage des Nutzens der studia humanitatis für die Gesellschaft. Auch hier ist die Gelehrsamkeit kein Selbstzweck, das Ziel der Humanisten ist nicht oder zumindest nicht primär die theoretische Erkenntnis des „Wahren“, sondern die praktische Realisierung des „Guten“. Einen Höhepunkt erreicht die Emphase der Praxis in der Aufklärung. Im frühen 18. Jahrhundert entsteht eine Semantik, die, der Elfenbeinturmkritik des 20. Jahrhunderts nicht unähnlich in ihrer Schärfe und Schroffheit, die weltfremde Buchgelehrsamkeit und Pedanterie der Gelehrten ins Visier nimmt. Der Universitätsreformer und Jurist Christian Thomasius beispielsweise fordert die Studenten auf, sich an der Universität nicht zum „Narren“ zu machen, sondern sich mit Dingen zu beschäftigen, „die dem gantzen, Menschlichen Geschlecht nützlich sind“ (Thomasius 2006[1713]: 1f.). Ein Jahrhundert später, im humanistischen Universitätsdiskurs bei Autoren wie Humboldt oder Fichte wird dieser Utilitarismus zwar durch das Ideal der sittlichen Bildung ersetzt, eine Abwendung von der Praxis ist damit aber

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Die im Folgenden nur angeschnittenen Praxisdiskurse habe ich an anderer Stelle ausführlicher behandelt (Kaldewey 2013).

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keineswegs impliziert. Denn gerade der im Medium der „reinen“ Wissenschaft erzogene Mensch, so das Argument, das noch im 20. Jahrhundert widerhallt, „ist dann später im Leben auch der gemeinnützigste und zugleich leistungsfähigste“ (Schelsky 1971: 71). Dies ist so etwas wie die sozial- und geisteswissenschaftliche Variante des linearen Innovationsmodells, mit dem Unterschied, dass als Medium des Transfers nicht die angewandte Forschung und Entwicklung von Technologie, sondern die Charakterbildung dient. Schon der kurze Rückblick auf einschlägige historische Praxisdiskurse zeigt auf, und nur darauf kommt es im Moment an, dass keiner dieser Diskurse seinen Ursprung in der gesellschaftlichen Umwelt der Wissenschaft, beziehungsweise in der viel beschworenen Praxis selbst hat. Es sind offensichtlich seit Jahrtausenden die Elfenbeinturmbewohner/-innen selbst, die sich, meist aus einer Position relativer Autonomie heraus, Gedanken darüber machen, welche Relevanz ihre wissenschaftliche oder philosophische Tätigkeit für die Gesellschaft hat. Der semantische Raum der Praxis kann damit als ein Artefakt wissenschaftlicher Identitätsarbeit begriffen werden. Diese These erhärtet sich, wenn man sich auf das 20. Jahrhundert und auf die Etablierung der Sozialwissenschaften im engeren Sinne konzentriert. Hier drängen sich die großen Selbstverständigungsdebatten und Kontroversen auf, in denen insbesondere die Soziologie ihrer Sehnsucht nach der Praxis Ausdruck verliehen hat: Sowohl der Werturteilsstreit wie der Positivismusstreit sind im Kern Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Relevanz und Funktion der Soziologie – und es sind Auseinandersetzungen, die ihren Ursprung und ihre Dynamik in der Disziplin haben, die also nicht, wie es eine akteurszentrierte Differenzierungstheorie nahelegen würde, als eine Reaktion auf einen gesellschaftlichen Außendruck interpretiert werden sollten. Eine Rekonstruktion dieser Debatten ist oft genug geleistet worden und soll hier nicht wiederholt werden. Es reicht der Hinweis, dass der Werturteilsstreit und der Positivismusstreit in fast idealtypischer Weise das abbilden, was ich oben als identity work einer wissenschaftlichen Disziplin beschrieben habe. 7 Auch wenn, wie oft beklagt wird, die Zeit der großen

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Möglicherweise ließen sich für die Geschichte der Soziologie neue Einsichten gewinnen, wenn der nostalgische Rückblick ergänzt würde durch eine systematische Analyse, wie in den jeweiligen Debatten boundary work und identity work miteinander verzahnt sind. Ich vermute, dass im Falle des Werturteils-

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Kontroversen vorbei zu sein scheint, finden sich in den letzten fünfzig Jahren eine Reihe von weiteren soziologischen Debatten, in denen die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis oft sehr direkt, fast unverblümt, und manchmal aus einer Art Verzweiflung oder einem Leiden an der eigenen Praxisferne heraus angesprochen wird. Instruktiv ist das auf die neunzehnhundertvierziger Jahre zurückgehende und vor allem in den neunzehnhundertsechziger und neunzehnhundertsiebziger Jahren in einer Reihe von Forschungsfeldern wirksam gewordene Paradigma der Aktionsforschung (action research). Dieses proklamiert eine Einbettung der Forschungspraxis in konkrete Anwendungskontexte, eine Verknüpfung wissenschaftlicher Forschungsfragen und praktischer Interessen sowie eine Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Akteuren auf Augenhöhe. Die Aktionsforschung wendet sich damit deutlich vom klassischen Werturteilspostulat ab. Betrachtet man ihre Entwicklung seit den neunzehnhundertsiebziger Jahren, kann man zwar eine anhaltende Rezeption in einigen anwendungsnahen Forschungsfeldern beobachten, in den Theorie- und Methodendiskussionen der Kerndisziplinen (Soziologie, Sozialpsychologie, Ökonomie, Erziehungswissenschaften etc.) spielt sie jedoch keine große Rolle mehr. Allerdings sind einige der zentralen Forderungen seit den neunzehnhundertneunziger Jahren unter neuen Namen zu neuer Prominenz gelangt: Offensichtliche Parallelen finden sich im Transdisziplinaritätsparadigma und in der mit diesem einhergehenden Forderung nach umfassender Partizipation von Praxispartnern in Forschungsprojekten. Entsprechend wird die Semantik der Aktionsforschung in neueren Publikationen gerne mit der Semantik der Partizipation verknüpft: Ein aktuelles Handbuch trägt den Titel „Action Research – Participative Inquiry and Practice“ (Reason/Bradbury 2013). Die Aktionsforschung verdeutlicht erneut die Absurdität der Elfenbeinturmprämisse. Wir haben es hier mit einem über Jahrzehnte erfolgreichen Diskurs zu tun, der zu unzähligen Forschungsprojekten, Publikationen, letztlich auch zur Gründung eigener Zeitschriften geführt hat, und dies alles auf Basis der Initiative der praxissehnsüchtigen Sozialwissenschaftler/innen selbst – denn es sind nicht die Praktiker/-innen, die sehnsüchtig an

streits Probleme des boundary work noch überwiegen, während sich der Positivismusstreit innerhalb der dann schon weitgehend stabilisierten Grenzen auf identity work konzentriert.

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den sozialwissenschaftlichen Elfenbeinturm klopfen und um Aktionen bitten, es sind die Sozialwissenschaftler/-innen, die ihrer Arbeit durch den Praxiskontakt Sinn zu verleihen suchen. Das Beispiel zeigt auch, dass die Identitätsarbeit wissenschaftlicher Disziplinen nicht bloß semantisches Beiwerk ist, sondern durchaus die Forschungspraxis und die institutionelle Einbettung der Forschung verändern kann. Nun wurde über den Erfolg der praxisorientierten Sozialwissenschaften bekanntlich viel gestritten. Die unter anderem durch die Aktionsforschung markierten Hoffnungen auf eine unmittelbar in die gesellschaftliche Umwelt ausgreifende und problemlösende Sozialwissenschaft waren schon im Verlauf der neunzehnhundertsiebziger Jahre abgekühlt. In den neunzehnhundertachtziger Jahren diagnostizieren Ulrich Beck und Wolfgang Bonß entsprechend „[e]nttäuschte Praxishoffnungen“ und „Rationalisierungszweifel“ in der sozialwissenschaftlichen, insbesondere soziologischen Gemeinschaft (Beck/Bonß 1984: 381). Zugleich, so die Autoren, bestehe kein Konsens, wie diese Krise zu bewältigen sei. Ihr Vorschlag lautete vor diesem Hintergrund, das Theorie-Praxis-Problem in ein Forschungsprogramm zu übersetzen und die Frage, ob, wie und in welcher Weise sozialwissenschaftliches Wissen in der Praxis „verwendet“ wird, systematischer, nicht zuletzt empirisch, zu untersuchen. In Deutschland setzte sich dafür das Label der Verwendungsforschung durch, ähnliche Forschungsprogramme finden sich jedoch auch im internationalen Kontext. Als Beispiel kann die neunzehnhundertneunundsiebzig gegründete Zeitschrift „Knowledge: Creation, Diffusion, Utilization“ genannt werden, die neunzehnhundertvierundneunzig eingestellt wurde und mit den fünfzehn Jahren ihres Bestehens ziemlich genau die Konjunktur des Verwendungsforschungsdiskurses anzeigt. Man kann hier von einer Re-Theoretisierung oder Verwissenschaftlichung der Praxissehnsucht sprechen. Für den vorliegenden Beitrag sind die Resultate dieser Studien – etwa die These, dass die Übersetzung sozialwissenschaftlichen Wissens im gesellschaftlichen Alltag durch Trivialisierungen gekennzeichnet ist und dass dadurch der praktische Erfolg der Sozialwissenschaften invisibilisiert wird (Beck/Bonß 1984: 392ff.) – weniger interessant als die Tatsache, dass man hier erneut die Soziologie bei ihrer Identitätsarbeit beobachten kann. Während die Aktionsforscher/-innen ihre Praxissehnsucht unmittelbar durch ein Hineinwirken in die Praxis zu stillen suchen, treten die Verwendungsforscher/-innen gewissermaßen einen Schritt zurück und versuchen, die Wege von der Wissenschaft zur Praxis

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mit Mitteln der empirischen Forschung zunächst besser zu verstehen – natürlich nicht ohne die Hoffnung, dieses Wissen dann wiederum für einen vorteilhafteren Transfer einsetzen zu können. Auch lange nach dem Abebben der Faszination für die Verwendungsforschung bleibt die Hoffnung auf eine „Lösung des Theorie-Praxis-Problems“ (Kühl 2003: 15) Gegenstand der disziplinären Selbstverständigung. Als ein letztes Beispiel für die identitätskonstitutive Bedeutung der sozialwissenschaftlichen Praxissehnsucht sei abschließend noch die in der jüngeren US-amerikanischen Soziologie einflussreiche Debatte um eine öffentliche Soziologie (public sociology) angesprochen. 8 Zwar steht hier nicht die Praxis im Allgemeinen im Fokus, sondern die Öffentlichkeit, also gewissermaßen eine demokratietheoretisch formatierte Variante der Praxis, doch die dabei zur Geltung kommenden Sehnsüchte sind strukturell ähnlich gelagert. Angestoßen wurde die Debatte zweitausendvier durch Michael Burawoy, der damit zugleich seine Rolle als neu gewählter Präsident der American Sociological Association zu definieren suchte. In seiner Antrittsrede entwickelt Burawoy eine idealtypische Arbeitsteilung der Soziologie und unterscheidet entsprechend, gut parsonianisch, vier Subfelder (Burawoy 2005: 9–11): Das erste Feld ist besetzt durch die „professional sociology“, die als konsolidierter und institutionalisierter Kern der Disziplin fungiert. Zweitens wird eine „policy sociology“ skizziert, die sich mit extern vorgegebenen Forschungsthemen beschäftigt und insofern auch als „anwendungsorientierte Abteilung“ beschrieben werden könnte (Damitz 2013: 251). Hier klingt die klassische Semantik des Wissenstransfers an. Das dritte Feld ist dasjenige der „critical sociology“, die die Prämissen und Voreingenommenheiten der professionellen Soziologie reflektiert und Korrekturen anstößt, dabei aber auf ein akademisches Publikum orientiert bleibt. Die „public sociology“ schließlich zielt ebenfalls auf ein reflexives Wissen, bindet zugleich aber das außerwissenschaftliche Publikum mit ein. Dieses Publikum soll nicht einseitig adressiert werden, vielmehr ist eine dialogische Beziehung angedacht, in der die Agenda der Soziologie und die Agenda multipler zivilgesellschaftlicher Akteure aufeinander abgestimmt werden (Burawoy 2005: 9). Unabhängig davon,

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Für die deutsche Soziologie ist dieser Diskurs nicht repräsentativ, auch wenn es von mehreren Seiten her Bemühungen gibt, ihn auch hierzulande aufzugreifen – jüngst etwa die Initiative „DGS goes public“ (Lessenich/Neckel 2012).

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wie man den analytischen Wert und die Fallstricke des von Burawoy entwickelten Vierfelderschemas einschätzt, 9 ist dieses erneut illustrativ für die Art und Weise, wie in soziologischen Grundsatzdebatten die Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis in die disziplinären Selbstbeschreibungen hineinkopiert wird: Die Praxis wird – in verschiedenen Gewändern: „policy“, „critical“, „public“ – zum konstitutiven Moment der disziplinären Identität. Diesen Punkt übersieht Ralf Damitz, ein deutscher Verfechter der öffentlichen Soziologie, wenn er umgekehrt behauptet, die Thesen Burawoys stellten „Sprengstoff für die soziologische Identität“ dar. Diese Aussage wäre nur dann zutreffend, wenn sich die Soziologie primär als pure science definieren würde, doch ein solches Selbstverständnis, das betont auch Burawoy (2005: 5), wurde in der Geschichte der Soziologie kaum jemals vertreten. Treffender wäre es demnach, von Klebstoff, nicht von Sprengstoff zu sprechen. Dennoch scheint es auch und gerade für Soziolog(inn)en, die ihre Arbeit explizit als öffentliche verstehen, ein Bedürfnis zu sein, sich selbst als Partisan(inn)en darzustellen. Als Beispiel kann hier die (auf einer persönlichen Homepage platzierte und damit öffentliche) Selbstbeschreibung eines weiteren deutschen Vertreters der public sociology zitiert werden: „Über meine Beschäftigung mit Tafeln in Deutschland wurde ich zu einem öffentlichen Soziologen. Ich sehe in einer öffentlichen Soziologie die zeitgemäße Möglichkeit, soziologische Expertise dorthin zu bringen, wo sie hingehört: in die Gesellschaft. Das ist in letzter Zeit ein wenig in Vergessenheit geraten. Kern meiner öffentlichen Soziologie ist der Drang, mich in öffentliche Debatten einzumischen und darin eine Haltung zu zeigen. Das ist in letzter Zeit ein wenig unmodern geworden.“ (www.stefan-selke.de, Zugriff vom 18.08.2015)

Dieses kurze biografische Statement bringt die meisten Thesen des vorliegenden Beitrages auf den Punkt: Die Sehnsucht („der Drang“) nach der Praxis kommt von innen, nicht von außen. Sie baut auf der alten und ritualisierten Forderung auf, den Elfenbeinturm zu verlassen, und kombiniert diese Forderung mit der ebenso traditionellen Idee eines Wissenstransfers („Expertise dorthin zu bringen, wo sie hingehört“). Und vor allem: Die Sehnsucht ist Moment biografischer Er-

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Für eine weitergehende Auseinandersetzung siehe Osrecki (2011: 23ff.).

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zählungen, beziehungsweise wissenschaftlicher Selbstbeschreibungen, und teilt mit diesen das narrative Element (in diesem Fall in aller Kürze durch den Hinweis auf das Erlebnis der „Beschäftigung mit Tafeln“). Übersetzt kann man formulieren: Ich war draußen, habe die Realität gesehen, sitze nun wieder im Turm, arbeite aber gegen alle Widerstände der etablierten professionellen Community daran, mit meinem Wissen zurück ins Leben zu finden und dort meinen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft zu leisten.

7. F AZIT Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sowohl in den historischen wie in den zeitgenössischen Diskursen zur Position der Wissenschaft, beziehungsweise der Wissenschaftler/-innen in der Gesellschaft, zunächst einfach um die Frage geht, wie die eigene Tätigkeit gesellschaftlich legitimiert werden und wie das wissenschaftliche Wissen der Praxis zugutekommen könnte. Diese Legitimations- und Grenzsicherungsdiskurse (boundary work) sind dabei untrennbar verbunden mit dem Problem der Selbstverständigung und Identitätsarbeit (identity work) der jeweiligen Disziplinen, wissenschaftlichen Gemeinschaften, Institutionen und letztlich auch der einzelnen Forscher/-innen. Im Zusammenspiel von boundary work und identity work entstehen Erzählungen, die sich phasenweise stabilisieren, zugleich aber fortlaufend variiert werden, und in denen sowohl die Wissenschaft wie auch die Praxis als semantischer Raum eine je spezifische und die Möglichkeiten weiterer Erzählungen strukturierende Form annehmen. Auch die in den Sozialwissenschaften verbreitete Sehnsucht nach der Praxis ist eingebettet in solche Erzählungen, oft fungiert sie sogar als tragende Struktur, denn sie evoziert zugleich die Realität der Grenze und das Motiv der Grenzüberschreitung. Mit dem immer neuen Aufruf zum Verlassen des Elfenbeinturms vergegenwärtigen wir uns also in ritueller Wiederholung einer Erzählung, die für unser Denken und Reden über die Wissenschaft so zentral ist, dass wir an ihr festhalten, ohne uns durch empirische Fakten irritieren zu lassen: Niemand behauptet, dass das Bild des Elfenbeinturms die Realität des heutigen Wissenschaftssystems sinnvoll wiedergibt.

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Rätsel und Paranoia als Methode – Vorschläge zu einer Innovationsforschung der Sozialwissenschaften 1 M ARTIN R EINHART

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20.10.2013: Kunst und Dissidenz, organisiertes Verbrechen, internationale Beziehungen 03.11.2013: Gentrifizierung, Korruption, Rechtsextremismus 10.11.2013: Gewalt, Drogen 17.11.2013: Neue Medien, Peergroups, Fremdenfeindlichkeit 24.11.2013: Migration, Verhältnis Stadt-Land, Landflucht 01.12.2013: Armut, Exklusion, Jugendkriminalität

Wissenschaftliche Texte sind keine Kriminalgeschichten. So wurde es mir in meiner Sozialisation zum Sozialwissenschaftler beigebracht. Wissenschaftliche Texte dürfen deshalb auch nicht mit einem Rätsel beginnen. Trotzdem stellt die Liste zu Beginn dieses Textes ein Rätsel dar. Worauf bezieht sich diese Aneinanderreihung von Daten und Themen? Handelt es 1

Diese Arbeit hat entscheidend von Diskussionen zum Programm Wissenschaftsforschung der Universität Basel mit Fritz Böhler, Mario Kaiser, Oliver Lieven, Torsten Mayerhauser und Barbara Sutter profitiert. Auch aus dem Austausch mit Clemens Blümel, Tanja Bogusz, Tim Flink, Stephan Gauch, Stefan Hornbostel und Jörg Potthast sind Ideen eingeflossen. Ihnen gilt mein Dank ebenso wie den Herausgeberinnen, einer kompetenten Lektorin sowie Susanne Förster und Tim Seitz.

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sich um eine Vortragsreihe an einem sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut? Oder um Themen einer öffentlichen Diskussionsreihe zu gesellschaftspolitischen Problemlagen? Sind damit die Themen einer wöchentlich ausgestrahlten, investigativen Reportagesendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen benannt? Um zur richtigen Antwort zu gelangen, braucht es einen weiteren Schritt in die angedeutete Richtung: Es handelt sich tatsächlich um Themen, die in der sonntagabendlichen Krimiserie Tatort im deutschen Fernsehen als Kontext der Kriminalerzählung gedient haben. 2 Es scheint, als würden in Kriminalerzählungen ähnliche Themen verhandelt wie in den Sozialwissenschaften. Damit wäre das erste Rätsel gelöst, ein zweites tut sich jedoch sogleich auf: Wie kommt es zu dieser thematischen Überlappung, und was hat das mit Wissenstransfer oder Innovation zu tun?

1. E INLEITUNG Wenn wir gegenwärtig in westlichen Gesellschaften an Wissenschaft denken, dann sind es meist die Naturwissenschaften, die uns in den Sinn kommen. Insbesondere in der Wissenschaftspolitik sind es Disziplinen wie die Biologie, Medizin oder Ingenieurwissenschaft, denen viel Aufmerksamkeit zukommt, weil wir uns von ihnen jenes Wissen und jene Technologien versprechen, die im Allgemeinen von gesellschaftlichem Nutzen sind und im Spezifischen wirtschaftliche Erfolgschancen versprechen. Auch die massenmediale Information und Unterhaltung bestätigen eine Imagination von Wissenschaft als vornehmlich naturwissenschaftlich und suggerieren uns, dass Wissenschaft in Labors stattfindet, experimentell arbeitet und schließlich in handfeste Anwendungen in Form von Technik und Technologie mündet. Dennoch wissen wir natürlich, dass zum einen im Verlauf der Geschichte verschiedene Forschungsfelder – nicht bloß Naturwissenschaften – als Leitdisziplinen für die gesellschaftliche Imaginationskraft gewirkt haben und dass zum anderen nicht nur innerhalb der Naturwissenschaften, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine Heterogenität

2

Es handelt sich um die Folgen: „Die chinesische Prinzessin“ (883), „Aus der Tiefe der Zeit“ (884), „Kalter Engel“ (885), „Eine andere Welt“ (886), „Mord auf Langeoog“ (887) und „Happy Birthday, Sarah“ (888).

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vorhanden ist, die sich einem einheitlichen Wissenschaftsbild widersetzt. Dieses Spannungsverhältnis zwischen heterogenem Wissenschaftssystem und vereinfachter medialer Darstellung von einer einheitlichen Wissenschaft ist solange unproblematisch, wie wir uns für die beiden Bereiche als weitgehend eigenständige interessieren. 3 Da aber sowohl in der Wissenschaftspolitik als auch in der Wissenschaftsforschung in den letzten Jahrzehnten der Transfer von Wissen aus der Wissenschaft in die Gesellschaft zunehmend thematisiert wird, stellt sich die Frage, wie dieses Spannungsverhältnis bearbeitet werden kann und wie beide Bereiche zusammengedacht werden können. Aus Sicht der Sozialwissenschaften stellt sich dies insofern als problematisch dar, als Transfer mehrheitlich als Transfer von Technik oder Technologie aus den Naturwissenschaften in die Gesellschaft dargestellt wird. Die Tatsache, dass mit dem Fokus auf Technik als Transfermedium der Blick dafür verloren geht, dass über Kommunikationsmedien zugleich auch neue Formen der Selbstbeschreibung von Gesellschaft transportiert werden, bringt den diesbezüglichen Beitrag der Sozialwissenschaften, ihre genuine Transferleistung, zum Verschwinden. 4 Es ist das lineare Modell der Innovation, das über weite Strecken des 20. Jahrhunderts sowohl für die Politik als auch für die wissenschaftliche Reflexion des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft bestimmend bleibt. Meist wird es Vannevar Bushs Bericht „Science – The Endless Frontier“ (1945) zugeschrieben und mit der Idee identifiziert, dass Grund-

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Wenn wir Gesellschaft als funktional differenziert verstehen wollen, dann wäre es beispielsweise naheliegend, die erwähnten Bereiche Wissenschaft, Politik und Medien als autopoietische Systeme zu bezeichnen und erst einmal in ihrer je spezifischen Funktionsweise zu beschreiben (Luhmann 1990, 1997).

4

Obwohl unabhängig voneinander entstanden, weist mein Beitrag zahlreiche Bezüge zu dem von David Kaldewey (in diesem Band) auf. Während sein Beitrag in vielen Punkten die Prämissen meiner Argumentation schon explizit macht und in eine allgemeinere Betrachtung einbettet – ich denke hier insbesondere an den Vorschlag, die Grenzsemantik nicht rein essentialistisch oder konstruktivistisch zu deuten, sondern zu fragen, „wie das Problem des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis innerhalb des durch die Grenzziehungsprozesse abgezirkelten Raumes selbst wieder thematisch wird“ (siehe Kaldeway in diesem Band) –, versuche ich mit Blick auf die Innovationsforschung auszuführen, was dies im konkreten Fall heißen kann.

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lagenforschung reines Wissen produziere, das dann im Rahmen angewandter Forschung in Technik beziehungsweise Technologie übersetzt und so gesellschaftlich nutzbar gemacht wird. Das Modell bleibt damit nicht nur der Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung verhaftet, sondern auch der Vorstellung eines linearen Transfers von Wissenschaft in die Gesellschaft, wobei es immer naturwissenschaftliche Disziplinen sind, die in verschiedenen Konstellationen als die treibenden Kräfte dieses modellhaften Verlaufs gedacht werden. Für den öffentlich-politischen Diskurs bleibt das lineare Modell die beherrschende Vorstellung davon, wie Wissenschaft Innovation für die Gesellschaft hervorbringt; in der Innovationsforschung wurden dagegen zahlreiche andere und vor allem komplexere Innovationsmodelle vorgeschlagen (Kap. 2). Obwohl das lineare Modell innerhalb der Innovationsforschung mehrheitlich als überholt gilt, ist es nicht gelungen, seine Bedeutung auch in öffentlich-politischen Diskursen zu marginalisieren. Ich gehe von der Annahme aus, dass die Innovationsforschung selbst einen Beitrag dazu leistet, dass das lineare Modell nicht ganz diskreditiert ist, insofern sie nach wie vor Wissenschaft mehrheitlich als naturwissenschaftlich versteht. Des Weiteren agieren auch die Naturwissenschaften aus dem Selbstverständnis heraus, aus ihrem Grundlagenwissen könne über kurz oder lang immer Anwendungswissen werden. Für Innovations- und Transferprozesse lässt sich daher die Frage stellen, was sich verändert, wenn wir anstelle der Naturwissenschaften die Sozial- oder Geisteswissenschaften ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Gelangen wir so zu gänzlich anderen Innovationsmodellen, oder lassen sich solche Überlegungen zumindest für eine kritische Diskussion der bestehenden Modelle nutzen? Die oben angeführte Liste mit Tatortthemen soll schon andeuten, dass das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Gesellschaft anders strukturiert zu sein scheint als dasjenige zwischen Naturwissenschaften und Gesellschaft. Die Sozialwissenschaften scheinen nicht so einfach als externe Instanz darstellbar zu sein, aus der in einem linearen Prozess Wissen in die Gesellschaft fließt. Vielmehr konkurrieren sie mit anderen Instanzen, wie beispielsweise den Massenmedien, um Deutungshoheit über das Gesellschaftliche, wobei erst einmal offen bleibt, inwiefern Sozialwissenschaften Quelle oder aber Empfängerin derartiger Deutungsangebote und gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen sind. Eine Konzeption der gesellschaftlichen Relevanz von Sozialwissenschaften, die entsprechend dem linearen

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Modell und dem Vorbild der Naturwissenschaften gedacht ist, kann diesem direkteren und unmittelbareren Verhältnis nicht ausreichend Rechnung tragen und soll deshalb unter dem Begriff der sozialen Innovation diskutiert werden. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden die Sozialwissenschaften zum Ausgangspunkt nehmen und fragen, wie sich das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, beziehungsweise die gesellschaftliche Relevanz von Wissenschaft modellhaft denken lässt, wenn darunter nicht (ausschließlich oder in erster Linie) die Naturwissenschaften verstanden werden. Orientieren wird sich meine Darstellung an der von Luc Boltanski in „Rätsel und Komplotte“ (2013) vertretenen These, dass die Erzählmuster der Sozialwissenschaften und der Kriminalgeschichte eine innere Verwandtschaft aufweisen, die historisch auf die Entstehung des Nationalstaates im 19. Jahrhundert zurückgeführt werden kann. Ich werde dabei zu dem Schluss kommen, dass die grundlegende Innovationsleistung der Sozialwissenschaften darin besteht, Deutungsangebote bereitzustellen, die für gesellschaftliche Selbstbeschreibungen genutzt werden können.

2. W ISSENSTRANSFER UND I NNOVATION DER S OZIALWISSENSCHAFTEN

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Die Bedeutung des linearen Modells kann kaum überschätzt werden. In der Wissenschaftspolitik war es für das Handeln in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend, und in der parallel dazu entstandenen Innovationsforschung nimmt es zumindest historisch einen gewichtigen Platz ein. 5 Dass es mehrfach für tot erklärt wurde – Edgerton (2004) hält das lineare Modell sogar grundsätzlich für einen Strohmann –, doch wieder auftauchte und verteidigt wurde (Fleck 2004; Balconi/Brusoni/Orsenigo 2010; Kaldewey 2013), lässt seine Bedeutung zumindest erahnen. Obwohl das Modell wie bereits erwähnt gewöhnlich Vannevar Bushs Bericht aus dem Jahr neunzehnhundertfünfundvierzig zugeschrieben wird, lassen sich Kernan-

5

Ausführliche Darstellungen des linearen Modells finden sich etwa bei Godin (2006), Kaldewey (2013), Misa (2004) oder Edgerton (2004). Überblicksdarstellungen zur Innovationsforschung leisten Martin (2012), Fagerberg (2006), Caraça/Lundvall/Mendonça (2009) und Braun-Thürmann (2005).

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nahmen – etwa die Unterscheidung zwischen „basic“ und „applied research“ – bis auf das ausgehende 19. Jahrhundert zurückverfolgen (Kaldewey 2013: 361; Kline 1995; Pielke 2012; Schauz 2014). Bushs Bericht gehört zunächst zu den meistzitierten Arbeiten in der Innovationsforschung und ist in der „Prähistorie“ des Feldes neben den Arbeiten von Schumpeter und Ogburn prominent vertreten (Martin 2012). Im Verlauf der weiteren Entwicklung der Innovationsforschung verliert das Modell jedoch relativ schnell an Bedeutung, mit Ausnahme der Kontroverse, ob Innovation durch „science-push“ oder „demand-pull“ zu erklären sei, die noch bis in die neunzehnhundertachtziger Jahre anhält (Martin 2012: 1230). Bedeutsamer als für die Innovationsforschung bleibt das lineare Modell für die Legitimation staatlicher Förderung von Wissenschaft und für allgemeine gesellschaftliche Vorstellungen darüber, wie es zu Innovation kommt. Die Innovationsforschung entwarf und diskutierte dagegen in den letzten fünfzig Jahren eine Vielzahl von Ansätzen und Modellen, die meist entschieden komplexer sind als das lineare Modell. Zu unterscheiden sind etwa mehrere lineare und non-lineare Modelle von Innovationsprozessen, für deren Benennung Metaphern wie „Ketten-“, „Rugby-“ oder „Feuerwerkmodelle“ zur Verfügung stehen (einen Überblick liefert Braun-Thürmann 2005). Martin (2012) stellt trotz dieser Modellvielfalt ein allmählich hervortretendes konzeptuelles Zentrum fest: „[T]he early 1980s witnessed the emergence of what has gradually become for many a common conceptual framework based around evolutionary economics, the interactive model of innovation process, and, a little later, the notion of ,systems of innovation‘ and the resource-based view of the firm“ (ebd.: 1229). Als weitgehend separate Forschungsgemeinschaft mit eigenen Ansätzen und Konzepten entwickelt sich parallel zur Innovationsforschung die Wissenschafts- und Technikforschung, wobei sich bezüglich der Frage, wie sich das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft darstellt, durchaus Überschneidungen zwischen diesen Forschungszweigen ergeben. Die in der Wissenschafts- und Technikforschung entwickelten Konzepte wie „mode 1/mode 2“ (Gibbons et al. 1994) oder „triple helix“ (Leydesdorff/Etzkowitz 1998) gehen etwa ebenfalls über die Einfachheit des linearen Modells hinaus, beanspruchen aber im Unterschied zu den Konzepten der Innovationsforschung auch noch gesellschafts- oder zeitdiagnostisches Potenzial. Trotz der Dynamik in beiden Forschungsfeldern ist es weder den Modellen der Innovationsforschung noch jenen der Wissenschafts- und Technikforschung

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gelungen, das lineare Modell in den Vorstellungen der Öffentlichkeit und der Wissenschaftspolitik zu verdrängen oder gar abzulösen. Vielmehr zeichnet sich ab, dass insbesondere die Wissenschaftspolitik das lineare Modell aus eigenem Antrieb zu ersetzen beginnt, indem etwa auf Ebene der Europäischen Union (EU) nun plötzlich Begrifflichkeiten wie „frontier research“ oder „grand challenges“ (European Commission 2005, 2011) zur Orientierung wissenschaftspolitischen Handelns ausgerufen werden. Inwiefern aber stellt die Fixierung der Innovationsforschung (und der Wissenschafts- und Technikforschung) auf die Naturwissenschaften überhaupt ein Problem dar? Das lineare Modell (wie die meisten anderen Modelle) setzt voraus, dass zwischen Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen – meist die Wirtschaft – eine Übersetzungsleistung stattfindet, um aus Wissen dann Technik oder Technologie werden zu lassen. Obwohl sowohl der Technik- als auch der Wissenschaftsbegriff notorisch schwierig zu fixieren sind und insbesondere in der Wissenschafts- und Technikforschung die Ausweitung beider Definitionen die Abgrenzung der Begriffe voneinander (Strübing 2003) erschwert, verleitet die Beschäftigung mit Naturwissenschaften dazu, unter dem Resultat von Innovationen etwas Gegenständlich-Materielles zu verstehen. 6 Im Gegensatz dazu steht das „Tatort“-Beispiel, anhand dessen man sich eine Reihe von Fragen stellen kann, die unter Umständen quer zu derartigen Innovations- und Anwendungsvorstellungen stehen. Stellen die Themen des „Tatorts“ ebenfalls Innovationen dar, und zwar in dem Sinne, dass sie als ursprüngliche Perspektiven und Resultate der Sozialwissenschaften (Invention) nun Eingang in die Massenmedien (Diffusion) gefunden haben? Auf welchem Weg sind sie dahin gelangt? Oder läuft der Innovationsprozess in die umgekehrte Richtung, sodass in den Massenmedien Problemlagen erstmals identifiziert werden, deren sich die Sozialwissenschaften dann in der Folge annehmen?

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Damit soll nicht geleugnet werden, dass die Technikforschung dieses Problem schon lange erkannt hat. Werner Rammert (2007) stellt etwa fest: „Eine substanzielle Differenz zwischen Technik und Gesellschaft kann nicht aufrechterhalten werden“ (ebd.: 52). Es geht vielmehr darum, zu benennen, dass es nicht gelungen ist, eine solche Vorstellung von Technik auch über den Kreis der Innovations-, Wissenschafts- und Technikforschung hinaus wirkmächtig werden zu lassen.

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Nehmen wir das Beispiel ernst, können wir davon ausgehen, dass zwischen den Sozialwissenschaften und anderen gesellschaftlichen Bereichen Bedeutungsgehalte sehr viel ungehinderter fließen, als dies dort zu beobachten ist, wo gewöhnlich von Technik gesprochen wird. Wenn solche Diffusionsprozesse auch Innovation oder gar soziale Innovation darstellen, dann wird nicht nur deutlich, dass sie sehr niederschwellig angelegt sind, da sie erst einmal rein sozial beziehungsweise kommunikativ gedacht sind und nicht auf Materialität oder erwartbare Wirksamkeit rekurrieren, sondern auch, dass sie als Reaktionen auf ein Problem, das einer Lösung mittels technischer Innovation zugänglich ist, nicht plausibel gedeutet werden können. Eine auf Naturwissenschaften fokussierte Innovationsforschung dürfte demnach Schwierigkeiten haben, solche Phänomene adäquat zu fassen, es sei denn, sie verstünde Technik konsequent als Medium beziehungsweise Sprache (Kaiser 2015). Die Frage, ob mit den bestehenden Modellen so etwas wie soziale Innovation und die Anwendbarkeit sozialwissenschaftlichen Wissens zufriedenstellend behandelt werden kann, ist darüber hinaus aber auch deshalb relevant, weil sie als Indikator für die Fähigkeit der Innovationsforschung zu Reflexivität dienen kann. Mit Reflexivität ist hier gemeint, dass die Innovationsforschung auch ihre eigenen Konzepte und Modelle als Innovationen verstehen können muss. Erst dann versetzt sie sich in die Lage, mit eigenen Mitteln der Frage nachzugehen, weshalb das lineare Modell trotz seiner offensichtlichen Schwächen für gesellschaftliche Vorstellungen von Innovation nicht an Geltung eingebüßt hat, während die elaborierteren Modelle außerhalb eines Wissenschaftsdiskurses und insbesondere in der Wissenschaftspolitik kaum Bedeutung erlangt haben. 7 Anlass zu einer solchen Betrachtung gibt unter anderem das Wiederauftauchen der mit dem Begriff der technischen Innovation verwandten Begrifflichkeit „soziale Innovation“ (Howaldt/Jacobsen 2010; Zapf 1989). Robert K. Merton (1968) hatte sie als die Erreichung anerkannter Ziele mit

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Es lässt sich hier sicher zurecht einwenden, dass insbesondere in wirtschaftlichen Kontexten zahlreiche Innovationsmodelle sehr viel bereitwilliger aufgenommen und zum Ausgangspunkt konkreter Handlungs-, sprich: Innovationsstrategien gemacht wurden als in der Wissenschaftspolitik. Um das hier vorgebrachte Argument einfach zu halten, kann ich auf diesen Einwand zunächst keine Rücksicht nehmen und behaupte auch, dass dies der weiteren Argumentation nicht abträglich sein wird.

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neuen Mitteln definiert, aber auch darauf verwiesen, dass es sich bei einer sozialen Innovation um eine Form abweichenden Verhaltens handelt (ebd.: 194ff.). Zapf (1989), die den Begriff in der Folge normativ umdeutet und verlangt, soziale Innovationen müssten zum einen „die Richtung des sozialen Wandels verändern“ und zum anderen zur Verbesserung einer Problemlösung beitragen, weshalb sie es wert seien, nachgeahmt und institutionalisiert zu werden (ebd.: 178). Dabei sind sie als mit technischen Innovationen „verwandt“ gedacht, indem sie deren Voraussetzungen, Begleitumstände oder Folgen darstellen (Klein 2010: 272f.). Rammert wiederum (2010) weist darauf hin, die Unterscheidung von „technisch“ und „sozial“ mit Bezug auf Innovation sei als ein Verhältnis der gegenseitigen Bedingtheit zu verstehen: „So könnte sich eine sogenannte ‚technische‘ Innovation bei näherem Hinsehen als eine ‚soziale‘ Innovation oder gar als ein gemischtes Bündel von Innovationen verschiedener Art erweisen“ (ebd.: 28). Ich werde in der Folge an die dargestellte Literatur so anschließen, dass ich den Ausgangspunkt der Innovationsforschung übernehme, wonach Innovation als nicht einfach lineares Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zu begreifen ist. Zudem setze ich die Diagnose einer Wissensgesellschaft (Stehr 1994) voraus. Als Referenzrahmen verwende ich dabei aber nicht die Naturwissenschaften und ökonomischen Markterfolg, sondern die Sozialwissenschaften und kulturelle Deutungshoheit. Aus der Debatte zur sozialen Innovation übernehme ich die Definition von Innovation als etwas grundlegend Sozialem, wobei ich das Soziale nicht als Handlung, sondern als Kommunikation auffasse. Dadurch lassen sich die Probleme der Unterscheidung von ‚technisch‘ und ‚sozial‘ ignorieren, weil auch das Technische kommunikativ oder medial und mithin sozial gedacht wird (Kaiser 2015). Soziale Innovationen sind demzufolge als Sinnstrukturen zu verstehen, die sich im Zusammenspiel von (Sozial-)Wissenschaft und Gesellschaft entwickeln. Der Versuch, die Sozialwissenschaften als Ausgangspunkt der Betrachtung von Innovation oder Anwendung zu nehmen, ist der Überlegung geschuldet, dass es produktiv sein könnte, die Orientierung an den Naturwissenschaften so weit wie möglich abzustreifen, um zu „fremden“ Einsichten über Innovation zu gelangen. Grundlage für eine solche Betrachtung sollen die Thesen von Luc Boltanski zur Parallelität von Kriminalerzählung und Sozialwissenschaft bilden, die bereits mit dem einleitenden Beispiel zum „Tatort“ angedeutet wurde.

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3. P ARANOIA IN K RIMINALROMANEN UND S OZIALWISSENSCHAFTEN „Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts streiten Literatur und Soziologie um den Anspruch, die Schlüsselorientierung der modernen Zivilisation zu liefern, die angemessene Lebenslehre der Industriegesellschaft zu sein“, so formuliert Wolf Lepenies (1985: I) in seiner Studie „Die drei Kulturen: Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft“, in der er die Soziologie in der prekären Situation sieht, zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften eine „dritte Kultur“ darzustellen. Das Prekäre der Soziologie entspringt ihrem Anspruch, als so wissenschaftlich gelten zu wollen wie die Naturwissenschaften, zugleich aber auch zeitdiagnostisch in Form von gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen wirksam zu sein. In diesem zweiten Anspruch konkurriert sie mit der Literatur und historisch insbesondere mit dem Genre des Gesellschaftsromans. Ursprung für diesen Konflikt und die Positionierung zwischen zwei Fronten ist Lepenies zufolge das Ende des „Amateurstadiums der Wissenschaften“ (Lepenies 1985: II) in Form einer Ausdifferenzierung der Wissenschaft, wodurch auch „eine scharfe Trennung der Produktionsweisen literarischer und wissenschaftlicher Werke nicht [mehr] möglich sei“ (Lepenies 1985: II). Boltanski greift die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert wieder auf, fokussiert dabei aber nicht auf ein mögliches Konkurrenzverhältnis, sondern auf Parallelen, Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten zwischen beiden. Es sind hauptsächlich text- und sprachbezogene Aspekte wie Semantiken und Grammatiken, die ihn dabei interessieren. Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass das aufkommende Genre des Kriminalromans Erzählstrukturen aufweist, die auch aus den Sozialwissenschaften bekannt sind. Zu den zentralen Elementen dieser Erzählstruktur gehört das Rätsel – in Form eines offensichtlichen Verbrechens oder auch nur eines kleinen Indizes –, welches (im Falle des Kriminalromans) den Kommissar von Amts wegen oder wegen seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungskapazitäten dazu veranlasst, aktiv zu werden, es aufzuklären und in der Folge den gewohnten Gang des gesellschaftlichen Lebens wiederherzustellen. „Das Rätsel ist von daher eine Eigentümlichkeit [...], die man als anormal bezeichnen kann, weil sie mit der Art und Weise bricht, wie die Dinge sich unter normalen

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Bedingungen darstellen würden, so dass es dem Verstand nicht gelingt, diese beunruhigende Merkwürdigkeit in den Bereich der Realität einzuordnen. So verletzt das Rätsel das nahtlose Gewebe der Realität“ (Boltanski 2013: 24).

Der zentrale Begriff stellt hier Realität dar, an der sich festmachen lässt, welche Geschehnisse als normal und welche als auffällig und damit als anormal zu gelten haben. „Die Realität wird dagegen durch vorab festgelegte Formate stabilisiert, die von Institutionen getragen werden, welche zumindest in unseren Gesellschaften häufig juristischer oder parajuristischer Art sind. Diese Formate bilden eine Semantik, die besagen soll, was es mit dem, was ist, auf sich hat. [...] Die Realität stellt sich dadurch als ein Netz aus Kausalbeziehungen dar, die zwischen den Ereignissen, mit denen die Erfahrung konfrontiert ist, einen Zusammenhang herstellen.“ (Boltanski 2013: 25)

Das Normale, sprich: die Realität, wird also gestützt durch eine Semantik, die es erlaubt, Erfahrungen so einzuordnen, dass sie als Kausalbeziehungen zwischen Ereignissen gedeutet werden können. Dem Begriff des Realen wird derjenige des Reellen gegenübergestellt, was nicht in der Semantik gefasst werden kann, die durch juristische oder parajuristische Institutionen stabilisiert wird und was sich somit dem entsprechenden Netz aus Kausalbeziehungen entzieht. Als Illustration dieser Unterscheidung lässt sich der Schelmenroman anführen (Boltanski 2013: 27–35). Die Hauptfigur solcher Geschichten erlebt und meistert zwar ebenfalls Episoden, die als rätselhaft bezeichnet werden können, jedoch sind diese Handlungsverläufe immer bloß lokal und situativ eingebettet. Es findet sich in diesen Geschichten keine Normalität, auf die man sich verlassen kann. Vielmehr findet jede Episode in einem neuen Kontext statt, in dem die Hauptfigur nur reduziert auf Erwartungen zurückgreifen kann, die erlauben, vorwegzunehmen, wie die Realität strukturiert ist. Man könnte sagen, dass sich das Reelle durch instabile Strukturen der Erwartungserwartungen auszeichnet, während diese im Realen stabil sind. Es stellt sich also die Frage, wodurch die Realität stabilisiert wird, damit jene Normalitätserwartungen ausgebildet werden können, die die Grundlage für das Rätsel im Kriminalroman bilden. Boltanskis Antwort auf diese Frage lautet: Es ist der Nationalstaat, der diese Form der Normalität ermöglicht.

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Der Nationalstaat etabliert ein festes Territorium und schafft darin eine Reihe von Normalität stiftenden Institutionen. Er übernimmt die Aufgabe, Ereignisse in erwartbare Bahnen zu lenken und diese Erwartbarkeiten auch öffentlich zu machen. Das Funktionieren des Nationalstaates ist an seine Fähigkeit geknüpft, eine stabile Realität aufrechtzuerhalten. Diese Logik des Territoriums wird allerdings permanent durch die Logik der Ströme durchkreuzt. „Einerseits die Logik des Territoriums als einheitlichem, eingegrenztem Raum mit einer homogenen Bevölkerung, zu deren Schutz der Staat bestimmt ist, andererseits die Logik der Ströme, die unbemerkt von den rechtmäßigen Bewohnern und ohne dass der Staat sie daran hindern kann das Territorium durchqueren und in Gefahr bringen“ (Boltanski 2013: 58).

Mit Rückgriff auf Begrifflichkeiten von Saskia Sassen (2008) wird hier auf die Heterogenität der Akteure – „Ströme“ – verwiesen, die andere als die „rechtmäßigen Bewohner“ sind und das nationalstaatliche Territorium durchqueren: Spione, Sozialisten, Agitatoren, Terroristen usw., aber vor allem natürlich auch Arbeiter sowie Waren- und Finanzflüsse, die vom Kapitalismus ausgehen. Sie alle bedrohen den Nationalstaat in der Aufrechterhaltung seiner Realität. Kriminalerzählung und Sozialwissenschaft sind zwei Formen, in denen diese Bedrohung thematisiert wird, wenn auch in ambivalenter Weise. Der Kriminalroman tritt ursprünglich als weitgehend konservative Erzählform auf. Ein anormaler Vorgang – ein Rätsel – wird beobachtet, dieses stellt den normalen Gang des gesellschaftlichen Lebens – die Realität – infrage, eine kriminelle Handlung kann vermutet und muss aufgedeckt werden, der Verbrecher ist zu bestrafen und dadurch wird Normalität, sprich: Realität, wiederhergestellt. Das Konservative an der ursprünglichen Erzählform ist natürlich, dass das Rätsel nicht nur gelöst wird, sondern auch die Wiederherstellung der Ordnung gelingt. Trotzdem enthält die Kriminalerzählung insofern etwas Problematisches für die nationalstaatliche Ordnung, als dass die bloße Möglichkeit der Abweichung von der Realität in ihr zum Thema wird. Auch in seiner konservativen Form imaginiert der Kriminalroman die Gesellschaft also als etwas Fragiles; und je weiter das Genre sich entwickelt, umso mehr wird gerade dieser Aspekt bekanntlich auf die Spitze getrieben. Zunehmend werden gesellschaftliche Verhältnisse geschildert,

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die geradezu durchtränkt sind von Kriminalität und in denen das Rätsel zwar eben gerade noch gelöst werden kann, aber eine Rückkehr zur Ordnung im Extremfall kaum mehr möglich oder sinnvoll erscheint. Hier grenzt das Genre dann an den roman noir oder die hard-boiled detective novel. Mit Blick auf die Entwicklung des Genres kann die Fernsehserie „Tatort“ als überwiegend konservative Erzählform gelten. Die Kriminalerzählung setzt sowohl bei ihrem Protagonisten, dem Kommissar, als auch bei ihrer Leserschaft eine spezifische Geisteshaltung voraus: Es liegt in der Logik des Rätsels, dass beide permanent auf der Hut sein müssen, wenn ihnen keine Indizien entgehen sollen. Jede noch so kleine Gegebenheit könnte schließlich ein Anhaltspunkt für ein neues Rätsel oder die Lösung eines alten Rätsels sein. Eine Aufmerksamkeitssteigerung ist die Folge, der die permanente Vermutung zugrunde liegt, die Normalität des gesellschaftlichen Geschehens könnte gestört sein. Wird dieser Wahrnehmungsmodus zum Dauerzustand und damit pathologisch, sprechen wir von Verfolgungswahn oder Paranoia. Boltanski (2013) hält es nun für keinen Zufall, dass die Paranoia als psychologische Diagnose zur selben Zeit auftaucht wie der Kriminalroman (ebd.: Kap. 5). Paranoia scheint das perfekte Krankheitsbild für Personen zu sein, die in der Lage sind, die Realität als bloße Oberfläche zu erkennen, unter der andere Funktionsprinzipien zu vermuten sind. Im nicht krankhaften Zustand bedarf es dieser Fähigkeit, wenn jemand einen rätselhaften Kriminalfall lösen oder eine Kriminalerzählung lesen will. Und es bedarf dieser Fähigkeit, wenn jemand sozialwissenschaftliche Analysen betreiben will. Denn wie der Kriminalroman, so zeichnen sich auch die Sozialwissenschaften dadurch aus, dass sie zwischen einer gesellschaftlichen Oberfläche und den darunterliegenden Kräften unterscheiden. Das Verhältnis dieser beiden Ebenen wird auch hier als Rätsel gefasst, und zwar als eines, für dessen Klärung die Sozialwissenschaften exklusiv zuständig sind. Beispiele für solche Fragen, die wie Rätsel daherkommen, gibt es unzählige: Wie kommt es, dass Wähler Parteien wählen, die gar nicht ihre Interessen vertreten? Weshalb begehen überall mehr Frauen als Männer Selbstmord, außer in China? Weshalb weigern sich viele Menschen zu glauben, dass neunzehnhundertneunundsechzig Menschen auf dem Mond gelandet sind? Um solche Fragen beantworten zu können, sind ganz ähnliche Fähigkeiten und Verfahren erforderlich, wie sie der Kriminalkommissar verwendet. Es braucht den Verdacht, dass mit der Realität etwas nicht stimmen könnte

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und dass ein solches Rätsel auf etwas hinter der Realität verweist, was zu seiner Lösung beitragen kann. Charles Wright Mills (1959) nannte diese Geisteshaltung „sociological imagination“ und die Verfahren, die zum Einsatz kommen, sind natürlich die Methoden der empirischen Sozialforschung. Ebenso wie bei der Kriminalerzählung ist auch in den Sozialwissenschaften das Verhältnis zur gesellschaftlichen Ordnung – der Realität – ein ambivalentes. Insofern sie beide mit sozialwissenschaftlichen Erklärungen zur Lösung der aufgeworfenen oder vorgefundenen Rätsel beitragen können, sind sie tragende Kräfte der normalen gesellschaftlichen Ordnung. Denn wie die konservative Kriminalerzählung, so leistet auch sozialwissenschaftliche Erkenntnis einen Beitrag zur Wiederherstellung einer transparenten nationalstaatlichen Ordnung. Damit ist nicht gesagt, dass Sozialwissenschaft nicht auch kritisch sein könnte. Es kann vielmehr durchaus sein, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnisse auch im kritischen Sinn auf einen Regelungsbedarf durch den Staat hinweisen. Ein Beispiel wäre etwa die sogenannte „soziale Frage“, die als Folge der industriellen Revolution entstandene Armut und Unsicherheit. Die sozialwissenschaftliche Forschung zu diesem Thema konnte als öffentlicher Hinweis auf als anormal zu klassifizierende Ereignisse jenseits nationalstaatlicher Kontrolle dienen. In der Folge wird der Staat zum Sozialstaat, um die Normalität wiederherzustellen. Auch in diesem kritischen Sinne sind die Sozialwissenschaften also tragende Kräfte der normalen gesellschaftlichen Ordnung. Für die gesellschaftliche Realität erweist sich das insofern als problematisch, als sie diese Funktion nur ausüben können, wenn sie die gesellschaftliche Realität an sich problematisieren. „Er [der Verbrecher] hat nämlich verstanden, dass die Realität faktisch weniger robust ist, als sie auf den ersten Blick erscheint und als diejenigen, die für die Aufrechterhaltung dieses Zustands zuständig sind, es die Naiven glauben lassen möchten. Und diese Intelligenz, die man vom Standpunkt der Vertreter der Ordnung als pervers bezeichnen kann, teilt der Verbrecher mit dem Gesellschaftskritiker [...], aber auch mit dem Soziologen.“ (Boltanski 2013: 71) 8

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Man beachte, wie auch Boltanski sich in diesem Beispiel der Unterscheidung zwischen einer gesellschaftlichen Realität und etwas Dahinter- oder Darunterliegendem bedient.

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Den Verbrecher, den Gesellschaftskritiker und den Soziologen eint demnach eine perverse Intelligenz, die für die gesellschaftliche Ordnung problematisch ist. Mit Boltanski ließe sich an den Sozialwissenschaften folglich kritisieren, dass sie allein durch die von ihnen eingenommene Perspektive einen Verdacht schüren, der gesellschaftliche Konsequenzen hat. Dieser Verdacht resultiert im schlimmsten Fall in gesellschaftsweiter Paranoia und im Zusammenbruch der normalen Ordnung. Dass es so weit allerdings nie kommt, liegt daran, dass sozialwissenschaftliches Wissen die Realität nicht nur demontiert, sondern auch stützt. Man könnte sagen, dass eben darin der Trick der Sozialwissenschaften besteht: Sie mobilisieren eine ambivalente oder perverse Intelligenz, die sowohl die gesellschaftliche Oberfläche als auch die verborgenen Kräfte zu fassen bekommt, sodass sich zwischen ihnen ein Rätsel formulieren lässt, für dessen Lösung die Gesellschaft auf die Kompetenz der Sozialwissenschaft angewiesen ist. Was Karl Kraus über die Psychoanalyse und Helmut Schelsky über die Gruppentherapie gesagt haben, könnte man auch über die Sozialwissenschaften sagen: „Die Sozialwissenschaften schaffen jene Krankheit, für deren Therapie sie sich halten“ (Schelsky 1975: 271, 292). Stimmt man der These Boltanskis beziehungsweise Schelskys zu, dass sich Sozialwissenschaften und Gesellschaft in einem Verhältnis der wechselseitigen Ko-Konstitution befinden, dann stellt sich die obige Frage nach Innovation anders. Wenn die Sozialwissenschaften Fremdbeschreibungen der Gesellschaft liefern, die zu gesellschaftlichen Realitäten werden, aus der Gesellschaft wiederum Selbstbeschreibungen in die Sozialwissenschaften als einem Teil dieser Gesellschaft fließen, dann kann sicherlich nicht mehr von einem linearen Verhältnis von der Wissenschaft hinein in die Gesellschaft gesprochen werden. Auf der begrifflichen Ebene leuchtet das unmittelbar ein, denn die Begriffe der Sozialwissenschaften sind nie reine Fachtermini, da sie immer wieder in Alltagssprache übersetzt werden müssen (Boltanski 2013: 405ff). Die Sozialwissenschaften sind damit bis zu einem gewissen Grad dem verpflichtet, was die gesellschaftliche Realität und ihre Semantik ermöglichen, punktuell aber auch in der Lage, neue semantische Aspekte einzubringen. So haben die Sozialwissenschaften etwa größte Schwierigkeiten, in ihren Theorien ohne eine Bezugnahme auf individuelle Akteure auszukommen, weil die gesellschaftliche Realität permanent einfordert, dass Zuschreibungen von Handlungen auf Individuen zu geschehen haben. Umgekehrt ist es den Sozialwissenschaften gelungen, Begriffe wie

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Schicht, Klasse, Gentrifizierung, Prekariat und viele andere in der Alltagssprache zu etablieren. Unterstützt wird diese Diffusion von Begrifflichkeiten und damit von Wissen in beide Richtungen auch durch die Mobilität von Personen. Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen bewegen sich schließlich nicht permanent im Feld der Sozialwissenschaften, sondern sind in der Gesellschaft selbstverständlich auch in anderer Funktion unterwegs und transportieren dabei ihre Begriffe und ihr Wissen. Ebenso befinden sich erhebliche Teile der Bevölkerung in Kontakt mit den Sozialwissenschaften, sei es, weil sie ein sozialwissenschaftliches Studium absolvieren, ein sozialwissenschaftlich gestaltetes Erziehungs- oder Ausbildungsangebot wahrnehmen, durch Massenmedien mit Resultaten sozialwissenschaftlicher Forschung in Kontakt kommen oder in Unterhaltungsangeboten unterschwellig mit sozialwissenschaftlichem Wissen in Berührung kommen. Diese Überschneidung von Alltagssprache und sozialwissenschaftlicher Fachsprache beschränkt sich nach Boltanski jedoch nicht nur auf einzelne Begriffe oder allgemeinere Fremd- beziehungsweise Selbstbeschreibungen von Gesellschaft, sondern ihr liegt eine gemeinsame „Grammatik“ zugrunde. Grammatik „bezeichnet ein implizites System von zwingenden Einschränkungen, die bei der Äußerung berücksichtigt werden müssen, wenn dem, um das es sich handelt, Spannungen oder Widersprüche innewohnen, die – so weit wie möglich – zu umgehen oder zu verbergen sind, um die Aussage akzeptabel zu machen. Da diese Einschränkungen aber nicht nur von dem Gegenstand abhängen, von dem die Rede ist, sondern auch von dem Kontext, in dem er zur Sprache kommt, können diese grammatischen Bedingungen je nach Äußerungssituation variieren, und zwar besonders danach, ob diese Situation öffentlich oder privat, offiziell oder spielerisch usw. ist“ (Boltanski 2013: 385f). Diese Art von Grammatik ist die Voraussetzung dafür, dass sich Aussagen aus den Sozialwissenschaften überhaupt als in die Gesellschaft übertragbar (und umgekehrt) erweisen. Damit ist sie natürlich auch die Voraussetzung für soziale Innovation und Wissenstransfer, da sie über die Akzeptanzbedingungen von Aussagen sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit bestimmt. Soziale Innovation, beziehungsweise Wissenstransfer stellen also nicht bloß eine Folge der partiellen Verschränkung des Vokabulars, sondern der grammatikalischen Gemeinsamkeiten von Alltags- und Fachsprache dar.

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Diese Grammatik wird bei Boltanski (2013) in drei Teile untergliedert: eine Grammatik der Normalität (ebd.: 385–389), eine Grammatik der Wahrscheinlichkeit (ebd.: 389–398) und eine Grammatik der Kausalität (ebd.: 399–472). Die Grammatik der Normalität spiegelt das wider, was weiter oben schon als „das Normale“ eingeführt wurde. In ihr tauchen alltägliche gesellschaftliche Vorstellungen dazu auf, wie Gesellschaft normalerweise funktioniert oder funktionieren sollte. Die Grammatik der Wahrscheinlichkeit stellt eine Mischform dar, in der sowohl die Akzeptanzbedingungen für wissenschaftliche als auch für nichtwissenschaftliche Aussagen reguliert werden. In literarischen Genres wie dem Kriminalroman geht es dabei etwa um innere Kohärenz, die der Erzählung Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit verleiht. In der Wissenschaftstheorie und der Epistemologie geht es um die Frage, „welchen Bedingungen […] die logischen Schlussfolgerungen genügen müssen, um für wahrscheinlich gehalten zu werden“ (ebd.: 389). Häufig sind etwa die Umstände, unter denen eine Beobachtung gemacht oder ein Experiment durchgeführt wird, für ihre Glaubwürdigkeit relevant. Wie eine solche Grammatik der Wahrscheinlichkeit in der modernen Wissenschaft etabliert wird, zeigt Steven Shapin (1994) im Kontext der Royal Society im 17. und 18. Jahrhundert, als insbesondere der Adelsstand und die damit assoziierte Norm der Wahrhaftigkeit zur Bedingung für die Wahrscheinlichkeit wahrer Beobachtungen und Aussagen über die Natur wurden. Boltanski führt die Verschwörungstheorie, die sowohl in Kriminalerzählungen als auch in den Sozialwissenschaften eine prägende Rolle spielt, als Beispiel für eine Grammatik der Wahrscheinlichkeit an. Die Grammatik der Kausalität ist schließlich das ureigene Gebiet der Sozialwissenschaften, in dem diese festlegt, wie das Handeln verschiedener gesellschaftlicher Akteure aufeinander bezogen ist, sodass sich daraus ergibt, was Boltanski (2013) „die Beschreibung und die Analyse der verschiedenen Modalitäten des sozialen Bandes“ (ebd.: 398) nennt. Die drei Grammatiken sind aufeinander bezogen, indem sie festlegen, was wir als normalen Gang des gesellschaftlichen Lebens erwarten, für wie wahrscheinlich wir Aussagen halten, die auf ein Abweichen von dieser Normalität reagieren, und wie diese Abweichung schließlich kausal zu erklären ist. Kurz gesagt: Sie legen fest, was als real gelten kann. Rückt man nun wieder die Frage nach dem Wesen der sozialen Innovation, beziehungsweise nach dem Transfer sozialwissenschaftlichen Wissens in den Fokus, so bildet diese Grammatik als Ganzes eine Voraussetzung da-

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für, dass sich sozialwissenschaftliches und alltägliches Wissen überhaupt aufeinander beziehen lassen. Auf dieser Basis stellen Kriminalerzählung und sozialwissenschaftliche Erklärung konkrete Innovationen dar, an denen die Sozialwissenschaften notwendigerweise beteiligt sind. Bei derartigen Innovationen handelt es sich offensichtlich nicht um materielle Techniken und auch kaum um jene Art Wissen, die etwa die Verwendungsforschung anstrebt (siehe dazu Kaldeway in diesem Band). Vielmehr sind es Sinnstrukturen, die es erlauben, das Gesellschaftliche in Form von Selbst- oder Fremdbeschreibungen zu erzählen und dabei zu markieren, was normal, wahrscheinlich und ursächlich ist. In gewisser Weise gehören diese sozialen Innovationen, zu denen die Sozialwissenschaften einen Beitrag leisten können, zu den weitreichendsten überhaupt, da sie festlegen, als was sich Gesellschaften selbst verstehen und welche Möglichkeiten des sinnhaften Bezugs aufeinander gesellschaftlichen Akteuren gegeben sind.

4. TV-S ERIEN

VS . SOZIALWISSENSCHAFTLICHE

T HEORIE

Bei Lepenies (1985) geht es um die Konkurrenz von Gesellschaftsroman und Sozialwissenschaft, bei Boltanski (2013) um die Gemeinsamkeiten von Kriminalerzählungen und sozialwissenschaftlichen Erklärungen, und diese Linie lässt sich in die Gegenwart fortsetzen. Im Vergleich von Lepenies und Boltanski wird deutlich, dass die Konkurrenz zwischen dem Literarischen und dem Sozialwissenschaftlichen nur möglich ist, weil sie auf der Gemeinsamkeit einer einheitlichen Grammatik aufbaut. Die Entwicklung und Stabilisierung dieser Grammatik ist aber wiederum ein Resultat der konkurrierenden gegenseitigen Bezugnahme von Literarischem und Sozialwissenschaftlichem. Man könnte von einem dialektischen Prozess sprechen oder aber auch von Ko-Konstitution. Fragt man sich nun, wie sich dieser Prozess in die Gegenwart projizieren lässt, so sind zwei Sachverhalte auffällig. Zum einen ist das Literarische durch neue Medien und Globalisierung massiv ausgeweitet und fragmentiert, zum anderen hat die Bildungsexpansion zu einer viel höheren Durchdringung der Gesellschaft mit sozialwissenschaftlichem Wissen geführt, und zwar sowohl bei den Produzenten als auch den Rezipienten literarischer Produkte. Bücher, Filme, Fernsehserien, Dokumentarfilme, Comics, graphic novels und vieles mehr brin-

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gen auf traditionellen und neuen medialen Kanälen eine nie dagewesene Vielfalt von Erzählungen hervor, die bezüglich Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik den Sozialwissenschaften kaum nachstehen. Der „Tatort“ ist dafür nur ein eher konservatives und konventionelles Beispiel. Um darzustellen, wie sich das Verhältnis von sozialwissenschaftlichem und öffentlichem Wissen über das Gesellschaftliche gegenwärtig darstellt, möchte ich daher neben dem „Tatort“ zwei weitere Fernsehserien beispielhaft heranziehen, „The Wire“ und „The Walking Dead“. Fernsehserien bieten sich als Beispiele für moderne Erzählformate an, weil sie in den letzten Jahren einen erstaunlichen Bedeutungszuwachs erfahren haben, der entscheidend dazu beiträgt, dass sich Sehgewohnheiten, Distribution und Geschäftsmodelle im Fernsehgeschäft radikal ändern. Sie erlauben es insbesondere, das klassische, lineare Transferverständnis, Invention in der Wissenschaft und Diffusion in die Gesellschaft zu problematisieren, da sozialwissenschaftliche und literarische Erzählungen in ihnen relativ frei aufeinander Bezug zu nehmen scheinen. 4.1 Der „Tatort“ in Chicago In zahlreichen Punkten entspricht der „Tatort“ den von Boltanski (2013) genannten Elementen einer Kriminalerzählung, die sich parallel auch in den Sozialwissenschaften finden. Wie zu Beginn deutlich wurde, schlägt diese Ähnlichkeit bis auf die verhandelten Themen durch. Geradezu idealtypisch sind die Kommissare und Kommissarinnen von Rätseln getrieben, hinter denen sie dunkle Machenschaften vermuten, die es aufzudecken gilt, damit die Normalität der Gesellschaft wiederhergestellt werden kann. Mit wenigen Ausnahmen stellt der „Tatort“ ein weitgehend konservatives Format im Genre der Kriminalerzählung dar, indem das Verbrechen zum Schluss geklärt, Täter gefasst und bestraft werden. Dass die Ermittler/-innen dafür regelmäßig zu Mitteln greifen müssen, die juristisch nicht einwandfrei sind – die physische Bedrohung von Verdächtigen oder das illegale Abhören beziehungsweise Durchsuchen von Privaträumen sind typische Beispiele dafür –, entspricht genau der „perversen Intelligenz“, die auch in den Sozialwissenschaften zu Werke geht. Spezifischer für den „Tatort“ ist, dass die Ermittler für ihre Arbeit in unterschiedliche gesellschaftliche Milieus abtauchen müssen (Otte 2013). Die Chance, einen Fall zu lösen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, Eingang zu finden in die Sinnhaftigkeit ei-

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ner zu Kriminalität neigenden Subkultur. Sinnhaftes Verstehen, wie bei Max Weber (1988[1919]) und Robert E. Park (1925), dem Begründer der Chicago School, ist die Voraussetzung für die Aufdeckung und Erklärung kriminellen Verhaltens. Der „Tatort“ hebt sich in diesem Punkt deutlich von US-amerikanischen Formaten wie CSI ab, in denen die Forensiker die Hauptrolle spielen und die Gesellschaft nur insofern auftaucht, dass deren Spuren sowie Indizien zum Gegenstand von Laborarbeit werden. Wie der Hinweis auf Weber bereits andeutet, ist ein derartiges Abtauchen in gesellschaftliche Sinnwelten elementarer Bestandteil sozialwissenschaftlichen Arbeitens. Die gesamte Ethnografie verfolgt eine ähnliche Epistemologie und insbesondere die (erste Generation der) Chicago School ist innerhalb der Soziologie dafür berühmt geworden, Erkenntnisse aus der Mitte von Subkulturen und Milieus heraus zu erzielen (Park 1925). Das nosing around wird zum methodologischen Credo Robert E. Parks, der das „Herumbummeln und Herumschnüffeln liebte und zu einer empirischen Kunst entwickelte“ (Lindner 2007: 10). Wie Lindner argumentiert, verweist diese Technik auf die berufliche Herkunft Parks aus dem Reportagejournalismus. Vom investigativ arbeitenden Reporter ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zum Kriminalkommissar, zwei Akteure, die beide in Kriminalerzählungen nur allzu oft als Konkurrenten dargestellt werden. 4.2 Luhmann und Baudrillard in Baltimore Eine andere Ambition der Chicago School, nämlich die Stadt in ihrer Vielfältigkeit zur Gänze erfassen zu können, findet sich in einer weiteren USamerikanischen Fernsehserie, „The Wire“, explizit wieder. Dass sowohl Robert E. Park als auch David Simon, der Autor von „The Wire“, prägende Jahre als Reporter und insbesondere als Polizeireporter verbracht haben, unterstreicht zusätzlich die Parallelität zwischen massenmedialen und sozialwissenschaftlichen Erzählformaten (Lindner 2003: 214f). Diese Tradition der Chicago School wird jedoch nicht nur weitergeführt, sondern sogar überschritten, indem die Stadt nicht bloß als zusammenhängendes System in den Blick gerät, sondern auch ihr Auseinanderfallen in Teilsystemlogiken dokumentiert wird. An der Erzähloberfläche präsentiert „The Wire“ eine vermeintlich typische, dem „Tatort“ nicht unähnliche Kriminalgeschichte des Polizeidepartements in Baltimore, welches den organisierten Drogenhandel bekämpft. Das lange Erzählformat, gesamthaft sechzig Episoden

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à circa sechzig Minuten, erlaubt es jedoch, das interne Geschehen im Polizeiapparat sowie innerhalb der Gangs und Slums in einem Grad an Detailliertheit darzustellen, der quasi sozialwissenschaftliche Beschreibungen und Analysen zulässt. Es wird deutlich, in welchem Maße alle Akteure in ihrem Handeln in soziale Strukturen eingebettet sind, die nur sehr beschränkt Handlungsalternativen offerieren. „Through the characters of The Wire, viewers can clearly see that various institutions work together to limit opportunities for the urban poor and that the actions, beliefs and attitudes of individuals are shaped by their context“ (Chaddha/Wilson 2011: 165). Sind es in der ersten Staffel der Serie noch the war on drugs und die innerstädtische Armut, die thematisch den Kern ausmachen, so beleuchten nachfolgende Staffeln in jeweils 10 bis 13 Folgen die Stadt aus je unterschiedlichen Perspektive. Staffel zwei zeigt die Schwierigkeiten der städtischen Arbeiterklasse im Kontext der Deindustrialisierung am Beispiel des Hafens und der Hafenarbeiter, durch den und durch deren Hände der Drogenhandel fließt. Staffel drei dehnt den Konflikt zwischen Polizei und organisierter Kriminalität in die Lokalpolitik aus, während Staffel vier das Schulsystem ins Zentrum rückt. Die letzte Staffel thematisiert anhand der lokalen Zeitung die Medien in einer Zeit sinkender Budgets sowie Leser- und Mitarbeiterzahlen. Nicholas Lemann (2010) stellt die Ambition von „The Wire“ in einen direkten Zusammenhang zu derjenigen der Chicago School der ersten Generation: „[It] was about a complete realization of Park’s dream of capturing the full richness and complexity of the city as anyone has ever accomplished“ (ebd.). Diese fast schon romantische Deutung der modernen Stadt in ihrem Reichtum, ihrer Komplexität, ihrer Vielfalt verträgt sich jedoch schlecht mit dem kalten, teilweise brutal analytischen Blick, mit dem in „The Wire“ soziale Strukturen und Prozesse geschildert werden. 9 Darin ähnelt „The Wire“ vielmehr postmodernen oder differenzierungstheoretischen Ansätzen in den Sozialwissenschaften. Gezeigt wird eine Welt, die regiert wird von konkurrierenden und im Prinzip inkommensurablen Logiken. Die einzelnen Akteure scheinen eher Spielbälle des Geschehens als Schöpfer

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Ganz im Gegensatz zur Schilderung der Charaktere in der Serie, die dem Publikum Identifikationsangebote macht, welche es wiederum erlauben, die „Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens“ (Weber 1988: 557) erträglich zu machen.

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ihres eigenen Glücks zu sein – jedenfalls hat ihr Tun keinen grundlegenden Einfluss auf das Geschehen, da sich die Welt am Ende der Geschichte genauso präsentiert wie zu Beginn. Man könnte meinen, Jean Baudrillards „Videowelt und fraktales Subjekt“ (1989) oder Niklas Luhmanns Systemtheorie hätten bei dieser Schilderung Pate gestanden. Insbesondere Luhmanns (1997) differenzierungstheoretische Perspektiven ließen sich schablonenhaft über das Erzählformat von „The Wire“ legen. Fast idealtypisch wird in jeder Staffel ein gesellschaftliches Teilsystem in den Mittelpunkt gerückt, aus seiner Eigenlogik heraus dargestellt und als weitgehend autopoietisch analysiert. Die Bedeutungslosigkeit des Subjekts für das Gesellschaftliche, die Eigenständigkeit systemischer Codes, das Abarbeiten struktureller Kopplungen über Organisationen und Programme – all diese bei Luhmann aufgeführten Elemente finden sich auch in „The Wire“ wieder. Im Vergleich zum konventionellen Kriminalroman und zur „klassischen“ sozialwissenschaftlichen Erzählung kann bei „The Wire“ von der einen gesellschaftlichen Normalität nicht mehr gesprochen werden. Sofern die Rede von der Normalität dort überhaupt noch einen Sinn ergibt, dann kann allenfalls den Einzelteilen einer in ein Vielfaches zerfallenden Gesellschaft eine je spezifische Form von Normalität zugeschrieben werden. 4.3 Zombies im konstitutiven Außen Ein noch weiterer Zerfall gesellschaftlicher Normalität findet sich in Zombieerzählungen, wie beispielhaft an der Fernsehserie „The Walking Dead“ gezeigt werden kann. Alles Gesellschaftliche ist zusammengebrochen, und in den postapokalyptischen Verhältnissen finden sich nur noch Inseln gemeinschaftlicher Solidarität unter vermeintlich unversehrten Menschen. Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe von Menschen im Südosten der USA, die verschont geblieben ist von einer Seuche, die fast die gesamte Menschheit infiziert hat und zu Zombies hat werden lassen. Zentrale Handlungsgegenstände sind die existenzielle Sicherung der kleinen Gruppe im Kampf gegen die als permanente Bedrohung vorhandenen Horden von Zombies sowie die Dynamiken innerhalb der Gruppe, die durch das Fehlen jeglicher staatlicher und auch weitgehend sonstiger sozialer Ordnung entstehen. Anspielungen an die von Thomas Hobbes im „Leviathan“ (1996[1651]) und im „Behemoth“ (1991[1681]) diskutierten Eigenschaften eines vorstaatlichen Naturzustandes finden sich in der Darstellung deutlich

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wieder. Aber auch viele Fragen, die die Sozialwissenschaften seit Hobbes immer wieder beschäftigt haben, tauchen laufend auf. Wie entstehen soziale Normen? Welche Effekte hat Anomie? Wodurch werden Kleingruppen zusammengehalten? Wie kontrollieren Gruppen Devianz (Getman 2013)? Auffällig an der Erzählung ist, dass das Geschehen innerhalb der Gruppe immer, sei es explizit oder latent, auf die Bedrohungssituation durch die Seuche und die Zombies „da draußen“ bezogen ist. Sinnhaftigkeit des Handelns innerhalb der Gruppe wird durch Referenz auf ein Außen erzeugt. Nun haben literarische Erzählungen, die Horror und Monsterfiguren einsetzen, um Bedrohung zu symbolisieren, eine lange Geschichte und auch die Figur des Zombies fand seit den neunzehnhundertzwanziger Jahren Eingang in die Populärkultur als Symbol für eine Reihe gesellschaftlicher Ängste – vom umgekehrten Kolonialismus und Rassismus bis zum Individualitätsverlust im Exzess einer kapitalistischen und militaristischen Massenkultur (Strohecke 2011). Todd K. Platts (2013) spricht aufgrund der weiten Verbreitung dieser Figur in der Gegenwart sogar von einer „zombie culture“ und identifiziert ein „emerging field of zombie studies“, das auch für die Sozialwissenschaften nutzbar gemacht werden könne. 10 Die Auseinandersetzung mit dem Genre ist dementsprechend in den Sozialwissenschaften durchaus verbreitet (Bishop 2010; Stratton 2011). Was jedoch die Parallelität der Erzählstruktur einer Zombieerzählung wie „The Walking Dead“ zu sozialwissenschaftlichen Deutungsangeboten von Gesellschaft betrifft, so kann dafür beispielhaft das Konzept eines „konstitutiven Außen“ von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985) herangezogen werden. Als poststrukturalistische Analyse der Moderne, die kontingente historische Merkmale zu universalisieren sucht und dabei suggeriert, ohne ein Außen auszukommen, veranschaulicht das Konzept des konstitutiven Außen, dass solche Universalisierungen eben doch „auf der Differenzmarkierung zu einem Außen [...], einem kulturellen Anderen beruhen, das aber selber regelmäßig zum Gegenstand polysemer, mehrdeutiger Sinnzuschreibungen wird. Das Außen avanciert damit zu einem konstitutiven Außen in einem doppelten Sinn. Ohne dieses kulturelle Andere, von dem eine Abgrenzung

10 Platts’ Text kann sowohl als Einführung in die sozialwissenschaftliche Forschung zur Zombieerzählung dienen als auch in Ansätzen als Beitrag zur Frage, wie sich die Entwicklung des Genres auf die Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung beziehen lässt.

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stattfindet, könnte sich auch das Eigene und Innere [...] nicht konstituieren; gleichzeitig aber lässt sich analysieren, wie dieses Außen in seiner Andersheit regelmäßig paradoxerweise selber zum Gegenstand von Faszination zu werden vermag, welches die dominante Kultur möglicherweise unterminiert“ (Reckwitz 2008: 4156). Im Anschluss verweist Reckwitz beispielhaft auf die Arbeiten der post-colonial studies und insbesondere auf das Verhältnis zum Schwarzen oder Orientalen im 19. Jahrhundert. Wie oben dargelegt, taucht dieses Thema nicht zufällig auch systematisch in der Interpretation von Zombieerzählungen auf. Auch hier ist die Parallelität in der Erzählstruktur mit dem Zombie als konstitutivem Außen zwischen Sozialwissenschaftlichem und Literarischem in aller Deutlichkeit gegeben.

5. G ESELLSCHAFT

ALS SOZIALE I NNOVATION

Die angeführten Beispiele belegen, dass eine Parallelität zwischen sozialwissenschaftlichem und literarischem Erzählen nicht nur – wie Lepenies und Boltanski es vorgeschlagen hatten – im 19. Jahrhundert, sondern bis in die Gegenwart gegeben ist. Es scheint sich sogar um ein typisches Merkmal von sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsbeschreibungen zu handeln, sodass sie auch in der Populärkultur gespiegelt werden. Welche der beiden Beschreibungen dabei Ursache beziehungsweise Folge der jeweils anderen ist, lässt sich allerdings nur schwer bestimmen. Bei Boltanski herrscht in dieser Frage noch Klarheit: Ihm zufolge sind es die Entstehung des Nationalstaates und die damit einhergehende Verrechtlichung eines Territoriums, die sowohl die kriminalistische als auch die sozialwissenschaftliche Erzählung hervorrufen. Aufgrund der gesellschaftlichen Sprengkraft, die den beiden innewohnt, stellt sich die Frage, weshalb sowohl die sozialwissenschaftliche als auch die kriminalistische Erzählung über einen derart langen historischen Zeitraum stabil und relevant geblieben sind. Boltanskis Antwort ist in diesem Punkt nicht eindeutig. Es gilt zu vermuten, dass es die den beiden Erzählformen zugrunde liegenden Grammatiken der Normalität, der Wahrscheinlichkeit und der Kausalität sind, die die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit regulieren. Erzählungen, die sich wiederum auf diese Grammatiken berufen können, haben größere Chancen, für realistisch gehalten zu werden. Trotzdem laufen diese Erzählungen immer Gefahr, einer „perversen Logik“ zu folgen und als paranoid und damit krank-

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haft abgetan zu werden. Aufgefangen wird diese Gefahr in beiden Fällen durch eine Art sozialstrukturell abgesicherten Schutzmechanismus, der nicht im Sinne von Boltanski als rein grammatikalisch oder semantisch verstanden werden kann. Die literarischen Erzählungen nehmen dabei für sich in Anspruch, bloße Fiktionen zu sein, die der Unterhaltung dienen sollen. Das wissenschaftliche Feld immunisiert dagegen seine Erzählungen, die sehr wohl den Anspruch haben, Wahrheitsaussagen zu treffen, indem es sie als wertneutral darstellt. Beide Felder haben also einen Mechanismus eingebaut, der es erlaubt, Nicht-Verantwortlichkeit für allfällige Folgen zu deklarieren und dadurch auch ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu reklamieren. Wenn wir solche Erzählungen als soziale Innovationen betrachten, dann besteht ihre Innovationskraft darin, der Gesellschaft Selbstthematisierung zu ermöglichen. Als gesellschaftliche Selbstbeschreibungen bedienen sie sich der Grammatiken, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Populärkultur verankert sind. 11 Solche Erzählungen lassen sich auf zwei Arten als soziale Innovationen verstehen: Zum einen können sie als einzelne, „kleinere“ Innovationen betrachtet werden, die größere Verbreitung erfahren und durchaus auch in beträchtlichem Umfang wirtschaftlich relevant werden können. So wird beispielsweise der Umsatz mit Erzeugnissen, die sich der Zombieerzählungen bedienen, auf mindestens fünf Milliarden USDollar jährlich geschätzt (Ogg 2011). Zum anderen sind solche Erzählungen aber auch „Basisinnovationen“ (Schumpeter 1939), die im Sinn von Boltanski eine gesellschaftliche Grammatik etablieren, die die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit überhaupt erst in einer spezifischen Form ermöglicht. Der Kriminalroman ist in dieser Lesart nicht bloß ein Genre, dem man einen ökonomischen oder kulturellen Markt zuordnen kann, sondern eine Formatierung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, in denen festgelegt wird, was als normal, wahrscheinlich und ursächlich gelten kann. Bei Boltanski ist es die sozialwissenschaftliche Erzählung und deren gesellschaftliche Verbreitung selbst, die als soziale Innovation erscheint.

11 Eine mögliche These, der man nachgehen könnte, wäre, dass Wissenschaft für die Invention und Populärkultur für die Diffusion zuständig ist. Wie mehrfach angedeutet, glaube ich jedoch, dass diese These gute Chancen hat, widerlegt werden zu können.

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Was sie ihm zufolge leistet, ist nichts weniger als ein Beitrag zur Stabilisierung des Nationalstaats und dessen territorialer Rechtsordnung. Dass diese Stabilität trügerisch ist, wird von Boltanski mit dem Hinweis angedeutet, dass sozialwissenschaftliche und kriminalistische Erzählung immer auch die Grenze und die mögliche Überschreitung des Normalen thematisieren. Vor diesem Hintergrund stellen die erwähnten Beispiele – Postmoderne beziehungsweise Systemtheorie und „The Wire“ sowie das konstitutive Außen und „The Walking Dead“ –, die eine Rückkehr zur „Normalität“ gar nicht mehr in Aussicht stellen, sehr viel weniger konservative Erzählformate dar. Es gilt zu vermuten, dass diese Formate eine Reaktion auf die Problematisierung des Nationalstaates darstellen, der durch Globalisierung, Neoliberalismus, Erosion des Sozialstaates, Umweltbedrohungen etc. geschwächt erscheint. Es handelt sich offensichtlich um Erzählungen, die den Verlust zumindest eines Teils des Nationalstaates zum Gegenstand haben. Damit sind sie automatisch Teil der Entplausibilisierung einer spezifischen nationalstaatlichen Normalität, die an eine territoriale Rechtsordnung gebunden ist. Insbesondere bei den Arbeiten von Laclau und Mouffe und den Zombieerzählungen wird deutlich, dass sich diese Erzählformate, vielleicht ließe sich sogar von Genres sprechen, nicht mehr in die von Boltanski herausgearbeiteten Grammatiken von Normalität, Wahrscheinlichkeit und Kausalität integrieren lassen. In der Sprache der Innovationsforschung handelt es sich um Inventionen, die eine gewisse Diffusion erfahren haben, und sollten sie an weiterer Legitimität für die Selbstbeschreibung von gegenwärtigen Gesellschaften gewinnen, so wohnt ihnen vielleicht das Potenzial zur schöpferischen Zerstörung bestehender diskursiver Ordnungen inne. Wenn das die typische Form darstellt, in der die Sozialwissenschaften über Prozesse der Sinnproduktion in die Gesellschaft eingebunden sind und dadurch auch soziale Innovationen leisten, dann wird deutlich, wie wenig das lineare Modell diesen Prozessen Rechnung tragen kann. Die beschriebenen Prozesse sind eines ganz gewiss nicht, nämlich linear, der Ausgangspunkt einer Innovation kann (muss aber nicht) die Grundlagenforschung sein, und sozialwissenschaftliche Innovationen lassen sich nicht primär als technische Gegenstände oder als Anwendungen verstehen, da es sich um Deutungsangebote für gesellschaftliche Selbstbeschreibungen handelt. Um deutlich werden zu lassen, worin der gesellschaftliche Innovationsbeitrag der Sozialwissenschaften liegt, ist das lineare Modell demzufolge gänzlich ungeeignet. Evolutionäre Modelle, die die Unterscheidung zwischen dem

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Technischen und dem Sozialen problematisieren, scheinen da schon geeigneter. Nimmt man die obige Argumentation allerdings ernst, dann gilt es, sich von der Unterscheidung zwischen dem Technischen und dem Sozialen vollständig zu verabschieden, um den Sozialwissenschaften gerecht werden zu können. Ihre basale Innovationsleistung besteht darin, dass sie Sinnstrukturen zur Verfügung stellt oder stabilisiert, die Gesellschaft und damit Technik in einer spezifischen Form überhaupt erst ermöglicht. Kaisers (2015) Vorschlag, Technik als Sprache oder als Grammatik zu verstehen, spiegelt sich in der hier mit Boltanski vorgebrachten Argumentation, (soziale) Innovationen als Erzählstrukturen oder Grammatiken zu deuten. Zu klären bliebe dann noch die Frage der Kausalität. Bei Boltanski stellt sich die Entstehung der Grammatiken als Folge einer neuen Sozialstruktur dar. Erst die Entstehung des Sozialstaates im 19. Jahrhundert ermöglicht es, dass sich Kriminalroman und Sozialwissenschaft etablieren können. Von einer solchen Vorstellung der linearen Verursachung gilt es sowohl aus theoretischen als auch aus empirischen Gründen abzurücken. Evolutionäre Innovationsmodelle zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die Frage der Kausalität durch Rückkopplungsschleifen und gegenseitige Anpassungsprozesse charakterisiert ist. Zudem machen die angeführten Beispiele deutlich, dass die zugrunde liegenden Grammatiken aus mehreren Quellen gespeist und stabilisiert werden (Ob dafür immer die Trias Staat, Wissenschaft, Populärkultur herangezogen werden muss, ist eine offene Frage). Betrachtet man auch Institutionalisierungsprozesse als primär diskursiv getragen (Phillips/Lawrence/Hardy 2004), dann verbietet sich auch eine Darstellung, die den Staat als etwas Strukturelles begreift, das wissenschaftliche und populärkulturelle Inhalte verursacht. Gegenseitige Bezugnahme, Stabilisierung und Legitimierung, die eine verteilte und evolutionäre Ursächlichkeit annehmen, liefern dann ein plausibleres Modell für (soziale) Innovation, das auch die Bedeutung der Sozialwissenschaften im Blick behalten kann.

6. F AZIT Ich habe argumentiert, dass für das Verständnis des Verhältnisses von Sozialwissenschaften und Gesellschaft und insbesondere für die Frage, inwiefern Sozialwissenschaft soziale Innovation leisten kann, das lineare Innova-

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tionsmodell untauglich ist. Die Leistung von Sozialwissenschaft besteht darin, Deutungsangebote zur Verfügung zu stellen, die als gesellschaftliche Fremd-, beziehungsweise Selbstbeschreibungen genutzt werden können. Diese Art von Innovationsleistung hat sie gemeinsam mit literarischen Erzählformen, mit denen sie über zugrunde liegende Grammatiken verbunden ist. Diese Grammatiken werden durch die sozialwissenschaftlichen und literarischen Erzählungen gleichermaßen konstitutiert und benutzt. Sie formatieren die gesellschaftlichen Vorstellungen dessen, was als normal, wahrscheinlich und ursächlich gelten kann. Ein Innovationsmodell, das der Leistungsfähigkeit der Sozialwissenschaften gerecht werden will, muss evolutionär angelegt sein, die Unterscheidung von Technischem und Sozialem verabschieden und an deren Stelle auf die Sinndimension als Ort der Innovation setzen. Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen beziehungsweise Anregungen für die Innovationsforschung im Allgemeinen generieren. 1. Nimmt man vermehrt die Sozialwissenschaften in den Blick und wendet sich deshalb Innovationsmodellen zu, die die oben beschriebenen Eigenschaften aufweisen, erhöht dies das Reflexivitätspotenzial der Innovationsforschung. Sie kann sich nämlich selbst zu ihrem Gegenstand machen und beispielsweise der Frage nachgehen, weshalb elaboriertere Modelle nicht die gleiche Diffusion erfahren haben wie das lineare Modell. Die Innovationsfähigkeit der Innovationsforschung selbst würde damit also zum Gegenstand. In diesem Sinne wäre eine Innovationsforschung, die sich sozialer Innovation zuwendet, nicht bloß Mittel zur Beforschung eines Teils von Innovation, sondern Anlass zur Reflexivwerdung der Innovationsforschung als Ganzes. Die notwendige Voraussetzung dafür bildet eine Verabschiedung der strikten Trennung von Technischem und Sozialem. 2. Die Innovationsforschung kann bereits als genuin interdisziplinäres Forschungsfeld gelten, das für die Erforschung der Sozialwissenschaften nun um neue Disziplinen erweitert werden müsste. Aufgrund der hier vorgetragenen Argumentation sind es insbesondere geisteswissenschaftliche Disziplinen wie die Literaturwissenschaft oder die Medienwissenschaft, von denen relevante Beiträge zu erwarten wären. Ob damit auch eine Forderung nach Transdisziplinarität im Bereich der Innovationsforschung einhergehen muss, ist nicht auf Anhieb plausibel. Dies ist wiederum abhängig davon, welche epistemologische Grundlage für das Reflexivwerden der Innovationsforschung gesetzt wird. Eine neopragmatische Position wie die von Boltanski würde sich sicher

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eignen, um Transdisziplinarität einzufordern (Bogusz 2013), während Schelsky und vermutlich auch Lepenies wohl den Primat einer sozialwissenschaftlichen Perspektive einfordern würden. Eine weiterführende Behandlung dieser Frage müsste bei der Debatte in den Science and Technology Studies um die Forderung des strong programme (Bloor 1991: 7) nach Reflexivität ansetzen.

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Ewig umstritten: Soziologie zwischen Engagement und Distanzierung N ATALIE M EVISSEN

1. Z UR AKTUALITÄT

EINER ÖFFENTLICHKEITSRELEVANTEN

S OZIOLOGIE

Wissenstransfer, also das Engagement der Soziologie mit einer außerwissenschaftlichen Praxis in Form unterschiedlicher Leistungen (z. B. Beratungsleistungen oder öffentlichkeitsrelevante Beiträge in den Medien, siehe auch Froese/Mevissen in diesem Band), stellt für die Soziologie im eigentlichen Sinn nichts Neues dar. Bereits seit den Anfängen der Disziplin wird verhandelt, wie dieses Engagement der Soziologie aussehen könnte. Die Kontroversen darüber lassen – grob – zwei Strömungen erkennen: Stimmen, die für eine über den akademischen Diskurs hinausgehende Wirkung der Soziologie plädieren, und andere, die sich von ihrer Einmischung in die Praxis distanzieren. Das Thema hat neuerdings nach längerer Phase der Abstinenz wieder Auftrieb erfahren: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) unterstützt alle Soziolog(inn)en darin, „public“ zu gehen, das bedeutet, einen Beitrag zu öffentlichen Debatten zu leisten. 1 Soziologie soll demnach nicht „darauf warten, dass ihre Expertise von Medien oder politi-

1 http://www.soziologie.de/de/die-dgs/public-sociology.html 16.06.15).

(Zugriff vom

194 | N ATALIE M EVISSEN

schen Institutionen abgefragt und angefordert wird […], sondern in den direkten, lokalen Dialog mit einem interessierten Publikum […] treten“ 2. Diese Idee knüpft an Michael Burawoys programmatische Überlegungen einer „public sociology“ (Burawoy 2005) an, die er 2004 in seiner Antrittsrede als Präsident der American Sociological Association (ASA) darlegte. Er unterteilte darin die Soziologie in vier Felder mit je unterschiedlichen Charakteristika und Aufgaben: „professional sociology“, „policy sociology“, „critical sociology“ und „public sociology“. Während „professional“ und „critical sociology“ der akademischen Wissensproduktion gewidmet sind, richten sich „policy“ und „public sociology“ an ein außerwissenschaftliches Publikum (Burawoy 2005). Burawoy plädierte in seiner Rede für mehr „public sociology“, also für eine engagierte Soziologie, die auf vielfältige Weise mit unterschiedlichen Adressaten in Verbindung tritt, wofür er zu dieser Zeit jedoch wenig Raum in der Soziologie sah. Obwohl weder das Anliegen noch das Konzept radikal neu waren 3, löste Burawoy kontroverse Debatten über die Aufgabe(n) der Soziologie aus (Jeffries 2009). Kernvertreter der Disziplin wie Ulrich Beck (2005), Craig Calhoun (2005) oder Amitai Etzioni (2005) nahmen in einer Sonderausgabe des „British Journal of Sociology“ zur public sociology Stellung; auch Andrew Abbott, James Julius Wilson, Orlando Patterson und Immanuel Wallerstein beteiligten sich an der Debatte über deren Sinn und Unsinn (Clawson 2007). Die breite Resonanz, die der Ruf nach public sociology international über die Subdisziplinen hinweg erzeugte, legt nicht nur die Vermutung nahe, dass damit ein Nerv soziologischer Identitätsfragen getroffen war, sondern illustriert zudem, dass unterschiedliche Vorstellungen und Selbstbeschreibungen von der Rolle der Soziologie in der Praxis existieren.

2

http://www.soziologie.de/de/die-dgs/public-sociology.html

(Zugriff

vom

16.06.15). 3

Der Soziologe und ehemalige Präsident der American Sociological Association (ASA), Herbert Gans, brachte die public sociology in seiner Antrittsrede „Sociology in America. The Discipline and the Public“ (Gans 1989) bereits im Jahr 1988 prominent auf die Agenda. Sein Aufruf zu einer stärkeren Orientierung der Soziologie an einem außerakademischen Publikum blieb damals allerdings noch weitgehend unbeachtet.

S OZIOLOGIE ZWISCHEN E NGAGEMENT

UND

D ISTANZIERUNG

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Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, diesen Nerv soziologischer Identitätsfragen näher zu spezifizieren, die unterschiedlichen Selbstbeschreibungen zu extrapolieren und in Hinblick auf Wissenstransfer zu reflektieren. Im Unterschied zur Literatur über sozialwissenschaftlichen Wissenstransfer, die sich überwiegend mit dessen Formaten und Bedingungen (Franz et al. 2003; Olmos-Peñuela/Castro-Martínez/D’Este 2014; OlmosPenuela/Molas-Gallart/Castro-Martinez 2014) oder Impact (Bastow et al. 2014; Brewer 2013) beschäftigt, wird es hier darum gehen, einen Schritt zurückzutreten und zunächst das Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand, der Gesellschaft, zu spezifizieren. Dem liegt die Hypothese zugrunde, dass dieses Verhältnis auch für das Verhältnis der Disziplin zum Thema Wissenstransfer bedeutend ist. In einem ersten Schritt wird das spezifische Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand aus theoretischer Perspektive näher beschrieben. Es wird die These aufgestellt, dass sich die Soziologie ihm gegenüber durch eine besondere Stellung auszeichnet: Sie konstruiert einen Untersuchungsgegenstand, dessen Teil sie ist, und muss sich zugleich immer wieder von ihm distanzieren. Spezifisch ist auch, dass ihr Untersuchungsgegenstand auf die Beschreibungen durch die Disziplin selbst reagieren kann, wofür Giddens den Begriff der „doppelten Hermeneutik“ (Giddens 1976; Giddens/Dallmayr 1982) geprägt hat. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, inwiefern Debatten in der Geschichte der Soziologie diese charakteristische Position reflektieren. Sie verdeutlichen ein nicht aufzulösendes Spannungsverhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand, der Gesellschaft. Dieses zeigt sich implizit oder explizit etwa in Debatten wie dem Werturteilsstreit, dem Positivismusstreit, der Verwendungsforschung oder auch kontemporären Diskussionen, beispielsweise um soziologische Zeitdiagnosen, die Fragen nach der angemessenen Distanz der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand aufwerfen. In einem dritten Schritt kommt die Argumentation wieder auf die public sociology zurück. Es zeigt sich, dass das Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand auch über einhundert Jahre nach dem Werturteilsstreit weder geklärt wurde noch die Diskussion zu einem Abschluss gekommen ist. Burawoys Konzept stößt wohl deshalb auf so große Resonanz, weil es dominante Selbstbeschreibungen adressiert, die in der Geschichte der Soziologie immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt haben. Am

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Ende des Artikels wird überlegt, welche Implikationen sich daraus für den Wissenstransfer ergeben und welche Herausforderungen mit dem spezifischen Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand in dieser Hinsicht verbunden sind.

2. D IE SPEZIFISCHE P OSITION DER S OZIOLOGIE IN B EZUG AUF IHREN U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND „Soziologie steht in einem dauernden Spannungsverhältnis zur eigenen Alltagswahrnehmung und zu verinnerlichten Wertüberzeugungen. Man muss sich sozusagen persönlich revidieren. Das muss ich z. B. als Geograf nicht.“ (M. Rainer Lepsius in Lepsius/Hepp/Löw 2008: 46)

Ihre spezifische Position erwächst der Soziologie aus der besonderen Stellung zu ihrem Untersuchungsgegenstand. Soziolog(inn)en sind nämlich selbst Mitglieder eben der Gesellschaft, die sie untersuchen (Korte 2011). Die Soziologie konstruiert also einen Gegenstand, dessen Teil sie selbst ist. Damit ist ein Paradoxon bezeichnet, auf das an dieser Stelle hingewiesen, welches jedoch auch hier nicht vollständig aufgelöst werden kann. Denn einerseits ist die Soziologie Teil ihres eigenen Untersuchungsgegenstandes, der Gesellschaft. Andererseits konstruiert sie eben diesen Gegenstand erst selbst, wenn sie als Disziplin antritt, Beobachtungen über das Soziale anzufertigen. Der Begriff „Gesellschaft“ wird in dieser Hinsicht einerseits als analytische Kategorie wie auch als Alltagskategorie verwendet. Auch in der soziologischen Literatur wird dieses Paradoxon nicht vollständig aufgelöst, so greifen beispielsweise soziologische Standardwerke auf beide Begriffskategorien zurück, wenn es sich einerseits um die Beschreibung von Soziologie in der Gesellschaft und andererseits um die Beschreibung analytischer Kategorien in der Soziologie (unterschiedliche Gesellschaftsbegriffe und Formen, Gesellschaft zu analysieren) dreht. Mit diesem spezifischen „Doppelcharakter“ der Soziologie haben sich unterschiedliche soziologische Theorierichtungen befasst, deren Argumente eingangs kurz zusammengefasst werden sollen: Aus wissenssoziologischer Perspektive ist Soziologie zunächst einmal insofern begründungsbedürftig, dass prinzipiell alle Menschen als Soziologen gelten können. Herbert Gans argumentiert (1989), dass mit dem Einset-

S OZIOLOGIE ZWISCHEN E NGAGEMENT

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zen der Sozialisation einhergeht, dass wir auch spezifische Deutungen des Sozialen vornehmen und folglich als sogenannte Laiensoziologen zu betrachten sind. Diese Laiensoziologie geht unweigerlich in jegliche Deutung des Sozialen ein und mithin auch in jede Form der professionalisierten Soziologie (Habermas 1982; Gans 1989), die ja kein der Gesellschaft fremdes Wissen produziert, sondern vielmehr selbst auf eben das Wissen angewiesen ist, zu dem sie ihre Demarkationslinien zieht (Giddens/Dallmayr 1982; Habermas 1982). Auch professionalisierte Soziolog(inn)en haben aufgrund ihrer eigenen lay images zunächst alltagsgebundene Hintergrundannahmen über das Soziale (Lammers 1974), müssen diese aber dem „professionellen“ Blick unterziehen und sich von konkurrierenden Sinndeutungen abgrenzen. Auf Seiten der Soziologie ermahnen Fachvertreter deshalb Soziolog(inn)en zu einer „epistemologischen Wachsamkeit“ (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 15), um Alltagsmeinung sorgsam von soziologischer Wissensproduktion zu distinguieren. Die Soziologie als Wissenschaft habe vor allem die Konstruktionsleistung eines Forschungsobjektes zu leisten, das von Ordnungsvorstellungen, Fragestellungen und Problemformulierungen eines Alltagsverständnisses abgelöst sei, um nicht Gefahr zu laufen, aus dem politischen Raum stammende Problemformulierungen unkritisch aufzugreifen. Andernfalls drohe die Soziologie, in „Common-SenseProblemfomulierungen zu verharren (und) über ‚Betroffenheits‘-Soziologien oder technokratische Praxisanweisungen“ (ebd: X) nicht hinauszukommen. Aus systemtheoretischer Sicht, so argumentiert Kieserling (2004), stößt die Soziologie auf eine soziale Realität, die immer schon von anderen Beschreibungen umstellt ist. Sie bezieht sich deshalb in ihren Beschreibungen immer auf etwas, was bereits von anderen Teilsystemen (z.B. Politik, Religion, Recht) beschrieben wurde und muss angeben, wie sie sich dazu verhält (ebd.: 20). Wie andere Teilsysteme kann die Soziologie nicht nur ihren Gegenstand, sondern auch sich selbst beschreiben. Das „Paradebeispiel“ (ebd.: 21) für Selbstbeschreibung ist im Falle der Soziologie die Gesellschaft selbst. Insofern ist nach Kieserling eine doppelte Beschreibung, also eine Selbstbeschreibung der Soziologie und eine Fremdbeschreibung der Gesellschaft durch die Soziologie (ebd.: 47) kennzeichnend für das Fach – denn die soziologische Beschreibung der Gesellschaft findet ja immer zugleich in der Gesellschaft statt.

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Auch hier wird argumentiert, dass sich die Soziologie von konkurrierenden Beschreibungen unterscheiden muss, die durch die Massenmedien oder einen öffentlichen intellektuellen Diskurs angefertigt werden. Diese Distinktion gelingt der Soziologie durch die Zuordnung zum System Wissenschaft, die Distanz zu anderen Formen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen schafft, etwa durch einen Bruch mit Alltagsplausibilitäten und Semantiken. Als Teil des Systems Wissenschaft fügt die Soziologie der Gesellschaft eine weitere Fremdbeschreibung hinzu, wobei sie, wie bereits erläutert, immer reflektieren muss, wie sie sich selbst der Gesellschaft und deren Teilsystemen gegenüber positioniert (ebd.: 2004): „Die Soziologie kann sich nicht selbst reflektieren, ohne zugleich auch das Verhältnis zu den Reflexionsleistungen der anderen Systeme zu klären – und zwar anhand der Frage, ob sie auch ihrerseits zu diesen Reflexionsleistungen beitragen will oder sich auf den coolen Standpunkt eines externen Beobachters zurückzieht (Hervorhebungen der Autorin)“ (vgl. ebd.: 23).

Wie diesem Zitat zu entnehmen ist, geht mit der Notwendigkeit einer Klärung des eigenen Standpunktes der Soziologie zugleich die Notwendigkeit einer Grenzziehung zwischen einem „innen“ und „außen“ ihrer Beobachtung auf der Systemebene einher. Dabei ist zunächst umstritten, inwieweit es der Disziplin aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Untersuchungsgegenstand überhaupt möglich ist, den Standpunkt eines „externen Beobachters“ einzunehmen, ist sie doch selbst Teil etwa des Normengefüges, das sie untersucht. Auf dieser Grundlage betonen Soziologen wie Beck (1974), Gouldner (1970) oder Giddens (1979) den normativen Gehalt soziologischer Wissensproduktion, indem die Soziologie mit einer spezifischen Formulierung der Fragestellung zugleich politisch Position ergreift (Beck 1974) 4. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften verändert die Soziologie nämlich durch ihre Erkenntnisse ihren Untersuchungsgegenstand – im weitesten Sinne die Gesellschaft und deren Akteure –, der diese Forschung rezipiert, reflektiert und auf sie reagiert (Giddens/Dallmayr 1982; Gouldner 1970, 1968; Gid-

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Siehe zu einer weitreichenden Beschäftigung theoretischer Strömungen der Soziologie zur „Normativitätsproblematik“ im deutsch-amerikanischen Vergleich auch Beck (1974).

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dens 1976), was als doppelte Hermeneutik der Sozialwissenschaften bezeichnet wurde: „The fact that the ,findings‘ of the social sciences can be taken up by those to whose behaviour they refer is not a phenomenon that can, or should, be marginalised, but is integral to their very nature: It is the hinge connecting two possible modes in which the social sciences connect to their involvement in society itself: as contributing to forms of exploitative domination, or as promoting emancipation.“ (Giddens/ Dallmayr 1982: 14)

Aus diesen Ausführungen lässt sich ablesen, welche besondere Problematik sich für die Soziologie aus ihrer spezifischen Stellung zu ihrem Untersuchungsgegenstand ergibt. Gilt ihre Distanzierungsleistung von Alltagsdiskursen als zu schwach oder werden Zweifel an ihrer Zuordnung zum wissenschaftlichen System wach, gerät sie schnell unter „Ideologieverdacht“, was auch als „Problem der Ideologie“ (Korte 2011: 15) der Soziologie markiert wurde. Das Interessante an der Soziologie ist, dass sie die Stellung zu ihrem Untersuchungsgegenstand zum Gegenstand ihrer Selbstthematisierung gemacht hat. Welche Beiträge dabei in den zahlreichen Debatten zu dieser Frage vorgebracht und welche Grenzziehungen (Gieryn 1983) zwischen dem Untersuchungsgegenstand und der Soziologie vorgenommen wurden, soll im folgenden Kapitel anhand exemplarisch ausgewählter Diskurse erläutert werden.

3. S OZIOLOGISCHE D EBATTEN IM HISTORISCHEN K ONTEXT Die Debatten um die Rolle der Soziologie in der Gesellschaft und die Rolle der Gesellschaft in der Soziologie in Deutschland lassen sich in Anlehnung an die Ausführungen von Kieserling (2004) und Wagner (1990) grob vier Zeitabschnitten zuordnen: Der erste Abschnitt umfasst die Gründungsphase der Soziologie und ihre Etablierung als eigenständiges Fach; der zweite fällt in die Nachkriegszeit und die Phase der Institutionalisierung der Soziologie; der dritte bezeichnet die Reformeuphorie der neunzehnhundertsiebziger Jahre, in der Soziologie und Politik im Zusammenschluss mit Akteuren aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft weitreichende soziale Verbesse-

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rungen erzielen wollten. Der letzte Zeitabschnitt schließlich reicht von den neunzehnhundertachtziger Jahren bis heute und beschreibt die Folgen enttäuschter Praxishoffnungen und die Reaktionen der Soziologie darauf. Unterteilt in diese vier Zeitabschnitte sollen im Folgenden zentrale, in der Soziologie im deutschen Kontext geführte Debatten analysiert werden, die unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand darstellen und – teils implizit, teils explizit – der Frage gewidmet sind, bis zu welchem Grad die Soziologie praxiswirksam werden solle und könne 5. In diesen Debatten kommen unterschiedliche Vorstellungen von der Aufgabe der Soziologie zum Ausdruck, angefangen bei sozialtechnologischen Ansprüchen, gemeinsam mit Verwaltung und Staat eine „bessere“ Gesellschaft zu bauen, über die Sehnsucht nach einer „objektiven“ Wissenschaft, die wie die Naturwissenschaften „harte“ Fakten erzeugen kann, bis hin zu kritisch-emanzipatorischen Ansprüchen gesellschaftlicher Aufklärung oder einer rein selbstreferentiellen Disziplin, die ausschließlich eigenen Zielsetzungen folgt (Bröckling 2013; Desroisères 1994; Porter 1995; Streek 2015). Diese Vorstellungen folgen allerdings keinem linearen Modell, sondern tauchen in Wellenbewegungen immer wieder auf (Lepenies 1981; Wagner 1990). Gemeinsam ist all diesen verschiedenen Debatten, dass der Aspekt der Normativität in soziologischer Forschung, und die Implikationen, die sich daraus für die Disziplin ergeben, eine wichtige Rolle spielen: Während im ersten Zeitabschnitt überwiegend das Werteverhältnis zwischen Individuum und Forschenden im Mittelpunkt steht, geraten im zweiten Zeitabschnitt vermehrt erkenntnistheoretische Postulate auf der Makroebene in den Blick, die nach dem Verhältnis von soziologischer Erkenntnis zu gesell-

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Die – unweigerlich beschränkte – Auswahl der Debatten erfolgt in Anlehnung an Kieserling (2004). Zu beachten ist auch, dass im Folgenden zwar von der „deutschen“ Soziologie die Rede sein wird, ohne dass dabei Gegenstand der Reflexion werden kann, inwiefern angesichts personaler Mobilität und der weitreichenden Einflüsse, die wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen anderer Länder auf den deutschen Kontext hatten, von einer „deutschen“ Soziologie streng genommen überhaupt gesprochen werden kann. Beispielhaft wäre hier etwa auf den Einfluss hinzuweisen, den die USA sowohl in methodischtheoretischer als auch förderpolitischer Hinsicht auf die deutsche Nachkriegssoziologie gehabt haben (siehe dazu auch Fleck 2007).

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schaftlichen Ideologien fragen. Der dritte, der Verwendungsforschung gewidmete Abschnitt ist von der Reflexion unterschiedlicher Normativitäten von Soziologie und deren außerwissenschaftlichen Adressaten geprägt. Der letzte Abschnitt lässt sich als Phase der Ausdifferenzierung verschiedener Debattenstränge charakterisieren, die für unterschiedliche Formen des Umgangs mit Normativität in der Soziologie stehen. Am Ende des Kapitels werden die Debatten hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede reflektiert und unterschiedliche Positionen des „Redens über die Praxis“ extrapoliert. 3.1 Die Anfänge der Soziologie: Der Wertbezug der Wissenschaft und der Streit zwischen Objektivität und Normativität „Die Soziologie lehnt es nicht ab, zum Ausbau ‚praktischer‘ Disziplinen fortzuschreiten. Wohl aber weist sie es aus wissenschaftlichen Gründen zurück, die Gesichtspunkte und Interessen der Praxis bei der Entwicklung der Forschungsziele zu berücksichtigen, weil diese die Erkenntnis leicht in die Irre leiten können. Damit ergibt sich eine klare Trennung von aller Sozialethik, Sozialreform und Sozialpolitik im Sinne eines umfassenden Systems der sozialen Praxis.“ (König 1958: 9)

Diese Aussagen der Einleitung eines der zentralen Soziologielexika der Nachkriegszeit, herausgegeben von René König (1958), illustrieren, inwiefern Grenzziehungen zwischen Soziologie und anderen Bereichen von Relevanz für die Bestimmung des Gegenstands der Disziplin waren. Deutlich wird hier ebenfalls eine Problematik, die die Disziplin seit ihren Anfängen begleitet und die sich mit den Orientierungen „Autonomie“ und „Praxisrelevanz“ (Kaldewey 2013) beschreiben lässt: Einerseits zu einer „praktischen“ Disziplin zu werden, andererseits jedoch jegliche Einflussnahme von Seiten der Praxis abzuwehren. Die Forderung nach Autonomie spielte etwa eine wesentliche Rolle in den Debatten um die wissenschaftliche Legitimität der Soziologie und ihren Geltungsanspruch als eigenständiges Fach. Aber gerade die Anfänge der Disziplin sind nicht minder von dem Gedanken der gesellschaftlichen Nütz-

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lichkeit geprägt sowie beflügelt von einem Steuerungsoptimismus 6 im Zuge sozialer, ökonomischer und politischer Veränderungen des 19. Jahrhunderts (Streek 2015). So waren beispielsweise Claude Henri de Saint-Simon und andere Wegbereiter der Soziologie, darunter Auguste Comte oder Emile Durkheim, von der Hoffnung geleitet, mit ihren Erkenntnissen einen Beitrag zur allgemeinen Wohlfahrt leisten zu können und „die soziale und politische Integration einer aus den Fugen geratenen Industriegesellschaft entscheidend [zu] fördern“ (Badura 1982: 97). In diesem Sinn schreibt Emile Durkheim: „[…] wir meinen, daß unsere Untersuchungen nicht der Mühe wert wären, wenn sie nur spekulatives Interesse hätten. Wenn wir aber sorgfältig die theoretischen von den praktischen Problemen trennen, wollen wir doch nicht die letzteren vernachlässigen: wir wollen uns im Gegenteil rüsten, sie besser zu lösen.“ (Durkheim 1977[1893]: 73).

„Soziologie und Sozialismus […] (sind) ursprünglich in Personalunion entstanden“ (König 1958: 9). Diese enge Verzahnung blieb nicht folgenlos (Rammstedt 1988) und entfachte eine heftige Debatte über den Zusammenhang zwischen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung auf der einen und (sozial-)politischer Praxis auf der anderen Seite. Die sogenannten Kathedersozialisten, unter ihnen der Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik, Gustav Schmoller, betrachteten die Wissenschaft dabei als Mittel, Maßnahmen für die Politik zu formulieren, um auf diesem Wege zur Lösung aktueller sozialer Probleme beizutragen. Zu diesem Zweck räumten sie Werturteilen, insbesondere dem sittlichen Werturteil, in der wissenschaftlichen Nationalökonomie einen Platz ein. Dagegen plädierte die Gruppe um Max Weber

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Dieser Steuerungsoptimismus erfasste nicht nur die europäische, sondern auch die US-Soziologie, in beiden Fällen bis in das 20. Jahrhundert hinein. Er kulminierte in den USA im Progressive Movement, in der Politik des New Deal und insbesondere während des Zweiten Weltkriegs in der Überzeugung, die Wissenschaft sei eine wichtige Unterstützung bei der Sicherung der Demokratie (Streek 2015; Turner/Turner 1990). Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die Gründung des Social Science Research Council im Jahr neunzehnhundertdreiundzwanzig unter maßgeblicher Beteiligung der Rockefeller Foundation (vgl. Calhoun 2007; Turner/Turner 1990).

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und Werner Sombart für eine strikte Trennung zwischen Sachaussage und Werturteil; (Weber 2002[1919]; Rammstedt 1988). So heißt es bei Max Weber in seinem programmatischen Artikel über „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“: „Wir alle wissen, dass unsere Wissenschaft […] geschichtlich erst von praktischen Gesichtspunkten ausging. Die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements ist eine der […] schädlichsten Eigenarten unseres Fachs.“ (Weber 1988[1922]: 157)

Obwohl Max Weber der Meinung war, „[…] dass es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“ (Weber 1988[1922]: 149), stritt er eine prinzipielle Wertbeziehung 7 der Soziologie nicht ab. Darunter verstand er den Zusammenhang zwischen den Forschungsergebnissen und den „Werten“ des forschenden Individuums, die immer in einen historisch-kulturellen Kontext eingebunden seien, insofern sie Probleme bearbeiten, die in einer bestimmten Kultur zu einer spezifischen Zeit als bedeutsam angesehen werden 8 (Käsler 2014). Die Werturteilsproblematik wird in diesem Sinn als Vermittlungsproblem zwischen Kulturwirklichkeit und den Erkenntnisinteressen der Kulturwissenschaftler gesehen (Ritsert 2009: 26). Der Werturteilsstreit 9 wurde insbesondere in institutioneller Hinsicht ausgetragen, und zwar zwischen dem Verein für Socialpolitik und der sich

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Max Weber formulierte sie für alle Wissenschaften, sah sie jedoch besonders virulent im Fall der Sozialwissenschaften. Die Debatte um die Werturteilsfreiheit ist von Webers Überlegungen zur Wertbeziehung zu trennen (Käsler 2014: 561).

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Für eine Übersicht über die wechselseitige Beeinflussung von Entwicklung in den Sozialwissenschaften und in der Politik siehe auch Wagner 1990 und Beiträge aus Wagner/Wittrock/Whitley 1994.

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Der Werturteilsstreit hat unterschiedliche wissenschaftsphilosophische und wissenschaftspolitische Dimensionen, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann. Er ging aus dem Methodenstreit hervor, der sich in der deutschen Nationalökonomie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte. Auch die Rolle Max Webers in diesem Kontext ist zu komplex, um hier darstellbar zu sein. Einen guten Überblick geben Käsler 2014; Rammstedt 1988; Ritsert 2009.

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neunzehnhundertneun neu formierenden Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die sich von den Aktivitäten und theoretischen Prämissen des Vereins für Socialpolitik abgrenzte. Dessen Prämissen orientierten sich – wie bereits oben kurz angedeutet – an gesellschaftspolitischen Einflüssen des damaligen Deutschen Kaiserreichs (Ritsert 2009: 21): „Socialpolitik“ ist in diesem Zusammenhang direkt mit Krisenphänomenen der sich modernisierenden Gesellschaft in Verbindung zu bringen, die zum zentralen Bezugsproblem für theoretische Fragen erhoben wurden. Inwiefern die Gründung der DGS in Konkurrenz zu den Aktivitäten des Vereins für Socialpolitik stand oder eher als dessen Ergänzung zu sehen ist, ist weiterhin umstritten (Käsler 2014; Rammstedt 1988). Jedoch war es die Werturteilsfreiheit, auf die sich die Gründungsmitglieder der DGS neunzehnhundertneun als demonstrativen Programmpunkt einigen konnten (Rammstedt 1988). In der Satzung der DGS hieß es dementsprechend: „[…] Zweck ist die Förderung der soziologischen Erkenntnis durch Veranstaltung rein wissenschaftlicher Untersuchungen und Erhebungen, durch Veröffentlichung rein wissenschaftlicher Arbeiten und durch Organisation von periodisch stattfindenden [sic!] deutschen Soziologentagen.“ 10 (Hervorhebung der Autorin)

Obwohl die DGS in den Folgejahren nicht in der Lage war, das Postulat der Werturteilsfreiheit konsequent umzusetzen – was letztlich zum Austritt Max Webers aus der DGS führte (Käsler 2014) –, ist der Hinweis in der Satzung auf die Schwerpunktsetzung auf das „rein Wissenschaftliche“ und in diesem Sinne auf das „Objektive“ in Abgrenzung zu jedweder „Normativität“ wichtig. Diese Grenzziehung war sowohl aus Gründen der gesellschaftlichen als auch der wissenschaftlichen Legitimität für die frühe Soziologie von Relevanz: Zum einen distanzierte sie sich dadurch von einem politischen (sozialistischen) Programm und demonstrierte Autonomie. Insbesondere Tönnies und von Wiese etwa legten Wert darauf, die Soziologie mit Blick auf ihre Etablierung als universitäre Einzelwissenschaft als politisch neutrale und objektiv gelehrsame werturteilsfreie Wirklichkeitswissenschaft darzustellen (Käsler 2014). Zum anderen musste sich die Soziologie als latecomer innerhalb einer wissenschaftlichen Landschaft, in der

10 Siehe auch: http://www.soziologie.de/de/die-dgs/geschichte.html#c1564 (Zugriff vom 07.06.2015)

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bereits die meisten Themen von anderen Disziplinen besetzt waren, ein eigenes Feld erst erobern (Calhoun 2007; Evans 2008; Jazbinsek/Joerges/ Thies 2001; Wagner 1991; Wagner/Wittrock/Whitley 1994). Um nicht Fragestellungen aufzugreifen, denen sich bereits die Wirtschaftswissenschaften, die Staatsrechtslehre oder die Geschichtswissenschaften widmeten, blieb ihr als einzig „exklusiver“ Gegenstand nur die Beschäftigung mit dem „Sozialen“, indem sie sich auf die „Reinheit“ und Exklusivität ihrer Betrachtungsweise berief. Mit der scharfen Trennungslinie zwischen Objektivem und Normativem und der Entkoppelung von der Sozialentwicklung gelang es der Soziologie, sich auf diesem Feld eine eigenständige Position zu erobern und ein Wissenschaftsverständnis zu etablieren, welches von der Möglichkeit und der Notwendigkeit der Soziologie als einer „neutralen“ Wissenschaft ausgeht (Clemens 2001). Die Frage nach der Beziehung zwischen Objektivität und Normativität soziologischer Erkenntnis spielt auch in einer weiteren Debatte der frühen Soziologie eine Rolle: im Streit um die deutsche Wissenssoziologie. Maßgeblich sind hier die Schriften von Karl Mannheim, der davon ausgeht, dass Wissen an entscheidenden Punkten nicht von theoretischen Aspekten, sondern von den „Seinsfaktoren“ (z. B. Generationen, Klassen, Schichten, Denkschulen etc.) der Menschen geleitet wird, die sich dieses Wissen oder es hervorbringen. Wissen ist ihm zufolge immer in einem sozialen Raum und in sich historisch verändernden Wahrheiten zu verorten. Aus dieser „Seinsverbundenheit“ (Mannheim 1995[1929]) des Wissens entstehen unterschiedliche Denkstile. Diese kulminieren zu Weltanschauungen oder Ideologien. Alle diese Weltanschauungen zusammengenommen bilden eine „epochenspezifische Totalität“ (Knoblauch 2010: 112). In diesem Zusammenhang befasst sich Mannheim mit der Kernfrage, wie denn überhaupt Soziologie möglich sei, da sie keinen Standpunkt außerhalb dieser Seinsverbundenheit einnehmen könne. Eine Lösung für die Annäherung an einen „objektiven“ Standpunkt sieht er in der Anerkennung des relationalen Charakters unseres Denkens und der Fähigkeit, unterschiedliche mögliche Denkstandpunkte einzunehmen und aufeinander zu beziehen. Menschen, die selbst unterschiedliche Denkstandpunkte kennengelernt haben und in der Lage sind, diese zu überblicken, bezeichnet er als sozial freischwebend. Mannheim charakterisiert sie dementsprechend als „sozial freischwebende Intelligenz“. Ziel der Wissenssoziologie sei es, eine solch freischwebende Intelligenz zu schaffen, um spezifische weltanschauliche Situationen zu be-

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obachten und zu reflektieren. Die politische Aufgabe der Wissenssoziologie bestehe darin, das Zustandekommen dieser Standpunkte aufzudecken und durch erhöhte Transparenz die Voraussetzung für gesellschaftliche Rationalität zu schaffen (Knoblauch 2010: 113 f.). Karl Mannheim formuliert also den Anspruch eines „Praktischwerdens“ der Soziologie, indem er der Soziologie eine zentrale Aufgabe in der Integrations- und Erziehungsleistung für die Demokratisierung der Gesellschaft in der Weimarer Republik zuweist. Der „Streit um die Wissenssoziologie“ machte diese weit über die Fachgrenzen hinaus bekannt und betraf insbesondere ihre Stellung im Erkenntnisprozess und in der Gesellschaft im Allgemeinen. Ihr wurde unter anderem eine Vorherrschaft der „von der restlichen Bevölkerung abgekoppelten Intellektuellen“ vorgeworfen (Knoblauch 2010: 115; Meja/Stehr 1982). Max Weber und Karl Mannheim war gemein, dass jeder auf seine spezifische Weise darum bemüht war, ein explizit soziologisches Paradigma zu formulieren. Beide reflektierten die Rolle ihres eigenen Denkstandpunktes und dessen Implikationen für die Forschung, konnten sich jedoch zu ihrer Zeit nicht durchsetzen. Die Soziologie war alles andere als ein Unternehmen, das sich auf einen einheitlichen Satz an Prämissen geeinigt hatte (Käsler 2014). Vielmehr sahen sich Weber und Mannheim von konkurrierenden Denkströmungen umstellt, die entweder eine an das naturwissenschaftliche (positivistische) Paradigma angelehnte Erkenntnisproduktion präferierten oder zu einem kulturwissenschaftlichen Vorgehen neigten (Käsler 1984). Keiner dieser Strömungen gelang es, ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen „Theorie und Praxis“ herzustellen, sondern sie polarisierten das Verhältnis entweder in Richtung einer „distanzlosen Praxis“ oder einer „praxislosen Distanz“ (ebd.: 42). Für Käsler zählen dieses fehlende Gleichgewicht zwischen Theorie und Praxis sowie die frühe Entkopplung der Soziologie von der Sozialreform zugunsten des Erlangens wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Legitimität als Disziplin zu den Gründen, aus denen die Soziologie dem aufkommenden politischen Regime der Nazizeit wenig entgegenzusetzen hatte und ihm „theoretisch wie praktisch hilflos bis anfällig“ (ebd.: 12) gegenüberstand. Diese Faktoren führten seiner Ansicht nach zu einem Versagen der Disziplin bei der begrifflichen, theoretischen und praktischen Bewältigung der Modernisierungsprozesse (ebd.: 42).

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3.2 Soziologie nach 1945: Totalität und Partikularität der Gesellschaft und der Streit zwischen Sozialtechnologie und Aufklärung Während des Nationalsozialismus fand eine große Exilbewegung namhafter Soziologen statt. Die im Land verbliebene „angewandte Soziologie“ in Deutschland wurde im Sinne eines nationalistischen Weltbildes zur „Soziotechnik“ (Clemens 2001). Nach neunzehnhundertfünfundvierzig erfolgten dann der flächendeckende Ausbau und die Institutionalisierung der Soziologie in der Universitätslandschaft. Eine Förderung in der Nachkriegszeit war aus politischen Gesichtspunkten insbesondere deshalb möglich, weil die Soziologie als eher unbelastet durch den Nationalsozialismus galt 11 und man sich von ihr Hilfe beim Wiederaufbau der Nachkriegsgesellschaft in Form einer „Re-education“ versprach (Clemens 2001). Der in den neunzehnhundertsechziger Jahren geführte Positivismusstreit, der als Nachfolgedebatte des Werturteilsstreits gilt, kreiste um die Frage, inwieweit es möglich sei, soziale Realität durch die Erhebung empirischer Daten abzubilden und zu beschreiben. Eingeläutet wurde er auf einer Tübinger Arbeitstagung der DGS im Jahr neunzehnhunderteinundsechzig (Ritsert 2009). Hintergrund für die Debatte war eine rasante Zunahme der quantitativen Methoden, die insbesondere aus den USA (aus der sich dort entwickelnden Marktforschung) Eingang in die deutsche Forschungslandschaft fanden. Hauptakteure des Positivismusstreits 12 waren einerseits Vertreter der „Kritischen Theorie“, die sich aus der Frankfurter Schule heraus entwickelt hatte, wie Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, andererseits Vertreter des sogenannten kritischen Rationalismus wie Karl R. Popper und Hans Albert (Adorno 1975). Die Normativitätsproblematik spielte auch in dieser Debatte eine große Rolle. Beide Seiten bestritten die Existenz von Werturteilen in der Wissenschaft nicht, waren aber uneinig über die Konsequenzen, die daraus für die Soziologie zu ziehen seien.

11 An dieser Stelle sei anzumerken, dass die Rolle der Soziologie im Nationalsozialismus umstritten ist. In diesem Rahmen kann jedoch nicht näher auf diese Diskussion eingegangen werden. Unterschiedliche Positionen und Überblicksdarstellungen geben unter anderem Käsler 1984; Klingemann 1996; Lepsius 1981; Schelsky 1981; Schnitzler 2012. 12 Für einen umfassenden Überblick über den Positivismusstreit vgl. Ritsert 2009.

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Die „Kritische Theorie“ argumentierte, dass Theorie letztlich nicht mehr in einen Gegensatz zur Praxis gestellt werden kann, sondern eine Synthese zwischen den beiden unternommen werden muss (Beck 1974: 15). Weil Wissenschaft, wie bereits Mannheim konstatiert hatte, immer in gesellschaftliche Ideologien eingebunden sei, werde sie selbst zur Ideologie, wenn sie Gesellschaft nicht in ihrer Totalität und sich selbst als Teil dieser Totalität begreife, sondern lediglich einzelne Teilbereiche in den Blick nehme. Der traditionellen (meist vom Positivismus geprägten) soziologischen Theorie gegenüber, der auch der kritische Rationalismus zuzuordnen sei, lautete der Vorwurf, sie reproduziere lediglich vorgefundene Daten und untermauere damit das bestehende System (Knoblauch 2010). Soziologie sei zwangsläufig in die Normativität des herrschenden Zeitgeistes eingebunden. Das emanzipatorische Potenzial der Wissenschaft liege allein in der Möglichkeit, sich dieser Einbettung bewusst zu werden und diese „als Instrument zur Befreiung aus unbegriffenen Zwängen“ (Beck 1974: 15) einzusetzen. Im Gegensatz dazu geht der kritische Rationalismus davon aus, dass praktische Probleme außerhalb des Wissenschaftsbetriebs Anstoß für Forschung sind. Die Wissenschaft bietet Lösungsvorschläge für theoretische oder praktische Probleme an, die, im Sinne des Falsifikationsprinzips, der ständigen Kritik unterworfen sind (Ritsert 2009: 109). Im Weberschen Sinn plädiert er dafür, „Wertvermischungen bloßzulegen und die rein wissenschaftlichen Wertfragen nach Wahrheit, Relevanz, Einfachheit und so weiter von außerwissenschaftlichen Fragen zu trennen“ (Ritsert 2009: 112). Ziel einer praktischen Kritik bestehender Verhältnisse sei anstelle utopistischer Weltverbesserungsvorstellungen die stückweise Veränderung als Technik des „schrittweisen Umbaus einer Gesellschaft in Richtung auf (vermutlich) einlösbare Ziele“ (Ritsert 2009: 121), wobei der gesellschaftliche Umbau bewusst als Technik („Stückwerk-Technologie“) bezeichnet wurde und die eingebundenen Akteure als Sozialingenieure (Ritsert 2009). Auf Seiten der „Kritischen Theorie“ bleibt hingegen offen, wie der Standpunkt einer „Einheit von Theorie und Praxis“ methodologisch umzusetzen sei (Beck 1974). Der normative Gehalt und die Grenzen soziologischer Theoriebildung standen auch im Zentrum jener Debatte, die sich zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann (1971) entspann. Habermas hält Luhmann dabei zwar zugute, dass er sich von einer „szientistisch beschränkten Soziologie“

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zugunsten einer die Gesellschaft im Ganzen begreifenden Soziologie distanziert, betrachtet die Luhmannsche Systemtheorie aber dennoch als „Entpolitisierung“, die Gefahr laufe, „herrschaftslegitimierende Funktionen zu übernehmen, die bisher von einem positivistischen Gemeinbewußtsein (Schreibweise „ß“ bleibt so, weil aus Zitat erfüllt worden sind“ (ebd.: 142). In Habermas‘ Augen stellt Luhmanns Theorie eine Hochform des technokratischen Bewusstseins dar: „So kann die Systemtheorie der Gesellschaft als ein einziger groß angelegter Begründungsversuch für die praktische Empfehlung verstanden werden, daß eine unmittelbar sozialtechnologisch gerichtete Analyse überall da an die Stelle des vermeintlichen Diskurses über ohnehin nicht wahrheitsfähige praktische Fragen zu treten habe, wo mit den Illusionen einer Verwirklichung praktischer Vernunft, das heißt mit Demokratisierungstendenzen, noch nicht vollends aufgeräumt worden ist.“ (ebd.: 144)

Gehen wir nun einen Schritt weiter in der Geschichte, so zeigt sich, dass die eben beschriebenen Debatten aus der Sicht derjenigen, die sich in den Folgejahren mit den Praxiserfahrungen der Soziologie auseinandersetzten, lediglich wissenschaftstheoretische Positionen und Postulate auf der Metaebene darstellten, in denen vor allem Wunschbilder unterschiedlicher Denkschulen von Wissenschaft und Praxis aufeinanderprallten (Beck 1982a). Aus dieser Perspektive handelte es sich dabei vor allem um die Selbstverständigung einer im Entstehen begriffenen Profession. 3.3 Die Verwendungsforschung: Die Soziologie zwischen „Theorie und Praxis“ (1970er–1980er Jahre) Dieser hier mit dem Etikett der Verwendungsforschung bezeichnete Zeitabschnitt schließt in Deutschland an die von den Frontstellungen des Positivismusstreites geprägte soziologische Selbstreflexion an, die sich zwischen Sozialtechnologie einerseits und Aufklärung andererseits bewegte. Als eine der größten Errungenschaften der Verwendungsforschung gilt es, diese beiden Dichotomien aufgebrochen zu haben (Kieserling 2004; Beck/Bonß 1989b). Die damit suggerierte zeitliche Linearität ist jedoch nicht aufrechtzuerhalten, denn die Anfänge der Verwendungsforschung sind bereits in den neunzehnhundertdreißiger und neunzehnhundertvierziger Jahren in den

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USA im Kontext von Politikberatung zu finden. Bei Beck/Bonß (1984) werden diese Anfänge als „naiv“ bezeichnet, da noch von der Linearität der Anwendung sozialwissenschaftlichen Wissens in die Praxis ausgegangen wurde. Die zweite Phase einer stärker reflexiv geprägten Verwendungsforschung beginnt ihnen zufolge in den neunzehnhundertsechziger Jahren, die in den USA mit der Umsetzung von Sozialreformen und in Deutschland mit der Regierungszeit der ersten Großen Koalition zusammenfällt. Die Themenfelder und Adressaten der Soziologie erweitern sich im Vergleich zur „naiven“ Phase von einem engen Kreis der politischen Verwaltungselite auf eine Vielzahl unterschiedlicher potenzieller Wissensrezipienten: Familie, Bildung und Arbeit werden nicht nur thematisiert, sondern auch im Rahmen unterschiedlicher lokaler Einheiten wie der Schule bearbeitet. Soziologisches Wissen dringt damit nicht nur immer stärker in immer weitere gesellschaftliche Bereiche vor, sondern es setzt auch ein Prozess der Differenzierung diverser soziologischer Experten ein (Beck/Bonß 1984). Diese Etappe ist charakterisiert durch die Auflage zahlreicher praxiswirksamer Programme, an denen die Soziologie teilhatte. Grund für die Auflage solcher Programme war eine regelrechte Reformeuphorie, die geprägt war von dem Glauben an die „Wissenschaft als Produktivkraft“ (Stölting 1974). Die Soziologie sollte im Zuge politischer Veränderungen einerseits als Oppositionswissenschaft mit aufklärerischem Sendungsbewusstsein, andererseits als Planungswissenschaft mit dem Ziel aktiv werden, gesellschaftspolitische Reformen „wissenschaftlich zu begründen, anzuleiten und abzusichern“ (Clemens 2001: 221). Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand speist sich in dieser Phase dementsprechend „aus Erfahrungen, Enttäuschungen und Ängsten im soziologischen Umgang mit praktischen Problemen und Entscheidungszwängen: Die bisherigen Diskussionsrunden waren Theorie-Praxis-Kontroversen einer Soziologie auf dem Wege, aber noch vor den Toren der Praxis, während heute eine Soziologie in der Praxis und im Dienste der Praxis zu diskutieren beginnt.“ (Beck 1982a: 2, Hervorhebung im Original) Ein prominentes Beispiel für die Verwendung soziologischen Wissens ist in diesem Zusammenhang das Forschungsprogramm „Humanisierung des Arbeitslebens“ (HdA, siehe auch Jacobsen in diesem Band), das in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Forschung und Technologie, dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und unter maßgebli-

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cher Beteiligung der Industriesoziologie in Deutschland durchgeführt wurde. Hintergrund für die Auflage des Programms bildeten zunächst einige soziale Entwicklungen: So wurden unter anderem die Gefährdung der Vollbeschäftigung in Deutschland sowie die Sicherung wirtschaftlichen Wachstums als öffentliches Problem wahrgenommen. Insbesondere in der ersten Phase (1974–1980) zeichnete sich das reformorientierte Bündnis aus Bundesregierung, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Wissenschaft durch eine Basis gemeinsamer Ziele aus (Sauer 2011). Das HdAProgramm stellt die wohl größte institutionalisierte Offensive dar, in der Wissenschaft, Wirtschaft, Arbeitnehmer und Politik eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von abhängig Beschäftigten anstrebten. Dem ging die Annahme voraus, dass sich komplexe betriebliche Probleme nur in Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und gesellschaftlicher Akteure lösen lassen. Die Sozialwissenschaften sollten in diesem Zusammenhang prospektives Gestaltungswissen zur Verfügung stellen (Lengwiler 2005). Sie sollten korrigierend (in Hinblick auf eine Veränderung) wie evaluierend (in Hinblick auf die Auswertung der implementierten Maßnahmen) eingesetzt werden (ebd.). Die Erwartungen wurden jedoch in großem Maße enttäuscht. Die Absicht, durch den Einsatz von Sozialwissenschaften zu einer besseren und rationaleren Gesellschaft zu kommen, scheiterte unter anderem daran, dass die Eigenlogik bestimmter gesellschaftlicher Bereiche und Gruppen nicht mitbedacht wurde (Beck/Bonß 1984): Ein Problem war laut Meinung der Verwendungsforscher, dass die Soziologie in der Umsetzung ihrer jeweiligen Praxisvorstellungen von einem tradierten Verständnis des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Praxis ausging. Dieses bewegte sich zwischen bekannten Dichotomien von (positivistisch geprägter) Sozialtechnologie auf der einen Seite und (kritisch-reflexiver) Aufklärung auf der anderen Seite. Beide Ansätze nehmen ein Rationalitätsgefälle zwischen der Soziologie und der Gesellschaft an und sehen die praktische Aufgabe der Soziologie darin, das Rationalitätsniveau der Gesellschaft zu heben. Entgegen dieser Annahme argumentieren die Vertreter der Verwendungsforschung, dass bereits eine „primäre Versozialwissenschaftlichung“ der Gesellschaft im Zuge des realisierten Projekts der Moderne stattgefunden habe, die „soziologielosen Eingeborenen“ (Beck/Bonß 1989a: 40) dürften also längst als missioniert gelten. Max Webers Postulat der „Entzauberung der Welt“ durch die Soziologie sei schlichtweg überholt. Wissenschaftliches Wissen

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biete der Gesellschaft deshalb kein überlegenes Wissen mehr, sondern nur noch ein anderes Wissen. Es handelt sich in diesem Zusammenhang um eine „sekundäre“ Verwissenschaftlichung, in der Rezipienten soziologischen Wissens „[…] nicht mehr bloße ‚Objekte‘ der Verwissenschaftlichung sind, sondern zu potentiellen ‚Subjekten‘ in dem Sinne werden, daß sie auf der Grundlage eines durchgesetzten Zwangs zu ‚rationalen Argumentationen‘ die wissenschaftlichen Interpretationsangebote aktiv handhaben können. Dies bedeutet zugleich, daß die im Zuge der ‚primären‘ Verwissenschaftlichung eingeschliffenen Deutungsmuster nicht mehr die Aura definitiv wahrer Erkenntnisse haben, sondern wissenschaftsextern wie intern zu ‚sozialen Konstruktionen‘ relativiert werden, welche die Wirklichkeit durchaus verfehlen können.“ (Beck/Bonß 1984: 385)

Die Gesellschaft ist demnach von soziologischem Wissen durchdrungen, auch wenn es als solches nicht mehr erkennbar ist. Die These der Verwendungsforscher ist also, dass Soziologie sich ihrer „sozialwissenschaftlichen Identität“ entkleiden müsse, um wirksam zu werden. Es wird deshalb von einer Trivialisierung soziologischen Wissens in seinem Verwendungskontext gesprochen (Lau 1984). Damit einher geht ebenso, dass weder ein direkter Zusammenhang zwischen Wissensangeboten und deren Verwendung hergestellt werden kann noch dass die Soziologie Einfluss auf die Verwendung ihrer Wissensangebote hat. Es kommt in diesem Zusammenhang zu einer Autonomisierung der Nachfrage, in der Wissensrezipienten selbst steuern, inwieweit, in welcher Weise und zu welchem Zeitpunkt sie die Wissensangebote der Soziologie annehmen und anwenden. In diesem Sinn sei das Verhältnis von Theorie und Praxis wissenschaftsgeschichtlich wie theoretisch neu und fernab jeglichen Wissenschaftszentrismus zu durchdenken, welches ebenso dem Aspekt der Auflösung sozialwissenschaftlichen Wissens Rechnung trage (Beck/Bonß 1984). Neben diesen Versuchen der methodisch-theoretischen Fundierung der Verwendungsforschung (Beck 1982b; Beck/Bonß 1989b; Berger 1980; Bruder 1980; Wingens 1988; Wingens/Fuchs 1989) entstand im Zuge der Umsetzungsprojekte die Sorge, dass die Wissenschaft Gefahr laufe, „mehr und mehr zu einer Legitimationsressource politisch-administrativer Programme“ (Lau/Beck 1989: 3) zu werden und deshalb die Konditionen des Einsatzes der „Definitionsressource Soziologie“ verhandelt werden müssten

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(ebd.). 13 Es folgte eine Welle der „wissenschaftlichen Selbstthematisierung“ (Beck/Bonß 1984: 381). In diesem Sinn kann die Beteiligung der Soziologie an solchen politischen Großprogrammen letztlich als Laborstudie der Verwendung soziologischen Wissens gesehen werden. 3.4 Ausdifferenzierung und die Therapie von der Praxis (1980er Jahre – heute) Die Reaktionen der Disziplin auf eine von Praxisansprüchen überfrachtete Disziplin sind weitgehend unter dem Stichwort der Ausdifferenzierung disziplinärer Praktiken zu begreifen. Die Untersuchungen der Verwendungsforschung wurden in den Folgejahren kaum rezipiert, stattdessen bildeten sich drei unterschiedliche Positionen aus, in der „Therapiemöglichkeiten“ für die enttäuschten Erwartungen gesehen wurden (Beck/Bonß 1984): 1. Rückzug auf die Haltung einer kritischen Praxisdistanz, 2. der Ruf nach vermehrter Professionalisierung und 3. die Diagnostizierung einer bislang falsch verstandenen Professionalisierung. Ein Teil der Disziplin sah im Rückzug auf die Haltung einer kritischen Praxisdistanz in Form einer selbstreferenziellen „praxisentlasteten“ Wissenschaft den Weg für die Wiederherstellung des Fachs (siehe dazu Dreitzel/Kamper 1983; Offe 1982). Sie forderte die Entlastung eines von Praxisansprüchen überstrapazierten Fachs von „schnell wirkende[n] Patentrezepte[n]“ und „rasch befreiende[n] Großlösungsstrategien“, die so von der Soziologie nicht erfüllbar seien (Dreitzel/Kamper 1983). Die Frage nach der Normativität der Forschung wurde unter anderem mit der Durchsetzung des „Luhmannschen systemtheoretischen Dogmas“ (Streek 2015: 73) umgangen, wonach Subsysteme in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften einer Eigenlogik unterworfen sind. Auf der Grundlage dieser Annahme ist Soziologie als Wissenschaft realisierbar, die ausschließlich selbstbezogenen

13 Zur gleichen Zeit gab es heftige Debatten um die im Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg entwickelte These der „Finalisierung der Wissenschaft“ (Boehme/van den Daele/Krohn 1973). Diese besagt in Anlehnung an das Kuhnsche Modell wissenschaftlicher Paradigmen, dass die politische Steuerungsmöglichkeit der Grundlagenforschung zumindest für einen gewissen Zeitraum als normale Erscheinung zu deuten sei (Lengwiler 2005).

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Zielwerten folgt. Daraus folgt die Einsicht, dass keines dieser Subsysteme ein anderes oder die Gesellschaft als Ganzes „steuern“ kann (Streek 2015). Auch spielt dann Anwendung für die disziplinäre Selbstverständigung keine zentrale Rolle mehr. Der Rückzug der disziplinären Selbstverständigung aus den Debatten über eine Anwendung soziologischen Wissens in der Praxis lässt sich auch an der „Soziologie“, der offiziellen Zeitschrift der DGS, nachvollziehen: Die dort in den neunzehnhundertsiebziger Jahren noch zahlreich publizierten Beiträge zu möglichen außerakademischen Anwendungsfeldern soziologischen Wissens machten in den neunzehnhundertachtziger und neunzehnhundertneunziger Jahren innerakademischen Debatten um beispielsweise das Studium der Soziologie Platz. In Gegenreaktion zu dieser Haltung der kritischen Praxisdistanz gewann die Frage „Wozu heute noch Soziologie?“ (Fritz-Vannahme 1996) wieder an Relevanz. Prominente Vertreter der Disziplin bezeichneten die Soziologie als ein „Fach ohne Boden“ (Dettling 1996), das die Deutungshoheit über gesellschaftliche Probleme längst an andere Disziplinen abgegeben habe. Oder sie argumentierten wie Ralf Dahrendorf, die Soziologie sei zu einer rein bürokratischen und deshalb irrelevanten Kategorie geworden, „die bunten Vögel“ längst weitergezogen, während Soziologen früher ihre öffentliche Verpflichtung wahrgenommen hätten (Dahrendorf 1996). Dieser Rückzug aus öffentlichen Debatten und der damit konstatierte Bedeutungsverlust wurden jedoch nicht nur an fachinternen Diskussionen über den Sinn und Zweck der Soziologie festgemacht. Vielmehr gaben auch wissenschaftspolitische Entwicklungen Anlass für die Befürchtung eines zunehmenden Bedeutungsverlustes und Legitimationsdefizits (Knie 2005; Knoll/Meyer/Stockmann 2000). So seien besonders die interne Ausdifferenzierung sowie die vermeintlich mangelnde Interdisziplinaritätsfähigkeit des Fachs in Zeiten von Forschungsclustern und Exzellenzdiskursen durchaus kritisch zu sehen (Scheffer/Schmidt 2009). Auch wären personelle Einsparungen wissenschaftlichen Personals und von Professorenstellen bei wachsenden Studierendenzahlen zu verzeichnen, die vermutlich politischen Ursprungs sein dürften (Knoll/Meyer/Stockmann 2000). Politiker wären „gerade in Zeiten knapper Haushaltsmittel um jeden Hinweis dankbar, der Kürzungsmöglichkeiten legitimiert“ (ebd: 22). Es gab aber auch Vertreter, die sich in dieser Frage für eine Verstärkung der Professionalisierung der Soziologie in Anwendungskontexten einsetzten. Nicht Rückzug, sondern stärkere Professionalisierung der Soziolo-

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gie in Praxiskontexten laute die Lösung für die Soziologie. So knüpfte etwa die soziologische Organisationsberatung an die Erfahrungen der Industriesoziologen in den neunzehnhundertsiebziger Jahren an. Sie sollte die kontinuierliche Rückbindung der Beratungserfahrungen an den wissenschaftlichen Diskurs und die Bearbeitung der Schnittstelle zwischen Organisation und Gesellschaft gewährleisten (Howaldt 2002). Hier kann letztlich von einer Aufgabentrennung zwischen anwendungsorientierter Forschung und Grundlagenforschung ausgegangen werden, die die Frage der Normativität auf die Praxisleistungen auslagert. Die Reaktionen auf diese Position zeigten sich in einer weitgehenden Abkopplung disziplinärer Diskurse von praxisorientierten Bestrebungen, also in der Tendenz, professionalisierte Beratung explizit von der akademischen Forschung abzugrenzen (Latniak/Wilkesmann 2004). Es differenzierten sich zunehmend eigenständige Expertensysteme aus. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang die zunehmende Institutionalisierung marktförmiger Sozialforschung genannt werden. Ein anderes Beispiel für diese Ausdifferenzierung lässt sich anhand der zwei Verbände der Soziologie verdeutlichen: Während sich der Berufsverband deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS) vor allem praxisnahen Themen und möglichen Berufsfeldern von Soziolog(inn)en widmet, repräsentiert die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin. Die aktuellen Debatten, die innerhalb der Verbände geführt werden, weisen kaum Berührungspunkte auf. Im historischen Verlauf stellt sich zunächst ein anderes Bild dar: Den Eröffnungsvortrag auf dem ersten Kongress des BDS (gegründet 1976) für angewandte Soziologie hält 1981 Norbert Elias zu „Engagement und Distanzierung“ 14. Nach und nach differenzierten sich die Debatten jedoch zunehmend in „berufsbezogen“ (BDS) und „disziplinär“ (DGS) aus. Ein dritter Teil der Disziplin vertrat die Diagnose einer bislang „falschen“ Professionalisierung der Soziologie (Beck/Bonß 1984; Badura 1980; Nunner-Winkler/Oevermann/Rolff 1981). Ein aktuelles Beispiel für diese Form der Professionalisierung, die weder auf die Vorstellung einer sich selbst genügenden Wissenschaft noch auf eine optimierte Bereitstellung von Dienstleistungen für die Praxis abzielt, kann im Genre der Zeitdi-

14 Vergleiche http://bds-soz.de/BDS/verband/BDS-Chronik1976-2003.pdf (Zugriff vom 19.06.15)

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agnose gesehen werden, das in den letzten Jahrzehnten in der Soziologie an Bedeutung gewonnen hat. Doch auch dieser Position stehen Teile der Disziplin durchaus kritisch gegenüber: „Der heutige Zankapfel heißt Zeitdiagnose“ (Kieserling 2004: 37). Es herrscht Uneinigkeit darüber, inwiefern einprägsame begriffliche Zuspitzungen gesellschaftlicher Entwicklungen wie „Industriegesellschaft“, „Informationsgesellschaft“ oder „Risikogesellschaft“ überhaupt zutreffend sind und ob ihre massenmediale Anschlussfähigkeit nicht Verkürzungen geradezu begünstigt, die mitunter in der Rezeption dieser Diagnosen vorgenommen werden (Kieserling 2004). 15 Es kann also gefolgert werden, dass die mangelnde Grenzziehung zwischen Soziologie und Massenmedien die Frage nach den Grenzen legitimer Soziologie in Hinblick auf die eigene Wissensproduktion aufwirft. Osrecki (2011) argumentiert, dass sich im Laufe des 20. Jahrhunderts öffentliche und wissenschaftliche Selbstthematisierungen ausdifferenziert haben und sich insofern auch Zeitdiagnosen von wissenschaftlichen Gesellschaftstheorien unterscheiden. Über den Erfolg von Zeitdiagnosen entscheiden die Massenmedien, weswegen es zu einer Spaltung zwischen akademischen Soziologen und Medienintellektuellen komme (ebd.: 17). Das in diesen Positionen angenommene Rationalitätsgefälle zwischen soziologischem Wissen und Praxiswissen wird unter anderem von einem Ansatz, der innerhalb der Soziologie große Resonanz erfuhr, infrage gestellt 16. In seinem Werk „Soziologie und Sozialkritik“ (2010) verknüpft Luc Boltanski Pragmatismus und Kritische Theorie zu folgendem Plädoyer: Soziologie soll die Kritik der „Alltagsmenschen“ (ebd.: 45) in die soziologische Beschreibung aufnehmen und in diesem Sinn als deren Sprachrohr

15 Siehe beispielsweise den Sonderband der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zu soziologischen Zeitdiagnosen (Friedrichs/Lepsius/Mayer 1998; Schimank 2000). Zum Genre soziologischer Zeitdiagnosen vergleiche Osrecki 2011. 16 Ein methodischer Ansatz, der ebenso von einem notwendigen Bruch des Rationalitätsgefälles zwischen Soziologie und Praxis ausgeht, ist die Communitybasierte partizipative Forschung. Sie lässt den jeweiligen Akteuren aus der Praxis stärkeren Anteil am Forschungsprozess zukommen (Unger 2014). Die Rezeption der partizipativen Forschung ist in der deutschen Soziologie jedoch bislang gering.

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fungieren. Damit verwirft er die Asymmetrie zwischen „durch die Weihen der Wissenschaft aufgeklärten Soziologen und den in den Sphären der Illusion versunkenen gewöhnlichen“ Menschen (ebd.: 45). Zugleich bezieht er auf diese Weise Position zum Thema Normativität: die metakritische Position der Soziologie besteht ihm zufolge darin, die Perspektive der Akteure, ihren moralischen Sinn und ihr Gerechtigkeitsempfinden aufzunehmen: „Tatsächlich wird es dem Soziologen durch Übernahme des Gesichtspunkts des Akteurs möglich, einen normativen Blick auf die Welt zu werfen, ohne daß dieser Blick durch persönliche Optionen (gebunden z. B. an eine spezifische kulturelle Zugehörigkeit, ein politisches oder religiöses Engagement) oder durch den Rückgriff auf eine inhaltliche Moralphilosophie (wie den Utilitarismus) geleitet ist.“ (ebd.: 57)

Aufgabe der Soziologie ist es demensprechend, im Sinne einer pragmatischen „Soziologie der Kritik“, „den Menschen […] beizustehen“ und somit Kräften entgegenzuwirken, mit denen „die Herrschaft […] alles verschlingen würde“ (ebd.: 228). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass diese Phase von einem Nebeneinander unterschiedlicher Auffassungen über das Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand geprägt ist. Es scheint jedoch, als hätten die in den älteren Debatten aufgebrachten Dichotomien von Sozialtechnologie und Aufklärung ungeachtet der Erkenntnisse der Verwendungsforschung eine erstaunliche Kontinuität. Ebenso zeigen sich ein Nebeneinander und eine zunehmende Ausdifferenzierung unterschiedlicher Soziologietypen (z. B. angewandte Soziologen, Medienintellektuelle, akademische Soziologen), deren Gleichzeitigkeit keine übergreifenden Debatten mehr hervorrufen. Dies steht in starkem Gegensatz zu den vorhergehenden Etappen, die durch soziologische Großdebatten geprägt waren. 3.5 Normativität und Objektivität, Theorie und Praxis, Sozialtechnologie und Aufklärung – unterschiedliche Bezugspunkte soziologischer Selbstbeschreibung Die vorangegangenen Ausführungen haben deutlich machen können, dass es in unterschiedlichen Zeitabschnitten zentrale Debatten über das Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand gab, die bis heute von Bedeutung sind. Diese Phasen der intensiven Selbstreflexion waren ge-

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prägt durch unterschiedliche Grenzverhandlungen darüber, welches Maß an Distanz die Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand einnehmen solle und wie sich diese Distanz herstellen lasse. Im Zuge dieser Reflexionsleistung haben sich unterschiedliche Beschreibungskategorien ausgebildet (Normativität und Objektivität, Sozialtechnologie und Aufklärung, Theorie und Praxis), wobei die Frage der Normativität immer eine zentrale Rolle spielte. Die Verhandlung der Normativität in der Soziologie lässt sich auf zwei unterschiedlichen Reflexionsebenen nachzeichnen: Die erste Reflexionsebene wurde in den ersten beiden beschriebenen Zeitabschnitten verhandelt. Sie spiegelt fachinterne Debatten des Verhältnisses von Soziologie und Gesellschaft wider, in denen die Rolle normativer Einflüsse auf individueller und kollektiver Ebene in Hinblick auf soziologische Erkenntnis hinterfragt wurde. In den Anfängen der Soziologie ging es in diesem Sinn um ihre Legitimität, Beschreibungen über die Gesellschaft zu erzeugen und um ihre Anerkennung als wissenschaftliche Einzeldisziplin neben bereits etablierten Disziplinen wie den Geschichtswissenschaften oder der Nationalökonomie. Die Soziologie war aufgefordert, eine sie im Unterschied zu allen anderen Disziplinen auszeichnende Position zu entwickeln. Das Verhältnis von Soziologie und Gesellschaft wurde in diesem Zeitabschnitt insbesondere über die (individuelle) Wertbeziehung zwischen Forschenden und ihrem Untersuchungsgegenstand reflektiert. In der Nachkriegszeit wurden diese Debatten dann unter anderem Vorzeichen wieder aufgenommen. Nun drehte sich der Streit überwiegend um die Stellung der Soziologie innerhalb eines ideologischen gesellschaftlichen Gefüges und um die damit verbundenen Implikationen für das Fach. In den Mittelpunkt rückten Reflexionen über die allgemeine Position der Wissenschaft in der Gesellschaft. Das Konzept der Normativität wurde gewissermaßen vom Individuum auf die Ebene des Systems gehoben und reflektiert. Die zweite Reflexionsebene beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Soziologie und Gesellschaft als zweier unterschiedlicher Normensysteme, die in der konkreten Auseinandersetzung zwischen Soziolog(inn)en und Akteuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen aufeinanderprallen. In diesem Zusammenhang werden Fragen nach der gegenseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Wissensbestände verhandelt, nach der Passfähigkeit soziologischen Wissens für die Lösung realpolitischer Probleme und seiner Wirkmächtigkeit in der Gesellschaft. Damit werden das Thema der legitimen „Einmischung“ der Soziologie in politische Fragen

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und das Feld der praktischen Veränderungsbedingungen für soziale Strukturen angesprochen. Während vorhergehende Debatten auf dem Glauben an ein Rationalitätskontinuum beruhten, wonach die Soziologie die Gesellschaft „entzaubert“ (Weber 2002[1919]), wird dieses im Zuge der Verwendungsforschung zunehmend aufgegeben. Soziologie wird stattdessen selbst zum Labor und zum Selbsttest dessen, was sie zuvor auf wissenschaftstheoretischer Ebene verhandelt hat. Soziologie und soziologieexterne Praxis zeichnen sich durch unterschiedliche Normativitäten, das heißt lebensweltliche Vorannahmen, Wertbezüge und Prioritätensetzungen aus, die direkt aufeinanderprallen. Dieser „Realitätsschock“ der Soziologie löste nicht nur weitrechende Reflexionen über unterschiedliche Normativitätskonzeptionen zwischen Wissenschaft und Praxis aus, sondern führte letztlich dazu, das Verhältnis zwischen Soziologie und Gesellschaft wissenschaftstheoretisch neu zu überdenken und zu reformulieren. Eine breite Rezeption der Verwendungsforschung blieb jedoch aus. Die Folgejahre sind insbesondere durch eine Ausdifferenzierung der Debatten gekennzeichnet, die anstelle übergreifend geführter Diskussionen nebeneinander existieren und für eine überwiegende Rückkehr zum Rationalitätsgefälle steht. Es lässt sich also resümieren, dass die Soziologie in unterschiedlichen historischen Phasen immer wieder andere Normativitätsaspekte in den Mittelpunkt ihrer Debatten rückte und ihre Stellung in der Gesellschaft unterschiedlich definierte. Der Umgang mit diesen Aspekten reichte von der Systemtrennung von Wissenschaft und Gesellschaft bis hin zur Anerkennung der Totalität der Gesellschaft, der sich auch die Wissenschaft nicht entziehen kann. Laut Boltanski (2010) konstruiert die Soziologie ungeachtet all dieser Unterschiede für sich jedoch immer eine Außenposition, wobei er zwischen komplexen und einfachen Außenpositionen unterscheidet. Komplexe Außenpositionen bezeichnen etwa Standpunkte wie den von der Kritischen Theorie eingenommenen, die versucht, eine kritische Position zu einem sozialen Gefüge zu entwickeln, dessen unmittelbarer Teil sie ist. Boltanski prägt dafür den Begriff der metakritischen Position (ebd.: 26) und versteht unter „Aufklärung“ in diesem Zusammenhang den Anspruch der kritischen Theorie, reflexives Wissen über die Gesellschaft herzustellen (ebd.: 21). Einfache Außenpositionen verknüpft er hingegen stärker mit einer instrumentellen Expertise, die die Gesellschaft beschreibt und deshalb sozial verwurzelte und kontextabhängige Formen der Kritik hervorbringt (ebd.: 24.). Diese Position kann mit dem Begriff der Sozialtechnologie um-

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schrieben werden. Boltanski plädiert dafür, über eine komplexe Innenperspektive nachzudenken, da es der Soziologie unmöglich ist, eine gänzliche Außenperspektive einzunehmen. Bezeichnend für das Schaffen von Außenpositionen ist die meist damit einhergehende Rhetorik von „Theorie“ auf der einen Seite und „Praxis“ auf der anderen, die, wie wir gesehen haben, in allen genannten Debatten eine Rolle spielt. So wird einerseits „Theorie“ mit Soziologie gleichgesetzt und „Praxis“ mit Gesellschaft. Praxis (etymologisch: Entlehnung aus dem lateinischen praxis „Ausübung“, „Verfahrungsart“, das aus dem altgriechischen ʌȡ઼ȟȚȢ >SUD[LV@ ĺ JUF HQWOHKQW ZRUGHQ LVW  ZLUG DOVR YRQ GHU 6R]LRORJLH ausgelagert und mit soziologieexterner Ausübung von Handlungen in Verbindung gebracht, die die Soziologie beobachtet, systematisiert und gemäß eines Theorie-Praxis-Verhältnisses „theoretisiert“. Interessant ist, dass dabei nur selten die Differenz zwischen Theorie und Empirie angesprochen wird. Mit dem Begriff der Praxis wird vielmehr auf eine „soziale Praxis“ verwiesen, die sich noch unstrukturiert im sozialen Raum vollzieht und eben noch nicht den Status einer theoretisch-konzeptionell vorstrukturierten Empirie erlangt hat. Es sei in diesem Zusammenhang noch auf ein weiteres Kategorienpaar hingewiesen: das der Autonomie und Praxisrelevanz (Kaldewey 2013). Die spezifische Position der Soziologie in Bezug auf ihren Untersuchungsgegenstand führt dazu, dass die Disziplin seit ihrer Entstehung um die Demonstration von Autonomie und ihren Status als Wissenschaft bemüht ist. Ihre Autonomie versucht die Soziologie unter Beweis zu stellen, indem sie das Verhältnis zu ihren normativen Vorannahmen über Gesellschaft reflektiert und auf Distanz zu ihrem Untersuchungsgegenstand geht. Demnach scheint ein erfolgreicher Austausch mit der Gesellschaft für die Soziologie treffender im Grundsatz „Praxisrelevanz in der Autonomie“ auf den Begriff gebracht zu sein als in der Dichotomisierung dieser Begriffe. Die mangelnde Reflexion der Autonomie in Zeiten der Reformeuphorie der neunzehnhundertsiebziger Jahre mag deshalb – trotz weitreichender späterer wissenschaftlicher Aufarbeitung in Form der Verwendungsforschung – zu einem der Faktoren des Scheiterns des Vorhabens und wohl auch zu der geringen Rezeption der Verwendungsforschung geführt haben.

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4. E WIG UMSTRITTEN ! S OZIOLOGIE UND DER W ISSENSTRANSFER Wie dieser Beitrag gezeigt hat, war und ist das Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand, der Gesellschaft, seit Gründung der Disziplin umstritten. In den geschilderten Debatten wurde primär die Identität einer Disziplin diskutiert, die die Grundfragen, Berechtigungen und Möglichkeiten legitimer Forschung berührte. Letztlich ging es dabei um die „Legitimation oder Zurückweisung eines Anspruchs auf gesellschaftliche Rationalisierung durch die Soziologie“ (Lau 1984: 407). Es wurde argumentiert, dass in den wiederkehrenden Debatten ein nicht aufzulösendes Spannungsverhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand, der Gesellschaft, zum Ausdruck kommt. Weiterhin konnte anhand der Analyse ausgewählter historischer Debatten gezeigt werden, dass die Soziologie ihre Position zu ihrem Untersuchungsgegenstand zum Gegenstand ihrer Selbstreflexion macht und problematisiert sowie ihre Wissensproduktion in unterschiedlicher Weise auf ihre Konsequenzen hin reflektiert. An dieser Stelle soll deshalb noch einmal auf die bereits zu Anfang erwähnte public sociology eingegangen werden, die als vorläufiger Schlusspunkt soziologischer Selbstreflexion gelten kann. Wieso vermochte dieses Konzept international eine Welle wissenschaftlicher Selbstthematisierung auszulösen? Die These lautet, dass Burawoys Kategorien weitreichende, zum breiten Konsens soziologischer Identitätsverhandlungen zählende Diskussionen berühren. Burawoys Unterscheidung in vier Soziologietypen (siehe Tabelle 1) ist gewissermaßen als eine „Idealtypisierung“ derjenigen Debatten zu verstehen, die in der Disziplin bereits zuvor virulent waren. Tabelle 1: Division of Sociological Labor Academic Audience

Extra-academic Audience

Instrumental Knowledge

Professional

Policy

Reflexive Knowledge

Critical

Public

(Quelle: Burawoy 2005: 269)

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Burawoy konstruiert eine der Gesellschaft gegenüberstehende Soziologie, die als Profession mehrere Aufgaben erfüllen kann, und zwar mit einem einerseits instrumentellen, andererseits reflexiven Impetus. So ist „policy sociology“ policy sociology eher funktional an einem Auftraggeber ausgerichtet, „public sociology“ stärker an einem Ideal demokratischer Teilhabe. Dieser Unterschied schließt an eine Dichotomie der Selbstbeschreibung von Soziologie in Form des sozialtechnologischen Paradigmas und des Gedankens der Aufklärung an. Sozialtechnologisches Wissen wird als instrumentelles Prozesswissen unterschiedlichen Deutungsangeboten der sozialen Wirklichkeit gegenübergestellt. „Critical sociology“ soll Reflexionswissen für die professionelle Soziologie bereitstellen, quasi eine Soziologie der Soziologie, die die Prämissen soziologischer Normalwissenschaft permanent infrage stellt. In der besten aller Welten greifen laut Burawoy die Soziologietypen in ihrer Aufgabenverteilung ineinander und befruchten sich gegenseitig. Inwieweit dies jedoch tatsächlich aufgrund unterschiedlichster epistemologischer Hintergrundannahmen der in der Tabelle aufgeführten Soziologien möglich ist, scheint fraglich. Was aber können wir aus den historischen Debatten und aus Burawoys „public sociology“ in Hinblick auf den Wissenstransfer in der Soziologie lernen? Zunächst einmal dies: Wissenstransfer ist „alter Wein in neuen Schläuchen“. Das Verhältnis von Soziologie und Gesellschaft, der Anteil der Soziologie an gesellschaftspolitischen Debatten und ihr möglicher Beitrag zur Veränderung sozialer Strukturen sind aufgrund ihrer spezifischen Position in Bezug auf ihren Untersuchungsgegenstand schon lange umstritten und werden das wohl auch auf ewig bleiben. Weiterhin lernen wir, dass Wissenstransfer innerhalb der Soziologie unter prekären und widersprüchlichen Vorzeichen durchgeführt wird. Denn genau dieses ungeklärte Verhältnis zu dem, was die Soziologie als Gesellschaft bezeichnet, zu den normativen Implikationen, die mit diesem Verhältnis verbunden sind, sowie zur Frage, wo die Grenzen soziologischer Wissensproduktion sind und sein sollen, führt zu einer hohen Diversität an Formen, in denen Wissenstransfer betrieben wird (siehe auch Froese/Mevissen in diesem Band). Folgt man der Argumentation der Verwendungsforschung, ein „Praktischwerden“ der Soziologie erfordere die Auflösung soziologischen Wissens in sozialen Zusammenhängen, erweist sich auch das als folgenreich für den Wissenstransfer. Denn dann wäre es ein Kennzeichen erfolgreichen Wissenstransfers, dass er nicht mehr nachweis-

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bar wäre, da die Gesellschaft das Wissen absorbiert und in ihrer eigenen Logik verarbeitet hätte; Wissenstransfer wäre in dieser Sicht also weder als solcher erkennbar noch messbar. Nach Beck/Bonß (1984b) trifft die Soziologie heute auf eine Gesellschaft, die bereits in hohem Maße mit sozialwissenschaftlichem Wissen „angefüllt“ ist und deshalb mehr denn je soziologische Gesellschaftsbeschreibungen kritisch betrachtet. Das lässt vermuten, dass auch soziologischer Wissenstransfer bezüglich seiner Aussagekraft infrage gestellt wird. In Kapitel 3.4 wurde argumentiert, dass im Zuge der Ausdifferenzierung soziologischer Debatten eine zunehmende Spaltung zwischen Expertendiskursen und disziplinären Diskursen zu verzeichnen ist. Dieses Argument soll um das folgende erweitert werden: Zwischen dem Reden über die „Praxis“ und dem aktuellen Transferhandeln von Soziolog(inn)en scheint eine Diskrepanz zu bestehen. Dies zeigt bereits ein Blick auf das Forschungsrating für Soziologie, dem zu entnehmen ist, dass Transferaktivitäten zwar von einem nicht unwesentlichen Teil von Soziolog(inn)en betrieben werden (Wissenschaftsrat 2008a, 2008b), allerdings in der Disziplin nur wenig Anerkennung erfahren (siehe auch Froese/Mevissen in diesem Band), obwohl Debatten um „public sociology“ in den letzten Jahren wieder an Prominenz gewonnen haben. Diese Diskrepanz zwischen der in der Soziologie vollzogenen Reflexionsleistung und der geringen Rolle, die Transferleistungen innerhalb der Disziplin spielen, spricht dafür, dass die Stellung der Soziologie in der Gesellschaft stärker selbstreferenziell als auf basierenden Erfahrungen im Wissenstransfer überdacht wird. Dies alles ist weder zu beanstanden noch zu kritisieren. Allerdings sei angemerkt, dass die Soziologie heute mehr denn je einer Situation interner Fragmentierung und Ausdifferenzierung ausgesetzt ist. Zudem sieht sie sich einer Vielfalt unterschiedlicher Förderformate und institutioneller Zusammenhänge gegenüber, lauter werdenden Forderungen nach Interdisziplinärität sowie einer Konkurrenz mit anderen Disziplinen und gesellschaftlichen Akteuren um die Deutungshoheit über das Soziale. Insbesondere im Zeitalter von „Big Data“ und von massiven gesellschaftlichen Umbrüchen in Richtung einer Technisierung sozialer Zusammenhänge droht die Soziologie, Kernaufgaben der Gesellschaftsbeschreibung an andere Disziplinen abzugeben und den „Anschluss“ an adäquate Gesellschaftsbeschreibungen zu verlieren. Aufgrund ihrer internen Fragmentierung und ihrer nur wenig geschlossenen Position in Bezug auf die Legitimität von Wissenstransfer –

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aufgrund ihres ungeklärten Verhältnisses zur Gesellschaft also – könnte es wohl dazu kommen, dass die von der Soziologie vorgenommenen Beschreibungen von Gesellschaft immer kleinere Teilbereiche umspannen und große gesellschaftliche Entwicklungen kaum mehr zu fassen bekommen. So scheint Boltanskis Aufruf zu einer pragmatischen „Soziologie der Kritik“ auch ein Plädoyer für mehr Distanzlosigkeit zum eigenen Untersuchungsgegenstand zu sein. Denn je mehr die Soziologie „die soziale Welt auf Distanz hielte, gleichsam um sie von außen zu beherrschen, desto sicherer brächte sie selbst sich um ihr soziales Fundament“ (Boltanski 2010: 37). Doch soll es nicht bei einem rein negativen Ausblick bleiben. Es mag sein, dass das umstrittene Verhältnis der Soziologie zu ihrem Untersuchungsgegenstand auf der einen Seite dazu führt, dass Einigkeit über ihre eigene Stellung in der Gesellschaft nicht herzustellen ist und sie sich damit auch die Chance vergibt hervorzuheben, welchen Mehrwert ihre Beiträge zu bestimmten Debatten erzeugen können. In diesem Sinne mag – einmal mehr – ihre gesellschaftliche Legitimation auf die Probe gestellt sein. Auf der anderen Seite aber machen gerade diese Uneindeutigkeit und Ausdifferenziertheit die Soziologie flexibel und anpassungsfähig an eine hoch ausdifferenzierte und fragmentierte (postmoderne) Gesellschaft, die nach vielfältigen Formen des Praxisengagements fragt und eben nicht nach eindeutigen Positionen und Antworten.

L ITERATURVERZEICHNIS Adorno, Theodor W. 1975. Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 4. Aufl. Darmstadt [u. a.]: Luchterhand. Badura, Bernhard 1980. „Gegenexpertise als wissenschaftssoziologisches und wissenschaftspolitisches Problem“, in: Soziale Welt 31, S. 459– 473. Badura, Bernhard 1982. „Soziologie und Sozialpolitik. Alte Themen, neue Aufgaben“, in: Soziologie und Praxis. Erfahrungen, Konflikte, Perspektiven. Soziale Welt; Sonderband 1, hrsg. v. Beck, Ulrich, Göttingen: Schwartz, S. 93–108. Bastow, Simon; Dunleavy, Patrick; Tinkler, Jane et al. 2014. The impact of the social sciences. How academics and their research make a difference. Los Angeles: Sage.

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Wissenstransfer im öffentlichen Raum

Infrastrukturen: Bahnen des Wissenstransfers? E VA B ARLÖSIUS

1. H INFÜHRUNG UND FORSCHUNGSPRAKTISCHE

V ORÜBERLEGUNGEN

Im Lachen der Magd von Thraka über ihren Herrn, der in den Brunnen fiel, während er den Lauf der Sterne studierte, offenbart sich vermutlich anschaulicher als in späteren Verunglimpfungen der Wissenschaft als praxisfern, dass Wissenschaft und Praxis von Anbeginn an in einem spannungsreichen Verhältnis gesehen wurden. Gleichwohl, die Magd lachte zu früh, denn ihr Herr – Thales – sagte auf Grundlage seiner Theorie über die Sterne eine Sonnenfinsternis voraus: ein Wissenstransfer in die Praxis von eminenter praktischer Bedeutung. Hans Blumenberg, aus dessen wunderbarem Buch „Das Lachen der Thrakerin“ (Blumenberg 1987) ich mein Wissen über die Magd und ihren Herrn entliehen habe, wollte darin nicht nur die Geschichte der Rezeption und der immer wiederkehrenden Neuerzählung dieser antiken Anekdote in der Philosophie rekonstruieren. Auf den ersten

236 | E VA B ARLÖSIUS

und letzten Seiten seiner Schrift spricht er explizit von der „Wissenschaft in Institutionen“ (ebd.: 9). Sie habe sich in einem Gebäude eingerichtet, das sie vor dem „Zusammenstoß“ (ebd.) mit der Außenwelt schütze, vor dem Lachen der Thrakerin ebenso wie vor dem externen Anspruch, für die Praxis zu forschen. Vor knapp dreißig Jahren, als Blumenberg seine Studie über „Das Lachen der Thrakerin“ verfasste, beobachtete er einzig „wachsende Scharen von Publizisten, die Theorie und den Theoretiker einem zahlenden Publikum ‚interessant‘“ erhalten würden (ebd.: 10). Wer zum zahlenden Publikum gehörte, darüber äußerte er sich nicht. Aber Politiker, Wirtschaftsvertreter oder andere wissenschaftsferne Personengruppen waren nicht darunter. Auch ging Blumenberg offenbar davon aus, dass sich das Publikum weiterhin auf die Rolle von Zuschauern beschränken würde. Damals war Blumenberg lediglich über „die Beflissenheit“ irritiert, „mit der diese Geschichte gerade von denjenigen Personen weitererzählt wird, die eigentlich vom Lachen der Magd mitbetroffen sein sollten“: von Wissenschaftlern, die sich damit selbst der Lächerlichkeit aussetzen (ebd.: 161). Aus heutiger Sicht stellt sich das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis ganz anders da. Das Lachen ist längst verhallt. Entschlossen und vollkommen humorlos trägt die Außenwelt der Wissenschaft ihr Ansinnen vor, dass sie für die Praxis zu forschen habe. Mehr noch, ausgerüstet mit einem übervollen Werkzeugkasten – bestückt mit Steuerungsinstrumenten und GovernanceVarianten –, dringt sie darauf, dass ihre Forderung von der Wissenschaft in die Tat umgesetzt werde. Ob und wie dieser Forderung nachgekommen wird, ist mittlerweile selbst Gegenstand der Forschung geworden. Insbesondere die Wissenschaftsforschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, darüber zu forschen, wie Wissenstransfer stattfindet, welche Voraussetzungen ihn begünstigen und wodurch er gehemmt wird. Für die letzten Jahrzehnte verbinden sich mit diesen Forschungsfragen große wissenschaftssoziologische Debatten. Da sich diverse Beiträge in diesem Band damit ausführlich beschäftigen, sollen hier nur einige Debattentitel aufgezählt werden: „new modes of knowledge production“([mode-2] Gibbons et al. 1994; Nowotny/Scott/Gibbons 2004), „post normal science“ (Funtowicz/Ravetz 1993), „Pasteurs Quadrant“ (Stokes 1997), „making knowledge useful“ oder „making useful know-

I NFRASTRUKTUREN: B AHNEN DES W ISSENSTRANSFERS ?

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ledge“ (Hackett 2005). 1 Diese Schlagworte stehen für ausgearbeitete Theorien, empirisch handhabbare Konzepte und eine Vielzahl empirischer Studien. Allesamt belegen sie anschaulich und überzeugend, was ihre Originalität ausmacht, worin sie sich unterscheiden, weshalb sie unverzichtbar für das Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis sind, und wie Wissenstransfer vonstatten geht. Trotz dieser Belege für Originalität und Differenz ist all diesen Theorien, Konzepten und Studien gemeinsam, dass sie Wissenschaft und Praxis mehr oder weniger sowohl als begriffliches wie auch als real existierendes „Oppositionspaar“ (Koselleck 2006) setzen. Für den Wissenstransfer folgt daraus, ihn als „Brücke“ (Simmel 1957) zwischen Wissenschaft und Praxis zu projektieren. Obgleich der Übergang unterschiedlich entworfen wird, mal als direkter Übergang oder als Kaskade, mal als Schleife oder als Hybrid, resultiert aus dieser Auffassung von Wissenstransfer letztlich und abstrakt betrachtet, dass sich die Forschung auf die Frage konzentriert, ob und wie der Hiatus zwischen Wissenschaft und Praxis in der Empirie „überbrückt“ wird. Einerlei, wie die Verbindung theoretisch gedacht, methodisch operationalisiert und empirisch untersucht wird, in dieser Konzeption von Wissenstransfer ist angelegt, ihn als prinzipiell gefährdet und problembehaftet zu begreifen: Immerhin bedarf er einer tragfähigen Brücke zwischen zwei getrennten Welten. Zudem ist in diese Konzeption eingeschrieben, dass Wissenstransfer glücken sollte, und damit eine Wertung davon, dass und wie Wissenschaft und Praxis miteinander zu interagieren haben. Diese Verwandtschaft zwischen den vielfältigen Debatten über Wissenstransfer war der Grund, weshalb ich meinen Beitrag mit seiner „Urgeschichte“, dem Lachen der Magd über ihren Herrn, begonnen habe. Schon in dieser Geschichte werden Theorie beziehungsweise Wissenschaft und Praxis als Oppositionspaar eingeführt und eine Überbrückung ihrer Eigenarten als schwieriges, ja als misslingendes Unterfangen geschildert. Vielleicht ist es gewagt, die oben exemplarisch benannten gegenwärtigen Debatten in diese Denktradition zu stellen. Aber die antike Vorlage setzt Wissenschaft und Praxis in einer ganz ähnlichen Weise in ein spannungsreiches

1

Selbstverständlich ist diese Aufzählung nicht einmal annähernd vollständig; sie möchte auch keine Gewichtung vornehmen, sondern dient einzig der Erläuterung.

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Verhältnis zueinander, wie dies für die Mehrzahl der heutigen wissenschaftssoziologischen Konzeptionen von Wissenstransfer gilt. Es ist erstaunlich, wie weitgehend unverändert die Entgegensetzung von Wissenschaft und Praxis und die Konzeption von Wissenstransfer als „Brücke“ zwischen den beiden die Jahrhunderte überdauert hat (siehe Kaldewey in diesem Band). Nun hatte – wie bereits erwähnt – die Magd verfrüht über die Praxisferne ihres Herrn gelacht, seine Vorhersage einer Sonnenfinsternis bewahrte vor großem Schaden, und sein Theoriewissen verhalf ihm zu einer üppigen Ölernte, die ihm Reichtum sicherte (Blumenberg 1987: 24). Diesen erfolgreichen Wissenstransfer mag man als Nebenerzählung zurückweisen und auf dem Hauptstrang bestehen: das Scheitern des Wissenschaftlers an den Anforderungen der Praxis. Trotzdem – wenn mein Hinweis stimmt, dass mit der Setzung von Wissenschaft und Praxis als Oppositionspaar einhergeht, Wissenstransfer als eine „Brücke“ zu entwerfen, die hinzukommen muss, damit Wissenschaft und Praxis zueinanderfinden – wäre es doch lohnenswert, mal einen anderen Weg auszuprobieren, um Formen des Zusammenwirkens von Wissenschaft und Praxis zu identifizieren und zu analysieren. Die Ermutigung, einen anderen Weg zu suchen, ziehe ich aus Pierre Bourdieus Empfehlung, dass es soziologisch lehrreich sein kann, die Analyse dessen, was der Fall ist, nicht mit rein theoretisch konstruierten Begriffen zu starten. Dies gilt insbesondere dann, wenn mit den Begriffen das Phänomen, das untersucht werden soll, „künstlich“ zerlegt wird. Aus solchen Begriffen erwächst oftmals die Aufgabe, die theoretisch fundierten Konstrukte in der praktischen Forschung wieder zusammenzubringen (Bourdieu 1976; Barlösius 2011: 142–157). Der Grund dafür ist, dass die praktischen Phänomene, die sie bezeichnen sollen, häufig nicht so strikt voneinander getrennt existieren, wie die Begrifflichkeiten es unterstellen. Daraus können Fehlinterpretationen resultieren, wenn auf begrifflicher Ebene Widersprüche und Probleme formuliert werden, die sich anders oder empirisch gar nicht stellen. Abgesehen davon kann auf diese Weise eine oftmals später erforderliche empirische Zusammenfügung von zuvor mittels theoretischer Begrifflichkeiten geschiedenen Phänomenen umgangen werden. Die Vorzüge einer nicht theoretisch vorkonstruierten Vorgehensweise muss man gewiss nicht so hoch einschätzen wie Bourdieu. Nichtsdestotrotz könnte es für das Thema Wissenstransfer instruktiv sein, eine

I NFRASTRUKTUREN: B AHNEN DES W ISSENSTRANSFERS ?

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solche Vorgehensweise zu erproben. 2 Konkret würde dies heißen, Formen des Wissenstransfers empirisch zu untersuchen und dabei Wissenschaft und Praxis nicht als Oppositionspaar vorauszusetzen. Damit ist selbstverständlich nicht infrage gestellt, dass Wissenschaft und Praxis Differenzbegriffe repräsentieren und auf existierende Unterschiede referieren.

2. I NFRASTRUKTUREN : T RANSFER VON WISSENSCHAFTLICHEM W ISSEN IN DIE P RAXIS Im Folgenden soll das Verwobensein von Wissenschaft und Praxis anhand von Infrastrukturen gezeigt werden und wie diese als Institutionen des Wissenstransfers wirken. Vermutlich wird das Beispiel Infrastrukturen einige Leser überraschen. Aber die Wahl bietet einige Vorzüge. Zunächst waren Infrastrukturen von Anfang an Institutionen des Wissenstransfers. Sie basieren auf wissenschaftlichem Wissen oder referieren darauf und sind damit selbst Produkte des Wissenstransfers. Es überrascht deshalb auch nicht, dass die Science and Technology Studies (STS), um Informationsinfrastrukturen oder wissenschaftliche Praktiken des Data Sharing als Forschungsgegenstände zu erschließen, dazu aufgerufen haben, sich zunächst mit der Geschichte jener Infrastrukturen zu befassen, die der industriellen Wohlstandsgesellschaft den Weg gebahnt haben. Begründet wurde dies mit dem Argument, aus solchen Studien ließen sich Forschungsperspektiven und Problemfelder herleiten, die ein besseres Verständnis wissenschaftlicher Infrastrukturen ermöglichen, als wenn diese vorrangig als Teil der Wissenschaft begriffen würden (Bowker et al. 2010; Edwards et al. 2007; Edwards et al. 2011; Jackson et al. 2007). Dieser Empfehlung schließe ich mich an und werde zusätzlich, ausgehend von einer soziologischen Konzeption von Infrastrukturen, versuchen, das Phänomen des Wissenstransfers zu analysieren. Das Beispiel Infrastrukturen habe ich im Wesentlichen aus zwei Gründen gewählt: Erstens gehört es zu den zentralen Aufgaben von Infrastrukturen, den Übergang von wissenschaftlichem Wissen in die Praxis durchzuführen. Dabei stellt sich weniger die Frage, wie der Wissenstransfer von der

2

Wobei ich keineswegs davon ausgehe, dass dafür nicht schon einige Vorlagen bereitliegen. Trotzdem erlaube ich mir hier, einen eigenen Weg auszuprobieren.

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Wissenschaft in die Praxis organisiert wird, als vielmehr, wie dieser Wissenstransfer in und durch Infrastrukturen stattfindet. Neben der Aufgabe, wissenschaftliches Wissen in die Praxis zu transferieren, damit dieses praktisch wirksam werde, sollen Infrastrukturen auch den umgekehrten Weg gehen, nämlich aus Problemen der Praxis Forschungsfragen generieren. 3 Pointiert ausgedrückt, sind Infrastrukturen als „Übersetzungsbüros“ von Wissenschaft in die Praxis und umgekehrt tätig. Infrastrukturen können einerseits Produkte des Wissenstransfers sein. Dies gilt für viele jener Infrastrukturen, die Vorleistungen für den Aufbau der industriellen Wohlfahrtsgesellschaft erbracht haben, wie die Strom- oder Wasserversorgung, das Eisenbahn- und Straßennetz etc. Andererseits können Infrastrukturen auch Einrichtungen sein, deren primäre Aufgabe darin besteht, Wissen zu transferieren. Beispiele dafür sind Datennetze und -banken sowie das ganze Spektrum der Informationsinfrastrukturen. In einem ersten Schritt werde ich zunächst eine soziologische Konzeption von Infrastrukturen (Abschnitt 3) vorstellen, die die Grundlage bildet für zwei empirische Studien über Infrastrukturen: das eine Mal als Produkte des Wissenstransfers (Abschnitt 5) und das andere Mal als Einrichtungen zum Zweck des Wissenstransfers (Abschnitt 6). Zweitens lässt sich anhand von Infrastrukturen anschaulich ein generelles Phänomen darstellen. Oft wird das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis hinsichtlich des Wissenstransfers als einzig oder zumindest vorwiegend auf die Schnittstelle zwischen dem wissenschaftlichen Feld und der praktischen Welt beschränkt gedacht. Diese Betrachtung erweist sich allerdings gemeinhin als verkürzt, weil sich das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis auch innerhalb der Wissenschaft spiegelt, und zwar in der Art und Weise, wie in der Forschung die Relation, beziehungsweise der Konnex von reflexivem, theoretischem oder grundlagenorientiertem Wissen zu anwendungs- und praxisorientiertem Wissen eingerichtet ist. Entsprechend ist in die Analyse des Wissenstransfers einzubeziehen, wie diese Relation innerhalb der Wissenschaft konzipiert und gehandhabt wird. Dies ist wichtig, weil sich die Art und Weise, wie dieser Konnex innerhalb der Wissenschaft angelegt ist, auf die praktische Realisierung der Infrastrukturen auswirkt. Nochmals andersherum, aus der Perspektive der Infrastrukturen for-

3

Der zweite Anspruch wird gegenwärtig besonders von den Forschungsförderern formuliert (z. B. DFG 2012, DFG/WR 2011, European Commission 2012).

I NFRASTRUKTUREN: B AHNEN DES W ISSENSTRANSFERS ?

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muliert: Wie diese als Produkte von Wissenstransfer und als Einrichtungen, die Wissen transferieren, realisiert werden, hängt wesentlich davon ab, wie innerhalb der Forschung die Relation von wissenschaftlicher Reflexion (etwa über die Voraussetzungen und Folgewirkungen von Infrastrukturen) zu praktischem Forschungswissen (etwa, wie Infrastrukturen einzurichten und zu nutzen sind) gestaltet ist. Für die Forschung zum Wissenstransfer folgt daraus, dass sie nicht nur das wissenschaftliche Wissen zu analysieren hat, das in und durch die Infrastruktur praktisch wirksam wird. Sie hat ebenfalls zu untersuchen, welche Relation beziehungsweise welcher Konnex von Theorie und Praxis in der Forschung über Infrastrukturen vorherrscht. Hierzu werde ich sehr skizzenhaft Forschungslinien über und zu Infrastrukturen aufzeigen (Abschnitt 4).

3. E INE SOZIOLOGISCHE K ONZEPTION VON I NFRASTRUKTUREN Infrastrukturen umfassen weit mehr, als bei oberflächlicher Betrachtung ihres praktischen Gebrauchs sichtbar ist. Zu ihnen gehören eigene Aufsichtsund Überwachungsbehörden, rechtliche Vorgaben und Gesetze, Vertiefungen in Studiengängen und wissenschaftliche Fachgebiete. Zudem unterliegen sie zumeist wirtschaftlichen Vorgaben, häufig sind es Unternehmen, und sie haben ein eigenes Professionsverständnis ausgebildet. Oftmals verkoppeln sie mehrere funktional voneinander getrennte soziale Felder, insbesondere Politik, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft. Ganz generell verstanden, kennzeichnet Infrastrukturen, dass sie Vorleistungen erbringen. Einerseits stellen sie diese für die Ermöglichung sozialer Integration und Vergesellschaftung bereit, indem sie „strukturelle Handlungsalternativen“ vorgeben, die als immer „wieder abrufbare Handlungsmöglichkeiten“ habitualisiert werden (vgl. Blumenberg 2007). 4 Andererseits liefern sie Vorleistungen für die Leistungserstellung der sozialen Felder. Dabei handelt es sich um solche Vorleistungen, für die gesellschaftlich und/oder politisch anerkannt ist, dass sie nicht von den Feldern selbst zu erbringen sind, aber

4

Meine Ausführungen über Infrastrukturen greifen an vielen Stellen auf eigene Vorarbeiten zurück, insbesondere auf Barlösius et al. (2011), Barlösius (2012), Barlösius/Spohr (2014).

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vorhanden sein müssen, damit das Feld seine jeweils spezifische Aufgabe erfüllen kann (z. B. das Straßennetz für die Produktion, die Bildung für Kunst und Kultur). Die Besonderheit infrastruktureller Vorleistungen ist, dass sie nicht nur in der Gegenwart Wirkung entfalten, sondern gleichermaßen der Zukunft vorgreifen, indem sie den Bahnen künftiger Entwicklungen Raum geben. Infrastrukturen implizieren damit Vorgriffe auf die Zukunft. Insofern richten sie nicht nur die Gegenwart ein, sondern fungieren als Weichensteller für die Zukunft, indem sie Entwicklungen ermöglichen oder auch verschließen. Damit besitzt das in und durch Infrastrukturen transferierte Wissen unmittelbare praktische Wirksamkeit für die Gegenwart und strukturiert auf längere Sicht die Möglichkeiten der Zukunft. Beispielsweise hemmt die in den Verkehrsinfrastrukturen technisch, rechtlich und ökonomisch realisierte Trennung in öffentlichen und privaten Verkehr seit Jahrzehnten die Entwicklung zukunftsträchtiger Mobilitätsformen. Im Rahmen unseres von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekts „Zum Verhältnis von Infrastrukturen und Dörflichkeit“ haben wir eine soziologische Konzeption von Infrastrukturen entwickelt, die ich im Folgenden kurz vorstellen möchte. 5 Diese Konzeption ist darauf gerichtet, soziologisch zu verstehen, was Infrastrukturen gesellschaftlich leisten und wie sie gesellschaftlich eingebettet sind. Entsprechend zielt die Konzeptionsarbeit nicht darauf ab, soziologisches Wissen bereitzustellen, welches unmittelbar zum Zweck des Wissenstransfers genutzt werden kann. Vielmehr ist unser Bestreben, Reflexionswissen zu generieren, das sich beispielsweise dazu eignet, die durch die Ausrichtung auf Wissenstransfer privilegierten Relationen von Reflexions- und Theoriewissen gegenüber anwendungs- und praxisorientiertem Wissen sowie deren Folgen für die Realisierung von Infrastrukturen zu verdeutlichen. Fünf Eigenschaften kennzeichnen Infrastrukturen: Die erste Eigenschaft íGLH(UEULQJXQJYRQ9RUOHLVWXQJHQíKDEHLFKVFKRQEHQDQQW1HEHQGHQ Vorleistungen, Prozesse der sozialen Integration und der Vergesellschaftung zu ermöglichen, stellen sie gleichermaßen Leistungen für die verschiedenen sozialen Felder bereit. Mit Marx formuliert: Infrastrukturen halten Vorleistungen für „die als gesellschaftlich gesetzten Bedürfnisse des Individuums“ und für „alle allgemeinen Bedingungen der Produktion“ be-

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Eine wichtige Vorarbeit für diese Konzeption findet sich in Barlösius/Spohr (2014).

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reit (Marx 1974: 432, 429). Die zweite Eigenschaft von Infrastrukturen besteht darin, dass sie ein bestimmtes Verständnis von Sozialität in sich tragen, die durch sie in der Praxis hergestellt werden soll. Dies kann man sich anhand der Bezeichnungen vergegenwärtigen. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Einrichtungen, die ehemals als von „gemeinem nutz“ galten oder den Gemeinschaftsgütern zugehörten, zu Infrastrukturen erklärt (vgl. Barlösius 2012). Dabei handelt es sich keineswegs um bloße Umbenennungen. Vielmehr verbarg sich hinter den unterschiedlichen Bezeichnungen ein Wandel des Verständnisses von Sozialität. Der Wandel bestand zumeist darin, dass ehemals gemeinschaftlich betriebene Infrastrukturen vergesellschaftet wurden, womit eine veränderte Art der Sozialität, die durch die Vorleistung ermöglicht werden sollte, intendiert war (z. B. genossenschaftlich, gemeinschaftlich oder gesellschaftlich etc.). Infrastrukturen haben einen Raumbezug, dies ist ihre dritte Eigenschaft. Sie erzeugen und codieren Räume, indem sie diese auf eine bestimmte Art und Weise ausstatten und markieren (Barlösius et al. 2011). Man kann Infrastrukturen unterscheiden, die vorwiegend raumbildende (und damit Grenzen konstituierende), raumüberwindende oder überräumliche Qualitäten besitzen. 6 Raumbildende Infrastrukturen markieren einen Raum mittels räumlicher Fixierung, beziehungsweise Lokalisierung, indem sie feste Zentren für soziale und kulturelle Austausch- und Kommunikationsprozesse schaffen, wie Schulen, Gemeinde- und Krankenhäuser. Raumüberwindende Infrastrukturen erleichtern und beschleunigen Austausch- und Kommunikationsprozesse, beispielsweise durch Eisenbahn, Flugzeug, Straße etc. Überräumliche Infrastrukturen schaffen Voraussetzungen für Austausch- und Kommunikationsprozesse, die sich über jeden Raum erstrecken, die aber keiner oder nicht sichtbarer Vergegenständlichungen bedürfen. Dazu gehören zum Beispiel die Kirche als Glaubensgemeinschaft oder das Internet als Ort des Austausches und der Kommunikation, auch wenn es technischer Voraussetzungen bedarf. Entscheidend ist jedoch, dass diese Prozesse überall stattfinden und soziale Näheverhältnisse herstellen. Als vierte Eigenschaft sind die strukturierenden Wirkungen von Infrastrukturen zu nennen. Bei Infrastrukturen liegt es nahe, die strukturierenden

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Diese Unterscheidung orientiert sich an Simmels Darlegung einiger „Grundqualitäten der Raumform, mit denen Gestaltungen des Gemeinschaftslebens rechnen“ (Simmel 1992: 690).

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Wirkungen in den physisch-materiellen Eigenschaften zu sehen: den Schienen-, Straßen- und Leitungsnetzen, den Krankenhäusern, Schulgebäuden und Musiksälen etc. Dies ist eine vereinfachte Sichtweise, die nur einen Teil der strukturierenden Eigenschaften abdeckt. Zudem sind diese zu einem großen Teil Ergebnis anderer Strukturierungen, etwa der Hervorbringung eines eigenen Regelwerks sowie der Planung und Errichtung durch eigene Professionen – ich nenne diese Infrastrukteure. Auch die STSStudien über wissenschaftliche Infrastrukturen haben herausgearbeitet, dass sich dort ein eigenes Professionsverständnis herausgebildet hat (vgl. Edwards et al. 2007: 2). 7 Die infrastrukturellen Regelwerke ordnen den Zugang, die Bereitstellung sowie die Nutzung. Sie sind immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Gegenwärtig wird dies häufig als Governance der Infrastrukturen bezeichnet. Die letzte Eigenschaft von Infrastrukturen entsteht durch die Assoziierung von Sozialität, Räumlichkeit und Regelwerk: ihre sozialräumlich ordnende Kraft. Sie offenbart sich besonders deutlich darin, dass die von Infrastrukturen bereitgestellten Vorleistungen Scharniere der sozialen Integration und Vergesellschaftung bilden. So ist für die Infrastrukturen des „vorsorgenden Wohlfahrtsstaates“ eine sozialräumliche Ordnung charakteristisch, die eine „flächenmäßige Erschließung“ sowie eine alle sozialen Gruppen erreichende Ausstattung garantieren soll. Diese von den Infrastrukturen vorstrukturierte sozialräumliche Ordnung entsprach dem politischen Postulat der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Aus diesen fünf Eigenschaften entsteht ein Regime von Infrastrukturen, das ein bestimmtes Verständnis von Gesellschaftlichkeit beziehungsweise Gemeinschaftlichkeit, privilegiert. 8 So korrespondierten Auf-und Ausbau der Infrastrukturen seit dem späten 19. Jahrhundert mit der industriellen Wohlstandsgesellschaft.

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In der US-amerikanischen Literatur werden sie als „system builders“ bezeichnet (Jackson et al. 2007: 2).

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So untersuchen wir in dem DFG-Projekt, ob und wie die in den Infrastrukturen enthaltene Auffassung von Sozialität mit dem Verständnis von Gesellschaftlichkeit, beziehungsweise Gemeinschaftlichkeit in Dörfern – mit der Dörflichkeit – korrespondiert.

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4. Z UM V ERHÄLTNIS VON T HEORIE UND P RAXIS IN DER F ORSCHUNG ÜBER I NFRASTRUKTUREN Obwohl die natur- und technikwissenschaftlichen Forschungen den allergrößten Teil der Infrastrukturforschung ausmachen, lasse ich diese hier beiseite. Dass diese Forschungen mehrheitlich auf die Praxis ausgerichtet und damit auf Wissenstransfer ausgelegt sind, ist evident. Ebenso bedarf es keiner weiteren Erläuterung, dass innerhalb dieser Disziplinen hinsichtlich der Forschung über Infrastrukturen eine Relation von Theorie- und Reflexionswissen zu Praxis- und Anwendungswissen etabliert ist, welche eindeutig letzteres Wissen bevorzugt. Ich konzentriere mich deshalb hier auf die Sozial- und Geisteswissenschaften in einem weiten Verständnis. Für diese ist weder eine Evidenz der Relation von Theorie- und Praxiswissen gegeben noch eine Privilegierung einer Wissensart offensichtlich. Zunächst fällt auf, dass diese Wissenschaften – insbesondere die Wirtschafts- und Planungswissenschaften und die Geographie, aber auch die Sozialwissenschaften – das Thema spät entdeckt haben, meist durch Anstöße aus der Praxis (vgl. Barlösius/Spohr 2014). 9 Erst nachdem der Infrastrukturbegriff in den neunzehnhundertfünfziger Jahren „seine rein technische Konnotation“ (van Laak 1999) verloren hatte und fortan auch Versorgungsbetriebe, Einrichtungen der Gesundheitspflege, Wirtschaftsplanung und Arbeitsmarktsteuerung (vgl. Forsthoff 1959: 15f.) hinzugezählt wurden, begannen sich diese Disziplinen für Infrastrukturen zu interessieren. Zunächst fand eine Erweiterung in den Wirtschaftswissenschaften statt, die Infrastrukturen zu Vorleistungen der Wirtschaft erklärten und Konzepte für die Erfassung der wirtschaftlichen Funktionen von Infrastrukturen entwickelten (z. B. Jochimsen/Gustafsson 1977; Richter/Edeling 2011; Libbe 2006). Damit fügten sie der technischen eine wirtschaftliche Auffassung von Infrastrukturen hinzu. Die Planungswissenschaften gingen prinzipiell ähnlich vor (ARL 2007; Kühn/Vetter/Gawron 2007). Sie beschrieben Infrastrukturen als räumliche Ausstattungen, die dem politischen Gebot der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ dienten, und befassten sich hauptsächlich damit, wie dieses praktisch realisiert werden könne.

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Ich nehme hier die Geschichtswissenschaft explizit aus, weil sie auf Reflexionswissen ausgerichtet ist. Ohne die vielen anregenden Studien von Dirk van Laak wäre mein Nachdenken über Infrastrukturen oberflächlicher geblieben.

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Dem technischen und wirtschaftlichen Verständnis von Infrastrukturen addierten sie einen weiteren Aspekt hinzu: Raumbildung durch Infrastrukturen. Im Rahmen der Diskussion um den „Gewährleistungsstaat“ und im Zusammenhang mit der Debatte über die Folgen des demografischen Wandels haben sich auch die Rechtswissenschaften verstärkt dem Thema Infrastrukturen als öffentliche Güter im Interesse des Gemeinwohls und der Gemeinnützigkeit zugewandt (insbesondere Kersten 2008, Kersten/Neu/Vogel 2012). Auch bei der rechtswissenschaftlichen Betrachtung liegt der Fokus auf dem politischen Postulat „gleichwertiger Lebensverhältnisse“, allerdings weniger auf der praktischen Umsetzung als auf der verfassungsrechtlichen Erörterung. Die Rechtswissenschaften definieren Infrastrukturen als öffentliche Güter im Interesse des Gemeinwohls und der Gemeinnützigkeit, womit sie eine weitere Eigenschaft bestimmen: Infrastrukturen sind Gemeingüter. Die Soziologie hat sich bislang im Vergleich zu den anderen vorgenannten Disziplinen deutlich weniger und vor allem viel später mit Infrastrukturen befasst. Erst im Kontext der Privatisierung, des Rück- und Abbaus von Infrastrukturen in ländlichen Regionen wurde das soziologische Interesse geweckt (z. B. Barlösius et al. 2011; Beetz 2007; Beetz/Barlösius/Neu 2008). Wie nicht anders zu erwarten, betonen die einzelnen Wissenschaften diejenigen Eigenschaften von Infrastrukturen, die in ihrem disziplinären Fokus liegen. Wichtiger mit Blick auf Wissenstransfer ist, dass auch der Großteil der gerade skizzierten Forschungen zu Infrastrukturen einen starken Praxisbezug aufweist. Dies gilt für die Definitionen von Infrastrukturen, die oftmals beinahe direkt an die Praxis von Infrastrukturen anschließen, wie für die Forschungsfragen, die ebenfalls zumeist aus der Praxis stammen, aber auch für die Forschungsergebnisse, die überwiegend zur Lösung praktischer Probleme herangezogen werden. Daraus erklärt sich, dass sich die meisten Disziplinen mit einer summarischen Begriffsbestimmung begnügen, die die verschiedenen Forschungsperspektiven additiv vereint. Damit sehen sie tendenziell von einer Orientierung an wissenschaftlicher Originalität (Merton) ab. Entsprechend verzichten sie weitgehend darauf, eine disziplinenspezifische theoretische Konzeption zu entwickeln und diese ihren empirischen Untersuchungen zugrunde zu legen. Auf diese Weise wird die Dominanz der natur- und technikwissenschaftlichen Sicht- und Regulierungsweise von Infrastrukturen nicht infrage gestellt, und die For-

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schungen beschränken sich ganz überwiegend auf die von ihr vorbestimmten Distrikte des Theoretisierens und Analysierens. Alles in allem reflektiert sich darin ein Verhältnis von Theorie und Praxis innerhalb der Forschung, das ein deutliches Übergewicht von Forschung mit Praxisbezug gegenüber solcher mit Theoriebezug aufweist. Auf diese Weise prolongiert sich die Praxis von Infrastrukturen in die Forschung hinein. So unterscheidet sich die Konzeption des Forschungsgegenstands beinahe nicht von der Praxis der Infrastrukturen. Man kann dies als Indiz dafür interpretieren, dass Forschung, die für den Zweck des Wissenstransfers kanalisiert wird, eine bestimmte Relation von Theorie und Praxis in der Forschung privilegiert, was erklärt, weshalb theoretische Konzeptionen über Infrastrukturen weitgehend fehlen. Vergegenwärtigen wir uns angesichts dieses Ergebnisses nochmals die oben entworfene soziologische Konzeption von Infrastrukturen, die sich nicht in den Dienst des Wissenstransfers stellen möchte und stattdessen danach strebt, Reflexionswissen zu generieren. Dabei zeigte sich – was gewiss zu einem Teil meinem disziplinären Blick zuzuschreiben ist –, wie viel Gesellschaft in Infrastrukturen steckt und dass in ihnen viel mehr gesellschaftliche Entscheidungen enthalten sind, als durch die vom Wissenstransfer kanalisierte Forschung deutlich wird. Unabhängig von der hiesigen Bevorzugung einer soziologischen Konzeption von Infrastrukturen – auch eine historische, politikwissenschaftliche, philosophische oder jede andere wissenschaftliche Konzeption, die sich nicht selbst sogleich dem Wissenstransfer verpflichtet sieht, hätte gleichermaßen demonstrieren können, dass der Praxis der Infrastrukturen viel mehr Entscheidungen und damit Bevorzugungen bestimmter Einrichtungsweisen zugrunde liegen, als durch den kanalisierten Wissenstransfer kommuniziert wird. Da – wie bereits ausgeführt – die Infrastrukturen der Zukunft vorgreifen, ist ein solcher Wissenstransfer auch für die Beschränkung zukünftiger Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten mitverantwortlich. Diese Verantwortung sollte die Wissenschaftsforschung über Wissenstransfer als Aufforderung verstehen, sich expliziter als bislang in der Regel geschehen, einerseits mit der Relation von Theorie- und Anwendungswissen innerhalb der Forschung und andererseits mit der damit einhergehenden Bevorzugung bestimmter praktischer Einrichtungsweisen zu befassen.

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5. W ASSERVERSORGUNG – W ISSENSTRANSFER IN I NFRASTRUKTUREN So wie die Geschichte von der Magd und ihrem Herrn dabei helfen sollte, eine Sichtweise auf den Wissenstransfer zu gewinnen, die ein wenig auf Distanz zu den anerkannten und gegenwärtig führenden wissenschaftlichen Betrachtungsweisen geht, soll es nun durch eine weitere historische Distanzierung gelingen, zu explizieren, wie in Infrastrukturen Wissenstransfer stattfindet. Versetzen wir uns dazu – geographisch – in entlegene ländliche Regionen Frankreichs und – zeitlich – in die ersten Jahrzehnte nach der Französischen Revolution. 10 Die feudalen und den Anrainern von Fließgewässern zuerkannten Vorrechte der Wassernutzung, der Zu- und Ableitung von Wasser, sind von der Französischen Revolution hinweggefegt worden. Noch beschäftigen sich die Gerichte damit, welche Rechte ehemals galten, welche vormaligen Konventionen gepflegt wurden, welche Geltung sie nun erlangen sollten, aber mehr und mehr setzt sich eine andere Sicht- und Regelungsweise der Versorgung mit Wasser und der Entsorgung der Abwässer durch. Sie entspricht dem Interesse des jungen Nationalstaats, seine Regelungsmacht in allen Lebensbereichen sowie in allen seinen Regionen durchzusetzen. Die neue Sicht- und Regelungsweise bricht mit den alten Vorrechten und stützt sich stattdessen auf die Belange jener Akteure, die durch die Französische Revolution zu Macht und Stärke gelangt sind, wie die Betreiber kleinerer Fabriken, die Vorboten der beginnenden Industrialisierung. Eine neue Profession tritt hinzu: das Ingenieurwesen für Brücken- und Straßenbau. Die dafür zuständigen Ingenieure – wie die anderen Ingenieure der Infrastrukturen – werden in die Verantwortung genommen, die neue Sicht- und Regelungsweise theoretisch zu entwickeln und praktisch umzusetzen. Dazu berufen sie sich – als Infrastrukteure – auf wissenschaftliche Theorien über die Entstehung des Flusswassers und die Regeneration von Wasser sowie auf empirische Forschungsergebnisse über Wasserläufe. Mit diesem Wissen begründen sie ihre Entscheidungen darüber, wie viel Wasser wo entnommen werden darf, um den natürlichen Wasserkreislauf nicht zu gefährden. An die Stelle alter Rechte und Gepflogenheiten der Wasserbewirtschaftung tritt natur- und ingenieurwissenschaftliches Wissen und

10 Das Wissen zu diesem Abschnitt verdanke ich Alice Ingold (2012).

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damit eine neue Sichtweise auf Infrastrukturen. Zugangsrechte werden nicht mehr als Resultat sozialer Stellungen und Privilegien betrachtet und dementsprechend gesellschaftlich verhandelt. Nunmehr gelten die Infrastrukturen als Einrichtungen, die einzig nach Gesichtspunkten wissenschaftlichen Wissens zu entwerfen und zu betreiben sind. Damit werden sie quasi nachträglich zu Institutionen des Wissenstransfers erklärt. Bei Streitigkeiten sind nicht mehr die Gerichte anzurufen, nun entscheiden die neu geschaffenen staatlichen Behörden der Wasserbewirtschaftung, bei denen die Brücken- und Straßenbauingenieure beschäftigt sind, was in der Praxis passieren soll. Ihre Entscheidungen begründen sie mit wissenschaftlichem Wissen. Diese Behörden sind mit nationalen Aufsichts- und Durchsetzungsrechten ausgestattet, was sie ermächtigt, regulierende Maßnahmen anzuordnen. Damit erstreiten sich die Infrastrukteure einen autonomen, sprich, von der Justiz unabhängigen Interventionsraum in die Praxis hinein. Selbstverständlich setzen die Infrastrukteure nicht nur eine neue Sichtund Regelungsweise durch, sie konstruieren und errichten ebenso neue Wasserinfrastrukturen. Es versteht sich, dass sie diese nach wissenschaftlichen Standards bauen und bedienen. Sie schaffen und betreiben Produkte des Wissenstransfers. Ihre Aufgabe sehen sie darin, auf der Grundlage von natur- und technikwissenschaftlichem Wissen Einrichtungen der Praxis zu schaffen, wodurch die Erklärungs- und Geltungsansprüche dieses Wissens in die Infrastrukturen „eingebaut“ werden und dieses Wissen Bestandteil der Infrastrukturen wird. Der Wissenstransfer ist somit in den Infrastrukturen selbst realisiert. Selbstverständlich sind Wasserinfrastrukturen nicht nur Produkte des Wissenstransfers. Es handelt sich um große technische Werke, um rechtlich verfasste Einrichtungen, teilweise um ästhetisch eindrucksvolle Bauten und um vieles mehr. Aber gesellschaftlich wie politisch verhandelt und legitimiert werden sie als Institutionen des Wissenstransfers. Dies zeigt sich besonders deutlich darin, dass Streitfragen über Infrastrukturen nur dann behandelt werden, sofern natur- und/oder technikwissenschaftlich argumentiert wird. Die Heranziehung von natur- und technikwissenschaftlichem Wissen beinhaltet, sich bei der Begründung der praktischen Umsetzung darauf berufen zu können, dass Natur und Technik vorgeben, wie die Infrastruktur zu errichten ist und wie ihre Nutzung zu erfolgen hat. So sei es die Natur, die die Grenzen des Einzugsgebietes eines zu regulierenden und zu bewirt-

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schaftenden Wasserlaufs festlege und die einen Wasserlauf begrenze, die physikalischen Gesetze wiederum legten fest, wie die Bauten zu errichten seien. Jedoch der Wissenstransfer umfasst mehr als Instruktionen für die praktische Umsetzung von Wissen: Er schließt andere Erklärungs- und Geltungsansprüche aus, etwa soziale, kulturelle oder historische Orientierungen, und privilegiert eine bestimmte Art und Weise der Realisierung. Da Infrastrukturen die Bahnen für künftige Entwicklungen auslegen, bevorzugen sie nicht nur die Einrichtung einer bestimmten Praxis für die Gegenwart, sondern zumeist auch für die Zukunft. Dies liegt schon darin begründet, dass es sich oftmals um enorme finanzielle Investitionen handelt und sich die Realisierungen – man denke an das Wasserleitungssystem – nur schwer umbauen lassen. Das, was ich hier knapp für die Wasserversorgung vorgestellt habe, ließe sich in ähnlicher Weise für andere Infrastrukturen zeigen. Stets bildet sich eine Expertengruppe von Infrastrukteuren heraus, die sich auf wissenschaftliches Wissen beruft, mit der Amtsmacht einer neuen staatlichen Behörde ausgestattet wird, alsbald ihre alleinige Fachkompetenz durchsetzt und eine eigene Profession ausbildet. Damit geht eine Kanalisierung des Wissenstransfers auf bestimmte Wissensgebiete – in dem vorgestellten Beispiel auf die Natur- und Technikwissenschaften – einher. Für die Praxis hat dies zur Folge, dass diese ebenfalls entsprechend verengt eingerichtet wird. Es werden technische Bauten geschaffen, die natürliche Prozesse regulieren. Die sozialen Voraussetzungen und Konsequenzen dieser praktischen Realisierungen bleiben dabei weitgehend unsichtbar. Besonders deutlich dokumentiert sich diese Verengung bei den Bezeichnungen. So macht es eben nicht nur einen sprachlichen Unterschied, ob die Einrichtungen als Infrastrukturen oder als services publiques bezeichnet werden. Die Titulierung Infrastruktur legt nahe, dass es sich in erster Linie um technische Einrichtungen handelt, 11 während die Bezeichnung services publiques unter-

11 Bis in die neunzehnhundertvierziger Jahre hinein herrschte ein technisches Verständnis von Infrastrukturen vor, die vor allem die Gas-, Energie- und Wasserversorgung sowie Mobilitätsnetze bezeichneten, bei Letzteren zunächst die Eisenbahn und später die Autobahnen (vgl. van Laak 2006, 1999: 281). Erst in der Nachkriegszeit verlor der Infrastrukturbegriff seine beinahe ausschließlich technische Bedeutung, die aber bis heute bestimmend geblieben ist (van Laak 2008: 106).

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streicht, dass die Institutionen für alle da sind, dass sie von gesellschaftlichem Rang sind. Das Beispiel der Wasserversorgung – wenn auch zeitlich zu Beginn der Industrialisierung und Verstädterung angesiedelt – verdeutlicht weiterhin, dass Infrastrukturen, da sie Vorleistungen sowohl für die soziale Integration und Vergesellschaftung wie auch für einzelne soziale Felder – zuvorderst das Feld der Ökonomie – erbringen, geradezu gesellschaftsdiagnostische Eigenschaften besitzen. So waren der Aufbau und die Garantie von Infrastrukturen im neunzehnten Jahrhundert eng mit der Industrialisierung, der Verstädterung und der Nationalstaatenbildung verbunden. Vor allem dienten sie dazu, die Anforderungen und Folgen dieser drei Prozesse zu bewältigen. Zudem bildeten sie wichtige „Scharniere“ zwischen diesen drei Prozessen und trugen damit zu deren Abstimmung bei. Die Infrastrukturen stellten gewaltige Vorleistungen für die industrielle Produktion bereit. Man denke beispielsweise an die Wasser-, Gas- und Stromversorgung, die Eisenbahn und die Kanalbauten, die Telegrafie und die Post. Analog zur industriellen Produktion waren sie mehrheitlich auf die Bewältigung großer Mengen und Massen ausgerichtet. Gleichermaßen wurden diese und weitere Infrastrukturen, insbesondere die Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen, zu Grundpfeilern des vorsorgenden Wohlfahrtsstaates entwickelt. Diese Art der infrastrukturellen Ausstattung trug wesentlich zur territorialen Erschließung und Markierung der sich formierenden Nationalstaaten bei. Somit repräsentierten Infrastrukturen materiell wie symbolisch die sich etablierenden Nationalstaaten ebenso wie die Transformation von der feudalen Agrar- zur industriellen Wohlfahrtsgesellschaft. Hier zeigt sich abermals anschaulich, dass Infrastrukturen einen Raumbezug haben. Bezieht man die drei weiter vorn bereits unterschiedenen Arten: raumbildend, raumüberwindend und überräumlich, auf die Infrastrukturen des 19. Jahrhunderts, dann fällt auf, dass sie vorwiegend raumbildende und raumüberwindende Eigenschaften besaßen. Diese Raumbezüge haben territorialisierende Wirkung. Für die territorialen Kodierungen der Nationalstaaten, für die industrielle Produktion, die auf Massentransporte angewiesen ist, sowie für die umfassenden sozialen Integrationsprozesse war dies von großer Wichtigkeit. Die Infrastrukturen bereiteten eine sozialräumliche Ordnung vor, die essenzielle Vorleistungen für die industrielle Wohlstandsgesell-

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schaft schuf. Genau dies kennzeichnet das damalige Regime der Infrastrukturen.

6. I NFORMATIONSINFRASTRUKTUREN – W ISSENSTRANSFER DURCH I NFRASTRUKTUREN Informationsinfrastrukturen werden im Allgemeinen den wissenschaftlichen Infrastrukturen zugerechnet, bei denen es sich um ein äußerst komplexes Phänomen handelt. Zu ihnen gehören Bibliotheken, Sammlungen, aber auch Nationallizenzen, Forschungsdatenzentren sowie Forschungsschiffe und vieles mehr. Von der Wissenschaftspolitik und den Forschungsförderern wurden in den letzten Jahren zahlreiche Stellungnahmen zu wissenschaftlichen Infrastrukturen erarbeitet. So hat die DFG mehrere Positionspapiere publiziert (DFG-Ausschuss 2006, 2012, DFG/WR 2011). Der Wissenschaftsrat gab 2011 und 2012 Empfehlungen zu einzelnen Forschungsinfrastrukturen und übergreifende Empfehlungen zu den Informationsinfrastrukturen ab (vgl. WR 2011a-d, 2012). Außerdem wurden auf nationaler Ebene durch die DFG und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Initiativen für die Realisierung und den weiteren Ausbau wissenschaftlicher Infrastrukturen gegründet. Als europäische Pendants lassen sich das Strategieforum ESFRI für Forschungsinfrastrukturen und das Kompetenznetzwerk Knowledge Exchange (KE) identifizieren. Im Kontrast zu diesen vielen Initiativen liegen bislang kaum Forschungen über wissenschaftliche Infrastrukturen vor. Eine Ausnahme davon sind die vorne bereits erwähnten Science and Technology Studies (STS), die, angestoßen durch die National Science Foundation (NSF), insbesondere über Informationsinfrastrukturen gearbeitet haben, und zwar oftmals in historisch vergleichender Perspektive hinsichtlich der Errichtung der industriellen Infrastrukturen im neunzehnten Jahrhundert. Viele dieser Arbeiten orientieren sich an der Definition wissenschaftlicher Infrastrukturen von Star/Ruhleder (1996). Sie bestimmen diese als boundary objects, die ein bestimmtes Arrangement vorgeben, das es verschiedenen Gruppen ermöglicht, ohne ausdrückliche Abstimmung zusammenzuarbeiten (vgl. Star

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2010: 602). 12 Diese Definition bleibt ein wenig diffus und ist kaum griffig. Aus diesem Grund und vor allem, um einen Vergleich mit den industriellen Infrastrukturen zu erleichtern, soll hier die vorne vorgestellte Konzeption von Infrastrukturen zugrunde gelegt werden. Da bislang kaum Forschungen über Informationsinfrastrukturen vorliegen, kann die Übertragung nicht mehr als explorativen Charakter haben. Immerhin bahnt sie aber einige Wege für zukünftige Forschungen. Während für die oben am Beispiel der Wasserversorgung untersuchten Infrastrukturen typisch ist, dass der Wissenstransfer in sie eingelagert erfolgt, unterscheiden sich die Informationsinfrastrukturen dadurch, dass durch sie Wissen transferiert und zugänglich gemacht werden soll. Für das HUVWHGHUIQI.HQQ]HLFKHQYRQ,QIUDVWUXNWXUHQíGie Erbringung von VorOHLVWXQJHQíHUJLEWVLFKGDUDXVGDVVGDVGXUFKGLH,QIRUPDWLRQVLQIUDVWUXkturen transferierte Wissen als Vorleistung aufgefasst wird, beispielsweise auch als Vorleistung für Forschung. In vielen Fällen werden sich dadurch vermutlich die Voraussetzungen für die Generierung von wissenschaftlicher Originalität wandeln. So werden möglicherweise Leistungen, die ehemals als originell galten, nunmehr als infrastrukturelle Vorleistungen bewertet. Bereits Merton hat darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Anerkennung von originellem Wissen die Bestätigung von geistigem Eigentum verknüpft ist, dieses sich aber grundlegend von anderen Eigentumsarten unterscheidet. So gehen, sobald die Wissenschaftler ihren Beitrag zur Wissenschaft geleistet haben, zum Beispiel die Veröffentlichung erfolgt ist, die Verfügungsrechte an diesem Wissen an die Allgemeinheit über (vgl. Merton 1985: 267). Wenn Infrastrukturen Wissen transferieren, dann kann dies zur Folge haben, dass der Übergang der Verfügungsrechte früher erfolgt, es sich von Anfang an um kollektive Rechte handelt oder solche Rechte erst gar nicht entstehen. Bei einem solchen Wissen Ansprüche an wissenschaft-

12 Nach Star/Ruhleder (1996) lagern sich Infrastrukturen zumeist an existierende Strukturen an, oftmals an bereits vorhandene Infrastrukturen, und werden im Allgemeinen nach und nach aufgebaut. Sie enthalten soziale Arrangements und Technologien. Um genutzt zu werden, müssen sie transparent sein. Infrastrukturen sind auf Dauer angelegt, weshalb sie als vorhanden vorausgesetzt werden. Zudem konservieren sie konventionelle Praktiken, setzen aber gleichzeitig neue Standards. Oft werden Infrastrukturen erst sichtbar, wenn sie ausfallen (Star 2010: 611).

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liche Originalität durchzusetzen, immerhin die „Währung“ für wissenschaftliche Reputation und akademische Karrieren, wird nur schwerlich gelingen. Dies leitet über zum zweiten Merkmal von Infrastrukturen, das ihnen innewohnende Verständnis von Sozialität. Für wissenschaftliche Infrastrukturen ist zu fragen, auf welcher Art von Sozialität der Forschenden die Informationsinfrastrukturen fußen beziehungsweise welche Art von Sozialität der Forschenden durch ihren Aufbau favorisiert wird. Je nach wissenschaftlicher Infrastruktur werden vermutlich unterschiedliche Ausprägungen von Sozialität (z. B. Forschungsprojekt, Fachgemeinschaft, Scientific Community) vorausgesetzt, beziehungsweise begünstigt. Für das dritte Kennzeichen, den Raumbezug von Infrastrukturen, scheint auffällig, dass ihm mehrheitlich überräumliche Qualitäten eigen sind. Sie stellen Näheverhältnisse ohne territorialen Bezug her. Das Internet ist dafür sicherlich der wichtigste Motor. Es ermöglicht einen schnellen Wissensaustausch und digitalen Zugriff auf vielfältige Informationen, z. B. auf Bibliotheken und Archive. Geographische Entfernungen sind dabei bedeutungslos geworden. Diese Prozesse der Entterritorialisierung durch wissenschaftliche Infrastrukturen haben jedoch keine Enträumlichung zur Folge, weil Räume – soziologisch betrachtet – einzig aus sozialen Nähe- und Distanzverhältnissen entstehen. Allerdings verbinden die Informationsinfrastrukturen jenseits territorialer Grenzen, weshalb nun die Kooperation mit geographisch weit entfernten Personen näher liegen mag als mit dem Kollegen auf der anderen Seite des Campus. Auch wenn die Informationsinfrastrukturen aufgrund ihrer überräumlichen Qualitäten einen ortsungebundenen Zugang ermöglichen, bleibt das Zugangsrecht doch oftmals an Institutionen gebunden und damit häufig örtlich. Beispielsweise verlangen die Benutzungsordnungen von Bibliotheken von den „digitalen Besuchern“, nachzuweisen, dass sie ein Zugriffsrecht haben, welches ihnen aufgrund ihrer Mitgliedschaft oder Beschäftigung bei einer Einrichtung, etwa einer Universität oder einem Forschungsinstitut, gewährt wird. Damit sind wir beim vierten Kennzeichen: dem Regelwerk. Auch wissenschaftliche Infrastrukturen bringen ein eigenes Regelwerk hervor, das den Zugang, die Bereitstellung sowie die Nutzung organisiert. So umfassen die Regelwerke des Data Sharing – soweit wir dies bislang wissen – den Zugang zu den Daten, wie und wann sie bereitgestellt werden und wie sie zu nutzen, beispielsweise zu zitieren sind. Diesem Regelwerk entspricht ein

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bestimmter „sense of ownership“ (Jackson et al. 2007: 4). Für die klassischen wissenschaftlichen Infrastrukturen wie Bibliothek, Archiv und Sammlung haben sich eigene Professionen mit akademischer Ausbildung herausgebildet: Bibliothekar, Archivar und Kurator. Zu ihrem Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich gehören die Schaffung sowie die Durchsetzung der Regelwerke. Interessant ist, dass diese Professionen im Französischen als ingénieur bezeichnet werden, womit die Analogie zu den Ingenieuren der industriellen Infrastrukturen geknüpft ist (Banat-Berger/ Duplouy/Huc 2009). Für die Informationsinfrastrukturen haben sich noch keine vergleichbaren Professionen etabliert. Innerhalb der Wissenschaft gibt es Überlegungen, die Profession des Data-Managers zu schaffen (z. B. Jacobs 2013). Ob sich mit den Informationsinfrastrukturen ein Regimewechsel der Infrastrukturen ankündigt, der mit den soziologischen Gegenwartsdiagnosen des Übergangs von der industriellen Wohlfahrtsgesellschaft zur globalen Wissensgesellschaft korrespondiert, ist eine spannende Forschungsfrage, die sich erst zukünftig beantworten lässt. Einiges spricht für einen Regimewechsel, insbesondere dass hier Wissen selbst zur transferierten Ressource wird, sowie weiterhin der überräumliche Charakter, der territorial ungebundene Nähe- und Distanzverhältnisse begünstigt und damit erweiterte Ausprägungen von Sozialität unterstützt.

7. R ESÜMEE Mein Anliegen war es, am Beispiel von Infrastrukturen zu demonstrieren, dass, wenn Institutionen des Wissenstransfers analysiert werden, die Frage nach der Überbrückung des Hiatus zwischen Wissenschaft und Praxis in den Hintergrund rückt. Auf diese Weise wird es leichter, empirisch zu untersuchen, wie in und durch diese Institutionen Wissenstransfer stattfindet. Nimmt man diese Perspektive ein, dann schieben sich die Fragen in den Vordergrund, wie sich Wissenschaft und Praxis durch die Ausrichtung auf Wissenstransfer gegenseitig binden: die Wissenschaft beispielsweise durch eine Kanalisierung der Forschung und die Etablierung eines bestimmten Verhältnisses von Forschung mit Theorie und Forschung mit Praxisbezug, und die Praxis, indem durch die Privilegierung bestimmter Wissenschaften indirekt eine Verengung der Entscheidungs- und Realisierungsspielräume vorgenommen wird. Auf diese Weise prolongiert sich – zugespitzt formu-

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liert – die Praxis in die Forschung wie umgekehrt. So betrachtet, können die Irritationen und Brüche im Wissenstransfer, die durch den Hiatus von Wissenschaft und Praxis verursacht werden, für beide Seiten befruchtend sein. Irritationen und Brüche stehen dann nicht mehr sogleich unter dem Verdacht des Scheiterns von Wissenstransfer. Sie können auch Indiz dafür sein, dass der Wissenstransfer um Reflexionswissen über seinen eigenen Ablauf erweitert wird. Und dieses Reflexionswissen kann dazu beitragen, die Entscheidungs- und Realisierungsspielräume zu vergrößern, indem es beispielsweise etablierte disziplinäre Privilegierungen beim anwendungs- und praxisorientierten Wissen hinterfragt und Raum für neue disziplinäre Perspektiven schafft. Ich habe Infrastrukturen als Institutionen des Wissenstransfers gewählt, weil an diesem Beispiel besonders deutlich wird, dass durch den Wissenstransfer zukünftige Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten vorausgelegt werden. Hieraus habe ich einen erhöhten Bedarf an Reflexionswissen hergeleitet, speziell wenn durch den Wissenstransfer Einrichtungen geschaffen werden, die langfristig praktisch wirken – also nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft gestalten. Aus diesem Grund sollte das Verhältnis von Forschungen mit Theorie- und solchen mit Praxisbezug und damit von Reflexionswissen zu praxisorientiertem Wissen nicht als entgegensetzt, sondern ergänzend gestaltet werden. Kehren wir am Schluss nochmals zur nächtlichen Himmelsbeobachtung zurück. Wenn die Magd darüber lacht, dass ihr Herr in den Brunnen fällt, dann ist daraus nicht der Schluss zu ziehen, dass das theoretische Wissen praxisfern ist. Vielmehr ist daraus zu lernen, die Praxis so einzurichten, dass man nicht aus Versehen in den Brunnen stolpern kann. Hätte man vor dem Bau des Brunnens theoretisch überlegt, wie dieser praxistauglich einzufassen ist, so hätte überhaupt kein Anlass für das Lachen der Magd entstehen können.

L ITERATURVERZECHNIS ARL (Akademie für Raumforschung und Landesplanung) 2007. Gleichwertige Lebensverhältnisse: eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe neu interpretieren. Positionspapier aus dem Ad-hoc-Arbeitskreis „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ der ARL, 69. Hannover.

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Zur Bedeutung und Wirkung von Wissensmilieus P ETER M EUSBURGER

1. E INLEITUNG Warum waren die Arbeitsorte der Nobelpreisträger für Chemie, Physik und Medizin in den vergangenen hundert Jahren auf so wenige Universitäten konzentriert? Warum sind die Doktoranden bestimmter Betreuer, Institute oder Fakultäten wissenschaftlich viel erfolgreicher als die anderer? Warum haben sich innovative Forschungsschwerpunkte immer wieder an den Universitäten A und B und nicht an den Universitäten C oder D entwickelt? Diese Fragen deuten an, dass es unter bestimmten Rahmenbedingungen offensichtlich leichter ist, kreative und originelle Ideen zu verwirklichen, zu herausragenden Forschungsergebnissen zu kommen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu legitimieren oder eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere einzuschlagen als unter anderen. Forschungs- und Lernprozesse, die intellektuelle Entwicklung, die akademische Sozialisation und die berufliche Laufbahn der Nachwuchswissenschaftler/-innen hängen nicht nur von persönlichen Eigenschaften der Akteure ab – etwa von ihren Zielen und Aspirationen, ihren kognitiven Fähigkeiten oder ihrer Motivation –, sondern werden auch strukturell beeinflusst von einer Vielzahl von Faktoren, die in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten und in ihrem Zusammenwirken vor Ort einen räumlichen Kontext, lokale oder regionale Rahmenbedingungen, ein work environment, ein action

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setting oder ein Wissensmilieu bilden. 1 Der vorliegende Beitrag versucht am Beispiel einer Universität zu klären, was unter dem Begriff Wissensmilieu zu verstehen ist, aus welchen Elementen es sich zusammensetzt, warum es auf ständige Erneuerung angewiesen ist, wie man sich die Wirkung eines Wissensmilieus vorstellen kann, ohne in einen Determinismus zu verfallen, und wie sich die Wirkung eines Wissensmilieus empirisch nachweisen lässt.

2. W ISSENSMILIEUS AUS DER G EOGRAPHIE

DER

S ICHT

Da die für Lern- und Forschungsprozesse relevanten Rahmenbedingungen nicht nur in der zeitlichen, sondern auch in der räumlichen Dimension stark variieren, ist es naheliegend, dass sich auch die Geographie mit räumlichen Disparitäten der Generierung und Diffusion von Wissen befasst. In der Bildungsgeographie (Freytag 2003; Freytag/Jahnke 2015; Freytag/Jahnke/ Kramer 2015; Gamerith 2004; Jahnke 2014; Meusburger 1998, 2015a, 2015b), der geography of science (Jöns 2007, 2008, 2009, 2015; Livingstone 1995, 2000, 2002, 2003; Meusburger 2006, 2008, 2009 a; Meusburger/Schuch 2010, 2011; Withers 2002), der Forschung über Wissensgenerierung und kreative Milieus (Amabile et al. 1990, 1996; Amabi-

1

Zwischen diesen Begriffen gibt es zwar gemeinsame Schnittmengen, man sollte sie jedoch nicht synonym verwenden, weil sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen. All diese Begriffe könnten auch unter dem sehr allgemeinen Begriff „Struktur“ zusammengefasst werden. Denn es geht auch in diesem Beitrag um die bekannte Forschungsfrage „Struktur und Handlung“. Der Begriff Struktur wird jedoch in den Sozialwissenschaften häufig ohne Bezug zur räumlichen Dimension verwendet und ist so breit, dass er immer wieder zu Missverständnissen zwischen den Disziplinen führt. Ein räumlicher Kontext umfasst zwar auch den institutionellen Kontext, geht aber über diesen hinaus. Die Begriffe räumlicher Kontext und lokale/regionale Rahmenbedingungen decken das breiteste Feld ab, die Begriffe work environment, action setting und Wissensmilieu repräsentieren unterschiedliche Teilmengen des räumlichen Kontextes. Der Begriff Wissensmilieu bezieht sich spezifisch auf lokale Bedingungen, welche die Generierung, Diffusion und Anwendung von Wissen beeinflussen können.

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le/Gryskiewicz 1989; Bathelt/Turi 2013; Fromhold-Eisebith 2009; Malecki 2013; Matthiesen 2009, 2013; Meusburger 2009a), in den science studies (Gieryn 2001, 2002; Latour 1987; Shapin 1998), in der Forschung über Netzwerke (Glückler 2013; Glückler/Ries 2012) sowie in anderen Forschungsbereichen besteht dabei weitgehend Konsens, dass örtliche Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle für Lernprozesse, das Bildungsverhalten und die alltägliche wissenschaftliche Praxis spielen können. Thematisiert wird die Bedeutung eines Kontextes, beziehungsweise einer Situation für Lernprozesse, ebenso in den cultural studies (siehe Grossberg 2010), der Soziologie (für eine Literaturübersicht vgl. Bourdieu 1985, 1989; Diekmann 2014; Esser, 1999; Friedrichs/Nonnenmacher 2014; Hedman 2014; Volkart 1951) und anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Bedeutung von Strukturen für das Handeln von Individuen ist zwar weitgehend akzeptiert, nicht alle Sozialwissenschaftler/-innen bringen Strukturen jedoch mit Orten, Milieus oder environments in Verbindung. 2 Diese Zurückhaltung mag einerseits daran liegen, dass innerhalb der Geographie Theoriediskussionen über relationale Raumkonzepte erst seit den neunzehnhundertneunziger Jahren eine größere Rolle spielen (Harvey 2005; Massey 1999a, 1999b, 2005; Miggelbrink 2002; Weichhart 1996, 1999, 2003; Werlen 1987, 1995, 1997). Andererseits sind Arbeiten über Situationslogik und Situationsanalyse (Esser 1999), den kommunikativen Konstruktivismus (Christmann 2013; Keller et al. 2013; Knoblauch 2013) oder die Bedeutung von sozialen Makrophänomenen (Mayntz 2002), die der Geographie besondere Anknüpfungspunkte bieten, auch innerhalb der Sozialwissenschaften erst seit den neunzehnhundertneunziger Jahren in den Vordergrund gerückt. „Die Situationsanalyse zielt auf die Untersuchung der typischen Anpassungen der Akteure an die aktuell gegebene äußere Situation angesichts eines jeweils vorliegenden Repertoires an inneren Tendenzen

2

Eine Ausnahme ist H. Esser, der explizit von Räumen und Milieus spricht. „Kontexte fungieren als Opportunitäten für das Handeln der Menschen; Kontexte bilden spezielle soziale Räume bzw. Milieus der Geltung von institutionellen Regeln und der sozialen Einflußnahme; und Kontexte sind über Identifikationen und Orientierungen wirksam, die die Akteure mit ihnen – etwa in der Form einer symbolischen Ortsbezogenheit – verbinden“ (Esser 1999: 452).

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und Zielen des Handelns, die der Akteur vorher kulturell erworben oder biologisch ererbt hat“ (Esser 1999: 32). Wenn man den Einfluss von Rahmenbedingungen oder Situationen auf Lernprozesse oder das Handeln erklären will, muss man Raumkonzepte verwenden, die jeden Verdacht eines Determinismus ausschließen (Harvey 2005; Massey 1999a, 1999b, 2005; Weichhart 1996, 1999, 2003). An Orten werden Ressourcen gebündelt, Opportunitäten geschaffen, Akteure zusammengeführt und Interaktionsräume geschaffen. An verschiedenen Orten sind unterschiedliche wirtschaftliche, soziale und kulturelle Funktionen konzentriert, die eine unterschiedliche symbolische Bedeutung und „Reichweite“ haben. Hier treffen politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Einflüsse aufeinander, die sich aufgrund der örtlichen Interdependenzen gegenseitig verstärken oder modifizieren können. An bestimmten Orten können sich Normen, Regeln und Interaktionsmuster herausbilden, die anderswo nicht üblich sind. Nicht zuletzt unterscheiden sich Orte auch hinsichtlich ihrer Reputation und Attraktivität für bestimmte Akteure. Ein Ort stellt nicht nur Rahmenbedingungen für das individuelle Handeln von Akteuren dar, sondern kann auch als soziales Makrophänomen aufgefasst werden. Eine Ortsbezeichnung wird häufig als Kürzel für eine sehr komplexe, von einzelnen Personen nicht mehr durchschaubare Wirklichkeit verwendet, dient also zur Reduktion von Komplexität. Ortsnamen können wie Markennamen ein Symbol für hohe oder niedrige wissenschaftliche Qualität sein. Universitätsstandorte können mit großen Ereignissen und Erzählungen aus der Wissenschaftsgeschichte verbunden sein, aber auch ein Symbol für negative Entwicklungen darstellen. „Je mehr man sich […] von der Ebene individuellen Handelns entfernt und Makrophänomene zum Untersuchungsgegenstand macht, umso weniger lässt sich die historische [und räumliche, Einfügung P. M.] Dimension bei der Analyse vernachlässigen. In der Vergangenheit getroffene politische Entscheidungen, geschaffene Institutionen und eingebürgerte Denkweisen und Routinen wirken in die Gegenwart hinein“ (Mayntz 2002: 27). Ein Wissensmilieu ist das Resultat von systemischen Interdependenzen, die an einem konkreten Ort (in einer bestimmten räumlichen Einheit) für die Generierung, Anwendung und Diffusion von Wissen relevant sind. Die Qualität, Reputation und innere Dynamik eines Wissensmilieus beruhen in erster Linie auf den Kompetenzen, weltweiten sozialen Beziehungen, Interaktionen und Netzwerken der am Ort tätigen Akteure. Herausragende Wis-

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senschaftler/-innen und Studierende werden unter anderem durch die Vielfalt, Qualität und Reputation von Forschungseinrichtungen, durch verfügbare finanzielle und personelle Ressourcen, Organisations- und Entscheidungsstrukturen, die Lebensqualität und viele andere, immaterielle, Faktoren angezogen. Das Wissensmilieu einer Universität lebt von Freiheit in Forschung und Lehre, von zahlreichen Außenkontakten und von sich frei entwickelnder Kreativität. Freiheit der Forschung heißt auch, dass die Forschungsziele oder die zu lösenden Probleme nicht von Anfang an vorgegeben sind, sondern dass Wissenschaftler/-innen diese ihren Interessen und ihrer Neugierde entsprechend im Laufe von kreativen Prozessen selbst entwickeln. Die Qualität des Kontaktpotenzials wird noch gesteigert, wenn eine Universitätsstadt auch als Wohnstandort hohe Lebensqualität 3 sowie urbane Attraktivität und Ästhetik aufweist. Denn dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein großer Teil der Wissenschaftler/-innen den Lebensmittelpunkt am Universitätsstandort hat und nicht aus anderen Gemeinden einpendelt (vgl. Axtner/Birmann/Wagner 2006). Wenn sich Wissenschaftler/-innen auch bei kulturellen Aktivitäten und in ihrer Freizeit wie zufällig begegnen können, ergibt sich daraus ein großes Potenzial für ungeplante Face-to-FaceKontakte, das auch die Wahrscheinlichkeit von Serendipität 4 und Pseudoserendipität 5 erhöht.

3

In den Lebenserinnerungen zahlreicher Wissenschaftler wird deutlich, welchen großen Stellenwert die Lebensqualität einer Universitätsstadt bei der Annahme oder Ablehnung eines Rufes hat (Baumgarten 1997; Demm 2010; Hübner 2010; Meusburger 2011; Treiber/Sauerland 1995; Wischmeyer 2010; Wolgast 1986).

4

Der Begriff serendipity wurde von Merton in die Sozialwissenschaften eingeführt und bezeichnet „the discovery through chance by a theoretically prepared mind of valid findings which were not sought for“ (Merton 1957: 12; siehe auch Hannan 2006; Merton/Barber 2004).

5

Roberts (1989) hat noch weiter differenziert und den Begriff pseudoserendipity geprägt. Darunter versteht er „accidental discoveries of ways to achieve an end sought for, in contrast to the meaning of (true) serendipity, which describes accidental discoveries of things not sought for.“

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Wenn große wissenschaftliche Entdeckungen so sehr von Zufällen abhängen, wie immer wieder betont wird, 6 erhebt sich natürlich die Frage, ob solche Zufälle – beziehungsweise Serendipität und Pseudoserendipität – nicht überall auftreten können. Schon die Redewendung „er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ weist darauf hin, dass die Chancen, zufällig eine große wissenschaftliche Entdeckung zu machen oder neue Erkenntnisse zu gewinnen, nicht gleichmäßig im Raum verteilt sind. Auch zufällig entstandene wissenschaftliche Entdeckungen sind von bestimmten örtlichen Voraussetzungen abhängig; dazu zählen etwa eine gut ausgestattete Forschungsinfrastruktur und vor allem Akteure, die aufgrund ihrer Neugier, Aufmerksamkeit, Kompetenzen und Flexibilität im Denken in der Lage sind, Analogien zu bemerken, neue Muster zu erkennen, aus unerwarteten Ergebnissen die richtigen Schlüsse zu ziehen, neue Versuchsanordnungen zu konzipieren oder ganz allgemein Chancen zu nutzen. Pasteur wird der Ausspruch zugeschrieben: „In the field of observation, chance favors only the prepared mind“ (zit. bei Meyers 2007: 8). Ähnlich hat sich auch der amerikanische Physiker Joseph Henry (1797–1878) ausgedrückt: „The seeds of great discovery are constantly floating around us, but they only take root in minds well prepared to receive them“ (zit. bei Roberts 1989: 245). Strukturiert werden die Wissensmilieus, in denen Handlungen stattfinden und die Handlungen ermöglichen, erleichtern oder erschweren, vor allem durch Kommunikation, Interaktion, Aneignung, materielle, immaterielle und personelle Ressourcen, Organisationsstrukturen, Regeln und Erwartungen des sozialen Umfeldes. Diese Rahmenbedingungen können die Attraktivität eines Standortes für Wissenschaftler/-innen und Studierende in positiver oder negativer Weise beeinflussen; sie können auf herausragende Wissenschaftler/-innen eine anziehende oder abschreckende Wirkung ausüben; sie können kreative Prozesse fördern oder behindern, Doktoranden begeistern oder entmutigen. Wissensmilieus sind auch ganz entscheidend für die Frage, ob und wie schnell ein von anderen Disziplinen kommendes, in

6

Sir Derek H. R. Barton, der 1969 den Nobelpreis für Chemie erhielt, bemerkte neunzehnhundertvierundachtzig in einem Seminar an der University of Texas at Austin: „You know, most of the important reactions in organic chemistry were discovered accidentally“ (Roberts 1989: 236).

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nicht weit verbreiteten Sprachen publiziertes oder den bisherigen Paradigmen widersprechendes Wissen diskutiert und akzeptiert wird. Nicht zuletzt können geographische Ansätze im Forschungsprozess neue Perspektiven eröffnen. Denn eine Visualisierung und Interpretation von räumlichen Mustern, räumlichen Beziehungen und räumlichen Migrations- und Diffusionsprozessen kann zu neuen Fragestellungen, neuen Hypothesen und neuen Erkenntnissen führen.

3. AUS WELCHEN K OMPONENTEN SETZT SICH DAS W ISSENSMILIEU EINER U NIVERSITÄT ZUSAMMEN ? Die Frage, welche Komponenten, Eigenschaften und Prozesse zu einem Wissensmilieu gehören, hängt ganz wesentlich von den Aufgaben und Herausforderungen ab, die von den jeweiligen Akteuren zu bewältigen sind. Schmuckdesigner benötigen also ein anders strukturiertes Wissensmilieu als Maschinenbauingenieure und Chemiker ein anderes als Philosophen. Abgesehen von diesen je nach Branche oder Disziplin unterschiedlichen Anforderungen an das Wissensmilieu eines Arbeitsortes gibt es aber auch einige Rahmenbedingungen, die sich generell förderlich oder hinderlich auf Forschungsprozesse und Kreativität auswirken sowie für Talente anziehend oder abschreckend sein können. Ein Wissensmilieu besteht aus sehr vielen personellen, finanziellen, materiellen und immateriellen Elementen. Einige dieser Elemente sind aufgrund ihrer Materialität über längere Zeiträume ortsgebunden (Gebäude, Forschungsinfrastruktur) und andere sind mobil (Wissenschaftler/-innen); einige sind immateriell, werden sozial konstruiert und Orten zugeschrieben (z. B. Reputation einer Universität), andere stellen ein Potenzial dar, das nur gelegentlich und nicht von allen Akteuren in gleicher Weise genutzt wird (z. B. Face-to-Face-Kontakte). Ein so verstandenes lokales Milieu kann die direkte Kommunikation beeinflussen, Interaktionsräume schaffen, Anregungen bieten, Rollenbilder vermitteln, den Zugang zu Netzwerken erleichtern, Handlungen ermöglichen oder verhindern und selbst die Handlungsziele von Akteuren bis zu einem gewissen Maße beeinflussen.

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3.1 Akteure mit ihren Kompetenzen und sozialen Beziehungen Das mit Abstand wichtigste Element eines Wissensmilieus sind die an einem Ort tätigen Akteure mit ihren fachlichen und sozialen Kompetenzen, ihren beruflichen Erfahrungen, ihrer wissenschaftlichen Reputation, ihren Netzwerken und Interaktionsmustern. Zu diesen Akteuren zählen an einer wissenschaftlichen Einrichtung nicht nur Wissenschaftler/-innen und Studierende, sondern auch Techniker/-innen, Verwaltungsangestellte und andere Berufsgruppen, welche wissenschaftliches Arbeiten unterstützen oder erschweren können. Die vor Ort miteinander agierenden Akteure bringen in den Mikrokontext ihrer Arbeitswelt jeweils Kompetenzen und Erfahrungen ein, die sie im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit an verschiedenen Orten sowie durch ihre weltweiten Kontakte, Netzwerke, Mobilität und Feldforschungen erworben haben. Diese Mikrokontexte einer Arbeitsgruppe oder eines Instituts sind in größere Einheiten (z. B. Universitäten) eingebettet und werden von Institutionen schließlich zu gesellschaftlichen Systemen vernetzt (vgl. Welskopp 2002: 76). Ein Wissensmilieu kann also von unterschiedlichen Maßstabsebenen (Individuum, Forschungsgruppe, Institut, Fakultät, Universität, Universitätsstadt, forschungsintensive Region) aus betrachtet werden. Auf jeder dieser Maßstabsebenen können bei der Rekonstruktion und Analyse von Wissensmilieus unterschiedliche Methoden und theoretische Konzepte zur Anwendung kommen; jede Maßstabsebene kann Erkenntnisse liefern, die auf anderen nicht zu erzielen sind. Im Vergleich zu anderen sozialen Lebensbereichen (z. B. Familie, Peergroup), Settings (Kirche, Diskothek) oder Milieus (Arbeiterviertel, Bergbauerndorf) weist das Wissensmilieu einer Universität einige Besonderheiten auf. Erstens hat es eine viel größere interne Dynamik (Volatilität) als die meisten anderen Kategorien von Milieus. Der allergrößte Teil der an einer Universität tätigen Wissenschaftler/-innen und auch ein beträchtlicher Teil der Studierenden sind in die betreffende Universitätsstadt zugewandert, 7 und viele bleiben dort nur für einen gewissen Zeitraum. An einer

7

Von den Professoren, die von neunzehnhundertfünfundvierzig bis neunzehnhundertsechsundachtzig an die Universität Heidelberg berufen wurden, waren nur zwei Prozent gebürtige Heidelberger (Meusburger 2011: 35). Der Anteil der in Heidelberg geborenen Professoren ist natürlich nur ein sehr grober Richtwert,

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Universität werden also die Karrierepfade von Wissenschaftler/-innen unterschiedlicher Disziplinen, Generationen und Herkunftsgebiete sowie die Ausbildungswege von Studierenden für einen bestimmten Zeitraum gebündelt. Im Rahmen dieser zeitlich befristeten Bündelung können sehr unterschiedliche Forschungsinteressen, Wissensbestände, theoretische Konzepte, persönliche Erfahrungen, Netzwerke, Qualitätsansprüche, Literatur- und Methodenkenntnisse sowie kulturelle und berufliche Identitäten in einen themenbezogenen Kommunikationsraum einfließen, wo sie sich dann kritischen Diskursen stellen müssen, sich in der Forschungspraxis bewähren sollten und im Idealfall neue Denkprozesse, neue Forschungsfragen und neue Erkenntnisse auslösen. Ein sehr wichtiges Spezifikum eines universitären Wissensmilieus ist das Prinzip der Freiwilligkeit, also die prinzipielle Offenheit und Bereitschaft der Akteure zu Kooperation, Interaktion und Auseinandersetzung mit Kritik. Im Vergleich zu anderen Institutionen, die eine höhere Selbstverpflichtung einfordern oder erzwingen können, kann ein universitäres Wissensmilieu nur in vergleichsweise geringem Ausmaß eine intellektuelle Haltung oder eine wissenschaftliche Kooperation durchsetzen, es muss immer für seine Ziele und Prinzipien werben und versuchen, Akteure zu motivieren und zu begeistern. Dies ist einer der Gründe, warum die Reproduktion eines solchen Milieus immer eine sensible „diplomatische“ Angelegenheit ist, die nicht nur von akademischer Exzellenz, materiellen Anreizen und optimalen Organisationsstrukturen, sondern auch von der sozialen Kompetenz der Akteure abhängt. Zweitens wird das Wissensmilieu einer Universität durch eine hohe Selektivität geprägt. Nur die vermeintlich besten der Wissenschaftler/-innen, die sich um eine Professur bewerben, oder von den Doktorand(inn)en, die sich um eine Stelle bewerben, werden jeweils ausgewählt. Drittens lebt das Wissensmilieu einer Universität in hohem Maße von der Reputation der wissenschaftlichen Einrichtungen. Je höher diese ist, umso mehr wirkt sie als Magnet für hoch qualifizierte Wissenschaftler/-innen und Studierende. Wenn jedoch mehrere bedeutende Wissenschaftler/-innen innerhalb kurzer Zeit eine wissenschaftliche Institution verlassen und nicht durch gleichwertige Nachfolger ersetzt werden können, wenn bei Berufungsverfahren keine hohen wissenschaftlichen Standards eingehalten werden oder wenn sich

denn wenn es um Milieus geht, müsste man auch das Umland von Heidelberg und auch den Zeitpunkt der Zuwanderung berücksichtigen.

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Fehlentscheidungen eines Rektorats häufen, kann relativ schnell wieder eine Abwärtsspirale der wissenschaftlichen Attraktivität einsetzen. 3.2 Finanzielle und materielle Rahmenbedingungen Wenn man herausragende Wissenschaftler/-innen, Studierende und sonstige Akteure gewinnen und für eine bestimmte Zeit an eine Universität binden will, muss man ihnen finanzielle und materielle Rahmenbedingungen anbieten, die für sie attraktiv sind und unter denen sie ihre Ziele verwirklichen können. Die Bedeutung von materiellen und finanziellen Gegebenheiten variiert je nach Disziplin: Experimentelle Physiker, Molekularbiologen oder Nuklearmediziner sind etwa stärker auf eine teure Forschungsinfrastruktur angewiesen als theoretische Physiker, Mathematiker oder Philosophen. Aspekte wie die Qualität der an einem Ort verfügbaren Forschungsinfrastruktur, die Ausstattung und Qualität von Bibliotheken, Labors und Rechenzentren sowie die einem Institut zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen sind ausschlaggebend dafür, ob es einem Institut, einer Fakultät oder einer Universität gelingt, herausragende Wissenschaftler/-innen und Studierende anzuziehen oder nicht. Die finanzielle und materielle Ausstattung ist in einigen Disziplinen deshalb so wichtig, weil viele neue Forschungsfragen nur dann untersucht werden können, wenn sich mithilfe neuer Geräte auch neue Analysemethoden einsetzen lassen, wenn noch leistungsstärkere Computer und noch bessere Bibliotheken und Archive zur Verfügung stehen als anderswo oder wenn dank der finanziellen Ressourcen Daten erworben werden können, die bisher niemand anderem zur Verfügung standen. Je teurer eine solche Forschungsinfrastruktur ist, umso weniger Universitäten sind in der Lage, sie aufzubauen und auf Dauer zu finanzieren. Entscheidend ist dabei der Zeitpunkt, zu dem Wissenschaftler/-innen und Studierende Zugang zu neuen Geräten, Analysemethoden, Daten und Dokumenten bekommen. Denn in der Scientific Community erreicht man in der Regel nur dann einen Zuwachs an Reputation und erhält von den Institutionen der Forschungsförderung nur dann Genehmigung für neue Forschungsprojekte, wenn man zu den ersten gehört, die neue Forschungsfragen aufwerfen, innovative Methoden anwenden und bahnbrechende Erkenntnisse veröffentlichen.

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3.3 Immaterielle Rahmenbedingungen Eine überdurchschnittlich gute finanzielle und materielle Ausstattung ist zwar eine notwendige Voraussetzung für die Attraktivität einer Universität, aber noch lange keine Garantie dafür, dass herausragende wissenschaftliche Leistungen auch tatsächlich erbracht werden. Insofern Akteure das wichtigste Element eines Wissensmilieus sind, spielen dafür auch verschiedene immaterielle Rahmenbedingungen des Standortes eine wichtige Rolle. Abgesehen von der zentralen Frage, ob Wissenschaftler/-innen frei forschen können oder ob sie politischen Repressionen oder gar Forschungsverboten ausgesetzt sind, gehören folgende Elemente zu den immateriellen Rahmenbedingungen: die institutionellen Regeln und Organisationsstrukturen, unter denen die Akteure ihre Ziele zu verwirklichen versuchen; länderspezifische Hochschulgesetze; Leitbilder eines Rektorats für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses; die wissenschaftliche Reputation eines Instituts; die internationalen Netzwerke, zu denen die Akteure Zugang haben; die Art und Weise, wie innerhalb einer Universität wichtige Entscheidungen über Strukturveränderungen und Ressourcenverteilung zustande kommen; die Kriterien, nach denen neue Forschungsschwerpunkte festgelegt oder Institute geschlossen werden; die in Forschung und Lehre üblichen Qualitätsstandards und Qualitätskulturen; die Frage, mit welchen Methoden wissenschaftliche Leistungen evaluiert werden, ob es Respekt vor unterschiedlichen Fachkulturen gibt oder eine Disziplin allen anderen die Regeln vorschreiben will, nach denen Forschungsleistungen evaluiert werden sollen; die informellen Erwartungen des sozialen Umfeldes an das Verhalten von Wissenschaftler/-innen und Studierenden; und nicht zuletzt die an einer Universität gepflegte Tradition und wissenschaftliche Erinnerungskultur, die ganz wesentlich zur emotionalen Bindung der Akteure an ihre wissenschaftliche Einrichtung beitragen können. Solche immateriellen Rahmenbedingungen beeinflussen ganz wesentlich die Motivation, Einstellung, Leistungsbereitschaft und Kreativität von Wissenschaftler/-innen sowie ihre Bereitschaft, sich für ihre Institution in überdurchschnittlich hohem Maße zu engagieren. Das tiefsitzende Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und Integration in eine Gruppe oder Gemeinschaft „veranlasst die Subjekte zur Internalisierung der sozial erwarteten und vorgeschriebenen Sinn- und Verhaltensmuster, die sodann zur zweiten, symbolischen Natur des Selbst werden“ (Kögler 1999: 233).

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Die wichtigsten Weichenstellungen für die Qualität und Reputation eines Wissensmilieus sind Berufungs- und Evaluierungsverfahren. Wenn bei Berufungsverfahren nicht die bestmöglichen Kandidaten ausgewählt werden oder bei Evaluierungsverfahren keine Rücksicht auf die Vielfalt von Fach- und Publikationskulturen genommen wird, kann das in einem Institut das Niveau der wissenschaftlichen Forschung und die Attraktivität des Wissensmilieus relativ schnell und nachhaltig beschädigen. Die Evaluierung von wissenschaftlichen Disziplinen hat auch etwas mit Machtausübung zu tun. Wer legt die Regeln und Normen fest, nach denen die wissenschaftlichen Leistungen in einer Disziplin überprüft werden sollen? Obwohl in den vergangenen zwanzig Jahren zahlreiche Publikationen erschienen sind, welche ein vernichtendes Urteil über die methodischen Fehler von Impact-Faktoren gefällt haben und vor allem anhand der Disziplinen Biologie und Medizin empirisch nachgewiesen haben, dass ImpactFaktoren keinerlei Aussagekraft über die wissenschaftliche Qualität einer Publikation haben (vgl. Bloch/Walter 2001; Casadevall/Fang 2014; Fang/Casadevall 2011; Hansson 1995; Seglen 1997a, 1997b; Smith 2008; Stroebe/Postmes/Spears 2012; Szklo 2008), gibt es immer noch einige Berufungskommissionen, Fakultäten und Rektorate, die unabhängig von der Fach- und Publikationskultur eines Faches bei Berufungen den sogenannten Hirsch-Faktor 8 als wichtigstes Maß für die wissenschaftliche Qualität eines Forschers heranziehen. Die negativen Konsequenzen einer solchen unsachgemäßen Leistungsbewertung sind bereits nach wenigen Jahren sichtbar. Eine besonders wichtige, immaterielle Rahmenbedingung stellt die wissenschaftliche Reputation eines Instituts oder einer Universität dar. Diese kann maßgeblich dazu beitragen, herausragende Studierende und Wissenschaftler/-innen zu gewinnen. Die wissenschaftliche Reputation eines Ortes ist ein soziales Konstrukt, das sich über einen längeren Zeitraum entwickelt und dazu beitragen kann, die Komplexität der Entscheidungsfindung zu reduzieren. Da die Zusammensetzung, die internen Mechanismen und die Wirkungsweise von Wissensmilieus außerordentlich komplex sind, wird nach Wegen gesucht, den Grad dieser Komplexität zu verringern. Dabei

8

Der Hirsch-Faktor wurde 2005 von J. Hirsch von der University of California zur Messung von Einfluss und Quantität der Forschungsleistung eines einzelnen Wissenschaftlers entwickelt und basiert auf der Zitationsdatenbank Web of Science oder Scopus.

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werden Auszeichnungen und herausragende wissenschaftliche Leistungen der Wissenschaftler/-innen und Studierenden häufig auf die Institution, den Ort oder das betreffende Milieu projiziert, an denen die Leistungen erbracht worden sind. Bei dieser Projektion geht man aufgrund von Erfahrungen in der Vergangenheit davon aus, dass an diesen Orten Rahmenbedingungen vorhanden sind und Qualitätsansprüche gelten, die auch in Zukunft ein hohes Leistungsniveau erwarten lassen. Mit jeder wissenschaftlichen Einrichtung sind bestimmte Vorstellungen und Bewertungen verbunden. Jede Universität hat ihre eigene Wissenschaftsgeschichte sowie ihren Bestand an Mythen und großen Erzählungen, die Status verleihen, zu einer kollektiven Identität beitragen, aber auch als Marketinginstrument eingesetzt werden können. Ortsbezeichnungen wie Harvard, Stanford oder Cambridge dienen dann gleichsam als Kürzel für komplexe, von einzelnen Personen nicht mehr durchschaubare Sachverhalte wissenschaftlicher Praxis und wissenschaftlicher Standards. Weil Harvard, Stanford oder Cambridge in der Vergangenheit über lange Zeiträume hinweg exzellente Wissenschaftler/-innen hervorgebracht und angezogen haben, geht man davon aus, dass sie dies aufgrund ihrer Wissensmilieus und Qualitätskulturen auch in der nahen Zukunft tun werden. Universitäten, die in der Vergangenheit weniger erfolgreich waren, hängt dagegen ein eher negatives Etikett an. Interessanterweise wirkt diese Projektion im Rahmen einer Rückkoppelung wieder auf die dort tätigen Wissenschaftler/-innen. Wer an ein berühmtes Institut berufen wurde oder bei einem sehr bekannten Professor Doktorand oder Assistent war, genießt eine Art Vertrauensvorschuss oder Sozialkapital, nicht zuletzt auch deshalb, weil man in der Regel davon ausgehen kann, dass er eine solche Position nur durch entsprechende Leistungen und nach harten Selektionsverfahren erreicht hat. Man vertraut selbst dann auf das wissenschaftliche Renommee von exzellenten Universitäten oder Instituten, wenn man den Großteil der dort tätigen Wissenschaftler/-innen gar nicht kennt. Erfolgreiche Abschlüsse an renommierten Instituten oder Rufe an angesehene wissenschaftliche Einrichtungen gelten als Indikator für ein Potenzial, das einem Kandidaten zugeschrieben wird. In der Wissenschaftsgeschichte gibt es zahlreiche Belege dafür, wie der durch ein angesehenes Institut vermittelte Startvorteil Pfadabhängigkeiten geschaffen hat, welche die spätere Laufbahn entscheidend beeinflussten.

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Aufgrund solcher sozialer Mechanismen wird die Einschätzung des Potenzials von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen eng mit der Frage verknüpft, an welchem Institut sie promoviert wurden, wo sie ihre Assistenten- oder Postdoktorandenzeit verbracht haben, an welcher Fakultät sie sich habilitierten oder von welchen Universitäten sie einen Ruf erhalten haben. Solche Daten können für eine wissenschaftliche Einrichtung auch aggregiert und in Karten dargestellt werden (siehe Meusburger/Schuch 2010, 2011), sodass sehr schnell erkannt werden kann, wie international oder provinziell die Einzugsgebiete der Professor(inn)en oder Doktorand(inn)en etc. sind. Professor(inn)en mit hoher wissenschaftlicher Reputation können ihre institutionelle Macht aber auch sehr wirksam einsetzen, um für sich, ihre Schüler/-innen und ihr Institut Vorteile und Privilegien zu erzielen (vgl. u. a. Demm 2010: 109, 113–117; Wischmeyer 2010: 39–43). Die Zugehörigkeit zu einer prestigeträchtigen Universität und die symbolische Bedeutung von Orten stellen für viele Wissenschaftler/-innen auch einen Teil ihrer persönlichen Identität und ihres Selbstwertgefühls dar. Wissenschaftler/innen identifizieren sich auch deshalb mit Orten, weil sie dadurch Status, Anerkennung und Prestige gewinnen oder sich Unterstützung und Zugang zu Ressourcen erhoffen (Scannell/Gifford 2010: 6; Twigger-Ross/Uzzell 1996). „Place also provides information about one’s distinctiveness“(Scannell/Gifford 2010: 3) „One is attached to the place because it facilitates ,distinctiveness‘ from other places, or affirms the specialness of one’s group“ (Scannell/Gifford 2010: 5). Die humanistische Geographie und die Environmental Psychology befassen sich seit den neunzehnhundertsiebziger Jahren mit den emotionalen Bindungen an Orte (place attachment, place belongingness) und der symbolischen Bedeutung von Orten (eine Literaturübersicht bieten u. a. Manzo 2005; Scannell/Gifford 2010). Allerdings haben sich solche Ansätze bisher nur selten mit emotionalen Bindungen zu wissenschaftlichen Einrichtungen befasst. Die emotionale Bindung (place attachment) zu einem Institut oder zu einer Universitätsstadt ist zudem eine wesentliche Voraussetzung für ein überdurchschnittliches Engagement in jenen Bereichen der Forschung, Lehre und akademischen Selbstverwaltung, die dem betreffenden Akteur keinen persönlichen Nutzen bringen. Die emotionale Verbundenheit mit einem Ort kann auch in hohem Maße den lokalen und regionalen Transfer von Wissen in solche Domänen fördern, die nicht dem engeren Reputationssys-

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tem der Wissenschaftler/ -innen angehören. Beispiele wären etwa das Engagement der Wissenschaftler/-innen bei kommunalen Projekten, in der Schule ihrer Kinder oder bei kulturellen Aktivitäten ihres Stadtteils. Emotionale Bindungen von Studierenden, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zu einer Universitätsstadt können durch eine Ikonografie und Semiotisierung des Raumes noch verstärkt werden. Bilder, Informationstafeln oder Denkmäler erinnern an vergangene Leistungen und begründen somit auch die symbolische Bedeutung von Orten, die dann wiederum zu einer Identifikation mit diesen Orten beitragen kann. Die Identifikation oder die emotionale Verbundenheit, welche Wissenschaftler/-innen und Studierende mit ihrer Universität haben, kann durch Mythen und Idealisierungen, die sich auf die Geschichte des betreffenden Ortes beziehen, genährt und verstärkt werden (siehe Meusburger 2011: 24). Solche auf Orte oder Institutionen bezogene Projektionen und symbolische Zuschreibungen mögen ungerechtfertigt, fehlerhaft, veraltet oder umstritten sein, sie müssen jedoch ernst genommen werden, weil sie das Verhalten der Wissenschaftler/-innen, den Wissenstransfer und die Entscheidungen von Politikern, Sponsoren und Arbeitgebern maßgeblich beeinflussen können.

4. W ARUM IST EIN W ISSENSMILIEU AUF STÄNDIGE E RNEUERUNG UND EXTERNE I MPULSE ANGEWIESEN ? Ein Wissensmilieu ist nicht etwas Festgefügtes oder Stabiles, sondern ständig im Wandel. Über längere historische Zeiträume betrachtet, konnte kein „Zentrum des Wissens“ seine Position auf Dauer behaupten. Die führenden Zentren der wissenschaftlichen Forschung haben sich immer wieder an neue Standorte verlagert und die Beziehungen zwischen den führenden Wissenschaftsstandorten haben sich immer wieder neu strukturiert. Für die Naturwissenschaften wurde dies für den Zeitraum vom 15. bis 19. Jahrhundert unter anderem von Taylor/Hoyler/Evans (2010) und Hoyler/Taylor (2011) belegt. Um eine starke wissenschaftliche Attraktivität zu bewahren, muss sich ein Wissensmilieu ständig weiter entwickeln und erneuern; dies geschieht durch die Rekrutierung neuer Wissenschaftler/-innen, durch neue Doktorand(inn)en, neue Netzwerke, die Teilnahme an Kongressen, durch

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Gastprofessuren, die Anschaffung neuer Geräte, die rechtzeitige Einbeziehung neuer Forschungsmethoden und -schwerpunkte, die Inanspruchnahme externer Expertise sowie durch nationale und internationale Kooperationen. Es gibt also mehrere Gründe, warum von Forschenden schon seit dem Mittelalter Mobilität erwartet wird. Erstens können die fachlichen Kompetenzen, Methodenkenntnisse, Netzwerke und kreativen Ideen, die vorausgesetzt werden, durch Wissenschaftler/-innen nur selten an einem einzigen Ort erworben werden. Mobilität kann also neue Denkmuster anregen, den Horizont erweitern und dazu beitragen, an einer Universität „geistige Inzucht“ und Selbstüberschätzung zu verhindern. Zweitens stoßen revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden, die weit verbreiteten Paradigmen der Mainstream-Forschung widersprechen, nicht bei allen Fachkollegen sofort auf Akzeptanz. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass sich alle wissenschaftlichen Erkenntnisse schnell verbreiten, sobald sie publiziert, beziehungsweise im Internet frei verfügbar sind. Meusburger (1998, 2009a) hat darauf hingewiesen, dass die Forschung über die räumliche Diffusion von Wissen an mehreren Defiziten leidet, von denen hier nur zwei erwähnt werden. Erstens wird in der Literatur zu wenig unterschieden zwischen Information und Wissen sowie zwischen Alltagsoder Routinewissen und verschiedenen Stufen von „höherwertigem“ Wissen. Alltagswissen wird von fast jedem Lesekundigen, beziehungsweise von einer breiten Öffentlichkeit verstanden, weil dessen Aufnahme kein oder nur wenig Vorwissen erfordert. Deshalb kann Alltagswissen relativ leicht durch einen organisierten Wissenstransfer (Wissenschaftsjournalisten, Presseabteilungen) zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit vermittelt werden, zumindest theoretisch, denn die Veröffentlichung von Informationen heißt noch lange nicht, dass diese von anderen aufgenommen und akzeptiert werden. Um höherwertiges Wissen zu verstehen, benötigt man dagegen mehrere Jahre Studium und Forschungspraxis. Es gibt Bereiche der theoretischen Physik, die weltweit nur von zweihundert Personen verstanden werden. Wenn es also um die Kommunikation von wissenschaftlichem Wissen geht, ist eine vertikale Differenzierung des Wissens nach dem Schwierigkeitsgrad und Kostenaufwand, es zu verstehen und zu erwerben, unumgänglich. 9 Bei höherwertigem Wissen ist der Begriff Transfer prob-

9

Es gibt natürlich auch wissenschaftliche Disziplinen, in denen der Unterschied zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen wenig trennscharf ist

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lematisch, weil er sich zu sehr auf den Produzenten (Sender) einer Information bezieht, den Unterschied zwischen Wissen und Information nicht berücksichtigt und indirekt einen linearen Prozess der Wissensvermittlung suggeriert. Von A nach B können zwar Informationen oder Alltagswissen transferiert werden. Ob höherwertiges Wissen von A nach B übertragen werden kann, hängt dagegen von einem komplexen Kommunikationsprozess ab (Meusburger 2009b). In diesem Falle wäre es also besser, nicht von Transfer, sondern von Kommunikationsprozess zu sprechen, denn dann ist auch das mögliche Scheitern einer Kommunikation angedeutet. Zweitens wird bei höherwertigem Wissen die Komplexität der Kommunikation von Wissen unterschätzt. Der Erfolg dieses Kommunikationsprozesses hängt weniger vom „Sender“ als vielmehr vom „Empfänger“ einer Information ab. Selbst wenn der Sender in der Lage und bereit ist, sein neues Wissen in Sprache, Zeichen und Formeln umzusetzen und kostenlos zur Verfügung zu stellen, hat der Kommunikationsprozess von höherwertigem Wissen zwischen Sender und Empfänger mehrere „Filter“ zu überwinden, sodass er an verschiedenen Stellen auch scheitern kann. Kritische Punkte sind zum Beispiel das Vorwissen oder die Fähigkeit des Empfängers, die Bedeutung einer Information zu verstehen; dessen Bereitschaft, eine Information auch dann zu akzeptieren, wenn sie seine bisherige Forschung infrage stellt oder die Deutungshoheit seiner Disziplin abwertet; 10 die Abhängigkeit des Informationsempfängers von den Gatekeepern seiner Disziplin; der Grad der Offenheit oder starren Disziplinierung eines Faches; die Zugehörigkeit zu bestimmten „Schulen“ und vielen anderen Faktoren. Ein Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in Form von Beratungsgesprächen, Zeitungsartikeln, Fernsehinterviews und Presseerklärungen ist also etwas völlig anderes als ein Kommunikationsprozess, an dem Wissenschaftler/-innen verschiedener Disziplinen (Forschungsschwerpunkte oder „Schulen“) beteiligt sind, in dem hochwertige, schwer verständliche, revolutionäre oder irritierende Forschungsergebnisse ausgetauscht und vom anderen akzeptiert werden sollen.

(siehe auch Froese/Mevissen in diesem Band). In solchen Fällen ist der Begriff „Wissenstransfer“ weniger problematisch. 10 Beispiele wären etwa die jahrzehntelange Weigerung der neoklassischen Ökonomie, Erkenntnisse der Soziologie, Psychologie und Geographie aufzunehmen und ihr Konzept des homo oeconomicus zu revidieren.

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Die Erfahrungen von Nobelpreisträgern zeigen, dass gerade besonders kreative oder revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnisse, die einen Bruch mit bisherigen wissenschaftlichen Traditionen darstellen, ein völlig neues Forschungsfeld begründen und damit die Deutungshoheit etablierter Kollegen infrage stellen, oft erst zehn bis dreißig Jahre nach der Publikation von der Mehrheit des Fachkollegiums anerkannt und rezipiert werden. Der sicherste Weg, bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden von A nach B zu übertragen, Vorurteile gegenüber neuen wissenschaftlichen Konzepten, Theorien und Methoden abzubauen oder Verständnis für neue Themen zu wecken, ist die räumliche Mobilität von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, welche über das betreffende Wissen verfügen. Im Rahmen solcher Berufungsverfahren ist es dann meistens auch möglich, jene instrumentellen und personellen Voraussetzungen zu schaffen, die notwendig sind, um einen neuen Forschungsbereich zu installieren. Selbstverständlich kann sich auch ein Transfer von Alltagswissen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, etwa in Form von Zeitungsartikeln oder Fernsehinterviews, positiv auf ein Wissensmilieu auswirken, weil er bei einigen Adressaten neue Forschungsfragen anregen oder zwischen Disziplinen neue Kooperationen auslösen kann. Entscheidend ist jedoch nicht, ob neues Wissen angeboten, sondern ob es von den Adressaten übernommen wird. In der Realität besteht ein sogenannter Wissenstransfer häufig nur im Angebot von Informationen, entscheidend ist jedoch, ob der Adressat die Informationen versteht und akzeptiert, beziehungsweise in seine Wissensbasis aufnimmt. Heute wird meistens unterschätzt, wie mobil Wissenschaftler/-innen auch in früheren Jahrhunderten waren. Abbildung 1 visualisiert die beruflichen Stationen und Reisen des auch politisch sehr einflussreichen Heidelberger Theologen Abraham Scultetus (1566–1624). Auch wenn hier nicht der Platz ist, diese Karte zu interpretieren, belegt allein der visuelle Eindruck das Ausmaß seiner regionalen Mobilität.

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Abb. 1: Lebensweg des Theologen Abraham Scultetus (1566–1624)

(Quelle: Kühlmann et al. 2011: 60)

Im Laufe der Universitätsgeschichte gab es immer eine Wechselwirkung zwischen der Reputation einer Universität und den Einzugsgebieten ihrer Professor(inn)en und Studierenden. Denn wozu sollte man eine weit entfernte Universität aufsuchen und den damit verbundenen Zeit- und Kostenaufwand auf sich nehmen, wenn diese ein niedriges Niveau hat? Abbildung 2 zeigt die Herkunftsorte der Professoren und Studenten der Universität Heidelberg im Jahr 1588; bekanntlich hatte die Universität Heidelberg zwischen 1560 und 1620 ihre erste intellektuelle Blütezeit.

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Abb. 2: Einzugsgebiet der Studenten der Heidelberger Theologischen Fakultät 1560–1620

(Quelle: Strohm/Hofmann 2011: 63) Stark verallgemeinernd kann man feststellen: In Zeiten hoher wissenschaftlicher Reputation dehnt sich das Einzugsgebiet, aus dem Professor(inn)en einer Universität berufen werden oder aus dem Studierende kommen, jeweils stark aus, und in Zeiten intellektueller Stagnation wird das Einzugsgebiet wieder provinziell, dominieren die „Landeskinder“ 11 unter den Professoren und es kommt zu vielen Hausberufungen. Beim Verbot von Hausberufungen geht es im Prinzip darum, dass Nachwuchswissenschaftler/innen von mehr als einer Fakultät die Bestätigung erhalten sollten, dass sie aufgrund ihrer Leistungen in Forschung und Lehre sowie ihrer sonstigen fachlichen und sozialen Kompetenzen das Niveau haben, auf eine Professur berufen zu werden. Selbstverständlich wurden solche Einzugsgebiete im Laufe der Geschichte nicht nur durch die Reputation von Universitäten,

11 Im 18. und noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden an vielen deutschen Universitäten bei der Besetzung von Professuren Landeskinder bevorzugt (Wischmeyer 2010; Wolgast 1986).

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sondern auch durch politische und wirtschaftliche Ereignisse, Sprachbarrieren, religiöse Konflikte (Baar-Cantoni/Wolgast 2011), Vorurteile (siehe Baumgarten 1997: 211) sowie gesellschaftliche Veränderungen in den Herkunftsländern beeinflusst (vgl. Honeck/Meusburger 2011; Meusburger/ Probáld 2011; Meusburger/Schuch 2011; Schamoni 2011). Die Frage, woher die Professoren in einem bestimmten Zeitraum an eine Universität berufen wurden und wie sich die Herkunftsgebiete im Laufe der Zeit verändert haben, kann natürlich nur ein erster Schritt im Forschungsprozess sein. Wenn man tiefer in die Materie eindringen will, sollte man die gesamte Laufbahn der Berufenen berücksichtigen. Denn die meisten Wissenschaftler/-innen wurden ja nicht nur in einem, sondern in sehr verschiedenen Wissensmilieus sozialisiert und haben an verschiedenen Orten wichtige wissenschaftliche Impulse erhalten. Der berühmte Mediziner Ludolf Krehl (1861–1937) hat beispielsweise an den Universitäten von Leipzig, Heidelberg, Jena und Berlin studiert, in Leipzig wurde er promoviert und habilitiert und anschließend erhielt er insgesamt neun Rufe, von denen er sechs (an die Universitäten Jena, Marburg, Greifswald, Tübingen, Straßburg und Heidelberg) annahm und drei (an die Universitäten Wien, Leipzig, München) ablehnte. Wenn so viele Universitäten bei einem Berufungsverfahren denselben Kandidaten als den besten bezeichnen, ist die Ungewissheit über sein wissenschaftliches Potenzial beziehungsweise hinsichtlich der zu erwartenden wissenschaftlichen Leistungen wesentlich geringer, als wenn nur eine einzige Universität seine Berufungsfähigkeit als Professor bestätigt. Im Unterschied zum ersten Ruf auf eine Professur, der in der Regel angenommen wird, akzeptieren Wissenschaftler/-innen einen späteren Ruf auf eine ordentliche Professur einer anderen Universität meistens nur dann, wenn sie sich von einem Wechsel der Universität eine Verbesserung der Forschungsbedingungen, ihrer wissenschaftlichen Reputation oder ihrer persönlichen Situation versprechen. Jede Annahme oder Ablehnung eines Rufes auf eine ordentliche Professur kann also auch als das Ergebnis eines Bewertungs- und Entscheidungsprozesses über die Qualität von Alternativen angesehen werden. Krehl wurde zu einem Zeitpunkt nach Heidelberg berufen, als er bereits mehrere Rufe als ordentlicher Professor erhalten und angenommen hatte, also eine sehr hohe wissenschaftliche Re-

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putation vorweisen konnte. Offensichtlich betrachtete Krehl damals die Universität Heidelberg als Endziel seiner Karriere. 12 An jeder Universität, an der Krehl studierte oder als Professor tätig war, hat er bestimmte wissenschaftliche Anregungen erhalten und mit einflussreichen Wissenschaftler/-innen soziale Beziehungen aufgebaut. Als Professor bildete er an mehreren Universitäten Schüler aus, die später selbst berühmte Wissenschaftler wurden und sein wissenschaftliches Netzwerk erweiterten. Diese Netzwerke haben sich wiederum positiv auf die Berufungschancen seiner habilitierten Schüler ausgewirkt. In der heutigen Zeit wird wohl kaum noch ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin so viele Rufe erhalten wie Krehl. Inzwischen ist das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Promotion, der Habilitation und des ersten Rufes stark angestiegen (vgl. Meusburger/Schuch 2010). Die so wichtigen Außenkontakte werden heute zunehmend durch zirkuläre räumliche Mobilität, also kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse im Rahmen einer Postdoc-Phase, eines Forschungsprojekts, eines Stipendiums oder einer Gastprofessur, durch Vortragsreisen und Kongressbesuche etc. sichergestellt. Routinekontakte zwischen Akteuren, die sich schon gut kennen und einander vertrauen, werden zu einem großen Teil über das Internet gepflegt. Mobilität darf natürlich nicht prinzipiell als freiwillige Entscheidung oder etwas generell Positives angesehen werden. Denn akademische Mobilität kann auch durch negative Ereignisse (Auslaufen eines Arbeitsvertrags) ausgelöst werden.

5. W IE KANN MAN SICH DIE W IRKUNG EINES W ISSENSMILIEUS VORSTELLEN , OHNE IN EINEN D ETERMINISMUS ZU VERFALLEN ? Es ist zwar richtig, dass Denkprozesse überall stattfinden können und nicht ortsgebunden sind, aber die Vorbilder, Kritiker, Ressourcen, Diskurse, Anregungen, Herausforderungen und Zwänge, die neues Denken auslösen, neue Forschungsfragen und Entdeckungen anregen oder behindern können,

12 Die Historikerin Baumgarten (1997: 222) unterscheidet vier Ebenen von Universitäten: Einstiegsuniversitäten, weniger angesehene Aufstiegsuniversitäten, renommierte Aufstiegsuniversitäten und Endstationsuniversitäten.

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sind räumlich ungleich verteilt. Vor allem Studierende und Nachwuchswissenschaftler/-innen agieren in einem Bereich „vororganisierten Wissens“ (Knoblauch 1995). Nur wenige Studierende oder Nachwuchswissenschaftler/-innen sind in der Lage, sich dem Sozialisations- und Erwartungsdruck ihres sozialen Umfeldes zu entziehen. „Die Dialektik der symbolischen Macht bindet das Subjekt mit Hilfe des Anerkennungsbedürfnisses an sozial normierte Sinnmuster, innerhalb deren es sich selbst zu verwirklichen lernt“ (Kögler 1999: 233). Zumindest in der Frühphase ihrer wissenschaftlichen Sozialisation bleiben die meisten Studierenden und Nachwuchswissenschaftler/-innen nicht unbeeinflusst von den Fragen: Welche Lehrveranstaltungen, Methoden und Experimente werden vor Ort angeboten? Welche Kompetenzen können an einem Ort erworben werden und welche nicht? Wie ist das eigene Institut international vernetzt? Haben Studierende die Chance, schon frühzeitig international herausragende Wissenschaftler/innen persönlich kennenzulernen und in wichtige internationale Netzwerke oder Forschungsprojekte eingebunden zu werden, oder kennen sie deren Namen nur aus der Literatur? Stehen ihnen moderne Forschungsgeräte zur Verfügung oder nicht? Erhalten sie exklusiven Zugang zu nicht öffentlichen Daten (Individualdaten eines Mikrozensus oder Messdaten von Experimenten)? Welche Vorbilder haben sie vor Ort und welchen Grad an fachlicher und emotionaler Unterstützung erhalten sie durch die etablierten Wissenschaftler/-innen verschiedener Disziplinen? Stoßen sie mit ihren eigenen neuen Ideen auf Zustimmung oder zumindest wohlwollende Kritik oder auf großen Widerstand und Unverständnis? Was betrachten die führenden Vertreter/-innen ihres Faches als gesichertes Wissen, als akzeptable Methoden und als anzustrebende Publikationsform? Der institutionelle Kontext, in dem Nachwuchswissenschaftler/-innen studieren und forschen, kann entscheidend dafür sein, welche Forschungsthemen sie interessieren, welche methodischen Kompetenzen sie erwerben, in welche internationalen wissenschaftlichen Netzwerken sie frühzeitig Aufnahme finden, welche interessanten und ungelösten Probleme sie wahrnehmen, ob sie Vorurteile gegenüber Forschungsfragen und methodischen Ansätzen haben, die im eigenen Institut nicht üblich sind, und nicht zuletzt, ob ihnen die erforderlichen Ressourcen und Freiräume zur Verfügung stehen, um ihre neuen Ideen verwirklichen zu können. In diesen „kommunikativen Lebenswelten“ (Knoblauch 1995) einer Universität entstehen Loyalitäten und soziale Beziehungen, die in hohem Maße Pfadabhängigkeiten

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schaffen und über die spätere wissenschaftliche Laufbahn entscheiden. Wissensmilieus bestimmen also ganz wesentlich den Transfer von hoch spezifiziertem Wissen zwischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, vor allem, wenn dieses Wissen noch umstritten ist, von anderen Disziplinen kommt oder den Paradigmen der Mainstream-Forschung widerspricht. Es gibt Institute, wo die Studierenden schon in den ersten Semestern ermuntert werden, „über den Tellerrand“ der eigenen Disziplin zu schauen und bei der Literatursuche breit zu recherchieren, und es gibt Institute, die ihren Studierenden die Einstellung vermitteln, dass alles Wichtige und Innovative in einigen wenigen englischsprachigen Zeitschriften ihrer eigenen Disziplin zu finden sei. Ein Wissensmilieu darf jedoch nicht als unabhängige Variable aufgefasst werden, die in einer direkten Ursache-Wirkung-Beziehung auf alle betroffenen Akteure eine bestimmte Wirkung ausübt. Vielmehr ist es ein lokal verfügbares Potenzial oder ein lokales Angebot an Chancen und Hindernissen, das von verschiedenen Akteuren unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und genutzt wird, aber auch ignoriert werden kann. Entscheidend sind die Prozesse der Interaktion und Aneignung (im Sinne von Graumann 2002a, 2002b). Wenn die Akteure fehlen, die in der Lage und willens sind, sich das lokal angebotene Potenzial zu ihrem Vorteil anzueignen, kann ein Wissensmilieu keine Wirkung entfalten. Der entscheidende Punkt ist also, dass sich ein Akteur mit bestimmten kognitiven Fähigkeiten, Interessen und Ambitionen in unterschiedlichen Wissensmilieus unterschiedlich entwickeln wird. Da die Ergebnisse einer Interaktion, Kommunikation und Aneignung nicht prognostizierbar sind, kann auch die Wirkung eines Wissensmilieus nicht prognostiziert, sondern immer nur im Nachhinein rekonstruiert werden, also nachdem die relevanten Leistungen erbracht worden sind. Es muss also stets zwischen dem Potenzial eines Wissensmilieus und den in ihm tatsächlich erbrachten Leistungen unterschieden werden. Je nach seinen Zielen, seinen kognitiven Fähigkeiten, seinem fachlichen Vorwissen, seiner Motivation und seinen sozialen Beziehungen wird ein Akteur in einem lokalen Wissensmilieu, in dem er beispielsweise als Studierender, Doktorand oder Nachwuchswissenschaftler arbeitet, für sich selbst sehr unterschiedliche Vorbilder finden, selektiv unterschiedliche Anregungen aufnehmen, aus seinen Erfahrungen unterschiedliche Lehren ziehen, aber auch mit Hindernissen und Benachteiligungen unterschiedlich umgehen. Esser (1999) hat darauf hingewiesen, dass es „immer […] nur die

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subjektiven Erwartungen und Bewertungen [sind], die das Handeln eines Menschen in einer Situation bestimmen. […] Die subjektive Definition der Situation ist eine eigene selektive Leistung des Akteurs zur Reduktion der ansonsten übergroßen Komplexität einer jeden Situation“ (ebd.: 161). Stark verallgemeinernd könnte man also die These aufstellen: Je größer die wissenschaftliche Begabung, Kreativität, Leistungsfähigkeit und das „Vorwissen“ von Akteuren sind, umso eher werden sie das für sie wertvolle Potenzial eines Standortes erkennen und nutzen wollen. 13 Jeder Akteur kann und wird sich also aus einem lokal verfügbaren Potenzial eine andere Kombination von Ideen, Chancen und nachahmenswerten Vorbildern aussuchen. Sehr häufig übernehmen erfolgreiche Nachwuchswissenschaftler/-innen nicht die wissenschaftlichen Themen ihrer Institutsleitung, sondern deren Vorbildfunktion als Wissenschaftler/-innen, also die Art und Weise, wie man Forschung betreibt, wie man ein Institut leitet, wie man Studierende und Mitarbeiter/-innen motiviert, wie man Doktorand(inn)en fördert oder wie man sich in der akademischen Selbstverwaltung zum Wohle des eigenen Instituts oder der eigenen Fachdisziplin engagiert. Die Tatsache, dass sich die Karrierepfade der Nobelpreisträger/-innen (Mager 2011) und anderer berühmter Wissenschaftler/-innen (Raditsch 2011) immer wieder an bestimmten Standorten gekreuzt haben, kann als ein Beleg dafür dienen, dass die unterschiedliche Qualität von Wissensmilieus den Betroffenen durchaus bekannt ist.

6. W IE KANN MAN DIE W IRKUNG EINES W ISSENSMILIEUS AUF F ORSCHUNGS - UND L ERNPROZESSE EMPIRISCH NACHWEISEN ? Im Prinzip kann man drei verschiedene methodische Vorgehensweisen unterscheiden, die auf verschiedenen Aggregationsniveaus zum Einsatz kommen können. Im Idealfall sollte ein Wissensmilieu mithilfe aller drei Ansätze beschrieben und analysiert werden – da jedoch die Erhebung der Daten

13 Die Betonung liegt dabei auf den „subjektiven Erwartungen und Bewertungen“, beziehungsweise auf der Formulierung „für sie wertvoll“.

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mit einem extrem hohen Arbeitsaufwand 14 verbunden ist, ist dieser Idealfall selten zu erreichen. Zunächst kann man Wissensmilieus von wissenschaftlichen Einrichtungen daraufhin untersuchen, welche wissenschaftlichen Leistungen oder beruflichen Erfolge ihre Wissenschaftler/-innen oder Absolvent(inn)en in einem bestimmten Zeitraum erzielt haben. Wenn eine Institution eine hohe wissenschaftliche Reputation hat, werden ihre (Nachwuchs-)Wissenschaftler/-innen mehr Berufungen auf Professuren anderer Universitäten oder an außeruniversitäre Forschungsinstitute erhalten, als wenn ihre Reputation gering wäre. So kann man etwa den Fragen nachgehen, wie viele Promovierte eines Instituts einen Ruf auf eine Professur erhalten haben, wie viele Wissenschaftler/-innen einer Universität herausragende wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten haben, welche bahnbrechenden Publikationen an einem Institut entstanden sind, welche neuen Ideen, Methoden und theoretischen Konzepte von einem Institut ausgegangen sind und wie oft die Mitglieder eines Instituts als Gutachter von internationalen Zeitschriften, von bedeutenden Institutionen der Forschungsförderung und wichtigen Evaluierungsverfahren beteiligt waren. Bei diesem ersten Ansatz werden also aufgrund der an einem Institut (Ort) erbrachten wissenschaftlichen Leistungen Rückschlüsse auf die Qualität des betreffenden Wissensmilieus gezogen, ohne dass die Blackbox der Ursachen und Beziehungen aufgelöst wird. Diese Methode repräsentiert die Außensicht und bewährt sich vor allem bei großräumig vergleichenden Untersuchungen oder stark differenzierenden Studien, für die Stichproben aus methodischen Gründen ungeeignet sind. Abbildung 3 belegt beispielsweise, dass ehemalige Doktoranden und Assistenten des Heidelberger Chemikers Robert W. Bunsen (1811–1899) in ganz Europa zahlreiche Professorenstellen der Chemie besetzt haben (Eckart/Hübner/Nawa 2011: 98). Darüber hinaus haben Bunsen-Schüler

14 Die Erstellung der vier Bände des Gelehrtenlexikons der Universität Heidelberg (Drüll 1986, 1991, 2002, 2009), auf denen viele Beiträge des Heidelberger Wissenschaftsatlasses beruhen, erforderte einen Arbeitsaufwand von insgesamt achtundzwanzig Jahren (1981–2009).

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auch in den USA sehr erfolgreiche (wissenschaftliche) Karrieren absolviert. 15 Abb. 3: Arbeitsorte der Schüler von Robert Bunsen in Europa

(Quelle: Eckart/Hübner/Nawa 2011: 98)

Wenn aus einem Institut so viele erfolgreiche Wissenschaftler/-innen hervorgehen, ist der Rückschluss zulässig, dass es dort in einer bestimmten Zeitperiode ein sehr anregendes und außerordentlich kreatives Wissensmilieu gegeben hat. Solche Wegberufungen für Wissenschaftler/-innen tragen nicht nur zum Wissenstransfer bei, sondern stärken in der Regel auch den Einfluss der betreffenden Institute in ihrer Disziplin. Denn enge soziale Be15 Einer der bekanntesten Bunsen-Schüler in den USA war Charles Lee Reese (1862-1940) – ein Experte für Sprengstoff –, der nach einer kurzen wissenschaftlichen Karriere an der Johns Hopkins University zum Unternehmen DuPont wechselte und dort der erste Direktor des damals größten industriellen Forschungslabors der USA wurde; 1911–1924 war er Direktor der neu geschaffenen Chemie-Abteilung von DuPont (Honeck/Meusburger 2011: 298).

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ziehungen und Loyalitäten, die Wissenschaftler/-innen an ihren früheren Arbeitsorten entwickelt haben, werden durch eine Wegberufung in der Regel nicht beendet. Abbildung 4 lässt erahnen, welches internationale Machtzentrum Heidelberg damals in der Chemie dargestellt haben muss. Solche international bedeutende Knotenpunkte wissenschaftlicher Netzwerke dominieren sehr häufig auch das Gutachterwesen bei Berufungsverfahren und bei wissenschaftlichen Zeitschriften. Ein ähnlich mächtiges und weltweit einflussreiches Forschungsinstitut stellt auch das von zwanzig Staaten finanzierte European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg dar, aus dem seit seiner Gründung im Jahr neunzehnhundertvierundsiebzig bis zweitausendzehn unter anderem einundzwanzig Direktoren von Max-Planck-Instituten hervorgegangen sind (Raditsch 2011: 288) und an dem auch zwei spätere Nobelpreisträger wirkten (Mager 2011: 253). Wenn eine wissenschaftliche Einrichtung wie das EMBL nicht nur Anziehungspunkt für hochtalentierte Nachwuchswissenschaftler/-innen aus der ganzen Welt ist, sondern seine Wissenschaftler/-innen auf so viele wichtige Schlüsselpositionen berufen werden, muss es an dieser Einrichtung ein kompetitives Wissensmilieu von herausragender Qualität geben. Wer als Nachwuchswissenschaftler/-in einige Jahre an solch hochrangigen Zentren einer Disziplin verbringt, kann nicht nur vom Machtkapital (Demm 2010) solcher weltweit bekannten Institutionen profitieren, sondern wird hier Leute treffen, denen man im Laufe der wissenschaftlichen Laufbahn immer wieder auch an anderen Orten begegnen wird. Christoph Mager (2011: 251, 253) hat dokumentiert, wie sich Heidelberger Nobelpreisträger der Physik, Chemie und Medizin als Doktoranden, Assistenten und Professoren immer wieder an denselben berühmten Instituten für einen bestimmten Zeitraum begegnet sind.

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Abb. 4: Direktoren von Max-Planck-Instituten, die früher am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg tätig waren

(Quelle: Raditsch 2011: 288)

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Die zweite Vorgehensweise konzentriert sich auf die sozialen Beziehungen, Interaktionen und Netzwerke der an einem Standort tätigen Wissenschaftler/-innen sowie auf die Prozesse der Aneignung im Sinne von Graumann (2002a, 2002b). Prozesse der Aneignung werden häufig als selbstverständlich vorausgesetzt und in ihrer Bedeutung unterschätzt. Aber es gibt auch viele lokale Angebote, die nicht wahrgenommen oder nicht zum eigenen Vorteil genutzt werden. Forschungsgeräte, deren Potenzial nicht ausgeschöpft wird, Bücher, die ungelesen bleiben, und Kontaktmöglichkeiten, die nicht in Anspruch genommen werden, können natürlich keine Wirkung auf Lern- und Forschungsprozesse entfalten. Ohne die Prozesse der Aneignung ist in vielen Fällen kein Wissenstransfer möglich. Auch eine lokale Ansammlung herausragender Wissenschaftler/-innen führt noch nicht automatisch zu einem Wissensaustausch, zu fächerübergreifender gegenseitiger Inspiration oder gar zu wissenschaftlichen Kooperationen. Erst die Kommunikation und Interaktion zwischen den Akteuren und deren Auseinandersetzung mit den strukturellen Rahmenbedingungen schaffen ein Milieu. Entscheidend ist also, ob an einer Universität oder in dem sie umgebenden städtischen Raum die Lebenswelten verschiedener Disziplinen kommunikativ miteinander verknüpft werden, ob und wie intensiv Wissenschaftler/-innen über Fachgrenzen hinweg miteinander interagieren und diskutieren, ob es gelingt, das lokal vorhandene Potenzial an Kreativität durch verschiedene Maßnahmen zu aktivieren, und ob die Akteure fähig und willens sind, sich das lokal verfügbare Potenzial anzueignen. Leider werden gelegentlich infolge der „Silo-Mentalität“ einiger Akteure viele Potenziale eines Standortes nicht genutzt. Dieser zweite Ansatz ist also an den Fragen interessiert: Wie interagieren die Akteure miteinander? Wie setzen sich die Akteure mit den örtlichen Rahmenbedingungen, unter denen sie ihre Ziele zu erreichen versuchen, auseinander? Wie haben einzelne Akteure diese Rahmenbedingungen selbst beeinflusst? Wie sehr sind an einer Universität oder in einer Wissenschaftsstadt die Lebenswelten verschiedener Disziplinen kommunikativ miteinander verknüpft? Welche Akteure sind die Brückenbildner zwischen Disziplinen oder die wichtigsten Knoten in Netzwerken? Eine solche Verknüpfung von Lebenswelten kann einerseits durch sogenannte Kreise, jours fixes oder sonstige Formen regelmäßiger Kommunikation organisiert werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben in Heidelberg die Diskussionskreise um Max, Marianne und Alfred Weber, Ste-

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fan George, Henry Thode und Hans Walter Gruhle sowie der „Janus-Kreis“ und der „Eranos-Kreis“ disziplinenübergreifende Diskurse gepflegt, welche die schon damals bestehende Kluft zwischen verschiedenen Wissenschaftskulturen zu überbrücken versuchten (Lepsius 2011; Treiber/Sauerland 1995). Diese Kreise haben das intellektuelle Milieu der Universität Heidelberg für viele Jahre maßgeblich geprägt und Anfang des 20. Jahrhunderts viel zur Reputation von Heidelberg beigetragen, ein weltoffenes, geistiges Zentrum Deutschlands zu sein. Heute wird in Heidelberg im Rahmen des Marsilius-Projekts der Exzellenzinitiative versucht, solche die Disziplingrenzen überschreitende Kooperationen und Gesprächskreise zu fördern (Schluchter 2011). Intensive Interaktionen können aber auch auf der Basis enger, persönlicher Freundschaften erfolgen, wie es in Heidelberg im 19. Jahrhundert etwa zwischen den Naturwissenschaftlern Bunsen, Kirchhoff, Helmholtz, Hesse und Königsberger der Fall war (Eckart/Hübner/ Nawa 2011; Hübner 2010). Solche sozialen und wissenschaftlichen Beziehungen können entweder qualitativ beschrieben werden, wie es etwa Demm (2010: 110), Meusburger/Schuch (2010: 232) oder Lepsius (2011: 113) versucht haben. Man kann sie aber auch mithilfe einer quantitativen Netzwerkanalyse untersuchen und visualisieren (Glückler 2013; Glückler/Ries 2012). Analysen von Freundschaften, Lehrer-Schüler-Beziehungen, Netzwerken und Interaktionen zwischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen haben bei der Interpretation von Wissensmilieus einen sehr hohen Stellenwert. Beim dritten Ansatz, bei dem der wissenschaftliche Werdegang einzelner Wissenschaftler/-innen im Mittelpunkt steht, erfasst man die Innensicht, also die subjektiv empfundenen Erfahrungen und Bewertungen der Betroffenen. Hier versucht man, die Einflüsse und Weichenstellungen zu rekonstruieren, welche in den verschiedenen Karrierephasen die wissenschaftliche Entwicklung, die Aspirationen, die Forschungsinteressen, Methodenkenntnisse und die berufliche Laufbahn der betreffenden Person geprägt haben. Dieser Ansatz füllt also eine der beim ersten Ansatz erwähnten Lücken. Bei dieser Vorgehensweise werden „alle Strukturzusammenhänge […] quasi durch das Bewusstsein der Beteiligten hindurch verfolgt […], auch wenn dafür mehrfache und differenzierte Übersetzungsleistungen und Dechiffrierdurchgänge nötig werden“ (Welskopp 2002: 76). Bei dieser Vorgehensweise stützt man sich auf Interviews, Erinnerungen, Korrespondenzen, selbst verfasste Lebensläufe und (Auto-)Biografien

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sowie Sitzungsprotokolle, Gutachten und Berichte aus dem sozialen Umfeld. In solchen Interviews und Dokumenten kann man viel über den Verlauf von Promotions-, Habilitations- und Berufungsverfahren, über universitätsinterne Konflikte, wissenschaftsinterne Machtbeziehungen (Demm 2010; Hübner 2010; Splinter 2010), Vorurteile und Einstellungen von Professoren 16, über das gesellschaftliche Leben in einer Stadt und vieles mehr erfahren. In der Regel können Wissenschaftler/-innen in Lebenserinnerungen oder Interviews relativ genau angeben, von wem sie als Studierende die entscheidenden Impulse und Anregungen erfahren haben, welche Lehrveranstaltungen sie begeistert und welche sie eher abgeschreckt haben, welche persönlichen Stärken und Schwächen ihre Professor(inn)en, welches intellektuelle Niveau die Doktorandenseminare hatten, wie gut die Betreuung der Doktorand(inn)en war, wann, wo und von wem die entscheidenden Weichen für ihren beruflichen Erfolg oder Misserfolg gestellt wurden, wann und unter welchen Rahmenbedingungen sie eine neue wissenschaftliche Idee entwickelt haben, wie ihr unmittelbares soziales Umfeld und ihre Fachdisziplin auf die neuen Ideen reagiert haben und weshalb bestimmte Forschungsprojekte nicht verwirklicht werden konnten. Dieser dritte Ansatz hat in der Wissenschaftsgeschichte und in der Prosopografie 17 schon eine lange Tradition, wurde aber bisher nur selten zur Beschreibung von Wissensmilieus verwendet. Bei einigen der in diesem Beitrag erwähnten Fragestellungen mag es angemessen sein, die Zusammenhänge zwischen einzelnen Variablen mit multivariaten Analysen zu untersuchen. Beim sozialen Makrophänomen Wissensmilieu sind jedoch multivariate Verfahren oder mathematische Modelle weniger angebracht. Denn bei der empirischen Analyse von sozialen Makrophänomenen werden nach R. Mayntz (2002: 13) „nicht Abstraktion und maximale Vereinfachung, sondern Konkretisierung und hinreichende Komplexität der Erklärung“ gesucht. Sie nennt diese Vorgangsweise kausa-

16 Eine sehr markante Schilderung des gesellschaftlichen Milieus in der Universitätsstadt Tübingen und der Einstellungen der Professorenschaft in Tübingen durch den Historiker R. Pauli im Jahre achtzehnhundertneunundfünzig findet sich bei Baumgarten (1997: 211). 17 Als Prosopografie bezeichnet man in der Geschichtswissenschaft die systematische Erforschung eines bestimmten Personenkreises nach Herkunft, Karrieren, Familienverbindungen und sozialen Netzwerken.

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le Rekonstruktion. „Die kausale Rekonstruktion sucht keine statischen Zusammenhänge zwischen Variablen, sondern eine Erklärung des fraglichen Makrophänomens durch die Identifikation der an seinem Zustandekommen beteiligten Prozesse und Interdependenzen“ (Mayntz 2002: 13). Bei Wissensmilieus sind systemische Interdependenzen das Entscheidende. „Bei systemischen Interdependenzen geht es um Beziehungen wechselseitiger Abhängigkeit und Beeinflussung zwischen verschiedenen gleichzeitig ablaufenden Prozessen oder zwischen verschiedenen Institutionen. Die einzelnen Prozesse beziehungsweise Institutionen sind gewissermaßen parametrisch miteinander verknüpft, das heißt, sie können wechselseitig wichtige Randbedingungen füreinander verändern.“ (Mayntz 2002: 33)

7. W EITERER F ORSCHUNGSBEDARF Während geographische Forschungen über die Mobilität von Hochqualifizierten, beziehungsweise über talent mobility, brain circulation, academic travel (für eine Literaturübersicht siehe Ackers 2005; Harvey 2010; Heffernan/Jöns 2013; Jöns 2007, 2008, 2009, 2015) und über die Frage, welche wirtschaftlichen Auswirkungen eine Universität hat (Glückler/König 2011), in den letzten Jahren sprunghaft zugenommen haben, gibt es über die Mobilität von Ideen, theoretischen Konzepten und wissenschaftlichen Erkenntnissen, über die Netzwerke und Kooperationsbeziehungen der Wissenschaftler/-innen, Institute und Universitäten (Charle 2004; Meusburger/Schuch 2011) sowie über Wissensmilieus deutlich weniger Publikationen. Ein besonders großer Diskussions- und Forschungsbedarf besteht bei den Fragen, wie unterschiedliche Wissensmilieus entstehen, welche Auswirkungen sie auf Forschungsleistungen und die Mobilität von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen haben können, wie man mit räumlich verorteten sozialen Makrophänomenen methodisch-konzeptionell umgehen soll und inwieweit sich Wissensmilieus in verschiedenen Disziplinen, unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und unterschiedlichen historischen Perioden unterscheiden. Weitgehend ungeklärt ist auch die Frage, welche Auswirkungen moderne Kommunikationstechniken auf Wissensmilieus haben können, beziehungsweise bei welchen Aufgabenstellungen und in welchen Situationen räumliche Nähe und direkte Face-to-face-Kontakte durch moderne Kommunikationstechniken ersetzt werden können. Diskus-

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sionsbedarf besteht auch noch in der Frage, wie lange man einem Milieu angehören muss, um von ihm geprägt zu werden, wie Akteure mit kontroversen Milieus umgehen und welche persönlichen Konstellationen einen Akteur mehr oder weniger empfänglich für Vorbilder machen.

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Arbeitsforschung im Wandel des deutschen Produktionsmodells: Responsivität transdisziplinärer Forschung als Erfolgsfaktor und Risiko H EIKE J ACOBSEN

1. E INLEITUNG Es gibt nur sehr wenige Länder in der Welt, in denen so intensiv mit öffentlicher Förderung zu Problemen der Arbeitsorganisation und der Arbeitswelt geforscht wird wie in Deutschland. In der ersten Hälfte der neunzehnhundertsiebziger Jahre wurde unter dem Titel „Humanisierung des Arbeitslebens“ eine Programmlinie für die angewandte Forschung zur Optimierung von Formen der Organisation von Arbeit und zur Verbesserung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen aufgelegt, die bis heute in einigen ihrer grundlegenden Intentionen fortgeführt wird. Politik, Wissenschaft, Unternehmen und ihre Verbände sowie Gewerkschaften traten bei der langjährigen Etablierung dieser Programmlinie in wechselnden Konstellationen miteinander in Beziehung, in der gemeinsamen Absicht, die Bedingungen von Arbeit und Beschäftigung zu verbessern. Aktuell ist ein neues Programm in Vorbereitung, das bis zum Jahr zweitausendzwanzig Forschung und Entwicklungsvorhaben zu Fragen der künftigen Organisation der Arbeit ermöglichen soll (BMBF 2014, 2015). Hinter dieser Kontinuität steht eine Geschichte wechselnder Definitionen der Ziele und Inhalte, veränderlicher Formen der Steuerung der Pro-

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grammförderung und immer wieder aufgenommener Verhandlungen über das Volumen der Förderung (vgl. zuletzt Ernst/Kopp/Skarpelis-Sperk 2015). Welches waren die Erfolgsbedingungen dieser Kontinuität im Wandel? Wie ist es gelungen, über vier Jahrzehnte immer wieder einen Konsens darüber herzustellen, dass es notwendig und sinnvoll ist, einen so beweglichen und grundlegend konflikthaften Gegenstand wie die Organisation von Arbeit mit den Mitteln der Forschungsförderung zu beeinflussen? Und welche Folgerungen können daraus für die Zukunft der transdisziplinären Arbeitsforschung gezogen werden? Dieser Beitrag geht zwei Thesen nach, die einen Beitrag zur Erklärung dieser Erfolgsgeschichte leisten können. Die erste These stellt die Bedeutung der transferbasierten Forschungsleistungen in den geförderten Projekten in den Mittelpunkt: Die in dieser Programmlinie entwickelten Formen des Transfers (sozial-)wissenschaftlichen Wissens in der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft in enger Kopplung mit den Akteuren der öffentlichen Forschungsförderung wurden als weitgehend akzeptierter Standard erfolgreicher Forschung in diesem Gegenstandsbereich etabliert. Es hat sich ein Verständnis von Wissenstransfer etabliert, das die problemlösende Zusammenarbeit von Praxisakteuren, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf Basis eines geteilten Interesses an der Verbesserung von Arbeitsbedingungen als Regelfall annimmt. Transferbasierte Forschungsleistungen (siehe Froese/Mevissen/Böttcher 2014 et al.; Jostmeier/ Georg/Jacobsen 2014a) gehören nicht zuletzt aufgrund dieser Fördertradition zu den Grundpfeilern der deutschen Arbeitsforschung. Dies ist nicht nur für die Entwicklung der beteiligten sozialwissenschaftlichen Disziplinen relevant, sondern hat auch die Responsivität der Programmlinie selbst maßgeblich gefördert. Es ist offenbar gelungen, die Inhalte der Fördermaßnahmen und Programme immer wieder neu an die sich wandelnden Erfordernisse des Gegenstandes, an die sich im Zuge wirtschaftlicher, technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen verändernden Bedingungen von Arbeit und Beschäftigung, anzuschließen. Die inhaltliche Responsivität der Programme, ihre Anschlussfähigkeit an tagesaktuelle und an sich in der Unternehmenspraxis erst vage mit Blick in die Zukunft abzeichnende Problemstellungen, kann als indirekter Effekt der über Jahre etablierten transferbasierten Forschungstraditionen verstanden werden. Die kollaborative oder koevolutionäre Wissensproduktion in den Projekten, die Erarbeitung wissenschaftlichen Wissens im unmittelbaren Praxiskontext und seine Nut-

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zung für die Lösung aktueller Praxisprobleme, bildet die Grundlage für ein von den Akteuren geteiltes Verständnis erfolgreichen Transfers, beziehungsweise erfolgreicher anwendungsorientierter Forschung (Jostmeier et al. 2014b). Gleichzeitig trug sie zur Herausbildung einer „Community“ erfahrener Wissenschaftler/-innen und einer hochdifferenzierten Landschaft von Instituten in diesem Feld bei. Diese Personen und Organisationen wiederum beteiligen sich teils systematisch, teils punktuell an der Weiterentwicklung der Programmlinie und tragen dadurch zur Aktualität und Responsivität der Programmatik bei. Responsivität und Aktualität sind ohne Zweifel wichtige Voraussetzungen für die über wechselnde Konstellationen immer wieder hergestellte politische Entscheidung zur Fortführung dieser Programmlinie. Warum ist es gerade die Forschung zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen, in der sich ein solch produktiver Kreislauf hat etablieren können? Der Grund für diese Nachhaltigkeit der Programmlinie seit ihren Anfängen in der ersten Hälfte der neunzehnhundertsiebziger Jahre bis heute ist, so eine zweite These, der hohe Stellenwert qualifizierter Arbeit im deutschen Produktionsmodell. Das Produktionsmodell hat sich im Rückblick über die letzten drei bis vier Jahrzehnte erheblich verändert (Bosch et al. 2007). Diese Veränderungen in der Organisation der Arbeit, der Versorgung der Unternehmen mit Qualifikationen, in den Strukturen der Beschäftigungsverhältnisse, in den industriellen Beziehungen, der arbeitsrechtlichen Stellung der Beschäftigten und der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Absicherung beruflicher Statusrechte kennzeichnen einen fundamentalen Wandel der Bedeutung von Arbeit in der Gesellschaft, für die Einzelnen und für die Unternehmen. Eine der Bedingungen der langjährigen Etablierung dieser Förderlinie ist, dass diese inhaltlichen Veränderungen im Gegenstandsbereich und in seiner gesellschaftlichen Bedeutung und Bewertung immer wieder so weit mitvollzogen wurden, dass auch heute eine gewisse politische und wissenschaftliche Unterstützung mobilisiert werden kann, um die tagesaktuellen und künftig erwarteten Probleme der Arbeitswelt aktiv aufzunehmen und entsprechende Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zu fördern und zu bearbeiten. Responsivität der Inhalte und Strukturen der Programmförderung und ein von den Akteuren in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik weitgehend geteiltes Bewusstsein von der Zentralität qualifizierter Arbeit haben also maßgeblich zur Aufrechterhaltung dieser Förderlinie über so lange Zeit

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beigetragen. Eine genauere Untersuchung der Wirkung der einzelnen Fördermaßnahmen und der Konstellationen, der Argumente und Strategien, mit denen versucht wurde, auf die Programmentwicklung Einfluss zu nehmen, wäre interessant, wird hier jedoch nicht geleistet. Stattdessen wird in einem ersten Schritt auf Basis der Literatur zur Programmlinie herausgearbeitet, wie sich Ziele und Steuerungsformen entwickelt haben. Von den Anfängen bis heute wurden die Ziele zunehmend offener und vager formuliert, und die Steuerungselemente verloren an Rigidität und Einfluss. Es bildete sich ein Forschungs- und Programmtyp heraus, der die nachhaltige Responsivität der Programmatik, also ihre Passung mit den Problemen der Unternehmenspraxis, unterstützte (Abschnitt 2). In einem zweiten Schritt werden inhaltliche Beziehungen zwischen dem deutschen Produktionsmodell und den Zielen der Programmlinie skizziert. Es wird deutlich, dass mit der Erosion zentraler Elemente des Produktionsmodells auch die Förderziele vager formuliert und weniger explizit auf den Schutz der Arbeitnehmerinteressen ausgerichtet werden. Gute Arbeitsbedingungen bleiben ein wichtiges Ziel, das jedoch unter den Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus kaum planmäßig mithilfe der Forschungsförderung erreicht werden kann (Abschnitt 3). Abschließend werden Folgerungen gezogen für die weitere Untersuchung dieses Zusammenhangs (Abschnitt 4).

2. T RADITION UND I NNOVATION IN DER F ÖRDERUNG DER ARBEITSFORSCHUNG IN D EUTSCHLAND 2.1 Ziele und Steuerungsformen der ersten Programmgeneration Die vorliegenden historisch-kritischen Betrachtungen zu den Erfahrungen und Wirkungen der Förderung (Raehlmann 2015; Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2009; Sauer 2011; Ernst 2009) ermöglichen eine Rekonstruktion der historischen Situation, in der diese Programmlinie begann. Beim Rückblick auf die Anfänge dieser Förderung herrscht große Einigkeit darüber, dass es eine „neue historische Interessenkonstellation“ (Naschold 1980) war, die in der ersten Hälfte der neunzehnhundertsiebziger Jahre die Begründung dieser Programmlinie ermöglichte. Akteure in Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und in der weiteren Gesellschaft, so diese Analy-

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sen, haben sich darauf verständigt, die Problematik ungünstiger Arbeitsbedingungen als gesamtgesellschaftlich zu lösendes Problem zu skandalisieren und damit politikfähig zu machen, statt sie den Kräfteverhältnissen in den Unternehmen zu überlassen. Der gesellschaftspolitische Gestaltungsanspruch der damaligen sozialliberalen Koalition war getragen von den ersten strukturellen Krisenerscheinungen der industriellen Produktion und von der Lockerung der bis dahin auf Sicherung des Erreichten und Stabilität der Lebensverhältnisse gerichteten kulturellen und politischen Orientierungen. „‚Lebensqualität ist mehr als Lebensstandard‘ hatte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung von 1973 proklamiert und gleichzeitig das Förderprogramm ‚Humanisierung des Arbeitslebens‘ als zentrales Element sozialliberaler Reformpolitik angekündigt“, so erinnert sich der damalige Forschungsminister Hans Matthöfer (2009: 108) an die Anfänge. Kompensation von durch technisch-organisatorische Rationalisierung erhöhten Arbeitsbelastungen mit zunehmenden Einkommen schien nicht mehr ausreichend. Stattdessen wurden Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen: In Deutschland verunglückten besonders viele Beschäftigte im Vergleich zu fast allen anderen westeuropäischen Staaten, und die Zahl der gemeldeten Berufskrankheitsfälle stieg mit exponentiellen Wachstumsraten (Ernst 2009). Zu Beginn der neunzehnhundertsiebziger Jahre schien offenbar die Zeit gekommen, diesen Problemen mit neuen Maßnahmen aktiv zu begegnen, statt sie als Preis der wirtschaftlichen Dynamik hinzunehmen. Eine Rolle spielte auch das wachsende Bewusstsein für die Bedeutung der Bürgerrechte für die Zukunft der Demokratie. Die sozialdemokratische Losung „Mehr Demokratie wagen!“ signalisierte Aufbruchsstimmung. Die politische Botschaft des Programms brachte Hans Matthöfer auf den Punkt: „Freiheit und Gerechtigkeit müssen überall im Arbeitsleben verwirklicht werden [...] Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit sind keine Güter, die wirtschaftlichem Kalkül beliebig geopfert werden können. Nicht der Mensch hat der Produktion, sondern diese hat dem Menschen zu dienen“ (Matthöfer 1978: 15; Ernst (2009: 9). Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit waren also sehr präsent und wurden hier explizit politisch formuliert. Zentralen Ausdruck fand diese politische Einschätzung bereits im damals neuen und als hochbrisantes Reformprojekt intensiv diskutierten Betriebsverfassungsgesetz. Die abhängig Beschäftigten sollten ihre Ansprüche als Bürger eines demokratischen Staates auch im Betrieb verwirklichen

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können und vor einseitiger Benachteiligung und Entmündigung geschützt werden. Das Gesetz stärkte die Informations- und Beteiligungsrechte der betrieblichen Interessenvertretung erheblich, unter anderem wurde dem Betriebsrat ein Anspruch auf Mitgestaltung am Arbeitsplatz auf Basis des neuesten Standes arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse eingeräumt. 1 Mehr Lebensqualität und mehr Gerechtigkeit am Arbeitsplatz sollten also auch durch die Verringerung von gesundheitlichen Gefährdungen erreicht werden. Solche Verbesserungen im Arbeitsschutz gehörten als sozialpolitisches Vorhaben in den Verantwortungsbereich der Arbeitsministerien des Bundes und der Länder. Die bereits im neuen Betriebsverfassungsgesetz geforderten „gesicherten arbeitswissenschaftliche[n] Erkenntnisse“ (Bieneck 2009: 108) gewannen zentrale Bedeutung für die Arbeit der Arbeitsschutzbehörden. Von Seiten des Staates wurde also ein wachsender Bedarf an angewandter arbeitswissenschaftlicher Forschung formuliert; die sozialpolitischen Ziele des Arbeitsschutzes erschienen dabei vordringlich. Dem entspricht die Darstellung eines der späteren Direktoren der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und -arbeitsmedizin, dass das damalige Bundesarbeitsministerium (BMA) die Initiative für die Entwicklung eines entsprechenden Forschungsförderprogramms ergriffen habe (ebd.). Entscheidend für die weitere Entwicklung und die langjährige Kontinuität dürfte jedoch gewesen sein, dass es nicht bei dieser sozialpolitischen Bedarfsformulierung blieb, sondern dass das Thema Arbeitsgestaltung Eingang in die Innovationspolitik und damit in die Forschungsförderung des Bundesforschungsministeriums (BMFT) fand. Aus Sicht des schon genannten späteren Leiters der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, also eines im Arbeitsschutz Engagierten, hatte die Beteiligung des BMFT pragmatische Gründe: Es sei nachrangig durch das BMA „mit ins Boot geholt“ (ebd.: 113) worden, weil dort „die Durchführung finanziell aufwändiger Programme eher möglich war“ (ebd.). Es überrascht nicht, dass aus Sicht des damaligen Forschungsministers der Beitrag seines Mi-

1

BetrVG, 1972: „§ 91 Mitbestimmungsrecht: Werden die Arbeitnehmer durch Änderungen der Arbeitsplätze, des Arbeitsablaufs oder der Arbeitsumgebung, die den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit offensichtlich widersprechen, in besonderer Weise belastet, so kann der Betriebsrat angemessene Maßnahmen zur Abwendung, Milderung oder zum Ausgleich der Belastung verlangen.“

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nisteriums zu Programmentwicklung und -durchführung keineswegs nachgeordnet, sondern substanziell wichtig war. Er sieht die Leistung insbesondere darin, die Wissenschaften mithilfe neuer Förderstrukturen für die Problematik der Qualität von Arbeit und ebenso für die Problematik mangelnder „Umsetzung“ bereits vorliegender Empfehlungen mobilisiert zu haben. Unter der Kapitelüberschrift „Lerneffekte zwingen zum Umdenken“ reflektiert er, dass erst nach einer Anfangsphase mit traditionell angelegten Transferansätzen „Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltungsfähigkeit von Arbeitsplätzen [...] besser eingeschätzt [werden konnten, H.J.]“ (Matthöfer/Herzog 2009: 109). Der Erfolg lebe zum einen „von der Bereitschaft aller Beteiligten, aus Schwierigkeiten zu lernen“, zum anderen von der „sozialen Konsensbildung“ (ebd.). Diesen besonderen Bedingungen der Forschungsförderung im potenziell immer konflikthaften Feld der Arbeitsgestaltung habe das BMFT mit einem neuen Typus von Forschungsförderung Rechnung zu tragen versucht. Mit einer Vielzahl von Vernetzungs- und Beteiligungsinstrumenten wurden auch Instrumente der Begleitung und der Einflussnahme auf die Projekte und das Programm geschaffen: Eine zentrale Rolle übernahm ein mit wissenschaftlichen Referenten und Referentinnen besetzter Projektträger, der im Kontakt mit Betriebsräten und Tarifparteien die Praxisnähe der Programmverwirklichung sicherstellen sollte (ebd.). In der Funktion einer Grenzorganisation (Braun 2004) bildete er eine organisatorische Schnittstelle zwischen den von praktischer Seite Involvierten einerseits und den Forschenden andererseits. Weiter wurde ein mit Sozialpartnern und Forschenden paritätisch besetzter Fachausschuss zur Beratung des Ministeriums bei der Programmentwicklung gebildet. Als ständiges Gremium oblag ihm die Aufgabe, die teils widerstreitenden Interessen der Sozialpartner untereinander und die ebenfalls zumindest vielfältigen Belange der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen zur Sprache zu bringen und in die Arbeit zu integrieren. Darüber hinaus wurden zehn Sachverständigenkreise ebenfalls aus Sozialpartnern und Forschenden einberufen, die die einzelnen Projekte begleiteten und beurteilten und den Projektträger berieten. (Es wäre zu untersuchen, wie genau Begleitung und Bewertung in diesen Gremien gehandhabt wurden.) Schließlich nahmen die Betriebsräte selbst direkten Einfluss auf die durchgeführten Projekte, indem ihre Zustimmung zu den betrieblichen Vorhaben verpflichtend war und „möglichst [...] alle Problempunkte vor Projektbeginn diskutiert und in Form von Betriebsvereinbarungen gere-

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gelt werden“ (Matthöfer/Herzog 2009: 109) sollten. (Auch hier wären genauere Analysen der Projektverläufe wünschenswert.) Der damalige Forschungsminister resümiert: „Erst mit dieser Beteiligungsstruktur erhielt das Programm jene Dynamik, die es in kurzer Zeit auch international zu einem Aufsehen erregenden Modell staatlicher Reform-Initiierung werden ließ“ (ebd.). Es wurde also mittels detailliert ausgearbeiteter Beteiligungs- und Steuerungsformen versucht, die Arbeits- und Sozialwissenschaften eng an die Erfordernisse der Praxis in den Unternehmen heranzuführen und ihre Forschungstätigkeit inhaltlich und methodisch möglichst von Anfang an mit Blick auf den konkreten Nutzen für die Praxis der Arbeitsgestaltung auszurichten. Es wären weitere Untersuchungen notwendig, um die konkreten Bedingungen dieser Forschung und die Folgerungen für Methoden der Analyse und des Transfers systematisch zu rekonstruieren. Die inhaltlichen Ziele des Aktions- und Forschungsprogramms zur Humanisierung des Arbeitslebens (1974–1989), kurz: HdA, umfassten zunächst die Erarbeitung wissenschaftlichen Wissens für die Formulierung von „Schutzdaten, Richtwerten, Mindestanforderungen an Maschinen, Anlagen und Arbeitsstätten“ sowie die „Entwicklung von menschengerechten Arbeitstechnologien“ (BMFT 1975: 33ff.; vgl. Raehlmann 2015: 105). Unter Verantwortung des Arbeitsministeriums sollten konkrete Standards erarbeitet und dort in gesetzliche Vorgaben überführt werden. Für die weiteren Ziele erklärte sich das Forschungsministerium verantwortlich: „Erarbeitung von beispielhaften Vorschlägen und Modellen für die Arbeitsorganisation und die Gestaltung von Arbeitsplätzen sowie Verbreitung und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Betriebserfahrungen“ (ebd.). Es differenzierte diese Ziele weiter aus, indem inhaltliche Festlegungen vorgegeben wurden, die insbesondere Maßnahmen zur Etablierung ganzheitlicherer Arbeitsvollzüge an Arbeitsplätzen mit stark arbeitsteilig organisierten Tätigkeitszuschnitten sowie „mehr Chancen zur Kommunikation und Kooperation sowie Partizipation“ (Raehlmann 2015: 106) ermöglichten. Zudem sollten Über- und Unterbeanspruchungen abgebaut werden, sodass weniger einseitig belastende, aber auch weniger inhaltlich unterfordernde Arbeitsplatzzuschnitte entstehen (ebd.). Aus den inhaltlichen Zielen spricht die Botschaft, dass Arbeit der Entfaltung der persönlichen Potenziale des Einzelnen dienen sollte und dort, wo dies noch nicht verwirklicht ist, durch entsprechende Arbeitsgestaltungsmaßnahmen dieses Ideal so weit wie ir-

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gend möglich anzustreben ist. Dafür sollten Modell-Lösungen entwickelt und die aktuellen Erkenntnisse in die Praxis vermittelt werden. In der ersten Phase der Programmlinie wurde versucht, diesen „Umsetzungsprozess“ innerhalb des Programms über Strukturen und Prozesse zu gewährleisten, durch die eine Konsensbildung institutionalisiert wurde. Zusätzlich zu den oben genannten Gremien und zum Beteiligungsrecht der Betriebsräte konnten die Tarifparteien jeweils für ihre Zielgruppen eigene Transferprojekte auflegen, und es wurden branchenbezogene Umsetzungsprojekte wiederum unter Beteiligung der jeweiligen Sozialpartner aufgelegt (siehe Neubauer/Oehlke 2009: 95). Mit diesem Programm wurde also ein originäres forschungspolitisches Projekt der damaligen sozialliberalen Regierung verwirklicht. Statt zu erwarten, dass der „technische Fortschritt“ durch weitere Automatisierung gesundheitsgefährdende Arbeitsbelastungen quasi von selbst verringern werde, wurden große Hoffnungen in die Gestaltbarkeit der Arbeitsbedingungen gesetzt. Voraussetzung für die „Gestaltungseuphorie“ (Sauer 2011: 3) war zunächst, dass die Bedingungen am Arbeitsplatz aus dem unmittelbaren Spiel der Kräfte zwischen Arbeit und Kapital herausgelöst und reflexiv gewendet und bearbeitet wurden. Erster Schritt dazu war die Erarbeitung von wissenschaftlichen Daten optimaler Arbeitsgestaltung, also die oben genannten Standards und Normen, auf die sich beide Seiten beziehen konnten. Dieses Wissen konnte noch auf Basis eines traditionellen Verständnisses von Wissenstransfer und der Verwendung wissenschaftlichen Wissens für die Lösung praktischer Probleme genutzt werden. Weit darüber hinaus ging die forschungspolitische Innovation, die darin bestand, die Wissenschaftler/-innen direkt an den Arbeitsgestaltungsmaßnahmen zu beteiligen und dabei den Praxisakteuren in den einzelnen Projekten und darüber hinaus auf der Ebene des Programms explizit eigene Einflussnahmen zuzugestehen. Diese strukturelle Verankerung der Kooperation von Wissenschaft, Wirtschaft und Sozialpartnern vermittelte dem Programm nach Einschätzung zweier früher als Referenten des Projektträgers aktiver Autoren die Funktion eines „arbeitspolitischen Generators“ (Neubauer/Oehlke 2009: 95). Die Sozialpartner waren also nicht nur Adressaten der Wissenschaft, sondern wurden als eigenständige Akteure im Forschung-, Entwicklungs- und Umsetzungsprozess angesehen.

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2.2 Weiterentwicklung von Zielen und Steuerungsformen in den folgenden Programmen In der inzwischen über vierzigjährigen Geschichte dieser Programmlinie wurden bisher vier aufeinanderfolgende Forschungsprogramme durchge2 führt. Die inhaltlichen Ziele, die Formate der Förderung und die Instrumente der Programmsteuerung veränderten sich im Zeitverlauf. Hier können nicht die Details dieser Programmgeschichte untersucht werden, eine Überblicksdarstellung eines der früheren Leiter des mit der Durchführung beauftragten Projektträgers gibt Anhaltspunkte für die wesentlichen Veränderungen (siehe Tabelle 1):

2

Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens (1974–1989), Arbeit und Technik (1990–1994), Innovative Arbeitsgestaltung – Zukunft der Arbeit (2000–2005), Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt (2006–2015), vgl. Ernst 2009.

Ende 1983

1989

1994

1999

2005

2015

2020 (?)

Beginn 1974

1984

1990

1995

2000

2006

2016

„Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt“ „Zukunft der Arbeit“

„Innovative Arbeitsgestaltung – Zukunft der Arbeit“

Mittelfristige Handlungsfelder

„Arbeit und Technik“

Neues HDA-Programm

Titel Forschungs- und Aktionsprogramm „Humanisierung des Arbeitslebens“ (HdA)

Schutz der Gesundheit durch Abbau und Abwehr gefährdender Belastungen und menschengerechte Gestaltung von Arbeit und Technik Ziele und Grundsätze des Programms „Arbeit und Technik“ bleiben erhalten Förderung und Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten von Individuen und Unternehmen, damit sie die Veränderungsprozesse in der Arbeitswelt aktiv und menschengerecht gestalten können und so zu Unternehmenserfolg und Beschäftigung beitragen Innovationsfähigkeit durch Verknüpfung von Personal-, Organisations- und Kompetenzentwicklung in einer modernen Arbeitswelt stärken

Ziele Erarbeitung von Schutzdaten, Richtwerten; Entwicklung menschen-gerechter Arbeitstechnologien; Erarbeitung von beispielhaften Vorschlägen und Modellen; Verbreitung und Anwendung (Ziele und Grundsätze des Programms bleiben erhalten)

(Quelle: nach Ernst 2009: 46; eigene Ergänzungen) BMBF

BMBF

BMBF, BMA, BMBW BMBF in Kooperation mit BMAS, BMWi

BMFT, BMA, BMBW

BMFT, BMA

Träger BMFT, BMA

noch unbekannt

Beirat (geplant), Adhoc-Gutachterkreise

Beirat, Ad-hocGutachterkreise

Gesprächskreis, Sachverständigenkreise, Koordinierungskreise Gesprächskreis, Sachverständigenkreise, Koordinierungskreise Gesprächskreis

Beratungsgremien Gesprächskreis, Sachverständigenkreise

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Tabelle 1: Ziele und Steuerungselemente der Programmlinie Arbeitsforschung

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Den ersten beiden Programmen mit Laufzeiten von neunzehnhundertvierundsiebzig bis neunzehnhundertdreiundachtzig und neunzehnhundertvierundachtzig bis neunzehnhundertneunundachtzig (hier: „Altes HdAProgramm“ und „Neues HdA-Programm“) folgte ein weiteres Programm unter anderem Titel („Arbeit und Technik“), das von neunzehnhundertneunzig bis neunzehnhundertvierundneunzig lief. Daran schloss eine Phase ohne dezidierte neue Programmatik an, in der sogenannte „mittelfristige Handlungsfelder“ in Einzelmaßnahmen eruiert wurden. Mit einem neuen Programm (ab 2000) rückte die erste rot-grüne Bundesregierung neue Zielsetzungen in den Vordergrund: Es sollten insbesondere die Potenziale der Arbeitenden und die dauernde Veränderungsfähigkeit der Betriebe gefördert werden. Die Abwehr gesundheitsgefährdender Belastungen trat dadurch in den Hintergrund. Im folgenden Programm („Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt“), das über zwei Programmgenerationen (2000–2005 und 2006–2015) bis heute fortgeführt wurde, rückten die zukunftsorientierten Zielsetzungen weiter ins Zentrum: „Um den Herausforderungen des kontinuierlichen Wandels in der Arbeitswelt Rechnung zu tragen und frühzeitig die Weichen für optimal aufeinander abgestimmte und gute Arbeitsbedingungen zu stellen, fördert das BMBF [...] innovative Konzepte der Personal-, Kompetenz- und Organisationsentwicklung. Das [...] Programm sieht in der Innovationsfähigkeit von Menschen, Unternehmen und Netzwerken einen Schlüsselfaktor zur langfristigen Sicherung des Forschungs- und Wirtschaftsstandortes. Ziel ist es daher, die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft basierend auf einem ganzheitlichen Verständnis als zentralem Ansatzpunkt für Wachstum und Beschäftigung zu stärken.“ (BMBF 2012: 178)

Ansatzpunkt dieser Programmatik sind also weitaus weniger als in den früheren Programmen beobachtete Probleme und Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen Arbeitseinsatzes. Vielmehr soll es um die Verbesserung der Ausgangspositionen der Unternehmen für künftig erwarteten Wandel gemäß bestimmten Leitbildern gehen: „Menschen, die ihr Können, ihre Kreativität und ihre Motivation in die Arbeitswelt einbringen und ihre Kompetenzen dort auch (weiter)entwickeln.“

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„Unternehmen, die Voraussetzungen für erfolgreiche Kompetenzentwicklungen schaffen und damit zur Quelle neuer Ideen, erfolgreicher Produkte und neuer Beschäftigung werden.“ „Netzwerke, die über die Zusammenarbeit Marktchancen und Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen.“ (BMBF 2012: 178)

Die Leitbildformulierungen richten sich folglich an Personen, Organisationen und Netzwerke (aus Organisationen), die ihr Handeln zukunftsorientiert ausrichten und ihr Potenzial für eine ökonomisch erfolgreiche Zukunft nutzen wollen und sollen. Diese Potenzialorientierung geht notwendigerweise mit erheblichen Unschärfen hinsichtlich dessen einher, was genau getan und was genau erreicht werden soll. Verstärkt wird dieser Eindruck von Zieloffenheit durch die häufige Verwendung von Begriffspaaren und Denkfiguren, die Widersprüche gegeneinander abwägen und Konfliktpotenziale durch Synthesen zu vermindern versuchen. Einige Beispiele aus den Inhalten des Rahmenprogramms und den bisher veröffentlichten sieben thematisch ausgerichteten Förderbekanntmachungen seien hier genannt: Der Förderschwerpunkt „Präventiver Arbeits- und Gesundheitsschutz“ (2006–2010) sollte dazu beitragen, „Prävention in betriebliche Innovationsstrategien (zu) integrieren“ (Ernst 2009: 43). Der Schutz vor Gesundheitsgefährdungen soll so zum „Instrument der Wettbewerbsfähigkeit“ (ebd.) werden – statt als potenziell kostenträchtige, staatlicherseits verordnete Norm geduldet zu werden. Im Förderschwerpunkt „Balance von Flexibilität und Stabilität in einer sich wandelnden Arbeitswelt“ (2009–2013) sollte der Bedarf der Unternehmen an flexibel einsetzbarer Arbeit in Beziehung gesetzt werden zu einem „Mindestmaß an Stabilität“, denn, so wird begründet, ohne dieses seien „wichtige Kriterien für Unternehmen und Beschäftigte wie Arbeitsplatzsicherheit, planbare Erwerbsbiografien, Kundenbindung, Einzigartigkeit, Per-sonal- und Organisationsentwicklung usw. nicht möglich“ (BMBF 2008). Hier wird eine weitgehende Interessenidentität von Beschäftigten und Unternehmen angenommen, die in der Praxis aber sehr fragil sein dürfte. Im Förderschwerpunkt „Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements (2007–2012) sollten „Treiber und Hemmnisse im Innovationsprozess“ identifiziert werden, „um eine erfolgreiche Gestaltung von Innovationsprozessen zu ermöglichen“ (BMBF 2007b). Die subjektiven Po-

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tenziale der Beschäftigten konnten hier als innovationsförderlich betrachtet werden, weil sie Kreativität ermöglichen. Sie könnten aber zugleich hinderlich sein, weil sie auch Widerstände gegen negative Veränderungen der Arbeitssituation beinhalten (Jacobsen/Jostmeier/Georg 2010). Wie sollen diese potenzialorientierten und widerspruchsoffenen Ziele erreicht werden? Im Unterschied zu den Anfängen (s. o.) werden im aktuellen Programm systematische Beteiligungs- oder Steuerungsformate nicht mehr durchgängig vorgegeben. Die obige Tabelle ist in dieser Hinsicht etwas unscharf. Die dort unter „Beratungsgremien“ angeführten Akteure mit steuerndem Einfluss auf die Programme haben zwar einen Namenswechsel durchlaufen, scheinen sich aber auf den ersten Blick nicht wesentlich verändert zu haben. Dabei stehen hinter dem Begriff „Gesprächskreise“ sehr unterschiedlich strukturierte und mit unterschiedlicher Handlungsmacht ausgestattete Gremien, respektive eher unverbindlich diskutierende Arbeitskreise. Aus Berichten der Beteiligten (Neubauer/Oehlke 2009; Ernst 2009) geht hervor, dass die Verbindlichkeit dieser Gruppen insbesondere seit Beginn der Nullerjahre erheblich reduziert wurde. Der für das seit zweitausendfünf laufende Programm ursprünglich fest eingeplante Beirat wurde über neun Jahre immer wieder aufgeschoben und erst im Herbst zweitausendvierzehn tatsächlich eingerichtet. Die Steuerungsformen sind also im Laufe der Zeit weniger stark institutionalisiert worden. Dennoch wird weiter der Anspruch verfolgt, unmittelbar praxisrelevantes und von den Sozialpartnern auch umsetzbares Gestaltungswissen zu erarbeiten. Der Anspruch an die wissenschaftliche Qualität („Exzellenz“) ist zugleich verstärkt worden: „mit einer engen Kooperation zwischen Forschung und Praxis [soll, H.J.] der Forschungsexzellenz Vorschub geleistet und [es sollen, H.J.] Wege für eine langfristig angelegte betriebliche Personal- und Organisationsentwicklung aufgezeigt werden, die auf sozial und wirtschaftlich tragfähigen Konzepten beruht.“ (BMBF 2012: 178)

Wie genau soll dies geschehen und wie wird beurteilt, ob es gelingt? Implizit wird deutlich, dass von der transferbasierten Forschungsleistung als solcher erwartet wird, dass sie sowohl wissenschaftliche als auch praktische, nämlich soziale und wirtschaftliche Ziele erreichen kann. Wurden in der ersten Programmgeneration die praktischen Ziele noch durch den Einfluss begleitender und kontrollierender Gremien aus Angehörigen der Praxis si-

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cherzustellen versucht, so scheint inzwischen selbstverständlich, dass auf der Ebene der einzelnen Projekte „ko-evolutionäre Wissensproduktion“ (Jostmeier/Georg/ Jacobsen 2014a) stattfindet, die Wissenschaft und Praxis integriert. Dies zeigt sich auch in den aktuellen Ausschreibungen, in denen solche Formen der Zusammenarbeit auf Projektebene als Fördervoraussetzung formuliert werden (vgl. BMBF 2014). Die dafür möglichen Formen wurden an anderer Stelle beschrieben (Jostmeier/Georg/Jacobsen 2014b; Bergmann et al. 2010). Allerdings gibt es hier erheblichen Forschungsbedarf, um die gefundenen Formen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und sie weiter zu verbessern (so z. B. Fricke 2014). Oberhalb der Ebene der einzelnen Projekte wurden in den letzten zehn Jahren neue Steuerungselemente institutionalisiert, an denen jedoch nicht mehr die Sozialpartner beteiligt sind, sondern in denen die Wissenschaftler/-innen selbst ihre Arbeit und deren praktischen Nutzen optimieren und an die Bedarfe der Praxis anschließen sollen. Mit den Instrumenten eines „lernenden Programms“ (BMBF 2012: 178) sollen insbesondere in thematisch zusammengefassten Gruppen aus mehreren Projekten (Fokusgruppen) Synergien ermöglicht und Transferaktivitäten gemeinsam geplant und durchgeführt werden. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass es damit gelingen kann, sowohl wissenschaftlich relevantes als auch praktisch nützliches Wissen innerhalb der Projekte und im Gesamtzusammenhang eines thematisch definierten Programmteils (Förderschwerpunkt) zu erzeugen (Jacobsen/ Schallock 2010; Jostmeier/Georg/Jacobsen 2014b) 3. Zugleich ist offensichtlich, dass die „weiche“ Steuerungsform des lernenden Programms neue Räume für wechselseitige Anerkennung und Kooperation schafft. Neben den thematischen Fokusgruppen fungieren begleitende „Metaprojekte“ als Initiatoren und Katalysatoren für die Herausbildung neuer Fragestellungen, die in künftige Programme übernommen werden können. Diese Steuerungselemente stabilisieren zudem die oben genannte Community der in diesen Projekten tätigen Personen aus Wissenschaft und Beratung und zum Teil auch aus Unternehmen, die als Praxispartner an den Projekten beteiligt sind. In dieser Vernetzung wiederum liegen Chancen für die weitere mittelbis langfristige Stabilisierung der Programmlinie. Entscheidend ist hier we-

3

Eine laufend aktualisierte Übersicht über alle Publikationen aus den geförderten Projekten stellt der Projektträger bereit: http://pt-ad.pt-dlr.de/de/121.php

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niger, dass Kooperation als solche stabilisierend wirkt, als vielmehr, dass es auf dieser Basis besser möglich ist, inhaltliche Impulse für die weitere Programmentwicklung zu entwickeln und sich damit in der politischen Arena Gehör zu verschaffen.

3. D AS DEUTSCHE P RODUKTIONS - UND B ESCHÄFTIGUNGSMODELL UND SEIN W IDERHALL IN DER P ROGRAMMLINIE ARBEITSFORSCHUNG Zu den Erfolgsbedingungen der Programmlinie gehört ohne Zweifel ihre inhaltliche Wandlungsfähigkeit beziehungsweise Responsivität gegenüber den Veränderungen der Organisation von Arbeit in den Unternehmen in Deutschland. Traditionell kommt qualifizierter Arbeit im deutschen Produktionsmodell eine zentrale Bedeutung zu, und dem entspricht der weitgehende gesellschaftliche Konsens, dass qualifizierte Arbeit und gute Arbeitsbedingungen sowohl für die Unternehmen als auch für die Individuen außerordentlich bedeutsam sind. Um die Entwicklung der Programmlinie zu verstehen, ist es also wichtig, den Veränderungen des Stellenwerts von Arbeit im Produktionsmodell nachzugehen. Entsprechende Untersuchungen typisch verschiedener nationaler Variationen von Produktions- und Beschäftigungsmodellen systematisieren institutionelle Arrangements, beginnend mit Werten, Normen, moralischen Prinzipien, Regeln und „Handlungsrezepten“ (Hollingsworth 2000: 280) über „Ordnungsarrangements“ wie das Bildungssystem, das System industrieller Beziehungen, die Ordnung des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherung bis zur Ebene der Strukturen sowie des Handelns von Unternehmen und Organisationen. Die Ausprägungen dieser institutionellen Ebenen stehen in enger Beziehung zueinander. Sie verändern sich dementsprechend und in Abhängigkeit voneinander. Die nationalen Konfigurationen solcher institutionellen Konstellationen werden als nationale soziale Systeme der Produktion oder als Produktionsmodelle bezeichnet. Als typisch für das traditionelle deutsche Produktionsmodell wurde die „diversifizierte Qualitätsproduktion“ (Streeck 1991) identifiziert, die unter anderem gekennzeichnet ist durch relativ langfristig orientierte betriebliche Strategien, durch einen Wettbewerb über Qualität statt über geringe Kosten und durch den flexiblen Einsatz qualifizierter Arbeit. Ein zentrales Element

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eines Produktionsmodells ist ein entsprechendes Beschäftigungsmodell, also ein mit der institutionellen Konfiguration des Produktionssystems kompatibles Muster der Nutzung von Arbeitskraft, der Qualifizierung und Rekrutierung von Personal. Das deutsche Beschäftigungsmodell gilt als in besonderem Maße auf hoch qualifizierte Beschäftigung, eng an die betriebliche Praxis gebundene Berufsausbildung und wenig arbeitsteilige Organisation der Arbeit orientiertes System (vgl. auch Streeck 1991; Herrigel 1996). In Auseinandersetzung mit den anhaltenden strukturellen Umbrüchen der globalen und nationalen Ökonomien wurden in den letzten Jahren einige neuere Analysen zum deutschen Beschäftigungsmodell vorgelegt (vgl. Kirchner/Beyer/Ludwig 2012; Bosch et al. 2007). Bosch et al. untersuchen, ob die verbreitete Einschätzung auch heute noch zutrifft, „dass die hohe Wertschöpfung, die in der qualifikationsgestützten und qualitätsorientierten verarbeitenden (Export-)Industrie erzielt wird, mittels verallgemeinernder Institutionen wie dem Tarifvertragssystem, dem Arbeitsrecht und dem Sozialstaat der gesamten Gesellschaft zugute kommt“ (2007: 319) und damit „die für das deutsche Modell typische Verknüpfung von wirtschaftlicher Dynamik und geringer sozialer Ungleichheit“ (ebd.) ermöglicht. Dazu betrachten sie einige zentrale Dimensionen des Beschäftigungsmodells: die Eigentums- beziehungsweise Corporate-Governance-Struktur der Unternehmen, die berufliche Bildung und die Arbeitsorganisation, das System der industriellen Beziehungen, das System der sozialen Sicherung, das Arbeitsrecht sowie den Arbeitsmarkt. Im Folgenden wird an diese Analyse angeschlossen und geprüft, wie sich die Bedingungen in der Ausgangssituation und in ihrer Veränderung in der jeweiligen Dimension in Zielen, Inhalten und Steuerungsformaten der Programmlinie niederschlagen. 3.1 Eigentumsverhältnisse und Strukturen der Corporate Governance Bosch et al. (2007) skizzieren die traditionellen Eigentumsverhältnisse in der deutschen Industrie als überwiegend langfristig stabil. Wechselseitige Beteiligungen der Firmen untereinander sowie personelle Verknüpfungen schaffen zudem eine gewisse wechselseitige Transparenz über Strategien. In vertikal hoch integrierten Firmen werden Wertschöpfungsketten über relativ große Reichweiten, also etwa von der Planung bis zum Vertrieb, unternehmensintern organisiert.

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Die Dominanz stabiler Eigentümerschaft schlägt sich in den Anfängen der Programmlinie nieder in der ursprünglich sehr ausgeprägten Betriebsorientierung der Vorhaben: „Der Betrieb war und ist der zentrale Ansatzpunkt von Maßnahmen zur Humanisierung des Arbeitslebens im Rahmen des Programms. Die Betriebsprojekte vereinigten bis neunzehnhundertachtzig circa einundsechzig Prozent der Fördersumme auf sich“, stellen beispielsweise der damalige Leiter des Projektträgers, Karl Furmaniak und sein Mitarbeiter Peter Salfer fest (1981: 238). Das aktuelle Programm dagegen spricht Unternehmen nur noch als einen Adressaten neben den Zielgruppen „die Menschen“ und „Netzwerke“ an. Inzwischen gibt es auch Projekte, die nicht Betriebe, sondern zum Beispiel „kleine Selbstständige“ adressieren. Netzwerke werden insbesondere in den Blick genommen, um auf über- und zwischenbetrieblicher Ebene Synergieeffekte durch gemeinsame Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Kompetenzentwicklung zu erzielen. Darin zeigt sich ein gewisser Bezug zur Verringerung der vertikalen Integration durch Outsourcing sowie Auf- und Abspaltung von Unternehmensteilen. Das Unternehmen erscheint heute nicht mehr als einzig maßgeblicher Ort, an dem über die Qualität von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen entschieden wird und von dessen Strategie es abhängt, ob Ansprüche der Beschäftigten an ihre Arbeit erfüllt werden. Die Orientierung am Shareholder-Value, kurzfristige Renditeerwartungen und ähnliche Verhaltensweisen relativieren die Verlässlichkeit von Unternehmen als arbeitspolitische Akteure und zwingen dazu, Selbstorganisationsfähigkeiten der Beschäftigten und Vernetzungspotenziale in den Vordergrund zu stellen, wie es in den jüngeren Programmen auch geschieht. 3.2 Arbeitsorganisation und Qualifikation Im traditionellen Modell konnten die Produktionsprozesse auf Basis qualifizierter Facharbeit so organisiert werden, dass nur wenige hierarchische Ebenen mit Anweisungs- und Kontrollfunktionen notwendig waren und funktional flexibel auf Änderungen der Produktionserfordernisse reagiert werden konnte. Der Stellenwert qualifizierter Arbeit war im Programm grundsätzlich unumstritten. Wichtiges Ziel war, ihm auch dort zu seinem Recht zu verhelfen, wo er im Arbeitsalltag nicht präsent war, nämlich an den Arbeitsplätzen im Bergbau und in der industriellen Produktion, später auch in „Büro und Verwaltung“, die durch hocharbeitsteilige Strukturen

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meist sinnentleert und für die Beschäftigten vor allem einseitig belastend waren. Das Ideal der beruflich qualifizierten Arbeit wurde auch für diese Tätigkeitsbereiche postuliert. Als Zielvorstellungen des HdA-Programms fasst Irene Raehlmann (2015) in einem resümierenden Rückblick zusammen: „Erstens Verbesserung der Arbeitsinhalte und Arbeitsbeziehungen: Die Arbeitsinhalte sollen zu ganzheitlichen Arbeitsvollzügen weiterentwickelt werden. Die Ergänzung um dispositive und kontrollierende Tätigkeiten eröffnet Möglichkeiten zur Höherqualifizierung“ (ebd.: 116). Allerdings sah die Wirklichkeit der geförderten Projekte anders aus: „Höherqualifizierung: Dieses Ziel spielte in der Förderungspraxis nicht die zentrale Rolle [...] Der ehrgeizige Anspruch wurde kaum realisiert. Qualifizierungsmaßnahmen verharrten auf einem relativ niedrigen Niveau“ (ebd.: 107f.). Im heutigen Programm geht es fast gar nicht mehr um Qualifizierung für bestimmte Tätigkeiten, sondern um „breite Kompetenzen [...] weit über reine Fachqualifikationen hinaus. Innovationskompetenz [umfasst auch, H.J.] Handlungs- und Umsetzungskompetenzen, wie beispielsweise Teamund Führungsfähigkeit, [also, H.J.] spezielle soziale, emotionale und kommunikative Kompetenzen“ (BMBF 2007b: 4). Ebenso geht es weniger um konkrete Gestaltung angemessener Arbeitsorganisation als sehr viel allgemeiner um die Berücksichtigung organisationaler Zusammenhänge im Sinne der oben schon genannten Integration von Personal- und Organisationsentwicklung. Damit greift das Programm Widersprüche in der aktuellen Unternehmenspraxis auf, die eine Polarisierung zwischen hochintegrierten und neuen wie alten hocharbeitsteiligen Formen der Arbeitsorganisation erkennen lassen (Sauer 2013). Die weiterhin hohen fachlichen Qualifikationen eröffnen in integrierten Arbeitsformen Spielräume für hochgradig „subjektivierte“ Arbeit, also für Anforderungen an die Beschäftigten, ihre persönlichen Potenziale im Sinne des Unternehmenserfolges eigenverantwortlich einzubringen. Personal- und Organisationsentwicklung zu integrieren, kann ein Weg sein, um Arbeitsplatzzuschnitte und Funktionen flexibel zu halten. Damit steigen die Anforderungen an Team- und Führungsfähigkeiten, wie sie im aktuellen Programm gefragt sind.

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3.3 Berufliche Bildung Das System der dualen Berufsausbildung erfasste früher die Mehrzahl der Jugendlichen und eröffnete den Betrieben einen ständigen Zustrom von an den aktuellen Technologien in betrieblicher Regie ausgebildeten jungen Mitarbeitern. Diese „Skill Machine“ (Piore) geriet einerseits durch die Tendenz zur Akademisierung der beruflichen Bildung unter Druck, also durch steigende Anteile von Abiturienten und ihre Entscheidungen für ein Hochschulstudium. Andererseits zogen sich auch viele Unternehmen aus dem Ausbildungssystem zurück. Insbesondere in einer lang anhaltenden Phase hoher Jugendarbeitslosigkeit in den neunzehnhundertachtziger bis neunzehnhundertneunziger Jahren wurden die Übergänge vom Schul- ins Berufsbildungssystem brüchiger, und der Anteil der Jugendlichen ohne Berufsausbildung nahm zu. Dennoch und trotz dieser Erosionstendenzen hat der Stellenwert der Facharbeiter- und Fachangestelltenqualifikationen für die betriebliche Arbeitsorganisation nicht auf ganzer Linie an Gewicht verloren, sondern die tripartistisch institutionalisierte duale Berufsausbildung wurde in weiten Bereichen grundlegend überarbeitet, und es wurden „Grundberufe mit breiten Basisqualifikationen“ (Bosch et al. 2007: 329) eingerichtet, die auch heute ein großes Potenzial für funktional flexiblen Einsatz bieten. Fachliche Qualifikationen erscheinen im laufenden Programm durchaus als wesentlicher Anker des wirtschaftlichen Erfolgs, beziehungsweise der Innovationsfähigkeit; die bisherigen Strukturen der Ausbildung werden jedoch als veränderungswürdig betrachtet: Es gehe „[...] u. a. um die Frage nach Strukturen in der dualen beruflichen Erstausbildung. Die Veränderungen in der Unternehmensorganisation sowie die Strukturen und Regelungen, beispielsweise der beruflichen Ausbildung, entwickeln sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Neue Organisationsformen (virtuelle Strukturen etc.) sind möglicherweise nicht oder nur schwierig in die bestehenden rechtlichen Bedingungen beruflicher Ausbildung einzubinden. In der Arbeitswelt, die zunehmend vernetzt erscheint, ist dann zu überprüfen, ob normierte Strukturen der Ausbildung weiterhin in der Lage sind, duale Ausbildungsangebote zu sichern.“ (BMBF 2014: 7)

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Das System der dualen Ausbildung wird hier also infrage gestellt, stattdessen solle die Forschung „der Frage nach[zu]gehen, welche Anforderungen moderne Organisationsformen, flexible Arbeitszeitregelungen und innovative Arbeitsgestaltung an Inhalte und Struktur der (dualen) Berufsausbildung stellen. Dies kehrt die derzeit übliche Sichtweise (wie sind Unternehmen zu gestalten, um im Kontext der bestehenden Strukturen ausbildungsfähig zu sein) um“ (BMBF 2014: 10). Hier werden also Impulse zu setzen versucht, um die berufliche Ausbildung an neue Anforderungen der Produktionsprozesse anzupassen. Allerdings ist außer an dieser Stelle im aktuellen Programm nicht mehr die Rede von Berufen. Sie werden absolut dominiert von den schon erwähnten Kompetenzen jenseits spezifischer Fachqualifikationen und jenseits der sozialen Form eines bestimmten Bündels an Qualifikationen, wie sie sich in einem bestimmten Beruf zeigt. Diese Relativierung der Beruflichkeit korrespondiert mit den arbeitsmarktpolitischen Veränderungen. 3.4 Arbeitsrecht und Arbeitsmarktpolitik Traditionell wurden die internen und berufsfachlich orientierten Arbeitsmärkte durch starke Kündigungsschutzregeln unterstützt. Die Beruflichkeit der Arbeitskraft wurde geschützt durch partielle Dekommodifizierung, über eine am vorherigen Einkommen und erreichten beruflichen Status orientierte Transferleistung im Fall von Arbeitslosigkeit und durch entsprechend auf qualifikationsadäquate Positionen ausgerichtete Vermittlungsbemühungen. Das arbeitsmarktpolitische Gewicht der Beruflichkeit war im frühen Programm insofern repräsentiert, als die industrielle Facharbeit und später auch die kaufmännische und verwaltende Angestelltenarbeit implizites und häufig auch explizites Leitbild der Forschungs- und Gestaltungsmaßnahmen war. Es ging darum, den Verlusten an Beruflichkeit des Arbeitshandelns, die durch fortschreitende Arbeitsteilung und technische Unterstützung an vielen Arbeitsplätzen eintrat, entgegenzutreten und dem Anspruch der Beschäftigten auf eine nicht nur schädigungsfreie, sondern auch ihre berufliche Identität stützende Arbeit gerecht zu werden. Allerdings waren die Interessen hier nicht gleich verteilt. Aus Sicht der Forschung und des Projektträgers wurde diesem Anspruch zu wenig nachgekommen, denn geeignete Qualifizierungsmaßnahmen hätten den Rahmen des Betriebes über-

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schreiten müssen, um auch extern verwertbare berufliche Qualifikationen zu ermöglichen (Raehlmann 2015: 108). Die Arbeitsmarktpolitik und insbesondere die Reformen der Nullerjahre haben das sozialpolitische Prinzip der Beruflichkeit erheblich geschwächt. Die Zumutbarkeitsregeln der Arbeitsverwaltung bieten heute fast keinen Schutz mehr davor, einen einmal erreichten beruflichen Status wieder zu verlieren. Zudem unterläuft die Vermittlungspraxis selbst die tarifrechtlichen Normen, indem auch untertarifliche Bezahlung als zumutbar gilt. Arbeitskraft wird insofern rekommodifiziert, das heißt in höherem Maße direkt den Marktbedingungen ausgesetzt. Kündigungen und der Abschluss atypischer Beschäftigungsverhältnisse mit Arbeitsbedingungen unterhalb der Qualität eines Normalarbeitsverhältnisses wurden erheblich erleichtert. In Komplementarität dazu geht es im derzeitigen Programm stark um den Einzelnen; Beruflichkeit – also die soziale Form der institutionalisierten Bündelung von Qualifikationen – kommt als Kategorie nicht mehr vor. Im Mittelpunkt steht das Individuum, das in die Lage versetzt werden soll, sich für ständige Veränderung bereitzuhalten und diese auch selbst proaktiv innovativ anzuregen: „Neuere Ansätze zur Innovationsfähigkeit auf der individuellen Ebene zielen auf breite Kompetenzen ab und gehen damit weit über reine Fachqualifikationen der Einzelnen hinaus“ (BMBF 2007a: 15). Die Einzelnen sollen ihre Potenziale einbringen: „Daneben wird es darauf ankommen, eine effektive Beteiligung unterschiedlicher Belegschaftsgruppen zu gewährleisten, deren Potenziale und Anforderungen einzubeziehen und durch organisatorische Veränderungen, Personal- und KompetenzEntwicklung sowie Technikgestaltung zu unterstützen“ (ebd.: 10).

3.5 Industrielle Beziehungen Die Beschäftigungsbedingungen einer Mehrheit der abhängig Beschäftigten waren zu Beginn der Programmlinie kollektiv reguliert durch Branchentarifverträge, beziehungsweise durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Auf betrieblicher Ebene war die gesetzlich verankerte Mitbestimmung ein wesentliches Beteiligungsinstrument. Die Institutionen der industriellen Beziehungen gehörten zu den Fundamenten des ersten Programms, wie etwa Paul Oehlke formuliert:

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„Entscheidend für seine [des HdA-Programms, H.J.] Wirkungsmechanismen war die Übersetzung der reformpolitischen Ausgangskonstellation der gesetzlich geregelten Tarifautonomie und Mitbestimmung in paritätische Beteiligungsregelungen bei den Gestaltungsprojekten der Unternehmen und in allen programmbegleitenden Beratungsgremien sowie in trägerautonome Umsetzungsprojekte der Tarifparteien mit Bildungsbausteinen und Beratungskapazitäten für ihre Zielgruppen.“ (Oehlke 2014: 263)

Betriebsräte und Gewerkschaften waren in alle Stadien der Projektentwicklung und -durchführung mit eigener Stimme einbezogen; auf der Ebene des Programms beriet ein paritätisch besetzter Beirat das Forschungsministerium bei der Bewertung der Ergebnisse und bei der Entwicklung neuer Forschungsfelder (vgl. Abschnitt 2). Die Tarifbindung ging inzwischen erheblich zurück, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen werden kaum noch ausgesprochen. Selbst wo Tarifverträge gelten, werden sie häufiger als früher unterlaufen. Die Vorbildwirkung der Tarifverträge der industriellen Kernsektoren spielt heute eine geringere Rolle. Auf betrieblicher Ebene werden Arbeitnehmer heute nur noch zu einem geringeren Anteil von Betriebsräten vertreten (vgl. z. B. Knuth 2014). Die ehemals starke Stellung der Sozialpartner im Programm wurde erheblich relativiert. Sie sind heute noch an der Definition des Programms beteiligt, sie sollen auch einen Programmbeirat bilden, beziehungsweise wurden in jüngerer Vergangenheit aktiv in einen solchen Beirat eingebunden. Sie wirken jedoch nicht mehr an den einzelnen Projekten mit, und es gibt keine vorgeplanten Maßnahmen, um die „Umsetzung“ des erarbeiteten Wissens mithilfe der Sozialpartner in Gang zu setzen oder zu kontrollieren. 3.6 Fazit Wie sind diese Befunde zu bewerten? Die „Wahlverwandtschaft“ zwischen Programm und Produktionsmodell ist deutlich erkennbar, und es ist offensichtlich, dass es in den aktuellen Programmen weitaus weniger als in den Anfängen um eindeutige Schutzinteressen der Arbeitenden geht. Es wäre eine unzulässige Verkürzung, wenn man dies als Folge einer einseitig zugunsten der wirtschaftlichen Erfordernisse der Unternehmen wirkenden Einflussnahme, etwa von Unternehmensverbänden und wirtschaftspolitisch

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einflussreichen Akteuren, verstehen würde. Anzunehmen ist vielmehr, dass es auf der Basis eines weitgehend geteilten Verständnisses von der großen Bedeutung qualitativ guter Arbeitsbedingungen zu immer wieder neuen Kompromissen zwischen den Beteiligten, das heißt zwischen Politik, Sozialpartnern und Wissenschaft kommt. Es ist nicht überraschend, dass die Formulierungen in den Programmen wenig spezifisch sind und vor allem allgemeine Absichten festhalten. Das aktuelle „Eckpunktepapier“ des Bundesforschungsministeriums zur Vorbereitung eines neuen fünften Programms unter dem Titel „Zukunft der Arbeit“ ist ein Beispiel dafür. Es wird neben einigen konkreten Themen resümiert: „Wir fördern Innovationen in Betrieben, um technischen Fortschritt auch für soziale Innovationen zu nutzen und durch neue Arbeitsprozesse und ein Miteinander der Sozialpartner voranzubringen“ (BMBF 2015: 1). Technischer Fortschritt wird als Ziel formuliert, von dem die weiteren genannten Ziele zumindest indirekt abhängig erscheinen. Dies ist eine konsensfähige Formulierung, weil es relevante Perspektiven eröffnet und einen Teil der Probleme der Arbeitswelt erfasst. Andere relevante Fragen des Arbeitslebens werden jedoch nicht berührt, etwa die Probleme der Entstandardisierung von Beschäftigungsverhältnissen, nicht existenzsichernde Einkommen oder die Furcht vor Arbeitsplatzverlust in Reorganisationsprozessen. Diese Probleme sind nicht weniger wichtig als die in den Programmen angesprochenen. Es liegt aber auf der Hand, dass sie kaum ohne direkte Thematisierung gegensätzlicher Interessen von Unternehmen und Beschäftigten behandelt werden können. Sind sie deshalb für die Arbeitsforschung irrelevant und sollten den Kräfteverhältnissen zwischen den Sozialpartnern überlassen werden? Der Rückblick auf die Anfänge der Programmlinie hat gezeigt, dass dies früher weniger verhalten als heute beantwortet wurde. Die anfängliche Aufbruchsstimmung war vom Willen zur aktiven Bekämpfung der sich verschärfenden Krisensymptome in der Arbeitswelt gekennzeichnet. Mit der staatlichen Forschungsförderung und mit den Wissenschaften wurden neue Akteure auf die Bühne arbeitspolitischer Auseinandersetzungen gebracht. Die dezidiert auf Konfliktregulation ausgerichteten Steuerungsformate der ersten Phase wirkten nach Einschätzung verantwortlicher Zeitgenossen als „arbeitspolitischer Generator“ (Neubauer/Oehlke 2009: 95), setzten also wichtige Impulse für die Lösung von Problemen der Arbeitswelt und bahnten zugleich Wege für die Umsetzung des erarbeiteten Gestaltungswissens, indem die Unternehmensverbände und Gewerkschaften sowie Unterneh-

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mensleitungen und Betriebsräte sehr eng einbezogen waren und in ihrem Interesse auch in die Programmentwicklung wie in die Projektbearbeitung eingreifen konnten. Diese Planmäßigkeit ist heute kaum mehr wiederzufinden, worin sich einmal mehr der enge Zusammenhang zwischen dem Produktionsmodell und der Programmformulierung spiegelt. Arbeitspolitische Zielsetzungen fallen im flexiblen Kapitalismus der Kurzfristigkeit betrieblicher Strategien zum Opfer: „Der abstrakte Kontrollmechanismus der flexiblen Unternehmensorganisation duldet keine langfristigen arbeitspolitischen Festlegungen“ (Dörre/Brinkmann 2005: 110). Die Handlungsbedingungen der Unternehmen im „disconnected capitalism“ (Thompson 2003) verändern sich laufend und in widersprüchlicher Weise, sodass immer wieder neu reorganisiert werden muss. Für die Arbeitsforschung bedeutet dies, dass es nicht damit getan ist, einmal einen „one best way“ identifiziert zu haben und ihn dann „umzusetzen“. Stattdessen muss immer wieder neu analysiert, entwickelt und implementiert werden, was sich in einer bestimmten Situation als günstig erweist, jedoch in naher Zukunft schon wieder infrage gestellt werden kann (Jacobsen 2007).

4. S CHLUSSFOLGERUNGEN Mit der Programmlinie Arbeitsforschung betraten in der ersten Hälfte der neunzehnhundertsiebziger Jahre die Wissenschaften unter der innovationspolitischen Ägide des Staates die arbeitspolitische Arena. In Deutschland hatte sich die Politik entschlossen, eine „vergesellschaftete Innovationsfunktion“ (Neubauer/Oehlke 2009) für die Optimierung von Arbeitsbedingungen zu schaffen, also mithilfe öffentlicher Forschungsförderung Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen die Möglichkeit zu geben, eine Rolle in der grundlegend konflikthaften Auseinandersetzung um die Qualität von Arbeitsbedingungen zu spielen. Die Erwartung war, dass durch wissenschaftlich begründete Handlungsempfehlungen Kompromissbildungen erleichtert und „Win-win-Situationen“ geschaffen werden könnten. Diese Erwartung wurde offensichtlich vielfach erfüllt, denn sonst könnte diese Programmlinie heute kaum auf eine vierzigjährige Geschichte zurückblicken. Handelt es sich also um eine vielleicht sogar besonders erfolgreiche Geschichte des Transfers wissenschaftlichen Wissens in die Praxis? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, denn die Gestaltung von Arbeits-

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bedingungen bleibt Gegenstand politischer Aushandlungen: Einmal erarbeitetes wissenschaftliches Wissen über gute oder beste Lösungen kann im konkreten Fall überzeugend genutzt werden, ohne dass daraus gefolgert werden kann, dass diese Lösung in Zukunft selbstverständlich weiterverbreitet wird. Nicht nur die Kräfteverhältnisse im Unternehmen und am Arbeitsmarkt sind veränderlich, sondern auch die Handlungsbedingungen der Unternehmen bleiben widersprüchlich. Diese Programmlinie versucht, der bestehenden Komplexität gerecht zu werden und immer wieder Anstöße für innovative Lösungen unter veränderlichen Bedingungen zu ermöglichen. Die sehr spezifische Verknüpfung von Arbeits- und Innovationspolitik über Maßnahmen der Forschungsförderung wurde bisher weder in der Wissenschaftsforschung noch in der Forschung zum Wandel von Produktions- und Beschäftigungsmodellen näher untersucht. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass die über Jahrzehnte fortgesetzte Forschungsförderung auf diesem Gebiet davon getragen wurde, dass die Versorgung mit qualifizierter flexibel einsetzbarer Arbeit für das Produktionsmodell zentral und doch immer gefährdet ist, während der gesellschaftliche Konsens über die Zentralität von Arbeit stets aufrechterhalten wurde. Der Staat brachte sich über die Forschungs- und später die Innovationspolitik indirekt als gestaltender Akteur ein und erweiterte seinen Einfluss über seine Rolle als Gesetzgeber und Kontrolleur hinaus. Es ist bemerkenswert, dass er dieses Engagement in der Forschungs- und Innovationspolitik bis heute beibehalten hat, während er sich in der Arbeitsmarktund Sozialpolitik stärker zurückhält. Bosch et al. (2007) kritisieren in diesem Zusammenhang: „Die klassische Verknüpfung von qualifikationsbasierter Qualitätsproduktion und sozialem Ausgleich ist ernsthaft beschädigt. [...] Insbesondere der Staat hat sich selbst immer mehr Möglichkeiten genommen, seine Ankerfunktion für das Beschäftigungsmodell und dessen Erneuerung weiter auszuüben“ (ebd.: 336). Im Feld der Forschungs- und Innovationspolitik gilt das nur bedingt, allerdings ist das Volumen der eingesetzten Mittel heute sehr viel geringer als in den ersten beiden Jahrzehnten und die verfolgten Ziele sind sehr viel vager und widersprüchlicher geworden. Die frühere tripartistische, also Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften vereinende, Geschlossenheit der Forschungsagenda ist heute Geschichte. Der Projektträger wechselte seine Funktion von der früheren Aufgabe als Grenzorganisation zur Vermittlung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft

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hin zu seiner heutigen Aufgabe als Organisator von Netzwerkbeziehungen zwischen Unternehmen, Wissenschaft und Sozialpartner. Die doppelte Konflikthaftigkeit der Organisation von Arbeit, also die teils widerstreitenden Interessenlagen von Arbeit und Kapital und die dauernde Fragilität der Handlungsbedingungen der Unternehmen zwischen kurz- und langfristigen Interessen, wird heute nicht mehr durch Maßnahmen der Programmsteuerung eingehegt, sondern auf der Ebene der Projekte austariert. Hier kommen die Leistungen der beteiligten Wissenschaftler/-innen und der Praxispartner in den Projekten ins Spiel. Das in dieser Programmlinie entwickelte Verständnis von Transfer sozialwissenschaftlichen Wissens über die projektförmige Kooperation mit Praxispartnern trug zur Entwicklung transdisziplinärer Forschungsdesigns bei (vgl. Jostmeier/Georg/ Jacobsen 2014a), mit denen die Inhalte der Projekte und Programme immer wieder sehr eng an die Erfordernisse der Produktionsprozesse angebunden wurden. In Verbindung mit den über die Jahre geschaffenen Instrumenten selbstreflexiver Programmsteuerung (Fokusgruppen, Metaprojekte, Beteiligung von Forschenden an der Entwicklung neuer Programme) wurden die Grundlagen für die anhaltende Responsivität der Programmlinie gelegt. Diese Responsivität in Programmentwicklung und Projektarbeit war nicht nur für die Erfolge der Arbeit wesentlich, sondern auch für ihre Legitimation der Politik gegenüber. Welche Aussichten ergeben sich daraus für die Zukunft? Auch wenn die Programmlinie aktuell bis ins Jahr zweitausendzwanzig gesichert scheint (s. o.), ist zu erwarten, dass sie künftig immer wieder neu legitimiert werden muss, denn die gesellschaftliche Organisation von Arbeit „ist ein eminent politischer Gegenstand und auch erfolgreiche Programme sind gegen Eingriffe aus dem politischen Raum oder gesellschaftliche Entwicklungen nicht gewappnet“. So resümieren Gerhard Ernst, Ilona Kopp und Sigrid Skarpelis-Sperk (2015) ihre langjährigen Erfahrungen aus der Perspektive des zuständigen Projektträgers (ebd.: 1). Neben den notwendigen Initiativen aus der oben genannten Community dieser Forschungslinie (z. B. RKW 2014; Oehlke 2013) kommen hier auch Aufgaben auf die Wissenschaftsforschung zu: Die entwickelten Typen transdisziplinärer Arbeitsforschung haben dank ihrer Responsivität zur Weiterentwicklung des Programmlinie beigetragen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob aus dieser Responsivität auch eine Schwäche werden kann. Wenn im Zuge der möglichen weiteren Erosion des Produktionsmodells der Stellenwert qualifizierter Arbeit sinkt,

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bedeutet dann Responsivität, dass auch die Arbeitsforschung die zentrale Stellung guter Arbeitsbedingungen relativiert und sich selbst entbehrlich macht? In den Zielen der jüngeren Programme werden Widersprüche und Konflikthaftigkeit als Suche nach Synergieeffekten formuliert und zum Programm erhoben. Der Zukunftsbezug des Programms wirkt zwiespältig, weil notwendig unscharf und offen. Möglicherweise werden gerade dadurch die Positionen der Wissenschaften und der Forschung gestärkt, denn wenn die Akteure im Feld gemeinsam nicht wissen, was eigentlich das zu lösende Problem ist, für das eine zukunftsfähige Lösung gefunden werden soll, können Wissenschaften, die methodisch gesichert selbstreflexiv arbeiten, Grundlagen für Verständigungsprozesse schaffen. Diese Chance des Prinzips koevolutionärer Wissensproduktion zu wahren, ist eine wesentliche Aufgabe der Programmlinie Arbeitsforschung. Um dieser Aufgabe auf Dauer gerecht zu werden, ist weitaus mehr gesichertes Wissen über die Praxis der Projekte und über die Wirkungen der Steuerungselemente des Programms notwendig als bisher vorliegt.

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Autorinnen und Autoren

Eva Barlösius, Prof. Dr., geboren 1959, Professorin für Makrosoziologie an der Leibniz Universität Hannover mit den Schwerpunkten Sozialstrukturanalyse, Wissenschaftssoziologie und Soziologie des Essens. Anna Froese, Dr. rer. oek., geboren 1977, ist seit 2012 Mitglied der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Sie promovierte am Fachgebiet Organisation und Unternehmensführung der Technischen Universität Berlin und forscht seit zehn Jahren im Bereich der Wissenschafts- und Organisationsforschung. Heike Jacobsen, Prof. Dr. rer. pol. habil., seit 2011 Lehrstuhl für Wirtschafts- und Arbeitssoziologie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, vorher wissenschaftliche Geschäftsführerin der Sozialforschungsstelle Dortmund (TU Dortmund). David Kaldewey, Dr. phil., ist Juniorprofessor für Wissenschaftsforschung und soziologische Theorie am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn und leitet die Nachwuchsforschergruppe „Entdeckung, Erforschung und Bearbeitung gesellschaftlicher Großprobleme“. Sebastian Lentz, Prof. Dr., lehrt an der Universität Leipzig Regionale Geographie und ist Direktor des Leibniz-Instituts für Länderkunde. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Regionale Geographie, Sozialgeographie, Kulturgeographie, Stadtgeographie und die Transformationsforschung.

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Natalie Mevissen, Dipl. Soz., ist seit 2010 Mitglied der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Organisationsforschung sowie Wissenssoziologie. Peter Meusburger, Prof. Dr. Dr. h.c., ist Distinguished Senior Professor der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Bildungsgeographie und die Geographie des Wissens. Er ist Herausgeber der Springer-Reihe "Knowledge and Space". Martin Reinhart, Prof. Dr., ist seit 2012 Juniorprofessor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und am Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung. Er forscht und lehrt im Bereich der Wissenschaftsforschung und interessiert sich besonders für wissenschaftliche Begutachtungsverfahren. Dagmar Simon, Dr. rer. pol., leitet seit 2008 die Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftsforschung sowie Organisations- und Genderforschung. Tatjana Zimenkova, Prof. Dr., ist Professorin für Politikwissenschaften an der Technischen Universität Dortmund. Ihre Forschungsinteressen sind Professionssoziologie, Politische Bildung und Demokratieforschung.

Science Studies Cheryce von Xylander, Alfred Nordmann (Hg.) Vollendete Tatsachen Vom endgültig Vorläufigen und vorläufig Endgültigen in der Wissenschaft Juni 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2542-4

Manfred E.A. Schmutzer Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) Oktober 2015, 544 Seiten, Hardcover, 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3196-8

Diego Compagna (Hg.) Leben zwischen Natur und Kultur Zur Neuaushandlung von Natur und Kultur in den Technik- und Lebenswissenschaften September 2015, 272 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2009-2

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Science Studies Thomas Etzemüller Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt September 2015, 294 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3183-8

Anna-Sophie Jürgens, Tassilo Tesche (Hg.) LaborARTorium Forschung im Denkraum zwischen Wissenschaft und Kunst. Eine Methodenreflexion Juli 2015, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2969-9

Fabian Karsch Medizin zwischen Markt und Moral Zur Kommerzialisierung ärztlicher Handlungsfelder März 2015, 256 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2890-6

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