Wir lieben Wissenschaft: Mit einer wissenschaftlichen Grundhaltung gegen Betrug, Leugnung und Pseudowissenschaft [1. Aufl.] 9783662617298, 9783662617304

Angriffe auf die Wissenschaft sind alltäglich geworden: Die Erforschung des Klimawandels sei keine „anständige“ Wissensc

279 122 2MB

German Pages XIII, 315 [321] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Einführung (Lee Mclntyre)....Pages 1-10
Die wissenschaftliche Methode und das Abgrenzungsproblem (Lee Mclntyre)....Pages 11-34
Irrtümer und Missverständnisse: Wie funktioniert Wissenschaft wirklich? (Lee Mclntyre)....Pages 35-57
Warum eine wissenschaftliche Grundhaltung wichtig ist (Lee Mclntyre)....Pages 59-79
Die wissenschaftliche Grundhaltung muss keine Lösung des Abgrenzungsproblems liefern (Lee Mclntyre)....Pages 81-99
Wie Wissenschaftler die wissenschaftliche Grundhaltung ein- und umsetzen (Lee Mclntyre)....Pages 101-142
Wie die wissenschaftliche Grundhaltung die moderne Medizin veränderte (Lee Mclntyre)....Pages 143-164
Wissenschaft falsch gemacht: Betrug und andere Fehlschläge (Lee Mclntyre)....Pages 165-184
Wissenschaft auf Abwegen: Leugner, Pseudowissenschaftler und andere Scharlatane (Lee Mclntyre)....Pages 185-229
Die wissenschaftliche Grundhaltung und die Sozialwissenschaften (Lee Mclntyre)....Pages 231-249
Wissenschaft schätzen lernen (Lee Mclntyre)....Pages 251-256
Back Matter ....Pages 257-315
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Wir lieben Wissenschaft: Mit einer wissenschaftlichen Grundhaltung gegen Betrug, Leugnung und Pseudowissenschaft [1. Aufl.]
 9783662617298, 9783662617304

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Lee Mclntyre

Wir Wissenschaft Mit einer wissenschaftlichen Grundhaltung gegen Betrug, Leugnung und Pseudowissenschaft

Wir lieben Wissenschaft

Lee Mclntyre

Wir lieben Wissenschaft Mit einer wissenschaftlichen Grundhaltung gegen Betrug, Leugnung und Pseudowissenschaft Aus dem Amerkanischen übersetzt von Alexa Waschkau

Lee Mclntyre Center for Philosophy Boston University Boston, MA, USA Übersetzt von Alexa Waschkau Hamburg, Deutschland

ISBN 978-3-662-61729-8 ISBN 978-3-662-61730-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Übersetzung der amerikanischen Ausgabe: The Scientific Attitude: Defending Science from Denial, Fraud, and Pseudoscience von Lee McIntyre, erschienen bei The MIT Press, Massachusetts Institute of Technology 2019, © The MIT Press 2019. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Lisa Edelhäuser Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Für Louisa und James

Vorwort

Dieses Buch ist für mich von Anfang an eine Herzensangelegenheit gewesen und hat – wie es bei solchen Vorhaben oft der Fall ist – einen langen Entstehungsprozess hinter sich. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als ich mich für eine Laufbahn als Wissenschaftsphilosoph entschieden habe. Es war im Herbst 1981, ich saß in einer der oberen Lesekabinen der Olin Library an der Wesleyan University und las Karl Poppers faszinierende Arbeit Vermutungen und Widerlegungen. Was er schrieb, war für mich weltbewegend und es war klar, warum es eine solche Anziehungskraft auf mich ausübte: Popper hatte es geschafft, eine der Vorstellungen zu untermauern, an die ich von Herzen glaubte, nämlich dass Wissenschaft etwas ganz Besonderes ist. Er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die erkenntnistheoretische Autorität der Wissenschaft zu verteidigen und zu erklären, warum sie der Pseudowissenschaft überlegen ist. Wie hätte ich dem widerstehen können? Doch obwohl mich das Thema faszinierte, stimmte ich inhaltlich nie ganz mit Popper überein. Ich wusste, dass ich irgendwann einmal darauf zurückkommen würde. Die beruflichen Anforderungen einer akademischen Laufbahn schienen jedoch übersichtlichere Vorhaben zu belohnen und so verbrachte ich das erste Jahrzehnt meiner Karriere damit, darüber zu schreiben, wie wichtig Gesetzmäßigkeiten und Vorhersagen sind, wie man die Methodik der Sozialwissenschaften verbessern kann und warum wir eine Philosophie der Chemie brauchen. Es hat mir immer große Freude bereitet, die Philosophie auch einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen und dabei Themen wie Wissenschaftsleugnung oder den Wert von Rationalität anzusprechen und die Frage, warum – vor allem heutzutage – selbst die VII

VIII      Vorwort

überzeugtesten Philosophieskeptiker in aller Öffentlichkeit die Auffassung vertreten sollten, dass Wahrheit wichtig ist. Stets hatte ich aber im Hinterkopf, dieses nun vorliegende Buch schreiben zu wollen. Und ich hoffe, dass die wichtige Frage, was Wissenschaft von anderen Methoden des Erkenntnisgewinns unterscheidet, für Philosophen, Wissenschaftler und die allgemeine Öffentlichkeit gleichermaßen interessant ist. Ich möchte meinen Dozenten Rich Adelstein, Howard Bernstein und Brian Fay dafür danken, dass sie mich dazu angespornt haben, mich der Philosophie zu verschreiben. Obwohl ich ihn erst gegen Ende meiner Collegezeit traf, war auch Joe Rouse eine Inspirationsquelle für mich. Während meiner Zeit an der University of Michigan hatte ich das Glück, von Jaegwon Kim, Peter Railton und Larry Sklar im Fach Wissenschaftsphilosophie unterrichtet zu werden. Ich war während meiner Studienzeit nicht immer glücklich und zufrieden (wer ist das schon?), aber in der Rückschau zeigt sich, dass dort der Grundstein für meine gesamte weitere Arbeit gelegt wurde. Ich durfte im Laufe der Zeit dankenswerterweise mit einigen der besten Vertreter ihres Fachs zusammenarbeiten: Dan Little, Alex Rosenberg, Merrilee Salmon und Eric Scerri, die mich allesamt als exzellente Dozenten und auch als herzliche Kollegen vieles gelehrt haben. Ich verdanke Bob Cohen und Mike Martin, die vor einigen Jahren von uns gegangen sind, unendlich viel. Sie beide haben dafür gesorgt, dass ich in der Wissenschaftsphilosophie meine geistige Heimat gefunden habe, und mich bei jedem Schritt auf diesem Weg mit helfender Hand begleitet. Dasselbe gilt, dies darf ich in Dankbarkeit anmerken, für die neue Leiterin des Zentrums für Wissenschaftsphilosophie und Geschichte der Wissenschaft an der Boston University, Alisa Bokulich. Für ihre Anleitung und ihren Rat, was einige der in diesem Buch dargelegten Konzepte betrifft, möchte ich mich auch bei Jeff Dean, Bob Lane, Helen Longino, Tony Lynch, Hugh Mellor, Rose-Mary Sargent, Jeremy Sheamur und Brad Wray bedanken. Ich hatte das Glück, im Frühling des Jahres 2014 an Massimo Pigliuccis und Maarten Boudrys Workshop zum Thema „Szientismus“ an der City University New York teilnehmen zu können und dort faszinierende Beiträge von Noretta Koertge, Deborah Mayo und Tom Nickles zu hören, die mich dazu angeregt haben, diese Buchprojekt aufzugreifen. Rik Peels und Jeff Kichen haben mir mit punktgenauen Anmerkungen zu bestimmten Fragestellungen dieses Buches ebenfalls enorm weitergeholfen.

Vorwort     IX

Meine geschätzten Freunde Andy Norman und Jon Haber haben mir die Ehre erwiesen, den Manuskriptentwurf dieses Buches in Gänze zu lesen und viele hilfreiche Anmerkungen beizusteuern. Laurie Prendergast hat mir wieder den großen Freundschaftsdienst erwiesen, mich beim Korrekturlesen und Erstellen des Index zu unterstützen. Die Arbeit der fünf anonymen Gutachter soll ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Auch wenn ich mich nicht namentlich bei ihnen bedanken kann, so hat doch jeder Einzelne von ihnen einen großen Beitrag zu diesem Buch geleistet. Die verbleibenden Fehler sind selbstverständlich ausschließlich meiner Person anzulasten. Mein Vater konnte die Veröffentlichung dieses Buches leider nicht mehr miterleben. Doch ihm und meiner Mutter sende ich meine unendliche Liebe und Dankbarkeit dafür, dass sie immer an mich geglaubt und mir all die Jahre mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Mein Frau Josephine und meine Kinder, Louisa und James, haben das Buch von A bis Z gelesen und mit mir die Hochs und Tiefs und viele verschiedene Fassungen durchlebt. Kein Mann kann sich glücklicher schätzen, mit einer so wunderbaren Frau verheiratet zu sein, die sich nichts sehnlicher wünscht, als dass ich in der Arbeit und im Leben meine Erfüllung finde. Ich habe zudem das Glück, nicht nur ein Kind, sondern gleich zwei zu haben, die einen Abschluss im Fach Philosophie gemacht haben und es als ihr Geburtsrecht betrachten, die Fehler in den Argumentationsketten ihres alten Herrn zu finden, was sie auch mit beängstigender Zielsicherheit getan haben. In der Tat ist der Beitrag, den meine Kinder zu diesem Buch geleistet haben, so groß, dass ich es ihnen widmen möchte. Das Team bei MIT Press hat unvergleichlich gute Arbeit geleistet. Wie die Mitarbeiter dort bereits bei meinem letzten Buch bewiesen haben, kann ein Autor allein niemals erfolgreich sein. Vom Lektorat bis zum Design, vom Marketing bis zur Redaktion – es ist mir eine Ehre, mit ihnen zusammenzuarbeiten. An dieser Stelle möchte ich mich besonders bei Colleen Lanick für ihre Öffentlichkeitsarbeit und bei meinem Lektor Phil Laughlin bedanken, der es schafft, zugleich analytisch, treffend, bodenständig und urkomisch zu sein. Sie beide haben die Zusammenarbeit mit dem Verlag MIT Press auch bei diesem inzwischen vierten Buchprojekt wieder zu einem großen Vergnügen gemacht. Zuletzt möchte ich eine Dankesschuld begleichen, die bereits Jahre zurückreicht, an die ich jedoch täglich erinnert werde, wenn mein Blick auf den gerahmten, handgeschriebenen Brief fällt, den ich im März des Jahres 1984 von Karl Popper erhalten habe. Es war die Antwort auf einen Brief, den ich ihm als Student geschrieben hatte. Popper war brillant, klar

X      Vorwort

in seinen Gedanken, wehrhaft und erhellend. Obwohl ich mit vielen seiner Ansichten über die Wissenschaftsphilosophie nicht übereinstimme, hätte ich doch meine eigenen nicht entwickeln können, ohne mich an seinen Vorstellungen abzuarbeiten. Und es gehört zu den Entdeckungen, die mir die größte Freude bereitet haben, dass auch er bereits in gewisser Weise die wissenschaftliche Grundhaltung mitgedacht hat. Ich habe Karl Popper nie getroffen, doch die früheste Vorstellung, die ich mit ihm verbinde, hat mich immer begleitet: ein junger Mann im Winter des Jahres 1919, noch ganz am Anfang seiner Laufbahn, dem wie der Blitz aus heiterem Himmel die Logik der Falsifikation vor Augen steht und der dann, im Laufe seines Berufslebens, die Ausarbeitung der Details in Angriff nimmt. Zu erfahren, dass dieses Buch genau einhundert Jahre nach Poppers Entdeckung erscheinen würde, erfüllte mich mit Stolz. Es ist ein kleiner Tribut an den Menschen, dem ich und so viele andere ihre Laufbahn in der Wissenschaftsphilosophie verdanken. Lee Mclntyre

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung 1 2

Die wissenschaftliche Methode und das Abgrenzungsproblem 11 Die Relevanz des Abgrenzungsproblems 13

3

Irrtümer und Missverständnisse: Wie funktioniert Wissenschaft wirklich? 35 Das Problem der Wahrheit und Gewissheit 36 „Nur eine Theorie“ 42 Die Rolle der Rechtfertigung 51

4

Warum eine wissenschaftliche Grundhaltung wichtig ist 59 Zwei Beispiele für eine wissenschaftliche Grundhaltung 65 Die Wurzeln der wissenschaftlichen Grundhaltung 72 Fazit 77

5

Die wissenschaftliche Grundhaltung muss keine Lösung des Abgrenzungsproblems liefern 81 Kann die wissenschaftliche Grundhaltung die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft bieten? 81 Können wir dennoch versuchen, zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu unterscheiden? 87

XI

XII      Inhaltsverzeichnis

Sollte man „alltägliches Forschen“ auch zur Wissenschaft zählen? 91 Könnte man aus der wissenschaftlichen Grundhaltung nicht trotzdem ein modifiziertes Abgrenzungskriterium machen? 95 6

Wie Wissenschaftler die wissenschaftliche Grundhaltung ein- und umsetzen 101 Drei Fehlerquellen in der Wissenschaft 102 Die kritische Gemeinschaft und die Intelligenz der Masse 106 Methoden zur Umsetzung der wissenschaftlichen Grundhaltung bei der Fehlerminderung 114 Quantitative Methoden 114 Das Peer-Review-Verfahren 123 Das Zugänglichmachen von Daten und die Replikation 133 Fazit 140

7

Wie die wissenschaftliche Grundhaltung die moderne Medizin veränderte 143 Die barbarische Vergangenheit 145 Die Entstehung der wissenschaftlichen Medizin 146 Der lange Übergang in die klinische Praxis 152 Die Früchte der Wissenschaft 159 Fazit 163

8

Wissenschaft falsch gemacht: Betrug und andere Fehlschläge 165 Warum betrügen manche Menschen? 171 Der schmale purpurne Grad 174 Das Impfen-und-Autismus-Fiasko 178 Ein Silberstreif am Horizont 183

9

Wissenschaft auf Abwegen: Leugner, Pseudowissenschaftler und andere Scharlatane 185 Ideologie und vorsätzliche Ignoranz 188 Sagans Matrix 190 Wissenschaftsleugner sind keine Skeptiker 193 Leugner in Aktion: Der Klimawandel 198 Was passiert, wenn der „Spinner“ recht hat? 206

Inhaltsverzeichnis     XIII

Pseudowissenschaftler sind nicht wirklich offen für neue Erkenntnisse 216 Pseudowissenschaft in Aktion: Kreationismus und Intelligent Design 218 Das Princeton Engineering Anomalies Research Lab 225 Fazit 229 10 Die wissenschaftliche Grundhaltung und die Sozialwissenschaften 231 Die Herausforderungen einer Wissenschaft des menschlichen Verhaltens 232 Die Strategie: die Medizin zum Vorbild nehmen 239 Beispiele für gute und für schlechte Sozialwissenschaft 242 11 Wissenschaft schätzen lernen 251 Anmerkungen 257 Literatur 305

1 Einführung

Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten, wenn es um unser Verständnis von Wissenschaftlichkeit geht. Im Mai 2010 veröffentlichte die renommierte Fachzeitschrift Science einen Brief, den 255 Mitglieder der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften unterschrieben hatten. ­ Dieser Brief begann mit den Worten: „Wir sind fassungslos im Angesicht der jüngsten Gewaltausbrüche, deren Ziel Wissenschaftler im Allgemeinen und Klimaforscher im Besonderen geworden sind. Jeder Bürger sollte über ein Grundverständnis wissenschaftlicher Fakten verfügen. Im Bereich wissenschaftlicher Schlussfolgerungen bleibt immer eine gewisse Unsicherheit bestehen, Wissenschaft kann niemals absolute Beweise liefern.“1 Aber welcher Laie versteht die tiefere Bedeutung dieser Worte und sieht in ihr statt einer Schwäche gar eine Stärke wissenschaftlicher Beweisführung? Und dann sind da natürlich noch die Menschen, die darauf bauen, jede Unsicherheit für ihre eigenen politischen Ziele ausschlachten zu können. „Wir haben keine Ahnung, was den Klimawandel verursacht, und die Vorstellung, Milliarden über Milliarden von US- Dollars in den Versuch zu investieren, die CO2-Emissionen zu reduzieren, ist nicht der richtige Weg für uns“, ließ der amerikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney im Jahr 2011 verlauten.2 In einem Interview, das er während des darauffolgenden Wahlkampfs gab, zweifelte der US-Senator Ted Cruz die Existenz verlässlicher Beweise für die globale Erwärmung mit den Worten an: „Jeder gute Wissenschaftler stellt alles Wissenschaftliche infrage. Wenn Sie mir einen Wissenschaftler zeigen, der damit aufgehört hat, zeige ich Ihnen einen, der gar kein Wissenschaftler ist.“3 Nur ein knappes Jahr später verkündete © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_1

1

2     L. Mclntyre

der frisch gewählte Präsident Donald Trump, er wolle sämtliche Forschung der NASA im Bereich des Klimawandels stoppen, um das auszumerzen, was er „politisierte Wissenschaft“ nannte. Dieser Beschluss würde einen unwiederbringlichen Verlust für die Klimabeobachtung bedeuten, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern für die Forscher in aller Welt, deren Arbeit von der legendären satellitengesteuerten Datensammlung in den Bereichen Temperatur, Eis, Wolken und anderer Phänomene abhängt. Wie es einer der Wissenschaftler des Nationalen Zentrums für Atmosphärenforschung ausdrückte, könnte uns dieses Vorhaben des Präsidenten „in die dunklen Zeiten der Vor-Satelliten-Ära zurückwerfen“.4 Die Angriffe, denen sich die Wissenschaft ausgesetzt sieht, sind so schlimm geworden, dass am 22. April 2017 ein „March for Science“ stattfand, eine Demonstration, anlässlich derer Menschen in 600 Städten auf der ganzen Welt für die Wissenschaft auf die Straße gingen. In Boston, im Bundesstaat Massachusetts, begegneten mir bei dieser Gelegenheit Menschen mit Schildern, auf denen Sprüche wie „Keep Calm and Think Critically“ (Ruhig bleiben und kritisch denken), „No Science, no Twitter“ (Ohne Wissenschaft kein Twitter), „I Love Reality“ (Ich liebe die Realität), „It’s So Severe, The Nerds Are Here“ (Die Lage ist so ernst, selbst die Nerds sind hier) und „I Could Be in the Lab Right Now“ (Ich könnte jetzt eigentlich im Labor forschen) zu lesen waren. Es muss schon einiges passieren, um Wissenschaftler aus ihren Forschungseinrichtungen und auf die Straßen zu treiben, aber was blieb ihnen in diesen Tagen schon anderes übrig? Wenn wir nicht in der Lage sind, die Wissenschaft zu schützen – der Welt klarzumachen, wie sie funktioniert, und warum wissenschaftliche Ergebnisse einen besonderen Anspruch auf Glaubhaftigkeit besitzen –, liefern wir uns der Gnade derer aus, die sie gedankenlos ablehnen. Mein Ziel ist es, in diesem Buch verständlich zu machen, was die Wissenschaft an sich so besonders macht. Natürlich werden manche nun einwenden, das sei doch überflüssig, weil dieses Thema schon zur Genüge abgehandelt wurde und das Problem in der Vermittlung dieses besonderen Status der Wissenschaft liegt und nicht im Verständnis desselben. Ist uns denn nicht spätestens dann klar, was Wissenschaft auszeichnet, wenn wir uns die Forschungsarbeit von Wissenschaftlern ansehen? Und selbst wenn das nicht der Fall ist, hat die Wissenschaftsphilosophie sich diesem Thema nicht schon ausreichend gewidmet? Ich wünschte, dem wäre so. Tatsächlich tendieren die meisten Wissenschaftler aber eher zu einer Art naivem Realismus. Sie sehen in ihren Forschungsergebnissen wahre Aussagen über die Zusammenhänge der Natur (oder zumindest etwas, das der Wahrheit nahekommt) und verschwenden kaum einen Gedanken an die philosophischen

1 Einführung     3

oder methodischen Probleme der Wissenschaft als solcher. Die seltenen Exemplare unter den Wissenschaftlern, die sich in die philosophischen Untiefen vorwagen, finden dort oft etwas, das in der Philosophie schon länger bekannt ist. Oder sie verwerfen am Ende das ganze Unternehmen als vollkommen irrelevant, weil es ihrer Ansicht nach nicht darum gehen muss, Wissenschaft als Basis philosophischer Gedankenspiele zu betrachten, sondern darum, sie praktisch zu betreiben.5 Genau dieser Standpunkt ist aber das Problem. Wenn doch all die praktisch forschenden Wissenschaftler so erfolgreich sind, warum schaffen es dann so viele von ihnen nicht, typischen Vorwürfen wie „Wissenschaft ist doch auch nicht mehr als eine Ideologie“ oder „Wir brauchen noch viel mehr handfeste Belege für den Klimawandel“ etwas anderes als persönliche Beleidigungen entgegenzusetzen? Es muss doch möglich sein, damit besser umzugehen und sowohl die Forschung zu untermauern, die bereits geleistet wurde, als auch den Boden zu bereiten, auf dem methodisch korrekte Wissenschaft künftig wachsen kann. Doch dafür muss man zunächst einmal verstehen, was an der Wissenschaft als Methode des Erkenntnisgewinns besonders ist, und genau hier kommt die Wissenschaftsphilosophie ins Spiel. Das Fundament der Wissenschaftsphilosophie war von Anfang an die Vorstellung, sie könne mit ihrer „rationalen Rekonstruktion“ des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses einen einzigartigen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, warum dieser Prozess so gut funktioniert und wissenschaftliche Behauptungen gerechtfertigt sind.6 Darüber, wie genau sie diesen Beitrag leisten soll und ob das überhaupt eine gute Idee ist, wird viel gestritten. Der Ansatz, Wissenschaft als Methode in andere Bereiche zu übertragen, indem man herausarbeitet, was sie von anderen Vorgehensweisen unterscheidet, ist im Laufe der Zeit auf immer mehr Widerstand gestoßen. Die Kritiker behaupten dabei, es gebe so etwas wie „wissenschaftliche Methodik“ (oder ein ähnlich feststehendes Unterscheidungsmerkmal, das Wissenschaftlichkeit von Nicht-Wissenschaft trennt), sodass wir, wenn wir nur den gesetzten Standard streng genug einhielten, die „gute Wissenschaft“ zum Erblühen bringen könnten. Noch problematischer wird es, wenn auch noch der Wunsch dazukommt, andere bekehren zu wollen, und wenn ein sogenannter Szientismus zu betrieben wird. In diesem Fall hat man dann, bildlich gesprochen, einen Hammer entwickelt und jedes Gebiet im Forschungsuniversum sieht auf einmal aus wie ein Nagel. Das Dumme ist nur, dass fast jeder, der sich heute mit Wissenschaftsphilosophie beschäftigt, zugibt, dass es so etwas wie wissenschaftliche Methodik gar nicht gibt, dass es obsolet ist, ein Unterscheidungsmerkmal festlegen zu wollen, und dass Szientismus Gefahren birgt.7 Und im Laufe

4     L. Mclntyre

der Zeit haben die meisten auch die Idee fallen lassen, dass sich im Herzen der Wissenschaftsphilosophie eine allgemeingültige Regel finden ließe. Im Zentrum des Wissenschaftsmodells, das Karl Popper 1934 in seinem Werk Die Logik der Forschung entwarf – er selbst übersetzte es 1959 unter dem Titel The Logic of Scientific Discovery ins Englische – steht die Vorstellung, es gebe zwar eine zuverlässige Art und Weise, Wissenschaftlichkeit von Unwissenschaftlichkeit zu unterscheiden, eine wissenschaftliche Methode an sich existiere jedoch nicht. Popper vertritt die Ansicht, Wissenschaft bediene sich „falsifizierbarer“ Theorien, also solcher, die zumindest prinzipiell durch Fakten widerlegt werden können, als Demarkationslinie. Obwohl dieses Modell durchaus einige logische und methodologische Vorteile aufweist, birgt es doch in den Augen vieler Wissenschaftsphilosophen Probleme: Es entwerfe ein zu idealisiertes Bild und konzentriere sich zu sehr auf die „großen Augenblicke“ der Wissenschaft wie beispielsweise den Übergang von Newtons zu Einsteins Modell in der Physik. So funktioniere Wissenschaft meistens nicht, sagen sie.8 Einen anderen Ansatz bot Thomas Kuhn im Jahr 1962 in seinem berühmten Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Er legte den Fokus auf die Art und Weise, wie wissenschaftliche Theorien durch Paradigmenwechsel an die Stelle anderer treten, wenn sich die alte Theorie als zunehmend problematisch erwiesen hat, sich der wissenschaftliche Konsens dadurch stark verändert und das Fachgebiet sich scheinbar über Nacht neu ausrichtet. Die Schwierigkeit liegt hier nicht nur in dem schon bekannten Vorwurf, wissenschaftliche Prozesse liefen so nur sehr selten ab (wie beispielsweise beim Wechsel vom ptolemäischen, geozentrischen zum kopernikanischen, heliozentrischen Weltbild in der Astronomie) – was Kuhn aber auch freimütig zugibt, wenn er über die Allgegenwart „normaler“ Wissenschaft spricht –, sondern darin, dass selbst wenn der Prozess so abläuft, er kein rein rationaler ist. Obwohl Kuhn an der Schlüsselrolle der Evidenz beim Paradigmenwechsel festhält: Sobald man bei der Interpretation der Belege „subjektive“ oder soziale Faktoren zulässt, scheint es keine „Methodik“ mehr zu geben, der man folgen könnte.9 Dieser Umstand bereitet nicht nur Probleme, wenn es darum geht, die Belegbarkeit wissenschaftlicher Behauptungen zu zeigen, sondern verhindert auch die Entwicklung einer verbindlichen Vorgehensweise für andere Fachgebiete. Ein weiteres Modell, das sich von den bisherigen abhebt, entwickelten Imre Lakatos, Paul Feyerabend, Larry Laudan und die sozialen Konstruktivisten, um wissenschaftliche Weiterentwicklung zu beschreiben. Sie alle graben der Vorstellung, die Naturwissenschaften besäßen einen „Sonderstatus“ und andere Forschungsfelder täten gut daran, ihrem Beispiel

1 Einführung     5

zu folgen, Stück für Stück das Wasser ab.10 Was machen wir jetzt also mit diesen Informationen? Suchen wir uns einfach unter all diesen Modellen eines aus? Das ist schon mal unmöglich, denn erstens sind sie untereinander weitgehend inkompatibel: Wie im Gleichnis von den blinden Männern und dem Elefanten beschreibt jedes der Modelle einen anderen Teil des Ganzen und es kann kein Gesamtbild von dem entstehen, was Wissenschaft ausmacht. Und zweitens scheinen diese Modelle nur so weit erfolgreich zu sein, dass sie in uns etwas zurücklassen, nämlich die Vorstellung, dass, wenn wir Wissenschaft nur endlich vollständig begreifen würden, wir auch einen Standard entwickeln könnten, der anderen Gebieten mehr Wissenschaftlichkeit verleihen würde. Wenn also die besten aller Ansätze scheitern, mag der Grund vielleicht eine Schwachstelle in der Herangehensweise als solcher sein. Obwohl sich manch einer gegen den Begriff „Schwachstelle“ verwehren mag, ist es doch zumindest ein Versäumnis, dass die Wissenschaftsphilosophie sich so stark auf die „Erfolge“ der Wissenschaft konzentriert hat und die Fehlschläge gerne vernachlässigt. Tatsächlich kann man aus den Fällen, in denen wissenschaftlichen Standards nicht Genüge getan wurde, ebenso viel über das Wesen der Wissenschaft lernen wie aus den Paradebeispielen für das Einhalten dieser Standards. Eigentlich ist es ja gar nicht so schlecht, die Besonderheit von Wissenschaft aus ihren Erfolgsgeschichten ableiten zu wollen, aber diese Vorgehensweise hat dennoch zu einigem Unfug geführt. Erstens mag es zwar etwas Tröstliches haben, sich Wissenschaft als einen langen und geraden Weg vorzustellen, der unweigerlich im Reich der Wahrheit endet, während man die Fehlschläge, die ihn säumen, nur den Richtungslosen und Unwissenden zuschreibt. Doch die Wissenschaftsgeschichte straft diese Sicht der Dinge Lügen, denn sie steckt voller Theorien, die zwar wissenschaftlich, aber auch schlicht falsch waren. Sowohl Popper als auch Kuhn haben sich sehr dafür eingesetzt, zu zeigen, dass Wissenschaftlichkeit dann gestärkt wird, wenn man bei Erklärungsversuchen strengstens darauf achtet, dass Theorie und Evidenz zusammenpassen. Aber in der Rückschau ist es nur allzu einfach, dies als unausweichlich darzustellen und so zu tun, als strebe die Wissenschaft unaufhaltsam der einzig wahren Erklärung für unsere Realität zu. Zweitens landet man, wenn man ständig darauf aus ist, Wissenschaft durch ihre Erfolge erklären zu wollen, als Philosoph hauptsächlich bei solchen Beispielen, die in den Naturwissenschaften zu finden sind. Um genau zu sein, waren wir gezwungen, die meisten unserer Rückschlüsse über das, was Wissenschaft besonders macht, anhand der Entwicklungen auf den Gebieten der Physik und der Astronomie zu ziehen. Das ähnelt ein wenig

6     L. Mclntyre

dem Ansatz, das Ziel dort aufzumalen, wo der Pfeil bereits gelandet ist. Und sollten nun andere Fachgebiete, die mehr Wissenschaftlichkeit wagen wollen, versuchen, die Physik nachzuahmen? Die Ansicht, dass man diese Frage ganz unkritisch bejahen solle, hat den anderen Fachgebieten einen Bärendienst erwiesen, denn manche von ihnen haben zwar eine solide empirische Basis, unterscheiden sich jedoch in Bezug auf ihre Forschungsthemen ziemlich stark von den Naturwissenschaften. Zur Erinnerung: Ein entscheidender Teil dessen, was sich die Wissenschaftsphilosophie auf die Fahnen geschrieben hat, ist ja zu verstehen, was die Wissenschaft von anderen Formen des Erkenntnisgewinns unterscheidet, und dann die Mechanismen auf andere Gebiete zu übertragen. Was bedeutet das aber für Fachgebiete wie beispielsweise die Sozialwissenschaften, die bis vor Kurzem noch eine untergeordnete Rolle in den Erklärungsmodellen der Wissenschaftsphilosophie gespielt haben? Popper vertrat bekanntermaßen die Auffassung, die Soziologie könne keine Wissenschaft sein, da sie mit dem Problem der „offenen Systeme“ behaftet sei, welches sich aus der Wirkung von freiem Willen und Bewusstsein auf die menschliche Entscheidungsfindung ergebe. Die Naturwissenschaften, so Popper, machten sich die Methode der falsifizierbaren Theorien zunutze – ein Weg, der den Sozialwissenschaften verschlossen bliebe.11 Auch Kuhn versuchte sich, trotz seiner Fans innerhalb der Soziologie (die vielleicht meinten, hier endlich einmal ein erreichbares Ziel zu haben), von dem leicht chaotischen Studium des menschlichen Verhaltens zu distanzieren, indem er darauf bestand, sein Modell ließe sich nur auf die Naturwissenschaften anwenden und er habe den Sozialwissenschaften keinerlei Ratschläge an die Hand zu geben. Wenn man dazu jetzt noch das Problem addiert, das einige der anderen „speziellen“, d. h. nichtnaturwissenschaftlichen Fachgebiete wie die Biologie oder gar die Chemie darstellen, haben wir es mit einer handfesten Krise zu tun, wenn wir eine Auffassung von Wissenschaft verteidigen möchten, die sich von der Reduktion auf die Physik abhebt. Was stellen wir an mit der Behauptung, es gebe erkenntnistheoretisch eigenständige Konzepte in der Chemie (wie Transparenz oder Geruch ) ebenso wie in der Soziologie (wie Entfremdung oder Anomie ), die nicht auf einer physisch beschreibenden Ebene erklärt werden können? Wenn unser Paradebeispiel für erfolgreiche Wissenschaft die Physik ist, schafft es dann selbst die Chemie überhaupt in diesen erlauchten Kreis? Von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen, passen die meisten derjenigen Fachgebiete, die entweder wissenschaftlich sind oder es gerne werden möchten, nicht in die Modelle der Wissenschaftsphilosophie, welche anhand der Geschichte der Physik und der Astronomie entwickelt wurden.

1 Einführung     7

Man könnte sie daher als „Sonderwissenschaften“ bezeichnen. Gibt es keine Ratschläge, keine Möglichkeit der Rechtfertigung, die wir ihnen zu bieten hätten? Und was ist schlussendlich mit den Gebieten, die zwar den Anstrich von Wissenschaftlichkeit aufweisen, aber dieser einfach nicht gerecht werden können (wie beispielsweise „Intelligent Design“ oder Klimawandelleugnung)? Oder mit den Fällen, in denen Wissenschaftler Verrat an ihrem Berufsethos und Betrug begangen haben (wie Andrew Wakefields Studie, in der er einen angeblichen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus herstellte)? Können wir von diesen Beispielen etwas lernen? Ich behaupte, dass wir, wenn wir ein wirkliches Interesse an jenen Faktoren haben, die Wissenschaftlichkeit zu etwas Besonderem machen, sehr viel von den Menschen lernen können, die sie über Bord geworfen haben. Was tun die Verfechter des Intelligent Design nicht, das ernst zu nehmende Wissenschaftler tun sollten (und normalerweise auch tatsächlich praktizieren)? Warum ist der überbordende „Skeptizismus“ der Klimawandelleugner nicht gerechtfertigt? Und warum ist es für Wissenschaftler unzulässig, ihre Daten zu manipulieren, sich die Rosinen aus ihren Stichproben herauszusuchen oder auf andere Weise zu versuchen, Datensätze ihrer Theorie anzupassen, wenn ihr Ziel ein wissenschaftliches Erklärungsmodell ist?12 Es mag den Menschen, denen Wissenschaftlichkeit und das Bewahren derselben am Herzen liegen, vielleicht selbstverständlich erscheinen, dass all diese Fälle einen nicht wiedergutzumachenden Verstoß gegen die Prinzipien der Wissenschaft darstellen. Aber sollten wir dann nicht mithilfe dieser Fallbeispiele in der Lage sein, die Natur genau dieser Prinzipien beschreiben zu können? In diesem Buch möchte ich einen Ansatz vorschlagen, der sich gänzlich von dem meiner Vorgänger unterscheidet: Ich möchte nicht nur annehmen, dass Wissenschaft unverkennbare Eigenschaften besitzt, sondern auch, dass man diesen Eigenschaften nur dann auf die Spur kommt, wenn man den Blick nicht länger ausschließlich auf die Erfolge der Naturwissenschaften fokussiert. Ich werde mich stattdessen sowohl mit solchen Gebieten beschäftigen, denen die Wissenschaftlichkeit fehlt, als auch mit jenen, die sich mehr davon aneignen möchten. Die Untersuchung der besonderen Charakteristika der Wissenschaft durch das Studium des Übergangs von Newton zu Einstein herauszuarbeiten, ist die eine Sache. Eine vollkommen andere ist es, sich an Fälle von Betrug, Pseudowissenschaft, Wissenschaftsleugnung oder an die Sozialwissenschaften heranzuwagen. Warum sollten wir diesen Aufwand überhaupt betreiben? Weil wir meiner Ansicht nach, um die Macht und auch die Zerbrechlichkeit der

8     L. Mclntyre

­ issenschaft verstehen zu können, nicht nur die Gebiete betrachten W dürfen, die bereits Wissenschaftlichkeit aufweisen, sondern auch jene einbeziehen müssen, die sich (vielleicht erfolglos) um die Aneignung wissenschaftlicher Standards bemühen. Wir können also viel über die besonderen Eigenschaften der Wissenschaft lernen, wenn wir die weiter oben erwähnten „Sonderwissenschaften“ genauer betrachten. Und wir sollten lernen, mit den Fragen der Menschen umzugehen, die wissen möchten, warum die Wissenschaft, wenn sie doch angeblich so glaubwürdig ist, (selbst in den Naturwissenschaften) nicht immer die passenden Antworten liefert und bisweilen schlicht versagt. Wenn uns das gelingt, erkennen wir nicht nur die besondere Natur der Wissenschaft, sondern haben uns auch die notwendigen Werkzeuge verschafft, um ihre Ansätze auch auf andere empirische Gebiete übertragen zu können. Es gibt da allerdings noch ein weiteres Problem: Wir können dieser Tage nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass wissenschaftliche Ergebnisse allgemein anerkannt werden, nur weil sie sachlich richtig und ausreichend belegt sind. Die Klimawandelleugner etwa pochen darauf, es seien mehr Belege erforderlich, um die globale Erwärmung nachweisen zu können. Die Impfgegner behaupten, es gebe eine Verschwörung zur Vertuschung der Wahrheit über Autismus. Was machen wir mit denjenigen, die wissenschaftliche Erkenntnisse rundweg ablehnen? Wir mögen der Versuchung erliegen, sie als irrational abzutun. Aber das täten wir dann auf eigene Gefahr. Wenn wir nicht in der Lage sind zu zeigen, warum wissenschaftliche Erklärungsmodelle ein größeres Anrecht auf Glaubwürdigkeit besitzen, warum sollten die Kritiker sie dann akzeptieren? Wenn wir nicht verstehen, was Wissenschaft ist, dann können wir sie nicht nur unmöglich auf andere Gebiete übertragen. Wir können sie nicht einmal dort bewahren, wo sie bereits erfolgreich eingesetzt wird. Kurzum: Ich denke, dass viele, die über Wissenschaft geschrieben haben, deshalb der Frage nach deren besonderen Eigenschaften nicht gerecht geworden sind, weil sie sich zu wenig mit den Fehlschlägen der Naturwissenschaften, deren Potenzial für die Soziologie und den Rückschlägen jener Gebiete auseinandergesetzt haben, die sich einen wissenschaftlichen Anstrich geben, ohne sich die entsprechende ethische Basis anzueignen. Dieses Vorgehen hat zum einen dazu geführt, dass Wissenschaftlichkeit nicht dort übernommen werden konnte, wo der Wunsch danach bestand, und zum anderen zu einer irrationalen Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Menschen, deren Ideologie die eigene Meinung auf eine Stufe mit Wissenschaft setzt.

1 Einführung     9

Aber was ist denn nun an Wissenschaftlichkeit so außergewöhnlich? Es ist, wie ich im Folgenden zu zeigen hoffe, die wissenschaftliche Grundhaltung in Bezug auf empirische Beweise, die aber ebenso essenziell wie schwer zu definieren ist. Um wissenschaftlich zu arbeiten, müssen wir uns auf eine innere Einstellung einlassen, nach der unsere vorgefassten Glaubensgrundsätze, unsere Ideologien und Wünsche sich nicht auf die Entscheidung auswirken, was letztendlich der Prüfung anhand der Beweislage standhält. Es ist nicht leicht, diese Einstellung klar zu umreißen und abzugrenzen, und sicherlich hat man damit auch keinen Ersatz für „wissenschaftliche Methodik“, aber meiner Ansicht nach ist sie für die Anwendung (und das Verstehen) von Wissenschaft von entscheidender Wichtigkeit. Denn diese Grundhaltung gehört zu den Dingen, die von den Sozialwissenschaften übernommen werden können. Zudem hilft sie auch dabei zu erklären, warum das Intelligent Design nicht wissenschaftlich ist, warum die Leugnung der Belege für den Klimawandel eine leere Haltung ist und sie hilft den Wahnwitz anderer Verschwörungstheorien aufzudecken, die vorgeben dort erfolgreich zu sein, wo der Wissenschaft mit ihrer redlichen Skepsis die Hände gebunden sind. Ihrer innersten Natur nach zeichnet sich die Wissenschaftlichkeit durch ein aufrichtiges Interesse an Belegen aus, auch wenn das bedeutet, aufgrund einer veränderten Beweislage eine Theorie zu verändern. Nicht die Forschungsfragen oder die Methode des Erkenntnisgewinns sind es, die Wissenschaft zu etwas Besonderem machen, sondern die Werte und das Verhalten derer, die sie praktizieren. Dem auf die Spur zu kommen, stellt sich jedoch als erstaunlich komplex heraus, sowohl im Hinblick auf die Geschichte früherer wissenschaftlicher Errungenschaften als auch auf einen Leitfaden, der anderen Fachgebieten künftig zu mehr Wissenschaftlichkeit verhelfen könnte. In den folgenden Kapiteln werde ich darlegen, inwiefern uns die wissenschaftliche Grundhaltung bei der Lösung von drei Hauptaufgaben helfen kann: dabei, die Natur der Wissenschaft zu verstehen (Kap. 1 bis 6), bei der Bewahrung von Wissenschaft (Kap. 7 und 8) und dabei, Wissenschaft zu einem Wachstum zu verhelfen (Kap. 9 und 10). Wenn sie korrekt angewendet wird, arbeitet die Wissenschaftsphilosophie nicht nur beschreibend oder erklärend, sondern sie kann auch Normen festsetzen. Sie kann nicht bloß dabei helfen, die Erfolgsgeschichten der Wissenschaft zu erklären. Die Wissenschaftsphilosophie hilft auch bei der Klärung der Frage, inwiefern sich evidenzbasierte und experimentelle Methoden künftig als wertvoll für andere empirische Gebiete erweisen können. Zudem sollte sie uns auch dabei unterstützen, klarer gegenüber jenen Menschen zu

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argumentieren, die nicht verstehen können – oder wollen –, was Wissenschaft auszeichnet, dass die Behauptungen von Pseudowissenschaftlern und Wissenschaftsleugnern ihren erkenntnistheoretischen Standards nicht genügen und warum wissenschaftliche Erklärungsmodelle einen größeren Anspruch auf Akzeptanz besitzen. Jahrzehntelang hat die Wissenschaftsphilosophie versucht, die besondere Natur der Wissenschaft durch die Betrachtung der naturwissenschaftlichen Erfolgsgeschichten zu ergründen. Ich dagegen setze genau am anderen Ende der Skala an, denn wenn man wirklich wissen will, wodurch sich Wissenschaft auszeichnet, muss man über den Tellerrand der Siege in den Naturwissenschaften hinausblicken und sich in Gebiete vorwagen, die keine Wissenschaften sind und es vielleicht auch niemals werden.

2 Die wissenschaftliche Methode und das Abgrenzungsproblem

Auf die Frage, was den erkenntnistheoretischen Sonderstatus von Wissenschaft ausmacht, werden die meisten wohl anführen, es sei die „wissenschaftliche Methode“, die sie von anderen Erkenntniswegen unterscheide. Auf der anderen Seite ist sich die Mehrheit der Wissenschaftsphilosophen einig darüber, dass es so etwas wie eine „wissenschaftliche Methode“ gar nicht gibt. Wenn Sie, liebe Leser, zu den Menschen gehören, die ihre Astronomie-, Physik-, Chemie- oder Biologieschulbücher aufgehoben haben, gebe ich Ihnen den Tipp, sich jetzt eines herauszusuchen und die erste Seite aufzuschlagen. Typischerweise ist das die Seite, die von Dozenten und Studenten gleichermaßen links liegen gelassen wird und die dennoch unverzichtbar ist. Auf dieser Seite wird nämlich der Grundstein für die Glaubwürdigkeit der Behauptungen gelegt, auf die ich mich im weiteren Verlauf dieses Buches beziehen werde. In vielen Fällen bietet sie auch einen Abriss der „wissenschaftlichen Methode“. Es gibt hierbei verschiedene Ansätze, aber an dieser Stelle möchte ich eine Kurzfassung der klassischen sogenannten ­Fünf-Stufen-Methode vorstellen. 1. Beobachtung 2. Hypothesenbildung 3. Voraussage 4. Überprüfung 5. Ergebnisanalyse, Überarbeitung der Hypothese und Wiederholung1

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_2

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Ist das tatsächlich die Art und Weise, in der wissenschaftliche Entdeckungen gemacht werden? Das würde wohl kaum jemand behaupten. Wissenschaftliche Theorien entstehen oft in einem fast chaotischen Prozess, bei dem Spürsinn, Fehlschläge, Sackgassen und wilde Entschlossenheit ebenso eine Rolle spielen wie der gelegentliche schiere Glücksfall. Aber das ist es eben nicht, was Wissenschaft zu etwas Besonderem macht. Der oft stark gewundene Weg, den wissenschaftliche Ideen und Vorstellungen nehmen, ist eher der Stoff für Legenden. Man denke an August Kekulé, der vor seinem Kaminfeuer sitzt und von einer Schlange träumt, die sich selbst in den Schwanz beißt – ein Bild, das zur chemischen Formel des Benzolrings führt. Oder an Leó Szilárd, der auf die Straße tritt, als die Ampel von Rot auf Grün springt, und dem in genau diesem Augenblick klar wird, dass die Kernspaltung möglich ist.2 Wie in der Kunst, so kann auch in der Wissenschaft die Inspiration den unterschiedlichsten Quellen entspringen. Und doch sind viele Menschen der Auffassung, gerade wissenschaftliche Ergebnisse seien deshalb besonders glaubwürdig, weil man sie im Gegensatz zu anderen Methoden im Nachhinein faktenbasiert nachvollziehen kann. Also ist es nicht der Entstehungsprozess wissenschaftlicher Theorien, der sie so glaubwürdig macht, sondern jener, durch den sie der Logik folgend begründet werden können. Wissenschaftliche Lehrbücher enthalten eine bereinigte Version historischer Abläufe. Sie liefern uns das Ergebnis vieler Jahrhunderte der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und vermitteln uns das Gefühl, der Weg der Erkenntnis habe unaufhaltsam zu unserer heutigen aufgeklärten Weltsicht geführt. Wissenschaftshistorikern ist bewusst, dass dies nicht den Tatsachen entspricht. Und dennoch ist diese Vorstellung einer „wissenschaftlichen Methode“ noch immer außerordentlich beliebt, weil sie so ungemein praktisch ist. Man kann mit ihr nicht nur den besonderen Glaubwürdigkeitsanspruch wissenschaftlicher Ergebnisse stützen, sondern auch die Idee, dass andere Disziplinen den Prozess wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns übernehmen können, wenn sie ihre eigenen empirischen Untersuchungen durchführen möchten.3 Doch selbst wenn das klassische Fünf-Stufen-Modell zu kurz greift, haben Wissenschaftsphilosophen noch ein paar andere Möglichkeiten gefunden, die Sonderstellung von Wissenschaft zu beschreiben. Und manche davon konzentrieren sich auf die Methodik. An dieser Stelle sollte man sich nicht verwirren lassen. Die Behauptung, es gebe keine universelle, in allen Situationen passende „wissenschaftliche Methode“, bei der man vorn messbare Beobachtungen einwirft und hinten wissenschaftliche Ergebnisse herauskommen, widerspricht nicht der Vorstellung,

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­ issenschaft könne einige einzigartige methodische Eigenschaften besitzen. W Zwischen der Auffassung, es gebe kein Rezept oder keine Formel zur Herstellung wissenschaftlicher Theorien, und der Behauptung, Wissenschaftler würden überhaupt keine wie auch immer gearteten Methoden anwenden, liegen Welten. Die meisten Wissenschaftsphilosophen hängen nicht der Vorstellung einer schlichten „wissenschaftlichen Methode“ an. Viele von ihnen gehen jedoch davon aus, dass es außerordentlich wichtig ist, sich mit den methodischen Unterschieden zwischen Wissenschaft und ­Nicht-Wissenschaft auseinanderzusetzen, um so die erkenntnistheoretische Autorität der wissenschaftlichen Theorien zu untermauern, die bereits entdeckt worden sind.

Die Relevanz des Abgrenzungsproblems Einer der Vorteile, die der Fokus auf die Methodik der Wissenschaft bietet, ist eine leichtere Unterscheidung zwischen dem, was Wissenschaft ist, und dem, was nicht Wissenschaft ist. Man fasst diese Frage unter dem Begriff „Abgrenzungsproblem“ zusammen. Es handelt sich dabei um ein Thema, das spätestens seit Karl Popper und dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der Wissenschaftsphilosophie von zentraler Bedeutung ist. In seinem Aufsatz „The Demise of the Demarcation Problem“ (Der Niedergang des Abgrenzungsproblems) schreibt Larry Laudan, das Abgrenzungsproblem ließe sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen, der zwischen Meinung und Wissen habe unterscheiden wollen. Es sei dann wieder in der Ära Galileo und Newton ins Bewusstsein getreten. Beide hätten durch die Anwendung empirischer Methoden im Studium der Naturgesetze die Wissenschaft in die Moderne überführt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so Laudan, hätten Auguste Comte und andere begonnen, sich mit der Behauptung auseinanderzusetzen, es sei die „Methode“, die Wissenschaft einzigartig mache, auch wenn es noch keinen Konsens darüber gegeben habe, was genau damit eigentlich gemeint sei.4 Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Philosophen dann so weit, diese Analyse genauer durchzuführen und zu versuchen, das Abgrenzungsproblem durch die Entwicklung eines strengen „Abgrenzungskriteriums“ zu lösen, mithilfe dessen man zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft unterscheiden könnte. Die Anhänger des logischen Positivismus versuchten diesen Ansatz auf der Basis einer angeblichen besonderen „Bedeutung“ wissenschaftlicher Behauptungen zu verfolgen. Im Gegensatz zu anderen Arten von Aussagen seien jene im Bereich der Wissenschaft als entscheidend für unsere

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­ ahrnehmung der Welt akzeptiert. Dies bedeute, dass sie in irgendeiner W Weise durch sensorische Daten verifizierbar sein müssten. Wenn Wissenschaftler die Behauptung aufstellten, der Planet Venus durchliefe verschiedene Phasen, so sollten wir auch in der Lage sein, diese durch ein Teleskop zu beobachten. Aussagen, die sich nicht so bestätigen ließen (abgesehen von solchen, die im Bereich der Logik gemacht würden, die durch folgerichtige Stichhaltigkeit bereits auf einer soliden Basis stünden), wurden als „kognitiv bedeutungslos“ bezeichnet. Man tat sie als Unsinn und Zeitverschwendung ab, weil es keinen Prozess gab, durch den man sie als wahr oder falsch hätte kennzeichnen können. Damit eine Aussage über die Zusammenhänge unserer Weltordnung als wahr gelten könne, so die logischen Positivisten, müsste sie durch sinnliche Erfahrung verifiziert werden. Gelänge dies nicht, sei sie nicht wissenschaftlich zu nennen, sondern lediglich metaphysisch (ein abwertender Begriff, der für weite Teile von Erkenntnisbereichen verwendet wurde, unter anderem für Religion, Ethik, Ästhetik und den überwiegenden Teil der Philosophie). Damit den logischen Positivisten eine solche allgemeingültige Unterscheidung gelingen konnte, mussten sie allerdings ein „Abgrenzungskriterium“ entwickeln, anhand dessen man bedeutende und bedeutungslose Aussagen klassifizieren konnte. Und genau dies wurde ihnen – aus praktischen Gründen, die sich schließlich auf das Problem einer fehlerbehafteten Klassifizierung zuspitzten – zum Verhängnis.5 Bald nahm sich mit Karl Popper der vielleicht wichtigste Vertreter des Abgrenzungsproblems an. Noch bevor der logische Positivismus formal vollkommen an Bedeutung verloren hatte, war Popper sich des Umstands bewusst, dass das Streben nach einer Verifikation wissenschaftlicher Aussagen zu Problemen führte. Die logischen Positivisten hatten Wissenschaft auf der Basis induktiver Schlussfolgerungen aufgebaut, was die Vorstellung unterlief, man könne grundsätzlich jede empirische Behauptung als wahr bestätigen. David Humes berühmt gewordenes Induktionsproblem machte genau die logische Gewissheit unmöglich, welche die logischen Positivisten für wissenschaftliche Aussagen zu erreichen versuchten.6 Selbst wenn sie nicht belegt werden konnten, besaßen wissenschaftliche Aussagen aufgrund ihrer prinzipiellen Belegbarkeit nicht dennoch eine einzigartige Bedeutung? Popper war nicht dieser Ansicht und betrachtete das Streben nach „Bedeutung“ als einen weiteren Fehler, mit dem der Ansatz der logischen Positivisten behaftet sei. Den Sonderstatus der Wissenschaft mache nicht ihre Bedeutung, sondern ihre Methodik aus, so dachte er. Also wagte er sich im Winter des Jahres 1919 an den Versuch, das Abgrenzungsproblem auf andere Weise zu lösen, indem er sowohl den Faktor der Verifikation als

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auch den der Bedeutung verwarf und sich stattdessen auf das konzentrierte, was er die „Falsifizierbarkeit“ wissenschaftlicher Theorien nannte: die Vorstellung, es müsse möglich sein, Theorien durch einen bestimmten Prozess ausschließen zu können. Ein Anliegen war Popper die Differenzierung zwischen Aussagen wie beispielsweise denen der Astrologie – die mit jeder Art von Nachweis vereinbar zu sein schienen – und denen der Wissenschaft, die sich möglicherweise als falsch herausstellen konnten. Wenn ein Astrologe für uns ein individuelles Horoskop erstellt, das besagt: „Manchmal sind Sie unsicher, was Ihre eigenen Fähigkeiten betrifft, und haben das Gefühl, ein Hochstapler zu sein“, können wir schnell das Gefühl bekommen, wir hätten es mit einem ganz erstaunlichen Einblick in unsere innerste Gedankenwelt zu tun. Das geht so lange gut, bis wir feststellen, dass dieser Astrologe allen seinen Kunden das gleiche Horoskop erstellt. Ganz anders verhält es sich im Fall einer wissenschaftlichen Theorie. Wenn eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler eine Voraussage trifft, dann tut sie oder er das in dem Bewusstsein, dass wenn die Theorie korrekt ist, das Ergebnis der Voraussage entspricht. Und wenn das nicht der Fall ist, dann muss die Theorie fehlerhaft sein. Diese Art von Gegensatz nutzte Popper zur Lösung der Frage nach möglichen methodischen Unterschieden zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Er suchte nach einer Möglichkeit, sich von dem ­ unmöglich hohen Anspruch lösen zu können, nach dem wissenschaftliche Aussagen immer durch ihre Belege bestätigt werden müssten, und dennoch weiterhin Belege hinzuziehen zu können. Und dann traf ihn eine Erkenntnis. Die logischen Positivisten und andere waren auf der Suche nach einer Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, wurden jedoch durch Humes Induktionsproblem daran gehindert, wissenschaftliche Aussagen als verifizierbar anzusehen. Warum sollte man nicht stattdessen dem Weg der deduktiven Gewissheit folgen, der bereits auf dem Gebiet der Logik Anwendung fand? Wer sich mit formaler Logik beschäftigt hat, weiß, dass die einfachste und bekannteste deduktiv valide Schlussfigur der Modus ponens ist. Er besagt: „Wenn A, dann B. Und A. Daher B.“ Das ist unproblematisch. Es gibt keinen Grund zu überprüfen, ob dies „einen Einfluss auf unsere Beobachtung hat“. Deduktive Schlüsse sind immer valide, und das wird sich auch nicht ändern, denn die Wahrheit der Voraussetzung reicht aus, um die Wahrheit der Schlussfolgerung zu bestätigen. Wenn die Voraussetzung, die Prämisse, wahr ist, ist es auch die Schlussfolgerung, die Konklusion. Das bedeutet, dass die Wahrheit der Schlussfolgerung keine Information

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e­nthalten kann, die nicht bereits in der Voraussetzung enthalten ist. Betrachten wir die folgende valide Schlussfolgerung: Wenn ein Mensch zwischen 1945 und 1991 geboren wurde, lässt sich Strontium-90 in seinen Knochen nachweisen.7 Adam wurde im Jahr 1963 geboren. Daher lässt sich in seinen Knochen Stronum-90 nachweisen.7

Das Problem mit wissenschaftlichen Aussagen ist jedoch, dass sie diesem Muster nicht zu folgen scheinen. Vor Popper hatte man sie jahrhundertelang als induktiv betrachtet, also eher nach dem Schema: „Wenn A, dann B. Und A. Daher A.“ Ein Beispiel: Wenn ein Mensch zwischen 1945 und 1991 geboren wurde, lässt sich Strontium-90 in seinen Knochen nachweisen. In Evas Knochen lässt sich Stron um-90 nachweisen. Daher wurde Eva zwischen 1945 und 1991 geboren.

Diese Art von Schlussfolgerung ist offensichtlich nicht deduktiv valide. Die Tatsache, dass sich in Evas Knochen Strontium-90 nachweisen lässt, ist keine Garantie dafür, dass sie zwischen 1945 und 1991 geboren wurde. Eva könnte beispielsweise auch in den späten Neunzigern in der Nähe eines Kernkraftwerks in Pennsylvania aufgewachsen sein, einer Gegend, in der aufgrund von Kontamination Strontium-90 in der Umwelt nachgewiesen werden konnte. In diesem Fall ist die Schlussfolgerung, dass wenn die Prämisse wahr ist, auch die Konklusion wahr ist, nicht zwingend. Bei induktiven Schlüssen enthält die Konklusion Informationen, die über jene in der Prämisse enthaltenen hinausgehen. Das wiederum bedeutet, dass wir tatsächliche Beobachtungen vornehmen müssen, um festzustellen, ob die Konklusion wahr ist. Aber funktioniert Wissenschaft nicht genau auf diese Weise? Tatsächlich ist es so, dass wir bei der argumentativen Untermauerung empirischer Untersuchungsgestände oft über unsere eigenen konkreten Beobachtungen hinausgehen möchten und Schlüsse ziehen, die sich auf ähnliche Situationen übertragen lassen. Obwohl die Möglichkeiten unserer Beobachtung begrenzt sein mögen, suchen wir nach Mustern und hoffen, dass sie sich daraus ableiten lassen. Angenommen wir interessieren uns für eine einfache empirische Fragestellung, wie beispielsweise die Farbe von Schwänen. Wir haben im Laufe unseres Lebens schon viele Schwäne beobachten können, und alle waren

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sie weiß. Auf dieser Basis könnten wir uns zu der Aussage befähigt fühlen, alle Schwäne seien weiß. Aber stimmt das wirklich? Wir haben unsere Beobachtungen angestellt und eine Hypothese gebildet. Doch diese müssen wir noch auf den Prüfstand stellen. Also sagen wir voraus, dass jeder Schwan, den wir von nun an sehen werden, weiß sein wird. Und hier wird es interessant. Angenommen diese Voraussage bewahrheitet sich. Wir könnten unser ganzes restliches Leben in Nordamerika verbringen und tatsächlich könnte jeder Schwan, der uns begegnet, weiß sein. Ist das ein Beleg dafür, dass unsere Hypothese wahr ist? Nein. Es ist durchaus möglich, dass uns eines Tages, wenn wir nach Australien reisen (oder einfach Google bemühen), ein schwarzer Schwan begegnet. Wenn wir versuchen, wahre empirische Aussagen über die Welt zu treffen, werden wir durch die Tatsache eingeschränkt, dass unser Erfahrungshorizont immer begrenzt ist. Egal wie lange wir leben, unsere Beobachtungsstichprobe kann unmöglich alle Schwäne umfassen, die je gelebt haben oder je leben werden. Also können wir uns nie sicher sein. Möchten wir allgemeingültige Aussagen über unsere Welt entwickeln – so wie es manchmal bei wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der Fall ist –, sehen wir uns grundsätzlich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass irgendwann ein Beleg auftaucht, der unserer Aussage widerspricht. Der Grund dafür ist, dass unsere Argumentation in diesem Fall induktiv ist und induktive Schlussfolgerungen nicht deduktiv valide sind. Man kann schlicht und ergreifend nicht garantieren, dass die Zusammenhänge der Welt mit unserem begrenzten Beobachtungshorizont übereinstimmen. Und dennoch funktioniert Wissenschaft ganz gut. Obwohl sie die Wahrheit unserer Aussagen nicht garantieren kann, sammeln wir zumindest Belege, die für die Rechtfertigung unserer Vorstellungen relevant sind. Und sollte dies nicht die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass unsere allgemeinen Aussagen wahr sind?8 Aber warum sich damit zufriedengeben? Popper störte sich an der induktiven Form von Schlussfolgerungen, wie sie von den logischen Positivisten und anderen als Fundament der Wissenschaft verwendet wurde. Doch wenn das ihre logische Basis ist, wie können wir dann überhaupt in irgendeiner Weise zwischen Wissenschaft und ­ Nicht-Wissenschaft unterscheiden? Zuzugeben, dass „wir uns irren könnten“, klingt nicht nach dem vielversprechendsten Ansatz. Popper suchte nach einem stärkeren Mittel. Er wollte eine logische Basis für die Einzigartigkeit der Wissenschaft entwickeln. Popper musste nicht lange danach suchen. Die induktive Argumentation, die wir oben angewendet haben, wird als „Affirmation der Konsequenz“ bezeichnet und ist ein bekannter logischer Fehler. Aber es gibt andere,

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bessere Formen der Schlussfolgerung und die eindringlichste – der Modus tollens – ist deduktiv valide. Er sieht Folgendes vor: „Wenn A, dann B. Und nicht B. Daher nicht A.“ Wenn ein Mensch zwischen 1945 und 1991 geboren wurde, lässt sich Strontium-90 in seinen Knochen nachweisen.9 In Gabriels Knochen lässt sich kein Stron um-90 nachweisen. Daher wurde Gabriel nicht zwischen 1945 und 1991 geboren.9

Poppers Erkenntnis war die folgende: Dies sei, so meinte er, das logische Fundament wissenschaftlicher Schlussfolgerungen. Nur weil die Wissenschaft sich die Zusammenhänge der Welt aus empirischen Fakten erschließen möchte, heißt das nicht, dass sie den Problemen ausgeliefert ist, mit denen induktive Schlussfolgerungen behaftet sind. Denn wenn wir uns das oben beschriebene Beispiel ansehen, erkennen wir, dass man durchaus empirische Belege sammeln und aus ihnen in negativer Weise schließen kann, sodass wir unsere allgemeine Aussage revidieren müssen, wenn sie der Überprüfung nicht standhält. Wie die logischen Positivisten verließ sich auch Popper auf empirische Daten. Doch nun spielten diese Daten nicht mehr deswegen eine Rolle in Bezug auf die Beobachtung, weil sie zur Verifikation herangezogen werden konnten, sondern die Belege waren deshalb wichtig, weil durch sie die zu prüfende Theorie widerlegt werden konnte. Erinnern wir uns an den schwarzen Schwan. Wäre uns ein solcher begegnet, hätten wir unsere Hypothese, „alle Schwäne sind weiß“, revidieren müssen. Ein einziges Gegenbeispiel besitzt durch den Modus tollens die Macht, unsere allgemeine Aussage über die Welt zu verändern. Und dies, so dachte Popper, sei eine Möglichkeit, um sich von der Idee der Verifikation zu lösen. Wenn wir Wissenschaftlichkeit von Nicht-Wissenschaftlichkeit unterscheiden möchten, müssen wir uns eine einfache Frage stellen: Kann unsere allgemeine Aussage über die Welt von einer irgendeiner möglichen Beobachtung widerlegt werden, selbst wenn wir diese noch nicht gemacht haben und es vielleicht auch nie werden? Lautet die Antwort nein, handelt es sich nicht um Wissenschaft. Glücklicherweise stand Popper bald ein reales Beispiel qualitativ guter Wissenschaft zur Verfügung. Vielleicht war es auch tatsächlich dieses Beispiel, das ihn zu seiner Theorie inspirierte. Im Mai 1919 begab sich Arthur Eddington auf eine Expedition, um die Sterne während einer totalen Sonnenfinsternis zu fotografieren. Dieses Vorhaben war entscheidend, um Einsteins Relativitätstheorie belegen zu können. Popper erklärt dazu:

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Einsteins Gravitationstheorie ergibt, daß das Licht von schweren Körpern (wie etwa der Sonne) angezogen wird, genau wie ein materieller Körper. Daraus kann gefolgert werden, daß ein weit entfernter Fixstern, wenn seine Position am Himmel nahe der Sonne ist, etwas weiter von der Sonne erscheinen muß, als erwartet werden müßte, wenn sein Licht nicht von der Sonne angezogen wird; mit anderen Worten: ein Stern nahe der Sonne sieht aus, als ob er sich etwas von der Sonne entfernt hätte, und mehrere Sterne scheinen sich von der Sonne – und daher voneinander – wegbewegt zu haben. Gewöhnlich kann man diesen Effekt nicht beobachten, weil der alles überstrahlende Glanz der Sonne diese Sterne am Tag unsichtbar macht. Aber während einer Sonnenfinsternis kann man sie photographieren, und wenn man dasselbe Sternbild auch in der Nacht (sechs Monate später oder früher) photographiert, so kann man die Abstände auf den beiden Bildern vergleichen und so die Voraussage prüfen. Was nun an diesem Fall so eindrucksvoll ist, ist das Risiko, das mit einer Vorhersage dieser Art verbunden ist. Denn sollte die Beobachtung zeigen, daß der vorhergesagte Effekt überhaupt nicht vorhanden ist, dann ist die Theorie einfach widerlegt. Die Theorie ist also unvereinbar mit gewissen möglichen Beobachtungsergebnissen – und zwar mit Ergebnissen, die vor Einstein allgemein erwartet wurden.10

Anders ausgedrückt: Die Falsifizierbarkeit der Theorie Einsteins war ein Paradebeispiel für ein korrektes wissenschaftliches Vorgehen. Mit einem Schlag konnte Popper für sich in Anspruch nehmen, zugleich das Abgrenzungsproblem und das Induktionsproblem gelöst zu haben. Das heißt, die Induktion besaß keine Bedeutung mehr, da sie nicht mehr die Basis für Wissenschaft bildete. Er hatte nun eine Möglichkeit gefunden, wie empirische Beobachtungen eine unmittelbare Rolle bei der Überprüfung unserer allgemeinen Aussagen über die Zusammenhänge unserer Welt spielen konnten. Und dank des Modus tollens war sie deduktiv valide. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Popper keineswegs behauptete, sein Kriterium der Falsifizierbarkeit sei eines der Unterscheidung zwischen bedeutenden und bedeutungslosen Aussagen. Im Gegensatz zu den logischen Positivisten musste Popper die Bedeutung nicht als Stellvertreter für die Verifizierbarkeit nutzen, da er einen direkten Weg gefunden hatte, um zwischen wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Aussagen unterscheiden zu können.11 An dieser Stelle sei betont, dass die Falsifizierbarkeit daher nicht nur aufzuzeigen schien, was die Besonderheit von Wissenschaft ausmachte, sondern auch die Fehlerhaftigkeit der Fragestellungen, die lediglich vorgaben, wissenschaftlich zu sein.

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Das Beispiel der Astrologie, das bis in Poppers Zeit zurückreicht, haben wir bereits erwähnt. An dieser Stelle werden wir uns allerdings ein Beispiel ansehen, das etwas zeitgemäßer ist. Im Jahr 1981 verabschiedete der US-Bundesstaat Arkansas den „Act 590“, nach dem in Biologiekursen öffentlicher Schulen „Schöpfungswissenschaft“ und „Evolutionswissenschaft“ gleichberechtigt behandelt werden sollten. Aus dem Gesetz ging klar hervor, dass keine religiösen Begründungen für den Wahrheitsgehalt der Schöpfungslehre vorgelegt würden, denn das hätte einen Verstoß gegen Bundesrecht bedeutet. Stattdessen sollte man sich laut Curriculum nur auf die „wissenschaftlichen Belege“ der Schöpfungslehre konzentrieren. Aber gab es solche überhaupt? Und wie genau sollte sich die „Schöpfungswissenschaft“ eigentlich vom Kreationismus unterscheiden? Weiter hieß es im Gesetzestext, die derzeitige Situation sei unhaltbar, da die alleinige Vermittlung der Evolutionstheorie als ein Bruch mit dem Prinzip der Trennung von Kirche und Staat, ja sogar als feindlich gegenüber „theistischen Religionen“ betrachtet werden könne und „theologischem Liberalismus, Humanismus, nicht-theistischen Religionen und Atheismus“ Vorschub leiste, „da diese Glaubensvorstellungen grundsätzlich den religiösen Glauben an die Evolution umfassten“.12 Die Strategie, die hier zur Anwendung kommen sollte, war offensichtlich: Die Anhänger der Schöpfungswissenschaft versuchten nicht nur zu zeigen, dass es sich dabei nicht um eine Religion handelte, sondern sie suggerierten, die Evolutionstheorie sei ihrerseits fast so etwas wie eine Religion. Weil es jedoch unmöglich war, diesen Kampf auf dem Feld der Religion auszutragen, behaupteten die Verfechter der Schöpfungswissenschaft, sie wünschten sich lediglich eine ehrliche Chance, um ihre Ansichten als eine wissenschaftliche Alternative zu Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Selektion darzustellen.13 Das weitere Schicksal dieses Gesetzes – und die Gerichtsprozesse, die daraufhin folgten – werden wir an späterer Stelle in diesem Kapitel erörtern. Auch in Kap. 8 werden wir darauf zurückkommen, wenn es um die Intelligent-Design-Theorie geht und damit einen zweiten Versuch, den Kreationismus in das öffentliche Schulsystem hineinzutragen. An dieser Stelle ist unsere Fragestellung philosophischer Natur: Konnte die Falsifikation kenntlich machen, welche Fehler in der Schöpfungswissenschaft steckten? Einige waren der Ansicht, dies sei möglich, denn wie schon im Fall astrologischer Aussagen schien auch die zentrale These der Schöpfungswissenschaft – Gott habe das Universum und alles, was sich in ihm tummelt, erschaffen – kompatibel mit jeder Art von Beleg. Widersprach nicht die Entdeckung 65 Mio. Jahre alter Dinosaurierfossile der biblischen Zeitachse von 6000 Jahren? Nicht wirklich, argumentierten die

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S­chöpfungswissenschaftler, denn sicher habe ein allmächtiger Gott doch auch gleich alle Fossiliennachweise miterschaffen können! Ich hoffe, aus unseren früheren Erörterungen des Astrologieproblems ist bereits hervorgegangen, dass diese Neigung, jeden Gegenbeweis einfach wegzuerklären, nicht unbedingt ein Paradebeispiel für Falsifikation darstellt. Während die tatsächliche Wissenschaft alle Hebel in Bewegung setzt, um ihre Theorien anhand der Beobachtung kritisch zu überprüfen, weigerte sich die Schöpfungswissenschaft, ihre Theorie zu revidieren, selbst im Angesicht gesicherter Belege, die dagegensprachen. Dazu kommt noch die Tatsache, dass die Schöpfungswissenschaft selbst so gut wie keine Belege zu bieten hatte und für viele daher nichts weiter als eine Pseudowissenschaft war. Die Vorteile der Falsifikation sind offensichtlich. Hatte Popper tatsächlich eine Möglichkeit gefunden, das Abgrenzungsproblem zu lösen, so besaßen die Philosophen und Wissenschaftler nun ein hervorragendes Werkzeug, mit dem sich die Frage nach der Sonderstellung von Wissenschaft beantworten ließ. Auch gab es damit einen Ausschlussprozess der Praktiken – wie beispielsweise Astrologie und Kreationismus –, die sie nicht als wissenschaftlich ansehen wollten. Waren sie nicht falsifizierbar, zählten sie auch nicht zur Wissenschaft. Poppers Ansatz bot noch einen weiteren Ansatz: Eine Theorie konnte nun als wissenschaftlich gelten, ohne dass sie dazu zwingend wahr sein musste.14 Warum war das wichtig? Auf der Suche nach einem Abgrenzungskriterium war dieser Umstand für diejenigen von entscheidender Wichtigkeit, die gut vertraut mit der Wissenschaftsgeschichte waren und daher wussten, dass selbst die brillantesten Wissenschaftler der letzten Jahrtausende Aussagen gemacht hatten, die sich später als falsch herausstellten. Sie deshalb nicht für Wissenschaftler zu halten, wäre falsch. Obwohl das ptolemäische, geozentrische Weltbild später von Kopernikus´ heliozentrischem Weltbild abgelöst wurde, bedeutet dies nicht, dass Ptolemäus kein Wissenschaftler war. Er bildete seine Theorie auf der Basis empirischer Daten und entwickelte sie, soweit er konnte. Entscheidend ist, dass seine Aussagen falsifizierbar waren, nicht dass sie tatsächlich später widerlegt wurden. Man könnte sich nun gut vorstellen, dass Poppers neues Abgrenzungskriterium auch der Vorstellung von einer „wissenschaftlichen Methode“ neuen Vorschub leisten würde. Doch das wäre weit gefehlt. Tatsächlich gehörte Popper zu den frühesten und heftigsten Kritikern der Idee, es gebe so etwas wie eine „wissenschaftliche Methode“ überhaupt. In seinem klarsten Kommentar zu diesem Thema mit dem passenden Titel „Über die Nichtexistenz der wissenschaftlichen Methode“ schrieb Popper: „Regelmäßig begann ich meine Vorlesungen über Wissenschaftliche Methode, indem ich

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meinen Studenten erzählte, daß es eine wissenschaftliche Methode nicht gibt.“15 An anderer Stelle schreibt er: Der Glaube, daß der Weg der Wissenschaft von der Beobachtung zur Theorie führt, ist auch heute noch so weitverbreitet und so fest, daß ich oft auf Unglauben stoße, wenn ich ihm entgegentrete … Aber in Wirklichkeit ist der Glaube absurd, daß wir allein mit reinen Beobachtungen beginnen können, ohne irgendeine Form von Theorie. Wir können uns das anhand der Geschichte von dem Mann klarmachen, der sein Leben der Naturwissenschaft weihte, alles niederschrieb, was er nur beobachten konnte, und dann seine unschätzbare Sammlung von Aufzeichnungen der Royal Society vermachte, um als induktive Tatsachen verwendet zu werden. Diese Geschichte zeigt uns, daß es zwar nützlich sein kann, Käfer zu sammeln, aber nicht, Beobachtungen zu sammeln.16

An dieser Stelle sei noch einmal angemerkt, dass zwischen der Behauptung, es gebe eine „wissenschaftliche Methode“, und der, es gebe einen methodischen Unterschied zwischen Wissenschaft und N ­ icht-Wissenschaft wie z. B. die Falsifikation, ein Unterschied besteht. Obwohl Popper die Vorstellung einer „wissenschaftlichen Methode“ rundweg ablehnt, glaubt er dennoch, dass es ein Abgrenzungskriterium geben kann und dieses sogar methodischer Natur ist.17 Einige Kritiker Poppers teilten diese Ansicht nicht. Besonders der berühmteste unter ihnen, Thomas Kuhn, meinte, Popper habe zwar zu Recht die Idee einer wissenschaftlichen Methode verworfen,18 man müsse sich allerdings auch wohl von der Vorstellung verabschieden, es gebe überhaupt irgendeine aussagekräftige methodische Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Man beachte, dass dies nicht unbedingt bedeutet, ­ man müsse sich auch von der Vorstellung lösen, Wissenschaft besitze einen Sonderstatus oder man könne zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft unterscheiden. Kuhn war dazu noch nicht bereit, im Gegensatz zu vielen seiner späteren Anhänger. Stattdessen wies er schlicht darauf hin, dass der tatsächliche Prozess der wissenschaftlichen Arbeit viel öfter nicht evidenzbasierte „subjektive“ Faktoren der Theoriewahl involviert wie Reichweite, Einfachheit und Fruchtbarkeit sowie die Fähigkeit, eine Theorie mit den anderen persönlichen Ansichten in Einklang zu bringen, und viel seltener etwaige formale Methoden. Und dies müsse doch sicherlich einen Einfluss auf die Begründbarkeit ausüben. Wir sollten uns jedoch vor Augen führen, dass Kuhn kein Gegner der Wissenschaft war. Obwohl ihm dies vorgeworfen wurde, gehörte er nicht

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zu denen, die später behaupteten, Wissenschaft sei ein „irrationaler“ Prozess und keineswegs besser als jeder andere Erkenntnisweg. Auch war er nicht der Auffassung, dass die sozialen Faktoren, die mitunter die wissenschaftliche Theoriewahl beeinflussten, der Wissenschaft die Fähigkeit nahmen, plausible Theorien zu bilden. Kuhn lag es vielmehr am Herzen, uns in die Lage zu versetzen, die tatsächliche Natur der Wissenschaft erkennen zu können, in dem Bewusstsein, dass sie damit nichts an ihrer Faszination einbüßen würde. Obwohl Kuhn selbst nicht den Versuch unternahm, ein Abgrenzungskriterium zu entwickeln, fühlte er sich dennoch als Verfechter der ­Wissenschaftlichkeit.19 Kommen wir auf Poppers Theorie zurück. Trotz ihrer Vorzüge wurde sie – von Kuhn und anderen – scharf kritisiert. Sie zeichne ein zu einfaches Bild wissenschaftlicher Theorie-Änderung, besonders vor dem Hintergrund, dass Wissenschaft meistens nicht so funktioniere, wie es das überragende Beispiel von Einsteins Voraussage nahelege. In der Wissenschaftsgeschichte sind solche entscheidenden Momente riskanter Voraussagen und weltbewegender Erfolge eher rar gesät. Oft mahlen die Mühlen der Wissenschaft recht langsam, sind die Erfolge kleiner und das Widerstreben, eine Arbeitshypothese aufgrund von Fehlschlägen aufzugeben, entlarvend groß.20 Ja, die Evidenz ist wichtig und man kann nicht einfach die Daten ignorieren und eine Theorie gegen ihre Widerlegung immunisieren. Dennoch bezweifelten viele Philosophen, die an der Duhem-Quine-These festhielten (welche besagt, dass es immer leichter sei, eine weniger umfangreiche, untergeordnete Hypothese zu verwerfen oder ad hoc eine Änderung vorzunehmen, als die gesamte Theorie aufzugeben), dass Wissenschaft so vonstattenginge, wie Popper es beschriebe. Obwohl Popper betonte, seine Theorie berühre nur die logische Untermauerung der Wissenschaft, waren doch viele der Ansicht, es gebe eine wachsende Kluft in Bezug auf die Glaubwürdigkeit zwischen der tatsächlichen Arbeitsweise von Wissenschaftlern sowie der Art und Weise, wie die Philosophen angesichts der von Kuhn identifizierten sozialen Faktoren diese Arbeit untermauerten. Kuhn zeigte, dass wir zwar gelegentlich an einer wissenschaftlichen Revolution beteiligt sein mögen, diese jedoch viel zu selten vorkommen, um sie als Basis einer Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu betrachten. Das Ende vom Lied war, dass ab den 1970er Jahren unter den meisten Wissenschaftsphilosophen nicht nur darüber weitgehend Einigkeit herrschte, dass das klassische Fünf-Stufen-Modell ein Mythos war, sondern auch darüber, dass es keine wirkliche methodische Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft gab. Dies wiederum spielte eine große Rolle für die Idee einer Sonderstellung der Wissenschaft.

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Ist es möglich, der Vorstellung eines Sonderstatus der Wissenschaft anzuhängen, ohne gleichzeitig auch an die wissenschaftliche Methode oder zumindest ein anderes Unterscheidungsmerkmal zu glauben? Viele verneinten dies. Als Kuhn damit der Betrachtung des Alltags und der internen Abläufe wissenschaftlicher Arbeit – die im „Lösen von Rätseln“ und in dem Versuch der Integration in das jeweils führende Paradigma durch die „Normalwissenschaft“ bestand – Tür und Tor geöffnet hatte, brachten sich die Kritiker unaufhaltsam in Stellung. Zu Kuhns Entsetzen (schließlich stimmte er mit Popper und anderen Verteidigern der Wissenschaft überein, dass Belege wichtig seien und dass der revolutionäre Übergang von einer wissenschaftlichen Theorie zur anderen auf der Basis dieser Belege ein Wahrzeichen der Wissenschaft sei), wurden seine Arbeiten häufig von denjenigen zitiert, die der Wissenschaft ihren Sonderstatus absprachen. Wissenschaftssoziologen, Relativisten, Postmodernisten, Sozialkonstruktivisten und andere stürzten sich von allen Seiten voller Kritik auf die Vorstellung, Wissenschaft sei rational, sie habe auch nur das Geringste mit Wahrheitsfindung zu tun oder sei überhaupt irgendetwas anderes als ein Widerhall der politischen Vorurteile ihrer Urheber in Bezug auf Rasse, Klasse und Geschlecht. Für einige wurde die Wissenschaft zu einer Ideologie und Fakten und Belege sah man selbst in den Naturwissenschaften nicht mehr automatisch als eine verlässliche Basis für die Theoriewahl an. Paul Feyerabend ging sogar so weit zu behaupten, es gebe gar keine Methode in der Wissenschaft – ein wesentlich radikalerer Ansatz als die Abkehr von der Idee einer wissenschaftlichen Methode. Dem folgten alle Aussagen in Bezug auf Methodik (wie beispielsweise Objektivität), ein Abgrenzungskriterium und sogar die Vorstellung, wissenschaftliche Ansichten besäßen Vorrang.21 Viele überlegten, ob die Philosophie damit die Wissenschaft gänzlich abgeschrieben habe. Allerdings waren nicht alle Philosophen dieser Auffassung. Viele von ihnen folgten den Vorstellungen des logischen Empirismus (dem Nachfolger des logischen Positivismus), der zeitgleich zu Poppers Falsifikationstheorie verbreitet war und sich durch die Periode der Kuhn‘schen Revolution hindurch hielt. Diese Strömung fokussierte auf die Verteidigung der Besonderheit der wissenschaftlichen Methode – bis hin zum Aufgreifen der Idee der früheren Positivisten von einer „Einheitswissenschaft“, deren Methoden auf die Sozialwissenschaften ausgedehnt werden könnten – nicht durch Falsifikation (oder Bedeutung), sondern durch die intensive Beschäftigung mit der Frage, wie man selbst angesichts des Induktionsproblems glaubwürdigere und verlässlichere Theorien entwickeln könne.22 Jedoch war es selbst hier

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notwendig, die lautstarke Verteidigung der Wissenschaft ein wenig zu mäßigen und gewisse Zugeständnisse zu machen.23 Im Jahr 1983 schließlich versetzte Larry Laudan, einer der bekanntesten Wissenschaftsphilosophen, der Vorstellung eines Abgrenzungskriteriums den Todesstoß. Laudan ging in seinen Arbeiten nicht so weit, der Wissenschaft ihre Bedeutung abzusprechen. Er gehörte zur Generation nach Kuhn und suchte nach einer Möglichkeit, an der Idee eines „Fortschritts“ durch Wissenschaft festzuhalten, ging jedoch keineswegs den Weg in Richtung „wahrer“ Theorien oder irgendeiner Vorstellung, die eine Vorherrschaft der Wissenschaft über andere Wege des Erkenntnisgewinns nahelegte. In seinem bereits zitierten Aufsatz „The Demise of the Demarcation Problem“ (Der Niedergang des Abgrenzungsproblems) schrieb Laudan, eine Lösung des Abgrenzungsproblems sei nicht möglich, vor allem weil eine Lösung bereits gefunden worden wäre, wenn es sie denn gäbe. Als Laudan sich in die Diskussion einschaltete, war bereits vollkommen klar, dass es nicht „die wissenschaftliche Methode“ gibt. Doch selbst der Versuch, eine andere Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu finden, schien nun nicht mehr möglich zu sein. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass dies nicht heißt, es bestünde kein Unterschied zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Man könnte sogar annehmen (auch Laudan tut dies meiner Ansicht nach), Wissenschaft sei auf einzigartige Weise aussagekräftig. Nur ein praktisches Instrument der Abgrenzung werden wir eben nicht finden können. Selbst wenn unser Bauchgefühl uns sagt, was zur Wissenschaft zählt und was nicht, schaffen wir damit keine Möglichkeit der verbindlichen Unterscheidung. Der fachspezifische Grund hierfür sei so Laudan, dass die Philosophie noch kein Gerüst notwendiger und hinreichender Bedingungen für Wissenschaft entwickelt hat. Und dies scheint für ihn eine unabdingbare Grundvoraussetzung für ein Abgrenzungskriterium zu sein. Wie muss die formale Struktur eines Demarkationskriteriums aussehen, damit es seine ihm zugewiesenen Aufgaben erfüllen kann? Idealerweise würde sie ein Gerüst aus jeweils notwendigen und insgesamt hinreichenden Bedingungen festlegen, nach denen es möglich ist, eine Handlung oder eine Reihe von Aussagen als wissenschaftlich oder unwissenschaftlich einzustufen. Wie bereits wohl bekannt ist, hat es sich als schwierig erwiesen, ein solches Gerüst notwendiger und hinreichender Bedingungen der Wissenschaft zu entwickeln. Wäre auch eine weniger ambitionierte Lösung möglich? Das erscheint unwahrscheinlich. Angenommen, jemand würde uns beispielsweise eine Beschreibung liefern, die angeblich eine notwendige (aber nicht hinreichende)

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Bedingung für die Einstufung als Wissenschaft darstellt. Eine solche Bedingung würde es uns – falls zulässig – erlauben, bestimmte Handlungen als eindeutig unwissenschaftlich einzuordnen, könnte uns allerdings nicht dabei helfen, „unsere Überzeugungen zu korrigieren“, da sie nicht festlegen würde, welche Systeme tatsächlich als wissenschaftlich gelten können … Aus verschiedenen Gründen sind gleichsam auch lediglich hinreichende Bedingungen inadäquat. Die Anweisung, eine bestimmte Bedingung zu erfüllen, um nachweislich wissenschaftlich zu arbeiten, gibt uns kein Instrumentarium an die Hand, mit dessen Hilfe wir eine bestimmte Handlung oder Aussage als unwissenschaftlich kennzeichnen können … Ohne Bedingungen, die sowohl notwendig als auch hinreichend sind, werden wir niemals sagen können: „Dies ist wissenschaftlich, doch jenes ist unwissenschaftlich.“24

Das Problem an einer lediglich notwendigen Bedingung ist, dass sie zu eng gefasst wäre. Indem wir darauf abzielen, alles auszuschließen, was nicht als Wissenschaft gelten kann, verwerfen wir unter Umständen auch Dinge, die wir eigentlich als wissenschaftlich einstufen möchten. Gesetzt den Fall, unsere notwendige Bedingung sei, dass Wissenschaft die Durchführung kontrollierter Experimente ermöglichen muss. Würde man dann nicht die Geologie ausschließen? Die Astronomie? Alle Sozialwissenschaften? Angenommen, wir würden uns andererseits davon lösen und stattdessen versuchen, eine nur ausreichende Bedingung für wissenschaftliches Vorgehen zu finden, wie z. B. die Suche nach der Wahrheit auf der Basis empirischer Beweise. Dann müssten wir befürchten, dass wir zu offen sind. Haben wir auf diese Weise nicht auch einer wissenschaftlichen Suche nach Bigfoot Tür und Tor geöffnet? Wenn wir versuchen, alles einzuschließen, was wissenschaftlich ist, schleichen sich damit auch die Dinge ein, die wir ganz sicher nicht in den Kanon aufnehmen möchten.25 Also müssen wir, so gibt Laudan zu verstehen, um an ein angemessenes Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu gelangen, ein Gerüst aus jeweils notwendigen und insgesamt hinreichenden Bedingungen der Wissenschaftlichkeit festlegen.26 Die Problematik eines derart hohen Standards lässt sich kaum besser illustrieren als durch Karl Poppers eigenen Vorstoß in Richtung Falsifizierbarkeit. Soll sie eine notwendige Bedingung für Wissenschaft sein oder eine hinreichende oder beides? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage treibt einen fast in den Wahnsinn. An manchen Stellen lesen sich Poppers Ausführungen so, als zielten sie auf keine dieser Eigenschaften ab. Dementsprechend übte man Kritik an seinem Kriterium und warf ihm vor, damit sowohl legitimes wissenschaftliches Vorgehen auszuschließen (z. B. die

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Evolutionsbiologie) als auch Pseudowissenschaften (wie beispielsweise die Astrologie) als wissenschaftlich erscheinen zu lassen.27 Besonders Laudan arbeitet sich in Bezug auf Letzteres an Popper ab und schreibt, Poppers Kriterium habe „die unerwünschte Wirkung, jedes versponnene Gedankengebäude als ‚wissenschaftlich‘ hinzustellen, in dessen Rahmen nachweislich unhaltbare Behauptungen aufgestellt werden“.28 Diese letzte Bemerkung hätte Popper (der dieses Kriterium gerade zu dem Zweck entwickelt hatte, Deutungssysteme wie die Astrologie aus dem wissenschaftlichen Pantheon auszuschließen ) sicherlich mit einigem Ärger aufgenommen. Sollte man also die Falsifizierbarkeit als ein Kriterium ansehen, das eine lediglich notwendige Bedingung liefert?29 Wie wir gesehen haben, zeigt dieser Ansatz ebenfalls Schwächen.30 Also sollte man sich vielleicht mit der Idee anfreunden, dass Popper dem höchsten Standard dadurch gerecht werden wollte, dass er ein Gerüst aus „jeweils notwendigen und insgesamt hinreichenden Bedingungen“ schuf. Zu einem späteren Zeitpunkt meinte Popper tatsächlich, ein Satz (oder eine Theorie) sei genau dann empirisch-wissenschaftlich, wenn es die Möglichkeit der Falsifizierung gebe.31 In der Wissenschaftsphilosophie ist die Wortfolge „genau dann, wenn“ geradezu magisch. Sie verpflichtet Popper dazu, notwendige und hinreichende Bedingungen zu entwickeln. Aus den bereits genannten Gründen reicht die Falsifizierbarkeit allein nicht aus und man sucht in Poppers Arbeiten dennoch vergeblich nach einer verbindlichen Aussage darüber, welche anderen Bedingungen darüber hinaus zur Anwendung kommen könnten. Frank Cioffi kommt dem in seinem wichtigen Aufsatz „Psychoanalysis, Pseudoscience, and Testability“ (Psychoanalyse, Pseudowissenschaft und Prüfbarkeit) nahe, indem er beschreibt, dass Popper zusätzlich zur Falsifizierbarkeit noch das Erfordernis intensiver Bemühungen, eine Theorie auf den Prüfstand zu stellen, sowie die Akzeptanz negativer Ergebnisse dieser Prüfungen einschließt.32 Doch selbst hier stößt man auf das bereits bekannte, von Kuhn und anderen beschriebene Problem, dass negative Ergebnisse eben nicht immer als Grund angesehen werden, eine Theorie gänzlich zu verwerfen. Wenn also selbst Karl Popper sich in dem Problem der Suche nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen verstrickt, die Laudan zur Bildung eines Demarkationskriteriums einfordert, mag sich manch einer fragen, warum der Rest von uns nicht einfach aufgibt. Und genau das tat man auch für fast drei Jahrzehnte, die auf das Erscheinen von Laudans Aufsatz folgten, als viele sich gezwungen sahen, den Versuch der Entwicklung eines Abgrenzungsproblems zwischen Wissenschaft und N ­ icht-Wissenschaft abzubrechen. Das soll nicht heißen, dass sie sich vollkommen von der

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­ orstellung eines Sonderstatus der Wissenschaft lösten. Erinnern wir uns: V Man könnte, wie Laudan auch, der Auffassung sein, Wissenschaft könne sich durch Anschaulichkeit auszeichnen. Ganz sicher hielten viele – so auch Laudan selbst – die Wissenschaft weiterhin für wert, verteidigt zu werden, selbst wenn dies nicht durch Abgrenzung erfolgen konnte. Nach Laudans positiver Darstellung einer Möglichkeit, gemäß Kuhn „Fortschritt“ durch Wissenschaft zu erreichen, rückten viele von dem radikalen Ansatz Feyerabends und der Sozialkonstruktivisten ab, nach dem die Wissenschaft nur ein weiterer Weg des Erkenntnisgewinns war. Man beklagte stattdessen den Umstand, dass selbst wenn man Wissenschaft und Pseudowissenschaft erkennen könnte, man daran gehindert würde, einen verlässlichen Prozess der Definition zu schaffen. Obwohl also viele die Suche nach einer Abgrenzungsmöglichkeit aufgegeben hatten – die Wissenschaft selbst hatten sie nicht abgeschrieben. Diese Vorgehensweise hatte jedoch ihren Preis. Der Tiefpunkt kam im Jahr 1982, als das Gesetz „Act 590“ anlässlich des Prozesses „McLean gegen den Bundesstaat Arkansas“ auf konstitutioneller Ebene angefochten wurde. Der prominente Wissenschaftsphilosoph Michael Ruse wurde als Sachverständiger aufgerufen und brachte, als er sich in Bezug auf die Frage der Definition von Wissenschaft in die Enge getrieben sah, eine Darstellung der Falsifikationstheorie Poppers vor. Schlussendlich überzeugte er damit den Richter, der sich mit einem freien Zitat auf Ruses Aussage bezog, davon, dass Kreationismus keine Wissenschaft sei und daher im entsprechenden Schulfach nichts zu suchen habe. Obwohl Ruse sein Bestes gegeben hatte – und meiner Ansicht nach zu Unrecht dafür kritisiert wurde, dass er eine Aussage im Rahmen eines Gerichtsprozesses gewagt und damit die absurde Situation verhindert hatte, den Kreationismus Einzug in den Kanon legitimer wissenschaftlicher Theorien halten zu sehen –, ließ der harsche Gegenwind der akademischen Gemeinschaft nicht lange auf sich warten. Laudan, der doch sicher ebenso wie Ruse den Kreationismus für eine Farce hielt, missbilligte dessen Darstellung der Theorie Poppers in Rahmen der richterlichen Entscheidung. Im Nachgang des Urteils im Kreationismusprozess in Arkansas … begrüßen die Freunde der Wissenschaft zu Recht die Entscheidung … Wenn sich dann allerdings die Aufregung etwas gelegt hat, könnte uns der Prozess im Allgemeinen und das Urteil des Richters, William R. Overton, noch auf die Füße fallen, denn das Urteil selbst mag zwar positiv aufgenommen werden, aber es basierte auf den falschen Gründen und einer Argumentationskette, die hoffnungslos unseriös ist. In der Tat besteht das Fundament der richterlichen

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Entscheidung aus einer Vielzahl von Falschdarstellungen von Wissenschaft und ihrer Funktionsweise.33

Laudans Sorge lässt sich laut Thomas Nickles folgendermaßen zusammenfassen: Laudan gab zurück, die kreationistische Lehre selbst sei gemäß [Poppers] Kriterium Wissenschaft. Sie sei offensichtlich empirisch überprüfbar, da sie ja bereits falsifiziert worden sei. Natürlich hätten ihre Anhänger ein unwissenschaftliches Verhalten an den Tag gelegt, aber dies stünde auf einem anderen Blatt. Der Grund für die Verbannung [des Kreationismus] aus dem Klassenzimmer sei schlicht der, dass es sich um schlechte Wissenschaft handele.34

Man kann sich vorstellen, wie begeistert die Kreationisten gewesen wären, hätte ein derartig uneingeschränktes, getreues Festhalten am geltenden Dogma vor Gericht Bestand gehabt: Lehrt doch den Kreationismus ruhig als „schlechte“ Wissenschaft, aber lehrt ihn wenigstens. Wir sehen also, dass das Unvermögen, zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft unterscheiden zu können, Konsequenzen nach sich zieht, die sich über die Grenzen der Philosophie hinaus bis in unseren Alltag erstrecken. Auch löste sich das Problem der kreationistischen Lehre an öffentlichen Schulen 1982 nicht einfach in Luft auf. Stattdessen hat es sich gewandelt und ist noch gewachsen – zum Teil weil die Philosophie nicht in der Lage ist, den Sonderstatus von Wissenschaft zu untermauern. Es begegnet uns wieder in der derzeit verbreiteten Behauptung, „Intelligent Design (ID)“ (eine Strömung, die ich an anderer Stelle als „Kreationismus in schickerem Gewand“ bezeichnet habe) sei nun eine gänzlich ausgearbeitete wissenschaftliche Theorie und damit zum Einsatz im Schulfach Biologie bereit.35 Diese Behauptung beschäftigte im Jahr 2005 wiederum die Gerichte, als der Fall „Kitzmiller gegen den Dover Area Schulbezirk“ zur Verhandlung kam und ein anderer Richter – verbunden mit einem scharfen Tadel, der an das McLean-Urteil erinnerte – feststellte, es handele sich bei der Intelligent-Design-Lehre „nicht um Wissenschaft“. Die Angeklagten mussten daraufhin 1 Mio. US- Dollar an die Kläger zahlen. Dieser Ausgang mag zukünftigen ID-Theoretikern zwar einen Dämpfer verpasst haben, doch ist auch damit die Geschichte noch nicht zu Ende, wie aktuelle Gesetzesentwürfe zur „akademischen Freiheit“ zeigen, die in der Legislative der Bundesstaaten Colorado, Missouri, Montana und Oklahoma verhandelt werden. Diese Entwürfe orientieren sich an einem erfolgreich verabschiedeten Gesetz des Bundesstaates Tennessee aus dem Jahr 2012, das Lehrern das Recht

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zubilligt, weiterhin die „wissenschaftlichen Stärken und die wissenschaftlichen Schwächen“ von Evolution und Klimawandel zu untersuchen.36 Die Suche nach einer Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft ist also eine ernste Angelegenheit. In der Lage zu sein, in aller Öffentlichkeit und in verständlichen Worten zu erklären, warum Wissenschaft eine besondere Form des Erkenntnisgewinns ist, scheint vor allem die Pflicht derjenigen Wissenschaftsphilosophen zu sein, die von Wissenschaft überzeugt sind, ohne bisher sagen zu können, warum dem so ist. Sollten wir in einer Zeit, in der sich die Klimawandelleugner nach dem Vorbild früherer Kreuzzüge der Kreationisten (und der Tabakindustrie) in Stellung bringen und unerwünschte Forschungsergebnisse bekämpfen, indem sie „junk science“ („Minderwissenschaft“) finanzieren und diese dann durch Marketingkampagnen in der Öffentlichkeit verbreiten, nicht langsam versuchen, uns zur Wehr zu setzen? Seit einiger Zeit geschieht genau das auch. Massimo Pigliucci und Maarten Boudry haben im Jahr 2013 eine Anthologie mit dem Titel Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem (Die Philosophie der Pseudowissenschaft: Eine Neubewertung des Demarkationsproblems) veröffentlicht, in der sie sich 30 Jahre nach Laudans vorschnellem Nachruf auf selbstkritische Weise noch einmal des Abgrenzungsproblems annehmen. Die Aufsätze sind eine Fundgrube der neuesten philosophischen Ansätze zu diesem Thema, durch die das Fach versucht, sich aus der von Laudan aufgezeigten Sackgasse herauszumanövrieren. Diese Sackgasse besteht aus dem Dilemma des Glaubens an einen Sonderstatus von Wissenschaft ohne die entsprechenden Erklärungsansätze. Es mag enttäuschend sein, doch ist es auch vollkommen nachvollziehbar, dass sich die Philosophie nach all den Jahren nicht ganz über das weitere Vorgehen im Klaren ist. Vielleicht führt der richtige Weg über eine Neubewertung des guten alten Abgrenzungsproblems. Vielleicht ist aber auch eine andere Lösung denkbar. Sich gänzlich vom Demarkationsproblem zu verabschieden, ist ein großer Schritt, bildete es doch seit der Gründung des Fachs Wissenschaftsphilosophie dessen thematischen Kern. Seine vorhandenen Strukturen und sein bestehendes Vokabular zu nutzen, um die besondere Rolle der Wissenschaft verstehen und untermauern zu können, ist zweifelsohne verlockend. Vielleicht ist das der Grund, aus dem so gut wie alle früheren Vorstöße in diese Richtung auch die Suche nach einem Abgrenzungskriterium einschlossen. Und dennoch birgt das Wiederaufgreifen dieses Ansatzes viele Gefahren. In seinem Aufsatz „The Demarcation Problem: A (Belated) Response to Laudan“ (Das Abgrenzungsproblem: Eine (späte) Antwort an Laudan) lehnt

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Pigliucci den Ansatz der „notwendigen und hinreichenden Bedingungen“ ab und wählt stattdessen Ludwig Wittgensteins Konzept der „Familienähnlichkeit“. Pigliucci meint, damit das Abgrenzungsproblem vor Laudans „antiquiertem“ Ansatz zu bewahren (was man auch als eine Kritik an Laudans „Meta-Diskussion“ über die Voraussetzungen zur Lösung des Abgrenzungsproblems verstehen könnte).37 Pigliucci entwickelt alternativ dazu die Idee, das Erlernen der Unterschiede zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft als eine Art „Sprachspiel“ zu behandeln. Im Rahmen des Sprachspiels erkennt man die Gruppen von Ähnlichkeiten und Unterschieden verschiedener Konzepte an der Art, in der sie angewendet werden. Das Ziel ist es hierbei, die vielfältigen Verbindungsfäden zu identifizieren, die sich nicht eindeutig den notwendigen und hinreichenden Bedingungen zuordnen lassen und dennoch charakterisieren, was wir meinen, wenn wir eine bestimmte Fragestellung als wissenschaftlich bezeichnen. Zwei dieser Fäden, nämlich „empirisches Wissen“ und „theoretisches Verständnis“, scheinen die größte Rolle zu spielen. „Wenn es etwas gibt, auf das wir uns alle einigen können“, schreibt Pigliucci, „so ist es der Umstand, dass die Wissenschaft nach einem auf Empirie basierenden theoretischen Verständnis der Welt strebt und eine wissenschaftliche Theorie daher sowohl ein empirisches Fundament als auch eine innere Kohärenz und Logik besitzen muss.“38 Das Ergebnis wäre, so meint Pigliucci, (unter anderem) die Entdeckung einer „auf Wittgenstein basierenden Familienähnlichkeit“ für die Konzepte von Wissenschaft und Pseudowissenschaft, die ein brauchbares Abgrenzungskriterium liefert, „um zumindest einen großen Teil der intuitiven Einordnung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu retten, die praktizierende Wissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen grundsätzlich anerkennen.“39 Diese Beschreibung wirkt allerdings recht nebulös für ein Abgrenzungskriterium. Was genau soll beispielsweise die logische Basis sein? An verschiedenen Stellen bezieht sich Pigliucci beispielsweise auf die Anwendung von „Fuzzylogik“ („Unschärfelogik“) (die auf der Annahme eines Grades der Zugehörigkeit zu einer Menge basiert), um sein Abgrenzungskriterium strenger zu gestalten, doch es bleibt unklar, wie das genau funktionieren würde. Pigliucci selbst gibt zu: „Um dies tatsächlich praktisch umzusetzen, müsste man quantitative Metriken der relevanten Variablen entwickeln. Obwohl das grundsätzlich möglich wäre, könnten die Details wohl kaum unstrittig sein.“40 Um es milde ausdrücken, kann man sich vorstellen, dass die zentralen Konzepte des empirischen Wissens und des theoretischen Verständnisses ebenso schwer zu beschreiben und von ihren Gegenbegriffen zu

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unterscheiden wären wie das Konzept der Wissenschaft selbst. Hat Pigliucci also das Abgrenzungsproblem gelöst oder es nur ein wenig verschoben? Andere Philosophen, die sich an einer post-Laudan´schen Lösung des Abgrenzungsproblems versucht haben, haben sich damit auf einen ähnlich steinigen Weg begeben. Ebenfalls in Pigliuccis und Boudrys Anthologie bietet Sven Hansson eine sehr weit gefasste Definition von Wissenschaft. Offenbar die Folgen einer Einstufung von Fachgebieten wie der Philosophie als Nicht-Wissenschaft fürchtend, weitet er stattdessen den Wissenschaftsbegriff so aus, dass darunter eher eine Art „community of knowledge“, eine „Wissensgemeinschaft“ zu fassen ist. Dann fährt er fort, diese von Pseudowissenschaft abzugrenzen. Trotz aller angeblichen Vorteile der Rettung der Geisteswissenschaften vor einer Verbannung ins Reich der ­Nicht-Wissenschaft ist der Preis doch recht hoch. Denn Hansson kann nun nicht mehr behaupten, das Problem der Pseudowissenschaft hinge mit deren Verfälschung empirischer Standards zusammen (da ja zumindest ein Teil dessen, was er nun zu Wissenschaft zählt, ebenfalls nicht als empirisch zu bezeichnen ist).41 Maarten Boudry wählt einen ähnlich fragwürdigen Ansatz, indem er schreibt, es gebe seiner Ansicht nach nicht nur eines, sondern zwei Abgrenzungsprobleme – das „territoriale“ und das „normative“. Ersteres tut er als einen unfruchtbaren Unterscheidungsansatz ab. Es sei nur eine „Revierfrage“, die über die Trennung zwischen Wissenschaft und legitimen, aber nichtempirischen Wegen des Erkenntnisgewinns wie denen der Geschichtsforschung oder der Philosophie entscheide. Boudry meint, die wahre Auseinandersetzung fände zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft statt. Hier würden sich die normativen Probleme auftun, denn man stünde jenen Disziplinen gegenüber, die sich nur den Anschein von Wissenschaft geben.42 Doch diese Zweiteilung des Abgrenzungsproblems bringt eine grundlegende Verwirrung ans Licht, was die Bezeichnung eines Faches als nichtwissenschaftlich oder als unwissenschaftlich betrifft. Möchte Boudry die „territoriale“ Frage als eine der Trennung zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Gebieten verstanden wissen? Wenn ja, ist dies eine höchst eigenartige und irreführende Verwendung des Begriffs. Die Unterscheidungsmöglichkeit, nach der er zu suchen scheint, wenn er vom territorialen Abgrenzungsproblem spricht, ist die zwischen Wissenschaft und dem, was man als „Unwissenschaft“ bezeichnen könnte. Aus welchem Grund könnte man darin jedoch eine angemessene Alternative zur normativen Unterscheidung sehen? Die traditionellere Auslegung der Abgrenzungsdebatte – die sich am häufigsten in der Forschung des

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­ achgebiets zeigt – bewegt sich zwischen den Polen der Wissenschaft und F der Nicht-Wissenschaft oder zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft (vgl. Abb.). Dies sind die Fachbegriffe, die von Popper, Laudan und den meisten ihrer Fachkollegen verwendet werden.43 Boudry dagegen scheint ein neues Abgrenzungsproblem zu schaffen und zugleich kein Wort darüber zu verlieren, ob wir damit das klassische Problem der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft ad acta legen können. Doch welche Begründung kann Boudry für seine Auffassung von einem normativen Widerstreit zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft liefern, wenn er es doch versäumt hat, das größere Problem der Trennung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft auf legitime Weise zu lösen? Das ­Strohmann-Argument der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Unwissenschaft (Geschichtsforschung, Philosophie etc.) erfüllt den Zweck nicht.44 Wissenschaliche Methode

wissenschalich

nichtwissenschalich

pseudowissenschalich (Astrologie, Krea onismus)

unwissenschalich (Literatur, Kunst)

Der Versuch der Klärung, ob das Abgrenzungsproblem zwischen den Polen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft – oder Wissenschaft und Pseudowissenschaft – ausgetragen werden sollte, mag als eine lediglich begriffliche Auseinandersetzung erscheinen. Doch das ist er nicht. Denn wenn wir versuchen, Wissenschaft von allem abzugrenzen, was nicht Wissenschaft ist, könnte das zu einem vollkommen anderen Abgrenzungskriterium führen, als der Versuch der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und dem, was sich nur als solche ausgibt. Wichtig ist an dieser Stelle, dass die meisten Forscher davon ausgehen, dass die Kategorie der ­Nicht-Wissenschaft sowohl pseudowissenschaftliche als auch unwissenschaftliche Gebiete umfasst. Eine Fragestellung kann nicht-wissenschaftlich sein, weil sie entweder nur vorgibt, wissenschaftlich zu sein (in diesem Fall ist sie pseudowissenschaftlich) oder weil empirische Daten für ihren Untersuchungsgegenstand nicht relevant sind (in diesem Fall ist sie unwissenschaftlich).45

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Die fehlende Möglichkeit, exakt zu beschreiben, wovon man Wissenschaft abgrenzen möchte, schlägt sich nicht nur in den „post-Laudan´schen“ Aufsätzen von Pigliucci, Hansson und Boudry nieder. Dieses Problem spiegelt vielmehr eine ausgeprägte Mehrdeutigkeit in der Literatur wider, die sich über Laudan hinaus bis zu Karl Popper zurückverfolgen lässt. Erinnern wir uns daran, dass Popper in Logik der Forschung schreibt, er grenze Wissenschaft von Mathematik, Logik und „metaphysischer Spekulation“ ab.46 In seinem später veröffentlichten Band Vermutungen und Widerlegungen ist sein Ziel dagegen die Abgrenzung von Pseudowissenschaft. Laudan bewegt sich in seinem Aufsatz ebenfalls zwischen den Begriffen Nicht-Wissenschaft und Pseudowissenschaft hin und her.47 Man könnte nun die Frage stellen, was das alles für einen Unterschied macht. Die Antwort lautet: einen ganz entscheidenden, wie sich herausstellt. Im weiteren Verlauf werden wir auf das Problem der notwendigen und hinreichenden Bedingungen zurückkommen und feststellen, dass dabei die gesamte Frage nach dem wissenschaftlichen Sonderstatus auf dem Spiel steht. Wir werden sehen, dass die Arbeit an einer Lösung des Abgrenzungsproblems vollständig zum Erliegen kommt, wenn wir es nicht schaffen, exakt festzulegen, was wir definieren möchten (Wissenschaft, Nicht-Wissenschaft, Pseudowissenschaft oder Unwissenschaft). Und das ­ ist bisher noch nicht geschehen. Mein Ziel wird es sein, eine Beschreibung dessen zu entwickeln, was Wissenschaft zu einem besonderen Weg des Erkenntnisgewinns macht, ohne mich in das Problem der notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu verstricken – oder das Abgrenzungsproblem zu lösen. Meiner Einschätzung nach lassen sich diese Probleme nicht aus der Welt schaffen. Und dennoch brauchen wir eine Strategie, um Wissenschaft zu schützen. Doch erst wollen wir uns denen zuwenden, die missverstanden haben, wie Wissenschaft funktioniert.

3 Irrtümer und Missverständnisse: Wie funktioniert Wissenschaft wirklich?

Es ist ein weitverbreitetes Märchen, dass die Wissenschaft unweigerlich zur Wahrheit führt, weil sie empirische Belege nutzt, um eine Theorie zu belegen. Ein weiteres besagt, Wissenschaft könne uns überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür liefern, was wir glauben sollen, weil sie nichts anderes hervorbringt als „bloße Theorien“. Diese beiden Irrtümer sind tatsächlich eng miteinander verknüpft. Sie scheinen die Vorstellung widerzuspiegeln, es gebe im Fall der Wissenschaft nur „alles oder nichts“ – auf der einen Seite die hundertprozentige Gewissheit, dass eine Theorie durch Belege verifiziert worden ist, auf der anderen ein Gefühl der Verlorenheit, weil alle Theorien so lange vollkommen austauschbar sind, bis das wegweisende Experiment stattgefunden hat. Diese falschen Vorstellungen von einer Wissenschaft, die zur Wahrheit führen muss, und einer Theorie, die nur dann Einzug in den wissenschaftlichen Kanon halten kann, wenn sie durch die Datenlage unumstößlich verifiziert worden ist, können problematische Konsequenzen haben. Menschen, die nicht über ein wissenschaftliches Grundverständnis verfügen, könnten sich darin bestärkt fühlen, alle Forschungsergebnisse abzulehnen, die diesem Standard nicht genügen. Wir haben es hier mit tiefgreifenden Missverständnissen in Bezug auf die Funktionsweise von Wissenschaft zu tun.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_3

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Das Problem der Wahrheit und Gewissheit Wie in den meisten irrigen Vorstellungen steckt auch in den Argumenten der Kritiker ein Körnchen Wahrheit, selbst wenn sie ansonsten etwas verquer sein mögen. Wissenschaft strebt nach Wahrheit. Sie tut dies, indem sie ihre Theorien anhand der empirischen Daten in einem rigorosen Prozess aufs Strengste überprüft. Wie Karl Popper es beschreibt, haben wir in dem Augenblick ein Problem, wenn eine Theorie auf falsifizierende Daten trifft. Wir wissen zu Beginn des Prozesses nicht, ob die Theorie durch wohlüberlegte Abänderungen zu retten ist. Aber wenn wir es nicht riskieren wollen, den Weg der Wissenschaft zu verlassen, müssen wir handeln. Und selbst wenn eine Theorie der strikten Überprüfung ohne Probleme standhält, können wir uns dennoch nicht sicher sein, dass sie wahr ist. Warum nicht? Weil Wissenschaft, wie wir in diesem Kapitel sehen werden, so nicht wirklich funktioniert. Nur dessen können wir uns sicher sein: Wenn eine Theorie nicht mit den empirischen Daten im Einklang ist, stimmt etwas nicht, entweder mit der Theorie selbst oder mit den Hilfsannahmen, die sie untermauern. Doch selbst wenn eine Theorie mit der Datenlage übereinstimmt, können wir nie Gewissheit erlangen: Stimmt sie überein, weil sie wahr ist oder weil die Rechnung einfach bisher aufgegangen ist? Wie Popper, Kuhn und viele andere Wissenschaftsphilosophen schon vor langer Zeit erkannt haben, sind wissenschaftliche Theorien immer etwas Vorläufiges. Das ist das Fundament sowohl der Stärke als auch der Flexibilität der wissenschaftlichen Vorgehensweise. Jedes Mal, wenn wir uns mit empirischen Daten beschäftigen, müssen wir uns dem Problem stellen, dass unser Erkenntnisweg kein Ende hat. Unsere Ergebnisse werden immer Gegenstand einer Neubewertung anhand zukünftiger Beobachtungen sein. Das Induktionsproblem (das wir in Kap. 1 kurz angerissen haben) besagt: Wenn wir eine Aussage über die Zusammenhänge unserer Welt treffen und diese Hypothese auf den Daten aufbauen, die wir bisher gesammelt haben, stellen wir die weitreichende Behauptung auf, dass die künftigen Daten sich mit denen decken werden, die wir in der Vergangenheit gesammelt haben. Aber woher sollen wir das wissen? Nur weil alle Schwäne, die wir bisher gesehen haben, weiß waren, heißt das nicht, dass es keinen schwarzen Schwan gibt, der uns irgendwann in der Zukunft begegnen könnte. Dieses Problem reicht weit, denn es untergräbt nicht nur die Vorstellung, dass wir uns sicher sein können, dass irgendeine unserer Hypothesen wahr ist (egal wie exakt sie mit den Daten übereinstimmt). Es bedeutet auch, dass wir uns genau genommen nicht einmal hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit

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sicher sein können, mit der unsere Aussagen wahr sind. Denn der Bereich unserer Welt, den wir als Stichprobe beobachtet haben, ist unendlich klein, verglichen mit der Menge von Beobachtungen, die wir möglicherweise in Zukunft noch anstellen werden. Wie können wir uns sicher sein, dass unsere Stichprobe, der Teil der Welt, den wir beobachtet haben, repräsentativ für ihre Gesamtheit ist? So wie wir uns nicht sicher sein können, dass die Zukunft der Vergangenheit gleichen wird, können wir uns nicht gewiss sein, dass das Stückchen Welt, das wir in unserer begrenzten Erfahrung beobachtet haben, uns etwas darüber verrät, wie es anderswo aussieht. Natürlich gibt es (dank Karl Popper) eine anhaltende Diskussion darüber, ob die Induktion tatsächlich Anwendung in der Wissenschaft findet. Obwohl die Wissenschaft versucht, allgemeine Aussagen über die Welt aus unserer Kenntnis bestimmter Gegebenheiten abzuleiten, entwickelte Popper dazu ein Verfahren, mit dem sich die Fallstricke des Induktionsproblems umgehen ließen. Wie wir bereits in Kap. 1 gesehen haben, können wir, wenn wir den Modus tollens anwenden, auf deduktiv valide Weise aus Daten schlussfolgern. Versuchen wir unsere Theorie zu falsifizieren, statt sie verifizieren zu wollen, bewegen wir uns damit auf soliderem logischem Terrain. An dieser Stelle müssen wir uns allerdings der Tatsache stellen, dass diese Vorgehensweise harsche Kritik hervorruft. Trotz aller logischen Vorzüge, die Karl Poppers Theorie bieten mag, ist es fraglich, ob 1) seine Beschreibung der tatsächlichen Arbeitsweise von Wissenschaftlern nahekommt und ob er es 2) vermeiden kann, sich in das Problem der Notwendigkeit positiver (bestätigender) Beispiele zu verwickeln. Die Duhem-Quine-These besagt, es sei in der Wissenschaft unmöglich, eine „alles entscheidende“ Prüfung vorzunehmen, denn jede Theorie bestände aus einem Netz mit ihr verknüpfter, unterstützender Aussagen. Selbst wenn es also falsifizierende Daten zu einer Theorie gibt, können wir einfach eine der Hilfsannahmen verwerfen, um die Theorie als Ganzes zu bewahren. Gemäß dem strengen Falsifikationismus muss dieses Vorgehen als falsch gelten. Popper schreibt jedoch selbst, er habe diesen Einwand vorhergesehen und in das Gerüst seiner Theorie integriert.1 Die Logik der Falsifikation sieht vor, eine Theorie zu verwerfen, wenn sie falsifiziert wird. Doch Popper erkannte es an, dass Wissenschaftler sich im Rahmen ihrer tatsächlichen Arbeitspraxis davor scheuten, eine gut ausgearbeitete Theorie nur aufgrund eines ihr widersprechenden Beispiels über Bord zu werfen. Vielleicht hatten sie ja einen Fehler gemacht, vielleicht funktionierte ein Messgerät nicht ordnungsgemäß. Popper berücksichtigt diese Einschränkungen, wenn er schreibt: „Derjenige, der seine Theorie angesichts scheinbarer Widerlegungen zu leicht aufgibt, wird die seiner Theorie innewohnenden Möglichkeiten nie entdecken.“2

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Zur Erläuterung seiner Darstellung der Falsifikation und ihrer Vorzüge zieht Popper jedoch lieber Schilderungen jener legendären und einschneidenden Fälle heran, in denen ein Theoretiker eine gewagte Prognose abgab, die dann später von der Datenlage tatsächlich bestätigt wurde. Wie wir gesehen haben, entwickelte Einstein in seiner allgemeinen Relativitätstheorie die kühne Voraussage, dass Licht in einem starken Gravitationsfeld gekrümmt würde. Die totale Sonnenfinsternis des Jahres 1919 bestätigte diese Aussage. Hätte sich die Prognose als falsch erwiesen, wäre die Theorie verworfen worden, doch ihre Bestätigung bedeutete einen gewaltigen Erkenntnisgewinn.3 So laufen wissenschaftliche Prozesse allerdings nur selten ab. In seinem Buch Philosophy of Science: A Very Short Introduction (Wissenschaftsphilosophie: Eine sehr kurze Einführung) beschreibt Samir Okasha das Beispiel der Entdeckung des Planeten Neptun durch John Couch Adams und Urbain Le Verrier im Jahre 1846. Beide arbeiteten unabhängig voneinander innerhalb des Newton‘schen Paradigmas und bemerkten eine leichte Abweichung im Orbit des Planeten Uranus. Ohne Neptun hätte es damit ein falsifizierendes Beispiel für Newtons Theorie gegeben, nach der sich (gemäß Kepler) jeder Planet auf einer vollkommenen elliptischen Bahn befinden müsste, wenn nicht eine andere Kraft auf ihn einwirkt. Statt jedoch Newtons Theorie zu verwerfen, forschten Adams und Le Verrier weiter und fanden schließlich diese andere Gravitationskraft.4 Nun mag man einwenden, dies sei bei Weitem kein echtes falsifizierendes Beispiel, da die beiden Forscher sich bei ihrer Arbeit streng im Rahmen der Vorhersagen bewegten, die Newtons Theorie ausmachten. Tatsächlich hat Popper selbst dieses Beispiel zum Teil angeführt, um zu verdeutlichen, dass Wissenschaftler in manchen Situationen gut daran tun, eine Theorie nicht vorschnell aufzugeben. Stellen wir dem aber eine ähnliche Herausforderung für Newtons Theorie gegenüber, die zum Zeitpunkt der Entdeckung des Neptuns bereits seit mehr als 150 Jahren bestanden hatte: die leichte Periheldrehung in der Bahn des Planeten Merkur.5 Wie konnte man sich diese Eigenheit erklären? Astronomen versuchten sich an verschiedenen Lösungsansätzen, die zumindest diesen Spezialfall abdecken sollten (indem sie zugehörige Hilfsannahmen aufgaben), doch keiner dieser Ansätze führte zum Erfolg. Am Ende war es niemand anders als Le Verrier selbst, der vorschlug, die leichte Abweichung im Orbit des Merkur durch die Existenz eines unentdeckten Planeten zwischen Merkur und der Sonne zu erklären, den er Vulkan nannte. Obwohl er nicht in der Lage war, diesen Planeten experimentell nachzuweisen, hielt er doch bis zu seinem Tod 1877 an der Vorstellung fest, dass Vulkan tatsächlich existiere. Fast alle seiner

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zeitgenössischen Fachkollegen stimmten mit dem Astronomen grundsätzlich darin überein, dass es – ob Vulkan nun real war oder nicht – eine Newton‘sche Erklärung geben müsse. Vierzig Jahre später setzte Einstein seinen Hebel an dieser Stelle an, um die Newton’sche Welt aus den Angeln zu heben, denn in diesem Fall war die anomale Umlaufbahn nicht durch die starke Gravitationskraft eines anderen Planeten zu erklären, sondern durch die – nicht zu Newtons Theorie passende – Vorstellung einer Raumkrümmung durch das Gravitationsfeld der Sonne. Als sich zeigte, dass der Orbit des Merkurs mit diesen Berechnungen übereinstimmte, sah man dies als einen wichtigen Beleg für die allgemeine Relativitätstheorie an. Allerdings handelte es sich bei Einsteins Hypothese nicht um eine Vorhersage, sondern eine „Retrognose“, d. h., man konnte Einsteins Theorie dazu nutzen, ein bestehendes falsifizierendes Beispiel aufzulösen, mit dem sich die Newton’schen Forscher für mehr als 200 Jahre konfrontiert sahen! Wie lange muss ein Wissenschaftler angesichts eines falsifizierenden Beispiels an einer Theorie festhalten, um nicht „zu schnell aufgegeben“ zu haben? Popper gibt diesbezüglich keinen Rahmen vor, um dies zu beurteilen. Die Falsifikation mag innerhalb der Logik der Forschung zwar gut funktionieren, doch sie bietet kaum Richtlinien dafür, wie Wissenschaftler tatsächlich zwischen Theorien wählen sollten. Wie Thomas Kuhn zeigen konnte, ist es schwer zu sagen, wann genau ein falsifizierendes Beispiel eine anerkannte Theorie vollkommen zunichtemacht und wann es lediglich dazu führen sollte, dass wir innerhalb der vorherrschenden Lehre nach weiteren Antworten suchen. Kuhns Arbeiten liefern uns lebendige Schilderungen der Art und Weise, in der Wissenschaftler sich mit den alltäglichen Detailfragen herumplagen, die im Verlauf des wissenschaftlichen Arbeitens immer wieder auftauchen. Diese „normale Wissenschaft“ besteht darin, Voraussagen, Fehler und scheinbar falsifizierende Beispiele in das Gerüst der weithin anerkannten Theorie zu integrieren, unter deren Prämisse man gerade arbeitet.6 Natürlich bezieht auch Kuhn mit ein, dass Wissenschaft bisweilen einen dramatischen Verlauf nehmen kann. Wenn sich die Anomalien häufen und es für die Forscher immer schwieriger ist, ihr Paradigma mit Beobachtungen in Einklang zu bringen, die sich damit nicht erklären lassen, wird der Druck schließlich so groß, dass es zu einer wissenschaftlichen Revolution kommen kann, bei der sich das Fachgebiet schnell von einem Paradigma zu einem anderen verschiebt. Doch geht es, wie Kuhn beschreibt, dabei oft um mehr als nur die fehlende Übereinstimmung mit der Beweislage; auch Reichweite, Einfachheit und Fruchtbarkeit spielen eine Rolle sowie andere „subjektive“ oder

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„soziale“ Faktoren, die Popper nur widerwillig in seine logische Darstellung der Falsifikation einbeziehen würde. Karl Poppers Theorie wirft zudem weitere Probleme auf, selbst wenn eine Hypothese allen möglichen strikten Überprüfungen standhält. Wie Popper zugesteht, kann selbst eine erfolgreich ausgearbeitete Theorie dennoch nicht automatisch als wahr – ja nicht einmal als näherungsweise wahr – gelten, sondern befindet sich immer in dem unbefriedigenden Schwebezustand, lediglich „bis jetzt“ allen Widerständen getrotzt zu haben.7 So bedeutend die wissenschaftliche Überprüfung auch sein mag, am Ende stehen wir immer mit einer möglicherweise unendlichen Zahl von Hypothesen da, die zu den Daten passen könnten, und einer unendlichen Menge möglicher empirischer Belege, die eine Theorie über den Haufen werfen könnten. Selbst wenn wir methodisch nicht als „Induktivisten“ vorgehen, müssen wir doch zugeben, dass einer Theorie immer weitere Prüfungen bevorstehen werden, selbst wenn sie bereits viele hinter sich gebracht hat. Popper versuchte dieses Problem durch sein Konzept der Bewährung zu lösen. Er legt dar, dass eine Theorie, nachdem sie erfolgreich vielen strengen Prüfungen unterzogen wurde, eine Art Verlässlichkeit erwirbt, sodass man unklug handeln würde, wenn man sie zu leichtsinnig verwerfen würde. Popper schreibt dazu, dass manche Theorien sich bereits bewährt hätten.8 Manche meinten darin genau die Art der Verifikation und Bestätigung anklingen zu hören, von der sich Popper doch nach eigener Aussage gelöst hatte. Natürlich kann man nicht behaupten, eine Theorie sei wahr, weil sie viele Prüfungen bestanden hat. Das sieht auch Popper so. Das Problem ist aber, dass wir ebenso wenig sagen können, eine Theorie sei mit größerer Wahrscheinlichkeit wahr, wenn sie mehrfach erfolgreich überprüft worden ist. In gewisser Weise scheint Popper sich dieser Gefahr bewusst zu sein (das sollte er auch, denn es handelt sich ja dabei wieder um das Induktionsproblem), doch es ist nicht ersichtlich, welchen Lösungsansatz er anbietet.9 Wir erinnern uns an dieser Stelle daran, dass die Induktion nicht nur die Gewissheit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit untergräbt. Wenn die Menge möglicher Prüfungen unendlich ist, dann ist die Stichprobe, die wir zur Überprüfung unserer Theorie ausgewählt haben, im Vergleich dazu winzig klein. Daher kann es einer Theorie nicht zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen, wenn sie sich gut bewährt hat. An verschiedenen Stellen seiner Arbeiten beschreibt Popper die Falsifikation als eine „rein logische Angelegenheit“.10 Doch warum entwickelt er dann ein Konzept wie die Bewährung? Ist dies vielleicht ein seltenes Zugeständnis an die praktischen

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Arbeitsbedingungen, mit denen sich Wissenschaftler konfrontiert sehen? Wie geht man dann allerdings mit Poppers Behauptung um, die Falsifikation befasse sich nicht mit praktischen Dingen?11 Die Wissenschaftsphilosophen werden sicher nicht aufhören, sich um die Essenz der Arbeit Karl Poppers zu streiten. In der Zwischenzeit bleibt vielen von ihnen nichts anderes als die unvermeidliche Erkenntnis, dass sich induktionsbezogene Probleme für erfolgreich geprüfte Theorien nur noch verstärken. Selbst ein Verfechter des Falsifikationismus kommt daran nicht vorbei. Die Vorstellung, eine Theorie schwebe immer in der Gefahr, von neuen Daten widerlegt zu werden – und damit verbunden die der unendlichen Menge an möglichen Theorien, die vorliegende Belege erklären könnten –, wird von vielen Wissenschaftlern als rein philosophisches Problem abgetan. Diese Wissenschaftler halten an der Idee fest, eine Theorie sei nach vielfältiger strenger Überprüfung entweder wahr oder mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr. Ich bin mir nicht sicher, wie sie in ihrem tiefsten Inneren wirklich davon überzeugt sein können, denn nicht nur den Philosophen, sondern auch den Wissenschaftlern ist doch vollkommen bewusst, dass der Weg der Wissenschaftsgeschichte mit den Trümmern eines solchen Hochmuts gepflastert ist.12 Vielleicht ist das eine der Situationen, in denen die Verteidiger der Wissenschaft der Versuchung erliegen, das Bild einer Wissenschaft aufrechtzuerhalten, die eine Theorie tatsächlich beweisen kann, selbst wenn sie sich darüber im Klaren sind, dass es sich dabei um eine Illusion handelt. Manchmal mag, im Eifer des Gefechts einer aufregenden Entdeckung oder einer hitzigen Diskussion, die Behauptung legitim erscheinen, eine Theorie sei wahr und Gewissheit sei möglich. Doch meiner Ansicht nach sind die Verfechter der Wissenschaft in besonderem Maße dazu verpflichtet, ihre Besonderheiten zu erkennen und zu akzeptieren und sich nicht in Halbwahrheiten und Wunschdenken zu flüchten, wenn die Frage nach der Natur dieser Besonderheiten beantwortet werden muss. Ob wir nun der Auffassung sind, Wissenschaft basiere auf induktiver Argumentation oder nicht – und ob wir Anhänger der Falsifikation sind oder nicht: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass (egal wie stichhaltig die Beleglage ist) Wissenschaft die Wahrheit einer empirischen Theorie nicht beweisen kann und wir nicht einmal davon ausgehen können, sie sei es mit größerer Wahrscheinlichkeit. Wie wir sehen werden, bedeutet dies jedoch nicht, dass es keinerlei Grundlage für die Verlässlichkeit einer Theorie gibt.

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„Nur eine Theorie“ An dieser Stelle müssen wir uns einem weiteren Missverständnis stellen, demnach eine wissenschaftliche Aussage, die nicht endgültig „bewiesen“, „wahr“ oder „verifiziert“ ist, „nur eine Theorie“ sei und man ihr daher keinen Glauben schenken solle. Manchmal taucht diese Argumentation im Zusammenhang mit der Behauptung auf, diese oder jene andere Theorie sei „mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit wahr“ oder sie „könne ja wahr sein“. Andere wiederum finden, dass alles theoretische Wissen ohnehin minderwertig sei. Zunächst einmal muss man sich in diesem Zusammenhang klarmachen, dass es einen Unterschied zwischen einer Theorie und einer Hypothese gibt. Eine Hypothese ist in gewisser Weise eine Vermutung. Normalerweise wird diese aber nicht ins Blaue hinein formuliert. Die Vermutung basiert für gewöhnlich auf einer vorhergehenden Beobachtung des betreffenden Untersuchungsgegenstandes. Sie entsteht meist, nachdem sich in den vorliegenden Daten ein Muster abzuzeichnen beginnt und jemand daraufhin bemerkt: „Hm, das ist auffällig, ich frage mich, ob …“ Dann folgen Voraussage und Überprüfung. Die Hypothese ist vielleicht auch einem Backtesting, einem Rückvergleich unterzogen worden, um zu sehen, ob sie mit den bereits in der Vergangenheit gesammelten Daten übereinstimmt. Doch das ist noch gar nichts im Vergleich zu der genauen Prüfung, die auf die Hypothese zukommt, wenn sie zu einer Theorie geworden ist. Eine wissenschaftliche Theorie muss nicht nur fest in die empirische Beleglage eingebettet sein, sie muss auch die Basis für Voraussagen bilden können, die auf ein größeres Umfeld übertragen werden können, sodass wir daran ablesen können, ob sie einen strengen Abgleich mit neuen Daten überstehen würde. Der Standard ist hoch. Viele Theorien bleiben als Ergebnis strenger Selbstüberprüfung auf der Strecke, noch bevor sie von ihren Urhebern überhaupt für das Peer-Review-Verfahren eingereicht und veröffentlicht werden können. Üblicherweise muss eine Theorie auch eine Erklärung dafür umfassen, warum man das Eintreffen der Voraussagen erwarten kann. So besteht die Möglichkeit, von einer Falsifikation einer Voraussage aus auf einen Fehler in der Theorie zu schließen, deren Bestandteil die betreffende Voraussage ist. (Wie wir am Beispiel der Periheldrehung des Merkurs gesehen haben, ist es ein zusätzlicher Vorteil, wenn eine Theorie in der Rückschau Erklärungen für Anomalien liefern kann, mit denen sich Wissenschaftler bei ihrer Arbeit bis zu diesem Zeitpunkt abfinden mussten.)

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Wenden wir uns für einen Moment noch einmal Karl Popper zu. Auch wenn er bei den Details seiner Darstellung der Falsifikation Unrecht haben mag, wollen wir ihm doch Folgendes zugestehen. Mit seiner grundsätzlichen Vorstellung, man könne auf der Basis von Logik zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft unterscheiden, hat er zumindest ein entscheidendes Element deutlich umrissen, das erklärt, wie Wissenschaft funktioniert: Unser Wissen über die Welt wächst, indem wir uns eng an empirische Daten halten. Wir können immer nur vorläufig mit einer Theorie liebäugeln und müssen dazu bereit sein, sie zu verwerfen, wenn sie widerlegt wird oder die Daten eine andere Theorie nahelegen, die plausibler ist. Das heißt: Einer der wichtigsten Faktoren, die der Wissenschaft einen Sonderstatus zuweisen, ist, dass Belege zählen. Am besten hat es der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman zusammengefasst: Im Allgemeinen gestaltet sich die Suche nach einem neuen Naturgesetz durch den folgenden Prozess: Zuerst vermuten wir es. … Dann berechnen wir die Konsequenzen dieser Vermutung, um zu erfahren …, was aus ihr folgen würde. Und dann vergleichen wir die Ergebnisse dieser Berechnung mit der Natur oder, wie wir sagen, wir vergleichen mit Experiment oder Erfahrung, vergleichen sie also direkt mit der Beobachtung und schauen, ob es klappt. Wenn die Ergebnisse nicht mit dem Experiment übereinstimmen, ist die Vermutung falsch. In dieser einfachen Feststellung liegt der Schlüssel zur Wissenschaft. Es macht keinen Unterschied, wie schön unsere Vermutung ist, es macht keinen Unterschied, wie schlau man ist, wer die Vermutung geäußert hat oder wie sein Name lautet. Wenn sie nicht im Einklang mit dem Experiment steht, ist sie falsch. Nicht mehr und nicht weniger.13

In diesem Sinne ist es nicht ganz falsch zu sagen, die „wissenschaftliche Methode“ erfasse tatsächlich einen wichtigen Faktor des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Selbst wenn sie sich nicht wirklich als Abgrenzungskriterium eignet, zeigt sie dennoch die kritische Grundhaltung, die man zum Abgleich einer Theorie mit messbaren Daten benötigt. Das ist es, was empirische Erkenntnis ausmacht. Uns fällt etwas Merkwürdiges auf, wir leiten daraus eine Hypothese ab, wir entwickeln eine Voraussage, wir überprüfen diese, und wenn alles gut geht, geht daraus vielleicht eine neue Theorie hervor.14 Diese Vorgehensweise mag vielleicht nicht allein der Wissenschaft vorbehalten sein, aber man kann sich kaum vorstellen, wie sie ohne diesen Prozess auskommen sollte.

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Eine Theorie entsteht, wenn wir so weit sind, eine Hypothese auf ein weiter gefasstes Umfeld zu übertragen. Eine Theorie besitzt einen größeren Rahmen, weil sie das Ergebnis einer Hypothese ist, die sich durch das Aufeinandertreffen mit den Daten geformt und gründlicher Überprüfung standgehalten hat, bevor man sie schließlich der Fachwelt zugänglich gemacht hat. In gewisser Weise ist eine Theorie nahezu ein Naturgesetz. Und es gibt in der Wissenschaft nichts, was verlässlicher wäre als das. Tatsächlich sind manche der Auffassung, genau das, nämlich ein Naturgesetz, sei eigentlich gemeint, wenn Wissenschaftler von einer Suche nach der „Wahrheit“ in Bezug auf die empirische Welt sprechen. Sie sind auf der Suche nach einem wissenschaftlichen Gesetz, das unsere Beobachtungen der Naturzusammenhänge vereinheitlicht, vorhersagt und erklärt. Aber Gesetze müssen in eine Theorie eingebettet sein. Und eine Theorie muss mehr sein als eine Vermutung. Eine Theorie ist das Resultat des groß angelegten Betatests einer Hypothese auf der Basis der Daten und die Prognose darüber, warum ein Muster künftigen Beobachtungen standhalten sollte. Der Apfel fällt zu Boden, weil die Schwerkraft auf ihn einwirkt. Die globalen Temperaturen steigen an, weil die Treibhausgasemissionen sich auswirken. Eine wissenschaftliche Theorie versucht nicht nur zu erklären, wie, sondern auch warum wir sehen, was wir sehen, und warum wir die entsprechenden Beobachtungen auch in Zukunft machen werden. Eine Theorie bietet nicht nur eine Voraussage, sondern auch eine Erklärung, die einbettet ist in das Netz unserer Erfahrungen. Im besten Fall sollte eine wissenschaftliche Theorie 1) ein Muster in unseren Beobachtungen identifizieren, 2) Voraussagen dieses Musters für die Zukunft untermauern und 3) erklären, warum es dieses Muster gibt. Auf diese Weise bildet eine Theorie das Fundament, auf das sich das gesamte Gebäude wissenschaftlicher Erklärungsansätze stützt. Sehen wir uns beispielsweise Newtons Gravitationsgesetz an: Es ist bemerkenswert, dass es sowohl Galileis Theorie von der Bewegung der Erde als auch Keplers Theorie von den Planetenbahnen in sich vereinigte. Damit waren wir nicht mehr im Ungewissen darüber, warum Objekte zu Boden fallen oder die Erde und die Planeten um die Sonne kreisten, beides war nun durch das Gesetz der Schwerkraft zu erklären. Es deckte sich ganz mit unseren Beobachtungen und erklärte, warum ein in Erdnähe in die Luft geworfener Ball – wie auch die Planeten – eine elliptische Bahn beschreibt (und warum er bis in den Orbit fliegen würde, wenn man ihn nur fest genug werfen könnte). Auch konnte man mit diesem Gesetz Voraussagen untermauern wie z. B. das Erscheinen und Verschwinden von Kometen. Bot es aber auch eine Antwort auf die Frage nach den genauen Funktionsmechanismen der Schwerkraft?

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Noch nicht ganz. Newton gab bekanntermaßen zu, er habe bezüglich des Wesens der Schwerkraft „keine Hypothese gebildet“. Damit hat er es den kommenden Generationen überlassen, sich mit den Anomalien bei der Fernwirkung sowie der Frage zu befassen, wie Anziehung und Abstoßung im All stattfinden können. Er hatte eine Theorie entwickelt, aber noch keinen Mechanismus. Untergräbt das nicht die Vorstellung, dass eine Theorie deshalb eine Erklärung bietet, weil sie uns sagt, warum etwas passiert? Das ist nicht unumstritten. Manche der berühmtesten wissenschaftlichen Erklärungen konnten zum Zeitpunkt ihrer Entwicklung nichts über die verursachenden Kräfte hinter den ihnen zugrunde liegenden Mustern aussagen. (Ein weiteres bedeutendes Beispiel dafür ist Darwins Theorie der Evolution durch Selektion, die bis zur Entwicklung der Mendel‘schen Vererbungsregeln nicht erklären konnte, warum Evolution stattfindet).15 In diesem Zusammenhang sehen wir uns mit der Frage konfrontiert, ob wissenschaftliche Theorien nicht bloß Werkzeuge zur Entwicklung von Voraussagen sind. Ob sie nicht nur kurze Darstellungen der Muster in unserer Beobachtung sind, die – bedingt durch die Grenzen wissenschaftlicher Theoriebildung – nie endgültige Antworten auf die Frage nach den dahinterliegenden Mechanismen liefern können. Im Allgemeinen ist man sich darüber einig, dass dies für wissenschaftliche Erklärungen nicht genügt – dass wissenschaftliche Theorien uns nicht nur Auskunft darüber geben müssen, was passiert, sondern auch darüber, warum es passiert. Die Beantwortung dieser Frage darf zwar einige Zeit in Anspruch nehmen, aber eine gute Theorie sollte uns zumindest schon einmal wissen lassen, dass diese Antwort einmal auf Grundlage der erforderlichen empirischen Forschung möglich sein wird. Wie wichtig das ist, zeigt sich genau dann, wenn wir keine Theorie zur Verfügung haben, wenn wir mit nichts als schönen Voraussagen dastehen, ohne erklären zu können, warum sie zutreffen. Die Bode‘sche Regel ist in der Wissenschaftsgeschichte eines der dramatischsten Beispiele dafür, wie weit man gehen kann (und wie schnell das Kartenhaus einstürzen kann), wenn die Belege gut ins Bild passen  – und sogar einige Voraussagen eintreffen –, man jedoch nicht über ein theoretisches Fundament verfügt. Johann Bode hatte im Jahr 1772 bereits eine lange Zeit mit dem Studium der Abstände zwischen den Planeten verbracht, als ihm ein erstaunlicher Zusammenhang auffiel. Nimmt man die gewöhnliche verdoppelnde Zahlenfolge {0, 3, 6, 12, 24, 48, 96, 192, 384, 768}, addiert 4 zu jeder Zahl und teilt das Ergebnis durch 10, erhält man die Folge {0,4, 0,7, 1,0, 1,6, 2,8, 5,2, 10,0, 19,6, 38,8, 77,2}. Diese Zahlenfolge ist nahezu identisch mit dem Abstand der Planeten von der

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Sonne, gemessen in Astronomischen Einheiten (eine Astronomische Einheit, abgekürzt AE, ist definiert als der Abstand zwischen der Erde und der Sonne). Es waren 1772 nur sechs Planeten bekannt, und zwar mit den folgenden Abständen zur Sonne: Merkur (0,387), Venus (0,723), Erde (1,0), Mars (1,524), Jupiter (5,203) und Saturn (9,539). Zunächst schien es niemanden zu stören, dass hinter diesem Zusammenhang kein Mechanismus steckte, der ihn hätte erklären können. Hatte denn nicht auch Newton bekanntermaßen im Hinblick auf die Schwerkraft „keine Hypothese entwickelt“? Dennoch gab es offene Fragen. Was sollte die „Lücke“ bei der Zahl 2,8 bedeuten? Und was war mit dem Rest der Folge? Man nahm diese Zahlen als Voraussagen bezüglich der Entfernungen weiterer möglicher Planeten an. Als dann neun Jahre später der Uranus mit einer Entfernung von 19,18 AE entdeckt wurde, war man gespannt. Zwanzig Jahre danach, als die Wissenschaft übereingekommen war, dass es einmal einen Planeten zwischen Mars und Jupiter gegeben haben musste (man taufte ihn postum auf den Namen „Ceres“), dessen Trümmer nach seinem Auseinanderbrechen den 2,77 AE entfernten Asteroidengürtel gebildet hatten, feierte man die Bode‘sche Regel als eine bedeutende wissenschaftliche Leistung. Auch wenn sie keine Erklärung lieferte (da sie praktisch keine wissenschaftliche Theorie umfasste, die ihre Voraussagen hätten bestätigen können), nahm man sie ernst, weil sie erfolgreich zwei Planeten vorausgesagt hatte. Durch die Entdeckung von Neptun im Jahr 1846 mit einer Entfernung von 30,6 AE und Pluto im Jahr 1930 mit einer Entfernung von 39,4 AE kam das Ende der Bode‘schen Regel. Man erkannte, dass es sich schlicht um ein bemerkenswertes Artefakt handelte, entstanden durch die naive Annahme eines Zusammenhangs.16 Vergleichen wir dies beispielsweise mit der Stringtheorie, die in ihrer bescheidensten Auslegung eine Gravitationstheorie auf mikroskopischer Ebene und in ihrer ambitioniertesten Auslegung eine umfassende Theorie der gesamten Zusammenhänge des Universums ist.17 Ganze Bücher sind den technischen Details dieses höllisch anspruchsvollen Themas gewidmet, doch die Kurzzusammenfassung lautet wie folgt: Einsteins allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die größten Objekte im Universum (Sterne und Galaxien), während die Quantenmechanik sich mit den kleinsten (Molekülen und Atomen) auseinandersetzt.18 Beide Theorien sind außerordentlich gut durch die Beweislage untermauert. Trotzdem gibt es ein Problem: Sie sind ihrem Wesen nach inkompatibel. Einfach ausgedrückt heißt das, sie können nicht beide recht haben. Es mag jedoch der Fall sein, dass zwar keine von ihnen vollkommen korrekt ist, die Theorien jedoch Spezialfälle einer übergeordneten Theorie darstellen. Diese Theorie könnte

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jene Phänomene in sich vereinigen und erklären, die von den „Spezialfällen“ abgedeckt werden. Einer der Kandidaten, die als übergeordnete Theorie infrage kommen, ist sicher vielen bekannt als das Standardmodell der Physik. Es hat sich als erfolgreich in der Darstellung und Erklärung aller grundlegenden Kräfte im Universum erwiesen, mit einer Ausnahme. Und die heißt Schwerkraft. Die Folge ist eine ehrgeizige Suche nach einer Quantentheorie der Gravitation, und die Stringtheorie wird von Physikern als vielversprechendster, wenn auch nicht einziger Kandidat angesehen. Das Problem an der Sache ist nur: Es gibt nicht den geringsten empirischen Beleg dafür, dass die Stringtheorie korrekt ist. Aktuell ist die Stringtheorie ein mathematisches Modell, von dem viele Physiker hoffen, dass es korrekt ist, aus dem einfachen Grund, dass es kaum Alternativen gibt. Aber das wirft eine wichtige Frage auf: Kann man in der Stringtheorie überhaupt als wissenschaftlich bezeichnen, wenn es keine empirischen Daten gibt, die sie untermauern? Oder ist sie nicht vielmehr „nur eine Theorie“?19 Hier haben wir einen Fall vor uns, der gegensätzlich zu dem der Bode‘schen Regel gelagert ist. Statt eines Erklärungsansatzes, der hervorragend zu den Daten passt, aber kein theoretisches Fundament besitzt, liegt uns nun eine höchst komplexe und fruchtbare Theorie ohne jeglichen empirischen Beweis vor. Verletzt dies nicht unser bereits angesprochenes Kriterium, nach dem eine wissenschaftliche Theorie anhand von Daten geprüft werden muss? Ebendieser Frage ging man anlässlich der Fachkonferenz „Why Trust a Theory? Reconsidering Scientific Methodology in Light of Modern Physics“ (Warum auf eine Theorie vertrauen? Die Neubewertung wissenschaftlicher Methodik im Licht der modernen Physik) nach, die 2015 an der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfand. Diese ungewöhnliche Konferenz brachte fachübergreifend sowohl Physiker als auch Philosophen vor dem Hintergrund der Frage zusammen, ob eine neue Art und Weise der wissenschaftlichen Arbeit denkbar und möglich sei. Ein Vorschlag dazu wurde von dem Physiker und Philosophen Richard Dawid vorgestellt, der in seinem Buch String Theory and the Scientific Method (Die Stringtheorie und die wissenschaftliche Methode) recht zuversichtlich die Vorstellung vertrat, dass die Physik sich angesichts des Problems der noch immer fehlenden empirischen Belege für die Stringtheorie anderen Kriterien der „nichtempirischen Beurteilung“ einer Theorie zuwenden müsse. Dazu sollten nach Dawid Faktoren wie die Stimmigkeit des Erklärungsansatzes, die Vereinheitlichung, die Fruchtbarkeit und sogar ästhetische Kriterien wie „Eleganz“ oder „Schönheit“ gehören.20 Einige der anwesenden Wissenschaftler widersprachen diesem Vorschlag und wiesen darauf hin, dass die Stringtheorie

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zwar keine empirischen Konsequenzen habe, die man derzeit prüfen könne (was den schwerwiegenden praktischen Problemen beim Aufbau eines entsprechenden Experiments geschuldet sei), doch es ließen sich aus ihr Voraussagen ableiten, die im Grundsatz prüfbar seien.21 Dieser Einschätzung würden sich jedoch nicht alle Physiker anschließen. Manche sind sogar der Ansicht, es gebe soziologische Faktoren wie „groupthink“ (Gruppendenken), den Druck der akademischen Lehre, Karrieredenken und Fördergelder zu bedenken. Diese Faktoren würden  – selbst ohne empirische Belege – die Stringtheorie zum einzigen Pferd machen, auf das man setzen könne.22 Doch derlei Einwände klingen immer noch anders als die Aussage, die Stringtheorie sei nicht überprüfbar. Wenn man sich die kritischen Äußerungen genauer ansieht, findet man die vorsichtige Formulierung, die Stringtheorie mache „keine Voraussagen bezüglich physischer Phänomene bei experimentell zugänglichen Energien“ oder dass sie derzeit „nicht durch denkbare experimentelle Ergebnisse falsifiziert werden“ könne.23 Doch das sind Ausweichmanöver von Wissenschaftlern, die es nicht gewohnt sind, ernsthaft zwischen der Aussage, eine Theorie sei „derzeit“ überprüfbar, und der, sie sei „prinzipiell“ überprüfbar, zu unterscheiden. Die praktischen Grenzen mögen fast unüberwindlich sein, doch philosophische Charakteristika wie die Abgrenzung werden genau in diesem Unterschied lebendig. Vielleicht haben die Kritiker ja recht und die Stringtheorie bekommt viel zu viel Aufmerksamkeit, wenn man die fehlenden empirischen Belege bedenkt. Fast sicher liegen sie aber mit ihrer Einschätzung richtig, dass es absurd wäre, „die Wissenschaft neu zu definieren“, um damit diese eine Theorie erfassen zu können. Es wird sich im Laufe der Zeit herausstellen, ob das Paradigma der Stringtheorie – in der Praxis – ohne das Fundament empirischer Belege seine Daseinsberechtigung behält. Aber was die Frage betrifft, ob die Stringtheorie wissenschaftlich ist, schlage ich mich auf die Seite derer, die einen Unterschied sehen zwischen der Behauptung, eine Theorie sei „derzeit“ nicht prüfbar, und im Gegensatz dazu, sie sei „prinzipiell“ nicht prüfbar (wenn sie z. B. keine empirischen Voraussagen umfasst). Das heißt, wie so viele Theorien vor ihr mag die Stringtheorie wissenschaftlich sein, auch wenn sie sich in Zukunft als falsch erweisen sollte. Wie sieht es vor diesem Hintergrund generell mit der Bedeutung von Theorien für die Wissenschaft aus? Es mag in der Wissenschaft unerlässlich sein, eine Theorie zu entwickeln. Aber reicht das allein aus? Muss es für diese Theorie nicht auch untermauernde Belege geben – oder zumindest

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mögliche Belege, die sie untermauern könnten –, damit sie als wissenschaftlich gelten kann? Wie könnten wir sonst überhaupt feststellen, warum die Zusammenhänge der Natur so sind, wie sie sind, und damit eine Grundlage für wissenschaftliche Erklärungsmöglichkeiten schaffen? Wie wir an den Beispielen von Ptolemäus und Newton gesehen haben, kann eine Theorie zugleich wissenschaftlich und auch falsch sein, aber sie muss danach streben, mit Belegen gestützt werden zu können, und zumindest versuchen, diese Belege zu erklären. Wir müssen nicht zu dem drastischen Mittel greifen, jede falsche Theorie als unwissenschaftlich abzulehnen. Eine Theorie ist nicht deshalb wissenschaftlich, weil sie richtigliegt. Sie ist wissenschaftlich, weil sie etwas darüber aussagt – selbst wenn diese Aussage nur ein Schuldschein ist, der später eingelöst werden kann –, ob hinter ihr ein Mechanismus steckt, der ihre Voraussagen untermauert und im Einklang mit künftigen empirischen Belegen steht. Sind wir mit der Stringtheorie schon an diesem Punkt angekommen? Werden wir überhaupt jemals dort ankommen? Darüber streiten sich die Gelehrten. Aber wir können auf jeden Fall anerkennen, dass wir ohne eine Theorie über dieses Thema gar nicht diskutieren müssten. Aus diesem Grund hatte die Bode‘sche Regel keinen Erfolg, während er der Stringtheorie noch bevorstehen könnte. Warum beklagen dann manche Kritiker, dass in der Wissenschaft alles immer „nur eine Theorie“ sei? Haben sie das Gefühl, jede wissenschaftliche Theorie sei so umstritten wie die Stringtheorie? Oder verstehen sie nicht (oder wollen nicht verstehen), was für ein entscheidender Schritt es ist, eine gute wissenschaftliche Theorie entwickelt zu haben? Die Evolutionstheorie ist „nur eine Theorie“, aber sie zeigt sich buchstäblich in allem, was wir über Mikrobiologie und Molekularbiologie wissen, von der zellulären Ebene bis hin zu den Arten. Sie ist in den 150 Jahren seit ihrer Veröffentlichung immer wieder rigoros geprüft worden. Sie erklärt die Daten, es lassen sich Voraussagen aus ihr ableiten und sie ist vollständig vereinbar mit der Mendel’schen Vererbungslehre, die den ihr zugrunde liegenden Mechanismus bildet. Die Evolutionstheorie ist das unumstrittene Rückgrat wissenschaftlicher Erklärungsmöglichkeiten in der Biologie. Tatsächlich wird dem berühmten Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky von vielen nachgesagt, mit dem folgenden Zitat für den gesamten Berufsstand gesprochen zu haben: „Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution.“24 Die angeblichen Lücken in Darwins Theorie der Evolution durch Selektion sind in manchen Fällen nur Missverständnisse, denen Laien in Bezug auf die Biologie unterliegen. Und bei den tatsächlichen Lücken

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handelt es sich schlicht um die üblichen Forschungsprobleme, mit denen sich Forscher auf dem Gebiet einer so ausgereiften Wissenschaft konfrontiert sehen. Wie Kuhn gezeigt hat, ist es im Rahmen eines zeitlich unbegrenzten Unterfangens nicht möglich, jemals alles erklären zu können. Es bleibt nur, das Vorhaben weiter voranzutreiben.25 Doch eines muss uns klar sein: Wissenschaftler sind in der Lage, die Komplexität des Auges zu erklären. Sie haben sogar einen Kandidaten für den „missing link“ gefunden.26 Der Unsinn, der von Kreationisten vorgebracht wird, um die Evolutionstheorie zu diskreditieren, hat nichts mit der Art zu tun, wie Wissenschaftler einander kritisch hinterfragen. Er gehört vielmehr ins Reich der Ideologien und Verschwörungsmythen.27 Auch die Gravitation ist „nur eine Theorie“. Ebenso wie die der Krankheitsübertragung durch Erreger. Und das heliozentrische Weltbild. Tatsächlich ist, wie wir gesehen haben, alles in der Wissenschaft „nur eine Theorie“. Das heißt aber nicht, dass es keine Grundlage für Verlässlichkeit gibt. Eine solide Theorie ist die Voraussetzung für Wissenschaft. Es bedarf nicht deduktiver Gewissheit, damit eine Theorie als wissenschaftlich oder verlässlich betrachtet werden kann. Die Vorstellung dahinter ist etwas heikel, aber dennoch wichtig: Wir dürfen von einer Theorie auf der Grundlage sie stützender Belege überzeugt sein, obwohl uns vollkommen klar ist, dass künftige neue Belege uns vielleicht dazu zwingen werden, unsere Überzeugung aufzugeben und uns einer anderen Theorie zuzuwenden. Wir müssen in der Wissenschaft eben das Beste aus der strengen Auswertung der uns zur Verfügung stehenden Daten machen. Unsere Überzeugungen können gerechtfertigt sein, selbst wenn wir uns nicht ganz zu der Behauptung hinreißen lassen können (und sollten), sie seien wahr. Also haben die Kritiker in gewisser Weise recht. Wissenschaft kann nichts beweisen. Und alles, was sie nahelegt, ist nur eine Theorie. Wenn unser Schicksal von künftigen Daten abhängt, dann ist das genau die Situation, in der sich empirische Forschung immer befinden wird. Und leider bildet sie auch die Basis dafür, dass Teile der Öffentlichkeit – genauer, die Ideologen unter den Wissenschaftskritikern – missverstanden haben, wie Wissenschaft funktioniert. Es stimmt, dass wir uns damit abfinden müssen, dass empirischer Erkenntnisgewinn ein Unterfangen mit offenem Ausgang ist. Dieses Unterfangen ist jedoch zugleich rigoros, sorgfältig und unser bestes Pferd im Stall, wenn es darum geht, Wissen über die empirische Welt zu erlangen. Wie passt das zusammen?

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Die Rolle der Rechtfertigung An dieser Stelle können wir das Konzept der Rechtfertigung in die Diskussion darüber einbringen, auf welcher Grundlage wir von empirischen Theorien überzeugt sein können. Auch wenn sie nicht nachweislich wahr, gewiss oder (selbst prinzipiell) mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr sind, sollten wir die Vorstellung, dass wissenschaftliche Theorien verlässlich sind (gerade weil sie durch empirische Belege gestützt werden), nicht leichtfertig von der Hand weisen. Wir müssen allerdings eine grundlegende und wichtige Unterscheidung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung vornehmen. Selbst wenn eine wissenschaftliche Theorie weder praktisch noch logisch mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr ist, nachdem sie eine Reihe strenger Prüfungen überstanden hat, stellt sich die Frage, ob unsere Überzeugung nicht dennoch gerechtfertigt ist. Und diese Frage kann man meiner Ansicht nach mit einigem Recht bejahen. Trotz der logischen Probleme, die Induktion, Verifizierung und Bestätigung aufwerfen (und obwohl man weiß, wie leicht die Bewährung, Poppers Zugeständnis an die Praxis, dazu führen kann, dass man sich auf positive Beispiele verlässt), besitzt doch der Erfolg empirischer Überprüfung eine so tiefe Bedeutung, dass Wissenschaftler zu recht daran festhalten wollen. Die Verlässlichkeit einer wissenschaftlichen Theorie scheint sich tatsächlich zu erhöhen, wenn sie eine Reihe strenger Prüfungen überstanden hat. Vielmehr ist den meisten Wissenschaftsphilosophen – die ja mit allen Problemen der induktiven Logik eng vertraut sind – bewusst, dass es leichtsinnig wäre, einer Theorie die Verlässlichkeit abzusprechen, nur weil man bestätigende Daten nicht dazu nutzen kann, sie als wahr zu belegen.28 Es gibt einen feinen Unterschied zwischen der Behauptung, eine Theorie sei wahr, und der Aussage, es sei gerechtfertigt, von ihr überzeugt zu sein. Diese Vorstellung lässt sich bis zu Sokrates zurückverfolgen. Vielleicht erleben wir es nicht mehr, dass die Wahrheit sich erweisen lässt, aber können wir uns ihr zumindest annähern? Können wir wenigstens falsche Ansprüche auf Wissen ausschließen? Wenn man eine Theorie als gerechtfertigt einstuft, erkennt man damit ihren berechtigten Anspruch auf Verlässlichkeit an. Sie ist also in diesem Fall gerechtfertigt auf der Basis der vorhandenen Belege. Das heißt, selbst wenn eine Theorie sich später als fehlerhaft erweist  – wie beispielsweise Newtons Gravitationstheorie –, kann man dennoch davon ausgehen, dass die Wissenschaftler vor dem Hintergrund der zum damaligen

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Zeitpunkt verfügbaren Belege zu Recht von ihr überzeugt waren. Warum ist das wichtig? Weil zu erwarten ist, dass sich auf lange Sicht fast jede empirische Theorie als fehlerhaft erweisen wird. Denn so funktioniert Wissenschaft.29 Das bedeutet aber nicht, dass wir uns unwissenschaftlich verhalten, wenn wir von einer wissenschaftlichen Theorie überzeugt sind, oder dass wir uns mit Überzeugungen zurückhalten sollten, bis „die restlichen Belege“ zur Verfügung stehen. Wenn man sich vor Augen führt, wie wissenschaftliche Prozesse ablaufen, muss man damit rechnen, dass diese Belege nie vorliegen werden! Die erkenntnistheoretische Strömung des Fallibilismus geht davon aus, dass wir uns einer empirischen Überzeugung nie gewiss sein können, jedoch zugleich keinen Grund zu der Annahme haben, Erkenntnis erfordere immer Gewissheit.30 Es stimmt, dass das Induktionsproblem sowohl Gewissheit als auch Wahrscheinlichkeit untergräbt, aber welchen erkenntnistheoretischen Standpunkt sollten wir angesichts dessen einnehmen? Sollen wir alle nichtdeduktiven Überzeugungen aufgeben? Sollen wir selbst auf der Basis eindeutiger Belege nicht mehr davon sprechen, dass wir etwas wissen? Das erscheint absurd. Die Vertreter des Fallibilismus sind der Auffassung, dass wir – abgesehen von den Bereichen der deduktiven Logik und der Mathematik – niemals Gewissheit erlangen können. Das bedeutet jedoch nicht, jeden Anspruch auf Wissen ausschließen zu müssen. Nicht alles, was wahr ist, ist zwingendermaßen wahr.31 Und zumindest einige dieser nichtzwingenden Wahrheiten sind es sicherlich wert, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Statt weite Gebiete möglichen Wissens aufzugeben, sollten wir vielleicht besser den Wissensbegriff erweitern. So könnten wir die Vorstellung einschließen, dass wir gerechtfertigte empirische Überzeugungen haben dürfen, auch wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass manche dieser Überzeugungen sich später als falsch herausstellen könnten. Der Fallibilismus ist daher ebenso eine Einstellung wie ein Gerüst von Grundsätzen: Er erlaubt uns die Vorstellung, dass manche unserer Überzeugungen auf der Basis von Belegen gerechtfertigt sind, selbst wenn sie sich auf lange Sicht als falsch erweisen könnten. Natürlich sollte man sich vor Leichtgläubigkeit oder überbordendem Ehrgeiz hüten. Wir sollten die Einstellung vermeiden, dass, nur weil wir gerade verlässliche Belege für eine empirische Überzeugung vorliegen haben, sie wahrscheinlich auch wahr ist. Ebenso sollten wir die Annahme vermeiden, die Aussagekraft der Belege ließe – selbst wenn wir nicht gewiss sein können, etwas zu wissen – zwingend darauf schließen, dass die dahinterliegende Theorie der Wahrheit ziemlich nahekäme. 32 Als Ausgleich für diese erkenntnistheoretische Gelassenheit, werden wir davor bewahrt, uns auf

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einen strengen Skeptizismus zurückziehen zu müssen: Der nämlich würde uns das Induktionsproblem so ernst nehmen lassen, dass wir von nichts mehr überzeugen werden können, weil jede Überzeugung eines Tages von neuen Daten widerlegt werden könnte. Die Vorstellung der Rechtfertigung kann mit dem Vertrauen auf empirische Belege in Einklang gebracht werden, selbst wenn der Fallibilismus auch voraussetzt, dass keine Menge an Belegen jemals Gewissheit schaffen kann. Wir dürfen begründete Überzeugungen nicht von Gewissheit abhängig machen. Trotz der Anstrengungen, denen sich Popper und andere unterzogen haben, wird der Prozess des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns schlicht und ergreifend nie deduktiv valide sein. Wissenschaftler möchten sich auf die Ermutigung durch bestätigende Beispiele verlassen, und sie haben durchaus recht damit. Nur sollten sie nicht übers Ziel hinausschießen und behaupten, ihre Theorie sei wahr, oder der Versuchung erliegen, Gegenbeispiele außer Acht zu lassen. Wie geht man jedoch mit dem Induktionsproblem um? Ich bin vielleicht nicht der erste Wissenschaftsphilosoph, der darauf kommt, aber ich wage an dieser Stelle das auszusprechen, was ich von vielen Philosophen im stillen Kämmerlein gehört habe: Zum Teufel mit dem Induktionsproblem. Das Induktionsproblem sollte nie dazu herhalten, gerechtfertigte Überzeugungen durch eine geistige Lähmung zu ersetzen. Sogar David Hume scheint sich darüber im Klaren gewesen zu sein, dass die Induktion in gewisser Weise fest im menschlichen Verstand verankert ist: Da die Vernunft unfähig ist, diese Wolken zu zerstreuen, so ist es ein glücklicher Umstand, dass die Natur selbst dafür Sorge trägt und mich von meiner philosophischen Melancholie und meiner Verwirrung heilt, sei es, indem sie die geistige Überspannung von selbst sich lösen lässt, sei es, indem sie mich aus ihr durch einen lebhaften Sinneseindruck, der alle diese Hirngespinste verwischt, gewaltsam herausreißt. Ich esse, spiele Backgammon, unterhalte mich, bin lustig mit meinen Freunden. Wenn ich mich so drei oder vier Stunden vergnügt habe und dann zu jenen Spekulationen zurückkehre, so erscheinen sie mir so kalt, überspannt und lächerlich, dass ich mir kein Herz fassen kann, mich weiter in sie einzulassen.33

Sowohl unser Verstand als auch unser Instinkt sagen uns, dass bestätigende Beispiele zählen. Wir können als menschliche Wesen nicht anders, als uns auf die Induktion zu verlassen, wenn wir aus der Beobachtung der empirischen Welt lernen. Doch kann das überhaupt angemessen sein? Eine der faszinierendsten Antworten auf das Induktionsproblem kam von Hans Reichenbach, der

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argumentierte, dass das Induktionsproblem, wenn auch nicht logisch verifiziert, so doch zumindest gerechtfertigt werden könne.34 Sein Plädoyer ist fesselnd. Stellen wir uns vor, die Welt sei ungeordnet, es gebe keinerlei empirische Zusammenhänge zwischen Phänomenen. Es gäbe dann keine Methode, welche die Muster in unseren Beobachtungen erfassen oder erklären könnte, denn solche Muster existierten dann nicht. Nehmen wir andererseits eine Welt an, die eher der unseren gleicht und in der sich Zusammenhänge in unseren Beobachtungen abzeichnen. Und wir möchten nun eine Methode nutzen, mit der sie sich identifizieren lassen. Für welche Methode sollten wir uns entscheiden? Die beste Wahl wäre wohl die Induktion. Obwohl es vielleicht auch andere praktikable Möglichkeiten gäbe, wäre keine passender als die Induktion. Wie die Wissenschaft selbst reagiert auch die Induktion auf Muster in unserer Beobachtung, ist flexibel genug, um ihre Schlussfolgerungen auf der Basis neuer Daten zu verändern, und in der Lage, sich von einer einzelnen Hypothese zu lösen und von wieder vorne anzufangen, wenn die Daten es erfordern. Auch wenn uns die Induktion manchmal in die Irre führen kann, so besteht diese Gefahr ebenfalls bei jeder anderen Methode des Erkenntnisgewinns. Und auch wenn andere Methoden erfolgreich sein können, werden sie die Induktion nie übertreffen. Reichenbach kommt daher zu dem Schluss, dass die Induktion mindestens genauso gut beim Erkennen von Mustern in der empirischen Welt abschneidet wie jede andere Methode. Damit ist der induktive Erkenntnisgewinn „pragmatisch gerechtfertigt“.35 Könnte ein ähnliches Vorgehen auch dabei helfen, das Konzept der Rechtfertigung zu verteidigen? Wie wir gesehen haben, ist es nicht die Gewissheit, dass sie wahr ist, was eine Theorie rechtfertigt. Vielmehr ist es die Tatsache, dass empirische Belege für sie sprechen und die Theorie vor dem Hintergrund dieser Belege zu einer in höchstem Maße gerechtfertigten Wahl wird. Man mag dies als die pragmatische Rechtfertigung einer berechtigten Überzeugung bezeichnen: Eine wissenschaftliche Theorie ist nur und ausschließlich dann gerechtfertigt, wenn sie mindestens so gut durch Belege gestützt ist wie jede ihrer empirisch gleichwertigen Alternativen. Wenn eine andere Theorie besser ist, dann sollte man diese wählen. Ist das nicht der Fall, ist es sinnvoll, weiterhin von der vorliegenden Theorie überzeugt zu sein.36 Das Konzept der Rechtfertigung sieht Abstufungen vor, es gibt dabei nicht nur Schwarz und Weiß. Es ist rational, von einer Theorie überzeugt zu sein, selbst wenn sie das Kriterium der Gewissheit nicht erfüllt, solange sie gut oder besser als ihre Konkurrenz ist. Reichenbachs Logik gemäß mag man das Vertrauen in eine wissenschaftliche Theorie zwar nicht validieren können, aber zumindest kann man es rechtfertigen. Selbst wenn sie nicht

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als wahr zu beweisen ist (oder nicht einmal mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr ist), ist sie dennoch auf Basis der Belege gerechtfertigt.37 An diesem Punkt bekommt man es unweigerlich mit philosophischen Fragen zu tun, wenn es um die Bedeutung der Aussage geht, dass auch eine möglicherweise falsche Überzeugung gerechtfertigt sein kann, und darum, ob wir uns auf induktive Schlussfolgerungen aus empirischen Beobachtungen verlassen dürfen, wenn wir uns nicht einmal sicher sein können, dass unsere Sinneswahrnehmungen vertrauenswürdig oder die von uns entdeckten Muster dazu geeignet sind, daraus Prognosen abzuleiten. Eine ganze Reihe von kritischen Befürchtungen für die Basis des empirischen Wissens hat die Philosophen von René Descartes bis Nelson Goodman umgetrieben.38 Für die Arbeit der meisten Wissenschaftler sind diese Sorgen allerdings von nicht allzu großer Bedeutung. Ja, es könnte zwar sein, dass mich ein böser Geist oder Dämon absichtlich täuscht und mein Gerät nicht das anzeigt, was die Daten nahelegen. Aber warum sollte ich diese Möglichkeit ernst nehmen ohne einen Grund zu der Annahme, dass dem so sei? Ja, es besteht die Möglichkeit, dass die von mir erhobenen empirischen Belege eine unendliche Menge an alternativen erfundenen Behauptungen (und Theorien) stützen könnten. Doch warum sollte mich das kümmern, außer es gibt einen Grund zu der Annahme, dass sie eine bessere Erklärung für das mir zur Untersuchung vorliegende Phänomen liefern? Die philosophischen Fragen in diesem Zusammenhang sind bei Weitem noch nicht abschließend geklärt, aber man sollte sich auch vor Augen halten, dass die Philosophie hier an einem anderen Punkt als die Wissenschaft ansetzt. Wir müssen nicht erst alle anstehenden erkenntnistheoretischen Probleme lösen, damit die Wissenschaft weitere Fortschritte machen kann. Stattdessen ist es wichtig zu beachten, dass die Wissenschaft erst beginnt, nachdem man den Cartesianismus und sein Zweifeln an der Verlässlichkeit sensorischer Daten hinter sich gelassen hat und die Grundannahme akzeptiert, dass wir Erkenntnisse über die Zusammenhänge der Welt gewinnen können, indem wir beobachten und wahrnehmen. Es mag zwar stimmen, dass unsere Sinne in manchen Situationen fehlbar sein können, dennoch wäre es unrealistisch zu erwarten, dass die Wissenschaft ihre Bemühungen einstellen muss, nur weil wir – möglicherweise – getäuscht werden oder unseren Verstand verloren haben könnten. Ist das nicht auch genau der Grund dafür, dass wir uns in der Wissenschaft der kritischen Überprüfung durch Fachkollegen unterziehen, damit sie unsere persönliche Glaubwürdigkeit kontrollieren? Oder vielleicht sind wir auch alle fehlbar. Aber wenn es doch bisher keinen Grund zu der Annahme gibt, dass wir tatsächlich alle schlafen oder dass die von uns verwendeten

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theoretischen Konzepte tatsächlich willkürlich sind, könnten die Wissenschaftler dann nicht einfach beschließen, unter der Prämisse weiterzuarbeiten, dass die Beweislast hierbei aufseiten der Skeptiker liegt?39 Wenn die Wissenschaft lernen könnte, mit einem solchen pragmatisch-philosophischen Verteidigungsmechanismus zu leben, wäre ­ ihr meiner Ansicht nach bereits geholfen. Der Umstand, dass die Wissenschaft ihrem Wesen nach ein Unterfangen mit offenem Ende ist, wäre keine Schwäche mehr. Wissenschaftler müssten nicht mehr die Gewissheit vortäuschen, dass ihre Theorien wahr seien, wenn ihnen doch im Grunde klar ist, dass sie anfechtbar sind – und es auch sein müssen. All dies würde eine leichte Veränderung erfordern, nicht unbedingt in der Weise, wie ein Wissenschaftler arbeitet, sondern wie er seine Arbeit verteidigt. Bestätigende Beispiele würden noch immer zählen, auch wenn sie es nicht als Beweis für Wahrheit täten, sondern nur als Rechtfertigung. Wissenschaftler hätten noch immer eine solide Basis für ihre Theorien, auch wenn sie die Möglichkeit einräumen würden, dass diese Theorien durch neue Daten widerlegt werden könnten. Meiner Auffassung nach ist dies eine vollkommen ehrliche Vorgehensweise, denn größtenteils hat die Wissenschaft genau diese Werte bereits verinnerlicht, sich mit der Ungewissheit arrangiert und praktiziert Skeptizismus, Vorsicht sowie den Willen, ihre Schlussfolgerungen nicht zu hoch zu bewerten.40 Manchmal geraten Wissenschaftler auf Abwege, wenn sie gezwungen sind, sich gegen voreingenommene Ignoranten zur Wehr zu setzen, und dann auf eine Provokation mit vorschnellen Äußerungen reagieren, die ein falsches Verständnis wissenschaftlicher Prozesse befeuern. Wenn Wissenschaftler jedoch bereit wären, die Scheinwelt der Beweise und der Gewissheit zu verlassen und stattdessen das Konzept der Rechtfertigung zu verinnerlichen, würden sie sich dann nicht das Leben viel einfacher machen? Ich denke, hier könnte die Wissenschaftsphilosophie eine wichtige Rolle spielen, indem sie einen Wissenschaftsbegriff entwickelt, der die Ungewissheit als Vorteil und nicht als Schwäche definiert und zugleich die Bedeutung empirischer Belege als Grundlage einer gerechtfertigten Überzeugung verteidigt. Wenn uns das gelingt, hätten wir in der Auseinandersetzung mit Leugnern, Ideologen und Verschwörungsgläubigen sowie anderen Wissenschaftskritikern schon viel gewonnen. Man könnte sogar von ausgleichender Gerechtigkeit sprechen, wenn diese Menschen auf einmal gezwungen wären, sich für ihre Überzeugungen rechtfertigen zu müssen, statt den Hebel immer nur bei den Unwägbarkeiten der Wissenschaft anzusetzen! Die Tatsache, dass wissenschaftliche Theorien ihrem Wesen nach ungewiss sind, erhöht keineswegs die Wahrscheinlichkeit, dass nichtwissenschaftliche Theorien

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wahr sind. Diese Tatsache verdeutlicht nur noch die erkenntnistheoretische Kluft zwischen diesen Polen. Ohne Belege gäbe es wohl gar keine Rechtfertigung für nichtwissenschaftliche Überzeugungen. Was macht dann also den Sonderstatus der Wissenschaft aus? Wichtiger als alle logischen Prinzipien ist (wie ich meine und auch im nächsten Kapitel ausführlich darlegen werde) für einen Wissenschaftler, der diese Klippen sicher umschiffen möchte, die richtige Grundhaltung gegenüber empirischen Belegen. Erinnern wir uns an das Zitat von Richard Feynman: „Wenn sie [die Theorie] nicht im Einklang mit dem Experiment steht, ist sie falsch.“ Ich meine, es gibt so etwas wie eine „wissenschaftliche Grundhaltung“, die unentbehrlich für die wissenschaftliche Arbeit und als Erklärung der unverkennbaren Eigenschaften von Wissenschaft ist. Diese Grundhaltung ist etwas, das Wissenschaftler intuitiv verstehen. Und die Philosophie sollte sie als das Werkzeug anerkennen, mit dem sich am besten darstellen lässt, warum die Wissenschaft zu Recht der bevorzugte Weg des Erkenntnisgewinns ist. Sie ist weder eine Methode noch ein Rezept für wissenschaftliches Arbeiten, aber die Wissenschaft könnte nicht ohne sie auskommen. Wie ich im folgenden Kapitel zeigen möchte, formt und bildet die wissenschaftliche Grundhaltung die Denkweise von Wissenschaftlern, sowohl bei der Entwicklung als auch bei der kritischen Prüfung der Theorien, die das Herz wissenschaftlicher Erklärungsmodelle bilden.

4 Warum eine wissenschaftliche Grundhaltung wichtig ist

Viele Denker haben bei ihrer Suche nach den besonderen Eigenschaften der Wissenschaft bei deren angeblich einzigartiger Methode angesetzt. Diese Vorgehensweise hat Kritik hervorgerufen. Denn es hat sich gezeigt, dass viele Wissenschaftler in der Praxis gar nicht die Arbeitsschritte anwenden, die Wissenschaftsphilosophen als die begründende Basis dieser Arbeit ansehen.1 Das soll nicht heißen, es gebe keine wichtigen Faktoren in der wissenschaftlichen Arbeit, die eine große Bedeutung für den erkenntnistheoretischen Sonderstatus der Wissenschaft haben könnten. Vielleicht sollten wir unseren Blick nur weniger auf die Methode konzentrieren, durch die Wissenschaft ihre Berechtigung erhält, und uns stattdessen genauer ansehen, welche Denkweise Wissenschaftler praktizieren, wenn sie ihre Arbeit tun. Wie wir in Kap. 1 gesehen haben, gibt es kein Rezept für wissenschaftliches Arbeiten. Ebenso mag es keine logischen Mittel und Wege geben, anhand derer man die Einstellung von Wissenschaftlern zur empirischen Welt von der Einstellung abgrenzen könnte, die außerhalb der Wissenschaft zum Tragen kommt. Natürlich können auch Nicht-Wissenschaftler bei ihrer Bewertung von Belegen streng und sorgfältig vorgehen, und Wissenschaftler können sich wiederum bei einer Entscheidung zwischen Theorien gelegentlich auf subjektive, soziale und andere Kriterien stützen. Ein überaus wichtiger Faktor der wissenschaftlichen Arbeit wird jedoch in philosophischen Kreisen selten angesprochen: Es ist die innere Haltung, die wissenschaftliches Arbeiten lenkt. Selbst wenn sich Wissenschaftler nicht immer auf ein Gerüst aus Regeln stützen können, zeigt uns doch die Wissenschaftsgeschichte, dass ein wie auch immer geartetes Grundgerüst © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_4

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unentbehrlich ist. Ein Berufsethos. Ein Forschergeist. Eine Weltanschauung, die besagt, dass die Antwort auf empirische Fragestellungen weder in der Verbeugung vor Fachautorität noch in der Bindung an eine Ideologie liegt – ja manchmal nicht einmal in der Vernunft –, sondern in den Daten und Belegen, die zum jeweiligen Untersuchungsgegenstand erhoben und gefunden werden können. Ein solches Bekenntnis halte ich für den besten Weg, die erkenntnistheoretischen Besonderheiten der Wissenschaft verstehen zu können. Ich werde, um es zu benennen, den Begriff wissenschaftliche Grundhaltung nutzen. Die wissenschaftliche Grundhaltung können wir als ein Bekenntnis zu zwei Grundprinzipien zusammenfassen: 1. Wir bemühen uns um empirische Belege. 2. Wir sind bereit, unsere Theorien vor dem Hintergrund neuer Daten abzuändern. Dieses Bekenntnis schließt natürlich nicht aus, dass auch andere Faktoren mitunter eine Rolle spielen können. Wie Thomas Kuhns Arbeiten gezeigt haben, kann es, selbst wenn wir uns an empirische Belege halten, dazu kommen, dass wir zu wenige Determinanten für eine Theoriewahl haben. Dadurch bildet sich ein Einfallstor für außerempirische Überlegungen. In jedem Fall ausschließen sollten wir jedoch Wunschdenken und Unehrlichkeit. Richard Feynman formuliert es in seinem prägnantesten Versuch, die besonderen Charakteristika der Wissenschaft zu erfassen, folgendermaßen: „Wissenschaft ist das, was wir tun, um uns nicht selbst zu belügen.“2 Besser kann man die essenzielle Denkweise, auf der die wissenschaftliche Grundhaltung basiert, wohl nicht beschreiben. Die Diskussion über Einstellungen und Werte im Zusammenhang mit Wissenschaft mag dem einen oder anderen als zu vage und unpräzise erscheinen, um hilfreich zu sein. Daher möchte ich etwas genauer darauf eingehen, was dieser Ansatz umfassen könnte. Was bedeutet es, wenn wir uns um wissenschaftliche Belege bemühen? Vielleicht lässt sich das am besten verstehen, wenn man sich den gegenteiligen Fall ansieht, wir also untersuchen, was es heißt, sich nicht um empirische Belege zu kümmern. Wenn wir uns nicht um empirische Belege bemühen, verschließen wir uns neuen Informationen. Wir sind dogmatisch. Menschen mit dieser Denkweise können an ihren Ansichten festhalten, egal was neue Daten nahelegen. Wenn es die wissenschaftliche Grundhaltung also erfordert, dass „wir uns um Belege bemühen“, ist damit die aufrichtige Bereitschaft gemeint, Belege zu suchen und in Überlegungen einzubeziehen, die einen Einfluss auf

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die begründende Basis unserer Überzeugungen haben können. In manchen Fällen können die Belege dabei helfen, unsere Überzeugungen zu stützen, in anderen führen sie dazu, unsere Bemühungen zu untergraben. Wissenschaftler müssen sich jedoch in beiden Situationen offen mit ihnen auseinandersetzen. Sich um empirische Belege zu bemühen bedeutet, Theorien offen und bereitwillig anhand einer Realität zu überprüfen, die diese Theorien widerlegen könnte. Es bedeutet, sich nicht deshalb einer Überzeugung zu verschreiben, weil sie uns ein gutes Gefühl gibt, richtig erscheint oder sogar in unser Weltbild passt, sondern weil sie in Einklang mit den Daten steht, die wir experimentell ermittelt haben. Obwohl in der Wissenschaftsphilosophie viel dazu geschrieben wurde, wie problematisch die Theoriewahl auf dieser Grundlage mitunter sein kann – was eine Reihe weiterer Überlegungen wie Einfachheit, Fruchtbarkeit und Widerspruchsfreiheit erforderlich macht –, ändert das nichts an dem folgenden grundlegenden Bekenntnis der Wissenschaft: Wenn Belege vorhanden sind, sollten sie es sein, die eine wissenschaftliche Theoriewahl lenken.3 In manchen Fällen kann es sein, dass wir deshalb Belege vernachlässigen, weil sie irrelevant sind. Wenn es um Mathematik oder Logik geht, sind Belege nicht entscheidend, da wir uns vorliegende Probleme rational argumentativ lösen können. Ist unser Untersuchungsgegenstand allerdings empirischer Natur, führt diese Art der Vernachlässigung von Belegen zum Gegenteil gründlicher Forschung. Die Wissenschaft lässt uns danach streben, Erkenntnis aus der Beobachtung abzuleiten, um Schlüsse über die Zusammenhänge unserer Welt zu ziehen. Es ist für uns entscheidend, uns um Belege zu bemühen, weil dies der einzige Weg ist, unser Wissen mehr und mehr der Realität anzunähern, die wir erfassen wollen. Man könnte sich hierbei eine Liste von Charaktereigenschaften vorstellen. Ein Mensch mit einer guten wissenschaftlichen Grundhaltung ist bescheiden, ernsthaft, unvoreingenommen, intellektuell aufrichtig, neugierig und selbstkritisch. Dabei besteht aber die Gefahr, dass wir die wissenschaftliche Grundhaltung einfach zu einer individuellen psychologischen Angelegenheit erklären oder die Feststellung, ob sie diese Eigenschaften besitzt, dem Urteilsvermögen der jeweiligen Person überlassen. Davor sollten wir uns hüten. Wie begegnen wir dann nämlich den Leugnern oder Pseudowissenschaftlern, die von sich behaupten, ihnen seien Belege wichtig – oder die das sogar tatsächlich glauben –, wenn dem Rest der Welt gleichzeitig vollkommen klar ist, dass das nicht stimmt? Diese Menschen könnten uns schlicht anlügen. Aber sie könnten sich auch selbst belügen. Wenn es bei der wissenschaftlichen Grundhaltung nur um das Gefühl ginge, sich um

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Belege zu bemühen, wäre es unmöglich, Personen mit dem ernsthaften aufrichtigen Streben nach Überprüfung der eigenen Überzeugung anhand der Daten von den Ideologen zu unterscheiden, die glauben, Belege anzuführen, wenn sie in Wirklichkeit nur die Rosinen aus den Daten herauspicken, die ihre vorgefassten Ansichten bestätigen. Wir müssen die wissenschaftliche Grundhaltung stattdessen an unserer Handlungsweise festmachen. Und diese Handlungsweise sollte am besten nicht durch eine bestimmte Person, sondern durch die Wissenschaftscommunity beurteilt werden, eine Gemeinschaft, die sich durch die wissenschaftliche Grundhaltung als einem gemeinsamen Berufsethos leiten lässt.4 Belege als wichtig zu erachten heißt also, gemäß einer Reihe gründlich geprüfter Verfahrensweisen zu handeln, die von der Wissenschaftsgemeinschaft deshalb abgesegnet wurden, weil sie bekanntermaßen zu fundierten Überzeugungen geführt haben. Natürlich ist auch der wissenschaftliche Prozess nicht unfehlbar. Selbst wenn man die wissenschaftliche Grundhaltung gewissenhaft praktiziert, wird man dadurch wohl nicht alle Leugner und Pseudowissenschaftler entlarven können, die nur vorgeben, sich ihr ebenfalls verschrieben zu haben. Ob diese Menschen nur andere belügen oder auch sich selbst, ist manchmal schwer festzustellen.5 Und es mag natürlich auch Forscher geben, die in manchen Fällen ihren eigenen Theorien emotional allzu nahestehen und sich nicht von den ermittelten Daten überzeugen lassen möchten.6 Wo verläuft die Grenze zwischen diesen beiden Lagern? Nicht einmal die wissenschaftliche Grundhaltung kann dazu dienen, eine verbindliche logische oder methodische Grenze zwischen Wissenschaft und Betrug zu ziehen, aber sie kann zumindest einen gravierenden Unterschied in den Wertvorstellungen offenlegen, der sich im Umgang mit widersprechenden Daten zeigt. Was sind Belege? Es ist wohl unmöglich, alle unterschiedlichen Möglichkeiten dessen zu definieren, was man als wissenschaftliche Belege einstufen kann. Über ganz unterschiedliche empirische Forschungsunternehmen hinweg mag es statistische, qualitative oder gar historische Belege geben. Belege sind die Daten, die wir aus der Beobachtung ableiten, welche das rationale Maß unserer Überzeugung in eine Theorie beeinflusst. Manchmal sind die Daten quantitativ und direkt messbar. In anderen Fällen sind sie diffus und bedürfen der Interpretation. In jedem Fall sollten Wissenschaftler aber darin übereinstimmen, dass Belege bei der Auswahl oder Abänderung einer Theorie eine entscheidende Rolle spielen. Es gibt allerdings viele unterschiedliche Theorien darüber, was es für Wissenschaftler bedeutet, Belege auf eine rationale Weise zu nutzen. Peter Achinstein schreibt dazu:

4  Warum eine wissenschaftliche Grundhaltung wichtig ist     63

Wissenschaftler sind sich immer wieder uneinig darüber, ob oder in welchem Maße Datensätze oder Beobachtungsergebnisse Belege für eine wissenschaftliche Hypothese darstellen. Die Diskussion mag sich auf empirische Gesichtspunkte beziehen, darauf, ob beispielsweise die Daten oder Beobachtungsergebnisse korrekt sind, oder auf die Frage, ob relevante empirische Informationen außer Acht gelassen werden. Doch Konflikte treten auch deswegen auf, weil Wissenschaftler einander widersprechende Konzepte des Belegbegriffs zugrunde legen.7

Es sind ganze Bücher geschrieben worden über diese unterschiedlichen Konzepte des Belegbegriffs und ihre jeweiligen Stärken und Schwächen bei der Klärung der Frage, inwieweit Beoachtungsfakten eine wissenschaftliche Theorie stützen oder nicht.8 Wer sich nicht intensiv mit der Philosophie der Wahrscheinlichkeit und der Statistik befasst hat, mag bestürzt sein zu erfahren, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, welche Schlussfolgerungen aus ein und demselben Beleg als angemessen und legitim erachtet werden dürfen. Beispielsweise findet eine hitzige Diskussion statt zwischen den Vertretern eines „subjektiven“ Wahrscheinlichkeitsbegriffs, wie ihn die Anhänger von Bayes vorziehen, und dem „frequentistischen“ Wahrscheinlichkeitsbegriff, den Deborah Mayo und andere anwenden.9 Die wissenschaftliche Grundhaltung lässt sich jedoch mit vielen verschiedenen Konzepten des Belegbegriffs in Einklang bringen. Sie ist unabhängig von den unterschiedlichen Theorien zum Umgang mit Belegen. Die wissenschaftliche Grundhaltung zeigt sich in der Einstellung zu wissenschaftlichen Belegen, dort, wo diese als unerlässlich für die Entscheidung darüber angesehen werden, welche Theorie überzeugen kann. Natürlich kann man die wissenschaftliche Grundhaltung und ihre Bedeutung dann am besten schätzen lernen, wenn man sieht, wie sie praktiziert wird. Dazu werde ich in Kürze einige Beispiele anbringen. Doch vorher möchte ich noch auf zwei mögliche Missverständnisse zu sprechen kommen. Erstens soll die wissenschaftliche Grundhaltung nicht als Lösung des Abgrenzungsproblems verstanden werden.10 Das Ziel der Abgrenzungsfrage ist es, ein logisches Kriterium zu entwickeln, durch das sich alles Wissenschaftliche unter Ausschluss aller unpassenden Elemente in eine Schublade sortieren lässt und der ganze Rest in eine andere. Das ist ziemlich viel verlangt und wie wir bereits gesehen haben, ist so gut wie jeder Versuch einer Umsetzung bisher gescheitert. Dadurch ist die Wissenschaft anfällig für Missverständnisse und Kritik vonseiten der Menschen, die sich nicht ganz im Klaren darüber sind, wie sie funktioniert. Wenn wir die wissenschaftliche Grundhaltung als ein entscheidendes Merkmal der

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Wissenschaft ansehen, wollen wir damit keine Mauer der Abgrenzung zu anderen Disziplinen errichten. Vielmehr möchte ich zeigen, dass, wenn wir uns bei der Untersuchung empirischer Fragestellungen nicht an die strengen Standards des wissenschaftlichen Denkens halten, wir uns den besten Weg verbauen, den der menschliche Verstand je zum Erkenntnisgewinn über die empirische Welt erdacht hat. Ein zweites Missverständnis könnte in Bezug auf meine Absichten entstehen. Mein Ziel ist es nicht, die praktischen Arbeitsabläufe von Wissenschaftlern zu beschreiben. Die Art und Weise, in der die wissenschaftliche Grundhaltung in einem beliebigen Labor und an einem beliebigen Arbeitstag umgesetzt wird, ist nicht in Stein gemeißelt. Ein Wissenschaftler mag gelegentlich wissenschaftliche Normen verletzen und sich dann später – so wäre zu hoffen – wieder zu ihnen bekennen.11 Vielmehr möchte ich mit dem Konzept der wissenschaftlichen Grundhaltung ein normatives Ideal bieten, mit dem wir beurteilen können, ob ein einzelner Wissenschaftler oder ein ganzes Fachgebiet die wissenschaftlichen Werte einhält. Wie wir gesehen haben, gibt es keine Formel für Wissenschaftlichkeit, wie sie uns die wissenschaftliche Methode verspricht. Man kann Wissenschaft auch nicht in Sachen Logik oder Methodik nach dem Muster „ganz oder gar nicht“ beurteilen. Wissenschaft ist ein Gerüst aus Verfahrensweisen, eingebettet in das Wertesystem der Menschen, die sie praktizieren. Das soll nicht heißen, Wissenschaft sei allein durch ihre Praxis zu rechtfertigen (oder eben auch nicht). Die praktische Durchführung ist wichtig, aber nicht der einzige Faktor, der bei der Beurteilung eine Rolle spielt. Ich betone dies hier, um auf Argument Bezug zu nehmen, welches in den letzten Jahrzehnten immer wieder gegen den methodologischen Ansatz der Wissenschaftsphilosophie vorgebracht wurde. Kritiker wenden ein, dass die Wissenschaft, weil sie nicht immer den von der Logik der Wissenschaft vorgegebenen Grundsätzen folgt, nicht besser oder schlechter sei als jeder andere Erkenntnisweg. Meiner Ansicht nach ist dieser Einwand falsch. Obwohl ich mich selbst davor scheue, die Wissenschaft auf der Basis ihrer Methodik zu verteidigen, ist mein Ansatz zu tief in der Vorstellung einer rationalen Rechtfertigung verwurzelt. Ich mag vielleicht nicht der traditionellen Vorstellung anhängen, man müsse, um die Wissenschaft verteidigen zu können, streng zwischen Fakten und Werten unterscheiden, halte die Wissenschaft jedoch auch nicht für hoffnungslos subjektiv. Obwohl Objektivität wichtig ist, spielen Werte eine Rolle, indem sie unsere Handlungsweise bestimmen und uns auf Kurs halten. Also ist es möglich, die Wissenschaft als Ganzes aufgrund der hehren Ziele ihrer Bestrebungen

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zu rechtfertigen, selbst wenn die tatsächliche Umsetzung den Ansprüchen in manchen Fällen nicht gerecht wird. Die Bedeutung der Praxis für die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft anzuerkennen, heißt nicht, die Bedeutsamkeit ihrer Ideale zu verkennen. Wenn sich auch in manchen Fällen Nachlässigkeiten oder Betrug einschleichen mögen, ist die Wissenschaft als Ganzes dennoch gerechtfertigt. So wie es nicht die Logik der Wissenschaft unterminiert, wenn man zugibt, dass einzelne Wissenschaftler bisweilen irrational handeln, unterminiert es auch nicht die wissenschaftlichen Werte, darauf hinzuweisen, dass manche Wissenschaftler in Einzelfällen gegen die wissenschaftliche Grundhaltung verstoßen haben. Genau aus diesem Grund ist es so wichtig, sich für die Überprüfung der Forschungsarbeiten durch Fachkollegen einzusetzen. Die Standards der Wissenschaft werden nicht nur von einzelnen Wissenschaftlern hochgehalten, sondern von der gesamten Wissenschaftscommunity, die ein Regelsystem entwickelt hat, um Betrug und Nachlässigkeit, wenn irgend möglich, auszuschließen. Daher ist die wissenschaftliche Grundhaltung eher ein normativer als ein deskriptiver Ansatz. Manchmal verstoßen Menschen gegen ein Ideal, auch wenn sie es an sich verinnerlicht haben. In diesem Fall ist es an anderen, korrigierend einzugreifen. Genau dies erlaubt die wissenschaftliche Grundhaltung. Der Sonderstatus der Wissenschaft als Erkenntnisweg zeigt sich nicht nur in ihren Verfahrensweisen, sondern auch in ihren Zielen. Trotz des Fehlverhaltens Einzelner ist es das Ethos der Wissenschaft, das ihr eine so große erkenntnistheoretische Autorität verleiht.12

Zwei Beispiele für eine wissenschaftliche Grundhaltung Zu Beginn dieses Buches hatte ich anklingen lassen, dass man über die Natur der Wissenschaft am besten lernen kann, wenn man sich nicht nur ihre Erfolge ansieht, sondern vor allem auch ihre Fehlschläge. Ich habe auch erwähnt, dass man nicht nur Beispiele auswählen sollte, die aus der Geschichte der Physik oder Astronomie stammen. Vor diesem Hintergrund möchte ich zunächst ein Beispiel herausgreifen, das die Vorteile der wissenschaftlichen Grundhaltung zeigt, die sich aus der Medizin ableiten lassen. Das zweite Beispiel bezieht sich auf einen Fehlschlag aus dem Bereich der Chemie (die kalte Fusion), der die Konsequenzen einer Verletzung der wissenschaftlichen Grundhaltung zeigt.13

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Damit mein Ansatz glaubwürdig ist, muss ich mich zunächst mit der Vorstellung auseinandersetzen, dass es leicht gewesen wäre, andere Beispiele aus der Geschichte der Physik und der Astronomie zu finden, die ebenso die Vorteile der wissenschaftlichen Grundhaltung verdeutlicht hätten. Meiner Meinung nach ist diese Annahme durchaus gerechtfertigt. Man hätte dazu Newtons Gravitationstheorie oder, besser noch, Einsteins allgemeine Relativitätstheorie heranziehen können. Wenn wir den Vorsprung bedenken, den uns Poppers Auseinandersetzung mit diesem Beispiel verschafft, hätten wir damit wohl eine gute Möglichkeit, die Bedeutsamkeit der angemessenen Denkweise bei der Überprüfung einer Theorie zu illustrieren. Aber ich möchte es den Lesern überlassen, sich vorzustellen, wie Popper wohl Einsteins wissenschaftliche Grundhaltung beurteilt hätte. Stattdessen greife ich zu einem meiner persönlichen Lieblingsbeispiele aus der Wissenschaftsgeschichte: Ignaz Philipp Semmelweis´ Theorie zur Entstehung und Verbreitung des Kindbettfiebers. Dieses Beispiel wurde innerhalb der Wissenschaftsphilosophie durch Carl Gustav Hempel bekannt gemacht, der es in seinem Werk Philosophy of Natural Science aus dem Jahr 1966 dazu nutzte, die Vorteile wissenschaftlicher Erklärungsmodelle zu verdeutlichen.14 Im Gegensatz zu Hempel, der die Semmelweis-Theorie in eine logisch-empiristische Darstellung der Wissenschaft einbettete, werde ich ­ mich bemühen, den Fokus hier auf die Art und Weise zu legen, in der die Theorie eine wissenschaftliche Grundhaltung erkennen lässt. Dieser Ansatz lässt sich auch recht gut mit den Auswirkungen der wissenschaftlichen Grundhaltung auf die moderne Medizin verbinden, die ich in Kap. 6 darstellen werde. In Anbetracht der Tatsache, dass die moderne Medizin eine unbestreitbar wissenschaftliche Basis besitzt, ist kaum mehr vorstellbar, dass sich die medizinische Versorgung mehr als 200 Jahre nach dem Beginn der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert noch im finsteren Mittelalter befand. Auch im Jahr 1840 standen Entdeckungen wie die Anästhetika (1846), die Keimtheorie, also die Krankheitsverbreitung durch Viren und Bakterien (1850er Jahre), oder die antiseptische Chirurgie (1867) noch aus. Gab es wichtige wissenschaftliche Neuerungen, hatte man gleichzeitig kaum allgemein anerkannte Mechanismen zur Hand, um die Praktizierenden darüber zu informieren oder sie gegen die Einwände von Kritikern zu verteidigen.15 Experimentelle Methoden mussten hinter Intuition und Tradition zurückstehen. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass wir im Jahr 1846 am Allgemeinen Krankenspital in Wien eines der bedeutendsten Beispiele für die wissenschaftliche Grundhaltung in voller Blüte vorfinden.

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Ignaz Semmelweis war als kleiner Assistenzarzt in der größten Entbindungsklinik der Welt tätig, die in zwei Stationen unterteilt war. Auf Station 1 war das Kindbettfieber (auch bekannt als Puerperalsepsis) stark verbreitet und die Mortalität mit 29 % sehr hoch. Auf der angrenzenden Station 2 betrug die Mortalität dagegen nur 3 %.16 Zudem war bekannt, dass Frauen, die ihre Kinder zu Hause oder auf dem Weg ins Spital in einer „Straßengeburt“ zur Welt brachten, weitaus seltener an Kindbettfieber erkrankten. Wie war also die Situation auf Station 1 zu erklären? Man stellte verschiedene Hypothesen zu diesem Problem auf. Einer dieser Überlegungen nach war Station 1 überfüllt. Als Semmelweis jedoch die Zahl der Patientinnen dort ermittelte, stellte er fest, dass auf Station 2 wesentlich mehr Patientinnen behandelt wurden (vielleicht weil viele Frauen einen Aufenthalt auf der berüchtigten Station 1 umgehen wollten). Dann stellte man Folgendes fest: Weil der Grundriss der Station 1 es erforderte, musste der Priester, um den sterbenden Patientinnen die Krankensalbung zu geben, an vielen anderen Krankenbetten vorbeigehen – während er fortwährend seine Glocke läutete – und verbreitete damit, so vermutete man, unter den Patientinnen Angst, die sie vielleicht anfälliger für das Kindbettfieber machte. Auf Station 2 hingegen besaß der Priester einen direkten Zugang zum Krankenzimmer. Semmelweis führte ein Experiment durch, indem er den Priester bat, in aller Stille einen anderen Weg zum Krankenzimmer auf Station 1 zu nehmen, doch die Mortalität durch das Kindbettfieber blieb unverändert. Auch andere Versuche, durch die man beispielsweise einen Einfluss der Lagerung (Seiten- oder Rückenlage) der Gebärenden während der Entbindung beleuchten wollte, erwiesen sich nicht als zielführend. Schließlich bemerkte man, dass einer der wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Stationen der Umstand war, dass auf Station 1 die Geburten durch Medizinstudenten begleitet wurden und auf Station 2 Hebammen die Gebärenden unterstützten. Gingen die Medizinstudenten bei ihren Untersuchungen weniger behutsam vor? Als man nun die Medizinstudenten und die Hebammen die Stationen tauschen ließ, folgte die Mortalität den Studenten nach. Doch noch immer hatte man keine Erklärung für dieses Phänomen. Auch als man die Medizinstudenten anwies, sanftere Verfahren anzuwenden, verbesserte sich die Sterblichkeit nicht. Die Erleuchtung kam im Jahr 1847, als einer der Kollegen, mit denen Semmelweis zusammenarbeitete, sich während der Obduktion einer an Kindbettfieber verstorbenen Patientin eine Stichwunde zuzog. Er starb daraufhin an einer Erkrankung, deren Symptome sich mit denen des Kindbettfiebers zu gleichen schienen.17 Konnte das Kindbettfieber also auch

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außerhalb des Personenkreises schwangerer Frauen auftreten? Semmelweis stellte fest, dass es einen Unterschied machte, wo die Medizinstudenten vor ihrem Dienst auf der Entbindungsstation gewesen waren. Sie erschienen auf der Station direkt nach der Durchführung von Obduktionen, mit ungewaschenen Händen und Instrumenten (rufen wir uns ins Erinnerung, dass hier von einer Zeit vor der Antisepsis und der Entdeckung der Rolle von Viren und Bakterien bei der Krankheitsübertragung die Rede ist). Diese Beobachtung führte zu der Vermutung, das Kindbettfieber könne etwas mit der Übertragung von „Leichenmaterie“ auf die Schwangere zu tun haben. Um dies zu überprüfen, wies Semmelweis die Studenten an, sich vor der Assistenz bei Geburten die Hände mit gechlortem Wasser zu waschen. Die Mortalität sank drastisch. Semmelweis hatte damit nicht nur eine Erklärung für das Phänomen der hohen Mortalität auf Station 1, sondern auch für die geringere Erkrankungsrate bei „Straßengeburten“ gefunden. Später musste er seine Hypothese dahin gehend ausweiten, dass die Übertragung des Kindbettfiebers auch durch fauliges lebendes Gewebe stattfinden konnte. Er und seine Kollegen hatten eine Frau mit Gebärmutterhalskrebs untersucht und im Anschluss daran zwölf weitere Patientinnen, von denen dann elf am Kindbettfieber verstarben.18 Die wissenschaftliche Grundhaltung tritt in diesem Beispiel sehr offen zutage. Semmelweis nahm nicht an, die Antwort auf die Frage nach der Ursache des Kindbettfiebers bereits zu kennen. Er untersuchte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Stationen und zog dann so viele Informationen wie möglich aus der Beobachtung und kontrollierten Experimenten. Er stellte verschiedene Hypothesen auf und überprüfte dann eine nach der anderen. Schied eine Hypothese aus, wandte er sich der nächsten zu und blieb während dieses Prozesses offen für neue Informationen. Als er schlussendlich eine Antwort auf seine Forschungsfrage gefunden hatte – und diese später erweiterte –, veränderte er seine Überzeugungen auf der Basis neuer Daten. Bemühte sich Semmelweis um empirische Belege? Ganz sicher tat er das. Indem er die Bedingungen kontrollierte und seine Vorstellungen anhand tatsächlicher Beobachtung überprüfte, trug Semmelweis dem Umstand Rechnung, dass der Grund für die Verbreitung des Kindbettfiebers nicht rein intellektuell ermittelt werden konnte. War er bereit, seine Theorie auf der Basis neuer Daten abzuändern? Auch in diesem Fall lautet die Antwort ja. Semmelweis wechselte nicht nur beim Ausscheiden einer Hypothese zu einer anderen, er erweiterte sie auch, als spätere Beobachtungen neue Daten lieferten und klar war, dass die Krankheitsübertragung nicht nur durch Leichenmaterie, sondern auch durch fauliges lebendes Gewebe ­stattfinden

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konnte. Auch wenn er den exakten Mechanismus der Krankheitsübertragung nicht kannte (wie auch Darwin die Mechanismen der Genetik nicht kannte, als er seine Evolutionstheorie veröffentlichte), war doch der Zusammenhang nicht zu leugnen. Semmelweis hatte gezeigt, dass „ein Mangel an Reinlichkeit“ für die Verbreitung des Kindbettfiebers verantwortlich war. Man kann aus heutiger Sicht kaum nachvollziehen, dass diese Vorstellung jahrzehntelang abgelehnt und geleugnet wurde. Obwohl Semmelweis unumstößliche empirische Belege dafür geliefert hatte, dass das Händewaschen mit gechlortem Wasser das Übertragungsrisiko des Kindbettfiebers stark senken konnte, wurden seine Ergebnisse von der Mehrheit der Fachkollegen angefochten. Unzählige Frauen verloren unnötigerweise ihr Leben, weil das engstirnige medizinische Establishment nicht wahrhaben wollte, dass die Ärzteschaft selbst für eine Ausbreitung des Kindbettfiebers verantwortlich war. Die Vorstellung, ein Gentleman könne als unrein erscheinen, war für die Mediziner eine persönliche Beleidigung. Da es keine Erklärung dafür gab, wie Leichenmaterie eine Krankheit übertragen konnte, wollten sie auch nicht von ihrer Hypothese abrücken, die Übertragung habe mit „schlechter Luft“ zu tun. Semmelweis verlor seine Anstellung. Als weitere Demonstrationen der Effektivität seiner Forschungsergebnisse an anderen Spitälern in Europa ihm noch immer keine Anerkennung durch das medizinische Fachkollegium einbrachten, verbitterte er mehr und mehr. Er wurde schließlich in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert, wo er von Wärtern geschlagen wurde und zwei Wochen später an einer Sepsis starb, an einer Infektion also, die dem Kindbettfieber ähnlich ist. In der Reaktion des Kollegiums auf Semmelweis´ Hypothese wird die Kehrseite der wissenschaftlichen Grundhaltung deutlich. Nicht nur fördert die Umsetzung der wissenschaftlichen Grundhaltung den Fortschritt der wissenschaftlichen Entdeckungen und Erklärungsmodelle, sondern umgekehrt behindert ihre Abwesenheit diesen Fortschritt. Das in den 1840er Jahren anerkannte Krankheitsbild basierte auf der mittelalterlichen Vorstellung eines Ungleichgewichts der „vier Säfte“ des Körpers. Eher waren es Brauch und Tradition, die Antworten auf medizinische Fragen vorgaben, als empirische Forschung. Erst mit Pasteurs und Kochs Arbeiten zu Krankheitserregern in den 1850er Jahren und Listers Einführung der antiseptischen Chirurgie im Jahr 1867 begann die Medizin eine wissenschaftliche Basis zu entwickeln. Und erst Jahre nach Semmelweis´ Tod wurden seine Erkenntnisse rehabilitiert.19 Es wäre durchaus menschlich, sich dazu hinreißen zu lassen, all dies als vollkommen offensichtlich und einfach zu betrachten und die Kollegen,

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die Semmelweis´ Forschung ignorierten, als Dummköpfe abzustempeln. Wie konnten sie schließlich so engstirnig und verbohrt sein, nicht zu erkennen, was sich direkt vor ihren Augen abspielte? Die Antwort auf diese Frage lautet, dass die Medizin bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht auf einer wissenschaftlichen Grundhaltung beruhte. In den Naturwissenschaften hatte sich bereits die Vorstellung durchgesetzt, dass man durch sorgfältiges Experimentieren und durch aus der Beobachtung ableitbare Belege Erkenntnisse über empirische Forschungsfragen gewinnen konnte. Schon 200 Jahre zuvor hatte Galileos Revolution die Astronomie verändert. Doch die Medizin befand sich noch lange Zeit fest im Griff überkommener Anschauungen. Vielleicht ist beim Kindbettfieber-Beispiel daher gar nicht so sehr der Umstand verwunderlich, dass so viele Mediziner damals kontrollierte Experimente und Schlüsse aus empirischen Daten ablehnten, sondern vielmehr der, dass Semmelweis seiner Zeit so weit voraus war und diese wissenschaftliche Vorgehensweise praktizierte.20 Wie aber lassen sich Wissenschaftler unserer Zeit entschuldigen, die mitunter in ihrer Forschungspraxis diesen Standards nicht genügen? Es mag ironisch erscheinen, dass eines der bezwingendsten Beispiele für das Vertrauen von Wissenschaftlern in die Macht der Belege zugleich bisweilen als der übelste Fall wissenschaftlicher Stümperei im 20. Jahrhundert bezeichnet wird. Im Frühling des Jahres 1989 gaben zwei Chemiker der University of Utah –Stanley Pons und Martin Fleischmann – eine Pressekonferenz und verkündeten, sie hätten eine stabile Kernfusionsreaktion bei Raumtemperatur erreicht. Wäre dies wahr gewesen, hätte das Experiment eine einschneidende Bedeutung gehabt. Der Traum von einer sauberen, günstigen und reichlich vorhandenen Energiequelle wäre damit für die Welt in greifbare Nähe gerückt worden. Wie zu erwarten war, begegneten die Fachkollegen dieser Aussage mit großer Skepsis – nicht zuletzt weil sie per Pressekonferenz und nicht über den üblichen Weg einer Veröffentlichung nach strenger Prüfung im Peer-Review-Verfahren zugänglich gemacht worden war. Und sie machten sich sofort an den Versuch, Pons´ und Fleischmanns Ergebnisse zu reproduzieren. Die Versuche misslangen allesamt. Nach einer zweimonatigen Schonzeit in den Medien, während der andere Wissenschaftler dadurch in ihrer Arbeit beeinträchtigt wurden, dass Pons und Fleischmann sich weigerten, die Details ihres Versuchsaufbaus zur Verfügung zu stellen, stellte sich heraus, dass ihre Arbeit hoffnungslos fehlerhaft war. Der Vorwurf der außerwissenschaftlichen Einflussnahme wurde laut, am Ende zählte jedoch nur die Berufung auf Beweise. Vielen Wissenschaftlern war diese Geschichte

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äußerst peinlich, vor allem als dann noch Bücher mit Titeln wie Bad Science: The Short Life and Weird Times of Cold Fusion, Too Hot to Handle (Das heiße Rennen um die kalte Fusion) oder The Scientific Fiasco of the Century (Kalte Kernfusion. Das Wunder, das nie stattfand) erschienen. Vielleicht hätten die Wissenschaftler, statt sich zu schämen, die Gelegenheit nutzen sollen, die Bedeutsamkeit der wissenschaftlichen Skepsis aufzuzeigen. Trotz der Faktoren Geld, Prestige und Medienaufmerksamkeit wurde der Fall am Ende durch empirische Belege entschieden. Obwohl eine einzelne Theorie (und der Ruf einiger Wissenschaftler) hier auf spektakuläre Weise zunichtegemacht wurde, war die Geschichte ein Erfolg für die wissenschaftliche Grundhaltung.21 Hier haben wir eine Situation vor uns, die fast ein Gegenentwurf zu Semmelweis´ Geschichte ist. Im Fall des Kindbettfiebers war es der gegen den Strom schwimmende Arzt, der, überzeugt von seinen Ergebnissen, diese jedem Kollegen für eine Prüfung zugänglich gemacht hätte. Pons und Fleischmann dagegen ließen sich vielleicht zu sehr vom Wirbel um ihre Theorie verführen, um freigiebig mit den Details ihrer Forschung zu sein und ihre Ergebnisse erst nach etwas tiefer gehender eigener Prüfung, einem Versuch der Replizierung der Daten und einem erfolgreichen ­Peer-Review-Verfahren zu veröffentlichen. Glücklicherweise wurde hier die wissenschaftliche Grundhaltung von einer Mehrheit der Wissenschaftsgemeinschaft praktiziert, die damit als prüfende Instanz fungierte im Angesicht von Hudelei und Voreingenommenheit für die eigene Theorie, was zuweilen wissenschaftliche Forschung auf Abwege leiten kann. Der überwiegende Teil der Wissenschaftscommunity – für deren Mitglieder sicher zum Teil eigene Interessen auf dem Spiel standen – sah die angemessene Grundlage der Entscheidungsfindung in den Belegen, die sich zur Klärung des Problems erbringen ließen. Auch in der Wissenschaft werden Fehler begangen. Wissenschaftler sind Menschen und so anfällig für Wesenszüge wie Ehrgeiz, Egozentrik, Gier und Halsstarrigkeit, die mitunter auch den Rest der Menschheit antreiben. Bemerkenswert ist jedoch, dass wir in der Wissenschaft einheitliche transparente Standards geschaffen haben, die es erlauben, empirische Streitfragen zu entscheiden, und durch die man versuchen kann, Fehler zu korrigieren. Im Fall Semmelweis wartete die Medizin zwei Jahrzehnte, bis sich die entsprechende Theorie durchsetzte. Bei der kalten Fusion dauerte es nur zwei Monate. Der Unterschied lag im Vorhandensein einer wissenschaftlichen Grundhaltung.

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Die Wurzeln der wissenschaftlichen Grundhaltung Die Vorstellung, dass die innere Einstellung eines Wissenschaftlers ein wichtiges Merkmal der Wissenschaft an sich darstellt, ist nicht neu. Sie wurde von vielen Philosophen bereits vorweggenommen, so auch von Popper und Kuhn.22 Popper betonte in seiner Darstellung der Falsifikation, es gebe eine „kritische Einstellung“ hinter der Wissenschaft. Tatsächlich scheint Popper der Meinung zu sein, dass eine kritische Einstellung der Falsifizierbarkeit noch vorausgehe.23 Was den wissenschaftlichen Ansatz auszeichnet, ist eine in hohem Maße kritische Einstellung zu unseren Theorien, mehr noch als ein formales Kriterium der Widerlegbarkeit: Nur im Lichte einer solchen kritischen Einstellung und der entsprechenden kritisch-methodologischen Herangehensweise behalten „widerlegbare“ Theorien ihre Widerlegbarkeit.24

In seiner intellektuellen Biografie beschreibt Popper seine Vorüberlegungen, die ihn zum Konzept der Falsifikation geführt haben, und zieht eine Verbindung zwischen der kritischen Einstellung und der wissenschaftlichen Grundhaltung: Was mich aber am meisten beeindruckte, war Einsteins klare Feststellung, daß er seine Theorie als unhaltbar aufgeben würde, falls sie gewissen Überprüfungen nicht standhielte. So schrieb er zum Beispiel: „Wenn die Rotverschiebung der Spektrallinien durch das Gravitationspotential nicht existierte, wäre die allgemeine Relativitätstheorie unhaltbar.“ Das war eine Einstellung, die sich von der dogmatischen Einstellung von Marx, Freud und Adler grundsätzlich unterschied – und noch mehr von der Einstellung ihrer Anhänger. Einstein schlug Experimente vor (experimenta crucis), deren Übereinstimmung mit seinen Voraussagen die Theorie keineswegs als wahr bestätigen würde, während eine Nichtübereinstimmung, wie er betonte, die Theorie als unhaltbar erweisen würde. Das, meinte ich, war die wahre wissenschaftliche Haltung. Sie war grundverschieden von der dogmatischen Einstellung, die dauernd darauf ausging, „Verifikationen“ für die eigenen Theorien vorzuführen. So kam ich, gegen Ende des Jahres 1919, zu dem Schluß, daß die wissenschaftliche Haltung die kritische war; eine Haltung, die nicht auf „Verifikationen“ ausging, sondern kritische Überprüfung suchte: Überprüfungen, die die Theorie widerlegen konnten; die sie falsifizieren konnten, aber nicht verifizieren. Denn sie konnten die Theorie nie als wahr erweisen.25

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Eine hervorragende Darstellung, wie ich finde. Popper spricht in seinen Ausführungen zur Falsifikation einen wichtigen Aspekt der wissenschaftlichen Grundhaltung an. Allerdings stimme ich ihm nicht darin zu, dass man die kritische Einstellung am besten erfassen kann, indem man sie auf einen methodologischen Grundsatz reduziert, der dann als Abgrenzungskriterium dient. Popper erkennt an, dass die Einstellung der Wissenschaftler zur Wirkkraft empirischer Belege etwas Besonderes ist. Muss man daraus aber eine Frage der Logik machen? Auch Kuhn erkannte den hohen Stellenwert der wissenschaftlichen Grundhaltung. Dieser Umstand tritt oft hinter die begeisterten Reaktionen zurück, die Kuhn für seine Wissenschaftstheorie von den Vertretern des radikalen „Strong Programme“ der Wissenschaftssoziologie erhielt. Nach dem „Strong Programme“ lassen sich alle wissenschaftlichen Theorien – ob wahr oder falsch – durch soziologische und weniger durch datenbasierte Faktoren erklären und werden so in gewisser Weise durch menschliche Belange relativiert. Kuhn zeigte sich durch diese Interpretation seiner Arbeiten verärgert und lehnte die Vorstellung ab, die Natur gebe für Wissenschaftler keinen Ausschlag. Ein Kommentar dazu beschreibt das folgendermaßen: Kuhn … war wegen der durch das Strong Programme in Gang gebrachten Entwicklungen in der Wissenschaftssoziologie sehr besorgt. … Kuhn fürchtete, die Vertreter des Strong Programme würden die Rolle verkennen, die Werte in der Wissenschaft spielen. … Er wandte ein, dass die vom Strong Programme entworfene Wissenschaftstheorie „die Rolle der [Natur] auslässt.“ … Kuhn betont jedoch, dass die Natur eine wichtige Rolle dabei spielt, die Überzeugungen von Wissenschaftlern zu formen.26

Kuhn maß der Vorstellung, dass Theorien einander gegenübergestellt werden müssten, zwar eine große Bedeutung zu, doch sollten sie auch anhand empirischer Belege überprüft werden. Kuhn selbst schreibt dazu: [Die Welt] nimmt nicht die geringste Rücksicht auf die Wünsche und Begierden eines Beobachters; sie ist recht gut dazu imstande, entscheidende Belege gegen erdachte Hypothesen hervorzubringen, die nicht mit ihren Zusammenhängen in Einklang stehen.27

Im Gegensatz zu Popper mag Kuhn diesen Ansatz zwar nicht zu einer „Einstellung“ hinter der wissenschaftlichen Methodologie ausgeformt haben, aber er erkannte die wichtige Rolle an, die empirische Belege für

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­ issenschaftler als Entscheidungshilfe bei der Theoriewahl spielen können, W und ihm war bewusst, dass es für den Fortschritt der Wissenschaft notwendig ist, sich zur Bedeutsamkeit empirischer Belege zu bekennen. An dieser Stelle bleibt die Frage, warum weder Popper noch Kuhn die wissenschaftlichen Werte – entweder die kritische Einstellung oder die Achtung der Natur als eine Instanz, die sich über Wünsche und Begierden hinwegsetzt – als Basis der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft festgelegt hat.28 Was Kuhn betrifft, ist diese Frage wohl leichter zu beantworten: Obwohl er von einem Sonderstatus der Wissenschaft ausging und immer wieder versuchte, sich mit den realen wissenschaftlichen Abläufen zu arrangieren, wollte er sich dennoch nicht an ein formales Abgrenzungskriterium binden.29 Popper andererseits setzte sich genau dieses Ziel und formulierte das auch ganz offen. Also lautet die eigentliche Frage vielleicht eher, warum er nicht konsequenter versuchte, innerhalb des Konzepts der kritischen Einstellung eine Erklärung für den Sonderstatus der Wissenschaft zu finden. Man könnte dazu anführen, er habe durch die Entwicklung des Falsifikationismus genau das getan. Doch ab einem gewissen Punkt lässt sich das nicht mehr mit Poppers Strategie der Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Handlungsweise und ihrer philosophischen Rechtfertigung auf der einen Seite sowie seiner tief empfundenen Zwiespältigkeit hinsichtlich des Umgangs mit einer möglichen Bedrohung seiner eleganten logischen Abgrenzungsdarstellung durch schnöde praktische Überlegungen auf der anderen Seite vereinbaren. Selbst in seiner deutlichsten Darstellung der Falsifikation als einer logischen Lösung des Abgrenzungsproblems schreibt Popper, was als „Wissenschaft“ und wer als „Wissenschaftler“ anzusehen sei, müsse immer eine Sache der Konvention oder Entscheidung bleiben.30 Es wird deutlich, dass Popper sich darüber im Klaren war, wie wichtig Flexibilität, eine kritische Haltung und gelegentliche Zugeständnisse an die Praxis waren. Dennoch sehnte er sich nach einer rein logischen Basis der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Dadurch verbaute er sich, wie ich meine, die Sicht auf die große Bedeutung einer wissenschaftlichen Grundhaltung, die Popper wohl als zu „weich“ erschien, um seine Forderung nach einer logischen Abgrenzungsmöglichkeit zu erfüllen. Die Wurzeln der wissenschaftlichen Grundhaltung lassen sich noch weiter zurückverfolgen. Wir finden sie schon zu Beginn der philosophischen Bemühungen um eine Methodologie der Wissenschaft. Obwohl er heute eher durch seine Arbeiten zur wissenschaftlichen Methodik präsent ist, lässt sich schon in Francis Bacons Meisterwerk Novum Organum aus dem Jahr 1620 die Vorstellung erkennen, es gebe besondere „Tugenden“, die

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der Wissenschaft beigefügt seien.31 Er stellt Tugenden wie Ehrlichkeit und Offenheit als unauflösbar verknüpft mit guter wissenschaftlicher Praxis dar. Bacon betont, Methodik sei wichtig, aber sie müsse eingebettet sein in ein System angemessener Werte, die sie stützen. Wie Rose-Mary Sargent festgestellt hat, handelt es sich bei dem modernen Streben nach „Objektivität“ als Verteidigungsmechanismus der Wissenschaft – im Rahmen derer man versucht, zwischen Fakten und Werten zu trennen – um eine Pervertierung der Ideen Bacons.32 Es mag ironisch erscheinen, dass dieser englische Philosoph, der in unserer Wahrnehmung am stärksten mit der Vorstellung einer wissenschaftlichen Methodik verbunden ist, zugleich auch an der Idee festhält, dass wissenschaftliche Praxis eine angemessene Einstellung erfordert. Doch man braucht nur das Vorwort und die ersten fünfzig Aphorismen des Novum Organum zu lesen, um diese Vorstellung Bacons bestätigt zu finden. In seinem nachfolgenden Werk Nova Atlantis aus dem Jahr 1627 verfolgte Bacon diese Idee weiter und forderte, diese wissenschaftlichen Tugenden müssten nicht nur vom Einzelnen umgesetzt werden, sondern von der Gemeinschaft der Wissenschaftler, die sie beurteilen und wahren sollten. In ihrem Aufsatz „A Bouquet of Scientific Values“ (Ein Strauß wissenschaftlicher Werte) zeichnet Noretta Koertge die gemeinschaftliche Natur nach, die Bacons Vision der Wissenschaft ausmacht. Sie schreibt, „Bacons Traum einer neuen Wissenschaft umfasste nicht nur eine neue Methodik, sondern auch eine Gemeinschaft, die sich dieser Aufgabe verschrieb“.33 Wir sehen also, dass eine recht ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Grundhaltung uns praktisch schon seit der ersten Stunde der Diskussion um eine „wissenschaftlichen Methode“ begleitet. Die Wurzeln der wissenschaftlichen Grundhaltung lassen sich schlussendlich wohl auch in Analogie zu einem anderen philosophischen Gebiet erfassen, dessen Ursprünge bis zu Aristoteles zurückverfolgt werden können. In seinem Klassiker After Virtue (Der Verlust der Tugend) fordert Alasdair MacIntyre den Leser auf, die Vorteile seines Ansatzes der „gemeinschaftlichen Praxis“ im Rahmen der normativen Ethik zu bedenken, und beschreibt dazu, die Wissenschaft betreffend, ein Angst einflößendes Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, die Naturwissenschaften würden das Opfer der Auswirkungen einer Katastrophe. Die Öffentlichkeit lastet den Wissenschaftlern verheerende Umweltpannen an. Es kommt verbreitet zu Unruhen, Labors werden niedergebrannt, Physiker gelyncht, Bücher und Geräte werden vernichtet. Schließlich übernimmt eine politische Bewegung des Nicht-Wissens die Macht und schafft mit Erfolg den naturwissenschaftlichen Unterricht an

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Schulen und Universitäten ab, indem sie die noch lebenden Wissenschaftler ins Gefängnis wirft und liquidiert. Später setzt eine Gegenströmung gegen diese zerstörerische Bewegung ein, und einige aufgeklärte Menschen versuchen, die Wissenschaften wiederzubeleben, wenngleich sie vergessen haben, was sie einmal waren. Sie besitzen nur noch einige Bruchstücke: ein Wissen um Experimente ohne Kenntnis des theoretischen Zusammenhangs, der diesen Experimenten erst ihre Bedeutung verlieh; Teile von Theorien, die entweder zu den anderen Theoriefragmenten, die noch bekannt sind, oder zu den Experimenten keinen Bezug haben; Geräte, deren Verwendungszweck man vergessen hat; halbe Kapitel aus Büchern, einzelne Seiten von Artikeln, die nicht mehr ganz lesbar sind, weil sie zerrissen wurden oder verkohlt sind. Trotzdem werden all diese Bruchstücke in einen Rahmen von Betätigungen eingeordnet, die wieder die alten Bezeichnungen Physik, Chemie und Biologie erhalten. Erwachsene streiten miteinander über die jeweiligen Verdienste der Relativitäts-, Evolutions- und Phlogiston-Theorie, obwohl sie nur ein sehr bruchstückhaftes Wissen von ihnen besitzen. Kinder lernen die übriggebliebenen Teile der Tabelle des periodischen Systems auswendig und rezitieren wie Zauberformeln einige Euklidische Lehrsätze. Niemand, oder fast niemand, erkennt, daß das, was hier gemacht wird, überhaupt nichts mit Naturwissenschaft in irgendeinem vernünftigen Sinn zu tun hat.34

Was würde uns in einer solchen Welt fehlen? Genau das, was Wissenschaft zu etwas Besonderem macht. Selbst wenn wir über alle Inhalte, alles Wissen, alle Theorien – und selbst die Methoden – der Wissenschaft verfügten, würde ohne die Werte, Einstellungen und Tugenden der wissenschaftlichen Praxis nichts davon einen Sinn ergeben. Denn ohne sie hätte der wissenschaftliche Fortschritt gar nicht erst stattgefunden. Hier wird der Zusammenhang zwischen Tugendethik und Wissenschaft besonders deutlich.35 In der großen ethischen Debatte, die uns schon seit Aristoteles beschäftigt, sind manche der Meinung, richtige (moralische) Handlungen würden sich nicht durch die Einhaltung irgendeiner normativen Moraltheorie auszeichnen, die angeblich unsere Handlungen daran misst, wie stark sie einem idealen Standard der Konsequenzen (wie dem Utilitarismus) entsprechen, und ebenso wenig durch die Wahrung irgendeines rationalen Prinzips (wie der deontologischen Ethik). Vielmehr werde moralisches Verhalten durch die Tugend der Menschen, die es an den Tag legen, zu einem solchen. Menschen mit einem ausgeprägten moralischen Kompass verhalten sich moralisch; Moralität ist das Verhalten moralischer Menschen. Kann man in ähnlicher Weise auch im Rahmen der Wissenschaftsdebatte argumentieren? Ich halte es nicht für realistisch, einfach anzunehmen,

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Wissenschaft sei das, was Wissenschaftler tun. Wie in der Diskussion über die Ethik müssen wir auch hier das Wesen und die Ursprünge unserer Werte in die Überlegungen einbeziehen und berücksichtigen, wie diese in der größeren Gemeinschaft verankert sind und beurteilt werden.36 Dennoch ist die Ähnlichkeit zwischen den beiden Bereichen faszinierend: Vielleicht sollten wir unser Augenmerk nicht so sehr auf die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Theorien legen, sondern die tugendhafte erkenntnistheoretische Einstellung hinter der wissenschaftlichen Praxis genauer betrachten.37 Dieses Thema wird seit einiger Zeit auf dem Gebiet der Tugenderkenntnistheorie bearbeitet, einer Strömung der Erkenntnistheorie, die sich in Anlehnung an die Tugendethik entwickelt hat: Wenn wir beurteilen möchten, ob eine Überzeugung gerechtfertigt ist, kann es hilfreich sein, wenn wir uns unter anderem auch mit dem Charakter und den Werten und Normen der Menschen beschäftigen, die an ihnen festhalten. Die Anwendung dieses Faktors auf die Fragestellungen der Wissenschaftsphilosophie ist relativ neu, aber sie hat bereits hervorragende Früchte in Form einer Übertragung der Ergebnisse aus der Tugenderkenntnistheorie auf so problematische Untersuchungsgegenstände wie die Unterbestimmtheit und die Theoriewahl in der Wissenschaftsphilosophie hervorgebracht.38 Ich hoffe, es ist klar geworden, dass ich das Konzept der wissenschaftlichen Grundhaltung nicht vorrangig für mich beanspruchen möchte. Es kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, deren Weg über Popper und Kuhn zumindest bis zurück zu Francis Bacon reicht, wenn nicht unter Umständen gar bis hin zu Aristoteles. Ich hoffe zeigen zu können, dass die wissenschaftliche Grundhaltung in der Wissenschaftsphilosophie sträflich vernachlässigt worden ist. Und doch kann sie eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, Wissenschaft zu verstehen und zu bewahren, indem sie eine unerlässliche Eigenschaft näher beleuchtet, die in vielen zeitgenössischen Darstellungen fehlt. Wenn wir nur auf die Methodik blicken, übersehen wir vielleicht, was Wissenschaft in ganz entscheidendem Maße ausmacht.

Fazit In manchen früheren Darstellungen in der Wissenschaftsphilosophie hielten die Autoren die Entwicklung einer logischen Rechtfertigung der wissenschaftlichen Methodik für die beste Verteidigungsstrategie und ließen praktische wissenschaftliche Prozesse eher außer Acht. Als dies zu einem Abgrenzungskriterium führte, anhand dessen sich angeblich

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ausschließlich alles Wissenschaftliche in die eine und ausschließlich alles ­Nicht-Wissenschaftliche in die andere Schublade sortieren ließ, kündigte sich Ärger an. Daher scheint einer der Vorteile der wissenschaftlichen Grundhaltung jener zu sein, dass sie flexibel genug ist, um zu erfassen, was wissenschaftliche Erklärungsmodelle von anderen unterscheidet. Zudem ist sie aussagekräftig genug, um auch ohne einen Entscheidungsmechanismus feststellen zu können, ob eine Forschungsfrage wissenschaftlich ist. Eine wissenschaftlichen „Grundhaltung“ gegenüber Belegen einzunehmen, mag als nachgiebig erscheinen. Aber es trifft genau den Kern dessen, was es bedeutet, wissenschaftlich zu sein. Ob es sich um eine Untersuchung im Kontext wissenschaftlicher Entdeckungen (wie wissenschaftliche Prozesse praktisch ablaufen) oder im Kontext der Rechtfertigung (einer nachtäglichen rationalen Rekonstruktion) handelt, macht kaum einen Unterschied. Denn aus meiner Sicht wird die Verlässlichkeit, die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft nicht durch irgendeine philosophische Unterscheidung zwischen der tatsächlichen wissenschaftlichen Arbeit und der Methode, die wir zu ihrer Rechtfertigung anwenden, am stärksten bedroht. Die größte Bedrohung ist, wie ich meine, der unangemessene Einfluss ideologischer Verpflichtungen auf den Wissenschaftsprozess. Und gegen genau diese Art ideologischer Infektion bildet die wissenschaftliche Grundhaltung ein Bollwerk.39 Die Vorstellung hinter der wissenschaftlichen Grundhaltung ist leicht zu formulieren, aber schwer zu bemessen. Dabei spielt sie eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, wissenschaftliche Prozesse zu erklären und den Status der Wissenschaft als einzigartigem Erkenntnisweg zu rechtfertigen. Wissenschaft ist genau deswegen erfolgreich, weil dahinter eine ehrliche und kritische Einstellung zu Belegen steckt (und man Verfahren entwickelt hat wie das Peer-Review-Verfahren, die Veröffentlichung und die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, um diese Einstellung zu institutionalisieren).40 Wissenschaft ist natürlich nicht immer erfolgreich. Man kann die wissenschaftliche Grundhaltung besitzen und dennoch eine Theorie entwickeln, die fehlerhaft ist. Doch diese Haltung umfasst es auch, sich um Belege zu bemühen. Und das wiederum bewirkt, dass wir (und andere) unsere Theorie kritisch hinterfragen und eine bessere entwickeln können. Wenn wir Erkenntnisse über die empirische Welt gewinnen wollen, müssen Belege einen höheren Stellenwert besitzen als andere Faktoren.41 Die Belege mögen nicht immer ganz eindeutig sein, aber sie dürfen nicht außer Acht gelassen werden, denn durch sie werden unsere Aussagen anhand der Realität überprüfbar. Daher stellen Belege das beste Instrument dar, das uns bei der Suche nach der Wahrheit über die Zusammenhänge der Welt (oder zumindest bei der Annäherung an diese) zur Verfügung steht.

4  Warum eine wissenschaftliche Grundhaltung wichtig ist     79

Vor diesem Hintergrund wird wieder deutlich, warum eine wissenschaftliche Theorie ihrer Natur nach immer vorläufig ist. Die wissenschaftliche Grundhaltung steht ganz im Einklang mit der Vorstellung, dass wir uns nie sicher sein können, die Wahrheit entdeckt zu haben: Alle Theorien sind provisorisch. Aber genauso soll es auch sein, denn was die Wissenschaft von anderen Erkenntniswegen unterscheidet, ist nicht die Wahrheit der Theorien von Newton oder Einstein, sondern der Prozess, durch den sich diese Theorien bewährt haben. Wissenschaftliche Theorien besitzen Überzeugungskraft, nicht nur weil sie mit den Daten unserer Beobachtung übereinstimmen, sondern auch weil sie in einen Prozess zustande kommen, in dem sensorische Belege eine wichtige Rolle spielen sowie die Vorstellung, dass unsere noch unausgereiften Hypothesen durch die konstruktive, forscherische Kritik verbessert werden können, die andere Wissenschaftler auf Basis derselben Daten anbringen. Auch die Zerbrechlichkeit der Wissenschaft wird uns hier noch einmal vor Augen geführt, weil sie von der Bereitschaft ihrer Anwender abhängig ist, die wissenschaftliche Grundhaltung umzusetzen. Egal wie zuverlässig unsere Methode sein mag, Wissenschaft kann ohne den Geist der Offenheit und Kooperation der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht auskommen. Wenn wir Wissenschaftler sein wollen, dürfen wir uns nicht irgendeiner Theorie verschreiben (nicht einmal der eigenen) oder irgendeiner Ideologie. Wir müssen uns stattdessen der wissenschaftlichen Grundhaltung selbst verpflichtet fühlen. Andere Faktoren mögen eine Rolle spielen, aber am Ende sollten sie immer hinter die Belege zurücktreten. Das mag zwar dürftig erscheinen, bildet jedoch den Kern dessen, was Wissenschaft zu einem unverwechselbaren Prozess des Erkenntnisgewinns macht.

5 Die wissenschaftliche Grundhaltung muss keine Lösung des Abgrenzungsproblems liefern

Kann die wissenschaftliche Grundhaltung die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft bieten? Wenn die wissenschaftliche Grundhaltung unser wichtigstes Mittel ist, um den Sonderstatus der Wissenschaft zu beschreiben, kommen wir an einer Frage nicht vorbei: Haben wir damit vielleicht die lang ersehnte Lösung des Abgrenzungsproblems gefunden? Wenn ja, würde sie ein Gerüst aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen zur Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft bieten müssen? Ich behaupte, dass die Wissenschaftsphilosophie sich von diesem Problem nicht ablenken lassen muss, wenn wir doch im Grunde nur eine einfache Bedingung für gute Wissenschaft brauchen: das Bemühen um Belege und die Bereitschaft, diese zur Überprüfung und Überarbeitung der eigenen Theorien einzusetzen. Wenn diese Grundsätze in einem bestimmten Fachgebiet nicht eingehalten werden, handelt es sich bei diesem Gebiet nicht um eine Wissenschaft. So sehen wir, um beim Thema dieses Buches zu bleiben, dass man einiges über das Wesen der Wissenschaft lernen kann, wenn man sich ansieht, was nicht zum Kanon der Wissenschaft zählen kann. Ob man damit ein ausgereiftes Abgrenzungskriterium im eigentlichen Sinn vor sich hat, erscheint weniger wichtig als der Umstand, dass wir auf dieser Basis erfassen können, was den Sonderstatus der Wissenschaft ausmacht. Erinnern wir uns an Laudans Warnung: Ohne ein ausformuliertes Gerüst aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen besteht keinerlei © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_5

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Hoffnung auf eine Lösung des Abgrenzungsproblems. Bedenkt man jedoch das wiederholte Scheitern der Wissenschaftsphilosophie in dieser Hinsicht, so Laudan, ist das Abgrenzungsproblem wohl gestorben. Selbst wenn Laudan recht hat, heißt das natürlich nicht, dass man nicht trotzdem eine fruchtbare Diskussion über die Frage nach den Besonderheiten der Wissenschaft führen kann. Es ist jedoch auch möglich, dass Laudan unrecht hat, wenn er sagt, die Entwicklung eines Gerüsts aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen sei selbst eine notwendige (oder hinreichende) Bedingung für die Lösung des Abgrenzungsproblems.1 Entscheidend ist es an dieser Stelle, sich vor Augen zu führen, wie hoch man tatsächlich die Messlatte legt, wenn man sich dazu verpflichtet, ein Gerüst aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu entwickeln. Wenn wir sagen, A sei notwendig für B, sagen wir auch: „Wenn B, dann A.“ Wenn wir dementsprechend sagen, A sei hinreichend für B, sagen wir auch: „Wenn A, dann B.“ Jeder, der sich einmal mit Logik beschäftigt hat, wird die Äquivalenz in diesen Fällen erkennen und verstehen, dass die Aussage „A ist hinreichend für B“ gleichbedeutend ist mit der Aussage „B ist notwendig für A“, und ebenso, dass „B ist hinreichend für A“ der Aussage „A ist notwendig für B“ entspricht. An dieser Stelle werden wir Zeugen einer wundersamen Entwicklung: Denn wenn wir die beiden Aussagen miteinander kombinieren und sagen: „A ist sowohl notwendig als auch hinreichend für B“ – was natürlich gleichbedeutend mit „B ist sowohl notwendig als auch hinreichend für A“ ist –, erhalten wir die logische Entsprechung von A und B. Und damit haben wir die stärkste Verbindung vor uns, die es in der Logik gibt.2 Das macht die Suche nach einer Abgrenzung zu einer gewaltigen Herausforderung und die Konsequenzen sind schwindelerregend, denn wenn wir nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft suchen, suchen wir damit nach einem Kriterium, das logisch gleichbedeutend mit Wissenschaft ist. Die beste Veranschaulichung des hohen Preises, der dafür zu zahlen ist, kommt von Popper. Erinnern wir uns daran, dass Popper der Frage ausweicht, ob sein Konzept der Falsifizierbarkeit – als Lösung des Abgrenzungsproblems – eine notwendige, eine hinreichende oder eine notwendige und hinreichende Bedingung für Wissenschaft darstellen soll.3 Laudan stellt Popper wegen seiner Version der hinreichenden Bedingung zur Rede und wendet ein, dass sie nicht die Möglichkeit bietet, die hohen Standards der Wissenschaft zu bewahren: Wie solle man mit Bereichen wie der Astrologie verfahren, die mit nachweislich falschen Aussagen arbeiten (die also eindeutig falsifizierbar sind)? Müsse man diese also auch als Wissenschaft betrachten? Entsprechend haben andere Poppers

5  Die wissenschaftliche Grundhaltung muss keine Lösung …     83

Interpretation der Notwendigkeit infrage gestellt und bemerkt, dass sie zu streng sei: Wie gehe man vor diesem Hintergrund mit wissenschaftlichen Fachgebieten um, die keine falsifizierbaren Behauptungen aufstellen?4 Sind diese also keine Wissenschaften? Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass er, selbst wenn er die Falsifikation tatsächlich als notwendiges und hinreichendes Kriterium auslegt, immer noch in Schwierigkeiten steckt. Denn wenn Popper später schreibt, ein Satz (oder eine Theorie) sei genau dann ­empirisch-wissenschaftlich, wenn er falsifizierbar sei5, löst er damit nicht die oben genannten Probleme, sondern er kombiniert sie. Indem er sich der logischen Entsprechung von Wissenschaft und Falsifizierbarkeit verpflichtet, zieht er sich sowohl die Kritik derer zu, die sein Konzept für zu streng halten, als auch die Einwände derer, die es für zu liberal halten.6 Um dieses Problem präziser erfassen zu können, müssen wir die Bedeutung der bikonditionalen Beziehung in der Logik verstehen (vgl. Tab. 5.1). Zu sagen „A genau dann, wenn B“ (A gdw B), ist gleichbedeutend mit der Aussage „B genau dann, wenn A“ (B gdw A). Sagt man also: „Eine Theorie ist genau dann wissenschaftlich, wenn sie falsifizierbar ist“, entspricht das der Aussage: „Eine Theorie ist genau dann falsifizierbar, wenn sie wissenschaftlich ist.“ Das bedeutet aber, dass „falsifizierbar sein“ und „wissenschaftlich sein“ logisch äquivalent sind. Formuliert man den Satz mit den Worten „genau dann, wenn“, haben „Wissenschaft“ und „Falsifizierbarkeit“ damit identische Wahrheitsbedingungen.7 Ein Notwendigkeitsstandard ist zu streng und ein Hinlänglichkeitsstandard ist zu schwach. Fasst man die beiden Standards zusammen, entwickelt man damit kein Kriterium, das „genau richtig“ ist, sondern schafft nur noch weitere Probleme. Der Standard steht jetzt nicht mehr im Tab. 5.1  Falsifizierbarkeit als hinreichende und notwendige Bedingung Kriterium

Typ

Wenn Wissenschaft, dann Notwendigkeit falsifizierbar (wenn nicht falsifizierbar, dann nicht Wissenschaft) Wenn falsifizierbar, dann Hinlänglichkeit (hinWissenschaft (wenn nicht reichend) Wissenschaft, dann nicht falsifizierbar) Wissenschaft gdw falsiÄquivalenz fizierbar (falsifizierbar genau dann, wenn Wissenschaft)

Problem Ist die Evolutionsbiologie keine Wissenschaft? Ist die Astrologie eine Wissenschaft? Ist die Astrologie eine Wissenschaft, die Evolutionsbiologie aber nicht?

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­ inklang mit unserer intuitiven Einschätzung, dass die Evolutionsbiologie E wissenschaftlich ist, die Astrologie aber nicht.8 Aus diesem Grund lehne ich den Ansatz der „notwendigen und hinreichenden Bedingungen“ ab, wenn es darum geht, die wissenschaftliche Grundhaltung als ein Mittel zu diskutieren, mit dem sich der Sonderstatus der Wissenschaft erfassen lässt. Würde man versuchen, die wissenschaftliche Grundhaltung als ein Gerüst der notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu etablieren, würde man meiner Ansicht nach auf die gleichen Probleme stoßen, wie Poppers Ansatz sie aufwirft. Besonders der Schutz des wissenschaftlichen Sonderstatus scheint keine Hinlänglichkeitsbedingung zu erfordern. Es reicht aus, die Notwendigkeitsbedingung zu berücksichtigen und zu sagen: „Damit ein Forschungsgebiet eine Wissenschaft ist, muss es die wissenschaftliche Grundhaltung umsetzen.“ Diese Aussage ist logisch äquivalent zu der Aussage: „Wenn eine Theorie nicht die wissenschaftliche Grundhaltung aufweist, ist sie nicht wissenschaftlich.“ Mir ist natürlich bewusst, dass, indem wir keine Hinlänglichkeitsbedingung bestimmen, wir nur erfassen können, was nicht Wissenschaft ist, aber nicht, was als solche angesehen werden kann. Doch vielleicht brauchen wir auch gar nicht mehr. Wir sind dann zwar nicht in der Lage, eindeutig zu bestimmen, ob beispielsweise die Stringtheorie wissenschaftlich ist. Vielleicht nicht einmal, ob das restliche Fach der Physik wissenschaftlich ist. Aber ist das wirklich so problematisch? Auch wenn wir zu Beginn der Frage nachgegangen sind, wie man möglicherweise zeigen könne, inwiefern Wissenschaft wissenschaftlich ist, ist das vielleicht der falsche Ansatz. Vielleicht zielt die Frage nach der Natur des wissenschaftlichen Sonderstatus stattdessen darauf ab, zu kennzeichnen, welche Untersuchungsfelder nicht wissenschaftlich sind. Wir könnten Wissenschaft durch ihre Abwesenheit definieren. Das würde es uns erlauben, sie vor Betrug zu schützen. Wenn wir die essenziellen Eigenschaften der Wissenschaft herausarbeiten, können wir sie für unsere Fragestellung nutzen (vgl. Tab. 5.2). Wir können festlegen, dass es sich, wenn sie fehlen, nicht um Wissenschaft handeln Tab. 5.2  Die wissenschaftliche Grundhaltung als hinreichende oder notwendige Bedingung Kriterium

Typ

Wenn Wissenschaft, dann wissenschaftliche Grundhaltung (wenn nichtwissenschaftliche Grundhaltung, dann nicht Wissenschaft) Wenn wissenschaftliche Grundhaltung, dann Wissenschaft (wenn nicht Wissenschaft, dann nichtwissenschaftliche Grundhaltung) Wissenschaft gdw wissenschaftliche Grundhaltung (wissenschaftliche Grundhaltung gdw Wissenschaft)

Notwendigkeit Hinlänglichkeit Äquivalenz

5  Die wissenschaftliche Grundhaltung muss keine Lösung …     85

kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass alles, was die wissenschaftliche Grundhaltung aufweist, auch Wissenschaft ist. Sie ist ein Notwendigkeitsstandard und kein Hinlänglichkeitsstandard. Seit Laudan haben sich alle, die sich an der Entwicklung eines Abgrenzungskriteriums versucht haben, vergeblich bemüht, notwendige und hinreichende Bedingungen zu liefern. Nicht nur muss man wahrscheinlich der Tatsache ins Auge sehen, dass das Problem unlösbar ist (man denke an den gesamten Verlauf dieser Debatte, vor und nach Laudans „Nachruf“), sondern es hat auch einen hohen Preis, Laudans Auftrag erfüllen zu wollen. Stattdessen schlage ich vor, die Aufgabe dadurch zu lösen, dass wir uns ausschließlich auf die Suche nach den notwendigen Bedingungen für Wissenschaft konzentrieren. Und eine dieser Bedingungen ist die wissenschaftliche Grundhaltung. Wir haben bereits festgelegt: Wenn wir Wissenschaft haben, müssen wir die wissenschaftliche Grundhaltung haben – und so ist eine notwendige Bedingung für Wissenschaft gefunden. Und wir haben auch gesagt, dass, wenn wir die wissenschaftliche Grundhaltung nicht haben, wir auch nicht Wissenschaft haben, was sich als hinreichende Bedingung für Nicht-Wissenschaft herausstellt. Wenn wir sagen: „Wenn ein Untersuchungsfeld nicht die wissenschaftliche Grundhaltung aufweist, dann ist es keine Wissenschaft“, ist die logische Form dieses Satzes: „Wenn nicht WG, dann nicht Wissenschaft“, was durch die Entgegensetzung äquivalent wäre zu „wenn Wissenschaft, dann WG“. An dieser Stelle muss man allerdings vorsichtig sein. Es ist verführerisch, die zweite Hälfte der Aufgabe auch noch erfüllen und die wissenschaftliche Grundhaltung zu einer hinreichenden Bedingung für Wissenschaft ausformen zu wollen, um so das traditionelle Abgrenzungsproblem zu lösen. Das sollten wir dringend vermeiden. Während die in Tab. 5.3 gezeigten Äquivalente korrekt sind, sind die Aufgaben in Fall 1 und 2 vollkommen Tab. 5.3  Die wissenschaftliche Grundhaltung als Notwendigkeits- oder Hinlänglichkeitsstandard Fall 1 Notwendigkeitsstandard für WissenWenn Wissenschaft, dann WG schaft ist äquivalent zu ist äquivalent zu Wenn nicht WG, dann nicht Wissenschaft Hinlänglichkeitsstandard für NichtWissenschaft Fall 2 Hinlänglichkeitsstandard für Wissenwenn WG, dann Wissenschaft schaft ist äquivalent zu ist äquivalent zu wenn nicht Wissenschaft, dann nicht WG Notwendigkeitsstandard für NichtWissenschaft

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getrennt voneinander. Ich behaupte, dass wir nur Fall 1 benötigen, um den Sonderstatus der Wissenschaft zu bestimmen. (Und natürlich impliziert, wie Logiker wissen werden, Fall 1 keineswegs Fall 2.) Wir müssten einen hohen Preis zahlen, wenn wir uns Fall 2 zur Aufgabe machen und versuchen würden, die wissenschaftliche Grundhaltung als einen Hinlänglichkeitsstandard für Wissenschaft auszuformulieren. Nicht nur würden wir dann wieder in Laudans Zwickmühle stecken, weil wir die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft erbringen müssten (also die Behauptung belegen müssten, dass die wissenschaftliche Grundhaltung logisch äquivalent zu Wissenschaft ist), sondern wir würden uns auch in die Streitfrage verwickeln lassen, auf wie viele verschiedene Arten etwas nicht wissenschaftlich sein kann. Erinnern wir uns daran, dass der Hinlänglichkeitsstandard für Wissenschaft zugleich der Notwendigkeitsstandard für Nicht-Wissenschaft ist. Aber warum sollten wir uns überhaupt um den Notwendigkeitsstandard für Nicht-Wissenschaft bemühen? Es gibt unzählige Gründe, aus denen etwas nichtwissenschaftlich sein kann. Kunst und Literatur sind nichtwissenschaftlich, vor allem deswegen, weil sie es gar nicht versuchen, wissenschaftlich zu sein. Mit Astrologie und Kreationismus verhält es sich anders. Hier scheinen die Fragestellungen empirisch zu sein und die Gründe für ihre Nicht-Wissenschaftlichkeit sollten uns sehr stark interessieren. Allen diesen Gebieten mag zwar die wissenschaftliche Grundhaltung fehlen, aber sind wir wirklich bereit zu der Annahme, dies sei eine notwendige Bedingung für Nicht-Wissenschaft? Man muss doch nur festlegen, dass, wenn auf diesen Gebieten die wissenschaftliche Grundhaltung nicht umgesetzt wird – was aus verschiedenen Gründen bei allen der Fall ist –, sie keine Wissenschaften sind. Unsere aktuelle Aufgabe verlangt nur, dass das Fehlen der wissenschaftlichen Grundhaltung hinreichend dafür ist, nichtwissenschaftlich zu sein, und nicht, dass dies die einzige Art und Weise ist, nichtwissenschaftlich zu sein. Diese Fragestellung mag dann aktueller werden, wenn wir uns einigen Gebieten der Sozialwissenschaften zuwenden, die als Wissenschaften anerkannt werden möchten, ohne den Standard bereits erfüllen zu können. Auch hier verspricht unsere anfängliche Erkenntnis Erfolg. Es mag viele Arten geben, nichtwissenschaftlich zu sein, aber nur eine Art, wissenschaftlich zu sein: Es ist dazu notwendig, die wissenschaftliche Grundhaltung umzusetzen. Daher vertrete ich die Auffassung, dass man durchaus interessante Aussagen über den Sonderstatus der Wissenschaft entwickeln kann, ohne das traditionelle Abgrenzungsproblem zu lösen. An dieser Stelle sollte man sich der Brisanz bewusst sein, die ein Urteil über die Frage der Wissenschaft oder Nicht-Wissenschaft immer dann

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haben kann, wenn dieses Urteil mit Herablassung einhergeht. Im Gegensatz zu manchen, die sich mit der Beschreibung des wissenschaftlichen Sonderstatus beschäftigt haben, bin ich der Ansicht, dass die wissenschaftliche Grundhaltung uns nicht dazu bringen muss, alle Nicht-Wissenschaften als minderwertige menschliche Bestrebungen anzusehen. (Das wäre sogar äußerst bedauerlich, denn auch die Philosophie würde ich in diesem Bereich ansiedeln!) Literatur, Kunst, Musik – all dies sind Nicht-Wissenschaften. Sie weisen nicht die wissenschaftliche Grundhaltung auf, aber das ist auch eindeutig so zu erwarten. Das Problem entsteht im Fall einiger nichtwissenschaftlicher Disziplinen, die versuchen, sich als wissenschaftlich darzustellen. Astrologie, Kreationismus, Geistheilung, Wünschelrutengehen und ähnliche Gebiete arbeiten mit empirischen Behauptungen, widersetzen sich aber den Verfahrensweisen guter Wissenschaft, zu denen auch die wissenschaftliche Einstellung zu Belegen zählt. Kurz gesagt: Sie geben nur vor, wissenschaftlich zu sein. Es erscheint hier angemessener, mit jenen Gebieten hart ins Gericht zu gehen, die sich als Wissenschaft tarnen oder behaupten, einen speziellen Zugang zu empirischem Wissen außerhalb der Quellen wissenschaftlicher Praxis zu besitzen. Wenn man sich zum Ziel setzt, empirische Erkenntnisse zu gewinnen, ist es in höchstem Maße problematisch, sich um die Einhaltung der wissenschaftlichen Werte zu drücken.

Können wir dennoch versuchen, zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu unterscheiden? Manche mögen nun einwenden, dass ich bisher eigentlich nichts anderes getan habe, als das Abgrenzungsproblem auf die lange Bank zu schieben. Dahinter steckt der Ansatz, durch die Abgrenzung nicht zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft unterscheiden zu wollen, sondern zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt darin, dass sie das zentrale Problem in den Blick nimmt: nämlich die Gebiete, die empirische Behauptungen aufstellen, aber nur vortäuschen, Wissenschaften zu sein. Sollte ich also die wissenschaftliche Grundhaltung als Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und ­Nicht-Wissenschaft nutzen und den Bereich der Nicht-Wissenschaften wie Literatur und Philosophie, die keine empirischen Behauptungen aufstellen, komplett ausblenden? Manche würden diese Herangehensweise vielleicht unterstützen, indem sie der wissenschaftlichen Grundhaltung Kriterien wie „stellt

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empirische Behauptungen auf“ oder „gibt nicht vor, wissenschaftlich zu sein“ hinzufügen9 und so versuchen, das Problem der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu lösen. Ich fürchte jedoch, dass dieser Ansatz schwerwiegende Probleme aufwirft. Wie ich in Kap. 1 bereits bemerkt habe, finden wir, wenn wir uns die Literatur zum Abgrenzungsproblem ansehen, darin eine beunruhigende Uneinigkeit in der Frage, ob man der Wissenschaft die ­Nicht-Wissenschaft oder die Pseudowissenschaft gegenüberstellen solle. Den logischen Positivisten war vor allem die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Metaphysik wichtig (die man sich als eine Art der Nicht-Wissenschaft vorstellen kann, die von den Positivisten mit einigen Vorurteilen abgelehnt wurde). Karl Popper scheint sich in seiner Logik der Forschung noch mit Nicht-Wissenschaft zu beschäftigen, schreibt aber später in den Vermutungen und Widerlegungen, er sehe sein Feindbild in der „Pseudowissenschaft“. Selbst Laudan weicht der Frage aus, ob die Nicht-Wissenschaft oder die Pseudowissenschaft die Nemesis der Wissenschaft sei.10 Und doch liegt darin ein Unterschied. Vor dem Hintergrund der logischen Zusammenhänge, die wir weiter oben diskutiert haben, ist es zwingend, dass wir uns den Begriff der Wissenschaft dadurch erschließen, dass wir alles in den Blick nehmen, was nicht Wissenschaft ist, und nicht nur Gebiete, die vorgeben, Wissenschaft zu sein. Ja, es mag verführerisch sein, vor allem die Betrüger und Leugner, die Hochstapler und Scharlatane an den Pranger zu stellen – und in den Kapiteln 7 und 8 werde ich genau das auch tun. Doch in der Frage der Abgrenzung auf der einen sowie der Entwicklung notwendiger und hinreichender Bedingungen auf der anderen Seite ist die Logik unerbittlich: Jede Fragestellung muss entweder Wissenschaft oder Nicht-Wissenschaft sein. Die Notwendigkeitsbedingungen für Wissenschaft sind die Hinlänglichkeitsbedingungen für Nicht-Wissenschaft und nicht für Pseudowissenschaft. Es stimmt zwar, dass ein großer Teil der zeitgenössischen Arbeiten zum Abgrenzungsproblem seit Laudan diese Debatte an den Polen Wissenschaft versus Pseudowissenschaft ausrichtet, aber das ist problematisch. Wie ich bereits in Kap. 1 argumentiert habe, scheitern sowohl Hanssons als auch Boudrys Darstellungen genau an dieser Unterscheidung zwischen Nicht-Wissenschaft und Pseudowissenschaft.11 Meiner Überzeugung nach ist die korrekte Unterscheidung die folgende: Das Abgrenzungsproblem betrifft die Bereiche Wissenschaft versus Nicht-Wissenschaft. Die Kategorie der Nicht-Wissenschaft umfasst – unter anderem – Gebiete, die unwissenschaftlich sind (wie Mathematik, Philosophie, Logik, Literatur und Kunst) und die keine empirischen Behauptungen aufstellen wollen, sowie Felder, die pseudowissenschaftlich

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sind (wie Astrologie, Intelligent Design, Geistheilung und außersinnliche Wahrnehmung, also „extrasensory perception“ bzw. ESP), die auf dem Gebiet der Empirie wildern wollen, obwohl sie die Standards gesicherter Belege missachten.12 Andere Bereiche wie Ethik und Religion sind weniger leicht einzuordnen. Manche Akademiker sind beispielsweise der Auffassung, die Ethik sei vollständig normativ und solle daher zusammen mit den anderen Bereichen der Philosophie in die Kategorie „unwissenschaftlich“ eingeordnet werden. Andere behaupten, dass Teile der Ethik sich einen wissenschaftlichen Anstrich gäben – oder dieses Erfordernis sogar erfüllten – und ihr Status als entweder Wissenschaft oder Pseudowissenschaft daher vom jeweiligen Standpunkt abhänge. Die Religion ist insofern, dass sie empirische Behauptungen auf der Basis von Spiritualität aufstellt, leichter als Pseudowissenschaft einzustufen. Dennoch behaupten manche – wie beispielsweise Galilei –, die Religion habe im Reich der Empirie überhaupt nichts zu suchen und solle daher als unwissenschaftlich angesehen werden.13 Ich kann es sehr gut nachvollziehen, wenn man den Missständen und Betrügereien der Pseudowissenschaften Verachtung entgegenbringt. Aber der zielführendere Ansatz ist doch der: Wir können die wissenschaftliche Grundhaltung als ein Mittel anerkennen, mit dem sich erklären lässt, warum Literatur und Kunst keine Wissenschaften sind (weil sie sich nur insofern um empirische Belege bemühen, als diese der Basis ihres künstlerischen Ausdrucks zugrunde liegen, und nicht, um wissenschaftliche Theorien zu belegen oder zu widerlegen) und warum Astrologie und Kreationismus keine Wissenschaften sind (weil sie nur vortäuschen, sich um empirische Belege zu bemühen, und nicht bereit sind, ihre Theorien zu verändern). Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Mehr müssen wir gar nicht tun. Hätte ich mich in diesem Buch auf die Diskussion der Gebiete beschränken sollen, die empirische Behauptungen aufstellen wollen, um mich damit an einer Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu versuchen? Aus den bereits erwähnten Gründen habe ich mich für den logisch reineren Weg entschieden. Warum sollten wir nach zusätzlichen notwendigen Kriterien für Wissenschaft (bestenfalls) oder hinreichenden Kriterien (schlimmstenfalls) suchen, wenn die wissenschaftliche Grundhaltung doch bereits dazu ausreicht, den Sonderstatus der Wissenschaft zu beschreiben? Daher bin ich nicht der Ansicht, dass ich das Abgrenzungsproblem nur aufgeschoben habe. Ich habe nicht die Absicht geäußert, unwissenschaftliche von pseudowissenschaftlichen Bereichen abgrenzen, also diese Trennlinie beispielsweise zwischen Literatur und Kreationismus ziehen zu wollen.14 Ein weiterer Vorteil meines Ansatzes könnte darin liegen, dass er auch den nichtwissenschaftlichen Gebieten, die nicht zur

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­ seudowissenschaft zählen (vielleicht sogar diesen), die Möglichkeit bietet, P die hohen Standards der Wissenschaft umzusetzen. Dieses Buch verteidigt die Wissenschaft nicht nur, es bekehrt auch dazu. Ich möchte so Raum schaffen für die Gebiete, deren Vertreter sich aufrichtig um empirische Belege bemühen – wie die der Sozialwissenschaften –, aber die wissenschaftliche Grundhaltung vielleicht nicht immer umgesetzt haben, weil ihnen eventuell nicht bewusst war, dass diese Einstellung die Grundvoraussetzung für strengere wissenschaftliche Maßstäbe ist. Ich bin ebenfalls überzeugt davon, dass die wissenschaftliche Grundhaltung einem ehemals pseudowissenschaftlichen Gebiet helfen kann, zu einer erfolgreichen Wissenschaft zu werden, ähnlich der Entwicklung, die die Medizin in ihrer Geschichte durchgemacht hat.15 Um verstehen zu können, was die besondere Natur der Wissenschaft ausmacht, müssen wir nicht alles, was Nicht-Wissenschaft ist, verdammen. Die qualitative Sozialforschung als Nicht-Wissenschaft zu bezeichnen, ist bereits der Verachtung genug, man muss sie nicht auch noch mit Hexerei in einen Topf werfen. Wenn man Popper liest, kann man die Freude erahnen, mit der er die Arbeiten von Adler, Freud und Marx in einem Atemzug mit Astrologie abtut. Aber vielleicht hat beispielsweise Freud einfach nicht die empirischen Standards erkannt, denen seine Forschung hätte genügen müssen und die er bei seinem Streben nach mehr Wissenschaftlichkeit vielleicht hätte übernehmen können. Wenn die Wissenschaftsphilosophie bei der Bestimmung der notwendigen Bedingungen für Wissenschaft sorgfältiger vorgehen würde, könnte dann sogar die Psychoanalyse nach Freud durch die Umsetzung der wissenschaftlichen Grundhaltung rehabilitiert werden?16 Soweit möglich, möchte ich in Bezug auf die nichtwissenschaftlichen Gebiete unvoreingenommen bleiben. Die wissenschaftliche Grundhaltung ist eine Staffel im Rennen um empirische Forschung, die jede Disziplin übernehmen kann, die höhere wissenschaftliche Standards anlegen möchte. Natürlich bleiben viele weitere Fragen. In Kap. 5 werde ich mich mit der Frage beschäftigen, wer beurteilen soll, ob jemand die wissenschaftliche Grundhaltung umsetzt und welcher Maßstab dabei gelten soll. In Kap. 8 möchte ich diskutieren, wie man mit den Menschen umgehen sollte, die keine wissenschaftliche Grundhaltung besitzen, entweder weil sie sie ablehnen oder weil sie (sich selbst) vortäuschen, sie würden diese Einstellung praktizieren, obwohl der Wissenschaftscommunity klar ist, dass das nicht stimmt. Im Augenblick aber ist es wichtig, sich mit zwei verbleibenden Fragen auseinanderzusetzen, die den Verfechtern der Abgrenzung unter den Nägeln brennen werden. Die erste lautet: Wäre es wirklich so schlimm, wenn ich versuchen würde, aus der wissenschaftlichen Grundhaltung

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z­usätzlich zum Notwendigkeitsstandard auch einen Hinlänglichkeitsstandard zu machen? Und zweitens: Selbst wenn ich nicht dazu bereit wäre, könnte ich dann trotzdem behaupten, das Abgrenzungsproblem gelöst zu haben, weil ich es neu definiert habe?

Sollte man „alltägliches Forschen“ auch zur Wissenschaft zählen? Wir haben uns bereits mit den Folgen beschäftigt, die entstehen, wenn man sich weigert, anhand der wissenschaftlichen Grundhaltung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu unterscheiden, und der Konsequenz, dass dadurch Disziplinen wie die Literatur und die Philosophie mit Astrologie und Kreationismus in einen nichtwissenschaftlichen Topf geworfen werden. Ebenso haben wir der Tatsache ins Auge geblickt, dass es uns der Notwendigkeitsstandard allein nicht ermöglicht, ein bestimmtes Fachgebiet als wissenschaftlich einzustufen. Wir können nur feststellen, dass einige Gebiete es nicht sind. Wenn wir es ablehnen, einen Hinlänglichkeitsstandard für Wissenschaft festzulegen, handeln wir uns damit folgende Problemstellung ein: Müssen wir zu viele Bereiche ausschließen, indem wir uns auf die wissenschaftliche Grundhaltung als einen reinen Notwendigkeitsstandard verlassen? Man könnte das als Exklusivitätsproblem bezeichnen. Und was ist mit der anderen Hälfte dieser Fragestellung? Was wäre, wenn wir plötzlich der Versuchung erliegen, die wissenschaftliche Grundhaltung auch als Hinlänglichkeitsstandard zu definieren – und nicht nur als Notwendigkeitsstandard –, und so einen Versuch starten, das Abgrenzungsproblem zu lösen? Das würde uns nicht weiterhelfen, im Gegenteil. Erinnern wir uns an Popper, der seine Probleme nicht löste, sondern verdoppelte, als er die Falsifizierbarkeit als notwendiges und hinreichendes Kriterium für Wissenschaft bestimmte. Uns würde es nicht viel anders ergehen. Der Ansatz, die wissenschaftliche Grundhaltung als hinreichende Bedingung für Wissenschaft anzusehen, würde für uns das Risiko bedeuten, alle möglichen empirischen Fragestellungen in den Kanon der Wissenschaften aufnehmen zu müssen. Würden die Vertreter der Abgrenzung gerne Sanitärinstallation und ­ TV-Reparaturen als Wissenschaft ansehen? Diesen Teil der Fragestellung kann man als Inklusivitätsproblem bezeichnen. Ein uns allen wohlbekanntes Beispiel – das eine dieser alltäglichen Situationen beschreibt, in denen wir zwar wissenschaftlich denken mögen, aber trotzdem nicht „wissenschaftlich arbeiten“ – ist die Suche nach dem verlorenen Schlüsselbund.17 Nehmen wir an, mein Bruder hat seine

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Schlüssel verlegt. Er weiß, dass er sie zuletzt im Haus bei sich gehabt hat, also hält er sich nicht mit der Suche in der Einfahrt und in der Nähe seines Autos auf. Er hatte sie in der Hand, als er die Haustür aufschloss, also müssen sie irgendwo im Haus sein. Zuerst sucht er die wahrscheinlichsten Orte ab – seine Hosentaschen, die Kommode neben der Haustür, das Sideboard, auf dem der Fernseher steht –, dehnt die Suche dann weiter aus und rekonstruiert dabei sein Verhalten seit dem Betreten des Hauses. Er beginnt in der Eingangshalle, geht dann ins Bad, wo er sich die Hände gewaschen hatte, danach in die Küche, denn dort hatte er sich ein Sandwich gemacht, mit dem er sich dann im Wohnzimmer aufs Sofa setzte. Genau dort findet er auch seine Schlüssel – zwischen den Sofakissen. Man kann durchaus sagen, dass er bei seiner systematischen Suche die wissenschaftliche Grundhaltung angewendet hat. Er hat sich um empirische Belege bemüht und versucht, aus der Beobachtung zu lernen (indem er die einzelnen Orte abgesucht und einen nach dem anderen ausgeschlossen hat). Er hat währenddessen kontinuierlich seine Hypothese verändert („Die Schlüssel könnten sich an Ort x befinden.“). Aber ist das auch schon Wissenschaft? Obwohl es einzelne Stimmen geben mag, die diese Frage mit Ja beantworten möchten, vermute ich doch, dass die meisten Wissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen (und so gut wie jeder Anhänger der Abgrenzung) mit Nein antworten und sich auf die Suche nach einen Zusatzkriterium machen, um diesen Fall ausschließen zu können. Das ist die Anziehungskraft des Hinlänglichkeitsstandards. Denn es kann doch wohl nicht sein, dass man am Ende Schlüsselsuche, Klempnerarbeiten oder Fernsehreparaturen in einen Topf mit der Physik werfen muss.18 Eine Möglichkeit, das zu vermeiden, könnte die bereits angesprochene Voraussetzung einer Theorie als Kriterium für Wissenschaft sein. Wie wir in Kap. 2 gesehen haben, war es dieser Punkt, der der berühmten Bode‘schen Regel in der Astronomie den Garaus gemacht hat. Sie passte zu den Belegen, das aber nur durch eine großflächige Manipulation der Daten und ein bisschen Glück. Damit man sich „um Belege bemühen“ und bereit sein kann, „seine Theorie auf der Basis neuer Belege zu verändern“, muss man da nicht zuerst einmal eine Theorie entwickelt haben? Das ist eine heikle Frage. Im Beispiel meines schlüsselsuchenden Bruders kann man wohl sagen, er habe eine Theorie im Hinterkopf. Sie mag zwar nicht auf einer Stufe mit der Evolutionstheorie stehen, aber man könnte sie dennoch als Theorie bezeichnen. Möchte ich an diesem Punkt wirklich versuchen, zwischen einer echten und einer unechten wissenschaftlichen Theorie zu unterscheiden? Genau aus diesem Grund habe ich weiter oben betont, dass wir der Versuchung nicht erliegen dürfen, die wissenschaftliche Grundhaltung als

5  Die wissenschaftliche Grundhaltung muss keine Lösung …     93

­ inreichende Bedingung für Wissenschaft zu etablieren. Wenn man sich vor h der Vorstellung gescheut hat, nicht einmal die Physik eindeutig als wissenschaftlich bezeichnen zu können, wäre man dann bereit zuzugeben, dass die Schlüsselsuche wissenschaftlich ist? Wie wir bereits gesehen haben, behauptete Laudan, man müsse beide Seiten des Abgrenzungsproblems lösen, weil man es sonst entweder mit dem Exklusivitäts- oder dem Inklusivitätsproblem zu tun bekäme (vgl. Tab. 5.4). Als Wissenschaftsphilosoph mag man sich in dieser Situation intuitiv der Logik und der Methodologie zuwenden, um das Dilemma zu lösen. Man würde dazu eine längere Liste von Kriterien entwickeln, mit denen man Physik und Schlüsselsuche auseinanderdividieren könnte, ebenso wie Literatur und Kreationismus. Das werde ich an dieser Stelle nicht tun, weil ich es für eine unlösbare Aufgabe halte, die unzähligen Gründe zu beschreiben, aus denen etwas nichtwissenschaftlich sein kann. Die wissenschaftliche Grundhaltung kann keine hinreichende Bedingung für Wissenschaft sein, weil sie nicht als notwendige Bedingung für Nicht-Wissenschaft fungieren kann. Was bleibt also unterm Strich von der Abgrenzung außer dem Umstand, dass uns schon klar ist, was wir für Wissenschaft halten und was nicht?19 Die wissenschaftliche Grundhaltung ist ein wichtiges Instrument zur Beschreibung der essenziellen Eigenschaft von Wissenschaft, auch wenn sie vielleicht nicht dabei helfen kann, alle Fachgebiete so zu sortieren, dass ausschließlich Physik, Chemie, Biologie und die ihnen verwandten Disziplinen auf der richtigen Seite irgendeines Abgrenzungskriteriums landen. Die systematische Suche nach dem Schlüsselbund ist eine Denkweise. Sie ist eine Einstellung. Ob man diese Einstellung als wissenschaftlich bezeichnen möchte oder nicht, macht kaum einen Unterschied. Man muss gar kein vollständiges Gerüst aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft entwickeln, um sie auszuschließen. Die wissenschaftliche Grundhaltung als Hinlänglichkeitsstandard zu nutzen, kann sogar erst genau dazu führen, dass man sie einschließen muss!20 Es hat Tab. 5.4  Exklusivitäts- und Inklusivitätsproblem Kriterium

Typ

Problem

Wenn Wissenschaft, dann WG (wenn nicht WG, dann nicht Wissenschaft) Wenn WG, dann Wissenschaft (wenn nicht Wissenschaft, dann nicht WG)

Notwendigkeit

Exklusivität: Sollte man Literatur und Kreationismus in einen Topf werfen? Inklusivität: Ist die „Schlüsselsuche“ Wissenschaft?

Hinlänglichkeit

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Vorteile, die Definition der wissenschaftlichen Grundhaltung nicht zu verkomplizieren. Sie ist eine Wesensart, kein Prozess. Es gibt keine Checkliste, anhand der wir sie erkennen können, wissenschaftliche Grundhaltung wird uns immer dann besonders deutlich, wenn sie fehlt. Daher lehne ich es ab, immer mehr einzelne notwendige Bedingungen anzuhäufen – durch die man am Ende vielleicht ein vollständiges und korrektes Gerüst aus Kriterien oder sogar eine dieser schrecklichen Fünf-Stufen-Methoden geschaffen hat –, und möchte stattdessen davon ausgehen, dass die wissenschaftliche Grundhaltung nur eine Einstellung zu Daten erkennbar macht, die ein guter Wissenschaftler immer besitzen sollte. Das Ziel der wissenschaftlichen Grundhaltung ist nicht, damit eine Art Einkaufsliste voller Bedingungen für Wissenschaft zu entwickeln. Vielmehr wollen wir zeigen, dass diese simple, aber entscheidende Eigenschaft für gewöhnlich bei den Ideologien fehlt, die nur vortäuschen, Wissenschaften zu sein, und auch bei den Forschungsfeldern – wie den Sozialwissenschaften –, die aus den Schatten der Ideologie heraustreten und höhere wissenschaftliche Standards anstreben wollen.21 Es scheint daher vollkommen ausreichend, die wissenschaftliche Grundhaltung als notwendig für Wissenschaft zu erachten. In Anlehnung an Émile Durkheims berühmten Ausspruch, der Soziologe müsse sich „in den geistigen Zustand versetz[en], in welchem sich der Physiker … befindet, sobald er an einen noch unerforschten Gegenstand herangeht. … er muß sich auf Entdeckungen vorbereiten, die ihn überraschen und außer Fassung bringen werden“22, muss ein guter Wissenschaftler mit Neugier und Bescheidenheit an seine Forschungen herangehen. Er sollte ganz sicher nicht in der Überzeugung handeln, er besäße bereits alle Antworten, bevor er überhaupt die Daten analysiert hat (vielleicht hat er sie nicht einmal dann). Weil sie flexibler ist als die Falsifizierbarkeit, kann uns die wissenschaftliche Grundhaltung helfen, nicht nur Wissenschaft dort zu verankern, wo empirische Fakten erlangt werden können  – wie beim Studium des menschlichen Verhaltens –, sondern auch dabei, die Fälle von Betrug und Täuschung zu entlarven, in denen Naturwissenschaftler sich schuldig gemacht haben, indem sie die Daten aktiv ihren außerwissenschaftlichen Überzeugungen anpassen wollten. Wie wir in den späteren Kapiteln noch sehen werden, wird uns die wissenschaftliche Grundhaltung auch dabei unterstützen, die (Denk-)Fehler der Wissenschaftsleugner und Pseudowissenschaftler aufzudecken. Vielleicht werden einige Wissenschaftsphilosophen der kommenden Generationen den Wunsch verspüren, nach weiteren notwendigen Bedingungen zu suchen, die dann zusammen mit der wissenschaftlichen Grundhaltung ein vollständiges Gerüst aus jeweils notwendigen und

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i­nsgesamt hinreichenden Kriterien bilden, nach dem man Medizin, Physik, Evolutionsbiologie und Stringtheorie einschließen sowie Astrologie, Geistheilung, „Schlüsselsuche“ und Bode‘sche Regel ausschließen kann.23 Aber das ist an dieser Stelle nicht meine Aufgabe. Ich möchte nur versuchen, eine essenzielle, für den Fortschritt in der Wissenschaft entscheidende Bedingung zu formulieren, die ich als wissenschaftliche Grundhaltung benannt habe. Ich hoffe so einen Weg gefunden zu haben, die Wissenschaft durch die Beschreibung ihres Sonderstatus zu verteidigen, ohne mich in die Streitfrage der notwendigen und hinreichenden Kriterien und die Lösung des Abgrenzungsproblems zu verstricken.

Könnte man aus der wissenschaftlichen Grundhaltung nicht trotzdem ein modifiziertes Abgrenzungskriterium machen? Eine wichtige Frage bleibt noch zu klären. Darf ich versuchen, Laudans Abgrenzungsproblem zu übernehmen, auch wenn ich es ablehne, ein Gerüst aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft zu entwickeln?24 Es gibt genug Stimmen, die im Rahmen dieser Diskussion betonen, dass weder Wissenschaftler noch Wissenschaftsphilosophen große Probleme haben, Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft auseinanderzuhalten, auch wenn es hitzige Auseinandersetzungen über die Art und Weise dieser Unterscheidung gibt.25 Wie Laudan bemerkt, ist im Prinzip jeder Versuch der Entwicklung eines Gerüsts aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen misslungen. Ist das der Preis, den man zahlen muss, wenn man zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft unterscheiden will? Oder kann man diese Abgrenzung vielleicht auch vornehmen, ohne die von Laudan gestellte Aufgabe erfüllen und die notwendigen und hinreichenden Bedingungen formulieren zu müssen?26 Diese Strategie verfolgt Pigliucci in seinem Aufsatz „The Demarcation Problem: A (Belated) Response to Laudan“ (Das Abgrenzungsproblem: Eine (späte) Antwort an Laudan). Auch er nimmt an, dass das Problem der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft unlösbar ist, und schlägt daher eine andere Vorgehensweise vor, um möglicherweise das Abgrenzungsproblem aus der Welt schaffen zu können. Laudan geht von „aus Konzepten bestehenden Netzen“ in der Wissenschaft aus, die „unscharfe Grenzen“ abstecken. Erinnern wir uns an Pigliuccis in Kap. 1 beschriebene Vorstellung, dass wir mit dem an Wittgenstein angelehnten

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Begriff der „Familienähnlichkeit“ besser fahren als mit anderen eng gefassten logischen Kriterien.27 Auf diese Weise könnte sich uns ein neuer Weg des Wissenschaftsverständnisses erschließen. Ich befürchte allerdings, dass wir damit auch riskieren, die Abgrenzungsdebatte jeglichen Inhalts zu berauben. In seinem späteren Aufsatz „Scientism and Pseudoscience: In Defense of Demarcation Projects“ (Szientismus und Pseudowissenschaft: Zur Verteidigung von Abgrenzungsprojekten) legt Pigliucci noch einmal seine Interpretation der von Wittgenstein beschriebenen „Familienähnlichkeit“ als Lösung des Abgrenzungsproblems dar (die er nun als „Konsens“ der Wissenschaftsphilosophie bezeichnet).28 Er scheint sich allerdings daran zu stören, dass die „unscharfen Grenzen“, auf die man wegen des Fehlens strenger logischer Kriterien zurückgreifen muss, zur Klassifizierung des „alltäglichen Forschens“ als Wissenschaft führen könnte, wie wir es weiter oben am Beispiel der Schlüsselsuche beschrieben haben. Er schreibt dazu: [Es] macht wenig Sinn, Klempnerarbeiten oder sogar Mathematik als Wissenschaft zu bezeichnen. Wissenschaft ist das, was Wissenschaftler tun, und Wissenschaftler werden heutzutage durch recht klar definierte Rollen, Werkzeuge und Modi Operandi gekennzeichnet, durch die sie sich leicht von Installateuren und Mathematikern, ganz zu schweigen von Philosophen, Historikern, Literaturkritikern und Künstlern unterscheiden lassen.29

Wir scheinen hier den direkten Sprung von Hanssons Idee, dass „wir wissen, was Wissenschaft ist, auch wenn wir es nicht klar beschreiben können“, hin zu Pigliuccis „Wissenschaft ist das, was Wissenschaftler tun“ vollzogen zu haben. Ein Kriterium haben wir damit aber wohl nicht entwickelt.30 Wenn man also davon überzeugt ist, kann man dann nicht einfach bei einem „ich erkenne Wissenschaft, wenn ich ihr begegne“ bleiben und die Sache als erledigt betrachten? In diesem Fall würden wohl die Kreationisten und Klimawandelleugner – die in letzter Zeit einige relativistische Strategien des Postmodernismus übernommen haben – Freudensprünge vollführen.31 Ich stimme zwar mit Pigliucci darin überein, dass man sich von Laudans Ansatz der notwendigen und hinreichenden Bedingungen am besten verabschieden sollte, bin aber dennoch der Ansicht, dass sich die entscheidenden Charakteristika von Wissenschaft genau beschreiben lassen. Ich rechne es Pigliucci hoch an, dass er – wie ich auch – die Wissenschaft vor Scharlatanen bewahren will,32 aber vielleicht schießt er mit seinen „unscharfen Grenzen“ etwas übers Ziel hinaus. Kann man nicht zumindest ein Notwendigkeitskriterium formulieren?

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Ich denke nicht, dass Wissenschaft einfach das ist, was Wissenschaftler tun, selbst wenn diese Tätigkeiten eng mit der Good Practice (korrekten Handlungsweise) verwandt sind, die aus den kritischen Werten nicht nur des einzelnen Wissenschaftlers, sondern auch der größeren Wissenschaftsgemeinschaft erwächst.33 Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, spielt die Wissenschaftscommunity eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung praktischer Instrumente zur Kontrolle der Überzeugungen, Normen, Werte und Handlungsweisen, die die wissenschaftliche Grundhaltung ausmachen. Eine Good Practice in der Wissenschaft kann wahrscheinlich nicht durch ein vollständiges Regelgerüst spezifiziert werden, geht aber sicherlich über die zufälligen Überzeugungen der Wissenschaftsgemeinschaft hinaus.34 Pigliucci beschreibt diesen Zusammenhang gut: Wissenschaft ist eine ihrem Wesen nach soziale Tätigkeit, dynamisch umschrieben durch ihre Methoden, Untersuchungsgegenstände, sozialen Gepflogenheiten (u. a. das Peer-Review-Verfahren, Forschungsgelder etc.) und ihre institutionelle Rolle (innerhalb und außerhalb des akademischen Umfeld, der Regierungsbehörden und des Privatsektors).35

Meiner Ansicht nach ist es jedoch falsch, wenn er daraus schlussfolgert, Wissenschaft sei, was Wissenschaftler tun. Verkennt er damit nicht die Tatsache, dass die eigentliche Bedrohung von der Pseudowissenschaft ausgeht? Ich denke, wir können bei unserer Beschreibung der besonderen Eigenschaften der Wissenschaft viel exakter vorgehen. Wir können diese Eigenschaften als wissenschaftliche Grundhaltung beschreiben und diesen Ansatz begründen, indem wir uns nur teilweise von Laudan lösen (vgl. Tab. 5.5). Damit erkennen wir es als Vorteil an, festlegen zu können, was nicht Wissenschaft ist, selbst wenn wir nicht mit Sicherheit bestimmen können, was Wissenschaft ist. Ob man darin nun eine vollständige Abkehr vom Ansatz der notwendigen und hinreichenden Bedingungen und vom Abgrenzungsproblem sehen möchte – oder stattdessen einen Ansatz, durch den ich, wie auch Pigliucci, das Abgrenzungsproblem vor Laudans überhöhten Standards bewahren möchte –, macht in meinen Augen keinen großen Unterschied. Es hätte sicherlich Vorteile, mein Konzept der „Notwendigkeitsstandards für Wissenschaft und Hinlänglichkeitsstandards für Nicht-Wissenschaft“ als Lösung einer Art modifizierten Abgrenzungsproblems anzusehen, aber dieser Ansatz hätte wohl auch unerwünschte Folgen. Denn wie sollte man beispielsweise so etwas Amorphes wie die Werte und Überzeugungen, aus denen die wissenschaftliche Grundhaltung besteht, als ein

98     L. Mclntyre Tab. 5.5  Bereiche mit und ohne wissenschaftliche Grundhaltung Wissenschaftliche Grundhaltung erkennbar • Naturwissenschaften (Überzeugungen basierend auf Belegen) • Bereiche legitimer wissenschaftlicher Streitfragen (Beweislage nicht eindeutig, daher Zurückhaltung nötig) • Fehler, die wissenschaftlich zustande kamen (falsche, aber aufgrund der damaligen Datenlage gerechtfertigte Theorie) • Sozialwissenschaften (die mit Experimenten und Belegen arbeiten) • Alltägliches Forschen (das belegbasiert ist) Wissenschaftliche Grundhaltung nicht erkennbar • Mathematik/Logik (nicht empirisch) • Literatur, Kunst o. Ä. (nicht empirisch, aber auch kein Streben nach Wissenschaftlichkeit) • Sozialwissenschaften (die nicht belegbasiert sind) • Schlechte Wissenschaft (Schludrigkeit, Fehler, Pfusch) • Betrug (Lügen, Täuschung, Irreführung) • Pseudowissenschaft (die Wissenschaftlichkeit vortäuscht, aber die entsprechenden Standards für Belege ablehnt) • Leugnung (ideologisch basiert, kein Bemühen um Belege)

­ bgrenzungskriterium nutzen? Woran sollte man sie messen? Aus diesem A Grund kommt man mit dem methodischen Ansatz für ein Abgrenzungskriterium sehr weit, springt mit dem einstellungsbezogenen Ansatz jedoch eher zu kurz. Das Problem liegt hier aber nicht in der wissenschaftlichen Grundhaltung begründet, sondern besteht aufseiten derjenigen, die Wissenschaft nur durch den strengen Rahmen der Abgrenzung beschreiben möchten. Einstellungen und Werte sind real, auch wenn man sie nur schwer messen kann. Es genügt mir daher, wenn ich auf der Basis der wissenschaftlichen Grundhaltung zwar das traditionelle Abgrenzungsproblem aufgeben muss, zugleich aber bei der Vorstellung bleibe, durch diesen Ansatz die essenziellen Eigenschaften beschreiben zu können, die der Wissenschaft ihren erkenntnistheoretischen Sonderstatus verleihen. Was bedeutet das für die Kategorisierung der verschiedenen Wissensbereiche? Auch wenn die wissenschaftliche Grundhaltung kein Abgrenzungskriterium sein mag, kann es doch interessant sein herauszufinden, wie sich ihr Einfluss als Notwendigkeitsstandard in den verschiedenen Bereichen zeigt. Wichtig ist, dass wir auf diese Weise nicht zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft unterscheiden wollen. Indem wir uns auf einen Notwendigkeitsstandard beschränken, können wir nur sagen, „wenn Wissenschaft, dann wissenschaftliche Grundhaltung“, und nicht, „wenn wissenschaftliche Grundhaltung, dann Wissenschaft“. Wir sind also nur in der Lage, genau zu kennzeichnen, was nicht Wissenschaft ist. Wir können nicht spezifizieren, was Wissenschaft ist.36

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Die wissenschaftliche Grundhaltung mag zwar kein traditionelles Abgrenzungskriterium sein, aber sie hilft uns als ein wertvolles Instrument dabei, die Besonderheiten von Wissenschaft verstehen zu können. Wir können nicht garantieren, dass jeder Bereich, der die wissenschaftliche Grundhaltung erkennen lässt, auch eine Wissenschaft ist. Aber indem wir zeigen, dass Gebiete ohne erkennbare wissenschaftliche Grundhaltung keine Wissenschaften sind, können wir Erkenntnisse über das Wesen der Wissenschaft selbst gewinnen. Aber wer soll die zentrale Entscheidung treffen, ob jemand die hohen Standards für empirische Belege einhält und so die wissenschaftliche Grundhaltung umsetzt? Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, geht hierbei die Entscheidungsgewalt über die Werte einzelner Wissenschaftler hinaus und muss bei der gesamten Wissenschaftsgemeinschaft liegen.

6 Wie Wissenschaftler die wissenschaftliche Grundhaltung ein- und umsetzen

Der Erfolg wissenschaftlicher Arbeitsprozesse darf nicht nur von der Ehrlichkeit derjenigen abhängen, die sie anwenden. Obwohl offener Betrug selten ist, gibt es viele Situationen, in denen auch Wissenschaftler sich der Täuschung, Lüge, des Pfuschs oder der Fehler schuldig machen können. Denn natürlich unterliegen sie den gleichen kognitiven Verzerrungen (Biases), denen wir alle unterliegen und die – wenn sie nicht aktiv eingedämmt werden – die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit beeinträchtigen können. Zum Glück kann man sich gegen diese Widrigkeiten schützen. Wissenschaft ist nicht nur die Suche des Individuums nach Erkenntnis, sondern ein gemeinsame Unterfangen einer Gruppe von Menschen, bei der allgemein akzeptierte Standards angewendet werden, um wissenschaftliche Aussagen zu evaluieren. Wissenschaft findet in einer Fachöffentlichkeit statt und eine ihrer entscheidenden Eigenschaften ist ein angemessenes, im Vorhinein abgesprochenes Regelgefüge, mit dem Irrtümer und Verzerrungen ausgeschlossen werden sollen. Die wissenschaftliche Grundhaltung ist daher nicht nur in der Einstellung und Denkweise einzelner Wissenschaftler, sondern in der Wissenschaftsgemeinschaft als Ganzes verankert. Es ist natürlich ein Klischee zu behaupten, die heutige Wissenschaft sei anders, als sie es vor 200 Jahren gewesen ist – dass Wissenschaftler heutzutage viel öfter in Teams arbeiten, miteinander kollaborieren und die Erkenntnisse und Auffassungen von Fachkollegen in die Entwicklung ihrer Theorien einbeziehen. Genau dieser Umstand wird von manchen als ein gravierender Unterschied zur Pseudowissenschaft gewertet.1 Bestätigung bei © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_6

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denen zu suchen, die ohnehin schon die gleichen Überzeugungen vertreten, ist etwas völlig anderes, als einem Fachkollegen die eigenen Erkenntnisse vorzulegen und dabei das Risiko einzugehen, ernsthafte Kritik zu ernten.2 Aber abgesehen davon erwartet man auch, dass heute jede Theorie von der Wissenschaftsgemeinschaft – und nicht nur von den eigenen Kollegen und Mitarbeitern – genauestens unter die Lupe genommen und klar und deutlich evaluiert und kritisiert wird, bevor sie einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Die wissenschaftlichen Abläufe – sorgfältige statistische Methodik, ein der Veröffentlichung vorgeschaltetes Peer-Review-Verfahren, das Zugänglichmachen von Daten („data-sharing“) und die Replikation – sind wohl bekannt und sollen im weiteren Verlauf dieses Kapitels vertiefend dargestellt werden. Doch zuvor ist es wichtig zu beschreiben, welche Art von Fehlern durch die wissenschaftliche Grundhaltung verhindert werden sollen. Allein auf der individuellen Ebene gibt es verschiedene Quellen, aus denen Probleme erwachsen können: absichtliche Fehler, Bequemlichkeit, schlampige Arbeitsweise oder unabsichtliche Fehler, vielleicht hervorgerufen durch eine unbewusste kognitive Verzerrung.

Drei Fehlerquellen in der Wissenschaft Die erste und schwerwiegendste Fehlerart, die in der Wissenschaft vorkommen kann, ist der absichtliche Fehler. Man könnte hier an die seltenen, aber höchst beunruhigenden Fälle von Betrug in der Wissenschaft denken. In Kap. 7 werde ich mich mit zwei der bekanntesten Beispiele aus der letzten Zeit auseinandersetzen – Marc Hausers Arbeiten zur Kognition bei Tieren und Andrew Wakefields Impfstudie –, aber an dieser Stelle möchte ich zunächst einmal betonen, dass unter dem Begriff „Betrug“ zuweilen viele verschiedene Arten von Vergehen zusammengefasst werden. Ergebnisse vorzulegen, die nicht reproduzierbar sind, ist nicht unbedingt ein Hinweis auf Betrug. Aber es kann ein erstes Anzeichen dafür sein, dass etwas nicht stimmt. Das Fälschen von Daten oder das Verschweigen von (sich widersprechenden) Belegen deutet schon eher darauf hin, dass jemand absichtlich täuschen möchte. Obwohl die wissenschaftlichen Standards sich durch eine hohe Transparenz auszeichnen, ist es dennoch bisweilen schwierig, zwischen Betrug und schludriger Arbeitsweise zu unterscheiden. Doch auch wenn es keine scharfe Trennlinie zwischen absichtlicher Täuschung und vorsätzlicher Unwissenheit gibt, sind die wissenschaftlichen Standards doch so hoch angesetzt, dass eine schlecht zusammengeschusterte Theorie – worin auch

6  Wie Wissenschaftler die wissenschaftliche Grundhaltung …     103

immer ihre Fehler bestehen mögen – selten zur Veröffentlichung gelangt.3 Die Umsetzung der wissenschaftlichen Grundhaltung auf der Gemeinschaftsebene ist ein verlässlicher (wenn auch nicht vollkommener) Kontrollmechanismus zum Schutz vor absichtlicher Täuschung. Die zweite Kategorie von Fehlern in der Wissenschaft resultiert aus Schludrigkeit oder Bequemlichkeit – obwohl auch hinter diesen Verhaltensweisen ideologische oder psychologische Faktoren stecken können, entweder auf bewusster oder auf unbewusster Ebene. So kann es vorkommen, dass der Wunsch nach Bestätigung der eigenen Theorie überhandnimmt oder der Lohn für eine Veröffentlichung zu verführerisch ist. Manchmal ist der Karrieredruck groß und verleitet dazu, einem bestimmten Ergebnis den Vorzug zu geben oder nach irgendetwas zu suchen, das sich als Erfolg verbuchen lässt. Auch in diesem Bereich lassen sich wieder verschiedene Arten von Fehlverhalten ansiedeln: 1. das Herauspicken der Rosinen aus den Daten, also das „cherry picking“ (sich die Ergebnisse herauspicken, die zu den eigenen Annahmen passen), 2. die Kurvenanpassung, also das „curve fitting“ (das Anpassen der Variablen an eine gewünschte Kurve), 3. das Offenhalten eines Experiments, bis das gewünschte Ergebnis eintritt, 4. das Ausschließen von Daten, die nicht zu den Annahmen passen (das umgekehrte „cherry picking“), 5. das Heranziehen einer kleinen Stichprobe, 6. das p-Hacking (eine große Datenmenge so lange durchsuchen, bis sich ein statistisch signifikanter Zusammenhang findet, egal ob dieser sinnvoll ist oder nicht).4 Jede dieser Verhaltensweisen stellt einen Verstoß gegen eine qualitativ hochwertige statistische Methodik dar, aber es wäre voreilig, sie alle als Betrug einzustufen. Scharf kritisieren kann man sie natürlich schon, allerdings sollte man dabei nicht die Motivation des jeweiligen Wissenschaftlers in der Situation außer Acht lassen. Vorsätzliche Unwissenheit erscheint gravierender als Sorglosigkeit, die Grenze zwischen absichtlichen und unabsichtlichen Fehlern ist jedoch zum Teil fließend. In seiner Arbeit zum Thema Selbsttäuschung untersucht der Evolutionsbiologe Robert Trivers, wie Wissenschaftler fragwürdige Arbeitsweisen – vor sich selbst und vor anderen – rechtfertigen.5 Und in einem faszinierenden Nachfolgewerk beschäftigt ihn die Frage, warum so viele Psychologen es versäumen, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, obwohl die APA es für die Veröffentlichung in ihren Fachzeitschriften fordert.6 Allein schon die

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­ atsache, dass Wissenschaftler ihre Daten zurückhalten, ist äußerst besorgT niserregend. Der von Trivers zitierten Forschungsliteratur ist zu entnehmen, dass 67 % der Psychologen der Aufforderung, ihre Daten zu veröffentlichen, nicht nachkamen.7 Der nächste Schritt bestand in der Bildung der Hypothese, dass eine fehlende Datenveröffentlichung mit einer höheren statistischen Fehlerrate in den Fachveröffentlichungen einhergehen könnte. Eine Analyse der Ergebnisse ergab nicht nur, dass die Fehlerquote in den Veröffentlichungen von Autoren, die ihre Daten zurückgehalten hatten, im Vergleich zu denen mit Datentransparenz höher war, sondern auch, dass 96 % der Fehler zugunsten der jeweiligen Autoren ausgefallen waren! (Wichtig ist an dieser Stelle, dass die Autoren nicht mit Betrugsvorwürfen konfrontiert wurden. Wie hätte man das ohne die zugrunde liegenden Daten auch nachprüfen können? Stattdessen wurde nur in den eingereichten Studien selbst nach statistischen Fehlern gesucht, indem Wicherts et al. nur die reinen Zahlen prüften). Trivers berichtet, dass Prüfer in einer anderen Studie auf weitere Probleme der psychologischen Forschung stießen, wie beispielsweise zweifelhafte Korrelationen und das Offenhalten eines Experiments bis zum gewünschten Ergebnis.8 Die Forscher konzentrierten sich hier auf die „Freiheitsgrade“ bei der Sammlung und Analyse der Daten, in Anlehnung an das oben unter Punkt (3), (4) und (5) beschriebene Fehlverhalten. Sollten weitere Daten gesammelt werden? Sollten manche der Beobachtungen ausgeschlossen werden? Welche Bedingungen sollten kombiniert und welche miteinander verglichen werden? Welche Kontrollvariablen sollten in Betracht gezogen werden? Sollten bestimmte Maßeinheiten kombiniert oder transformiert werden? Die Forscher bemerkten dazu: „[Es] ist selten und manchmal unpraktisch für Forscher, all diese Entscheidungen im Vorhinein zu treffen.“9 Es kann aber zu einer „Interpretation uneindeutiger Ergebnisse zum eigenen Vorteil“ führen. Simmons et al. handelten genau in diesem Sinne, indem sie absichtlich die „Freiheitsgrade“ bei zwei parallelen Studien anpassten, um ein offensichtlich falsches Ergebnis zu „belegen“ (in diesem Fall, dass das Anhören eines bestimmten Lieds das Geburtsdatum von Studienteilnehmern verändern kann).10 Man mag an dieser Stelle schockiert sein – wie der Gendarm im Film Casablanca angesichts der Tatsache, dass dort Glücksspiel stattfindet. Oder man ist der Ansicht, die Psychologie sei keine wirkliche Wissenschaft. Jedenfalls werfen, so betont es Trivers, solche Ergebnisse zumindest die Frage auf, ob derartig zweifelhafte statistische und methodische Verfahrensweisen auch in anderen Wissenschaften vorkommen. Wenn schon Psychologen – deren täglich Brot es ist, sich mit der menschlichen Natur auseinanderzusetzen – der

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Versuchung der eigennützigen Dateninterpretation erliegen, wie sollte es dann erst anderen Wissenschaftlern ergehen? Eine dritte Fehlerart in wissenschaftlichen Arbeitsabläufen ist das Ergebnis der unabsichtlichen kognitiven Verzerrungen, denen wir alle unterliegen und gegen die auch Wissenschaftler nicht immun sind. Am besten ist es wohl nachzuvollziehen, wenn man seiner eigenen Theorie den Vorzug geben möchte. Aber es gibt hunderte weitere Verzerrungen, Biases wie die Repräsentativitätsheuristik, den Ankereffekt, die Verfügbarkeitsheuristik und viele weitere, die Daniel Kahneman in seinem brillanten Buch Schnelles Denken, langsames Denken beschreibt und die auch in den Arbeiten anderer Forscher auf dem schnell wachsenden Gebiet der Verhaltensökonomik dargestellt werden.11 Wir werden die Verbindung zwischen diesen kognitiven Verzerrungen und der in den letzten Jahren stärkeren Verbreitung von Wissenschaftsleugnung in Kap. 8 näher beleuchten. Dass diese Verzerrungen auch unter Menschen verbreitet sein können, deren Weltbild von Wissenschaft geprägt ist, erscheint natürlich besorgniserregend. Eigentlich würde man erwarten, dass Wissenschaftler, deren Ausbildung sie dazu befähigt, Fehler in empirischer Forschung zu finden, diese Biases ausmerzen. Dazu kommt noch, dass sich wohl kein Wissenschaftler nach der öffentlichen Demütigung sehnt, die eine Aufdeckung solcher Fehler nach sich zieht, und der Anreiz, objektiv zu sein und die eigene Arbeit vor der Veröffentlichung auf den Prüfstand zu stellen, entsprechend hoch sein sollte. Tatsächlich ist es für den Einzelnen aber zum Teil sehr schwierig, die Unzulänglichkeiten in den eigenen Verfahrensweisen zu erkennen. Die Tendenz zur kognitiven Verzerrung ist in uns allen angelegt, da hilft manchmal auch kein Doktortitel. Das vielleicht bekannteste Beispiel für die Zerstörungskraft, die eine kognitive Verzerrung ausüben kann, ist der „confirmation bias“ (Bestätigungsfehler). Er zeigt sich dann, wenn wir ganz im Sinne unserer vorgefassten Ansichten nur nach den Belegen suchen, die sie bestätigen, während wir gleichzeitig die Daten unter den Tisch fallen lassen, die ihnen widersprechen. Man könnte annehmen, es sei unwahrscheinlich, dass Wissenschaftlern dieser Fehler unterläuft. Er verstößt doch eindeutig gegen die wissenschaftliche Grundhaltung, die das Bemühen um Belege erfordert, auch wenn diese uns dann zwingen könnten, unsere Überzeugungen aufzugeben oder zu verändern. Doch egal wie sehr der Einzelne versuchen mag, Fehler dieser Art zu vermeiden: Manchmal werden sie erst im ­Peer-Review-Verfahren erkannt oder sogar erst nach der Veröffentlichung.12 Wir sehen also, dass die wissenschaftliche Grundhaltung dann die stärkste Wirkung zeigt, wenn sie von der gesamten Wissenschaftsgemeinschaft

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gleichermaßen umgesetzt wird. Sie hängt nicht nur vom Gewissen oder der Vernunft einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ab, sondern ist das Fundament der Verfahren, die die Wissenschaft als Institution ausmachen. Auf diese Weise bietet die wissenschaftliche Grundhaltung Schutz vor den verschiedensten Fehlerarten, egal welcher Quelle sie entspringen mögen.

Die kritische Gemeinschaft und die Intelligenz der Masse Im Idealfall wäre die wissenschaftliche Grundhaltung auf individueller Ebene so tief verwurzelt, dass Wissenschaftler bereits alle möglichen Fehlerursachen in ihrer eigenen Arbeit erkennen und ausschließen könnten. Manche versuchen das sicherlich auch und es spricht für die wissenschaftliche Forschung, dass sie eines der wenigen menschlichen Unterfangen ist, bei dem die Handelnden selbst die eigenen Fehler finden und korrigieren wollen, indem sie ihre Ergebnisse anhand von gesicherten Belegen überprüfen. Es wäre aber zu viel erwartet, wenn man davon ausgehen würde, dass sich die Prozesse immer genau so abspielen. Zum einen würde das nur funktionieren, wenn alle Fehler unbeabsichtigt und der Forschende willens und in der Lage wäre, sie ausfindig zu machen. In den Fällen von Betrug und absichtlicher Unwissenheit aber würden wir uns fernab der Realität bewegen, wenn wir annehmen, dass die Wissenschaftler ihre eigenen Fehler aufdecken und korrigieren können und wollen. In solchen Situationen ist das Korrektiv einer größeren Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Die neuere Forschung der Verhaltensökonomie hat gezeigt, dass Gruppen oft besser bei der Fehlersuche in wissenschaftlichen Argumentationsketten abschneiden als Individuen. Die meisten Experimente in dieser Richtung beziehen sich auf das Thema der unbewussten kognitiven Verzerrungen, aber es versteht sich von selbst, dass Gruppen auch besser geeignet sind, Fehler durch bewusste Verzerrungen aufzuspüren, als diejenigen, die sie begangen haben. Gerade im Bereich von Logik-Rätseln ist hier wichtige experimentelle Arbeit geleistet worden. Eines der bekanntesten ist die Selektionsaufgabe von Wason.13 In diesem Experiment wurden den Teilnehmern vier Karten gezeigt, die vor ihnen auf dem Tisch lagen. Die Teilnehmer erhielten – ohne dass sie die Karten berühren durften – die Information, dass jede Karte auf der einen Seite eine Ziffer und auf der anderen Seite einen Buchstaben aufwies. Nehmen wir an, es handele sich um 4, E, 7 und K. Die Probanden erhielten nun eine weitere Information

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wie beispielsweise die Regel: „Wenn sich auf der einen Seite der Karte ein Vokal befindet, dann befindet sich auf der anderen Seite eine gerade Zahl.“ Die Aufgabe der Probanden war es nun zu bestimmen, exakt welche Karten sie umdrehen müssten, um diese Regel zu überprüfen. Die Versuchsleiter berichteten, dass die Teilnehmer diese Aufgabe als sehr schwierig einschätzten. Tatsächlich lösten lediglich 10 % der Probanden die Aufgabe erfolgreich und fanden heraus, dass man nur die Karten „E“ und „7“ umdrehen musste. Die Karte „E“ muss umgedreht werden, um auszuschließen, dass sie eine ungerade Zahl aufweist und so die Regel widerlegt. Die „7“ muss man ebenfalls umdrehen, denn wenn sich auf der anderen Seite ein Vokal befindet, ist damit ebenfalls die Aussage der Regel falsifiziert. Die Teilnehmer des Experiments waren mehrheitlich verblüfft von der Tatsache, dass man die Karte mit der Ziffer 4 nicht umzudrehen brauchte. Wer sich allerdings mit Logik beschäftigt hat, weiß, dass die 4 für die Fragestellung irrelevant ist, weil es egal ist, welchen Buchstaben sie auf ihrer Rückseite aufweist. Die Regel besagt nur, dass eine gerade Zahl dann auftaucht, wenn sich auf der anderen Seite der Karte ein Vokal befindet. Sie sagt nicht aus, dass eine gerade Zahl nur dann auftaucht, wenn sich auf der anderen Seite ein Vokal befindet. Selbst wenn sich auf der anderen Seite der Karte ein Konsonant befände, wäre die Regel durch ein Auftauchen der 4 auf der Vorderseite nicht falsifiziert. Genauso wenig muss die Karte mit dem K umgedreht werden – wiederum weil die Regel besagt, was folgt, wenn sich ein Vokal auf der einen Seite der Karte befindet, und nicht, was der Fall sein muss, wenn sich kein Vokal auf der Karte befindet. Wirklich spannend wird das Experiment allerdings dann, wenn man die Aufgabe in Gruppenarbeit lösen lässt. Unter diesen Bedingungen beträgt der Anteil der erfolgreichen Versuchsteilnehmer 80 %. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Grund für diesen hohen Anteil korrekter Antworten nicht darin liegt, dass die Aufgabe innerhalb der Gruppe an die jeweils „klügste“ Person delegiert wird. Dieser Faktor wurde von den Versuchsleitern überprüft und es stellte sich heraus, dass selbst bei Teams, deren einzelne Mitglieder die Aufgabe nicht lösen konnten, die Gruppe oft dazu in der Lage war. Dieses Ergebnis lässt vermuten, dass wir Menschen innerhalb einer Gruppe unsere Schlussfolgerungsfähigkeiten besser abrufen können. Wir hinterfragen gegenseitig unsere Hypothesen und setzen uns kritisch mit unseren eigenen und den logischen Schlüssen der anderen Gruppenmitglieder auseinander. Durch dieses Aufeinandertreffen verschiedener Ansätze schließen wir die falschen Antworten aus. Innerhalb einer Gruppe sind wir offen für eine Beeinflussung, können aber auch selbst Einfluss auf andere ausüben. Als Individuen mögen wir nicht immer die Motivation aufbringen,

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unsere eigenen Argumentationsketten zu hinterfragen. Wenn wir erst einmal eine Antwort gefunden haben, die uns „richtig erscheint“, warum sollten wir dann den Fall noch einmal aufrollen? Innerhalb einer Gruppe findet jedoch eine stärkere Überprüfung statt und daher steigt auch die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Lösung. Das liegt nicht daran, dass im Hintergrund der Gruppe eine Person die richtige Antwort kennt. Vielmehr scheint sich durch die Dynamik einer Gruppe unsere Fähigkeit zu verbessern, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.14 In seinem Buch Infotopia: How Many Minds Produce Knowledge15 beschreibt Cass Sunstein – auf der Basis der weiter oben angeführten empirischen Belege – die Vorstellung, dass kollektives Schlussfolgern eine Vielzahl von Vorteilen bietet. Dieser Zusammenhang wird mitunter durch den Begriff „wisdom of crowds“-Effekt (Intelligenz der Masse) beschrieben. Aber diese leicht populistisch klingende Bezeichnung wird der Bedeutung für die Wissenschaft nicht gerecht, schätzt man dort doch berechtigterweise die Meinung von Experten. Wie wir sehen werden, beschreibt Sunstein, der den Wert von Experten anerkennt, wissenschaftliche Abläufe dennoch sehr treffend. Und auch weitere Effekte spielen eine Rolle. Sunstein geht in seiner Arbeit auf drei grundlegende Ergebnisse ein, die jeweils durch experimentelle Daten untermauert werden. Insgesamt schneiden im Bereich des menschlichen Denkens 1. Gruppen besser ab als Individuen, 2. interaktive Gruppen besser ab als aggregative (lose zusammengewürfelte) Gruppen und 3. Experten besser ab als Laien.16 Am Beispiel des Wason-Tests sind die unter (1) und (2) beschriebenen Effekte bereits deutlich geworden. Gruppen schneiden nicht nur besser ab als Individuen, weil eines der Mitglieder die richtige Antwort kennen könnte (was man vermutlich feststellen würde, wenn die Lösung erarbeitet wurde), sondern weil selbst in einer Situation, in der niemand die Lösung kennt, die Gruppenmitglieder interagieren, kritische Fragen stellen und so Informationen zutage fördern können, über die keines der einzelnen Mitglieder allein verfügt hat. In diesem Fall kann die Gruppe mehr leisten als jedes ihrer Mitglieder allein (oder eine bloße Zusammenstellung von Gruppenmeinungen). Natürlich besitzt diese Argumentation verschiedene Facetten und man muss die limitierenden Faktoren offenlegen. Denn es gibt Umstände, die das Gesamtergebnis beeinträchtigen. Beispielsweise kann es in Gruppen,

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in denen der Druck einer Autorität groß ist oder eine strenge Hierarchie herrscht, ein „Gruppendenken“ („groupthink“) die Führung übernehmen. In solchen Fällen können durch einen „Kaskadeneffekt“ infolge der ersten Äußerung eines der Gruppenmitglieder oder durch einen „Autoritätseffekt“, bei dem sich die Individuen der Meinung des ranghöchsten Gruppenmitglieds unterordnen, die Vorteile der Gruppenarbeit verloren gehen. Hier kann die Dynamik eines Gruppengefüges sogar zum Nachteil werden, wenn sich alle Mitglieder unter dem Dach derselben Meinung – ob sie diese wirklich teilen oder nicht – zusammenfinden und die Lösungserarbeitung in der Gruppe in einer fehlerhaften Erkenntnis mündet und nicht in einer korrekten Antwort. Um derartige Entwicklungen berichtigen zu können, schlägt Sunstein verschiedene Regeln vor, um eine größtmögliche Gruppenproduktivität zu erhalten: 1. Gruppen sollten Dissens als Verpflichtung betrachten. 2. Kritisches Denken sollte belohnt werden. 3. Gruppenmitglieder sollten dazu ermutigt werden, den Advocatus Diaboli zu spielen.17 Das klingt schon sehr nach den Prinzipien, die wir aus der Wissenschaft kennen. Besonders in einem öffentlichen Umfeld tritt die Konkurrenz unter Wissenschaftlern bemerkenswert deutlich zutage. Jeder möchte recht behalten. Es herrscht wenig Rücksichtnahme auf Autorität und oft erntet man nicht für Konsens das höchste Lob, sondern eher wenn man einem Kollegen einen Fehler nachweisen kann. In einem so hoch aufgeladenen interaktiven Umfeld könnten Sunsteins oben beschriebene Erkenntnisse zusammengenommen einen Grundsatz bilden. Nach diesem Prinzip wäre dann zu erwarten, dass Gruppen von Experten, die miteinander interagieren, die besten Chancen für eine Lösungsfindung hätten. Auch hier klingen wissenschaftliche Prozesse an. Meiner Ansicht nach sollte man die Betonung jedoch weniger auf die Vorstellung legen, der Gruppenfaktor der Wissenschaft sei entscheidend, sondern vielmehr darauf, dass Wissenschaft ein transparenter und öffentlicher Prozess ist. Es stimmt zwar, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oft in Teams arbeiten und an Konferenzen und fachlichen Treffen teilnehmen, aber auch die allein arbeitende Wissenschaftlerin, die in ihrem Büro vor der Veröffentlichung die Ergebnisse ihres Kollegen prüft, nimmt an einem gemeinschaftlichen Prozess teil. Auch möchte ich an dieser Stelle betonen, dass selbst vor dem Hintergrund heutzutage üblicher wissenschaftlicher Großprojekt wie dem Large Hadron Collider diese Art der Forschung

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nicht unbedingt repräsentativ für Wissenschaft im Allgemeinen ist. Denn wie sollte man dann die Theorien bewerten, die in der Vergangenheit von einzelnen Wissenschaftlern wie Newton oder Einstein aufgestellt wurden? Das Arbeiten in Gruppen ist eine Möglichkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse öffentlicher Kritik zugänglich zu machen, aber es gibt noch weitere. Selbst wenn man allein arbeitet, ist man sich der Tatsache bewusst, dass eine Theorie durch die wissenschaftliche Gemeinschaft geprüft werden muss, bevor sie veröffentlicht werden kann. Das ist es, was die Besonderheit des wissenschaftlichen Prozesses ausmacht: die Tatsache, dass wissenschaftliche Werte der Konsens einer größeren Gemeinschaft sind, und nicht unbedingt der Umstand, dass die wissenschaftliche Arbeit zum Teil in Gruppen stattfindet. Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass die Erkenntnisse des Individuums – selbst jene, die von Experten auf ihrem Gebiet stammen – der strengen Überprüfung durch andere Experten ausgesetzt werden, um Fehler oder Verzerrungen aufdecken und korrigieren zu können, seien sie absichtlich oder unabsichtlich. Gibt es einen Fehler in der wissenschaftlichen Argumentationskette oder eine Abweichung von den Belegen, ist zu erwarten, dass andere Wissenschaftler ein Interesse daran haben, diese aufzudecken. Die wissenschaftliche Grundhaltung wird innerhalb der Gemeinschaft als ein konsentiertes Gefüge aus Verfahren umgesetzt. Es ist natürlich herzerfrischend, dass Sunstein und andere zeigen konnten, wie die experimentelle Forschung innerhalb der Psychologie ein methodisches Vorgehen rehabilitiert hat, das so offensichtlich im Einklang mit den wissenschaftlichen Werten und Verfahren steht. Aber auch in der Wissenschaftsphilosophie ist die Bedeutung dieser Vorstellungen schon seit Langem bekannt. In einem hervorragenden Aufsatz mit dem Titel „The Rationality of Science versus the Rationality of Magic“18 (Rationalität der Wissenschaft versus Rationalität der Magie) untersucht Tom Settle die Vorstellung, eine wissenschaftliche Denkweise sei rational und eine magische Denkweise irrational. Er kommt zu dem Schluss, man müsse ebenso wenig die individuelle Rationalität von Mitgliedern magisch denkender Gemeinschaften herabwürdigen, wie man versuchen sollte, den Sonderstatus der Wissenschaft durch die Rationalität einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu erklären. Stattdessen sieht er den Unterschied zwischen Wissenschaft und Magie in einer „gemeinschaftlich organisierten kritischen Einstellung“ in der Wissenschaft, also einer Tradition der Gruppenüberprüfung individueller Vorstellungen, die im Bereich des magischen

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Denkens fehlt.19 Hansson erklärt dies in seinem Eintrag „Science and ­Pseudo-Science“ folgendermaßen: [Gemäß Settle] sind es eher die in Institutionen verankerte Rationalität und eine dort angesiedelte kritische Einstellung, die Wissenschaft von nichtwissenschaftlichen Praktiken wie Magie unterscheiden. Die persönlichen intellektuellen Eigenschaften von Individuen spielen hierbei eher keine Rolle. Das Magie praktizierende Individuum in einer schriftlosen Kultur muss nicht unbedingt weniger rational denken als einzelne Wissenschaftler in der modernen westlichen Gesellschaft. Was im ersteren Fall fehlt, ist ein intellektuelles Umfeld kollektiver Rationalität und gegenseitiger Überprüfung.20

Settle verdeutlicht darüber hinaus: Ich möchte hier besonders die institutionelle Rolle der Kritik in der wissenschaftlichen Tradition hervorheben. Es wäre eine zu hohe Erwartung, zu verlangen, dass jedes einzelne Mitglied der Wissenschaftsgemeinschaft ein erstklassiger Kritiker sein muss, besonders wenn es um die eigene Arbeit geht. In der Wissenschaft mag die Kritik daher eine vor allem gemeinschaftliche Angelegenheit sein.21

Auch Noretta Koertge sieht in den „kritischen Gemeinschaften“ als Teil der Wissenschaft viele Vorteile. In ihrem Artikel „Belief Buddies versus Critical Communities“ schreibt sie: Ich komme zu dem Schluss, dass einer der Unterschiede zwischen typischer Wissenschaft und typischer Pseudowissenschaft in der Existenz kritischer Gemeinschaften liegt, also im Vorhandensein von Institutionen, die durch Konferenzen, Fachzeitschriften und das Peer-Review-Verfahren Kommunikation und kritische Überprüfung fördern. … Wir hegen die romantische Vorstellung von einsamen Wissenschaftlern, die vollkommen abgeschottet ihrer Arbeit nachgehen und nach vielen Jahren ein System entwickeln, das mit bisherigen Irrtümern aufräumt. Wir vergessen dabei, dass selbst die einsamsten Wissenschaftler heutzutage von peer-reviewten Fachzeitschriften umgeben sind. Und wenn unser Genie in spe eine scheinbar brillante Entdeckung macht, reicht es nicht, eine Pressekonferenz anzuberaumen oder sie im Internet zu verbreiten. Stattdessen muss diese Entdeckung erst einmal die Prüfungen und Ergänzungsvorschläge der kritischen wissenschaftlichen Gemeinschaft überstehen.22

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Schlussendlich trägt Helen Longino in ihrer Arbeit der Vorstellung Rechnung, dass es – selbst wenn man Wissenschaft als ein unreduzierbar soziales Unterfangen ansieht, bei dem die Werte des Individuums nur den Grundton ihrer wissenschaftlichen Arbeit vorgeben können – die kollektive Natur wissenschaftlicher Praxis als Ganzes ist, die ihr zu mehr Objektivität verhilft. Longino baut in ihrem wegweisenden Buch Science as Social Knowledge23 (Wissenschaft als soziale Erkenntnis) ihre Darstellung auf einem Standpunkt auf, den man auf den ersten Blick als widersprüchlich zu der Auffassung betrachten könnte, die Wissenschaft besäße einen erkenntnistheoretischen Sonderstatus. Ihr Ansatz scheint auf der Metaebene in Einklang mit der sozialkonstruktivistischen Antwort auf Kuhn zu stehen: dass wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn, wie alle menschlichen Unterfangen, wertebeladen sei und daher nicht in einem strengen Sinn objektiv sein könne. Die Vorstellung, wir würden unsere Überzeugungen und Theorien allein auf der Basis von Belegen aufbauen, entspräche nicht der Realität. Tatsächlich berichtet Longino im Vorwort zu ihrem Buch, ihr Plan sei es ursprünglich gewesen, „eine philosophische Kritik der Vorstellung einer wertfreien Wissenschaft“ zu verfassen. Im weiteren Verlauf erklärt sie jedoch, das Thema ihrer Darstellung habe sich dahin gehend gewandelt, dass man „die Objektivität von Wissenschaft mit ihrem sozialen und kulturellen Überbau in Einklang bringen“ könne. Es wird deutlich, dass sie ihre Argumentation nicht auf der standardmäßigen empirischen Unterscheidung zwischen „Fakten und Werten“ aufbaut. Ebenso wenig möchte Longino die Verteidigung der Wissenschaft innerhalb der Logik ihrer Methode ansiedeln. Stattdessen legt sie zwei wichtige Veränderungen in unserer Wahrnehmung von Wissenschaft nahe: (1) dass wir uns darauf einlassen sollten, Wissenschaft als ein Verfahren anzusehen, und (2) dass wir Wissenschaft als ein Verfahren wahrnehmen sollten, das nicht in erster Linie von Individuen, sondern von sozialen Gruppen angewendet wird.24 Wenn wir diese Verschiebungen in der Wahrnehmung zulassen, ergibt sich daraus eine bemerkenswerte Erkenntnis, denn sie schlussfolgert, dass „die Objektivität wissenschaftlicher Forschung eine Folge ihrer sozialen und nicht ihrer individuellen Aspekte“ sei. Wie kommt es dazu? Vor allem durch die Erkenntnis, dass aus der Vielzahl unterschiedlicher Interessen jedes einzelnen Anwenders wissenschaftlicher Verfahren ein Kontrollmechanismus erwachsen kann, bei dem das Peer-ReviewVerfahren vor der Publikation und andere Überprüfungsmöglichkeiten

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individueller Ergebnisse als Mittel gegen die mögliche Voreingenommenheit des Einzelnen wirken. Auf diese Weise geht Wissen in den „öffentlichen Besitz“ über. Das, was man als wissenschaftliche Erkenntnis bezeichnet, ist das Produkt einer Gemeinschaft (letzten Endes der Gemeinschaft all jener, die wissenschaftlich arbeiten) und geht über den Beitrag eines Individuums oder sogar einer Untergruppe innerhalb der weiter gefassten Gemeinschaft hinaus. Wenn Aussagen, Thesen und Hypothesen entwickelt worden sind, wird das, was schließlich in wissenschaftliche Erkenntnis mündet, kollektiv erarbeitet durch das Aufeinandertreffen und die Harmonisierung mit den unterschiedlichen Auffassungen und Standpunkten. … Objektivität ist also eher eine Eigenschaft gemeinschaftlicher wissenschaftlicher Verfahren als die eines Individuums, und die wissenschaftliche Verfahrensweise lässt sich in einem viel weiter gefassten Sinn verstehen, als die meisten Diskussionen der Logik wissenschaftlicher Methodik es nahelegen.25

Longino schließt damit, dass „Werte nicht inkompatibel mit Objektivität sind, diese sich jedoch als ein Aspekt gemeinschaftlicher Verfahren erweist und eher nicht als die Einstellung des einzelnen Forschers gegenüber der eigenen Arbeit“.26 Besser kann man die Vorstellung nicht ausdrücken, dass die wissenschaftliche Grundhaltung nicht nur von einzelnen Forscherinnen und Forschern, sondern von der gesamten Wissenschaftsgemeinschaft umgesetzt werden muss. Es sollte an dieser Stelle bereits deutlich geworden sein, dass die Schlussfolgerungen, die Settle, Koertge und Longino ziehen, direkt an Sunsteins Arbeit anknüpfen. Nicht nur die Ehrlichkeit und der „gute Glaube“ einzelner Wissenschaftler, sondern auch die Einhaltung der wissenschaftlichen Grundhaltung als einem gemeinschaftlichen Konsens verleihen der Wissenschaft als Institution ihren Sonderstatus. Egal welche Biases, Überzeugungen oder Eigeninteressen bei einzelnen Wissenschaftlern vorkommen mögen, ist die Wissenschaft als Gemeinschaft doch objektiver als die Summe ihrer Mitglieder. Wie der Philosoph Kevin deLaplante es ausdrückt, zeichnet sich „Wissenschaft als soziale Institution dadurch aus, dass sie danach strebt, Biases, die zu Fehlern führen, wenn möglich auszuschließen“.27 Aber wie funktioniert das genau? An dieser Stelle sollten wir einen detaillierteren Blick auf einige der institutionellen Verfahren werfen, die Wissenschaftler entwickelt haben, um einander nicht vom Weg abkommen zu lassen.

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Methoden zur Umsetzung der wissenschaftlichen Grundhaltung bei der Fehlerminderung Es wäre einfach, sich lange an der Frage aufzuhalten, welche wissenschaftlichen Fehlerquellen es gibt. Findet man einen Fehler in wissenschaftlicher Arbeit – sei er absichtlich oder unabsichtlich –, ist es nachvollziehbar, wenn man einen Schuldigen ausfindig machen und die Motive hinter dem Fehler untersuchen möchte. Warum lassen sich die Ergebnisse mancher Studien nicht reproduzieren? Sicherlich lassen sich nicht alle mit Betrug und Täuschung in Verbindung bringen. Wie wir gesehen haben, besteht die Gefahr unbewusster kognitiver Verzerrungen auch in der Wissenschaft. Es wäre daher falsch, hinter jedem Fall einer fehlerhaften Studie Korruption anzunehmen.28 Dennoch muss eine Lösung für dieses Problem gefunden werden. Der Fehler muss ausfindig gemacht werden. Der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist nicht die Fehlerquelle, sondern die Möglichkeiten der Wissenschaft, diesen Fehler zu korrigieren. Wir haben bereits gesehen, dass Gruppen bei der Fehlersuche erfolgreicher sind als der Einzelne. Selbst mit der erforderlichen Motivation reicht die Leistung eines Individuums normalerweise nicht an den Effekt der „Intelligenz der Masse“ heran, der innerhalb von Expertengruppen zu beobachten ist. Glücklicherweise besitzt die Wissenschaft ihrem Wesen nach Mittel und Wege, um genau diese Art von Gruppenüberprüfung auf wissenschaftliche Hypothesen anzuwenden. Dazu gehören quantitative Methoden, das Peer-Review-Verfahren sowie das Zugänglichmachen und Replizieren der Daten.

Quantitative Methoden Ganze Bücher sind den vorbildlichen wissenschaftlichen Verfahrensweisen gewidmet. Wichtig ist es zu betonen, dass diese nicht nur im Bereich der quantitativen Forschung, sondern auch in dem der qualitativen Untersuchungen existieren.29 Es gibt im Bereich der statistischen Auswertung einige altehrwürdige Regeln, die wohl jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler kennen sollte. Einige davon – wie beispielsweise der Grundsatz, dass zwischen Kausalität und Korrelation ein Unterschied besteht  – werden den Studenten in jedem Statistikgrundkurs eingebläut. Andere wiederum – wie die Regel, dass man zur Entwicklung einer Hypothese einen

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anderen Datensatz verwenden sollte als zu ihrer Überprüfung – treten etwas weniger häufig in Erscheinung. Vor dem Hintergrund der Disziplin, die mit dieser Art von Arbeit verbunden ist, gibt es für Wissenschaftler kaum eine Möglichkeit, sich für quantitative Fehler zu rechtfertigen. Und doch tun sie es. Wie bereits angesprochen, gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Zurückhalten von Datensätzen und mathematischen Fehlern in veröffentlichten Forschungsarbeiten. Bedenkt man, dass ein Forscher immer auf der Suche nach dem heiligen Gral eines 95-%igen Konfidenzniveaus ist, kommt es manchmal zu Schummeleien.30 Doch wenn diese Fälle an die Öffentlichkeit gelangen – seien sie nun Betrug oder bloßer Schludrigkeit zuzurechnen –, dann zeigt sich daran eine Möglichkeit, wie sich die wissenschaftliche Grundhaltung in der Wissenschaft umsetzen lässt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überprüfen die Zahlen ihrer Kollegen. Sie warten nicht ab, bis ein Fehler offenkundig wird, sondern sie suchen aktiv danach. Wenn das Peer-Review-Verfahren den Fehler nicht zutage gefördert hat, wird er manchmal innerhalb weniger Stunden nach der Veröffentlichung gefunden. Man könnte es vermutlich der Wissenschaft ankreiden, dass es überhaupt zu so etwas wie quantitativen oder analytischen Fehlern kommt. Aber ich denke, es ist besser, in der Kultur der Fehlersuche einen Vorteil der Wissenschaft zu sehen, weil sich darin ein gesundes Misstrauen gegenüber Autoritäten zeigt und man nicht alles für bare Münze nimmt, was veröffentlicht wird. Und doch gibt es methodische Fehler, die so tief verwurzelt sind – und so heimtückisch –, dass sie erst nach und nach ans Licht kommen.31 Die Statistik bietet viele verschiedene Möglichkeiten, mit denen man aussagekräftige Verbindungen bestimmen kann. Natürlich wird keine davon in eine Kausalität münden, aber die handelsübliche Währung in der Statistik ist die Korrelation, denn wenn wir eine Korrelation finden, können wir daraus manchmal eine Kausalität ableiten. Eine der häufigsten Berechnungen ist die Bestimmung des p-Wertes (Signifikanzwert) einer Hypothese, der die Wahrscheinlichkeit bezeichnet, ein bestimmtes Ergebnis zu erhalten, wenn die Nullhypothese gültig ist (wenn es, anders ausgedrückt, keine reale Korrelation zwischen den Variablen gibt). Die Nullhypothese ist die Annahme, an der die statistische Signifikanz gemessen wird. Diese Hypothese fungiert als eine Art Advocatus Diaboli und besagt, dass es keinen realen kausalen Zusammenhang zwischen zwei Variablen gibt. Das bedeutet, dass es sich um einen Zufall handelt, wenn ein solcher Zusammenhang auftritt. Um eine statistische Signifikanz zu finden, muss man daher angemessene statistische Belege dafür finden, welche die Nullhypothese widerlegen – man muss zeigen, dass die gefundene Korrelation größer ist, als es durch bloßen Zufall zu erwarten wäre. Die Wissenschaft

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hat den Wert 0,05 als Wendepunkt festgelegt, der die statistische Signifikanz anzeigt oder die Wahrscheinlichkeit, dass eine Korrelation nicht auch durch Zufall hätte auftreten können. Wenn wir diesen Schwellenwert erreichen, legt dies eine höhere Wahrscheinlichkeit nahe, dass wir eine reale Korrelation gefunden haben.32 Der p-Wert ist daher die Wahrscheinlichkeit, mit der man die jeweiligen Daten erhalten würde, wenn die Nullhypothese gültig wäre. Ein geringer p-Wert zeigt an, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass sich die Korrelation auf einen Zufall zurückführen lässt. Die Nullhypothese ist wahrscheinlich ungültig. Genau danach suchen Wissenschaftler. Ein hoher p-Wert ist genau das Gegenteil, weil er eine niedrige Aussagekraft anzeigt, die Nullhypothese ist wahrscheinlich gültig. Ein p-Wert, der 0,05 unterschreitet, ist daher in höchstem Maße erstrebenswert, weil er üblicherweise die Schwelle für eine wissenschaftliche Publikation bildet. Beim p-Hacking (auch bekannt als „data dredging“, Datenbaggern) sammeln Forscher große Mengen von Daten und durchkämmen sie dann auf der Suche nach allen möglichen positiven Korrelationen.33 Wie beschrieben ist die Wahrscheinlichkeit, dass es eine zufällige Korrelation zwischen zwei Variablen gibt, ungleich null. Man kann bei einem ausreichend großen Datensatz und ausreichend großer Rechenleistung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine positive Korrelation finden, die den Schwellenwert 0,05 trifft. Dass diese dann auch eine reale Korrelation widerspiegelt, ist nicht gesagt. Das Problem wird noch verschärft durch die weiter oben angesprochenen Freiheitsgrade, anhand derer Forscher entscheiden, wann sie die Datenerhebung abschließen, welche Daten sie ausschließen, ob sie eine Studie offenhalten, um mehr Daten zu sammeln, und so weiter. Wenn man sich die Ergebnisse einer Studie auf halbem Weg zu ihrem Abschluss ansieht, um zu entscheiden, ob man mit der Datenerhebung fortfährt, betreibt man p-Hacking.34 Durch die eigennützige Ausbeutung solcher Freiheitsgrade kann man fast jeden Datensatz so manipulieren, dass sich eine positive Korrelation ergibt. Und das ist heutzutage viel einfacher geworden.35 Man lässt schlicht ein Computerprogramm durchlaufen und die signifikanten Ergebnisse fallen einem in den Schoß. Allein schon diese Vorgehensweise erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Ergebnisse zum Teil nicht echt sind. Man benötigt nicht einmal mehr die zugrunde liegende Hypothese, dass zwei Variablen miteinander in Verbindung stehen. Alles, was man braucht, ist ein Rohdatensatz und ein schneller Computer. Ein zusätzliches Problem entsteht, wenn Forscher bei der Weitergabe ihrer Ergebnisse selektiv vorgehen und alle Experimente verwerfen, die unterhalb der statistischen Signifikanz liegen. Die Entscheidung,

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welche Daten man weitergibt und welche man zurückhält, als einen letzten Freiheitsgrad anzusehen, kann Forscher in ernste Schwierigkeiten bringen. Wie Simmons et al. in ihrer Publikation schreiben, ist es „viel zu einfach, ‚statistisch signifikante‘ Ergebnisse zu veröffentlichen, die mit allen möglichen Hypothesen übereinstimmen“.36 Beispiele für derartige Verfehlungen gibt es zuhauf. Nichtreproduzierbare Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Grapefruit und einem nach innen gekehrten Bauchnabel oder zwischen Kaffee und Krebs nahelegen, wie sie in morgendlichen TV-Sendungen angesprochen werden, machen uns zu recht misstrauisch. Das Paradebeispiel führen allerdings Simmons et al. in ihrem Aufsatz an. In diesem Beispiel konnten Forscher – durch eine wohlüberlegte Manipulation ihrer Freiheitsgrade – belegen, dass das Anhören des Beatles-Songs „When I’m Sixty-Four“ einen Einfluss auf das Alter des Hörenden hatte. Hierbei ist natürlich zu beachten, dass es sich um das gefühlte und nicht um das tatsächliche Alter handelte.37 Einen Zusammenhang zu belegen, der auf der kausalen Ebene unmöglich ist, ist das schwerste Vergehen, dessen man sich bei einer Datenanalyse schuldig machen kann. Und dennoch wird das p-Hacking normalerweise nicht als Betrug geahndet. In den meisten Fällen kann es sein, dass die Forscher aufrichtig versuchen, die notwendigen Entscheidungen bei der Datenerhebung zu treffen, und eventuell wirklich überzeugt sind, dass diese Entscheidungen richtig sind oder zumindest vernünftig. Aber ihre Biases beeinflussen diese Entscheidungen auf einer Ebene, die den Forschern vielleicht gar nicht bewusst ist. Zudem kann es vorkommen, dass die Forscher einfach die Verfahren anwenden, die „funktionieren“ – soll heißen, die ihnen die gewünschten Ergebnisse liefern.38

Wenn dann noch Faktoren wie Karrieredruck, die Konkurrenz um Forschungsgelder und der Publikationszwang, um im akademischen Umfeld Dozentenstellen ergattern oder Karrierechancen nutzen zu können, hinzukommen, entsteht das ideale Milieu für „die passenden Entscheidungen“ die eigene Arbeit betreffend. Uri Simonsohn, einer der Co-Autoren der erwähnten Studie, fasst es folgendermaßen zusammen: „Jeder hat schon einmal ein bisschen p-Hacking betrieben.“39 Ein Kommentar in dieser Diskussion klingt da schon etwas bedrohlicher, wenn der Autor bereits im Titel seiner Publikation warnt: „Warum die meisten veröffentlichten Forschungsergebnisse falsch sind“.40 Aber ist alles wirklich so schlimm? Natürlich möchten Wissenschaftler gerne positive Ergebnisse vorweisen können. Wer will sich schon durch die

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Darstellungen all der fehlgeschlagenen Hypothesen quälen oder mühsam Daten zu erfolglosen Experimenten sichten. Leider ist diese selektive Weitergabe – manchmal bezeichnet als Begraben von Daten („data burying“) – genau die Technik, mit der sich Pseudowissenschaftler einen wissenschaftlichen Anstrich geben wollen. Ronald Giere beschreibt in seiner hervorragenden Arbeit Understanding Scientific Reasoning diese Vorgehensweise am Beispiel der Wahrsagerin und Astrologin Jeane Dixon sowie anderer „Zukunftsdeuter“. Oft versuchen diese Menschen den Eindruck zu vermitteln, sie könnten in die Zukunft blicken, und veröffentlichen dazu eine riesige Menge an Vorhersagen für das kommende Jahr. Am Ende des Jahres aber picken sie sich dann nur die Vorhersagen heraus, die auch tatsächlich eingetroffen sind, und berichten in aller Öffentlichkeit über diese angeblichen Erfolgsgeschichten.41 Vielen mag dies als eine Pervertierung der wissenschaftlichen Grundhaltung erscheinen. Denn man sucht zwar aktiv nach Belegen, nutzt diese jedoch in einer Art und Weise, die unangemessen ist. Ohne eine zugrunde liegende Hypothese, die man überprüfen möchte, wird hier die Erhebung von „Daten“ zum Selbstzweck. Wenn man sich einfach auf eine Schatzsuche nach „p“ begibt – also nach irgendetwas sucht, das signifikant aussieht, auch wenn es das wahrscheinlich gar nicht ist –, wo bleibt dann die Verlässlichkeit der eigenen Überzeugungen? Man muss sich hier an Poppers Warnung vor bestätigenden Beispielen erinnert fühlen. Wenn wir gezielt nach solchen Beispielen suchen, finden wir sie natürlich auch! Darüber hinaus verstoßen wir ohne eine zu überprüfende Hypothese zusätzlich gegen den wissenschaftlichen Forschergeist. Es geht uns nicht länger darum, eine Theorie zu entwickeln – und diese möglicherweise auf der Basis der Belege zu verändern –, sondern nur darum, über irgendwelche Korrelationen berichten zu können, auch wenn wir nicht wissen, warum sie auftreten, oder wir vielleicht sogar den Verdacht haben, dass sie falsch sein könnten. Das p-Hacking stellt eindeutig die Behauptung infrage, dass Wissenschaftler die wissenschaftliche Grundhaltung besitzen. Aber wenn wir nicht einen Großteil der nichtreproduzierbaren Studien als unwissenschaftlich verwerfen wollen, welche andere Möglichkeit bleibt dann noch? Erinnern wir uns hier an meine These, dass die Besonderheit der Wissenschaft nicht in ihrer Unfehlbarkeit liegt, sondern darin, dass sie im Fall von Fehlern korrigierend eingreift. Und tatsächlich unterstreicht die Reaktion der Wissenschaftscommunity auf die p-Hacking-Krise klar und deutlich, warum unser Vertrauen in die wissenschaftliche Grundhaltung gerechtfertigt ist.

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Zunächst müssen wir uns den Geltungsbereich des p-Werts vor Augen führen und den Zweck, den er eigentlich in der Wissenschaft erfüllen soll. Eigentlich war er ursprünglich gar nicht als Maß der Signifikanz gedacht. [Als] Ronald Fisher den p-Wert in den 1920er Jahren einführte, verstand er ihn nicht als einen definitiven Prüfwert. Er betrachtete ihn einfach als eine informelle Möglichkeit, um einen Beleg als im altmodischen Sinne signifikant einstufen zu können: um beurteilen zu können, ob er eine weitere Betrachtung lohnen würde. Zuerst sollte man ein Experiment durchführen, dann prüfen, ob die Ergebnisse konsistent mit bloßem Zufall wären. … Trotz der Präzision des p-Werts sollte er Fishers Ansicht nach nur Teil eines fließenden, nichtnumerischen Prozesses sein, durch den Daten und Hintergrundwissen zusammengenommen zu wissenschaftlichen Schlussfolgerungen führen sollten. Aber schon bald darauf wurde daraus eine Bewegung, die den Prozess der evidenzbasierten Entscheidungsfindung so streng und objektiv wie möglich gestalten wollte. … „Der p-Wert sollte nie dem Zweck dienen, den er heute erfüllt.“42

Ein weiteres Problem des p-Werts besteht darin, dass er oft missverstanden wird, selbst von Menschen, die täglich mit ihm arbeiten: Der p-Wert wird leicht fehlinterpretiert. Zum Beispiel wird er oft mit der Ausprägung der Beziehung gleichgesetzt, aber ein winziger Effektgrad kann in einer entsprechend großen Stichprobe einen sehr niedrigen p-Wert haben. Genauso bedeutet ein niedriger p-Wert nicht unbedingt, dass ein Ergebnis in einem hohen Maße … interessant ist.43

Anders ausgedrückt kann der p-Wert nicht die Stärke eines Effekts messen, sondern nur die Wahrscheinlichkeit, dass der Effekt auf Zufall beruht. Weitere Missverständnisse betreffen die Interpretation der Wahrscheinlichkeiten, die ein p-Wert ausdrückt. Wenn eine Studie einen p-Wert von 0,01 aufweist, heißt dies dann, dass das Ergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 % falsch ist?44 Dem ist nicht so. Dies kann man ohne ein die Effektwahrscheinlichkeit betreffendes Vorwissen nicht feststellen. Vielmehr stellt man auf der Basis einer Berechnung fest, dass „ein p-Wert von 0,01 mit der Wahrscheinlichkeit eines Fehlalarms von mindestens 11 % korrespondiert, je nachdem, wie hoch die zugrunde liegende Wahrscheinlichkeit ist, dass ein echter Effekt auftritt“.45 Manche mögen sich jetzt fragen, ob der p-Wert wirklich so wichtig ist, wie immer behauptet wird. Sollte man ihn überhaupt als den Goldstandard

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für statistische Signifikanz und Publikation ansehen? Seitdem das Problem des p-Hackings eine immer größere Bekanntheit erlangt, sind manche Fachzeitschriften dazu übergegangen, den p-Wert nicht mehr abzufragen.46 Andere Kritiker haben verschiedene statistische Prüfverfahren vorgeschlagen, um p-Hacking erkennen und aufdecken zu können. Megan Head et al. haben eine Methode vorgeschlagen, bei der sich durch Text Mining das Ausmaß des p-Hackings bestimmen lässt. Der Grundgedanke dabei ist, dass sich die p-Werte in einer Studie um den Wert 0,05 herum häufen, wenn p-Hacking betrieben wird, was zu einer ungewöhnlichen Form der aus den entsprechenden Werten gebildeten Kurve führt.47 In einem nächsten Schritt könnte man Anforderungen der Fachzeitschriften beim Einreichen von Publikationen anpassen, sodass die Autoren gezwungen wären, ihre eigenen p-Kurven zu berechnen. Fachkolleginnen und -kollegen wäre es dann möglich, mit einem Blick einschätzen zu können, ob die Ergebnisse durch p-Hacking zustande gekommen sind. Andere Vorschläge umfassen eine verpflichtende Offenlegung aller dem in der Publikation veröffentlichten Ergebnis zugrunde liegenden Freiheitsgrade sowie der Effektstärke und allen Informationen zu den ­A-priori-Wahrscheinlichkeiten.48 Manche dieser Vorschläge werden kontrovers diskutiert, weil die Forscher sich nicht über den Nutzen dessen, was eingereicht werden soll, einigen können.49 Head weist auf ein zusätzliches Problem hin: Viele Forscher haben sich für die Abkehr vom NIST [Null Hypothesis Significance Testing] eingesetzt. Andere wieder haben zu bedenken gegeben, dass viele der Probleme mit dem Publikationsbias auch bei anderen Ansätzen zum Tragen kommen, wie beim Einreichen der Effektstärke und der Konfidenzintervalle oder der Glaubwürdigkeitsintervalle. Der Publikationsbias ist kein Problem des p-Werts per se. Er spiegelt nur den Anreiz wider, gesicherte (d. h. signifikante) Fakten einzureichen.50

Besteht also die Lösung vielleicht in der vollständigen Offenlegung und der vollkommenen Transparenz? Vielleicht sollten Forscher zwar p-Werte nutzen können, die Wissenschaftsgemeinschaft, die ihre Arbeit bewertet – etwa Gutachter im Peer-Review-Verfahren und die Herausgeber der Fachzeitschriften –, dabei aber genau hinschauen. In ihrer Publikation schlagen Simmons et al. dazu verschiedene Richtlinien vor:

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Richtlinien für Autoren: 1. Autoren müssen die Maßgabe für den Abschluss der Datenerhebung festlegen, bevor sie mit der Datenerhebung beginnen, und diese Maßgabe in der Publikation offenlegen. 2. Autoren müssen mindestens 20 Beobachtungen pro Zelle erheben oder eine nachvollziehbare Begründung des Aufwands bei der Datenerhebung geben. 3. Autoren müssen alle in einer Studie erhobenen Variablen auflisten. 4. Autoren müssen alle experimentellen Rahmenbedingungen offenlegen, darunter auch fehlgeschlagene Manipulationen. 5. Wenn Beobachtungen ausgeschlossen werden, müssen die Autoren auch die statistischen Ergebnisse aufführen, die sich aus einer Aufnahme dieser Beobachtungen ergeben. 6. Wenn die Analyse eine Kovariate umfasst, müssen die Autoren die statistischen Ergebnisse der Analyse ohne die Kovariate einreichen.51 Richtlinien für Gutachter: 1. Gutachter sollten sicherstellen, dass die Autoren die Anforderungen einhalten. 2. Gutachter sollten mehr Toleranz in Bezug auf Mängel in den Ergebnissen an den Tag legen. 3. Gutachter sollten Autoren zum Nachweis anhalten, dass ihre Ergebnisse nicht auf willkürlichen analytischen Entscheidungen basieren. 4. Wenn die Begründung der Datenerhebung oder -analyse nicht nachvollziehbar ist, sollten Gutachter die Autoren dazu auffordern, eine exakte Replizierung durchzuführen. Im Anschluss daran kommen Simmons et al. auf ihre fiktive Hypothese (dass ein Beatles-Song das Alter des Hörenden „verändert“) zurück und zeigen damit auf bemerkenswerte Weise die Effektivität dieser Richtlinien auf. Die Autoren wiederholten nämlich die Studie noch einmal und hielten sich dabei an die oben genannten Grundsätze. Das Ergebnis war, dass sich der Effekt in Luft auflöste. Dass ein Pseudowissenschaftler einen solchen wissenschaftlichen Aufwand betreiben würde, um die eigenen Fehler auszumerzen, ist wohl nur schwer vorstellbar.

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Bemerkenswert am p-Hacking ist, dass es – obwohl sich darin eine derzeitige wissenschaftliche Krise widerspiegelt – den Wert der wissenschaftlichen Grundhaltung bestätigt. Es wäre ein Leichtes für mich gewesen, ein weniger kontroverses und peinliches Beispiel zu finden, an dem ich hätte zeigen können, dass die Wissenschaftsgemeinschaft durch ihr Bestehen auf bessere quantitative Methoden die wissenschaftliche Grundhaltung umsetzt. Aber das habe ich bewusst nicht getan. Stattdessen suchte ich mir das kontroverseste und peinlichste Beispiel heraus, das ich finden konnte. Und trotz alledem bleibt am Ende die Erkenntnis, dass die Wissenschaft das Problem erkannt hat und nach Lösungen sucht. Selbst wenn eine der Methoden fehlerbehaftet ist, trifft die Reaktion der wissenschaftlichen Community den Nagel auf den Kopf: Wir kümmern uns darum. Wir haben das Problem zwar noch nicht ganz gelöst und Fehler können weiterhin passieren, aber wir arbeiten daran und versuchen, die Missstände zu korrigieren. Es mag zwar im Interesse einzelner Wissenschaftler liegen, schludrig oder bequem zu sein (oder gar Schlimmeres) und auf p-Hacking zu setzen, aber so etwas ist eine Schande für die Wissenschaftsgemeinschaft als Ganzes. Und wir lassen uns so etwas nicht gefallen. Wir korrigieren solche Fehler. Simmons beendet den Aufsatz mit den Worten: Unser Ziel als Wissenschaftler ist es nicht, so viele Publikationen zu veröffentlichen, wie wir nur können, sondern wahre Zusammenhänge zu entdecken und zu verbreiten. Viele von uns – die drei Autoren dieses Artikels eingeschlossen – verlieren dieses Ziel oft aus den Augen und geben dem Druck nach, alles zu tun, was sich irgendwie rechtfertigen lässt, um Studienergebnisse zu erlangen, die wir publizieren können. Das geschieht nicht mit der Intention, täuschen zu wollen, sondern durch die eigennützige Interpretation von Uneindeutigkeiten, mit der wir vor uns selbst die Überzeugung rechtfertigen, dass die Entscheidungen, die uns die publikationswürdigsten Ergebnisse liefern, auch die angemessensten gewesen sind. In diesem Artikel sprechen wir uns für verschiedene Transparenzanforderungen aus, die für Autoren, Leser und Gutachter einen minimalen Aufwand bedeuten. Diese Lösungen werden den Publikationsdruck für Forscher nicht eliminieren, aber sie werden das einschränken, was Autoren vor sich und vor anderen als zulässig rechtfertigen können. Wir sollten diese Transparenzanforderungen so betrachten und annehmen, als würde die Glaubwürdigkeit unseres Berufsstands davon abhängen. Genau das tut sie nämlich.52

Dieser Weckruf ist auch anderen nicht entgangen. Steven Novella listet in seinem eigenen Aufsatz zum Thema „P-Hacking and Other Statistical Sins“ (P-Hacking und andere statistische Sünden) verschiedene Grundregeln eines

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wissenschaftlichen Verhaltenskodex auf und zieht dann einen widerlichen Vergleich, bei dem alle Wissenschaftsphilosophen eigentlich aufhorchen müssten: Homöopathie, Akupunktur und ESP, all diese Gebiete sind durchsetzt von  … Mängeln. Sie alle haben keine Forschungsergebnisse hervorgebracht, die der Schwelle zum Akzeptablen auch nur im Geringsten nahekommen. Die Studien auf diesen Gebieten strotzen nur so von p-Hacking, die Effektstärke ist meist sehr gering und es gibt kein konsistentes Replikationsmuster. … Und dennoch besteht zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft kein eindeutiger Gegensatz. Ja, es gibt Behauptungen, die sich ganz am pseudowissenschaftlichen Ende des Spektrums ansiedeln lassen. Aber alle diese Probleme lassen sich auch in der Mainstreamwissenschaft finden. Sie sind ziemlich offensichtlich, genau wie die notwendigen Lösungen. Alles, was wir brauchen, ist ein weit verbreitetes Bewusstsein dafür und der Wille, eine tief verwurzelte Kultur zu verändern.53

Man kann sich kein besseres Zeugnis – oder einen Ruf zu den Waffen – für die wissenschaftliche Grundhaltung vorstellen, als dass sie einen solchen Kulturwechsel anstrebt.54

Das Peer-Review-Verfahren Wir haben im vorherigen Abschnitt bereits einige Vorteile des Peer-Review-Verfahrens angesprochen. Während einzelne Wissen­ schaftlerinnen und Wissenschaftler bisweilen der Versuchung erliegen, bei ihrer Arbeit Abkürzungen zu nehmen, können sie dem wachsamen Auge von Vertretern der wissenschaftlichen Community nicht entkommen: den Lesern mit Expertenwissen, die sich dazu bereiterklären, ihre Meinung oder Kommentare zu einem anonymen Manuskript abzugeben, und deren Kompensation nur das Wissen ist, dass sie damit einen für ihren Berufsstand wichtigen Beitrag leisten und dass ihre Identität geschützt wird.55 (Dazu kommt noch der Vorteil, als Erster neue Arbeiten lesen zu können und die Möglichkeit zu haben, durch das Kommentieren Einfluss auszuüben.) Doch das wars auch schon. Menschen, die keinen Einblick in wissenschaftliche Abläufe haben, sind oft schockiert darüber, dass die Revision wissenschaftlicher Arbeit meistens nicht vergütet wird oder eine Vergütung zumindest minimal ist, wie z. B. ein kostenloses Abonnement einer Fachzeitschrift oder ein Buch.

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Der Prozess des Peer-Review-Verfahrens ist bei vielen wissenschaftlichen Journalen obligatorisch und die Herausgeber würden sich davor hüten, Arbeiten zu veröffentlichen, die nicht ordnungsgemäß geprüft wurden. In den meisten Fällen bedeutet das übrigens, dass jede Publikation in einer Fachzeitschrift nicht nur von einem, sondern von zwei Gutachtern geprüft worden ist, um eine noch höhere Qualität der Überprüfung zu gewährleisten – eine Prüfung der Prüfung. Sehr zum Unbehagen der meisten Autoren müssen vor einer Veröffentlichung normalerweise beide Gutachter ihr Okay geben. Und wenn sie Änderungen vorgeschlagen haben, ist es üblich, den Artikel nach Einarbeitung der Änderungen noch einmal an dieselben Gutachter weiterzuleiten. Auch mangelhafte Arbeiten schlüpfen manchmal durch das Netz, aber der entscheidende Punkt ist, dass in diesem System die wissenschaftliche Grundhaltung sich in den Prinzipien des Fair Play und der Objektivität offenbart. Es ist nicht perfekt, aber zumindest ein Prozess, durch den es der wissenschaftlichen Gemeinschaft möglich ist, Einfluss auf individuelle Forschungsergebnisse zu nehmen, bevor sie der gesamten Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Es gibt noch eine weitere Ebene der Überprüfung, denn wenn in einer Publikation ein Fehler steckt, kann sie immer noch zurückgezogen werden. Wenn der Fehler erst nach der Veröffentlichung entdeckt wird, kann man ihn kennzeichnen oder der gesamte Aufsatz kann zurückgezogen werden, mit der notwendigen Information über den Grund der Verzögerung für künftige Leser. Im Jahr 2010 gründeten die beiden Forscher Ivan Oransky und Adam Marcus eine Website namens Retraction Watch (www. retractionwatch.com), auf der eine aktuelle Liste der wissenschaftlichen Artikel zu finden ist, die zurückgezogen wurden. Die Seite wurde aufgrund der Sorge erstellt, dass zurückgezogene Artikel zu wenig Aufmerksamkeit bekämen und daher Wissenschaftler ihre Arbeit auf den darin enthaltenen Fehlern aufbauen könnten. An dieser Stelle könnte man wieder bemängeln, dass pro Jahr etwa 600 wissenschaftliche Artikel zurückgezogen werden, oder aber der Wissenschaftsgemeinschaft hoch anrechnen, dass sie Mechanismen schafft, die dabei helfen, die Probleme zu entschärfen. Die Veröffentlichung einer Liste zurückgezogener Artikel mag vielleicht sogar als Motivationshilfe für Forscher dienen, weil niemand gerne öffentlich an einen solchen „Pranger“ gestellt wird. In ihrem Blog beschreiben Oransky und Marcus Retraction Watch als einen Beitrag zum selbstkorrigierenden Wesen der Wissenschaft. Auch wenn manche das Zurückziehen eines Artikels als peinlich betrachten (und für die Beteiligten ist es das sicherlich auch), ist auch dieser Prozess ein Beleg für die wissenschaftliche Grundhaltung. Es geht nicht

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darum, dass in der Wissenschaft keine Fehler passieren, sondern darum, dass es angemessen transparente Gemeinschaftsstandards gibt, durch die sie korrigiert werden können. Wichtig ist aber, auch wenn in der Öffentlichkeit außerhalb der Wissenschaftsszene zum Teil eine andere Wahrnehmung herrscht, dass das Zurückziehen von Publikationen nicht unbedingt auf Betrug hindeutet. Es reicht schon aus, wenn darin ein Fehler steckt, der die Verlässlichkeit der Ergebnisse infrage stellt. (In manchen Fällen entdeckt man einen solchen, wenn andere Wissenschaftler versuchen, die Ergebnisse zu reproduzieren – ein Vorgang, auf den ich im nächsten Abschnitt näher eingehen werde.) Allein das Beispiel des p-Hackings zeigt, dass Kontrollmechanismen in der Wissenschaft unerlässlich sind. Dem absichtlichen Betrug, dem übelsten Verstoß gegen die wissenschaftliche Grundhaltung, widme ich ein eigenes Kapitel. Hier an dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass das Zurückziehen eines Artikels aus vielerlei Gründen notwendig sein kann, die allesamt ein Beleg für die Wachsamkeit der Wissenschaftsgemeinschaft sind. Das Peer-Review-Verfahren ist also ein entscheidender Prozess der wissenschaftlichen Arbeit. Die Fehlersuche des Einzelnen, die sich auf die eigene Arbeit bezieht, stößt irgendwann an ihre Grenzen. Und manchmal können dabei einige Fehler dem prüfenden Blick des Individuums entgehen, vielleicht unabsichtlich, vielleicht auch absichtlich. Die Arbeit durch unabhängige Gutachter vor der Veröffentlichung prüfen zu lassen, ist die beste Möglichkeit, Fehler zu finden und andere davor zu schützen, sie in ihrer eigenen Arbeit zu übernehmen. Das Peer-Review-Verfahren sorgt für Ehrlichkeit, selbst in Bereichen, in denen sie ohnehin schon vorhanden war. Erinnern wir uns an die Feststellung, dass Gruppen die Leistung von Individuen übertreffen. Und dass aus Expertinnen und Experten zusammengesetzte Gruppen noch einmal besser abschneiden als einzelne Experten. Schon vor ihrer experimentellen Untermauerung waren diese Grundsätze bereits Teil des Peer-Review-Standards. Was passiert, wenn eine wissenschaftliche Vorstellung oder Theorie das Peer-Review-Verfahren durchläuft? Vielleicht nichts. Wenden wir uns an dieser Stelle aber wieder dem Ansatz zu, dass man am meisten über die Wissenschaft erfahren kann, wenn man statt der Erfolgsgeschichten ihre Fehlschläge analysiert. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, dass wir uns ein Beispiel genauer ansehen, das bereits in Kap. 3 angeklungen ist und die Fallstricke aufzeigt, die durch das Auslassen gemeinschaftlicher Kontrollmechanismen entstehen: die kalte Fusion. Wer nur die „Schlagzeilen“ von damals kennt, mag versucht sein, die Geschichte der angeblichen kalten Fusion als eine des Betrugs oder zumindest übler Absichten zu betrachten. Erinnert man sich an die

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bereits erwähnten, im Nachgang erschienen Bücher mit Titeln wie Bad Science: The Short Life and Weird Times of Cold Fusion und Cold Fusion: The Scientific Fiasco of the Century, ist es auch nachvollziehbar, wenn man sich über die beiden beteiligten Forscher aufregt und dann versucht, das Ganze ad acta zu legen sich einzureden, dass so etwas nie wieder vorkommen kann. Faszinierend an diesem Fall ist aber, in welchem Umfang er den wissenschaftlichen Prozess widerspiegelt. Wie auch immer die letztendlichen Schlüsse aus dem Cold-Fusion-Skandal im Nachhinein waren – und Meinungen gab es dazu viele, nachdem über 50 Mio. US-Dollar in die Überprüfung und Widerlegung der Forschungsergebnisse investiert worden waren und ein Untersuchungsausschuss der Regierung sich des Falls angenommen hatte56 –, stellt das gesamte Schlamassel ein abschreckendes Beispiel dar. Es zeigt, was passieren kann, wenn die üblichen wissenschaftlichen Abläufe umgangen werden. Die Probleme, die in diesem Beispiel zum Tragen kommen, sind so zahlreich, dass man die kalte Fusion gleich zur Illustration mehrerer wissenschaftlicher Missstände nutzen könnte. Da wären Mängel der analytischen Methodik, die Bedeutung des Teilens und der Reproduzierbarkeit der Daten, die negativen Auswirkungen von Subjektivität und kognitiven Verzerrungen, die Rolle der empirischen Belege und der gefährliche Einfluss, den Politik und Medien ausüben können. Tatsächlich geht der Autor eines der Bücher in seinem letzten Kapital auf die verschiedenen Lektionen ein, die uns dieser Fehlschlag im Hinblick auf den wissenschaftlichen Prozess erteilen kann.57 Eine dieser Lektionen greife ich mir hier heraus: das ­Peer-Review-Verfahren. Am 23. März 1989 hielten die beiden Chemiker B. Stanley Pons und Martin Fleischmann eine Pressekonferenz an der Universität von Utah ab, um über eine verblüffende Entdeckung zu berichten. Sie hätten experimentelle Belege dafür gefunden, dass eine Kernfusion bei Raumtemperatur möglich sei, und dabei nur die Materialien genutzt, die als Grundausstattung in allen Chemielaboren vorhanden sind. Diese Ankündigung war erschütternd. Wäre die Herbeiführung einer solchen Reaktion tatsächlich möglich, würde deren kommerzieller Einsatz eine buchstäblich grenzenlos verfügbare Energiequelle in greifbare Nähe rücken. Politiker und Journalisten waren gleichermaßen begeistert und die Entdeckung der beiden Forscher beherrschte die Schlagzeilen mehrerer Zeitungen, darunter das Wall Street Journal. Die Pressekonferenz war aber noch aus einem anderen Grund erschütternd, denn Pons und Fleischmann hatten noch keine entsprechende wissenschaftliche Publikation zu ihrem

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Experiment vorzuweisen. Also hatten die Fachkolleginnen und Fachkollegen im Vorfeld keine Gelegenheit gehabt, die Arbeit der beiden zu überprüfen. Zu sagen, eine solche Vorgehensweise in der Wissenschaft sei ungewöhnlich, wäre eine glatte Untertreibung. Das Peer-Review-Verfahren ist der fundamentale Grundsatz der Wissenschaft, weil es die beste Möglichkeit bietet, Fehler offenzulegen und alle angemessenen kritischen Fragen zu stellen, bevor Forschungsergebnisse publiziert werden. Wie einer der Kommentatoren in dieser Diskussion, John Huizenga, bemerkt, lässt sich der Druck, unbedingt publizieren zu müssen, bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals begann die Royal Society jenen Forschern den Vorzug zu geben, die als Erste veröffentlichten und als Erste eine wissenschaftliche Entdeckung machten.58 Der Konkurrenzdruck in der Wissenschaft ist groß und Rangkämpfe im Hinblick auf wichtige Forschungsergebnisse weit verbreitet. Also würden, so Huizenga, Wissenschaftler im Rennen um die schnellste Publikation wichtige Kontrollmechanismen ihrer Arbeit umgehen und Herausgeber den Peer-Review-Prozess verletzen, was zu unvollständigen oder gar fehlerhaften Resultaten führt.59 Und so scheint sich auch die Geschichte der kalten Fusion abgespielt zu haben. Als Pons und Fleischmann ihre Pressekonferenz gaben, befanden sie sich gerade mit einem anderen Wissenschaftler einer nahe gelegenen Universität in einem regelrechten Wettrennen. Sie behaupteten, er habe ihre Entdeckung unerlaubt übernommen, nachdem er in einem Antrag auf Forschungsgelder darüber gelesen hatte. Dieser Wissenschaftler, Steven Jones von der Brigham Young University, hielt dagegen und sagte aus, er habe schon weit vor dieser Geschichte in der Fusionsforschung gearbeitet und Pons’ und Fleischmanns Antrag auf Fördermittel sei nur ein „Anstoß“ für ihn gewesen, seine Arbeit wieder aufzunehmen und keine weiteren Verzögerungen bei der Publikation seiner eigenen Ergebnisse mehr hinzunehmen. Als sich die Verwaltungen der beiden Universitäten (BYU und Utah) einschalteten und es um Patente ging sowie um die Ehre der jeweiligen Institutionen, verhielt sich kaum einer der Beteiligten in angemessener Weise. Wie schon erwähnt, sind auch Wissenschaftler nur Menschen und genau wie wir alle manchmal Konkurrenzdruck ausgesetzt. Aber Pons und Fleischmann sollten ihre Eile noch bereuen. Wie sich herausstellte, war die experimentelle Beleglage schwach. Die beiden Forscher behaupteten, sie hätten einen enormen Wärmeüberschuss erzeugt, indem sie ein elektrochemisches Experiment mit Palladium, Platin, einer Mischung aus schwerem Wasser und Lithium sowie elektrischem Strom durchgeführt hätten. Wenn es sich aber um eine nukleare und

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nicht um eine chemische Reaktion gehandelt hatte, gab es ein Problem: Was war dann mit der Strahlung? Bei der Fusion zweier Deuteriumkerne erwartet man nicht nur die Abgabe von Wärmeenergie, sondern auch von Neutronen (und Gammastrahlung). Dennoch misslang es Pons und Fleischmann wiederholt, mit dem Detektor, den sie sich aus dem Institut für Physik ausgeliehen hatten, Neutronen nachzuweisen (oder es waren nur so wenige, dass es eher auf einen Fehler hindeutete). Konnte es also eine andere Erklärung geben? Man könnte meinen, es sei ein recht unkomplizierter Vorgang, Ordnung in dieses wissenschaftliche Chaos zu bringen. Aber in den ersten Tagen nach ihrer Pressekonferenz weigerten sich Pons und Fleischmann, ihre Daten anderen Forschern zur Verfügung zu stellen, die sich deshalb damit begnügen mussten, die Details dieses Experiments dem Wall Street Journal und anderen Medien zu entnehmen.60 Es ist vollkommen klar, dass Forschung so nicht ablaufen darf. Die Replizierung von Ergebnissen darf nicht auf der Basis von Spekulationen über experimentelle Techniken stattfinden oder Telefonate erfordern, in denen man förmlich um tiefer gehende Informationen betteln muss. Doch es kam zu einem Phänomen, das Gary Taubes als „kollektive Geistesstörung“ bezeichnet, denn einige Mitglieder der Wissenschaftscommunity ließen sich von der Begeisterung anstecken und aus verschiedenen Ecken der Welt hörte man von teilweisen „Bestätigungen“ der Ergebnisse.61 Verschiedene Forschungsgruppen berichteten, auch sie hätten in einem Palladiumexperiment überschüssige Wärmeenergie erzeugt (aber keine Strahlung). Am Georgia Tech Institute behauptete man, durch das in dem Borosilikatglas der Laborausstattung (das hitzebeständige Glas der Marke Pyrex enthielt Bor) eine Erklärung für das Fehlen von Deuteriumatomen gefunden zu haben. Als man Tests mit borfreiem Glas durchführte, konnte man etwas Strahlung nachweisen. Platzierte man den Detektor hinter einer Abschirmung aus borhaltigem Material, verschwand diese. Ein anderes Team aus Forschern behauptete, eine theoretische Erklärung für das Fehlen der Strahlung und ebenfalls nur die Reaktionsprodukte Helium und Wärme gefunden zu haben, wie auch Pons und Fleischmann es berichtet hatten.62 Natürlich meldeten auch Kritiker ihre Bedenken an. Besonders im Bereich der Kernphysik war man höchst skeptisch, ob ein Prozess wie die Kernfusion – der bei extrem hohen Temperatur- und Druckverhältnissen stattfindet, die im Inneren der Sonne herrschen – in einem Umfeld mit Raumtemperatur möglich sei. Doch viele taten diese Kritik als „altmodische“ Vorstellungen von Fusion ab. Diese Situation wäre ein gefundenes Fressen für Psychologen gewesen, denn was folgte, ließe sich

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mit Begriffen wie „Stammeskonflikte“, „auf den Zug aufspringen“ und Märchen wie „Des Kaisers neue Kleider“ umschreiben. In der Tat folgerten manche, dass man einen großen Teil des Skandals um die kalte Fusion durch Salomon Aschs experimentelle Arbeit zur „Konformität“ erklären könne. Asch hatte gezeigt, dass eine nicht unerhebliche Anzahl von Probanden klar gesicherte Fakten leugnete, wenn dies erforderlich war, um sich an die Mehrheit innerhalb der Gruppe anpassen zu können.63 Ich möchte aber an dieser Stelle betonen, dass all diese psychologischen Effekte zwar in der Wissenschaft vorkommen können, doch die kritische Überprüfung durch die Wissenschaftsgemeinschaft sie eigentlich eindämmen soll. Wo blieb also im Fall Pons und Fleischmann diese kritische Überprüfung? Es wäre leicht, den Vorwurf zu äußern, dass der Fall sich sehr langsam entwickelte. Aber man muss auch bedenken, dass die kritische Forschungsarbeit zu den Ergebnissen der beiden Chemiker andernorts tatsächlich stattfand. Und zwar unter den erschwerten Bedingungen, die sich aus unvollständigen Daten und zu vielen offenen Fragen ergeben hatten. Und als immer mehr Details der Arbeit von Pons und Fleischmann ans Licht kamen, häuften sich die Probleme im Hinblick auf die kalte Fusion. Wo war zum einen die Strahlung? Wie bereits erwähnt, gab es dazu zwar einzelne Erklärungsansätze, aber die meisten Wissenschaftler blieben skeptisch. Ein weiteres Problem ergab sich, als Stimmen laut wurden, die vermuteten, die erzeugte Wärme könne als ein bloßes Artefakt eines unbekannten chemischen Prozesses erklärt werden. Am 10. April 1989 erschien ein eilig zusammengeschusterter Artikel von Pons und Fleischmann im Journal of Electroanalytical Chemistry. Er strotzte von Fehlern. Warum hatten die Gutachter sie nicht während des Peer-Review-Verfahrens gefunden? Weil der Aufsatz diesen Prozess gar nicht durchlaufen hatte!64 Er wurde lediglich vom Herausgeber der Fachzeitschrift evaluiert (der ein Freund Stanley von Pons war) und schnell in Druck gegeben, da er für die Wissenschaftsgemeinschaft „von großem Interesse“ sei.65 Im Rahmen der dann folgenden Fachkonferenzen scheute sich Pons davor, detaillierte Fragen von Kollegen zu den Problemen seiner Arbeit zu beantworten, und weigerte sich, die Rohdaten zugänglich zu machen. Zu seiner Verteidigung mag man anführen, dass zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche „Bestätigungen“ seiner Ergebnisse öffentlich geworden waren und auch andere seine Arbeit verteidigten, weil sie angeblich ähnliche Ergebnisse erzielt hatten. Obwohl sich Pons der Mängel seiner Arbeit sehr wohl bewusst war, war er vielleicht dennoch von ihr überzeugt. Aber wie wir bereits zu Beginn dieses Kapitels gesehen haben, besteht eine hohe Korrelation zwischen dem Versäumnis, die eigenen Daten zugänglich

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zu machen, und analytischen Fehlern.66 Man weiß nicht, ob Pons andere Forscher absichtlich daran hindern wollte, die Schwächen seiner Arbeit aufzudecken, derer er sich schon bewusst war, oder ob er sich einfach von der allgemeinen Begeisterung über seine Theorie anstecken ließ. Auch wenn manche diesen Fall als Betrug bezeichnet haben – und das könnte er auch sehr wohl sein –, muss man gar nicht so weit gehen, um den beiden Urhebern trotzdem schwere Vorwürfe zu machen. Es wird von Wissenschaftlern erwartet, dass sie sich an der kritischen Überprüfung ihrer eigenen Theorie beteiligen – oder sie zumindest zulassen. Und wehe dem, der sich dagegen sperrt. Pons hat sich mindestens der Behinderung der Arbeit anderer schuldig gemacht und damit gegen den Geist der wissenschaftlichen Grundhaltung verstoßen. Diese Einstellung sagt uns, dass wir dazu bereit sein müssen, unsere Vorstellungen anhand der Daten zu überprüfen. Ob wir das selbst tun oder andere, sei dahingestellt.67 Bald darauf begann das Kartenhaus einzustürzen. Eine umfangreichere, sorgfältigere Darstellung des Experiments von Pons und Fleischmann wurde bei der Fachzeitschrift Nature eingereicht. Während er auf die Gutachten zu dem Artikel wartete, verfasste der Herausgeber des Journals, John Maddox, ein Editorial, in dem er schrieb: Es ist in der Forschung selten, dass eine Entdeckung nicht nur all unsere vorherigen Erkenntnisse vollkommen infrage stellt, sondern auch so zwingend korrekt ist, dass ihre Signifikanz schon auf den ersten Blick deutlich wird. Autoren, die in ihrer Arbeit einzigartige oder außergewöhnliche Ansätze verfolgen, mögen das Gefühl haben, es gebe keinen Fachkollegen, der in der Lage sei, auf Augenhöhe eine Evaluation dieser Arbeit vornehmen zu können, und dass gewöhnlichere Gutachter schon das Wort „Nein“ auf den Lippen haben, bevor sie dem Artikel überhaupt ihre ganze Aufmerksamkeit gewidmet haben. Aber es darf ebenso nicht vergessen werden, dass die meisten unglaublichen Behauptungen sich auch als genau das erweisen und es wohl verzeihlich ist, wenn Gutachter dies schnell erkennen.68

Ein paar Wochen später, am 20. April, ließ Maddox verlauten, er würde Pons’ und Fleischmanns Artikel nicht veröffentlichen, weil alle drei Gutachter schwerwiegende Mängel festgestellt und Kritik geäußert hätten. Der schwerwiegendste Vorwurf war der, dass Pons und Fleischmann offenbar keinerlei Kontrollen durchgeführt hätten! Tatsächlich entsprach das nicht der Wahrheit. Zusätzlich zu ihrem Fusionsexperiment mit schwerem Wasser hatten die beiden Chemiker auch eine frühe Variante des Experiments mit Leichtwasser durchgeführt und ein ähnliches Ergebnis erzielt.69

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Pons verschwieg jedoch diesen Umstand und erwähnte ihn nur gegenüber Chuck Martin von der Texas A&M University, der ebenfalls ein solches Ergebnis erzielt hatte. In einem Gespräch teilte Pons ihm mit, er befände sich nun in der „aufregendsten“ Phase der Forschungsarbeit, könne aber aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht näher darauf eingehen.70 Gleichermaßen stellten andere Forscher, die die ursprünglichen Ergebnisse „bestätigt“ hatten, heraus, dass das Experiment auch unter Einsatz von Kohlenstoff, Wolfram und Gold gelang.71 Aber wenn die Kontrollen alle „funktionierten“, stellte das dann nicht das ursprüngliche Ergebnis infrage? Oder könnte es auch bedeuten, dass die Entdeckung, die Pons und Fleischmann gemacht hatten, sogar noch weitreichender und aufregender war, als sie gedacht hatten? Es dauerte nicht lange, bis auch dieses Schiff sank. Am 1. Mai – anlässlich eines Treffens der American Physical Society in Baltimore – hielt Nate Lewis (ein Elektrochemiker vom Caltech, dem California Institute of Technology) eine flammende Rede, in der er kurz davor war, Pons und Fleischmann wegen ihrer mangelhaften experimentellen Ergebnisse des Betrugs anzuklagen. Von den 2000 anwesenden Physikern erhielt er daraufhin stehende Ovationen. Am 18. Mai 1989 (weniger als zwei Monate nach der ursprünglichen Pressekonferenz in Utah) veröffentlichten Richard Petrasso (vom MIT) et al. einen Artikel in Nature, aus dem hervorging, dass die Ergebnisse, die Pons und Fleischmann in ihrem ursprünglichen Experiment erzielt hatten, experimentelle Artefakte gewesen und nicht auf eine Kernfusionsreaktion zurückzuführen waren. Es scheint, als sei der vollständige Graph des Gammastrahlenspektrums, den Pons zurückgehalten hatte (obwohl er doch angeblich der wichtigste Beleg gewesen war) fehlinterpretiert worden. Nachdem der Stein der Kritik nun ins Rollen gekommen war, häuften sich die Vorwürfe hinsichtlich der ursprünglichen Ergebnisse ebenso wie die Kritik an den „Bestätigungen“ dieser Resultate, und die Geschichte mündete in einen Untersuchungsausschuss der Regierung, der die Ereignisse aufdecken sollte. Schließlich verschwand Pons von der Bildfläche und gab seinen Posten später auf. Das Peer-Review-Verfahren ist einer der wichtigsten Mechanismen, den die wissenschaftliche Gemeinschaft besitzt. Die Fachkollegen halten so nach Fehlern oder Schludrigkeiten Ausschau, die von einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – sei es bewusst oder unbewusst – begangen werden. Die Motivation hinter diesem Fehlverhalten liegt oft in dem herrschenden Druck, der die Forscher dazu verführt, in ihrer Arbeit gewisse „Abkürzungen“ zu nehmen. Selbst wenn jemand diese Prozesse

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zu behindern versucht oder sich ihnen verweigert, findet die kritische ­Überprüfung dennoch statt. Wissenschaft ist ein öffentliches Unterfangen und wir müssen bereit sein, unsere Belege zugänglich zu machen oder mit den Konsequenzen leben. Egal wie lange es dauert, die Fakten werden früher oder später auf den Tisch kommen. Manche mögen es beklagen, dass solche Skandale wie die der kalten Fusion überhaupt vorkommen, und sie als eine Schande für den wissenschaftlichen Prozess ansehen. Viele Wissenschaftskritiker werden mit solchen Vorwürfen sicherlich schnell bei der Hand sein und stattdessen vielleicht nichts Besseres als Pseudowissenschaft zu bieten haben. Aber ich denke, wir sollten uns daran erinnern, dass – wie auch im Fall des p-Hackings – die Besonderheit der Wissenschaft nicht darin liegt, dass sie perfekt ist. Vielmehr sind Fehler wie auch ihre Aufdeckung ein wichtiger Bestandteil des wissenschaftlichen Fortschritts. Mehr als ein Beitrag in dieser Diskussion weist darauf hin, dass die Wissenschaft ein sich selbst korrigierendes System ist. Wenn ein Fehler auftritt, breitet er sich normalerweise nicht aus. Wenn Pons und Fleischmann eingewilligt hätten, ihre Daten offenzulegen, und eine wissenschaftliche Grundhaltung eingenommen hätten, wäre die ganze Geschichte vielleicht in wenigen Tagen erledigt gewesen, wenn sie überhaupt so weite Kreise gezogen hätte. Doch selbst wenn Egos, Geld oder andere außerwissenschaftliche Faktoren ins Spiel kommen, sorgt die interaktive kritische Natur wissenschaftlicher Forschung dafür, dass fast jeder Fehler früher oder später ans Licht kommt. Auch hier sollten wir wieder, statt der Wissenschaft vorzuwerfen, dass ein Fehler passiert ist, uns darüber freuen, dass einer der schwerwiegendsten wissenschaftlichen Fehler des 20. Jahrhunderts weniger als zwei Monate nach seiner Veröffentlichung aufgedeckt und analysiert wurde. Und zwar ausschließlich auf der Basis einer mangelnden Übereinstimmung mit den empirischen Belegen. Trotz aller äußeren Faktoren, die die Angelegenheit verkomplizierten und die Abläufe behinderten, war dies eine Sternstunde der wissenschaftlichen Grundhaltung, wie John Huizenga schreibt: Das Fiasko der Kalten Kernfusion zeigt eigentlich sehr eindringlich, wie Wissenschaft funktioniert. … Wissenschaftler sind auch nur Menschen, die manchmal Fehler machen. Diese Fehler werden meistens in Diskussionen mit Kollegen oder bei der Begutachtung aufgedeckt. Werden Fehler vor der Veröffentlichung nicht entdeckt, entgehen sie nicht dem prüfenden Blick der anderen Wissenschaftler, insbesondere dann nicht, wenn sie etablierten Erkenntnissen widersprechen. … Der wissenschaftliche Prozeß ist ein sich selbst korrigierender Prozeß.72

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Das Zugänglichmachen von Daten und die Replikation Wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben, kann die Weigerung, Forschungsdaten zugänglich zu machen, schlimme Konsequenzen haben. Wenn wir uns für den Berufsweg des Wissenschaftlers entscheiden, bekennen wir uns damit auch zu einem Grad an intellektueller Aufrichtigkeit und willigen ein, mit den Menschen zu kooperieren, die unsere Ergebnisse auf Richtigkeit prüfen. In manchen Fällen (wie bei den Fachzeitschriften, die von der American Psychological Association gefördert werden) enthält die zu unterschreibende Vereinbarung zur Veröffentlichung sogar die Verpflichtung, die Daten mit anderen Forschern auf deren Wunsch hin zu teilen. Nach dem Peer-Review-Verfahren kommt hier also noch ein Standard hinzu, nach dem wissenschaftliche Ergebnisse reproduzierbar sein sollten. Trivers weist in seiner Rezension zu den Ergebnissen von Wicherts et al. darauf hin, dass dies nicht unbedingt bedeute, dass die Offenlegung der Daten auch wirklich stattfindet. Wir Menschen scheuen zuweilen vor dem zurück, was man von uns erwartet. Einen Einfluss auf die Erwartungen der Gemeinschaft hat dies allerdings nicht.73 Die wissenschaftliche Grundhaltung verlangt von uns, dass wir es respektieren, wenn die empirischen Belege uns widersprechen. Und ein Teil dieses Respekts besteht in der Zusammenarbeit mit Fachkollegen, die unsere hart erarbeiteten Theorien auf den Prüfstand stellen oder gar widerlegen. Daher ist es immanent wichtig, dass die Einhaltung dieses Standards von der Wissenschaftsgemeinschaft kontrolliert wird (und Verstöße öffentlich gemacht werden). Ich möchte jedoch anmerken, dass man zwischen der Weigerung, Daten zugänglich zu machen, und nichtreplizierbaren Arbeitsergebnissen unterscheiden sollte. Es ist wohl zu erwarten, dass hinter dem Zurückhalten von Daten auch die Angst stecken mag, dass andere Forscher nicht in der Lage sein werden, die eigenen Ergebnisse zu replizieren. Das muss zwar nicht unbedingt auf eine betrügerische Absicht hindeuten, aber es ist auf jeden Fall peinlich. Es zeigt, dass irgendetwas nicht stimmt. Wie bereits angesprochen, kann diese Unstimmigkeit in den Bereich der quantitativen Fehler fallen, den fehlerhafter Analysen oder Methoden, schlechter Datenerhebung oder einer Vielzahl anderer Vergehen, die man als schludrig oder bequem bezeichnen könnte. Sie kann aber auch auf Betrug hindeuten. Egal was der Hintergrund ist, es erwachsen daraus Probleme für den betreffenden Forscher und daher weigern sich manche von ihnen, die Daten

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o­ffenzulegen. Trivers verurteilt dieses Verhalten zu Recht und bezeichnet Forscher, die es an den Tag legen, als die „Zerrbilder von Akademikern“. Und wie Wicherts et al. zeigen, besteht ein besorgniserregender Zusammenhang zwischen dem Zurückhalten der Daten und der höheren Wahrscheinlichkeit quantitativer Fehler in einer veröffentlichten Studie.74 Man kann sich vorstellen, dass man, wenn die tatsächlichen Daten zugänglich wären, auf weitere Probleme stoßen würde. Manchmal geschieht das auch. Der erste Einschnitt besteht darin, dass ein Forscher dieselben Daten nutzt und dieselben Methoden anwendet wie der Urheber der Studie, aber die Ergebnisse abweichen. Die Studie wird dann als nichtreplizierbar gekennzeichnet. Im zweiten Schritt wird – wenn möglich – erkennbar, warum die ursprüngliche Arbeit nicht replizierbar ist. Wenn der Grund in gefälschten Daten liegt, bedeutet es wahrscheinlich das Ende einer Karriere. Wenn er in einer schlechten Arbeitsweise liegt, steht der gute Ruf auf dem Spiel. Trotzdem muss man sich klarmachen, dass die fehlende Replizierbarkeit einer Studie nicht zwingend schlecht für den wissenschaftlichen Berufsstand als Ganzes sein muss. Auch sie ist Teil des Lernprozesses.75 Wahrscheinlich ist auch das damit gemeint, wenn es heißt, die Wissenschaft sei selbstkorrigierend. Ein Wissenschaftler macht einen Fehler, ein anderer entdeckt ihn und ersterer lernt seine Lektion. Wenn sich die Lektion auf den Untersuchungsgegenstand bezieht – und nicht auf die ethischen Standards des ursprünglichen Forschers –, ist weitere Forschung möglich. Vielleicht sogar eine tiefere Erkenntnis. Wenn wir nur glauben, etwas zu wissen, aber es in Wirklichkeit nicht tun, hindern wir uns selbst daran, künftige Erkenntnisse zu gewinnen. Aber wenn wir herausfinden, dass etwas unwahr ist, das wir für wahr gehalten haben, stehen wir vielleicht vor einem Durchbruch. Wir haben dann die Gelegenheit, mehr Erkenntnisse über tatsächliche Zusammenhänge zu gewinnen. Auf diese Weise kann auch ein Fehlschlag einen wertvollen Beitrag zur Wissenschaft leisten.76 Die wichtigste Eigenschaft der Wissenschaft ist, dass wir aktiv versuchen, Fehlschläge aufzudecken. Die eigentliche Gefahr für die Wissenschaft liegt nicht in Fehlern begründet, sondern in Täuschungsversuchen. Fehler kann man korrigieren, sogar aus ihnen lernen. Durch Täuschung aber sollen Fehler oft vertuscht werden. Es kann dann passieren, dass viele andere Forscher ihre Arbeit auf gefälschten Daten aufbauen, bevor der zugrunde liegende Täuschungsversuch entdeckt wird. Wenn einzelne Forscherinnen und Forscher ihre Karriere über die Verpflichtung stellen, Erkenntnisse zu gewinnen und zugänglich zu machen, verraten sie damit nicht nur das Ideal der wissenschaftlichen Grundhaltung, sondern auch ihre Berufskollegen.

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Lügen, Manipulationen und Fälschungen sind der Inbegriff einer falschen Einstellung zu empirischen Belegen. Doch auch hier sollten wir wieder versuchen, nichtreplizierbare Studien von Betrugsversuchen zu trennen. Dabei hilft es, wenn wir uns an die logischen Schlüsse erinnern. In betrügerischer Absicht gefälschte Ergebnisse sind fast nie replizierbar, aber das bedeutet nicht, dass alle oder sogar die meisten nichtreplizierbaren Studien das Resultat von Betrug sind. Natürlich ist Betrug ein viel schwerwiegenderes Vergehen gegen die wissenschaftliche Grundordnung. Wir können die wissenschaftliche Grundhaltung jedoch auch dann besser verstehen lernen, wenn wir uns einige der weniger eklatanten Gründe für die fehlende Replizierbarkeit von Studien ansehen. Selbst wenn diese Gründe überhaupt nichts mit Betrug zu tun haben, werden die Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft sie wahrscheinlich finden. Schon allein indem wir uns zum Zugänglichmachen der Daten und zur Replikation verpflichten, verschreiben wir uns auch der wissenschaftlichen Grundhaltung.77 Ob die fehlende Replizierbarkeit das Ergebnis absichtlicher oder unabsichtlicher Fehler ist – wir können uns auf ein und denselben Prozess verlassen, um den Grund dafür zu finden. Man könnte also annehmen, dass die meisten wissenschaftlichen Studien repliziert werden können. Dass also mindestens die Hälfte der wissenschaftlichen Arbeit aus dem Versuch besteht, die Ergebnisse anderer Forscherinnen und Forscher zu wiederholen und so sicherzustellen, dass sie korrekt sind und man auf ihrer Basis weiterforschen kann. Doch das stimmt nicht. Die meisten Fachzeitschriften sind nicht daran interessiert, Studien zu veröffentlichen, die lediglich die Forschungsarbeit anderer widerspiegeln. Vielleicht steigt das Interesse, wenn eine Studie Ergebnisse nicht replizieren kann, aber auch dann besteht ein gewisses Risiko. Man kann in der Forschung viel mehr Ruhm und Ehre erlangen, wenn man selbst wichtige Ergebnisse erarbeitet und nicht nur die Resultate anderer Forscher nachprüft, seien die Ergebnisse replizierbar oder nicht. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass nur bei einem sehr geringen Prozentsatz der wissenschaftlichen Arbeit überhaupt der Versuch einer Replikation unternommen wird.78 Man könnte einwenden, das sei ja auch angemessen, weil es vor dem Hintergrund der hohen Standards des Peer-Review-Verfahrens gar nicht notwendig wäre, die meisten Studien zu wiederholen. Bei all den stattfindenden Überprüfungen müsse es doch selten vorkommen, dass eine Studie nicht repliziert werden könne. Aber auch diese Annahme ist in der letzten Zeit infrage gestellt worden. Artikel über die „Replizierbarkeitskrise“ in der Wissenschaft beherrschten tatsächlich in den letzten Jahren die Medien und man hätte – bei näherem Hinsehen – feststellen können, dass besonders in

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der Psychologie Forscher den Anteil nichtreplizierbarer Studien mit 64 % beziffern!79 Ähnlich wie im Fall der „p-Hacking-Krise“ könnte man hier also ernsthafte Zweifel an der Behauptung anmelden, die Wissenschaft besäße einen erkenntnistheoretischen Sonderstatus und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeichneten sich durch die aufrichtige Verpflichtung aus, ihre Überzeugungen auf empirischen Belegen aufzubauen. Doch auch hier können wir wieder viel aus der Reaktion der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf die „Replikationskrise“ lernen. Werfen wir zunächst einen genaueren Blick auf diese Krise. Im August des Jahres 2015 veröffentlichten Brian Nosek und seine Kollegen in der angesehenen Fachzeitschrift Science einen Artikel mit dem Titel „Estimating the Reproducibility of Psychological Science“ (Die Einschätzung der Replizierbarkeit in der psychologischen Wissenschaft). Die Publikation schlug ein wie eine Bombe. Einige Jahre zuvor hatte Nosek das Center for Open Science (COS) gegründet mit dem Ziel, das Zugänglichmachen von Daten und die Replikation wissenschaftlicher Studien zu fördern. Das erste Projekt trug den Titel „Reproducibility Project“. Nosek konnte 270 andere Forscher dafür gewinnen, ihm bei dem Versuch zu helfen, einhundert psychologische Studien zu replizieren. Die Ergebnisse waren erschütternd. Nur die Ergebnisse von 36 % dieser einhundert Studien konnten repliziert werden.80 Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass Nosek et al. nicht behaupteten, die fehlende Replizierbarkeit der Studien sei auf Betrug zurückzuführen. In jedem einzelnen der Fälle lag ein Effekt vor, der in die von den ursprünglichen Forschern angezeigte Richtung wies. Nur war in den meisten Fällen die Effektstärke jetzt lediglich halb so groß. Die Beleglage war also nicht so eindeutig, wie die Forscher in der ursprünglichen Studie angegeben hatten, und daher waren in mehr als der Hälfte der Fälle die Schlussfolgerungen nicht belegt. Wie kam es dazu? Man muss hier unwillkürlich an die weiter oben in diesem Kapitel angesprochenen „Freiheitsgrade“ denken. Durch das Replikationsprojekt wurde eine Vielzahl von Mängeln zutage gefördert, die von einer zu kleinen Stichprobe bis zu analytischen Fehlern reichten. Die Folge waren Schlagzeilen rund um den Globus, die von einer Replikationskrise in der Wissenschaft sprachen. Und man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass diese Krise nur die Psychologie betroffen hätte. John Ioannidis (der uns durch seinen früheren Aufsatz „Most Research Results are Wrong“ (Die meisten Forschungsergebnisse sind falsch) bekannt ist) wies darauf hin, dass das Problem auf anderen Gebieten, etwa der Zellbiologie,

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den Wirtschaftswissenschaften, den Neurowissenschaften oder der Medizin, noch gravierender sein könne.81 „Viele der Biases, die in der Psychologie vorkommen, sind allgegenwärtig“, schrieb er.82 Andere stimmten ihm zu.83 Natürlich waren manche auch skeptisch. Norbert Schwarz, ein Psychologe an der University of Southern California, kommentierte: „Es besteht kein Zweifel daran, dass die Replikation wichtig ist, aber oft ist sie nur ein Angriff, ein Fall von Vigilantismus.“ Obwohl er an keiner der ursprünglichen Studien beteiligt gewesen war, äußerte er im Anschluss den Vorwurf, die Replizierungsstudien selbst seien so gut wie nie auf Fehler in ihrem Studiendesign oder ihrer Analyse geprüft worden.84 Doch genau das geschah kurz darauf. Im März 2016 veröffentlichten drei Forscher der Harvard University (Daniel Gilbert, Gary King und Stephen Pettigrew) und Timothy Wilson, ein Kollege Noseks von der University of Virginia, ihre eigene Analyse der Replizierungsstudien des Center for Open Science, in der sie darlegten, dass „die Forschungsmethoden, die bei der Replikation dieser Studien angewendet wurden, schlecht konzipiert, unangemessen in der Anwendung waren und statistische Fehler in die Daten eingebracht hätten“.85 Als die Analyse der ursprünglichen Studien unter Anwendung einer sorgfältigeren Methodik wiederholt wurde, lag die Reproduzierbarkeit bei fast 100 %. Wilson schrieb dazu, „[die ­Nosek-Studie] bekam so viel Medienaufmerksamkeit und es wurden die falschen Schlüsse daraus gezogen. … Es ist ein Fehler, ausgehend von etwas so schlecht Gemachtem verallgemeinern zu wollen, und wir sind der Ansicht, dass die Studie schlecht gemacht war.“86 Diese Situation ist für alle, denen die Wissenschaft am Herzen liegt, ein atemberaubender Moment. Und, wie ich meine, eines der besten Beispiele der kritischen Einstellung in der Wissenschaft, die man sich vorstellen kann. Eine Studie wird veröffentlicht, die eine mangelhafte Methodik in einigen anderen Studien belegt, und dann wird – nicht einmal einen Monat später – bekannt, dass die Studie, die die Mängel nachgewiesen hat, selbst mangelhaft ist. Statt hier „Keystone Cops“, also unfähige Prüfer am Werk zu sehen, sollte man besser anerkennen, dass wir in der Wissenschaft ein System haben, in dem die Prüfer selbst wieder überprüft werden, eine Kontrolle der Kontrolle durchgeführt wird, um Fehler zu vermeiden und der Wahrheit ein Stück näherzukommen. Worin bestanden die Fehler in Noseks Studien? Ihre Ursachen sind zahlreich. 1. Nosek et al. wählten die Studien für ihre Replizierungsversuche nicht randomisiert, also zufällig aus. Wie Gilbert erklärt, „entwickelten sie eine eigenartige, willkürliche Liste mit Auswahlregeln, durch die die ­Mehrheit

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der Teildisziplinen der Psychologie von der Stichprobe ausgenommen wurde, womit ganze Klassen von Studien, deren Methodik wahrscheinlich zum Besten in der Wissenschaft gehörte, ausgeschlossen wurden. … Im weiteren Verlauf verstießen sie gehen ihr gesamtes eigenes Regelwerk.  … Daher war unsere erste Feststellung die, dass sie, egal wie der Befund lautete – ob gut oder schlecht –, von Anfang an keine Chance hatten, eine Einschätzung der Replizierbarkeit psychologischer Wissenschaft zu entwickeln, wie sie sich es ja im Titel ihrer Arbeit eigentlich auf die Fahnen geschrieben hatten.“87 2. Manche ihrer Studien kamen einer exakten Replikation nicht einmal ansatzweise nahe. In einem der gravierendsten Fälle versuchte das Team vom COS eine Studie zu wiederholen, deren Thema die Einstellung zu positiver Diskriminierung war und die an der Stanford University durchgeführt worden war. In der ursprünglichen Studie hatte man weiße Studenten an der Universität gebeten, sich ein Video anzusehen, in dem sich vier andere Stanford-Studenten – drei weiß und einer schwarz – über das Thema Rasse unterhielten. In diesem Gespräch äußerte sich einer der weißen Studenten in beleidigender Weise. Man fand heraus, dass die Beobachter den schwarzen Studenten signifikant länger ansahen, wenn sie glaubten, er habe die Beleidigung hören können, und kürzer, wenn sie meinten, dies sei nicht der Fall gewesen. In ihrem Replikationsversuch zeigten die Forscher des COS das Video einer Gruppe von Studenten an … der Universität von Amsterdam. Es mag nicht überraschen, wenn niederländische Studenten, die englischsprachige Studenten beobachten, anders reagieren. Doch das eigentliche Ärgernis entstand erst im Anschluss. Das COS-Team bemerkte das Problem und wiederholte den Versuch an einer anderen amerikanischen Universität. Das Ergebnis glich dem der ursprünglichen Stanford-Studie. In ihrem Bericht aber ließen sie diesen erfolgreichen Replikationsversuch aus und begnügten sich stattdessen damit, das fehlgeschlagene Amsterdam-Experiment zu erwähnen.88 3. Es gab kein vereinbartes Verfahren zur quantitativen Analyse vor der Replizierung. Stattdessen nutzten Nosek und sein Team fünf verschiedene Messgrößen (darunter die Stärke des Effekts), um alle Ergebnisse zusammen zu betrachten. Es wäre besser gewesen, kommentierten Gilbert et al., sich auf eine Messgröße zu konzentrieren.89 4. Das Team vom COS versäumte es anzugeben, wie viele Fehlversuche bei der Replizierung man auf der Basis des reinen Zufalls hätte erwarten können. Eine hundertprozentige Erfolgsrate bei der Replizierung zu erwarten, ist auf dem Gebiet der statistischen Methodik nicht zu rechtfertigen. King erklärt dazu: „Wenn man 100 Studien repliziert, werden

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einige Versuche allein schon durch Zufall missglücken. Das ist Grundlagenwissen der Stichprobentheorie. Also muss man statistisch feststellen, wie viele Studien nur durch Zufall fehlschlagen werden, weil die Zahl der Fehlversuche, die am Ende herauskommt, sonst bedeutungslos ist.“90 Das Ergebnis all dieser Fehler ist, dass – wenn man sie einberechnet und korrigiert – die Replizierbarkeitsrate der ursprünglichen hundert Studien ungefähr so ausgefallen war, „wie man es erwarten würde, wenn jedes einzelne der ursprünglichen Ergebnisse korrekt gewesen wäre“.91 Auch Gilbert, King, Pettigrew und Wilson unterstellen Nosek und seinen Kollegen keinen Betrug oder ähnliches Fehlverhalten. „Wir wollen klarstellen“, betonte Gilbert, „dass keiner der an dieser Studie Beteiligten versucht hat, jemanden zu täuschen. Sie haben nur die Fehler gemacht, die Wissenschaftler manchmal machen.“92 Nosek beschwerte sich dennoch darüber, dass die Kritik an seiner Replikationsstudie in hohem Maße voreingenommen gewesen sei: „Sie entwickeln Annahmen basierend auf der selektiven Interpretation von Daten und ignorieren die Daten, die ihrem Standpunkt widersprechen.“93 Kurz gesagt unterstellte er ihnen fast exakt den Fehler, den sie ihm selbst unterstellt hatten – nämlich Rosinenpicken –, was wiederum Nosek et al. auch einigen der ursprünglichen Forscher vorgeworfen hatten. Wer hat nun recht? Vielleicht alle Beteiligten. Uri Simonsohn (einer der Co-Autoren der weiter oben erwähnten p-Hacking-Studie von Simmons et al.), der selbst nicht das Geringste mit diesem Hin und Her der Replikationskrise und ihren Nachwirkungen tun hatte, bezeichnete die statistischen Techniken sowohl des ursprünglichen Replikationsartikels als auch der Publikation zu seiner kritischen Analyse als „vorhersehbar unvollkommen“. Eine Sichtweise in dieser Situation sei, so Simonsohn, dass Noseks Aufsatz aussagte, das Glas sei zu 40 % voll, während die Aussage von Gilbert et al. lautete, es könne zu 100 % voll sein.94 Simonsohn erklärt dazu: „Die neuesten und besten Techniken, die zur Evaluation von Replikationen entwickelt wurden, sagen, es sei zu 40 % voll, zu 30 % leer und die verbleibenden 30 % könnten voll oder leer sein, was wir ohne weitere Daten nicht feststellen können.“95 Welche Implikationen ergeben sich daraus für die wissenschaftliche Grundhaltung? Sie zeigen sich an dieser letzten Aussage. Wenn wir keine Antwort auf eine empirische Frage gefunden haben, müssen wir weiterforschen. Forscher haben die wissenschaftliche Grundhaltung dazu genutzt, eine Studie zu überprüfen, die zuvor andere Studien geprüft hatte. Doch selbst hier müssen wir eine Kontrolle dieser Arbeit durchführen.

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Die  ­ Entscheidung darüber, was letztlich die angemessene Reaktion ist, liegt  – wie auch im Fall der kalten Fusion – bei der Wissenschaftsgemeinschaft als Ganzes. Selbst wenn sich alle hundert Studien, die im Rahmen des Reproducibility Project untersucht wurden, als korrekt herausstellen, muss man die Probleme, die im Hinblick auf das Data Sharing und die Replikation in der Wissenschaft bestehen, dennoch genauer prüfen. Diese Renovierungsarbeiten – die ganz sicher noch lange nicht abgeschlossen sind – haben gezeigt, dass wir mehr Transparenz in unserer Forschung, in der Dokumentation und bei der Replikation von Forschungsergebnissen brauchen. (Erinnern wir uns daran, wie wichtig der Replikationsstandard im Streit um die kalte Fusion war.) Und vielleicht lassen sich schon erste positive Anzeichen erkennen. Die Fachzeitschrift Psychological Science gab 2015 bekannt, dass Forscher dort künftig ihre Studienmethoden und analytischen Verfahren vor Beginn der Datenerhebung einreichen müssten, sodass man im Nachhinein eine Übereinstimmung abprüfen könne. Andere Fachzeitschriften schlossen sich dieser Vorgehensweise an.96 Die größere Wachsamkeit im Nachgang der „Reproduktionskrise“ ist eine positive Entwicklung für die Wissenschaft. Obwohl sie sicherlich für manche der Beteiligten peinlich war, stellt doch die Vermutung, dass nichts mehr unter den Teppich gekehrt werden kann, einen weiteren Erfolg für die wissenschaftliche Grundhaltung dar. Es lässt sich wohl kaum ein anderes Gebiet nennen, auf dem ein solcher Aufwand betrieben wird, um höchst sorgfältig die eigenen Fehler auszumerzen. Selbst im Angesicht öffentlicher Kritik bleibt die Wissenschaft unumstößlich ihren hohen empirischen Standards verpflichtet. Obwohl individuelles Fehlverhalten möglich ist, zeigt die „Replikationskrise“ deutlich, dass die wissenschaftliche Grundhaltung innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft lebendig ist.

Fazit In diesem Kapitel bin ich mit einigen Fehlern in der Wissenschaft hart ins Gericht gegangen. Meine Absicht war es dabei nicht, zu demonstrieren, dass Wissenschaft fehlerbehaftet ist (oder auch dass sie vollkommen ist), selbst wenn ich an manchen Stellen gezeigt habe, dass Wissenschaftler menschliche Wesen sind. Wir lieben unsere eigenen Theorien. Wir wünschen uns, dass sie korrekt sind. Wir machen sicherlich unentwegt Fehler in der Beurteilung und heben die Ergebnisse hervor, von denen wir hoffen, dass sie wahr sind. Selbst als eingefleischte Statistiker. Ich wollte nicht darauf

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hinaus, dass Wissenschaftler nicht denselben kognitiven Verzerrungen unterliegen wie wir alle, darunter der der „confirmation bias“ (Bestätigungsfehler) und das „motivated reasoning“ (motiviertes logisches Denken). Diese Verzerrungen könnten sogar der Grund für das p-Hacking sein, für die Weigerung, Daten zugänglich zu machen, für den allzu freiheitlichen Einsatz der Freiheitsgrade, für das Abhalten von Pressekonferenzen anstelle eines P ­ eer-Review-Verfahrens oder das Abliefern nichtreplizierbarer Arbeiten (selbst wenn der Untersuchungsgegenstand selbst nichtreplizierbare Arbeiten sind). Sollte an manchen Stellen aber der Eindruck aufgekommen sein, dass derartig schwere Irrtümer nur das Ergebnis absichtlicher Versäumnisse seien  – und daher in den Bereich von Betrug fallen –, bitte ich Sie, liebe Leser, einen Schritt zurückzutreten und als Grund auch unbewusste kognitive Verzerrungen in Betracht zu ziehen.97 Zum Glück ist die Wissenschaft als Gemeinschaft objektiver als ihre Mitglieder im Einzelnen. Die strengen wissenschaftlichen Kontrollmechanismen bilden einen Schutz vor individuellen Biases. Wir haben in diesem Kapitel an verschiedenen Beispielen gesehen, dass durch individuellen Ehrgeiz und mentale Schwächen entstandene Probleme mithilfe der sorgfältigen Umsetzung der gemeinschaftlichen Prüfverfahren korrigiert werden konnten. Es ist natürlich zu hoffen, dass alle Menschen, die wissenschaftlich arbeiten, auch die wissenschaftliche Grundhaltung einnehmen. Doch wie wir gesehen haben, ist die wissenschaftliche Grundhaltung mehr als nur die Denkweise des Einzelnen. Sie ist ein gemeinsames Ethos, das von einer Gemeinschaft der Gelehrten umgesetzt wird bei der Aufgabe, die Theorien der Fachkollegen anhand transparenter Standards zu prüfen. Hierin mag man den eigentlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft erkennen. Er besteht nicht darin, dass Pseudowissenschaftler öfter kognitiven Verzerrungen unterliegen, als Wissenschaftler es tun. Er besteht nicht einmal darin, dass Wissenschaftler rationaler wären (wenn ich auch hoffe, dem wäre so). Stattdessen liegt der Unterschied darin, dass die Institution Wissenschaft sich gemeinschaftlich darum bemüht hat, gesicherte Standards zum Schutz vor unseren schlechtesten menschlichen Charakterzügen zu entwickeln und deren Auswirkungen so korrigieren zu können. Auf diese Weise erhalten wissenschaftliche Theorien eine begründete Verlässlichkeit, die über die Überzeugungen derer hinausgeht, die diese Theorie entwickelt haben. Wissenschaft ist das beste Verfahren, um menschengemachte Fehler im Bereich empirischer Fragestellungen aufzudecken. Und das nicht aufgrund der Aufrichtigkeit einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder weil sie die wissenschaftliche Grundhaltung umsetzen würden. Wissenschaft ist deshalb das beste Verfahren, weil ihre A ­ rbeitsprozesse

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(strenge,  quantitative Methodik, Überprüfung durch Fachkollegen, Anerkennung von empirischen Belegen für und wider die eigene Arbeit) auf der Gemeinschaftsebene durch die wissenschaftliche Grundhaltung gestützt werden. Entscheidend ist die wissenschaftliche Grundhaltung – nicht die wissenschaftliche Methode. Vor diesem Hintergrund müssen wir nicht länger vorgeben, die Wissenschaft sei vollkommen „objektiv“ und „Werte“ seien unbedeutend. Im Gegenteil, Werte sind ein entscheidender Faktor dessen, was den Sonderstatus der Wissenschaft ausmacht. Kevin deLaplante schreibt, die „Wissenschaft ist doch ein stark ‚wertebeladenes‘ Unterfangen. Gute Wissenschaft ist ebenso wertebeladen wie schlechte Wissenschaft. Was die gute Wissenschaft von der schlechten unterscheidet, ist nicht das Fehlen von Werturteilen, sondern die Art der Werturteile, die getroffen werden.“98 Es bleiben noch einige Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten. Wie sollten wir mit den Menschen umgehen, die nur von sich behaupten, eine wissenschaftliche Grundhaltung zu besitzen? Auf diese Frage werde ich in Kap. 8 genauer eingehen, in dem es um Pseudowissenschaft und Wissenschaftsleugnung gehen soll. Ich gehe aber davon aus, dass sich für Sie, liebe Leser, die Antwort bereits abzuzeichnen beginnt: Es ist nicht das Vertrauen des Einzelnen in die wissenschaftliche Grundhaltung – und sicher nicht ihre oder seine vielleicht auch falsche Überzeugung, diese bereits umzusetzen –, was für Aufrichtigkeit in der wissenschaftlichen Arbeit sorgt. Es ist die Aufgabe der Gemeinschaft, zu beurteilen, was Wissenschaft ist und was nicht. Doch genau an dieser Stelle stellt sich eine weitere Frage: Reicht es wirklich aus zu sagen, „die Gemeinschaft entscheidet“? Was passiert, wenn die gesamte Wissenschaftsgemeinschaft falsch liegt? Auch mit diesem Problem werde ich mich in Kap. 8 auseinandersetzen und dabei die Situationen beschreiben, in denen der einzelne Wissenschaftler – wie etwa Galilei – im Recht war, die Gemeinschaft jedoch auf einem Irrweg.99 Harlon Bretz’ Theorie, nach der eine Megaflut die Scablands im östlichen Teil des US-Bundesstaats Washington geschaffen habe, soll hier als unterhaltsames, etwas weniger bekanntes Beispiel dienen. Auch werde ich einige Gegenargumente für die Behauptung liefern, die Klimawandelleugner von heute seien doch nur die Galileis von morgen. Und ich werde, wie versprochen, in Kap. 7 das Thema „Betrug in der Wissenschaft“ näher beleuchten. Doch zuvor wollen wir für eine Weile das Reich der wissenschaftlichen Rück- und Fehlschläge verlassen und uns dem Beispiel einer unerhörten Erfolgsgeschichte der wissenschaftlichen Grundhaltung zuwenden: der modernen Medizin.

7 Wie die wissenschaftliche Grundhaltung die moderne Medizin veränderte

Es ist nicht schwer, sich die positiven Veränderungen vor Augen zu führen, die eine wissenschaftliche Grundhaltung auf einem Gebiet verursacht, dem es zuvor an Wissenschaft fehlte. Wir haben mit der modernen Medizin ein bestens geeignetes Beispiel zur Hand. Vor dem 20. Jahrhundert beruhten anerkannte medizinische Verfahren meist auf Vermutungen, Volkswissen und dem Prinzip Versuch und Irrtum. In einem großen Rahmen stattfindende Experimente waren unbekannt und eine Datenerhebung schwierig. Tatsächlich war sogar die Vorstellung wenig verbreitet, man müsse eine Hypothese anhand von empirischen Belegen überprüfen. All das änderte sich innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne, nach dem Bekanntwerden der Erregertheorie der Krankheiten in den 1860er Jahren und ihrer Übertragung auf die klinische Praxis im frühen 20. Jahrhundert.1 Wir haben bereits in Kap. 3 gesehen, dass Ignaz Semmelweis´ Entdeckung der Ursache für das Kindbettfieber ein Paradebeispiel dafür darstellt, was eine wissenschaftliche Grundhaltung in der Medizin bewirken kann. Es ist zudem deutlich geworden, wie weit Semmelweis seiner Zeit voraus war und dass er daher auf Widerstand stieß, der in seiner Härte unangemessen war. Die von Semmelweis praktizierte wissenschaftliche Grundhaltung setzte sich jedoch im Laufe der Zeit auf dem Gebiet der Medizin immer weiter durch. Ungefähr zeitgleich mit Semmelweis´ Arbeit fand die erste Operation unter Narkose statt. Zum ersten Mal in der Geschichte hatten die Chirurgen mehr Zeit für eine Operation zur Verfügung, da sie nicht mehr versuchen mussten, wache, vor Schmerzen schreiende Patienten ruhigzustellen. Diese Errungenschaft senkte allerdings © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_7

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nicht die Sterblichkeitsrate, denn die längere Operationsdauer erhöhte durch eine längere Zeitspanne offener Wunden das Infektionsrisiko.2 Erst nach der Entdeckung der Bakterien durch Pasteur und der Entwicklung des Sterilisationsprozesses durch Koch fand die Erregertheorie der Krankheiten eine stärkere Akzeptanz. Als schließlich Lister die antiseptischen Verfahren (durch die Erreger abgetötet wurden) und die antiseptische Chirurgie (durch die eine Infektion während der Operation verhindert werden konnte) im Jahr 1867 in die Medizin einführte, war es endlich möglich, Patienten eine Behandlung zukommen zu lassen, die nicht für sich genommen gefährlicher war als die Erkrankung selbst.3 In der Rückschau ist es allzu leicht, diese Errungenschaften als selbstverständlich zu betrachten. Wir wissen heute oft zu wenig zu schätzen, welche Bedeutung sie für das Entstehen eines Systems mit besseren quantitativen Forschungsmethoden, Laboranalysen, kontrollierten Studien und der Vorstellung hatten, dass Diagnose und Behandlung auf empirischen Belegen statt auf Intuition basieren sollten. Wir sollten aber nicht vergessen, dass sich die westliche Medizin schon immer selbst als wissenschaftlich betrachtet hat. Was sich allerdings verändert hat, ist die Bedeutung des Begriffs.4 Astrologische Medizin und Aderlass wurden in früheren Epochen als hochmoderne Verfahren angesehen, die auf den höchsten Prinzipien der Rationalität und Erfahrung beruhten. Man würde kaum einen Arzt des 18. Jahrhunderts finden – oder, wie ich mir vorstellen könnte, im antiken Griechenland –, der seine Kenntnisse nicht für „wissenschaftlich“ gehalten hätte.5 Wie könnte man daher behaupten, diese frühen Mediziner und Ärzte seien beklagenswert unwissend gewesen? Wie wir gesehen haben, fällt diese Beurteilung in den Bereich der Mitglieder des Berufsstands und hängt so von den akzeptierten Standards der jeweiligen Zeit ab. Und gemessen an diesen Standards war der Aderlass im frühen 19. Jahrhundert ein vollkommen akzeptiertes Verfahren. Ich möchte mit meinen Ausführungen in diesem Kapitel nicht die Überzeugungen einer bestimmten Epoche herabwürdigen, selbst wenn diese durch ungeprüfte Vermutungen in absurde Hypothesen mündeten und so zuweilen aufgrund aus heutiger Sicht kriminell zu nennender Inkompetenz den Tod von Patienten herbeiführten. Mein Ziel ist es vielmehr zu beleuchten, wie sich die Medizin aus diesen dunkleren Zeiten heraus in Richtung einer Epoche bewegt hat, in der ihre Verfahren auf der Basis sorgfältiger Beobachtungen, Berechnungen, Experimente und der geistigen Flexibilität beruhten. Und in der eine Errungenschaft (nur dann), wenn sie empirisch belegt war, auch akzeptiert wurde. Erinnern wir uns daran, dass die wissenschaftliche Grundhaltung es nicht nur erfordert, sich um Belege

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zu bemühen (was als Beleg betrachtet wird, kann sich im Laufe der Zeit ändern), sondern auch dass wir dazu bereit sind, unsere Theorien auf der Basis neuer Belege zu verändern. Genau diese letzte Forderung ist entscheidend, wenn ein Gebiet den Sprung von einer Pseudowissenschaft zu einer Wissenschaft, von bloßer Meinung zu begründeter Überzeugung zu schaffen versucht. Denn erst als diese geistige Haltung voll und ganz übernommen wurde – als Mediziner nicht mehr meinten, nur aus dem Glauben an die Tradition heraus bereits alle Antworten zu kennen, und sich die Auffassung durchsetzte, man könne aus Experimenten und von der Erfahrung anderer lernen – konnte sich die Medizin zu einer Wissenschaft entwickeln.

Die barbarische Vergangenheit William Bynum erinnert uns in seinem exzellenten Buch The History of Medicine: A Very Short Introduction daran, dass sich die westliche Medizin – obwohl Aderlass, giftige Tränke, Schädelbohrungen und eine Vielzahl anderer „Heilverfahren“ viel zu oft gefährlicher waren als die Krankheit selbst – immer als modern betrachtet hat.6 Eines der einflussreichsten medizinischen Systeme der Antike stammte von Hippokrates, dessen größter Verdienst (abgesehen vom Hippokratischen Eid, für den er natürlich bekannt ist) seine Erkenntnis war, wie die Theorie der „vier Säfte“ in der Medizin angewendet werden konnte. Roy Porter schreibt in seiner meisterhaften Arbeit The Greatest Benefit to Mankind (Die Kunst des Heilens: Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute): Von Hippokrates im 5. Jahrhundert vor Christus bis zu Galen im 2. Jahrhundert nach Christus konzentrierte sich die „humorale Medizin“ (Säftelehre) auf die Analogien zwischen den vier Elementen der äußeren Natur (Feuer, Wasser, Luft und Erde) und den vier „Humores“ oder Körpersäften (Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle), deren Gleichgewicht über die Gesundheit entschied.7

Diese Theorie war beeindruckend und ihr Potenzial als Erklärungsmodell faszinierend. Da man die Entstehung einer Krankheit auf ein Ungleichgewicht der Säfte zurückführte – Erkältungen auf Schleim, Erbrechen auf Galle usw. –, konnte man die Gesundheit erhalten, indem man sie im Gleichgewicht hielt. Dazu dienten Verfahren wie der Aderlass.8

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Obwohl der Aderlass durch Hippokrates entwickelt wurde, sorgte Galen für seine weite Verbreitung als eine Praktik, die anschließend für mehr als tausend Jahre (auch noch im gesamten 19. Jahrhundert) als therapeutische Behandlungsmaßnahme anerkannt war. Galen hatte vier Werke über den Puls verfasst und die Erkenntnis gewonnen, der Aderlass erlaube es dem Heilkundigen, von dem Beispiel natürlicher Prozesse zu profitieren, in denen die Entfernung überschüssiger Körperflüssigkeiten – wie bei der Menstruation – Erkrankungen verhindere.9 Porter beschreibt, Galen habe, welcher Art auch immer die Erkrankung gewesen sei (also selbst im Fall von Blutverlust) den Aderlass für eine angemessene Maßnahme gehalten.10 So ließ man die Patienten oft bis zur Bewusstlosigkeit zur Ader (was in manchen Fällen zum Eintritt des Todes führte). Der Aderlass ist nicht das einzige antike medizinische Verfahren, das wir aus heutiger Sicht für barbarisch halten. Auch Praktiken wie Schädelbohrungen, die Anwendung von Blutegeln, die Einnahme von Quecksilber, die äußere Anwendung tierischer Exkremente in Form von Dung und viele andere gehören wohl dazu. Bestürzend ist vor allem, dass sich solche haltlosen Vorstellungen ohne Widerspruch durch die Jahrhunderte hindurch tradiert haben, mit der Konsequenz, dass bis vor relativ kurzer Zeit – gemessen an der Geschichte der Medizin – Patienten oft von ihren Ärzten ebenso viel zu befürchten hatten wie von der Krankheit, die sie ereilt hatte. Entscheidend ist nicht nur, dass die zu jener Zeit kursierenden Theorien falsch waren – wir haben bereits angesprochen, dass sich viele wissenschaftliche Theorien als falsch erweisen werden. Es ist auch der Umstand, dass die meisten dieser Vorstellungen gar nicht auf der Basis wie auch immer gearteter empirischer Belege oder Experimente formuliert wurden. Die Medizin besaß noch keine wissenschaftliche Grundhaltung.

Die Entstehung der wissenschaftlichen Medizin Der Ausgang aus dieser nichtempirischen Phase der Medizin vollzog sich bemerkenswert langsam. Die scholastische Tradition hielt sich in der Medizin noch lange, als man sie in der Astronomie und Physik bereits hinter sich gelassen hatte. Die Folge war, dass selbst 200 Jahre, nachdem im 17. Jahrhundert die wissenschaftliche Revolution begonnen hatte, medizinische Fragen noch immer durch Theorie und Argument beantwortet wurden – wenn sie überhaupt beantwortet wurden – und nicht auf der Basis kontrollierter Experimente.11 Sowohl die empirischen als auch die klinischen Verfahren der Medizin blieben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

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mehr oder weniger rückständig. Selbst die junge medizinische Wissenschaft, die sich in der Renaissance zu entwickeln begann, hatte mehr Auswirkungen auf theoretisches Wissen als auf die Gesundheit.12 Trotz der Durchbrüche in der Anatomie und der Physiologie in der frühen Neuzeit (wie beispielsweise Harveys Werk über den Blutkreislauf aus dem 17. Jahrhundert) nahmen sich, wie Porter es schildert, die Errungenschaften der Medizin auf dem Papier beeindruckender aus als am Bett des Patienten.13 Sogar die einzige eindeutige Errungenschaft in der medizinischen Versorgung des 18. Jahrhunderts – die Pockenimpfung – ist für manche weniger das Ergebnis von Wissenschaft als die Umsetzung verbreiteten Volkwissens.14 Diese „nichtwissenschaftliche“ Sichtweise hielt sich in der Medizin das gesamte 18. Jahrhundert hindurch (das auch als das „Zeitalter der Quacksalberei“ bekannt war). Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die moderne Medizin tatsächlich im Entstehen begriffen.15 In seinen unterhaltsamen Memoiren mit dem Titel The Youngest Science nimmt Lewis Thomas eine Gegenüberstellung der heutigen wissenschaftlichen Medizin vor mit der Medizin, die im frühen 19. Jahrhundert gelehrt und praktiziert wurde, als alles, was dem Arzt zufällig durch den Kopf schoss, auch bei der Behandlung von Krankheiten ausprobiert wurde. Die medizinische Fachliteratur dieser Jahre liest sich heute wie eine Horrorgeschichte: Ein wissenschaftlicher Artikel nach dem anderen lässt sich über die Vorzüge des Aderlasses aus sowie des Schröpfens, des gnadenlosen Abführens, des Einsatzes blasenziehender Tinkturen, des Badens in entweder eiskaltem oder unerträglich heißem Wasser oder beschreibt endlose Listen botanischer Extrakte, die gekocht und zusammengemischt werden ohne irgendeinen anderen Hintergrund als schlichte spontane Eingebung. … Die meisten Präparate, die allgemein in Gebrauch waren, schadeten wohl eher, als dass sie nützten.16

Der Aderlass erfreute sich besonderer Beliebtheit, was zum Teil auf seinen begeisterten Verfechter, den angesehenen Arzt Benjamin Rush, zurückzuführen war. Als ein Überbleibsel vormittelalterlicher Zeiten sagte man dem Aderlass enorme gesundheitsfördernde Eigenschaften nach und er bildete einen der „extremen Eingriffe“, die als in der Heilkunde notwendig betrachtet wurden. In seiner wichtigen Arbeit Seeking the Cure beschreibt Dr. Ira Rutkow, dass die Bürger als Konsequenz aus Rushs Geltungsbedürfnis und seines Mangels an wissenschaftlicher Methodik unnötigerweise leiden mussten. In einer Zeit, in der niemand die Technik der Blutdruckmessung oder einer Messung der

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Körpertemperatur kannte und Mediziner die große Bedeutung der Herz- und Atemfrequenz zu erkennen begannen, besaßen Amerikas Ärzte keine Parameter, die eine Schädigung der Patienten hätten verhindern können.17

Und Schaden entstand in der Tat. Ärzte ließen manche der Patienten mit 16 Unzen pro Tag zur Ader und das für bis zu 14 Tage in Folge. … Im Vergleich dazu dürfen heutige Blutspender ein Pint (16 Unzen) pro Sitzung spenden, mit einem Minimalabstand von zwei Monaten zwischen den Sitzungen. Die Mediziner des 19. Jahrhunderts prahlten mit der Anzahl ihrer Aderlass-Triumphe, als handele es sich bei dieser Statistik um eine Beschreibung ihrer gesamten Karriere. … Das hohe Ansehen des Aderlasses war so fest verankert, dass selbst die häufigen Komplikationen und Fälle von gänzlichem Versagen bei der Therapie den Einfluss von Rushs Arbeit nicht mindern konnten.18

Rush ereilte das passende Schicksal, indem er im Jahr 1813 infolge eines Aderlasses zur Behandlung seiner Typhuserkrankung verstarb.19 Doch der Aderlass stellte nicht die einzige grausame Praktik dieser Zeit dar. Man praktizierte Medizin buchstäblich in der Dunkelheit. Die Elektrizität war neumodisch und unpopulär. Fast alle von einem Arzt vollzogene Handlungen  – invasive Untersuchungen, anspruchsvolle operative Eingriffe, komplizierte Geburten – mussten bei Sonnen- oder Lampenlicht stattfinden. Die Grundlagen der modernen Medizin, wie die Übertragungsmechanismen von Krankheiten, stießen noch immer auf erbitterten Widerstand. Die Ursachen selbst der gewöhnlichsten Erkrankungen verwirrten Ärzte noch immer. Benjamin Rush vertrat die Ansicht, das Gelbfieber sei auf verdorbenen Kaffee zurückzuführen. Die Überzeugung, Tetanus sei eine Reflexreizung, war weit verbreitet. Die Appendizitis wurde als Peritonitis bezeichnet und Patienten mit dieser Erkrankung verstarben unbehandelt. Die Rolle, die Ärzte – und ihre ungewaschenen Hände und Instrumente – bei der Übertragung von Krankheiten spielten, verstand man nicht. Das „grauenvolle Gespenst der Sepsis“ war allgegenwärtig. Es war zuverlässig zu erwarten, dass Wunden früher oder später faulen und eitern würden, sodass man eine Kategorisierung des Eiters entwickelte. … Es gab keine Standardisierung in der Medizin, daher kam es häufig zu unabsichtlichen Vergiftungen. Selbst „professionell“ hergestellte Medikamente waren oft unförmig und Übelkeit erregend. Der Aderlass war noch immer eine weit verbreitete Praktik und selbst die konservativsten Ärzte verabreichten erschreckend große Mengen an Abführmitteln. Fieber mit kalten Bädern zu behandeln, wäre „als Mord

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betrachtet“ worden. Es gab keine Narkose – weder gänzlich noch lokal. Hatte man schmerzhafte Prozeduren zu erdulden, wurde meist Alkohol eingesetzt … und reines Opium [war] ebenfalls mitunter verfügbar. Ging man mit einem komplizierten Bruch zum Arzt, hatte man eine 50-%ige Überlebenschance. Chirurgische Eingriffe an Gehirn und Lunge wagte man nur bei Unfallopfern. Die Blutung während einer Operation war oft haarsträubend stark, aber, wie es ein Arzt auf so beruhigende Weise formulierte, „für gewöhnlich nicht tödlich“.20

Es ist wichtig, die Situation, die zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten herrschte (wo man recht spät auf den wissenschaftlichen Zug der Medizin aufsprang), mit dem Fortschritt zu vergleichen, der sich in Europa bereits zu entwickeln begann. Paris war im frühen 19. Jahrhundert das Zentrum vieler Neuerungen im Bereich medizinischer Erkenntnisse und Verfahren, vielleicht auch aufgrund einer Entwicklung nach der Revolution, als die Hospitäler aus den Händen der Kirche in die Verantwortlichkeit des Staates übergingen.21 In Paris herrschte eine eher empirisch geprägte Sichtweise vor. Man führte Leichenöffnungen durch, um Diagnosen zu untermauern. Ärzte stützten sich bei Untersuchungen auf die Errungenschaften des Abtastens, des Abklopfens und des Abhörens und René Laënnec erfand das Stethoskop. Eine allgemeine, eher naturalistisch geprägte Sichtweise sorgte dafür, dass Medizinstudenten auch direkt bei der Behandlung von Patienten in den Krankenhäusern lernten. Diese Entwicklungen, die steigende Zahl wissenschaftlicher Labore in Deutschland und die stärkere Nutzung des Mikroskops durch Rudolf Virchow und andere führten zu Fortschritten in der Grundlagenforschung.22 Medizinstudenten aus allen Teilen der Welt  – besonders aus den Vereinigten Staaten – strömten nach Frankreich und Deutschland, um eine eher wissenschaftlich fundierte Ausbildung genießen zu können. Dennoch vollzog sich die Verbreitung dieser praktischen medizinischen Verfahren auf beiden Seiten des Atlantiks in einem langsamen Tempo. Wie bereits angeklungen ist, gehörte Semmelweis zu den ersten Ärzten, die eine wissenschaftlichere Einstellung zur Patientenversorgung besaßen, ungefähr zu der Zeit, als in Boston die erste Narkose durchgeführt wurde. Und doch stießen diese Fortschritte auf Widerstand.23 Ein wirklicher Durchbruch erfolgte in den 1860er Jahren mit der Erregertheorie der Krankheiten. In seinen frühen Arbeiten beschäftigte Pasteur sich mit der Gärung und der verzwickten Frage der „Spontanzeugung“. Pasteur wollte in seinen Experimenten zeigen, dass Leben nicht aus bloßer Materie entstehen könne. Doch warum „verdarb“ dann Brühe in einem Gefäß, wenn man dieses offen stehen ließ, und zeigte die Bildung von Organismen?24

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Pasteur … entwickelte eine elegante Versuchsreihe. Er leitete Luft durch einen Pfropfen aus Schießbaumwolle (Cellulosetrinitrat), den er in ein Glasrohr gesteckt hatte; dieses war zur Atmosphäre außerhalb seines Labors hin offen. Dann löste er die Schießbaumwolle auf, und im Sediment fanden sich dieselben Mikroorganismen wie in den gärenden Flüssigkeiten. Offensichtlich waren die fraglichen Organismen in der Luft enthalten.25

In seinen späteren Experimenten wies Pasteur nach, dass diese Organismen durch Hitze abgetötet werden konnten. Er benötigte noch einige Jahre, um weitere Experimente durchzuführen, mit unterschiedlich geformten Kolben, die an unterschiedlichen Orten aufgestellt wurden. Doch im Februar 1878 war er so weit, seine Erregertheorie der Infektion vor der Pariser Akademie der Medizin vorzustellen, gefolgt von einem Aufsatz, in dem er beschrieb, dass Mikroorganismen für die Verbreitung von Krankheiten verantwortlich seien.26 Die Wissenschaft der Bakteriologie war geboren. Listers Arbeiten zur Antisepsis – durch die eine Infektion von Wunden während chirurgischer Eingriffe verhindert werden sollte – erwuchs direkt aus Pasteurs Erkenntnissen über Mikroorganismen.27 Lister hatte schon früh Pasteurs Vorstellungen übernommen, die bis in die 70er Jahre hinein noch immer abgelehnt und missverstanden wurden.28 Als 1871 der US-Präsident James Garfield von einem Attentäter angeschossen worden war, starb er viele Monate später. Viele waren der Ansicht, nicht die Kugel, die sich noch immer in seinem Körper befunden hatte, sei die Todesursache gewesen, sondern die Behandlung durch einige der prominentesten Ärzte der Zeit, die bei ihren Untersuchungen und der Versorgung der Wunde weder Hände noch Instrumente gereinigt hatten. Während des Prozesses versuchte der Attentäter sogar, sich durch die Aussage zu verteidigen, nicht er, sondern die Ärzte hätten den Präsidenten durch Kunstfehler umgebracht.29 Robert Kochs Laborarbeiten brachten im Deutschland er 1880er Jahre weitere Fortschritte für die Medizin. Die Skeptiker der Erregertheorie hatten sich immer an der kritischen Frage aufgehalten, wo denn der sichtbare Nachweis der Mikroorganismen bliebe („Wo sind diese kleinen Biester?“), und sich geweigert, die Realität nicht sichtbarer Phänomene zu akzeptieren.30 Koch war es nun gelungen, diese Frage zu beantworten. Seine Arbeiten am Mikroskop bildeten nicht nur die physische Basis der Erregertheorie, sondern wiesen auch die Erreger selbst nach, die für die jeweiligen Krankheiten verantwortlich waren.31 Damit brachen die goldenen Jahre der Bakteriologie an (1879–1900), in denen es gelang, „pro Jahr jeweils einen Erreger der schwersten Krankheiten zu entdecken“.32

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Diese Erfolge könnten uns zu einer kritischen Nachfrage veranlassen. Wenn doch nun ein goldenes Zeitalter der Entdeckungen in der Bakteriologie herrschte – mit erstaunlichen Erfolgen durch sorgfältige empirische und experimentelle Arbeit in der Medizin –, warum hatte dies keinen unmittelbaren positiven Einfluss auf die Patientenversorgung? Es gab zwar einige direkte Vorteile (beispielsweise Pasteurs Arbeiten zur Tollwut und Milzbrand), aber man hat dennoch den Eindruck eines Ungleichgewichts zwischen guter wissenschaftlicher Arbeit und deren praktischer Umsetzung in der Patientenversorgung. Wenn hier doch der Beginn eines neuen Respekts vor empirischen Belegen in der medizinischen Forschung deutlich wird, warum verzögerte sich die Wirkung dieser neuen Sichtweise auf die klinische Praxis in einem solchen Maße? Am Ende des 19. Jahrhunderts existierten an wirksamen Arzneimitteln eigentlich nur Quecksilber gegen Syphilis und Kopfgrind (Favus), Digitalis zur Stärkung des Herzens, Amylnitrat zur Arterienerweiterung, Chinin gegen Malaria und Colchicum gegen Gicht. … Aderlass, Schwitzen, Abführen, Erbrechen und andere Methoden, den Körper von schlechten Säften zu befreien, entsprachen den im Volk verbreiteten Vorstellungen und waren für die Mediziner Mittel der Wahl. Die Beliebtheit des Aderlasses ließ nach, ohne dass jedoch irgendetwas Besseres an seine Stelle trat.33

Vielleicht lässt sich dieses Phänomen zum Teil dadurch erklären, dass zu dieser Zeit Experiment und Praxis in den Händen verschiedener Personengruppen lagen. Die soziale Teilung der medizinischen Gemeinschaft führte zu dem ungeschriebenen Gesetz, nach dem Forscher nicht praktizieren und praktische Ärzte nicht forschen sollten. Bynum beschreibt dies in seiner Arbeit The Western Medical Tradition wie folgt: Der Begriff „Wissenschaft“ besaß für die unterschiedlichen Gruppen innerhalb der größeren medizinischen Gemeinschaft unterschiedliche Bedeutungen.  … „Klinische Wissenschaft“ und „experimentelle Medizin“ standen in einem geringen Kontakt zueinander. … Diese beiden Unterfangen fielen zunehmend in den Bereich unterschiedlicher Berufsgruppen. … Diejenigen, die Fachwissen generierten, waren nicht unbedingt auch diejenigen, die es zur Anwendung brachten.34

Damit hatte die wissenschaftliche Revolution, die bereits 200 Jahre zuvor andere Gebiete (wie die Physik, Chemie und Astronomie) verändert hatte – mit der kontinuierlichen Diskussion methodologischer Fragestellungen und der angemessenen Beziehung zwischen Theorie und Praxis –, nur

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wenige Auswirkungen auf die Medizin.35 Selbst nach der „bakteriologischen Revolution“, als sich das Grundlagenwissen der Medizin auszuweiten begann, waren die Mängel in der klinischen Praxis noch immer eklatant. Lange Zeit berührte der Streit um die Methodik der Naturphilosophie die Medizin nur am Rande. Die Heilkunst verließ sich nach wie vor auf ihre eigenen kanonischen Werke und erwarb ihr Wissen auf eigenen Wegen: am Krankenbett und im anatomischen Hörsaal. Die meisten Ärzte schworen auf ihr Fingerspitzengefühl und ihre am Krankenbett erworbene Erfahrung.36

Trotz der Fortschritte hatte sich die Medizin noch nicht zu einer Wissenschaft entwickelt. Das hart erarbeitete Grundlagenwissen stand zwar all jenen zur Verfügung, die sich aktiv darum bemühten, aber ein systematisches Problem blieb noch ungelöst: Wie sollte man die Kluft zwischen Fachwissen und praktischer Heilkunst in der Versorgung von Patienten überwinden und wie sicherstellen, dass die neuen wissenschaftlichen Errungenschaften an die Studenten weitergegeben wurden, in deren Händen die Zukunft des ärztlichen Berufsstandes lag?37 Die Medizin sah sich an diesem Punkt mit einem organisatorischen Problem konfrontiert, das nicht nur den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn betraf, sondern auch die Weitergabe dieser Erkenntnisse. Es gab keine gut funktionierenden, standardisierten Prozesse, durch die wissenschaftliche Errungenschaften den Ärzten in der Patientenversorgung hätten zugutekommen können. Vielmehr war die Medizin zu dieser Zeit als ein umkämpftes Gebiet von Rivalitäten und Konkurrenz geprägt.38 Obwohl einige der führenden Persönlichkeiten bereits die wissenschaftliche Grundhaltung eingenommen hatten, wartete die Medizin als Fachgebiet noch auf den Beginn ihrer eigenen Revolution.

Der lange Übergang in die klinische Praxis Was auch immer der Grund gewesen sein mochte – sei es ideologisch geprägter Widerstand, Ignoranz, mangelnde Ausbildung, das Fehlen professioneller Standards, die Kluft zwischen Forschung und Praxis: Der Übergang zum Einsatz der medizinischen Wissenschaft in der Behandlung von Kranken vollzog sich nur langsam. Einige der erschreckenden Geschichten über unerprobte medizinische Verfahren und Präparate erstreckten sich sogar noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein. In den Vereinigten Staaten blieb die medizinische Ausbildung mangelhaft und es fehlte

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weiterhin an professionellen Standards, anhand derer man Ärzte für ihre bisweilen fehlerbehafteten Behandlungsweisen hätte zur Rechenschaft ziehen können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besaßen Ärzte noch immer nicht das notwendige Wissen, um die meisten der grassierenden Krankheiten heilen zu können, auch wenn die zur Diagnose erforderlichen Kenntnisse verbreiteter waren. Nachdem die Erregertheorie allgemein Akzeptanz gefunden hatte, war es nun nicht mehr ganz so wahrscheinlich wie in den Jahrhunderten zuvor, dass ein Arzt seine Patienten durch Behandlungsfehler in tödliche Gefahr brachte. Doch die wissenschaftlichen Durchbrüche der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts verhalfen der Patientenversorgung noch immer nicht zu größeren Erfolgen. Lewis Thomas schreibt dazu: Die Erklärung fand sich in der realen Berufspraxis der Medizin. Am dringendsten verlangte es den erkrankten Patienten und seine Familie nach einer Bezeichnung der Krankheit, danach, wenn möglich, nach der Benennung der Ursache und schließlich nach dem wichtigsten Punkt, nämlich der Prognose des Krankheitsverlaufs. … Denn trotz des Anscheins eines Gelehrtenberufs war [die Medizin] in Wirklichkeit eine zutiefst unwissende Profession. … Ich erinnere mich nur an drei oder vier Patienten, für die aus der Diagnose auch eine mögliche Einflussnahme auf den Krankheitsverlauf resultierte. … Im Fall der meisten infektiösen Erkrankungen auf den Stationen des Boston City Hospitals konnte man 1937 nichts weiter unternehmen, als den Patienten Bettruhe und eine gute Pflege zukommen zu lassen.39

James Gleick zeichnet ein ähnlich düsteres Bild der medizinischen Praxis dieser Zeit. Noch im 20. Jahrhundert rang die Medizin um ein wissenschaftliches Fundament, das die Physik schon im 17. Jahrhundert zu bauen begonnen hatte. Ärzte übten eine Autorität aus, die Heilern stets in der Geschichte der Menschheit zugekommen war, sie benutzten eine spezielle Fachsprache und umgaben sich mit der Aura der Allwissenheit. Ihr Wissen war jedoch eine Mischung aus Volksweisheiten und quasi-wissenschaftlichem Gehabe. Nur wenige medizinische Forscher beherrschten die Grundlagen statistischen Experimentierens unter kontrollierten Bedingungen. Die Autoritäten empfahlen oder verwarfen Therapien ungefähr in der Weise, wie sich Theologen für oder gegen ihre Glaubenssätze aussprachen, wobei eine Kombination aus persönlicher Erfahrung, abstrakter Beweisführung und ästhetischem Urteil für ihre Entscheidung ausschlaggebend war.40

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Aber der Boden für eine Veränderung war bereitet und ein großer Teil dieser Veränderung war sozialer Natur. Mit den Fortschritten auf den Gebieten der Narkose und der Antisepsis, gepaart mit den bakteriologischen Erkenntnissen von Pasteur und Koch, war die klinische Medizin im frühen 20. Jahrhundert bereit, aus den Schatten des vergangenen Unwissens herauszutreten. Indem sich diese Entdeckungen verbreiteten, wurde die Vielfalt der unterschiedlichen Behandlungsmethoden und Praktiken in der klinischen Medizin beschämend deutlich. Natürlich hat Kuhn uns gezeigt, dass eine der stärksten Kräfte, die bei einem Paradigmenwechsel zum Tragen kommen, sich darin zeigt, dass die Verweigerer aussterben und mit ihnen ihre überkommenen Vorstellungen, während die neuen Erkenntnisse von den jüngeren Mitgliedern der Gemeinschaft umgesetzt werden. Auch im Fall des Vorzeichenwandels in der Medizin mag dieser Faktor eine Rolle gespielt haben (Charles Meigs, einer der schärfsten Kritiker von Semmelweis und seiner Theorie zur Entstehung des Kindbettfiebers und der Anästhesie, starb im Jahr 1869), aber die sozialen Veränderungen sind hier wohl in stärkerem Maße als treibende Kraft zu betrachten. Die moderne Medizin ist nicht nur eine Wissenschaft, sie ist auch eine soziale Institution. Und es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass es selbst in ihrer vorwissenschaftlichen Zeit soziale Kräfte waren, die Berufsbild und Praxis der ärztlichen Profession bestimmten. Eben diese sozialen Kräfte spielten auch bei der Entwicklung der Medizin zu einer Wissenschaft eine Rolle. Ganze Bücher sind der Sozialgeschichte der Medizin gewidmet. An dieser Stelle möchte ich daher nur auf einige der Faktoren eingehen. In seinem Buch The Social Transformation of American Medicine beschreibt Paul Starr, wie die demokratischen Grundsätze des jungen Amerika im Widerspruch zu der Vorstellung standen, medizinisches Wissen sei ein Privileg und die Heilkunst solle in den Händen einer Elite verbleiben.41 In der Frühzeit „ergriffen in den Kolonien Menschen aller möglichen Hintergründe den Beruf des Mediziners und nannten sich einen Doktor“.42 Als die Zahl der medizinischen Schulen zu steigen begann, versuchten sich diejenigen, die eine formale medizinische Ausbildung absolviert hatten, von den „Quacksalbern“ abzugrenzen, indem sie medizinische Berufsvereinigungen gründeten und eine Lizenz anstrebten. Man sollte annehmen, dass Bürger, die sich doch eine bessere medizinische Versorgung wünschten, solche Entwicklungen begrüßen würden. Doch das war nicht der Fall. Volksmedizin und die Behandlung durch medizinische Laien erfreuten sich noch immer großer Beliebtheit, weil viele in dem Streben nach Professionalisierung in der amerikanischen Medizin einen Versuch der

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Machtübernahme und Autoritätsaneignung sahen. Starr beschreibt dieses Phänomen so: Der verbreitete Widerstand gegen eine professionelle Medizin ist bisweilen als eine Feindseligkeit gegenüber Wissenschaft und Modernisierung dargestellt worden. Doch vor dem Hintergrund unserer heutigen objektiven Kenntnis der Unwirksamkeit therapeutischer Maßnahmen des frühen 19. Jahrhunderts kann man diese verbreitete Skepsis kaum als unbegründet bezeichnen. Mehr noch, im 19. Jahrhundert schließlich spiegelte der Volksglaube eine extreme Form der Rationalität wider, nach der Wissenschaft demokratisch zu sein hatte.43

Tatsächlich gab es in dem Maße, in dem im frühen Amerika bereits die Entwicklung medizinischer Lizenzstandards begonnen hatte, zu Andrew Jacksons Präsidentschaftszeit in den frühen 1830er Jahren organisierte Bestrebungen, diese als „Lizenzmonopole“ bezeichneten Standards wieder aufzulösen.44 Man mag es kaum glauben, aber diese Bestrebungen führten dazu, dass man für die nächsten 50 Jahre von der Entwicklung medizinische Lizenzstandards absah.45 Jeder, dem die medizinische Wissenschaft am Herzen liegt – ganz abgesehen von den Folgen für die Patientenversorgung –, mag diese Entwicklung sehr bedauern. Allerdings ist es im Hinblick auf die unsicheren medizinischen Behandlungsweisen dieser Zeit wohl auch verständlich, wenn sich die Menschen ernst fragten, ob der „professionelle“ Arzt eine so viel bessere Ausbildung genossen hatte oder über mehr medizinisches Fachwissen verfügte als ein Laienheiler.46 Dennoch kann man sich die Forderung, dass wissenschaftliche Erkenntnis „demokratisch“ sein müsse, kaum als eine vielversprechende Entwicklung für eine bessere Patientenversorgung vorstellen, wenn die wissenschaftsbasierten medizinischen Entdeckungen aus Europa noch immer nicht in der klinischen Praxis angekommen waren. Das Ergebnis war, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts – als in Europa die Revolution der medizinischen Grundlagenforschung stattfand – der Zustand der ärztlichen Ausbildung und Praxis noch immer beklagenswert war. Es gab von lokalen Ärzten betriebene medizinische „Diplommühlen“ in großer Zahl, in denen jedoch weder eine tatsächliche Vermittlung von theoretischem Wissen stattfand noch eine praktische ärztliche Ausbildung.47 Die Wiedereinsetzung des Lizenzsystems in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts führte zu etwas mehr professioneller Verantwortlichkeit, als damit auch die Vorstellung infrage gestellt wurde, ein Diplom sei die einzige Lizenz, die man für den Arztberuf benötige. Im Laufe der Zeit wurden die Anforderungen größer.

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Ein wichtiger Meilenstein war ein im Jahr 1877 in Illinois verabschiedetes Gesetz, das es einer staatlichen Kammer medizinischer Prüfer erlaubte, Diplome zweifelhafter Schulen abzulehnen. Per Gesetz mussten sich alle Ärzte registrieren lassen. Absolventen anerkannter Schulen erhielten eine Lizenz, andere mussten sich einer Prüfung unterziehen lassen. Von 3600 Nichtabsolventen, die 1877 in Illinois praktizierten, hatten 1400 innerhalb eines Jahres nachweislich den Bundesstaat verlassen. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte man Berichten zufolge insgesamt 3000 Ärzten die Tätigkeitsgrundlage entzogen.48

Die Standards der medizinischen Ausbildung lagen in Europa noch höher. Besonders in Deutschland fand die Ausbildung an Schulen statt, die Universitäten angegliedert waren (in Amerika war das selten der Fall). Im Laufe der Zeit führte dies auch in den USA zu einer Übernahme eines strengeren Ausbildungssystems mit der Gründung des Johns Hopkins Hospital im Jahr 1889 und der angegliederten medizinischen Hochschule vier Jahre später, deren Lehrplan alle Fächer umfasste sowie Praktika und Assistenzzeiten.49 Die medizinischen Hochschulen Harvard, Hopkins, Penn, Michigan, Chicago und einige andere in den Vereinigten Staaten, die Universitäten angegliedert waren, erfuhren weithin große Anerkennung.50 Und doch repräsentierten sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika nur einen Bruchteil der medizinischen Ausbildung. Im Jahr 1908 unternahm der medizinische Laie Abraham Flexner – unter der Ägide der Carnegie-Stiftung und des Rats für medizinische Ausbildung der AMA (der amerikanischen Ärztekammer) – eine Forschungsreise, um alle 148 medizinischen Hochschulen zu besuchen, die es in den Vereinigten Staaten gab. Was er vorfand, war erschreckend. Die angepriesenen Labore waren nirgends zu finden oder bestanden aus ein paar einsamen Reagenzgläsern, die man in Zigarrenschachteln verstaut hatte. Leichen stanken zum Himmel, weil man es versäumt hatte, die Sezierräume zu desinfizieren. Die Bibliotheken waren nicht mit Büchern bestückt und angebliche Dozenten vollauf damit beschäftigt, ihrer ärztlichen Praxis nachzugehen. Die scheinbar existierenden Zulassungsvoraussetzungen wurden jedem erlassen, der die Gebühren bezahlen konnte.51

Ein besonders plastisches Beispiel beschreibt Flexners Aufenthalt in einer medizinischen Schule in Des Moines im Bundesstaat Iowa. Der Dekan drängte ihn bei seinem Besuch zur Eile. Flexner hatte an manchen Türen die Worte „Anatomie“ und „Physiologie“ entdeckt, aber alle waren verschlossen und der Dekan gab an, er habe die Schlüssel nicht bei sich. Flexner beendete

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den Besuch, kehrte dann aber noch einmal zurück und bestach den Hausmeister, damit dieser ihm die Türen aufschloss. Alle Räume waren gleich eingerichtet: lediglich mit Tischen, Stühlen und einer kleinen Tafel.52 Als Flexners Bericht 1910 veröffentlicht wurde, stellte dieser eine Klageschrift gegen den überwiegenden Teil der medizinischen Ausbildungsstätten in den USA dar. Johns Hopkins bildete den Goldstandard und sogar einige andere angesehene Hochschulen wurden dazu ermutigt, das dort angewandte System zu übernehmen. Doch so gut wie alle der kommerziellen Schulen wurden als mangelhaft eingestuft. Die von Flexner geforderten Reformen umfassten unter anderem die Vermittlung naturwissenschaftlichen Grundlagenwissens in der medizinischen Ausbildung und die Angliederung seriöser medizinischer Schulen an Universitäten. Zudem seien angemessene wissenschaftliche Einrichtungen erforderlich. Er empfahl weiterhin, Studenten sollten vor dem Beginn der medizinischen Ausbildung mindestens zwei Jahre an der Hochschule absolvieren, die medizinische Lehre solle in Vollzeit stattfinden und die Zahl der medizinischen Hochschulen reduziert werden.53 Die Folgen waren unmittelbar und tief greifend. Bis zum Jahr 1915 war die Anzahl der [medizinischen] Schulen von ursprünglich 131 auf 95 gefallen und die Zahl der Absolventen von 5440 auf 3536. … Innerhalb von fünf Jahren wuchs die Zahl der Schulen, die mindestens ein Jahr Unterricht an einer Hochschule voraussetzten, von 35 auf 83 an. … Lizenzkammern, die Hochschulunterricht verlangten, von acht auf achtzehn. Im Jahr 1912 wurde durch einige Kammern eine freiwillige Vereinigung gegründet, der Verband der staatlichen Ärztekammern, und dort die Bewertung von medizinischen Schulen durch die AMA als maßgebend übernommen. Der Rat der AMA entwickelte sich so im Prinzip zu einer nationalen Akkreditierungsanstalt für medizinische Schulen und immer mehr Bundesstaaten übernahmen ihre Einstufungen inakzeptabler Einrichtungen. … [Bis 1922] hatte sich die Zahl der medizinischen Schulen auf 81 reduziert und die Zahl der Absolventen auf 2529. Obwohl weder der Verband der staatlichen Ärztekammern noch der Rat für medizinische Ausbildung der AMA je eine gesetzliche Grundlage erhielt, wurden ihre Entscheidungen als gesetzlich bindend betrachtet. Diese Entwicklung stellte eine außerordentliche Errungenschaft für den organisierten Berufsstand dar.54

Indem sie die Lizenzanforderungen übernahmen, vergrößerte sich der Einfluss der staatlichen Ärztekammern, nicht nur im Hinblick auf die Überprüfung der medizinischen Ausbildung, sondern auch bezüglich des Umgangs mit den Ärzten, die bereits praktisch tätig waren. Mit der

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Gründung des FSMB gab es nun die Möglichkeit, nicht nur dem ärztlichen Nachwuchs eine in stärkerem Maße wissenschaftlich fundierte Ausbildung zukommen zu lassen, sondern auch bereits praktizierende Ärzte für ihre zuweilen fehlerhaften Verfahrensweisen zur Rechenschaft zu ziehen. Das American College of Surgeons (eine chirurgische Fachgesellschaft) veröffentlichte 1921 die Minimalstandards der Patientenversorgung und es gab Bestrebungen, eine Akkreditierung für Krankenhäuser einzuführen.55 Damit besaßen zwar nicht alle Bundesstaaten die rechtlichen Mittel, um fragwürdige Ärzte aus dem Verkehr zu ziehen (wie es in Illinois schon 1877 möglich war). Doch zumindest die schwersten Fälle zweifelhafter Verfahren (und Ärzte) konnten nun einer Überprüfung unterzogen werden. Auch wenn ärztliche Verfahren noch immer nicht unbedingt eine Chance auf Heilung boten, konnte man nun die Verfahren ahnden, die Patienten Schaden zufügten. In manchen Bundesstaaten war es sogar üblich, die Namen schlechter Ärzte in staatlichen medizinischen Bekanntmachungen aufzuführen. Innerhalb nur weniger Jahre nach dem Erscheinen des Flexner-Berichts vollzog sich die medizinische Revolution, die in Europa schon in den 1860er Jahren begonnen hatte, auch in den Vereinigten Staaten. Ein überwiegender Teil dieses Wandels war eher sozialer und organisatorischer als methodologischer oder empirischer Natur, doch er ermöglichte es, Ärzte ohne angemessene Ausbildung auszuschließen und Praktiken zu ahnden, die nicht länger als akzeptabel betrachtet wurden. Auf diese Weise mündeten soziale Veränderungen, auch wenn ihr Beginn in einem Selbstinteresse bestand und dem Wunsch, das Ansehen des Berufsstandes zu schützen, in die Förderung eines Prozesses der gemeinschaftlichen Überprüfung individueller Verfahren, der die wissenschaftliche Grundhaltung kennzeichnet. Natürlich mag das Bild, das Lewis Thomas in seiner weiter oben zitierten Schilderung zeichnet, noch immer der Realität entsprochen haben und selbst in Bostons angesehensten Krankenhäusern in den 1920er Jahren die Handlungsspielräume der Ärzte gering gewesen sein. Man verabreichte homöopathische Präparate (also Placebos) oder nahm chirurgische Eingriffe vor. Darüber hinaus konnte man nur den natürlichen Krankheitsverlauf abwarten. Zwar hatte man sich von Praktiken wie dem Aderlass, dem künstlichen Abführen, dem Blasenziehen und dem Schröpfen (und Umbringen) der Patienten gelöst. Auch wurden Untersuchungen nicht länger mit ungereinigten Händen oder Instrumenten ausgeführt. Doch direkte medizinische Maßnahmen zur Heilung der Patienten gab es noch immer nur wenige. Der Fortschritt gegenüber den vergangenen Jahrhunderten aber

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war deutlich zu erkennen. Die organisierte Überprüfung individueller Praxis begann sich auch in der Medizin durchzusetzen und ermöglichte damit ihren Wandel hin zu einer Wissenschaft. Medizinische Erkenntnisse wurden in immer stärkerem Maße auf der Basis empirischer Belege gewonnen. Die Einführung von Standards in der Patientenversorgung ließ hoffen, dass die klinische Wissenschaft zumindest versuchen würde, ihnen gerecht zu werden (oder sie zumindest nicht zu untergraben). Die Medizin beruhte nicht mehr länger auf bloßen Vermutungen und anekdotischem Wissen. Fehlerhafte Verfahren und unwirksame Behandlungen konnten geprüft und verworfen werden. Durch die Anhebung ihrer professionellen Standards war die Medizin ihrem wissenschaftlichen Potenzial endlich gerecht geworden. Hier beginnt die wissenschaftliche Grundhaltung. Man könnte Argumente dafür anbringen, dass sich das Heranziehen empirischer Belege und ihr Einfluss auf die Theorie bis zu Semmelweis oder gar Galen zurückverfolgen ließe.56 Noch bessere Argumente fänden sich wahrscheinlich dafür, Pasteur als Beispiel anführen zu wollen. Wie auf jedem Gebiet gab es auch in der frühen Medizingeschichte herausragende Persönlichkeiten, und meist waren es diese Menschen, die sich dem Erkenntnisgewinn aus empirischen Belegen verschrieben hatten. Es bleibt aber die große Bedeutung eines gemeinschaftlichen Ethos, denn damit sich ein ganzes Fachgebiet zu einer Wissenschaft entwickeln kann, reicht es nicht aus, wenn die wissenschaftliche Grundhaltung nur von einzelnen, von der Gemeinschaft isolierten Menschen umgesetzt wird, auch wenn es sich bei ihnen um leuchtende Beispiele handelt. Es finden sich in der frühen Medizingeschichte solche Beispiele, das ist unbestritten, doch erst mit der Verbreitung dieser Werte innerhalb des Berufsstandes – zumindest teilweise aufgrund der sozialen Veränderungen innerhalb der ärztlichen Berufsgruppe selbst – konnte man von der Medizin als einer Wissenschaft sprechen.

Die Früchte der Wissenschaft Nach den Reformen der ärztlichen Profession im frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich die Medizin rasant weiter. Die Entdeckung des Penizillins 1928 ermöglichte endlich reale klinische Fortschritte. Die Ärzteschaft erntete die Früchte wissenschaftlicher Forschung.57 Dann verbreiteten sich [1937] explosive Meldungen über Sulfanilamid und den Beginn einer wirklichen Revolution in der Medizin. … Wir wussten, dass die Industrie an anderen molekularen Varianten des Sulfanilamid arbeitete,

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und erfuhren von der Möglichkeit des Penizillins und anderer Antibiotika; über Nacht setzte sich bei uns die Überzeugung durch, dass in der Zukunft nichts mehr außerhalb unserer Reichweite liegen würde.58

Alexander Fleming war ein schottischer Bakteriologe, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg in London arbeitete. Während des Krieges hatte er auf dem Gebiet der Wundversorgung und der Verhinderung von Infektionen gearbeitet. Eines Abends hatte er eine Petrischale mit Staphylokokken auf einer Bank stehen lassen und dann eine Reise angetreten. Bei seiner Rückkehr stellte er fest, dass der Schimmel, der sich in der Schale gebildet hatte, offenbar die Staphylokokken in seinem Umfeld vollständig abgetötet hatte.59 Nach einigen Experimenten hielt er die Ergebnisse zwar nicht in klinischer Hinsicht für vielversprechend, veröffentlichte aber einen Artikel über die Resultate der Arbeit. Zehn Jahre später entdeckten Howard Florey und Ernst Chain den ursprünglichen Aufsatz und Flemings Forschungsergebnisse wieder, führten den entscheidenden Versuch an Mäusen durch und isolierten das Penizillin, das dann 1941 zum ersten Mal klinisch angewendet wurde.60 In seinem Buch The Rise and Fall of Modern Medicine (Aufstieg und Fall der modernen Medizin) beschreibt James Le Fanu die Fülle medizinischer Entdeckungen und Neuerungen, die danach folgten: Cortison (1949), Streptomycin (1950), Operationen am offenen Herzen (1955), die Polio-Impfung (ebenfalls 1955) und Nierentransplantation (1963). Die ­ Liste ließe sich noch fortsetzen.61 Mit der Entwicklung der Chemotherapie (1971), künstlicher Befruchtung (1978) und der Angioplastie (1979) haben wir uns weit von jenen Zeiten entfernt, die Lewis Thomas beschreibt, als der Arztberuf zu einem großen Teil darin bestand, eine Diagnose zu stellen und Patienten Pflege zukommen zu lassen, weil es kaum andere Möglichkeiten gab, als den natürlichen Krankheitsverlauf abzuwarten. An dieser Stelle müssen wir eine weitere Überlegung miteinbeziehen: In welchem Maße lassen sich diese klinischen Errungenschaften der Wissenschaft (und erst recht der wissenschaftlichen Grundhaltung) zuschreiben? Le Fanu setzt sich mit dieser provokanten Frage auseinander, indem er bemerkt, dass eine ganze Reihe von „entscheidenden Augenblicken“ in der Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts nur wenige Gemeinsamkeiten aufwies. Er stellt fest, „die Entdeckung des Penizillins war nicht das Resultat wissenschaftlicher Verfahrensweisen, sondern das Ergebnis eines Zufalls“.62 Doch selbst wenn dem so ist, muss man sich dennoch erst überzeugen lassen, dass die anderen Entdeckungen in keiner direkten Verbindung zu wissenschaftlicher Forschung standen.

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Le Fanu schreibt: „Die Wege wissenschaftlicher Entdeckungen sind so vielfältig und hängen in so hohem Maße von Glück und Zufall ab, dass jede Verallgemeinerung verdächtig erscheinen muss.“63 Hier formuliert Le Fanu die Vorstellung (auch wenn diese nicht auf ihn zurückgeht), dass manche der medizinischen Durchbrüche des 20. Jahrhunderts wohl nicht als die Früchte wissenschaftlicher Forschung, sondern als „Geschenke der Natur“ betrachtet werden müssten. Selman Waksman, der für seine Entdeckung des Streptomycins den Nobelpreis für Medizin erhalten hatte (und der den Begriff Antibiotikum geprägt hatte)64, bezeichnete – nachdem er den Preis erhalten hatte – Antibiotika als Erscheinungen des reinen Zufalls. Doch, wie Le Fanu bemerkt, war dies eine so ketzerische Ansicht, dass viele sie für unwahr hielten.65 Lassen sich also Argumente dafür finden, dass die großen Errungenschaften der modernen Medizin nicht auf „guter Wissenschaft“, sondern auf „glücklichem Zufall“ beruhten? Eine solche Sichtweise ließe sich nur schlecht belegen. Zudem baut sie auf einer falschen Vorstellung von Wissenschaft auf. Geht man von Wissenschaft als einem rein methodischen Unterfangen aus, bei dem man auf bestimmte Weise bestimmte Arbeitsschritte befolgen muss und am Ende wissenschaftliche Entdeckungen herauskommen, dann könnte man sich vielleicht tatsächlich darüber streiten, ob Wissenschaft für die Entdeckungen der klinischen Medizin verantwortlich ist. Zumindest Fleming bediente sich keiner erkennbaren Methodik. Doch auf der Basis des Wissenschaftsbildes, das ich hier in diesem Buch vermitteln möchte, ist es, wie ich meine, deutlich geworden, dass sich sowohl die Reihe von Durchbrüchen im späten 19. Jahrhundert als auch der Übergang zu den Errungenschaften der klinischen Wissenschaft, der im frühen 20. Jahrhundert einsetzte, auf die wissenschaftlichen Grundhaltung zurückführen lassen. Zunächst einmal ist es stark vereinfachend, die Entdeckung des Penizillins dem Zufall zuzuschreiben. Es fanden zwar einige zufällige Ereignisse statt (neun kalte Tage in Folge während eines Londoner Sommers; der Umstand, dass Flemings Labor direkt über einem anderen Labor lag, in dem ein Wissenschaftler an Pilzen forschte; der Umstand, dass Fleming die Petrischale stehen ließ und verreiste). Dies bedeutet jedoch nicht, dass jeder aus den Beobachtungen der Petrischale die gleichen Schlüsse hätte ziehen können wie Fleming. Wir müssen Flemings Entdeckung zwar nicht unbedingt seiner besonderen Genialität zuschreiben, aber wir ebenso wenig als ein bloßes Versehen bezeichnen. Kein Geringerer als Louis Pasteur, eine Lichtgestalt der Medizin, bemerkte einmal, das Glück bevorzuge den vorbereiteten Geist. Versehen und Zufälle kommen in Laboren vor, doch nur

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die richtige Denkweise versetzt den Forscher in die Lage, daraus durch weitere Arbeit auch einen Nutzen ziehen zu können. Die wissenschaftliche Neugier zu besitzen, aus empirischen Belegen Erkenntnisse zu gewinnen (selbst wenn sie zufällig entstanden sind) und dann auf dieser Basis die eigenen Überzeugungen zu ändern, ist das, was die wissenschaftliche Grundhaltung ausmacht. Die Natur mag uns die Früchte zwar zum Geschenk machen, aber es ist unsere Einstellung, die es uns erlaubt, sie zu verstehen und zu nutzen. Als Fleming feststellte, dass die Staphylokokken an manchen Stellen der Petrischale nicht wuchsen – wie es schien, durch die Verunreinigung mit von außen eingedrungenen Sporen –, entsorgte er die Schale nicht einfach, um den Versuch von Neuem zu beginnen. Er machte sich auf die Suche nach Ursachen für das beobachtete Phänomen. Zwar sprach er sich, wie wir gesehen haben, nicht für einen klinischen Einsatz aus (aufgrund der Befürchtung, dass eine Substanz, die Staphylokokken abtöten konnte, auch für Patienten tödlich sein könnte). Aber er hielt die Beobachtungen in einem wissenschaftlichen Artikel fest, der später von Florey und Chain wiederentdeckt wurde. Die beiden forschten an einem biochemischen Mechanismus hinter Flemings Ergebnis.66 Es war die gemeinschaftliche Überprüfung individueller Arbeitsergebnisse, die zu der Entdeckung führte. Schließlich zeigten Chain und Florey in einem klassischen Experiment, dass Penizillin bei Mäusen Infektionen therapieren konnte: Zehn mit Streptokokken infizierte Mäuse wurden in zwei Gruppen unterteilt, fünf erhielten Penizillin und fünf ein Placebo. Die „Placebo“-Mäuse starben, die ­„Penizillin“-Mäuse überlebten.67

Die Geschichte von der versehentlichen Entdeckung des Penizillins mag zwar unterhaltsame Kost für Medizinstudenten sein, doch die anschließende Entwicklung eines äußerst wirksamen Medikaments, das Millionen von Leben retten konnte, war ganz sicher kein Versehen. Diese Entwicklung war der Hartnäckigkeit und geistigen Flexibilität hunderter Forscher geschuldet, die die richtigen kritischen Fragen stellten und Experimente durchführten, um ihre Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Man könnte sogar die heutige moderne Erwartungshaltung, dass die Wirksamkeit aller medizinischen Verfahren in randomisierten, doppelt verblindeten klinischen Studien belegt werden muss, eine der effektivsten praktischen Früchte der Arbeit der medizinischen Forscher ansehen, die als Erste die wissenschaftliche Grundhaltung eingenommen haben. Wissenschaftliche Entdeckungen erwachsen nicht nur aus der Beobachtung von Zufällen, sondern – selbst im

7  Wie die wissenschaftliche Grundhaltung die moderne Medizin …     163

Fall zufälliger Ereignisse – aus der wissenschaftlichen Überprüfung dieser Beobachtungen. Wie veränderte sich die Medizin während der 80 Jahre (1860–1940), die zwischen Pasteur und der Anwendung des Penizillins lagen? Wie Porter es beschreibt, wurde während dieser Zeit „ein uralter Traum der Medizin Wirklichkeit. Endlich wusste man zuverlässig um die Ursachen wichtiger Krankheiten. Aus diesem Wissen heraus wurden vorbeugende Maßnahmen und Behandlungen entwickelt.“68 Das geschah nicht nur weil die medizinische Forschung eine wissenschaftliche Revolution durchmachte. Wir haben gesehen, dass die Durchbrüche Pasteurs, Kochs, Listers und anderer für viel zu lange Zeit auf Widerstand stießen, missverstanden und missbraucht wurden. Wir können nicht davon ausgehen, dass medizinisches Wissen, sobald es verfügbar wurde, auch von den praktisch arbeitenden Ärzten zur Anwendung gebracht wurde. Es waren auch soziale Kräfte notwendig, damit aus diesem Wissen eine klinische Praxis entstehen konnte. Diese Kräfte waren, wie ich dargelegt habe, eingebettet in einen Wandel der Einstellung zum Aufbau und der Organisation der medizinischen Lehre und der ärztlichen Arbeit. Als Ärzte begannen, sich als Mitglieder eines Berufsstandes und nicht als einen losen Zusammenschluss Einzelner zu begreifen, kam der Stein der Veränderung ins Rollen. Sie setzten sich mit den Arbeiten ihrer Fachkollegen auseinander und überprüften deren Verfahrensweisen. Noch immer war es möglich, dass Errungenschaften und Entdeckungen auf Widerstand stießen, doch zum ersten Mal mussten Verweigerer des Neuen mit der Kritik ihrer Kollegen und schließlich auch der bürgerlichen Öffentlichkeit rechnen, der sie verpflichtet waren. Indem eine Mehrheit der Ärzte die wissenschaftliche Grundhaltung einnahm, verbreiteten sich die Prozesse der gemeinschaftlichen Überprüfung individueller Überzeugungen. Die wissenschaftliche Medizin war geboren.

Fazit An der Geschichte der Medizin können wir den Wandel eines von Aberglauben und Ideologien geprägten Gebietes zu einer modernen Wissenschaft ablesen. Der Grund für diesen Wandel lag in der Umsetzung einer empirischen Einstellung zur Belegbarkeit und zugleich in der Akzeptanz dieses Standards durch eine Gruppe, die auf dieser Basis gemeinschaftlich die Arbeit ihrer Fachkollegen prüfte. Damit ging die Medizin mit gutem Beispiel voran auf einem Weg, den auch die Sozialwissenschaften einschlagen könnten, ebenso wie andere Gebiete, die sich als Wissenschaften

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etablieren möchten. Die wissenschaftliche Grundhaltung war nicht nur in der Physik oder der Astronomie (und der Medizin) in der Vergangenheit umsetzbar, sie ist es noch heute. Wir können eine moderne wissenschaftliche Revolution zuvor unwissenschaftlicher Gebiete anstoßen, wenn wir diese Grundhaltung ein- und umsetzen. Doch wir müssen uns auch mit den Menschen auseinandersetzen, die eine wissenschaftliche Grundhaltung rundweg ablehnen. Mit denen, die nicht zu verstehen scheinen, dass ideologisch geprägte Überzeugungen wie Intelligent Design nicht wissenschaftlich sind. Und mit Menschen, die – auf der Grundlage eines völligen Missverstehens wissenschaftlicher Prozesse – gut bewährte und belegte Theorien wie die des menschengemachten Klimawandels leugnen. Diesem Problem werden wir uns in Kap. 8 stellen. Doch zuvor müssen wir uns noch tiefer in den Sumpf hineinbegeben. Hier, in diesem Kapitel, haben wir eine Sternstunde der wissenschaftlichen Grundhaltung miterlebt. In Kap. 7 werden wir stattdessen Zeugen einer dunklen Stunde.

8 Wissenschaft falsch gemacht: Betrug und andere Fehlschläge

Man könnte meinen, dass sich jeder mit einem Herz für die wissenschaftliche Grundhaltung bisher eher flüchtig mit dem Thema Betrug auseinandergesetzt hat. Wer sich des Betrugs schuldig macht, ist ein Schurke und Lügner und ganz offensichtlich weit von den Wertvorstellungen der Wissenschaft entfernt – oder? Warum sollte man sich also mit derartigen Fällen länger aufhalten? Auch wenn diese Auffassung verlockend ist, möchte ich dennoch vorschlagen, dass wir uns näher mit dem Thema beschäftigen. Die Fälle von Betrug in der Wissenschaft dienen nicht nur als Gegenbeispiele für die wissenschaftliche Grundhaltung, sondern wir können durch deren Aufarbeitung auch die Ereignisse besser einschätzen, die noch nicht ganz in den Bereich des Betrugs fallen. Eine stark vereinfachte Vorstellung von Betrug ist nicht ungefährlich. Man kann dadurch beispielsweise den Umstand aus den Augen verlieren, dass die meisten Betrüger gar nicht das Gefühl haben, aktiv wissenschaftliche Daten zu fälschen. Sie meinen viel mehr sich leisten zu können, in der eigenen Arbeit Abkürzungen zu nehmen, weil die Daten ihnen am Ende ohnehin recht geben werden. Diese Sichtweise ist auf vielen Ebenen problematisch, aber die Frage, ob es sich dabei um einen Verstoß gegen die Methodik oder um eine falsche Einstellung handelt, ist von entscheidender Bedeutung. Wenn sich jemand einredet, es schade ja nichts, solche Abkürzungen zu nehmen, ebnet der Betreffende dann den Weg für späteren Betrug oder handelt es sich dabei bereits um betrügerisches Vorgehen? Es kommt auf Handlungen an, das ist klar. Aber auch auf die

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_8

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­ instellung dahinter. Wenn man zu Beginn noch nicht die Absicht hat, E Daten zu fälschen, sondern diese nur so anpassen möchte, dass ein Experiment möglich ist: An welchem Punkt gerät das ganze Unternehmen dann aus den Fugen? Gibt es eine Verbindung zwischen der schludrigen Arbeitsweise, die wir in Kap. 5 betrachtet haben (wie p-Hacking oder Rosinenpicken), und der späteren Fälschung oder dem Fingieren von Daten, die man als Betrug werten kann? Die wissenschaftliche Grundhaltung als normatives Konzept kann hier Licht ins Dunkel bringen. Wir müssen bei unseren Betrachtungen zunächst vom schlimmsten Fall ausgehen. Betrug ist die absichtliche Fälschung oder das Fingieren wissenschaftlicher Aufzeichnungen.1 Im Fall eines bloßen Fehlers steht die Einhaltung wissenschaftlicher Werte nicht infrage, denn einen Fehler kann man auch ohne eine Täuschungsabsicht begehen. Begeht man aber einen Betrug – und hinter Fehlern steckt Absicht –, dann muss man sich sehr wohl den Vorwurf gefallen lassen, man verstoße damit gegen die wissenschaftliche Grundhaltung. Die Wissenschaft ist ein so offenes und von der Arbeit anderer abhängiges Unterfangen, dass ein solcher Verstoß vollkommen inakzeptabel ist. Jeder, der sich für den Beruf des Wissenschaftlers entscheidet, verpflichtet sich freiwillig dazu, den Weg des Erkenntnisgewinns aus der Beobachtung mit Offenheit und Aufrichtigkeit zu beschreiten. Indem man betrügt, stellt man sich und seine persönlichen Vorteile über diese Verpflichtung. Ideologie, Geld, Ego und Eigeninteresse müssen hinter empirischen Belegen zurückstehen. Es gibt Stimmen, die behaupten, es gebe in der Wissenschaft keine Häretiker, denn wissenschaftliche Erkenntnisse könnten aus den verschiedensten Quellen stammen. Aber Betrug ist wissenschaftliche Häresie in Reinform. Es geht nicht darum, dass der Betrüger andere Theorien entwickelt. Entscheidend ist, dass diese Theorien auf erfundenen Daten basieren. Betrug ist somit wesentlich schwerwiegender als ein Fehler, denn Betrug ist naturgemäß ein absichtliches Vergehen und stellt damit nichts weniger als einen Verstoß gegen die wissenschaftliche Grundhaltung selbst dar. Ein bloßer Irrtum stellt für die Wissenschaft keine allzu große Gefahr dar. Solange die richtige Einstellung zu empirischen Belegen vorhanden ist, besitzt die Wissenschaft gut funktionierende Prozesse, um mit Fehlern umzugehen. Und das ist gut so, denn die Wissenschaftsgeschichte ist auch eine Geschichte der wissenschaftlichen Fehler. Ich spreche hier nicht von der pessimistischen induktiven Sichtweise, dass sich früher oder später alle unsere wissenschaftlichen Überzeugungen als falsch erweisen werden.2 Ich spreche von den gravierenden Irrtümern und Sackgassen, in die sich die

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Wissenschaft bisweilen jahrhundertelang verrannt hat, wie das Phlogiston, das Caloricum und den Äther. Wir müssen Irrtümer dieser jedoch klar von Betrug unterscheiden. Mehr noch, in manchen Fällen trugen sie entscheidend zur späteren Entwicklung verbesserter wissenschaftlicher Theorien bei. Ohne das Phlogiston mag es die Entdeckung des Sauerstoffs nicht gegeben haben, ohne das Caloricum nicht unser Verständnis der Thermodynamik. Der Grund dafür liegt in der Eigenschaft der Wissenschaft, aus Fehlern und Irrtümern zu lernen. Wenn man die wissenschaftliche Grundhaltung einnimmt und den Vorgaben empirischer Belege folgt, lassen sich Fehler im Laufe der Zeit ausmerzen. Vielleicht ließe sich dieses Argument auch auf die Fehler auf dem Gebiet der Wissenschaft übertragen, die durch Betrug entstehen. Denn wenn Wissenschaft doch ein sich selbst korrigierendes System ist, wird man wohl auch diese Fehler früher oder später finden und berichtigen. Doch weil die Suche nach absichtlichen Fehlern eine so große Verschwendung von Zeit und Ressourcen ist, ziehen hier die meisten Wissenschaftler die Grenze. Betrug wird nicht nur wegen seiner Konsequenzen so verbscheut, sondern auch wegen des Bruchs mit wissenschaftlichen Werten, der darin zum Ausdruck kommt. Die Vorgänge der Natur sind subtil und Wissenschaftler haben wenig Lust, sich mit den zusätzlichen Herausforderungen der absichtlichen Täuschung herumzuschlagen. Doch es gibt eine weitere Quelle für Fehler in der wissenschaftlichen Arbeit. Zwischen den Polen des Betrugs und des unabsichtlichen Fehlers gibt es einen schwer fassbaren Bereich, in dem die Motive nicht ganz klar zuzuordnen sind. Wie wir in Kap. 5 gesehen haben, können wissenschaftliche Fehler durch Betrug entstehen, aber auch durch Schludrigkeit, kognitive Verzerrungen, vorsätzliche Unwissenheit oder Faulheit. Ich hoffe, an dieser Stelle ist bereits deutlich geworden, dass die wissenschaftliche Grundhaltung ein wertvolles Instrument zur Minderung von Fehlern ist, egal welche Ursache sie haben. Doch wir sollten – da wir im Begriff sind, Betrug als den schlimmsten Verstoß gegen die wissenschaftliche Grundhaltung zu bezeichnen – uns diesen Fehlerquellen noch einmal zuwenden und versuchen, sie in die Kategorien der absichtlichen und der unabsichtlichen Motive einzuordnen. Der Schlüssel zur Lösung dieser Aufgabe ist es, eine sehr genaue Definition von Betrug zu entwickeln. Wenn wir Betrug als das absichtliche Fingieren oder Fälschen von wissenschaftlichen Daten beschreiben, dann besitzt diese Beschreibung zwei mögliche Lesarten:

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1. Wenn jemand einen Betrug begangen hat, dann hat er absichtlich Daten fingiert oder gefälscht. 2. Wenn jemand absichtlich Daten fingiert oder gefälscht hat, dann hat er einen Betrug begangen. Wie wir aus der Logik gelernt haben, implizieren diese beiden Aussagen einander nicht. Daher ist es möglich, dass eine der Aussagen wahr und die andere falsch ist. In diesem Fall aber bin ich der Auffassung, dass beide Aussagen wahr sind. Wenn jemand Betrug begeht, geschieht dies absichtlich. Wie wir an der umfassenderen Definition des „Fehlverhaltens in der Forschung“ (siehe dazu Endnote 1 zu diesem Kapitel) gesehen haben, wird ein Fehler, der auf einem „ehrlichen Irrtum“ oder einer „Meinungsverschiedenheit“ beruht, nicht als Betrug betrachtet. Betrug erfordert die Absicht einer Täuschung. Doch wir müssen uns dann die Frage stellen, ob es hinreichend für Betrug ist, wenn jemand absichtlich Daten fingiert oder fälscht. Dem ist so. Daten zu fingieren oder zu fälschen, unterscheidet sich von anderen Fehlerarten. Es liegt in der Natur dieser Vorgänge, dass sie nicht unabsichtlich durchgeführt werden können. Sobald sich jemand in dieser Weise betätigt, begeht er automatisch Betrug. Wir können daher Betrug definieren, indem wir die Aussagen (1) und (2) kombinieren und damit die folgende bikonditionale Aussage erhalten: „Jemand begeht einen Betrug genau dann, wenn er absichtlich Daten fingiert oder gefälscht hat.“3 Damit haben wir allerdings noch nicht die entscheidende Frage beantwortet, wie der Begriff „absichtlich“ zu definieren ist. Gibt es unter Umständen eine bessere Möglichkeit, Betrug zu definieren, um dies zu verdeutlichen zu können? Wenden wir uns der wissenschaftlichen Grundhaltung zu, um herauszufinden, ob sie uns helfen kann, das Konzept des wissenschaftlichen Betrugs besser zu verstehen. In meiner Darstellung habe ich immer wieder anklingen lassen, dass es die wissenschaftliche Grundhaltung ist, die Wissenschaft definiert, und dass sie uns dabei helfen kann, den erkenntnistheoretischen Sonderstatus der Wissenschaft und die einzigartige Rechtfertigung für wissenschaftliche Überzeugungen zu verstehen. Etwas weiter oben in diesem Kapitel habe ich festgestellt, dass Betrug das schlimmste Verbrechen gegen die Wissenschaft ist, das man begehen kann. Vor diesem Hintergrund könnte man nun Betrug als eine vollständige Zurückweisung der wissenschaftlichen Grundhaltung sehen. Doch wollen wir die beiden folgenden Interpretationsmöglichkeiten dieser Behauptung in unsere Überlegungen einbeziehen:

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1. Wenn jemand einen Betrug begangen hat, dann besitzt er nicht die wissenschaftliche Grundhaltung. 2. Wenn jemand die wissenschaftliche Grundhaltung nicht besitzt, dann hat er einen Betrug begangen. Hier haben wir ganz offensichtlich ein Problem, denn meiner Auffassung nach ist Aussage (3) wahr, Aussage (4) jedoch nicht. Das Fingieren oder Fälschen von Daten steht in einem direkten Widerspruch zu der Verpflichtung, sich um empirische Belege zu bemühen und dazu bereit zu sein, die eigenen Überzeugungen auf der Basis dieser Belege zu erlangen und zu verändern. Warum ist dann Aussage (4) falsch? Das Problem, das in dieser Aussage steckt, ist nicht leicht zu erfassen. Denn in manchen Situationen mag diese Aussage durchaus wahr sein, aber der entscheidende Punkt ist, dass sie nicht zwingend in jedem Fall wahr ist.4 Mit der Behauptung: „Wenn jemand die wissenschaftliche Grundhaltung nicht besitzt, dann hat er einen Betrug begangen“, lehnt man sich sehr weit aus dem Fenster. Erstens muss es sich beim Gegenstand der Betrachtung um ein empirisches Gebiet handeln. Literatur basiert nicht auf der wissenschaftlichen Grundhaltung, aber das ist für unsere Fragestellung nicht relevant. Zweitens unterstellt man damit, dass jemand, der mit der falschen Einstellung an seine wissenschaftliche Arbeit herangeht, auch ganz sicher danach handeln wird. Unsere Kenntnis des menschlichen Verhaltens sagt uns jedoch, dass dieser Fall nicht immer eintritt. Und was ist drittens mit dem Problem der Absichtlichkeit? Aus unserer These (2) weiter oben können wir ablesen, dass, wenn wir einen absichtlichen Fehler begehen, wir auch einen Betrug begehen. Doch das Problem hierbei ist der Umstand, dass es viele verschiedene Abstufungen von Absicht gibt und viele Gründe, aus denen jemand nicht die wissenschaftliche Grundhaltung besitzt. Wie wir in Kap.  5  gesehen haben, können Forscher unbewussten kognitiven Biases unterliegen. Oder vielleicht sind sie auch nur bequem oder schludrig. Sind sie alle damit auch Betrüger? Es könnte eine ganze Menge verborgener psychologischer Gründe dafür geben, dass es uns nicht aus eigenem Verschulden an der wissenschaftlichen Grundhaltung mangelt. Und nicht jeder Verstoß gegen die wissenschaftliche Grundhaltung geschieht mit Absicht. Doch die zentrale Frage lautet: Was ist mit den Fällen, in denen sich jemand tatsächlich mit Absicht auf fragwürdige Forschungspraktiken einlässt? Und was ist mit Praktiken wie dem p-Hacking und oder dem „cherry picking“, gegen die ich mich in Kap. 5 so vehement ausgesprochen habe? Warum werden diese Fälle nicht sofort als Betrug e­ingestuft, wenn

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hinter ihnen eine Absicht steckt? Relevant für die Einstufung eines Fehlverhaltens als Betrug ist nicht nur der Faktor Absicht, sondern auch die Faktoren des Fingierens oder Fälschens. Erinnern wir uns an unsere Arbeitshypothese zur Definition von Betrug: Er besteht im absichtlichen Fingieren oder Fälschen von Daten. (Erinnern wir uns auch daran, dass hier eine bikonditionale Beziehung vorliegt). Das p-Hacking wird deshalb normalerweise nicht als Betrug eingestuft, weil der Mensch dahinter diese Praktik nicht zu Betrugszwecken eingesetzt hat. So schwerwiegend es auch erscheinen mag, p-Hacking reicht nicht ganz an die Schwelle zu einem Verfahren heran, bei dem Daten fingiert oder gefälscht werden. Wer es anwendet, kann dadurch vielleicht seine Fachkollegen in die Irre führen, nicht aber empirische Belege fingieren. Man mag eine Studie offenlassen, um mehr Daten zu erheben und so einer Veröffentlichung näherzukommen, aber das fällt nicht ganz in den Bereich einer Fälschung.5 Ziehen wir an dieser Stelle eine Parallele zur Lüge. Eine blanke Lüge zu erzählen heißt die Unwahrheit zu sagen, während man sich dessen eindeutig bewusst ist. Wie beurteilen wir dann aber die Fälle, in denen wir zwar nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit gesagt haben? Das ist zwar eindeutig unehrlich, aber nicht (ganz) dasselbe wie eine blanke Lüge. Genau diese Analogie brauchen wir, um die Trennlinie zwischen fragwürdigen Forschungspraktiken und Betrug ziehen zu können. P-Hacking, selektive Dokumentation der Daten und ähnliche Praktiken werden normalerweise nicht als Betrug eingestuft, weil sie nicht das Fingieren oder Fälschen von Daten umfassen. Offen und ehrlich ist eine derartige Arbeitsweise natürlich auch nicht ganz.6 Es handelt sich um Fälle absichtlicher Täuschung, die nicht ganz in den Bereich des Betrugs hineinreichen, um ernsthafte Verstöße gegen die wissenschaftliche Grundhaltung, die aber nicht ganz als Gesetzesverstöße anzusehen sind. Wenn diese Praktiken absichtlich angewendet werden, bleibt zu hoffen, dass man sie verhindern oder entlarven kann – und dass die wissenschaftliche Grundhaltung (die uns hilft zu verstehen, warum Betrug so verwerflich ist) uns dazu ein Werkzeug an die Hand gibt. Aber das bedeutet nicht, dass wir diese Handlungsweisen mit Betrug verwechseln dürfen. Wir sollten uns die wissenschaftliche Grundhaltung als ein Spektrum vorstellen, das von vollkommener Integrität auf der einen bis hin zu Betrug auf der anderen Seite reicht. Das Kriterium, mit dem sich Betrug beschreiben lässt, ist das absichtliche Fingieren oder Fälschen von Daten. Man kann aus dieser Kategorie herausfallen, entweder weil man einen unabsichtlichen Fehler gemacht oder weil man irreführende Praktiken angewendet hat, diese aber nicht an das Fingieren oder Fälschen von Fakten ­heranreichten.

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In  letztere Kategorie würde ich die „Vergehen“ gegen die „Freiheitsgrade“ einordnen, die man in der wissenschaftlichen Forschung besitzt.7 Die wissenschaftliche Grundhaltung ist ein Gradmesser, es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Betrug setzt dort ein, wo jemand gegen die wissenschaftliche Grundhaltung verstößt und ein Verhalten an den Tag legt, das an ein Fingieren oder Fälschen von Daten heranreicht. Eine Forscherin oder ein Forscher kann jedoch eine geminderte wissenschaftliche Grundhaltung besitzen, ohne in ihren oder seinen Handlungsweisen so weit zu gehen. (Gegen die wissenschaftliche Grundhaltung zu verstoßen ist somit notwendig, aber nicht hinreichend, um einen Betrug zu begehen). Es erscheint zwar sehr hilfreich, eine scharfe Grenze zwischen Betrug und anderem Fehlverhalten zu ziehen, aber das bedeutet nicht, dass unterhalb dieser Grenze zum Betrug „alles erlaubt“ ist. Die wissenschaftliche Grundhaltung zu nutzen, um den Sonderstatus der Wissenschaft zu umreißen, sollten uns dabei helfen, beide Aufgaben zu lösen. Ich werde in diesem Kapitel darlegen, dass wir die wissenschaftliche Grundhaltung für ein besseres Verständnis der Gründe zur Einstufung des Betrugs als ein schwerwiegendes Vergehen nutzen und zudem mit ihrer Hilfe auch die Trennlinie zwischen Betrug und anderen Vergehen gegen die wissenschaftliche Grundhaltung beschreiben können. Dadurch hoffe ich die vielen Vorteile erläutern zu können, die uns ein Verständnis der wissenschaftlichen Grundhaltung auch bei der Entlarvung und Verhinderung jener mangelhaften Forschungspraktiken bietet, die nicht ganz an Fälle von Betrug heranreichen. Wie wir in Kap. 5 gesehen haben, kann uns die wissenschaftliche Grundhaltung bei der Aufdeckung und Bekämpfung vieler Fehlerarten helfen. Wenn man diese Strategie jedoch sorgfältig anwenden möchte, muss man zunächst das Wesen jeder dieser Fehlerarten genau kennen. Manche werden einwenden, dass jedes wie auch immer geartete Versäumnis vollständiger Aufrichtigkeit in der wissenschaftlichen Arbeit beklagenswert ist. Doch Wissenschaft muss überdauern, auch wenn sich manche ihrer Anwender – aus welchen Gründen auch immer – falsch verhalten.

Warum betrügen manche Menschen? Das typische Bild eines Wissenschaftsbetrügers von einer Person, die schlicht und ergreifend Daten erfindet, entspricht nicht unbedingt der Realität. Natürlich kommt so etwas vor und in einem solchen Fall hat man es mit einer besonders schwerwiegenden Form des Betrugs zu tun, aber eben nicht mit der einzigen oder sogar schlimmsten. Genauso machen sich solche

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Wissenschaftler schuldig, die meinen, die Antwort auf eine empirische Fragestellung bereits zu kennen, und sich – aufgrund des Drucks, dem sie sich ausgesetzt sehen – nicht darum scheren, die Zeit für eine sorgfältige Datenarbeit aufzuwenden. In seinem hervorragenden Buch On Fact and Fraud (Über Fakten und Betrug) liefert David Goodstein eine spannende Analyse zahlreicher Fälle von Wissenschaftsbetrug. Er selbst verfügt über jahrelange praktische Erfahrung in der Aufklärung solcher Fälle.8 Goodstein beginnt mit der uns schon bekannten Aussage, die Wissenschaft sei ein selbst-korrigierendes System und der wissenschaftliche Prozess lege früher oder später jeden Fehler offen (sei er absichtlich oder unabsichtlich begangen worden).9 Dann aber fährt er fort, indem er eine höchst provokante These äußert.10 Er beschreibt, dass seiner Erfahrung nach sich nicht diejenigen des Betrugs schuldig machen, die sich aktiv entschieden haben, eine „Unwahrheit“ in den Korpus wissenschaftlicher Erkenntnisse einzubringen, sondern vielmehr die Menschen, die bei ihrer Arbeit „ein wenig nachhalfen“, indem sie eine Abkürzung zu einer Wahrheit nahmen, von der sie „wussten“, dass sie früher oder später gerechtfertigt würde.11 Diese Einschätzung sollte uns zumindest stutzig machen und dazu veranlassen, noch einmal über unsere stereotypenhafte Sichtweise auf Wissenschaftsbetrug nachzudenken.12 Obwohl es sicherlich Extrembeispiele von Betrug gibt, in denen die Betrüger absichtlich falsche Daten in den Korpus wissenschaftlicher Erkenntnisse eingebracht haben, stellt sich die Frage, wie man mit denen umgehen sollte, die „Beihilfe“ geleistet haben. Vielleicht passt die Analogie zu einem Lügner (der absichtlich Falschheiten von sich gibt) hier weniger gut und wir sollten uns besser zum Vergleich das Bild eines ungeduldigen Egoisten vor Augen führen, der sich durch seinen Hochmut dazu berechtigt fühlt, den Prozess abzukürzen, zu dessen Einhaltung sich andere verpflichtet fühlen. Aber in diesem Licht betrachtet ist Wissenschaftsbetrug nicht nur eine Frage niederer Beweggründe, sondern auch der arroganten Auffassung, man verdiene es, den wissenschaftlichen Prozess nach eigenem Gutdünken abkürzen zu dürfen. Es ist bemerkenswert, dass die Befürchtung, Hybris könne sich in die Suche nach Erkenntnis einschleichen, älter ist als die Wissenschaft. In seinen Dialogen legt Platon (durch Sokrates) dar, falsche Überzeugungen stellten eine größere Gefahr für die Suche nach der Wahrheit dar als bloße Irrtümer.13 Immer wieder entlarvt Sokrates die Unwissenheit seiner Gesprächspartner Menon oder Eutyphron, die meinen, etwas zu wissen, nur um dann herauszufinden, dass sie in Wirklichkeit nicht die geringsten Kenntnisse besitzen. Warum ist das wichtig? Nicht deshalb, weil Sokrates

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selbst meinte, alle Antworten zu kennen. Im Gegenteil, Sokrates bekennt sich gewöhnlich zur Unwissenheit. Die Lektion scheint stattdessen darin zu bestehen, dass man sich von Irrtümern leichter erholen kann als von falschen Überzeugungen. Wenn wir einen ehrlichen Fehler begehen, können wir uns von anderen korrigieren lassen. Wenn wir unsere eigene Unwissenheit akzeptieren, könnten wir vielleicht künftig Wissen erlangen. Aber wenn wir glauben, die Wahrheit schon zu kennen (eine Einstellung, die uns vielleicht dazu verführt, Abkürzungen in unserer empirischen Arbeit zu nehmen), kann es sein, dass wir echte Erkenntnis verfehlen. Obwohl die wissenschaftliche Grundhaltung ein wirksames Mittel bleibt, dürfen wir die Hybris als Gegner nicht unterschätzen. Tief empfundene Demut und ein Bewusstsein für die eigene Unwissenheit bilden das Herz der wissenschaftlichen Grundhaltung. Wenn wir gegen diese Einstellung verstoßen, haben wir den Weg zum Betrug damit vielleicht schon eingeschlagen.14 Wenn also zumindest manche Menschen betrügen und dabei überzeugt sind, den Prozess der Wahrheitsfindung lediglich zu beschleunigen, ist damit dann ihre Einstellung gerechtfertigt? Nein. In dem Maße, in dem wir es nicht rechtfertigen können, wenn jemand das Recht in die eigenen Hände nimmt und im Namen des Gerechtigkeit einen Mord begeht, ist es nicht zu rechtfertigen, wenn jemand Abkürzungen nimmt, um die „Wahrheit herzustellen“, und sich dabei nicht nur durch seine Handlungsweise, sondern auch durch seine niederen Absichten schuldig macht. Selbst im Fall eines sogenannten „gut gemeinten“ Betrugs geschieht die Täuschung dennoch mit Absicht. Man handelt nicht nur unaufrichtig, sondern ist es auch in seiner geistigen Einstellung. Betrug ist das absichtliche Fingieren oder Fälschen von Belegen, um andere nach unseren persönlichen Wünschen von etwas zu überzeugen. Doch ohne die strengste Methodik, die nur möglich ist, lassen sich die gesammelten Belege nicht wissenschaftlich rechtfertigen. Recht zu haben, ohne es auch belegen zu können, hat nichts mit Erkenntnis zu tun. Wie Sokrates es im Menon beschreibt, ist eine richtige Meinung etwas anderes als Wissen.15 Wissen ist die gerechtfertigte wahre Überzeugung. Somit schließt Betrug den Prozess kurz, durch den Wissenschaftler ihre Überzeugungen erwerben, selbst wenn sich dabei vorgefasste Annahmen im Nachhinein bestätigen. Welche Motive auch immer dahinterstecken mögen: Wer betrügt, tut dies in dem vollen Bewusstsein, dass wissenschaftliche Prozesse so nicht ablaufen dürfen. Ob man wissentlich eine „Unwahrheit eingefügt“ oder der „Wahrheit nachgeholfen“ hat, ist irrelevant. Die Hybris, „sich berechtigt zu fühlen“, genügt, um nicht nur das Ergebnis, sondern auch den Prozess ins Unrecht zu setzen. Und in einem Prozess, der so von

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glücklichen Zufällen und Überraschungen geprägt ist wie der Wissenschaftsprozess, lauert die Gefahr falscher Überzeugungen überall.

Der schmale purpurne Grad Eines der Probleme bei der Beurteilung von Betrugsvergehen ist der Gebrauch von Euphemismen in der entsprechenden Diskussion. Weil natürlich jedem bewusst ist, welche Folgen ein solches Fehlverhalten für die akademische Karriere haben kann, scheuen sich Universitäten manchmal davor, die Begriffe „Betrug“ oder „Plagiat“ zu verwenden, und das selbst in Fällen, in denen die Sachlage vollkommen eindeutig ist.16 Wenn jemand des Betrugs für schuldig befunden (oder manchmal sogar nur verdächtigt) wird, droht diesem Menschen fast so etwas wie eine Exkommunikation aus der Gemeinschaft der Wissenschaftler. Ihr oder sein Ruf ist ruiniert und die gesamte Arbeit – ob sie durch Betrug zustande gekommen ist oder nicht – wird infrage gestellt. Die Fachkollegen und Koautoren wenden sich ab. In manchen Fällen, wenn staatliche Gelder veruntreut werden, oder in Ländern mit einer rigiden Gesetzeslage droht am Ende sogar eine Gefängnisstrafe.17 Doch schlimmer noch als jede gerichtliche Verurteilung (oder zumindest unausweichlich) ist es, das Urteil der eigenen Berufskolleginnen und -kollegen ertragen zu müssen. Wenn der Vorwurf des Betrugs erst einmal im Raum steht, kann man sich nur sehr schwer wieder davon erholen.18 Sollte sich der Vorwurf als gerechtfertigt erweisen, ist es für den überführten Betrüger üblich, sich aus dem Beruf zurückzuziehen. Ein recht aktuelles Beispiel für ausweichende Strategien im Angesicht von Betrugsvorwürfen bildet der Fall Marc Hauser. Hauser, ein ehemaliger Psychologieprofessor an der Harvard University, musste eine Untersuchung sowohl durch die Universität als auch durch das Büro für Forschungsintegrität (Office of Research Integrity, ORI) an den nationalen Gesundheitsinstituten über sich ergehen lassen. Die Ergebnisse der Harvard-internen Untersuchung wurden nie veröffentlicht. Doch die Behörden sprachen später davon, das ORI habe herausgefunden, dass Hauser die Hälfte seiner Daten in seinen Grafiken fingiert habe. In einem anderen Artikel habe er bei einigen Daten „die Kodierung gefälscht“ und für einen weiteren Artikel „die Methodologie zur Kodierung der Ergebnisse von Experimenten falsch beschrieben“. Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Ist das nicht ein glasklarer Fall von Betrug? Und dennoch durfte Hauser mit Erlaubnis der Universität  – bevor die behördlichen Untersuchungsergebnisse erschienen waren – seine Fehler einer „Arbeitsüberlastung“ zuschreiben und einräumen,

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er werde die Verantwortung übernehmen, „egal ob ich direkt beteiligt war oder nicht“. Zunächst nahm Hauser in der Folge dieser Ereignisse schlicht Urlaub. Doch nachdem seine Institutskollegen dafür gestimmt hatten, ihn von der akademischen Lehre auszuschließen, trat er still von seinem Posten zurück. Marc Hauser arbeitete später für ein Programm zur Förderung sozial auffälliger Jugendlicher.19 Obwohl der Ausdruck „Fehlverhalten in der Forschung“ sicherlich für viele als eine allzu praktische Umschreibung erscheint, die auch Betrug umfasst (oder ihn schönfärbt), verwischt man durch diesen Begriff die Grenze zwischen absichtlicher und unabsichtlicher Täuschung. Enthält der Bereich des Fehlverhaltens in der Forschung auch schludrige oder sorglose Forschungspraktiken? Ist das Fingieren und Fälschen von Daten in ein und derselben Kategorie anzusiedeln wie eine unangemessene Datensicherung? Das Problem ist sehr real. Wenn eine Universität ein internes Regelwerk zum Umgang mit Betrug schaffen möchte, wird sie dieses Vorhaben in anderer Weise angehen als ein Regelwerk im Hinblick auf wissenschaftliches Fehlverhalten. Wie Goodstein in seiner Arbeit zeigt, könnte uns Letzteres dazu verleiten, Begriffe unangemessener Forschungspraktiken aufzunehmen, die wir zwar verhindern und sogar ahnden wollen, die aber nicht an den Tatbestand des Betrugs heranreichen. Goodstein schreibt dazu: „Es gibt viele Praktiken, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht allgemein akzeptiert werden, die aber keinen Fall von wissenschaftlichem Betrug darstellen können oder sollten.“20 Welchen Unterschied macht das überhaupt? Manche mögen einwenden, es mache gar keinen Unterschied, weil selbst unangemessene Forschungspraktiken wie „schlechte Datensicherung und -haltung“, das „Zurückhalten von abweichenden Daten“ oder das „Überinterpretieren von Daten“ bereits Verstöße gegen die wissenschaftliche Grundhaltung darstellen. Wie bereits angesprochen, ist die wissenschaftliche Grundhaltung nicht nur alles oder nichts. Gehört die „Abweichung von akzeptierten Verfahrensweisen“21 nicht auch zu den Dingen, die man zu verhindern versuchen sollte? Vielleicht schon, nur möchte ich anmerken, dass man einen hohen Preis dafür zahlen muss, wenn man diese Fälle nicht von Betrug unterscheidet. Ohne eine scharfe Trennlinie kann es bisweilen sogar für Forscher schwierig werden, zu erkennen, wann sie im Begriff sind, sich des Betrugs schuldig zu machen. Erinnern wir uns noch einmal an das Beispiel der kalten Fusion. Handelte es sich um Täuschung oder um Selbsttäuschung – und kann man diese beiden Phänomene überhaupt sauber voneinander trennen?22 In seinem Buch Voodoo Science beschreibt Robert Park, wie sich Selbsttäuschung unmerklich zu Betrug entwickelt.23 Die meisten würden

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hier wohl nicht zustimmen, weil Betrug Absicht voraussetzt. Wie Goodstein bemerkt, sollte man Selbsttäuschung und andere menschliche Schwächen nicht mit Betrug gleichsetzen. Falsche Interpretationen von Naturzusammenhängen stellen kein wissenschaftliches Fehlverhalten dar, und das wird auch so bleiben. Aber sie lassen natürlich Rückschlüsse auf die Situationen zu, in denen Wissenschaftler Schwächen zum Opfer fallen wie Selbsttäuschung, Fehlwahrnehmung, unrealistischen Erwartungen und fehlerhaften Experimenten, um nur einige zu nennen. Dies sind jedoch Beispiele allzu menschlicher Unzulänglichkeiten und keine Fälle von Betrug.24

Vielleicht benötigen wir eine weitere Kategorie. Goodstein folgert, dass der Fall der kalten Fusion zwar nicht in den Bereich des Betrugs fällt, aber dem nahe kommt, was Irving Langmuir als „pathologische Wissenschaft“ bezeichnet hat. Hierbei „ist eine Person grundsätzlich der Meinung, das Richtige zu tun, wird aber durch Selbsttäuschung in die Irre geleitet“.25 Vielleicht haben also beide, Park und Goodstein, recht und Selbsttäuschung per se ist kein Betrug, aber sie kann ein weiterer Schritt auf dem Weg zu diesem Tatbestand sein. Wir sollten uns meiner Ansicht nach ernsthaft mit der Vorstellung auseinandersetzen, dass ein Phänomen, welches als Selbsttäuschung beginnt, später (wie die Hybris) zu Betrug führen kann. Die Frage ist an dieser Stelle, ob wir unsere Einstellung zu dem, was gute Wissenschaft ausmacht, aushöhlen, wenn wir Selbsttäuschung zu lange tolerieren oder uns ihr gar hingeben.26 Mehr noch, selbst wenn wir uns (wie hier an dieser Stelle) nur mit absichtlicher Täuschung auseinandersetzen, sollten wir vielleicht jeden Weg in Augenschein nehmen, der dorthin führen kann. Wichtig ist es zu erkennen, dass Selbsttäuschung, kognitive Verzerrungen, schludrige Forschungspraktiken und pathologische Wissenschaft gefährlich sind  – selbst wenn wir sie nicht mit Betrug gleichsetzen. Diese Phänomene sind gefährlich, weil sie, lässt man ihnen ihren Lauf, den Respekt vor der wissenschaftlichen Grundhaltung untergraben und damit zu Betrug führen können. Das bedeutet aber nicht, dass man tatsächlichen Betrug nicht klar davon abgrenzen sollte. Ebenso wenig sollte man Universitäten eine fehlende Klarheit in der Bestimmung dessen durchgehen lassen, was tatsächlich wissenschaftlichen Betrug darstellt, im Gegensatz zu Verfahrensweisen, die man nur anderweitig eindämmen möchte. Mit Recht verlangen wir von Forschern eine tadellose Einstellung zum Erkenntnisgewinn aus empirischen Belegen, selbst wenn wir auch zwischen fragwürdigen oder

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nicht standardgemäßen Forschungspraktiken und Betrug unterscheiden müssen. Jedes Versäumen einer klaren Stellungnahme – oder die fehlende Bereitschaft, den Begriff „Betrug“ in eindeutigen Fällen auch zu verwenden – kann zum Problem werden. Wer sich des Betrugs schuldig gemacht hat, erhält damit die Möglichkeit, sich hinter schwammigen Formulierungen von Schuldeingeständnissen zu verstecken und Fehler zuzugeben, ohne wirklich die Verantwortung dafür zu übernehmen. Damit erweist man nicht nur der Mehrheit der aufrichtigen Wissenschaftler einen Bärendienst, sondern auch denjenigen, deren Vergehen nicht (ganz) an Betrug heranreichen, denn die Wissenschaftsgemeinschaft reagiert dadurch mit noch stärkerem Misstrauen auf die Fälle, in denen jemand nur einen Fehler (wie mangelhafte Datensicherung), aber keinen eindeutigen Betrug begangen hat.27 Wenn wir Betrug nur als eine weitere Art des wissenschaftlichen Fehlverhaltens klassifizieren oder letztere Umschreibung als Euphemismus für ersteren Tatbestand verwenden – wem verschaffen wir damit einen Vorteil? Wenn die wissenschaftliche Grundhaltung unser Kriterium darstellt, dann sollten wir Betrug auch benennen und offenlegen. Ein solches Vorgehen wird eine abschreckende Wirkung auf andere ausüben und ein Zeichen der Integrität für die Wissenschaft als Ganzes setzen. Wir müssen wachsam sein und solche Verfehlungen aufdecken, dabei jedoch sorgfältig darauf achten, dass wir nicht mit Schuldzuweisungen über das Ziel hinausschießen und damit, ohne es zu wollen, die Freiheit der Forschung im Keim ersticken, die immer der Kern des wissenschaftlichen Fortschritts gewesen ist.28

Wenn ein Betrugsfall aufgedeckt wird, kann (und sollte) die Ahndung durch die eigene Gemeinschaft schnell und zuverlässig erfolgen. Doch zunächst einmal darf er nicht vertuscht werden. Der Druck, dem die Handelnden oft ausgesetzt sind, ist zwar nachvollziehbar, aber eine Vertuschung gefährdet den Ruf der Wissenschaft. Denn wenn Schuldzuweisungen nicht jene treffen, die auch für das Vergehen verantwortlich sind – und manche vermuten, dass Betrug nur zu oft entschuldigt oder vertuscht wird –, kann die unbeabsichtigte Folge davon sein, dass den Menschen Unrecht geschieht, die lediglich beschuldigt werden. Wenn Betrug nur selektiv geahndet wird, könnten schon die Personen für schuldig gehalten werden, denen nur der entsprechende Vorwurf gemacht wird. Hinweise auf dieses Phänomen können wir in dem bereits beschriebenen Replizierbarkeitsskandal und im Beispiel der Rücknahme von wissenschaftlichen Artikeln erkennen. Studien

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können auch aus Gründen nichtreplizierbar sein oder zurückgezogen werden, die nicht das Geringste mit Betrug zu tun haben. Wenn es aber keine scharfe Trennlinie zur Abgrenzung des Betrugs gibt – und wir uns auf vage Umschreibungen wie „Fehlverhalten in der Forschung“ zurückziehen –, ist es viel zu leicht möglich, reflexartig im Sinne der Shakespeare’schen Worte „zum Teufel beider Sippschaft“ zu reagieren und externe Ereignisse (wie das Zurückziehen eines Artikels) schon als Hinweis auf üble Absichten anzusehen. Am Ende lässt man dadurch Betrüger davonkommen, während Unschuldige sich falschen Anschuldigungen ausgesetzt sehen. Beides hat ungute Folgen für die Wissenschaft. Bleibt der Umgang mit Verstößen Wissenschaftlern statt Verwaltungen überlassen, werden tatsächliche Betrugsfälle für gewöhnlich eindeutig benannt und entsprechend bestraft. Ich meine sogar, dass einer der Vorteile der Nutzung der wissenschaftlichen Grundhaltung zur Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft in einer Erklärung dafür besteht, warum Wissenschaftler mit Betrügern so hart ins Gericht gehen. Wenn wir die wissenschaftliche Grundhaltung als eine essenzielle Eigenschaft der Wissenschaft stärker ins Bewusstsein rücken würden, wäre es Wissenschaftlern wohl leichter möglich, über die Einhaltung der Grenzen guter Wissenschaft zu wachen.29 Manche mögen sich hier nach dem Grund fragen. Wenn schließlich der Prozess von gemeinschaftlicher Überprüfung individueller Arbeit in der Wissenschaft gut funktioniert, bringt man doch damit jeden Fehler ans Tageslicht, egal ob er absichtlich begangen wurde oder nicht. Aber hierbei geht ein wichtiger Punkt verloren: Wissenschaft ist ein Unterfangen, bei dem der größte Anteil der Überprüfung eine Selbstüberprüfung sein muss. Wenn die Wissenschaft insgesamt ein unehrliches Unternehmen wäre, bei dem jeder betrügen würde – und es von den Gutachtern des Peer-Review-Verfahrens abhinge, die Betrüger zu entlarven –, würde das System Wissenschaft zusammenbrechen. Daher sollten wir Betrug anders behandeln als andere wissenschaftliche Fehler, denn er stellt einen Vertrauensbruch und Verstoß gegen die Werte dar, die Wissenschaftler als Gemeinschaft teilen.

Das Impfen-und-Autismus-Fiasko Wir sind an dieser Stelle ausreichend gewappnet, um die Folgen näher zu betrachten, die wissenschaftlicher Betrug nicht nur für die Wissenschaft haben kann, sondern auch für die Gesellschaft, die sie als Basis alltäglicher Entscheidungen nutzt. Im Jahr 1998 publizierte Dr. Andrew

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Wakefield zusammen mit zwölf Koautoren ein Paper in der angesehenen britischen Medizinjournal Lancet. Die Autoren behaupteten, eine Verbindung zwischen der klassischen MMR-Impfung und dem Auftreten von Autismus gefunden zu haben. Entspräche ein solcher Zusammenhang der Realität, hätte es sich bei dieser Entdeckung um einen wichtigen Durchbruch in der Autismusforschung gehandelt. Sowohl die Öffentlichkeit als auch die Presse verlangten tiefer gehende Informationen, daher entschlossen sich Wakefield und einige seiner Koautoren dazu, eine Presskonferenz abzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Fragen zur Validität der Forschungsergebnisse aufgekommen. Wie sich herausstellte, basierte die Studie auf einer extrem kleinen Stichprobe von nur zwölf Kindern. Auch eine Kontrollgruppe gab es nicht. Alle Kinder waren geimpft und bei allen Autismus diagnostiziert worden. Während ein Laie hier vielleicht einen Beleg für eine kausale Verknüpfung sehen mag, werden Menschen mit Kenntnissen im Bereich der Statistik unweigerlich Fragen unter den Nägeln brennen. Wie zum Beispiel wurden die Probanden für die Studie ausgewählt? Dieser Faktor ist bedeutend: Wakefields Studie war weit davon entfernt, eine randomisierte, doppelt-verblindete klinische Studie zu sein (bei der die Forscher ihre Hypothese nach dem Zufallsprinzip an der Hälfte der Stichprobe testen und weder Versuchsleiter noch Probanden wissen, welche Probanden sich in welcher Gruppe befinden), auch nicht eine ­„Fall-Kontroll-Studie“ (bei der Forscher eine Gruppe untersuchen, die dem zu untersuchenden Phänomen auf natürliche Weise ausgesetzt waren).30 Vielmehr handelte es sich bei Wakefields Studie um eine einfache Fallserie, die man vielleicht am besten mit der zufälligen Feststellung vergleichen kann, dass mehrere Menschen an ein und demselben Tag Geburtstag haben, und dem anschließenden Erheben und Durchforsten von Daten auf der Suche nach weiteren Korrelationen. Ein solches Vorgehen birgt natürlich die Gefahr des „selection bias“ (Stichprobenverzerrung). Und schließlich basierte auch noch ein großer Teil der in der Studie genannten Belege für einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus auf einer kurzen Zeitspanne zwischen der Impfung und dem Einsetzen der Symptome – dies ist jedoch ein Faktor, der anhand der Erinnerungen der Eltern gemessen wurde. Jeder dieser Mängel würde einzeln bereits ausreichen, um andere Forscher misstrauisch zu machen. Und so kam es auch. Während der folgenden Jahre führten Forscher aus allen Teilen der Welt Studien durch in dem Versuch, die Ergebnisse Wakefields zu replizieren und damit einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus herzustellen. Viele der Vermutungen bezogen sich auf die Frage, ob das in den MMR-Impfstoffen enthaltene

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Thiomersal eine Quecksilbervergiftung hervorrufen könne. In der Zwischenzeit setzten viele Länder – als Vorsichtsmaßnahme, während man auf weitere Forschungsergebnisse wartete – die Verwendung von Thiomersal aus. Doch am Ende konnte keine der Studien einen Nachweis erbringen. In Finnland brüteten Epidemiologen über den medizinischen Daten von mehr als 2 Millionen Kindern … und fanden keinen Beleg dafür, dass die [MMR-]Impfung Autismus verursacht. Zudem entfernten schon vor den USA mehrere Länder das Thiomersal aus den Impfstoffen. In fast allen Ländern – Dänemark, Kanada, Schweden und Großbritannien – ergaben Studien, dass die Zahl der mit Autismus diagnostizierten Kinder durch die 1990er Jahre weiter anstieg, nachdem das Thiomersal bereits nicht mehr eingesetzt wurde. Insgesamt zehn unterschiedliche Studien konnten keinen Zusammenhang zwischen MMR und Autismus nachweisen; sechs weitere Gruppen konnten keine Verbindung zwischen Thiomersal und Autismus finden.31

In der Zwischenzeit kamen weitere erstaunliche Details in Bezug auf Wakefields ursprüngliche Studie ans Licht. So stellte sich 2004 heraus, dass Wakefield auf der Gehaltsliste eines Anwalts gestanden hatte, der eine groß angelegte Klage gegen einen Hersteller von MMR-Impfstoffen plante. Schlimmer noch, man deckte auf, dass fast die Hälfte der Kinder in Wakefields Studie ihm durch eben jenen Anwalt zugeführt worden war. Und schließlich erfuhr man noch, dass Wakefield kurz vor der Veröffentlichung seiner Studie einen Impfstoff als Konkurrenzprodukt zur klassischen ­MMR-Impfung zum Patent angemeldet hatte.32 Man hatte es hier nicht nur mit einem Fall von Stichprobenverzerrung zu tun. Wakefields Studie wies einen schwerwiegenden verdeckten Interessenkonflikt auf, der zahlreiche kritische Fragen zu seinen Motiven aufkommen ließ. Innerhalb von Tagen zogen zehn von Wakefields Koautoren ihre Namen aus der Studie zurück. Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät. Die Gerüchte waren in der Öffentlichkeit schon im Umlauf und die Impfraten gingen zurück. In Ashland im Bundesstaat Oregon betrug der Anteil der Impfbefreiungen 30 %. In Marin County, Kalifornien, war die Befreiungsrate mehr als dreimal so hoch wie im übrigen Bundesstaat.33 Angesichts solcher Gebiete des Impfwiderstands begannen Ärzte sich Sorgen um die „Herdenimmunität“ zu machen. Ohne diese Verbreitung von Impfungen in der Bevölkerung kann man nicht mehr gefahrlos ungeimpft bleiben und sich darauf verlassen, dass die meisten der Mitbürger eine Impfung erhalten

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haben. Und die Folgen waren erschreckend. Krankheiten, die man bereits für besiegt gehalten hatte, wie beispielsweise Masern, Keuchhusten und Diphterie, machten sich wieder auf den Vormarsch. [Masern] sind die infektiösesten Mikroorganismen, die uns bekannt sind, und sie haben mehr Kinder auf dem Gewissen als jede andere Krankheit in der Geschichte. Ein Jahrzehnt, nachdem die World Health Organisation (WHO) das Virus auf den amerikanischen Kontinenten, mit Ausnahme der Dominikanischen Republik und Haiti, für de facto ausgerottet erklärte hatte, sorgten sinkende Impfraten für explosive Ausbrüche in allen Teilen der Welt. In Großbritannien sind die Masernfälle seit dem Jahr 2000 um mehr als das Tausendfache gestiegen. In den Vereinigten Staaten gab es Ausbrüche in vielen der bevölkerungsreichsten Bundesstaaten, darunter Illinois, New York und Wisconsin.34

Wenig hilfreich war auch das Verhalten vieler Medien, deren Vertreter die Geschichte aufbauschten und versuchten, beim Thema Impfen „beiden Seiten“ der „Kontroverse“ Raum zu geben.35 Währenddessen beachteten zahlreiche Eltern autistischer Kinder die vielen Unregelmäßigkeiten in Wakefields Studie nicht weiter. Wakefield selbst hielt weiterhin Vorträge bei Autismus-Fachkonferenzen in aller Welt und ließ sich dort als Held feiern. Als die Fachzeitschrift Lancet im Jahr 2010 endlich die Veröffentlichung der Studie zurückzog und Wakefield in Großbritannien auch seine ärztliche Zulassung entzogen wurde, schossen die Verschwörungsmythen wie Pilze aus dem Boden. Warum wurden seine Arbeiten unterdrückt? Wütende Eltern (darunter zahlreiche Hollywood-Größen) hatten sich bereits organisiert und in Rage gebracht angesichts dessen, was sie für eine Vertuschungsaktion hielten. Wenn Thiomersal ungefährlich war, warum hatte man diesen Zusatz dann aus Impfstoffen entfernt? Ein Jahr später, 2011, kam schließlich die klare Einordnung: Bei Wakefields Arbeit handelte es sich um Betrug. Zusätzlich zu dem oben beschriebenen schwerwiegenden Interessenkonflikt hatte Brian Deer (ein investigativer Journalist, dem die Welt auch schon einen großen Teil der Enthüllungen des Jahres 2004 zu verdanken hatte) endlich Gelegenheit, mit Wakefields Patienten zu sprechen und ihre Patientenakten einzusehen. Die Ergebnisse seiner Recherche waren schockierend: „Es gab keinen Fall, der frei von falschen Angaben oder Änderungen war.“36 Wakefield hatte die medizinischen Daten jedes einzelnen Kindes in der Studie geändert.

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Bei drei von neun mit regressivem Autismus angegebenen Kindern war gar kein Autismus diagnostiziert worden. Nur bei einem Kind wurde eindeutig regressiver Autismus festgestellt. Obwohl im Artikel behauptet wurde, alle zwölf Kinder seien „zuvor normal“ gewesen, waren bei fünf von ihnen bereits im Vorfeld Entwicklungsprobleme festgestellt worden. Es wurde bei manchen Kindern angegeben, die ersten verhaltensbezogenen Symptome seien innerhalb von Tagen nach der MMR-Impfung aufgetreten, während die Dokumentation in den Patientenakten von einigen Monaten nach Impfung sprach. Es wurde angegeben, die Eltern von acht Kindern hätten die ­MMR-Impfung dafür verantwortlich gemacht, aber im Krankenhaus machten elf Familien diese Angabe. Der Ausschluss von drei Behauptungen – in denen die Zeitspanne bis zum Einsetzen der Probleme mit Monaten angegeben worden war – half dabei, den Eindruck einer 14-tägigen zeitlichen Verbindung entstehen zu lassen. Die Patienten wurden durch Anti-MMR-Aktivisten rekrutiert und die Studie für ein geplantes Gerichtsverfahren in Auftrag gegeben und finanziert.37

Das British Medical Journal (vielleicht die zweitangesehenste medizinische Fachzeitschrift nach dem Lancet ) entschloss sich zu dem beispiellosen Schritt, Deers Arbeit als eindeutigen Beweis des Betrugs einzustufen und sie – nach einem Peer-Review-Verfahren – zusammen mit dem eigenen Leitartikel abzudrucken, in dem man forderte, dass „der klare Nachweis der Datenfälschung nun das Kapitel dieser schädlichen Impfpanik schließen“ solle, und Wakefields Arbeit als einen „ausgefeilten Betrug“ bezeichnete.38 Man schloss mit den Worten: Wer beging diesen Betrug? Es besteht kein Zweifel daran, dass es Wakefield war. Ist es möglich, dass er unrecht hatte, aber nicht unehrlich war, dass er zu inkompetent war, um das Projekt angemessen zu beschreiben oder auch nur einen der zwölf Fälle fehlerlos zu dokumentieren? Nein. Es muss viel Planung und Mühe bedurft haben, um den Artikel so anzufertigen, dass er die gewünschten Ergebnisse lieferte: Die Abweichungen wiesen alle in eine Richtung; die falschen Angaben besaßen ein enormes Ausmaß.39

Ein Kommentator bezeichnete Wakefields Betrug ein paar Monate später als den „schädlichsten medizinischen Streich der letzten hundert Jahre“.40 Vier Jahre später, im Frühjahr 2015, gab es einen Masernausbruch mit über 100 bestätigten Fällen über 14 amerikanische Bundesstaaten hinweg.41

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Wie wir hier sehen können, ist wissenschaftlicher Betrug äußerst unschön und die Folgen können enorm sein.42 Doch einer der interessantesten Aspekte dieser Geschichte ist die große Verachtung, mit der die wissenschaftliche Gemeinschaft auf Wakefields Arbeit reagierte (die leider im Gegensatz zu der von den Medien ermöglichten öffentlichen Verwirrung und absichtlichen Ignoranz steht), und zwar schon bevor sie sich als Betrug herausstellte. Wie kam es dazu? Wenn Betrug Absicht erfordert, wie konnte dann die Wissenschaftscommunity augenscheinlich einen Konsens bilden, bevor ein Nachweis für Wakefields Datenmanipulation erbracht worden war? Die Antwort lautet, dass Betrug zwar die schwerwiegendste Form des absichtlichen Fehlverhaltens darstellen mag, aber nicht die einzige Möglichkeit ist, zu täuschen. In dem Moment, als sich der schwerwiegende verdeckte Interessenkonflikt Wakefields herausstellte, gerieten auch seine Motive unter Verdacht. Obwohl noch nicht eindeutig erwiesen war, dass seine finanziellen Interessen sich auf seine wissenschaftliche Arbeit auswirkten: Wo so viel Rauch war, konnten nur wenige Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft sich des Verdachts erwehren, dass dahinter ein großes Feuer stünde. Da Wakefield bereits gegen eine Grundregel wissenschaftlicher Praxis verstoßen hatte – nach der im Vorfeld alle möglichen Interessenkonflikte offenzulegen sind –, schlussfolgerten viele, er verdiene keinen Vertrauensvorschuss. Und sie behielten recht. Nur wirkte der Prozess der Selbstkorrektur in der wissenschaftlichen Gemeinschaft leider nicht bis in alle Teile der allgemeinen Öffentlichkeit fort.43

Ein Silberstreif am Horizont Trotz des oben beschriebenen unschönen Beispiels möchte ich den Schluss dieses Kapitels in etwas helleren Farben malen. Wir haben hier die vielleicht hässlichste Facette der Wissenschaft gesehen. Aber wie soll eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler damit umgehen, wenn ihre oder seine Theorie nicht funktioniert? Wenn Zeit- und Karrieredruck stark sind und die Daten einfach nicht passen wollen? Einige Jahre vor Andrew Wakefields Studie stand ein kaum bekannter britischer Astronom namens Andrew Lyne vor mehreren Hundert seiner Fachkollegen bei einem Treffen der American Astronomical Society in Atlanta, Georgia. Er war eingeladen worden, einen Vortrag über seine verblüffende Entdeckung eines Planeten im Orbit eines Pulsars zu halten. Wie konnte so etwas sein? Ein Pulsar ist ein Stern, der in einer Supernova

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explodiert ist – ein Vorgang, bei dem alles zerstört werden müsste, was dem Orbit auch nur nahekommt. Und doch hielten Lynes Ergebnisse einer Überprüfung stand und er veröffentlichte sie in der angesehenen Fachzeitschrift Nature. Aber dann hatte er ein Problem. Ein paar Wochen vor seiner Reise nach Atlanta hatte Lyne einen entscheidenden Fehler in einer seiner Berechnungen entdeckt: Er hatte vergessen miteinzubeziehen, dass die Umlaufbahn der Erde eher elliptisch als kreisförmig ist. Dieser Fehler hätte auch von einem frisch gebackenen Physikstudenten stammen können. Nach einer Korrektur dieses Irrtums „verschwand der Planet“. Doch nun, im Angesicht seiner Fachkollegen, suchte Lyne nicht nach Ausflüchten. Er erzählte seinem Publikum exakt, was er herausgefunden und welchen Fehler er gemacht hatte. Und seine Zuhörer spendeten ihm stehende Ovationen. „Das war das Ehrenhafteste, was ich je gesehen habe“, bemerkte einer der anwesenden Astronomen. „Eine gute Wissenschaftlerin oder ein guter Wissenschaftler ist schonungslos ehrlich zu sich selbst, und genau das hat sich gerade gezeigt.“44 Das ist der wahre Geist der wissenschaftlichen Grundhaltung.

9 Wissenschaft auf Abwegen: Leugner, Pseudowissenschaftler und andere Scharlatane

Wir verlassen jetzt das Thema des Betrugs – hinter dem die Akzeptanz der wissenschaftlichen Standards und der absichtliche Verstoß gegen diese Werte stehen – und wenden uns den Leugnern und Pseudowissenschaftlern zu. Hier reicht die Einstellung zu wissenschaftlichen Werten und empirischen Belegen von Missverständnissen und Ignoranz bis hin zu deren Anerkennung, die jedoch nicht ausreicht, um eine Veränderung oder Abkehr von ideologischen Überzeugungen zu bewirken. Viele Wissenschaftler sahen sich in letzten Jahren in der unglaublichen Situation, dass ihre Schlussfolgerungen zu empirischen Sachverhalten von Menschen infrage gestellt wurden, die sich dazu allein auf Basis ihres Bauchgefühls und ihrer ideologischen Überzeugungen berechtigt fühlen. Ein solches Verhalten ist irrational und gefährlich. Die Leugnung von Evolution, Klimawandel und Impfungen wurde in den letzten Jahren von denen befördert, die ein wirtschaftliches, religiöses oder politisches Interesse daran haben, bestimmten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu widersprechen. Statt sich nur zu wünschen, dass einzelne wissenschaftliche Erkenntnisse falsch wären, entwickelten diese Gruppen eine öffentliche Kampagne, die sehr dazu beigetragen hat, das gesellschaftliche Bild und den Respekt vor der Wissenschaft zu untergraben. Zum Teil besteht diese Kampagne darin, „die Wissenschaft anzufechten“, indem man fragwürdige Forschungsarbeit finanziert und verbreitet – die fast nie ein Peer-Review-Verfahren durchläuft –, um die Medien mit Meldungen über eine wissenschaftliche Kontroverse zu fluten, die es gar nicht gibt. Die Folge ist ein in gefährlichem Maße erfolgreicher Versuch, die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft zu zersetzen. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_9

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Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, verstoßen sogar Wissenschaftler bisweilen gegen die wissenschaftliche Grundhaltung. Doch ein verhältnismäßig großer Teil der Bedrohung erwächst wohl aus den Reihen derer, die nicht Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft sind. Sie droht durch Menschen, die den wissenschaftlichen Prozess absichtlich oder unabsichtlich missverstehen, die bereit sind, jedes wissenschaftliche Ergebnis abzuleugnen, das nicht zu ihren ideologischen Überzeugungen passt. Solchen Menschen, die nur vorgeben, wissenschaftlich zu arbeiten, um ihren bevorzugten Theorien Vorschub zu leisten, die auf zynische Weise die Unwissenheit anderer zu ihrem eigenen Vorteil nutzen oder aber durch übermäßige Leichtgläubigkeit sich selbst täuschen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass dieses irrige Verhalten sowohl bei Personen zu findet ist, die andere belügen (also verfehlte Wissenschaft betreiben oder Wissenschaft fälschlicherweise ablehnen), als auch bei Menschen, die belogen werden (sich also nie um das Erlernen der Fähigkeiten bemüht haben, die zur Bildung gut bewährter Überzeugungen notwendig sind). Wir leben in einer Zeit, in der Klimawandelleugner alltäglich über Twitter und Facebook ihre uninformierten Ideologien verbreiten oder die Jünger des Intelligent Design eine mit ihren als Rosinen herausgepickten Zweifeln an der Evolution befüllte Internetseite betreiben – ob sie sich ihres Verrats an den Prinzipien guter Wissenschaft bewusst sind oder nicht. Und daher sind wir für jede Diskrepanz zwischen unserem Vertrauen auf die Früchte der Wissenschaft und unserer bisweilen beklagenswert uninformierten Wahrnehmung der Funktionsweise wissenschaftlicher Arbeit selbst verantwortlich. Die zwei schädlichsten Formen des Verrats an den wissenschaftlichen Prinzipien, den Menschen außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft begehen können, sind Leugnung und Pseudowissenschaft. Obwohl beide Bereiche in diesem Kapitel ausführlich dargestellt werden sollen, möchte ich an dieser Stelle das Phänomen der Leugnung als die Weigerung beschreiben, sich von gut bewährten wissenschaftlichen Theorien überzeugen zu lassen, selbst wenn die empirischen Belege vollkommen eindeutig.1 Der häufigste Grund dafür ist der Widerspruch zwischen einer wissenschaftlichen Theorie und ideologischen Überzeugungen (beispielsweise die Behauptung, der Klimawandel sei eine Erfindung linker politischer Kräfte im Land), der dazu führt, dass die oder der Betreffende sich allen unpassenden Belegen verweigert. Im Gegensatz dazu ist Pseudowissenschaft der Versuch, einer grenzwertigen Theorie zu einer empirischen Fragestellung (wie dem Intelligent Design) dadurch Vorschub zu leisten, dass man ihr einen wissenschaftlichen Anstrich gibt, sich dann aber weigert, die eigenen Überzeugungen selbst im Angesicht widersprechender empirischer Belege oder externer Kritik seitens

9  Wissenschaft auf Abwegen: Leugner, Pseudowissenschaftler …     187

Menschen, die nicht zu den Anhängern dieser Theorie gehören, zu verändern. Wie wir sehen werden, ist es schwierig, eine Grenze zwischen diesen beiden Bereichen zu ziehen, denn sie überschneiden sich oft hinsichtlich der Strategien und gleichen sich in ihrer Ablehnung der wissenschaftlichen Grundhaltung. Jeder von uns hat ein Interesse an der Rechtfertigung der Wissenschaft. Wenn unsere Überzeugungen von denen manipuliert werden, die uns zu täuschen versuchen – besonders vor dem Hintergrund, dass wir alle den Hang zu kognitiven Verzerrungen in uns tragen, die zu einem Abgleiten in Leichtgläubigkeit und Selbsttäuschung führen können –, sind die Folgen für die wissenschaftliche Verlässlichkeit gravierend. Wir mögen uns dazu berechtigt fühlen, hinsichtlich empirischer Fragestellungen alles zu glauben, was wir glauben wollen (indem wir fälschlicherweise annehmen, dass überall dort, wo Wissenschaftler noch weitere Forschungsarbeit zu tun haben, bislang kein wissenschaftlicher Konsens herrscht). Doch wenn wir uns diese Sichtweise erlauben: Wen, wenn nicht uns, würde dann die Schuld treffen, wenn unser Planet in 50 Jahren fast unbewohnbar geworden ist? Natürlich ist das eine zu stark vereinfachte Darstellung höchst komplexer psychologischer Faktoren, denn es gibt viele Schattierungen der Wahrnehmung, Voreingenommenheit, Intention und Motivation, die sich alle auf die Beschaffenheit von Überzeugungen auswirken. Wie Robert Trivers es in seinem bereits zitierten Buch The Folly of Fools (Die Torheit der Narren) so meisterhaft beschreibt, ist die Trennlinie zwischen Täuschung und Selbsttäuschung dünn. So wie wissenschaftliche Forscher sich manchmal aufgrund ihrer eigenen Illusionen ins Reich der pathologischen Wissenschaft verirren, so kann es auch passieren, dass Leugner oder Pseudowissenschaftler überzeugt sind, sie würden die höchsten Standards der wissenschaftlichen Grundhaltung umsetzen. Aber das tun sie nicht.2 Genauso wenig wie Menschen, die derartige Dogmen übernehmen, ohne sie zu hinterfragen, und sich nicht die Mühe machen, über den Tellerrand absichtlicher Unwissenheit hinaus auf die Ergebnisse guter, wissenschaftlicher Forschung zu blicken. In diesem Kapitel möchte ich mich mit den Fehlern sowohl der Lügner als auch der übermäßig Leichtgläubigen auseinandersetzen. Denn wie bereits anklang, tragen wir in einer Zeit der leicht verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse alle eine Verantwortung für die Belegbarkeit unserer empirischen Überzeugungen. Für die Wissenschaft sind beide Bereiche von Fehlern schädlich. Ob jemand das Feuer der Klimawandelleugnung entzündet hat oder nur kurz an diesem verweilt, um sich daran die Hände zu wärmen,

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macht kaum einen Unterschied. Beides bedeutet die Abkehr von einer zentralen wissenschaftlichen Wertvorstellung.3 Im letzten Kapitel haben wir uns mit den Folgen beschäftigt, die entstehen, wenn ein Forscher die wissenschaftliche Grundhaltung betrügt. In diesem Kapitel werden wir Fälle beleuchten, in denen Menschen, die nicht wissenschaftlich arbeiten – unabhängig von ihren Motiven –, ihre Überzeugungen weiterverbreiten und Zweifel an gut bewährten wissenschaftlichen Erkenntnissen säen.

Ideologie und vorsätzliche Ignoranz Wissenschaftler fühlen sich wahrscheinlich der wissenschaftlichen Grundhaltung verpflichtet, die sich auf die Entwicklung und Änderung ihrer Überzeugungen auf der Basis empirischer Belege auswirkt. Aber was ist mit anderen Menschen? Glücklicherweise überwiegt bei vielen ein Respekt vor der Wissenschaft. Es lässt sich wohl mit Recht annehmen, dass die meisten Menschen – auch wenn sie selbst nicht wissenschaftlich tätig sind  – die Vorstellung respektieren, dass wissenschaftliche Überzeugungen durch ihre Überprüfung besonders verlässlich und nützlich sind.4 Andere jedoch verpflichten sich in erster Linie einer Ideologie. Ihre Einstellung zu empirischen Fragestellungen beruht nicht auf Belegen, sondern auf ihren bereits bestehenden politischen, religiösen oder anderen ideologischen Überzeugungen. Besteht ein Widerspruch und wissenschaftliche Erkenntnisse kollidieren mit persönlichen Überzeugungen (beispielsweise ob Beten den Heilungsprozess beschleunigt oder ob ESP möglich ist), kann dies zu einer Ablehnung der wissenschaftlichen Grundhaltung führen. Wir Menschen haben schon immer die Tendenz gehabt, zu glauben, was wir gerne glauben wollen. Aberglaube und vorsätzliche Ignoranz sind keine neuen Phänomene des menschlichen Daseins. Tatsächlich neu ist jedoch das Ausmaß, in dem man vorgefertigte Belege für die eigenen, auf Verschwörungsmythen basierenden, pseudowissenschaftlichen, leugnerischen oder anderen, ganz offensichtlich irrationalen Überzeugungen in Communitys von Gleichgesinnten im Internet finden kann. Der Einfluss, den eine gegenseitige Unterstützung in Gruppen auf die Verfestigung von (falschen) Überzeugungen haben kann, ist in der Sozialpsychologie seit über 60 Jahren bekannt.5 In dieser Zeit der rund um die Uhr ausgestrahlten, parteilich eingefärbten „Nachrichten“ – ganz abgesehen

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von Facebook-Gruppen, Chaträumen und personalisierten News-Feeds  – wird es immer einfacher, sich in ein „Informationssilo“ zurückzuziehen, durch dessen Wände nur selten unbequeme, den eigenen bevorzugten Vorstellungen widersprechende Fakten dringen. In dieser Ära der „Fake News“ können Menschen nicht nur Nachrichten ausweichen, die ihren eigenen Ansichten entgegenstehen, sondern sich fast so etwas wie eine alternative Realität aufbauen, in der eben diese Ansichten noch verstärkt und gegensätzliche Sichtweisen unterminiert werden. So erweisen sich politische und religiöse Ideologien – selbst dort, wo sie empirische Themen berühren – als zunehmend „faktenfrei“ und ihre Anhänger versuchen hartnäckig die Realität ihren Überzeugungen anzupassen. Diese Entwicklungen als gefährlich für die Wissenschaft zu beschreiben, wäre untertrieben. Ich halte sie sogar für so gefährlich, dass ich ihnen mit Respecting Truth: Willful Ignorance in the Internet Age (Die Wahrheit (­an-) erkennen: Vorsätzliche Unwissenheit im Internetzeitalter) ein ganzes Buch gewidmet habe. Darin setze ich mich mit der Frage auseinander, wie die oben beschriebenen Kräfte zusammenwirken und in den letzten Jahren zunehmend die Fähigkeit vieler Menschen erodieren konnten, das Konzept der Wahrheit zu respektieren und anzuerkennen.6 Ich möchte meine Argumentation an dieser Stelle nicht wiederholen, sondern ihre Auswirkungen auf den hier beschriebenen erkenntnistheoretischen Sonderstatus der Wissenschaft umreißen. In diesem Zusammenhang ist die Rolle des Gruppenkonsens von Bedeutung. Wir haben bereits gesehen, dass ein solcher Konsens in der Wissenschaft erst nach einer strengen Überprüfung und einem Abgleich mit empirischen Belegen zustande kommt. Der gemeinschaftlichen Prüfung kommt hier eine entscheidende Bedeutung bei der Korrektur individueller Fehler zu. In der Wissenschaft erhoffen wir uns von der Gruppe keine Bestätigung unserer vorgefassten Ansichten, sondern konstruktive Kritik. Als Anhänger einer Ideologie verspürt man jedoch selten den Drang danach, kritisiert zu werden, und sucht in Gruppen daher lieber nach Zustimmung.7 Eine direkte Folge dieses Verhaltens ist das Problem des „confirmation bias“ (wie wir gesehen haben, die häufigste Form der kognitiven Verzerrung, die uns aktiv nach bestätigenden statt widersprechenden Belegen suchen lässt). Die gewünschte Bestätigung einer Unwahrheit auch tatsächlich zu finden, ist inzwischen so einfach wie noch nie. Somit nutzen Scharlatane Gruppen, um Voreingenommenheit bestätigen zu lassen, während sie in der Wissenschaft als Korrektiv und Schutz vor individuellen Irrtümern dienen.

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Sagans Matrix In seinem wegweisenden Buch The Demon-Haunted World: Science as a Candle in the Dark (Der Drache in meiner Garage: Die Kunst der Wissenschaft, Unsinn zu entlarven)8 beschreibt Carl Sagan, wie man Wissenschaft von Pseudowissenschaft und anderen Formen der Täuschung durch zwei einfach Kriterien unterscheiden kann: Offenheit und Skepsis. Sagan zufolge steht im Zentrum der Wissenschaft ein essenzielles Gleichgewicht zweier scheinbar widersprüchlicher Denkweisen – eine Offenheit für neue Erkenntnisse, egal wie außergewöhnlich sie sind oder wie stark sie der eigenen Intuition widersprechen, und die kompromisslose skeptische Überprüfung aller Erkenntnisse, egal ob es sich um neue oder alte handelt.9 Das Konzept der „neuen Erkenntnisse“ umfasst Sagan zufolge die Forderung, dass Wissenschaftler sich, wenn ihre alten Überzeugungen infrage gestellt werden, diesen neuen empirischen Herausforderungen nicht verschließen dürfen. Wenn wissenschaftliche Überzeugungen auf empirischen Belegen aufbauen müssen, dann müssen Wissenschaftler auch offen sein für die Möglichkeit, dass neue Belege ein Umdenken notwendig machen. Man sollte jedoch, so Sagan, nicht so offen für neue Vorstellungen sein, dass man sie ungefiltert übernimmt. Wissenschaftler dürften nicht leichtgläubig sein und müssten es anerkennen, wenn der weitaus überwiegende Teil der Vorstellungen schlicht falsch sei.10 Diese beiden Prinzipien müssen also umgesetzt werden, obwohl sie miteinander in einem Spannungsverhältnis stehen. Weil dem Experiment hier die Funktion eines Schiedsrichters zukommt, kann ein guter Wissenschaftler sowohl offen als auch skeptisch sein. Durch den Prozess der Kritik können wir die Spreu vom Weizen trennen. Sagan kommt zu dem Schluss, manche Vorstellung seien tatsächlich besser als andere.11 Man mag hier einwenden, dass dies eine vereinfachende Darstellung sei, und zweifellos ist sie das auch. Aber meiner Ansicht nach umreißt sie einen entscheidenden Grund für den Erfolg von Wissenschaft. Vielleicht lässt sich die Tiefe dieser von Sagan beschriebenen Einsichten am besten messen, wenn wir sie auf die Gebiete übertragen, deren Vertreter nicht offen oder nicht skeptisch sind. Begeben wir uns also etwas weiter ins Dickicht der Leugnung und Pseudowissenschaft hinein. Zwar setzt sich Sagan nicht mit Wissenschaftsleugnung per se auseinander, aber er diskutiert ausführlich das Thema Pseudowissenschaft und erlaubt uns damit einen interessanten Vergleich. Worin besteht der Unterschied zwischen Wissenschaftsleugnung und Pseudowissenschaft?

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Carl Sagan beschreibt Pseudowissenschaftler als leichtgläubig. Und wie ich meine, würden die meisten Wissenschaftler hier wohl kaum widersprechen wollen.12 Wenn es um Heilsteine, Astrologie, Levitation, ESP, Rutengehen, Telekinese, Handlesen, Geistheilung und Ähnliches13 geht, darf man von wissenschaftlicher Seite wohl kaum mit Bestätigung rechnen. Und dennoch geben sich fast alle dieser Glaubenskonzepte mehr oder weniger den Anstrich wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit durch die Suche nach empirischer Bestätigung. Warum ist das problematisch? Das Problem liegt nicht darin, dass die Vertreter dieser Konzepte nicht „offen für neue Erkenntnisse“ seien. Vielmehr sind sie in gewisser Weise „zu offen“.14 Man sollte sich Überzeugungen nicht ohne die Anwendung eines konsistenten Standards der empirischen Belege entwickeln. Das Rosinenpicken einiger bestätigender Fakten und das Ignorieren anderer Fakten hat nichts mit guter wissenschaftlicher Praxis zu tun. Hier bezieht sich Sagan auf das positive Beispiel, nämlich die Arbeit des CSICOP (Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal, inzwischen Committee for Skeptical Inquiry). Dies ist ein Zusammenschluss von wissenschaftlich-kritischen Skeptikern, die sich mit „außergewöhnlichen“ ­ Behauptungen auseinandersetzen. Wenn Wissenschaft sich Offenheit auf die Fahnen schreibt, müssen solche Behauptungen zumindest gehört werden.15 Das Problem ist nur, dass in praktisch jedem durch die Skeptiker untersuchten Fall die empirischen Belege nicht standhalten konnten.16 Die außergewöhnlichen Behauptungen erwiesen sich als pseudowissenschaftlich, nicht weil sie neu oder fantastisch anmuteten, sondern weil ihnen ohne das Vorhandensein ausreichender empirischer Belege Glauben geschenkt wird. Diese Sichtweise auf die Pseudowissenschaft lässt uns einen faszinierenden Kontrast zur Leugnung erkennen. Wie bereits angemerkt, geht Sagan selbst nicht auf das Phänomen der Leugnung ein, vergleicht sie daher auch nicht mit der Pseudowissenschaft. Man kann jedoch hier die Frage stellen, ob er sich wohl der Hypothese anschließen würde, dass das Problem an der Leugnung nicht in einer mangelnden Skepsis, sondern in einer unzureichenden Offenheit für neue Erkenntnisse begründet liegt.17 Verschließt man sich neuen Erkenntnissen – besonders allen empirischen Belegen, die eigene ideologische Überzeugungen infrage stellen –, praktiziert man keine wissenschaftliche Denkweise. Sagan beschreibt, dass reine Skepsis allein keine neuen Erkenntnisse durchdringen lässt und man daher nicht dazulernen kann.18 Obwohl ein wesentlich stärker ausgeprägter Sinn für wissenschaftliche Skepsis als der, den Sagan beschreibt, wünschenswert wäre (in Kürze werde ich hierauf näher eingehen), zeigt diese Darstellung doch

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zumindest ein Problem im Hinblick auf die Wissenschaftsleugnung auf. Die wissenschaftliche Grundhaltung erfordert die Anerkennung von empirischen Belegen, weil diese Belege unter Umständen unsere Denkweise verändern können. Für Wissenschaftsleugner wird im Gegensatz dazu kein einziger empirischer Beleg jemals ausreichend sein, um sie zu veranlassen, ihre Ansichten zu ändern. Mit der Umsetzung der wissenschaftlichen Grundhaltung besitzt die Wissenschaft einen Mechanismus, durch den sie sich von Fehlern erholen kann. Das Phänomen der Leugnung lässt einen solchen Mechanismus nicht erkennen. Weisen also Pseudowissenschaft und Leugnung mehr Gemeinsamkeiten oder mehr Unterschiede auf? Meiner Einschätzung nach gibt es Ähnlichkeiten (und sicherlich auch demografische Überschneidungen), aber es ist in diesem Fall erhellender, näher auf die Frage der angeblichen Unterschiede einzugehen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich diese Vorstellungen näher beleuchten. Hier soll zunächst als Ausgangspunkt eine 2 × 2-Matrix in Anlehnung an Sagans Darstellung dienen (vgl. Tab. 8.1).19 Zu beachten ist das zusätzliche Feld mit der Möglichkeit, hier auch Verschwörungsmythen einzubeziehen. Dieses Phänomen erscheint in der Matrix als geschlossen und zugleich leichtgläubig. Wie ist das möglich? Nehmen wir zum Beispiel die Vorstellung, die NASA hätte die Mondlandung gefälscht. Handelt es sich dabei um ein geschlossenes Gedankengebäude? So scheint es. Kein Beleg in Form von Mondgestein, Videoaufnahmen oder ähnlichen Dingen wird dazu ausreichen, einen vehementen Mondlandungsleugner vom Gegenteil überzeugen. Man beachte, dass es sich dabei nicht um echte Skepsis handelt, sondern um eine Art selektive Bereitschaft, Belege anzuerkennen, die mit der eigenen Hypothese in Einklang stehen. Und wie steht es mit der Behauptung, Mondlandungsleugner seien leichtgläubig? Hier kommt der „Skepsis“-Standard gar nicht mehr zum Tragen. Jeder, der glaubt, die US-Regierung könne ein so umfangreiches Unterfangen wie die Fälschung einer Mondlandung vertuschen, muss entweder extrem leichtgläubig sein oder der Regierung Fähigkeiten zuschreiben, die jeder bisherigen realen Erfahrung zuwiderlaufen. Hier haben wir das Problem der mangelnden Überprüfung. Stimmt eine Vorstellung mit den eigenen vorgefassten Ansichten überein, wird sie nicht mehr kritisch hinterfragt. Tab. 8.1  Einordnung von Pseudowissenschaft und Wissenschaft Offen Geschlossen

Skeptisch

Leichtgläubig

Wissenschaft Leugnung

Pseudowissenschaft Verschwörungsmythen

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Verschwörungsmythen lassen also eine seltsame Mischung aus Geschlossenheit und Leichtgläubigkeit erkennen. Wir finden hier die vollständige Anerkennung aller Vorstellungen, die mit der eigenen Ideologie im Einklang stehen neben der vollständigen Ablehnung aller Vorstellungen, die dieser Ideologie widersprechen. Verschwörungsmythen werden typischerweise zu unzureichend durch Belege gestützt, als dass sie einer fundierten wissenschaftlichen Kritik standhalten könnten. Und dennoch scheint kein empirischer Beleg, der im Widerspruch zur Ideologie steht, auszureichen, um eine Abkehr vom bevorzugten Mythos zu bewirken. Dieses Phänomen kann man nur als Scharlatanerie in Reinform beschreiben, und in mancherlei Hinsicht stellt es das genaue Gegenteil von Wissenschaft dar. Es ist immer recht unterhaltsam, wenn man versucht, festgefügte Unterscheidungsmerkmale (wie bei unserer Matrix weiter oben) in einem Schema unterzubringen. Aber ich möchte anmerken, dass darin ein Fehler steckt – oder zumindest der Makel der Unvollständigkeit. In der Praxis verhalten sich Leugner nicht ganz so skeptisch und Pseudowissenschaftler nicht ganz so offen. Beide Gruppen scheinen sich eher von einer ideologischen Strenge leiten zu lassen, die sie vor echter Offenheit oder Skepsis zurückscheuen und viel eher Gemeinsamkeiten mit Verschwörungsgläubigen erkennen lässt. Obwohl Sagans Darstellung provokant ist und man sie als Vorwand nutzen kann, besteht das wirkliche Problem mit Leugnung und Pseudowissenschaft im Fehlen der wissenschaftlichen Grundhaltung.

Wissenschaftsleugner sind keine Skeptiker Die Leugner gehören wohl zu der Gruppe von Scharlatanen, mit der sich am schwierigsten umgehen lässt. Viele von ihnen geben sich der Illusion hin, sie würden die höchsten Standards wissenschaftlicher Sorgfalt einhalten, während sie zugleich die wissenschaftlichen Standards für Belege ablehnen. Wenn es um den menschengemachten Klimawandel geht, um das HI-Virus als Auslöser von AIDS oder die Frage, ob Impfungen Autismus auslösen20, haben die meisten Leugner keine anderen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bieten, es gefallen ihnen nur die Erkenntnisse nicht, die wir haben.21 Sie glauben, was sie gerne glauben wollen, und warten einfach, bis ihnen die passenden Belege in den Schoß fallen. Wie ihre Verwandten, die „Birther“ (die Barack Obamas Geburtsurkunde anzweifeln) oder die „Truther“ (die glauben, dass George W. Bush zu den Verschwörern des 11. September 2001 gehört), nutzen sie jeden Vorwand, um zu zeigen, dass ihre schlecht belegten Überzeugungen tatsächlich besser zu den Fakten passen als der

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offensichtlichere (und wahrscheinlichere) rationale Konsens. Sie bemühen sich also nicht in konventionellem Sinn um Belege (weil kein Beleg sie dazu veranlassen kann, ihre Überzeugungen aufzugeben), sind jedoch sehr darauf bedacht, jeden verfügbaren Beleg heranzuziehen – egal wie dürftig er sein mag –, um ihre bevorzugte Vorstellung zu untermauern.22 Diese Strategie basiert auf einem gravierenden Missverständnis in Bezug auf die Rolle der Begründung bei der Entwicklung wissenschaftlicher Überzeugungen. Wie wir wissen, erfordern wissenschaftliche Überzeugungen keinen Beweis oder Gewissheit, sondern sie müssen der Anfechtung durch widersprechende empirische Belege und der kritischen Überprüfung durch Fachkollegen standhalten können. Aber genau das ist ein Problem. Die Hypothesen von Leugnern scheinen auf einem Bauchgefühl zu beruhen und nicht auf Fakten. Wenn aber eine Überzeugung nicht auf empirischen Belegen beruht, wie können wir dann jemanden dazu bringen, sie auf der Basis von empirischen Belegen zu ändern? Es wirkt fast so, als würden Leugner glaubensbasierte Behauptungen aufstellen. Es überrascht wenig, dass Leugner sich nicht selbst für solche halten und sich gegen diese Bezeichnung verwehren. Sie sehen sich als „Skeptiker“, die höchste wissenschaftliche Standards einhalten. Ihrer Meinung nach werden diese Standards von denen untergraben, die viel zu schnell wissenschaftliche Schlussfolgerungen ziehen und nicht erst warten, bis alle Belege verfügbar sind. Der Klimawandel sei nicht „wissenschaftlich konsentiert“, behaupten sie. Politisch linke Klimawissenschaftler würden überall auf der Welt hinsichtlich der Daten übertreiben und sich weigern, alternative Hypothesen zu berücksichtigen, weil sie sich mehr Arbeit oder Forschungsgelder verschaffen möchten. Leugner behaupten für gewöhnlich, die verfügbaren empirischen Belege seien fehlerhaft oder im Zuge von Vertuschungsaktionen manipuliert worden. Dieses Verhalten macht den Umgang mit Leugnern so frustrierend. Sie sehen sich selbst nicht als Ideologen, sondern als Zweifler, die sich durch die mangelhafte wissenschaftliche Argumentation anderer nicht hinters Licht führen lassen. In Wirklichkeit sind sie es, die auf höchst unwahrscheinliche Verschwörungsmythen hereinfallen, die angeblich erklären, warum die verfügbaren Belege unzureichend und ihre eigenen Überzeugungen auch ohne empirische Untermauerung ausreichend begründet sind. Schließlich sollte sich doch ein guter Skeptiker genau so verhalten, oder? Nein, sollte er nicht. Skepsis spielt in der Wissenschaft eine wichtige Rolle. Bei dem Begriff der „Skepsis“ denkt man unwillkürlich an die Behauptung der Philosophen, dass es unmöglich ist, etwas zu wissen. Dass Wissen Gewissheit erfordert und dort, wo diese Gewissheit fehlt, auch Überzeugung fehl am Platz ist.

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Man bezeichnet dies als philosophischen Skeptizismus. Wenn es um nichtempirische Überzeugungen geht – wie in Descartes Meditationen, in denen er sich mit sinnlichen und rationalen Überzeugungen beschäftigt –, könnten wir uns trefflich darüber streiten, ob der Fallibilismus die richtige Antwort auf die Suche nach Gewissheit im weiteren Sinne ist. Doch hinsichtlich der Wissenschaft müssen wir gar nicht so weit gehen, weil es uns hier um den Wert des Zweifels bei der Begründung empirischer Überzeugungen geht. Sind Wissenschaftler Skeptiker? Die meisten sind es, meiner Auffassung nach, nicht in dem Sinne, dass sie Wissen für unmöglich halten, sondern weil sie sich auf den Zweifel als ein entscheidendes Werkzeug der Prüfung berufen müssen und damit ihre eigenen Überzeugungen hinterfragen, noch bevor diese mit den Daten abgeglichen wurden. Hier haben wir einen wissenschaftlichen Skeptizismus vor uns.23 Die Fähigkeit, die eigene Arbeit einer kritischen Prüfung zu unterziehen, damit sie korrigiert werden kann, noch bevor man sie Fachkollegen zugänglich macht, ist in der Wissenschaft von großer Bedeutung. Wie wir gesehen haben, steht eines fest, sobald eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler eine Theorie in die Welt setzt: Die Welt wird nicht sanft damit umgehen. Wissenschaftler sind für gewöhnlich nicht darauf aus, nur Daten zu erheben, die ihre Theorie stützen, weil auch niemand anders so vorgeht. Wie Popper feststellte, kann man den Wert einer Theorie am besten bestimmen, wenn man sie so kritisch wie möglich überprüft, um zu sehen, ob sie in sich zusammenbricht. Es gibt in der wissenschaftlichen Arbeit einen tief verwurzelten Sinn für Skepsis. Was Wissenschaftler jedoch von Philosophen unterscheidet, ist der Umstand, dass sie nicht an verstandesmäßige Argumente gebunden sind. Sie können vielmehr ihre Theorien anhand empirischer Belege überprüfen.24 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzen Skeptizismus zum einen dadurch um, dass sie sich mit Überzeugung durch eine Theorie so lange zurückhalten, bis diese überprüft worden ist, und zum anderen, indem sie versuchen, eventuelle Fehler in ihrer Methodik frühzeitig zu erkennen. Wie wir gesehen haben, reicht Zweifel allein nicht aus, wenn man ­empirisch-wissenschaftlich arbeitet. Man muss zudem offen für neue Erkenntnisse sein. Aber Zweifel ist ein Anfang. Durch den Zweifel stellen wir sicher, dass jede neue Erkenntnis zuerst den Prozess der kritischen Prüfung durchläuft. Was ist mit den Wissenschaftlern, deren Skepsis sie eine konsentierte und begründete Theorie ablehnen lässt – vielleicht in der Annahme (oder Hoffnung), dass eine andere Hypothese sie ersetzen könne, das jedoch ohne empirische Belege, die gegen die bestehende und für ihre Theorie sprechen? In einem wichtigen Punkt verlieren sie damit ihren Status als

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Wissenschaftler. Wir können die Richtigkeit oder Wahrscheinlichkeit einer Theorie nicht allein daran bemessen, ob sie richtig „erscheint“ oder zu unseren vorgefassten ideologischen Ansichten oder Eingebungen passt. Sich zu wünschen, etwas sei wahr, ist in der Wissenschaft nicht akzeptabel. Eine Theorie muss überprüft werden.25 Aus diesem Grund dürfen sich, meiner Überzeugung nach, Leugner nicht als Skeptiker im wahrsten Sinne des Wortes bezeichnen. Der philosophische Skeptizismus lässt uns alles bezweifeln – ob es dem Glauben, dem Verstand, sinnlicher Wahrnehmung oder der Intuition entspringt  –, weil wir uns nicht sicher sein können, dass es wahr ist. Wissenschaftlicher Skeptizismus bedeutet dagegen, dass wir die Überzeugung hinsichtlich empirischer Untersuchungsgegenstände zurückhalten, weil die Belege noch nicht an die normalerweise hohen Standards der Rechtfertigung in der Wissenschaft heranreichen. Im Gegensatz dazu lässt uns die Leugnung etwas ablehnen – selbst angesichts dessen, was andere als stichhaltige Belege ansehen würden –, weil wir nicht wollen, dass es wahr ist. Leugner nutzen den Zweifel mitunter ebenfalls, aber nur selektiv. Sie wissen recht gut, welche Wahrheiten sie sich erhoffen, und suchen vielleicht sogar aktiv nach Gründen, sie zu glauben. Befindet man sich selbst mitten in einem Anfall des Ableugnens, mag das dem Gefühl der Skepsis sehr ähneln. Man fragt sich vielleicht, wie andere nur so leichtgläubig sein können, so etwas wie den Klimawandel für „wahr“ zu halten, bevor überhaupt alle Daten verfügbar sind. Allerdings sollte man es als Warnsignal betrachten, wenn man derart emotional und selbstgerecht an einer bestimmten Überzeugung hängt, dass man sie über die Einhaltung der empirischen Standards stellt, welche die Wissenschaft kennzeichnen. Wie Daniel Kahneman in seinem Buch Thinking Fast and Slow so treffend beschreibt, ist der menschliche Verstand auf alle möglichen kognitiven Verzerrungen gepolt, die uns dabei helfen, unsere bevorzugten Ansichten zu rationalisieren.26 Bilden diese unbewussten Biases vielleicht das Fundament für Leugnung, selbst im Angesicht einer vollkommen eindeutigen Beleglage? Es gibt eine gut belegte empirische Basis für diese Schlussfolgerung.27 Zudem darf man nicht vergessen, dass das weiter oben angesprochene Phänomen der „Nachrichtensilos“ das Problem unter Umständen noch verstärkt, weil es den Leugnern das Gefühl der gemeinschaftlichen Bestätigung für ihre grenzwertigen Anschauungen gibt. Dies öffnet jedoch einer Art von Leichtgläubigkeit Tür und Tor, die wissenschaftlich-kritischen Menschen ein Gräuel sein muss. Tatsächlich hat das Leugnen wohl mehr mit dem Glauben an Verschwörungsmythen gemein als mit Skeptizismus. Wie oft hört man die

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Behauptung eines Verschwörungsgläubigen, die Belege besäßen keinen ausreichend hohen empirischen Standard, um von (in Wirklichkeit gut belegten) Fakten überzeugt zu sein – wie beispielsweise die Aussage, dass Impfungen nicht Autismus auslösen. Und im nächsten Moment wechseln sie dann in einen Zustand vollkommener Leichtgläubigkeit und lassen sich von der angeblichen Wahrheit der unwahrscheinlichsten Korrelationen überzeugen (beispielsweise, das CDC habe das Institute of Medicine bezahlt, damit die Daten zu Thiomersal unterdrückt würden)? Dieses Verhalten passt genau in das Verhaltensmuster von Leugnern: Sie setzen unmöglich zu erreichende Standards für die Informationen, die sie nicht glauben wollen, und extrem niedrige Standards für die Akzeptanz von Informationen, die zu ihrer Ideologie passen. Wie entsteht dieses Verhalten? Es entsteht, weil Leugner – im Gegensatz zu Skeptikern – ihre Überzeugungen nicht aus dem aufrichtigen Bemühen um Belege heraus entwickeln. Sie besitzen nicht die wissenschaftliche Grundhaltung. Die Doppelmoral hinsichtlich der Belege wird akzeptiert, weil sie den Leugnern zweckdienlich ist. Das Bemühen um den Schutz ihrer Überzeugungen steht für sie an oberster Stelle. Aus diesem Grund kommt es immer wieder zu Verstößen gegen wissenschaftliche Standards, selbst wenn es um die Diskussion empirischer Fragestellungen geht. Die Matrix, die ich aus Sagans Arbeit abgeleitet habe, ist daher in drei wichtigen Punkten hinsichtlich des Leugnens fehlerhaft.28 Erstens erscheint es falsch, Leugner als Skeptiker zu klassifizieren. Sie nutzen Belege zwar selektiv und stürzen sich auf die kleinsten Schwächen in den Theorien anderer, tun diese jedoch nicht aus wissenschaftlicher Sorgfalt heraus. Und die Kriterien, die sie anwenden, sind ideologischer und nicht empirischer Natur. In voreingenommener Weise selektiv vorzugehen, ist etwas anderes als Skepsis. Sieht man sich die Überzeugungen an, die Leugner wissenschaftlichen Erkenntnissen vorziehen, muss man sogar zu dem Schluss kommen, dass diese Menschen in Wirklichkeit recht leichtgläubig sind.29 Zweitens scheint auch die Aussage falsch zu sein, Leugner würden sich grundsätzlich neuen Vorstellungen verschließen. Wie wir am Beispiel des Klimawandels sehen werden, sind Leugner sehr offen für neue Informationen – und sogar für empirische Belege –, wenn diese ihre vorgefertigten Ansichten bestätigen. Und schließlich mag auch in Sagans Gegenüberstellung von Skeptizismus und Offenheit ein Fehler stecken. Sagan argumentiert, dass diese beiden Konzepte im Rahmen wissenschaftlichen Schlussfolgerns ins Gleichgewicht gebracht werden müssen. Diese Aussage legt nahe, dass sie sich gewissermaßen im Konflikt befinden. Stimmt das? Massimo Pigliucci merkt in seinem Buch Nonsense on Stilts (in etwa: Quatsch mit Soße) an, dass

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skeptisch zu sein bedeutet, vernünftige Vorbehalte gegen bestimmte Behauptungen zu haben. … Es bedeutet, mehr Belege zur Verfügung haben zu wollen, bevor man sich ein Urteil bildet. Vor allem bedeutet es aber, sich eine Einstellung der Offenheit zu bewahren, um die eigenen Überzeugungen den verfügbaren empirischen Belegen anpassen zu können.30

Meiner Ansicht nach ist dies eine treffende Beschreibung des Wesens eines wissenschaftlichen Skeptizismus. Wie kann man offen genug sein, um sich nicht zu schnell überzeugen zu lassen, dabei aber nicht offen für neue Vorstellungen sein? Bei der Skepsis geht es nicht darum, sich zu verschließen, es geht darum, sich immer wieder zur Offenheit für die Möglichkeit zu zwingen, dass sich die eigenen Überzeugungen als falsch erweisen können. Wissenschaft ist ein Prozess fortwährender Kritik, denn egal wie überzeugend die empirischen Belege sind, eine bessere Theorie wartet vielleicht schon hinter der nächsten Biegung.

Leugner in Aktion: Der Klimawandel Der menschengemachte Klimawandel ist vielleicht das beste Beispiel für Wissenschaftsleugnung, das sich in den letzten Jahren herauskristallisiert hat. Die Theorie, dass sich unser Planet durch den Ausstoß von Treibhausgasen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe kontinuierlich erwärmt, ist durch wissenschaftliche Daten ausgezeichnet belegt.31 Doch herrscht noch immer eine große öffentliche Verunsicherung und auch der Widerstand gegen diese gut bewährte Theorie ist groß, weil sie durch verschiedene finanzielle, politische und mediale Interessen zu einem die Öffentlichkeit spaltenden Thema hochgeputscht wurde. Die üble Art und Weise, in der Lobbyisten fossiler Energien die Schwächen des menschlichen Verstands ausnutzen konnten, um aktiv „Zweifel zu säen“, wo es keinen Zweifel gab – indem sie wissenschaftliche Sorgfalt durch Marketingstrategien ersetzten –, führt uns in erschreckendem Maße die Verletzlichkeit von Wissenschaft vor Augen. Die mit Abstand beste Arbeit zu diesem Thema stammt von Naomi Oreskes und Erik Conway und ist unter dem Titel Merchants of Doubt (Die Machiavellis der Wissenschaft: Das Netzwerk des Leugnens) erschienen.32 In meinem eigenen Buch Respecting Truth setze ich mich intensiv mit den erkenntnistheoretischen Folgen der öffentlichen Verunsicherung auseinander, nicht nur in Bezug auf die Realität der globalen Erwärmung, sondern auch mit der Frage, ob die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler diese Realität anerkennt (was der Fall ist).33

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Manche der unverantwortlichsten Äußerungen stammten von Politikern, die dem Ruf von Klimawissenschaftlern dadurch zu schaden versuchten, dass sie den Klimawandel als Schwindel bezeichneten.34 Man fragt sich, ob sie das wirklich selbst glauben oder nur „dem Affen Zucker geben“, um von einem Umfeld wiedergewählt zu werden, in dem ein erschreckend hoher Prozentsatz der Bevölkerung genau das glaubt. Doch egal welche Gründe dahinterstecken, die Folge ist ein beschämender, sich selbst befeuernder Kreislauf. Je mehr Politiker lügen, desto stärker spiegeln sich diese Lügen in der öffentlichen Meinung wider. Einer der schlimmsten Vertreter solcher Unwahrheiten ist der US-Senator Ted Cruz. Bei einem von den Koch-Brüdern gesponserten ­ ­Wahlkampf-Event sagte Cruz: Wenn man sich Satellitendaten der letzten 18 Jahre anschaut, sieht man null Aufzeichnungen globaler Erwärmung. Für die Global-Warming-Alarmisten ist das jetzt ein Problem mit ihren Theorien. Ihre Modellrechnungen zeigen eine massive Erwärmung, von der die Satelliten sagen, dass es sie nicht gibt. Wir haben gemerkt, dass die NOAA, die Regierungsbehörde, die Zahlen fälscht.35

Was stimmt an dieser Äußerung nicht? Da wäre zum einen die Tatsache, dass sie schlicht nicht wahr ist. Die Vorstellung einer „pausierten globalen Erwärmung“ geisterte jahrelang herum, wurde aber im Juni 2015 von Thomas Karl, dem Direktor des Nationalen Zentrums für Umweltinformation bei der NOAA (Nationale Ozean- und Atmosphärenbehörde), in einem Artikel in der Fachzeitschrift Science widerlegt.36 Man könnte Cruz insoweit in Schutz nehmen, dass er vielleicht noch nichts von Karls Artikel wusste, als er seine Rede hielt. Aber er entschuldigte sich nicht und revidierte seine Aussage nicht einmal, als der Artikel weithin bekannt geworden war. Stattdessen gab Cruz im Dezember 2015 dem Radiosender NPR ein bemerkenswertes Interview, das so klar und deutlich die Denkweise von Leugnern widerspiegelt, dass es sich lohnt, es hier umfassend zu zitieren: Steve Inskeep, Moderator: Was halten Sie von dem, was man als breiten wissenschaftlichen Konsens sieht, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt? Ted Cruz: Also ich glaube, dass die öffentliche Politik der Wissenschaft und den Daten folgen sollte. Ich bin der Sohn zweier Mathematiker und Programmierer und Wissenschaftler. In der Diskussion über den Klimawandel passiert es viel zu oft, dass Politiker in Washington – und auch zahlreiche Wissenschaftler, die große Summen an staatlichen

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­ ördergeldern bekommen – die Wissenschaft und die Daten außer Acht F lassen und stattdessen politische Ideologien vorantreiben. Sie und ich, wir sind beide alt genug, um uns an die Zeit vor 30, 40 Jahren zu erinnern, als linke Politiker und ein paar Wissenschaftler uns gesagt haben, dass das Problem die globale Abkühlung sei. Inskeep: Es gab einen Zeitpunkt, als ein paar Leute das gesagt haben. Cruz: Dass die Bedrohung durch eine Eiszeit auf uns zukäme. Und ihre Lösung für das Problem war, dass wir eine starke Regierungskontrolle der Wirtschaft, des Energiesektors und aller Bereiche unseres Lebens bräuchten. Aber die Daten konnten das nicht bestätigen, wie Sie ja angemerkt haben. Danach sind viele derselben linken Politiker und einige derselben Wissenschaftler zur Theorie der globalen Erwärmung gewechselt. Inskeep: Das ist also eine Verschwörung, Ihrer Ansicht nach. Cruz: Nein, das sind linke Politiker, die eine Regierungskontrolle über die Wirtschaft, den Energiesektor und alle Bereiche unseres Lebens haben wollen. Inskeep: Und fast alle Länder der Welt haben sich diesem Ziel angeschlossen? Cruz: Also lassen Sie mich Ihnen mal eine Frage stellen, Steve. Gibt es die globale Erwärmung, ja oder nein? Inskeep: Den Wissenschaftlern zufolge absolut. Cruz: Ich frage Sie. Inskeep: Sicher. Cruz: Okay, Sie liegen tatsächlich falsch. Die wissenschaftlichen Belege stützen keine globale Erwärmung. In den letzten 18 Jahren haben die Satellitendaten – wir haben Satelliten, die die Atmosphäre beobachten. Die Satelliten, die tatsächlich die Temperatur messen, haben keine wesentliche Erwärmung in irgendeiner Weise gezeigt. Inskeep: Ich merke hier nur an, dass die NASA dieselben Daten anders auswertet. Aber wir können weiterreden. Cruz: Aber nein, tun sie nicht. Sie können hingehen und sich die Daten anschauen. Und übrigens diese Anhörung – wir haben da einige Wissenschaftler, die zu den Daten aussagen. Aber jetzt kommt das Entscheidende. Der Klimawandel ist die perfekte pseudowissenschaftliche Theorie für einen Politiker, der mehr Macht will. Warum? Weil diese Theorie niemals widerlegt werden kann. Inskeep: Zweifeln Sie bei anderen allgemein akzeptierten Themen auch an der Wissenschaft – zum Beispiel bei der Evolution? … Cruz: Jeder gute Wissenschaftler zweifelt immer an der gesamten Wissenschaft. Wenn Sie mir einen Wissenschaftler zeigen, der aufhört, die

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Wissenschaft infrage zu stellen, dann zeige ich Ihnen jemanden, der kein Wissenschaftler ist. Und ich sage Ihnen, Steve – ich sage Ihnen, warum sich das geändert hat. Schauen wir in die Welt der globalen Erwärmung rein. Was für eine Sprache verwenden sie da? Sie bezeichnen jeden, der die Wissenschaft infrage stellt, der sogar auf die Satellitendaten hinweist – sie nennen dich einen, ich zitiere, „Leugner“. Leugner ist nicht die Sprache der Wissenschaft. Leugner ist die Sprache der Religion. Es ist ketzerisch. Du bist ein Blasphemiker. Sie behandeln das als Glaubenslehre. Aber es geht um Macht und um Geld. Und letztendlich ist das nicht kompliziert. Das sind linke Politiker, die die Regierungsmacht wollen. Inskeep: Sie wissen, dass Ihre Kritiker sagen würden, dass es auf Ihrer Seite um Macht und Geld geht. Lassen wir das für den Augenblick beiseite. Aber ich möchte Sie nach Folgendem fragen. Ich möchte Sie nach den Fakten fragen. Cruz: Aber stopp mal einen Moment. Wessen Macht – aber lassen wir das. Ich meine, wenn Sie jetzt … Inskeep: Energieindustrie, Ölindustrie, Texas … Cruz: Wenn Sie jetzt mit einem ad hominem um sich werfen.37 In diesem Dialog stecken so viele Schwächen, dass man ihn fast als Paradebeispiel für schlechtes Schlussfolgern anführen könnte: Cruz‘ Doppelmoral in Bezug auf empirische Belege, der subtile Themenwechsel, als er auf Verschwörungsmythen festgenagelt wird, das vorsätzliche Missverstehen der Bedeutung von „Offenheit“ für die Wissenschaft und der rhetorische Schulhoftrick, eine vermutete Beleidigung durch seinen Gesprächspartner auf eben diesen umzumünzen. Konzentrieren wir uns aber auf die wiederholte empirische Aussage über die angebliche 18 Jahre andauernde Pause in der globalen Erwärmung. Wie sich herausstellt, beruft sich Cruz sehr gerne auf behördliche Zahlen zur globalen Erwärmung, wenn sie ihm passen. In diesem Fall handelte es sich um einen (fehlerhaften) I­PCC-Sachstandsbericht aus dem Jahr 2013 (der zwischenzeitlich korrigiert wurde).38 So etwas kommt manchmal vor in der Wissenschaft: Es werden Fehler gemacht und diese müssen berichtigt werden, aber nicht weil dahinter eine Verschwörung steckt.39 Cruz nutzt hier also veraltete, fehlerhafte und widerlegte Zahlen. Doch hier lauert noch ein weiteres Problem. Die Zeitspanne von genau 18 Jahren ist merkwürdig. Cruz nennt nicht 20 oder selbst 17 oder 19 Jahre als Zeitraum. Warum ausgerechnet 18? Wir müssen uns an dieser Stelle einem Ereignis zuwenden, das genau 18 Jahre vor 2015 stattfand: El Niño.

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Hier begegnet uns die Vorliebe der Leugner für das Rosinenpicken von Belegen. Obwohl in 14 der letzten 15 Jahre die höchsten Temperaturen des Jahrhunderts verzeichnet worden waren, war das Jahr 1998 sogar unter diesen Jahren ein Ausreißer (nach oben). Es wurde ein erstaunlicher Anstieg der globalen Temperaturen nur für 1998 gemessen. Stellt man sich die Kurve zu diesen Daten vor und nimmt dieses Jahr mit seinen ungewöhnlich hohen Temperaturen als Ausgangspunkt, wirkt im Vergleich dazu das Jahr 2015 kühler. Die Zeitspanne von 1998 bis 2015 isoliert zu betrachten, konnte also durchaus das Bild relativ niedriger globaler Temperaturen vermitteln. Aber dieses Bild entsprach nicht der Realität. Wie wir inzwischen aus Karls Studie wissen, waren manche dieser Temperaturdaten nicht nur falsch, sondern man muss zudem, wie jeder Wissenschaftler weiß, die ganze Kurve betrachten – inklusive der Jahre dazwischen. Dann ändert sich das Bild, denn man erkennt, dass das Jahr 1998 ein Ausreißer nach oben war und es über die letzten Jahrzehnte hinweg eine stetige Entwicklung der globalen Erwärmung gibt.40 Selbst wenn man die alte, unkorrigierte Fassung der Kurve heranzieht, ist Cruz´ Argumentation fehlerhaft. Das „cherry picking“ oder Rosinenpicken stellt einen schwerwiegenden Verstoß gegen die wissenschaftliche Grundhaltung dar. Dennoch ist diese Strategie unter Leugnern weit verbreitet, während nur wenige Wissenschaftler diesen Fehler begehen würden. In der Wissenschaft müssen die eigenen Vorstellungen einer strengen Überprüfung anhand der Realität auf der Basis bereits akzeptierter Standards ausgesetzt werden. Man kann sich nicht einfach nach Lust und Laune etwas aussuchen. Aber für einen Ideologen wie Ted Cruz (und offenbar auch viele, die nicht geschult genug sind, um solche Fehler in der Argumentation zu vermeiden) mag sich dieses Verhalten vollkommen richtig anfühlen. Die kognitive Psychologie und die Verhaltensökonomie erklären dieses Verhalten im Zusammenhang mit dem „confirmation bias“ und dem motivierten Denken. Wie wir gesehen haben, lässt uns der „confirmation bias“ aktiv nach Gründen suchen, die uns im Recht erscheinen lassen. Motiviertes Denken bedeutet, dass es unsere Gefühlen erlauben, die Interpretation dieser Gründe immer genau so zu beeinflussen, dass sie bestätigen, wovon wir schon überzeugt sind. Beide Verhaltensweisen sind sehr menschlich, wir alle haben diese „eingebauten“ kognitiven Verzerrungen, selbst wenn wir wissen, wie wir uns davor schützen können. Wissenschaftler neigen wesentlich seltener dazu, diese Fehler zu machen. Das liegt an ihrer Kenntnis von Statistik und daran, dass die Wissenschaft ein öffentliches Unterfangen ist, bei dem das Bemühen um empirische Belege als Prozess transparent stattfindet und von einer Gemeinschaft von Fachkollegen sorgfältig auf Fehler in der wissenschaftlichen

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Argumentation überprüft wird. Wer umfassende Kenntnisse der Logik besitzt wie Philosophen und andere, die Skeptizismus für wichtig erachten, sollte ebenfalls diese Biases erkennen und sich gegen diese schleichende Gefahr für die klare wissenschaftliche Argumentation schützen können. Aber die meisten Leugner? Warum sollten sie sich mit solchen unnützen Dingen belasten? Natürlich würden nur wenige Leugner dieser Behauptung zustimmen, vor allem weil sie leugnen, Leugner zu sein. Es klingt doch so viel wissenschaftlicher und unvoreingenommen, wenn man sich auf den „Skeptizismus“ beruft, was wahrscheinlich die jüngste Übernahme dieses Begriffs erklärt.41 Manche Leugner (wie Ted Cruz) gehen sogar so weit zu behaupten, sie seien es, die in der Diskussion um den Klimawandel die wissenschaftliche Seite repräsentieren. Diese Behauptung ist uns nicht unbekannt. Die wissenschaftliche Forschung sei „noch nicht abgeschlossen“, es gebe „noch so viel mehr“, was wir noch nicht wissen. Und ist der Klimawandel nicht „nur eine Theorie“? Das Problem an diesen Behauptungen ist, dass keine von ihnen einer aufrichtigen skeptischen Haltung entspringt. Stattdessen bauen sie auf einem grundlegenden Missverständnis bezüglich wissenschaftlicher Prozesse auf, gepaart mit einer vollständigen Kapitulation vor kognitiven Verzerrungen. Ja, es stimmt, dass die wissenschaftliche Forschung zum Klimawandel noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Aber das liegt daran, dass  – wie wir gesehen haben – wissenschaftliche Forschung in keinem Bereich jemals vollständig abgeschlossen ist. Der Ablauf wissenschaftlicher Prozesse, wie wir ihn in Kap. 2 kennengelernt haben, umfasst immer die Möglichkeit, dass es weitere Experimente oder Überprüfungen durchzuführen gibt. Es ist ein Märchen, dass man eine vollständig abgeschlossene Bestätigung oder einen Beweis benötigt, um eine Überzeugung zu begründen. (Und wenn doch die Leugner dies ablehnen, warum dann die Doppelmoral in Bezug auf ihre eigenen Überzeugungen?). Der Behauptung schließlich, der Klimawandel sei „nur eine Theorie“ – demnach könnte jede alternative Theorie „genauso gut wahr sein“ –, möchte man kaum allzu viel Beachtung schenken. Wie bereits dargestellt, ist auch die Schwerkraft nur eine Theorie, ebenso wie die Erregertheorie der Krankheiten. Wir haben bereits gesehen, dass manche wissenschaftlichen Theorien erstaunlich verlässlich sind. Aber der Standard für die Begründung wissenschaftlicher Überzeugung lautet nicht, dass alles erlaubt ist, bis es widerlegt worden ist. Zwar stimmt es, dass eine Theorie, bis sie durch empirische Belege entkräftet worden ist, streng genommen wahr sein könnte, was jedoch nicht heißt, dass sie auch gerechtfertigt ist. Ein Wissenschaftler sollte seine Zeit nicht damit verschwenden müssen, jede grenzwertige Theorie zu ­widerlegen. Auch wenn

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die Wissenschaft ein Unterfangen mit offenem Ausgang ist, kann nicht jeder Spinner dazwischenfunken und darauf bestehen, dass seine Theorie überprüft wird. Wissenschaft ist zu Recht selektiv und das Kriterium dieser Selektion muss die Begründung durch empirische Belege sein. Wissenschaftliche Erklärungsmodelle bestehen nicht aus richtigen Vermutungen oder einigen wenigen punktuellen Daten. Nehmen wir die Hypothese der flachen Erde. Wenn sie stimmt, wo sind dann die Belege dafür? Weil es keine gibt, ist man im wissenschaftlichen Sinne dazu berechtigt, sie zu verwerfen. Die Flacherdler42 scheuen sich für gewöhnlich davor, zu erklären, was sie an den Belegen für das heliozentrische Weltbild als falsch erachten, abgesehen von der Feststellung, dass, bis es „belegt“ wurde, ihre eigene Theorie wahr sein könnte. Doch diese Argumentation ist nicht korrekt. Selbst wenn jemand etwas richtig vermutet hat, das sich als wahr herausstellt, ist das nicht wissenschaftlich. In der Wissenschaft geht es um Theorien, die die eigenen Vermutungen stützen, um etwas, das anhand empirischer Daten geprüft wurde und mit ihnen in Einklang steht. Ein weiteres Missverständnis von Leugnern bezieht sich auf die Art und Weise, in der ein wissenschaftlicher Konsens gebildet wird. Und auch hier ist keine hundertprozentige Übereinstimmung erforderlich, damit die Arbeit auf dem entsprechenden Gebiet weitergehen kann. Wer verlangt, dass alle Wissenschaftler auf der ganzen Welt übereinstimmen, bevor man das Problem des Klimawandels anerkennt und anpackt, will letztlich nur Zeit schinden. Die neueste Statistik lässt erkennen, dass über 96,2 % der weltweiten Klimawissenschaftler überzeugt sind, dass sich das Klima verändert und der Mensch dafür verantwortlich ist.43 Zum Vergleich: Eine ähnliche Studie ergab, dass nur 97 % der Wissenschaftler von der Evolution überzeugt sind, die das Grundprinzip der Biologie darstellt.44 Mehr als 150 Jahre nach Darwin haben wir also noch immer keine hundertprozentige Übereinstimmung hinsichtlich der Evolution! Aber das ist auch gar nicht notwendig, weil wissenschaftlicher Konsens so nicht funktioniert. Wissenschaftliche Hypothesen werden der gemeinschaftlichen Überprüfung und Kritik unterzogen und dann trifft das Fachgebiet, trotz des unvermeidlichen Dissenses, eine Entscheidung.45 Manche mögen hier einwenden, dass dieser Prozess noch immer Raum für Zweifel lässt und dass die „Skeptiker“ recht haben könnten (was auch manchmal vorkommt), aber ich würde mir da in Bezug auf den Klimawandel keine allzu großen Hoffnungen machen. Zunächst einmal müssen nämlich alle, die ernsthaft eine abweichende Überzeugung vertreten, in der Lage sein, empirische Belege als Begründung ihrer Überzeugungen beizubringen. Sind sie es nicht, könnte man sogar Zweifel an ihrem Status als Wissenschaftler hegen. Die Leugner mögen nun wiederum

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einwenden, sie hätten ja Belege und sie seien doch Teil einer Gemeinschaft, aber das ist einfach nur ermüdend. Es ist bereits zur Sprache gekommen, dass es etwas anderes ist, sich eine Gemeinschaft zwecks gegenseitiger Übereinstimmung auszusuchen, als sich von ihr eine kritische Überprüfung der eigenen Arbeit zu erhoffen. Egal wie viele Menschen man auch findet, die einem zustimmen: Bei der Klärung einer faktenbezogenen Fragestellung zählt nicht die Meinungsmehrheit, sondern empirische Belege.46 Könnten die Wissenschaftler nicht trotzdem falschliegen? Ja, natürlich könnten sie. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass jede wissenschaftliche Theorie (sogar Newtons Gravitationstheorie) falsch sein könnte. Das heißt aber nicht, dass man ein guter Skeptiker ist, nur weil man eine gut bewährte Theorie anzweifelt. Die Fülle wissenschaftlicher Belege abzulehnen, die zeigen, dass die globalen Temperaturen steigen und dass der Mensch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dafür verantwortlich ist, zeigt keine vernünftige wissenschaftliche Argumentationsweise, selbst wenn uns in 50 Jahren eine weit hergeholte Hypothese zeigt, warum wir falsch lagen. Skeptizismus steht vollkommen in Einklang mit der Verpflichtung der wissenschaftlichen Grundhaltung, die eigenen Überzeugungen auf der Basis von empirischen Belegen zu entwickeln und sie dann zu verändern, wenn neue Belege es erfordern, doch ein Garant für Wahrheit ist das auf keinen Fall. Stattdessen bietet die Wissenschaft Rechtfertigung auf der Basis empirischer Belege. Damit ist sie jedoch ein mächtiges Werkzeug. Als Leugner entscheidet man im Vorhinein – auf der Basis einer Ideologie –, was man gerne als wahr ansehen möchte, und filtert dann alle Informationen danach aus, ob sie diese vorgefasste Ansicht stützen oder nicht. Dieser Prozess führt nicht zu einer wissenschaftlichen Bewährung. Die Wissenschaft mag bisweilen falschliegen, aber ihre Erfolgsbilanz legt nahe, dass es keine ihr überlegenen Mitbewerber gibt, wenn es darum geht, Erkenntnisse über die empirische Welt zu gewinnen. Tatsächlich ist das der Grund, warum jemand wie Galilei kein Leugner war. Und wer behauptete das Gegenteil? In einem Interview mit der Texas Tribune, das im März 2015 erschien, sagte Ted Cruz: Heute sind die Global-Warming-Alarmisten das Pendant zu den Flacherdlern. Früher war es einmal … anerkanntes Wissen, dass die Erde flach ist, und dieser Häretiker namens Galilei wurde als Leugner abgestempelt.47

Wir können mit dieser Behauptung kurzen Prozess machen. Galilei war nicht aufgrund einer Ideologie vom heliozentrischen Weltbild überzeugt, sondern aufgrund von empirischen Belegen. Seine mittels Teleskop durchgeführten

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Beobachtungen der Venusphasen, der Mondkrater und der Jupitermonde erbrachten eine Fülle von Gründen, das ptolemäische, geozentrische Weltbild als falsch zu erachten, und diese Gründe hätten jeden Zweifler überzeugen müssen. Die Ideologen waren dagegen in den Reihen der katholischen Kirche zu finden. Die Kirche konnte aufgrund ihrer ideologischen Überzeugungen und der zu befürchtenden Folgen für ihr eigenes Himmelsmodell nicht die Realität des heliozentrischen Weltbilds anerkennen. Galilei war ganz sicher kein Leugner. Eine falsche Theorie abzulehnen, wenn man über die nötigen empirischen Belege verfügt, um nachzuweisen, dass sie falsch ist, hat nichts mit Leugnung zu tun, sondern mit Wissenschaft. Was mag wohl passieren, wenn der einsame Abweichler tatsächlich Belege in der Schublade hat? Wenn diese Person den althergebrachten wissenschaftlichen Konsens infrage stellt und nachweist, dass dieser falsch ist? Das wäre ein Schlag für unsere Vorstellung, dass Wissenschaft ein erkenntnistheoretisch besonderer Prozess ist, der aus der gemeinschaftlichen Überprüfung individueller empirischer Arbeit erwächst. Kann die wissenschaftliche Grundhaltung es überstehen, wenn jemand gegen die wissenschaftliche Gemeinschaft zu Felde zieht, die doch der oberste Richter über die gerechtfertigte Begründung sein soll, und gewinnt?

Was passiert, wenn der „Spinner“ recht hat? J Harlen Bretz war ein Geologe und wissenschaftlicher Vorkämpfer im frühen 20. Jahrhundert, der die langen Jahre seiner Karriere an der University of Chicago verbrachte. Seine geologische Feldforschung betrieb er jedoch in einer trostlosen Region des Bundesstaates Washington, die er die „Channeled Scablands“ (in etwa: von Kanälen durchzogene Wüste) nannte. Diese Gegend ist bekannt für ihre öde, der Marsoberfläche ähnelnde Landschaft, die aus unterspülten Kanälen, umgeben von hohen Klippen (auf denen man, tausende Fuß über dem Meeresspiegel, Geröll und „durch Gletscher transportierte Felsen“ findet), U-förmigen Schluchten, ausgetrockneten Wasserfällen und großen Strudelkesseln mit nur kleinen Wasserfällen als Zulauf besteht. Die geografischen Eigenheiten dieser Region bedürfen, um es kurz zu machen, der Erklärung. Vor Bretz hatte die Geologie diese Scablands zwar noch nicht ausführlich erforscht, aber seine Kollegen hatten dennoch Hypothesen zu ihrer Entstehung entwickelt. Die meisten von ihnen waren sich darüber einig, dass sie durch eine Aushöhlung durch Wasserkraft entstanden waren, aber – im Einklang mit der damals vorherrschenden Lehrmeinung des

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Uniformitarianismus – dachten sie, es seien hier, wie auch bei der Entstehung des Grand Canyon, die Kräfte relativ kleiner Mengen Wasser über eine lange Zeit hinweg am Werk gewesen. Der Uniformitarianismus (Aktualismus), der sich als gängiges Paradigma etabliert hatte (mindestens seit Charles Lyells einflussreicher Arbeit, die Darwins Evolutionstheorie maßgeblich beeinflusste), ging davon aus, dass geologische Befunde durch bekannte Naturkräfte erklärt werden können, die über Zeitspannen von Jahrmillionen hinweg wirken.48 Dieses Erklärungsmodell löste die Katastrophentheorie ab, die Lyells Vorgänger vertreten hatten. Sie waren davon ausgegangen, dass kurzfristige kataklysmische Ereignisse – vielleicht durch göttliches Wirken – die geologischen, fossilen und biologischen Befunde geschaffen hätten. Natürliche Kräfte versus Wunder. Erosion versus Katastrophe. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, auf welche Seite sich die meisten Wissenschaftler schlagen würden. Bretz selbst war ein Aktualist (und Atheist). Doch als er schließlich 1921 zum ersten Mal mit eigenen Augen die vernarbte, öde Landschaft der Scablands betrachtete, wurde ihm klar, dass die bisher anerkannte Entstehungstheorie falsch sein musste. Wie ein Detektiv, der auf Spurensuche geht, stieß Bretz auf mehr und mehr Hinweise darauf, dass die geologische Beschaffenheit der Scablands nicht das Ergebnis stetiger Erosion sein konnte. Was aber war die Alternative? Eine gewaltige Flut. Eine Flut von solchem Ausmaß, dass sie an manchen Punkten eine Breite von 13 Meilen erreicht hätte, und ein Wasservolumen von so großer Kraft, dass sich die Flussrichtung des Snake River umgekehrt hätte. Die Wasserkraft musste U-förmige statt V-förmige Kanäle geschaffen haben, noch bis hin zur Felsenschlucht des Columbia Gorge im Süden. Ebenso wäre diese Flut für den äußerst ungewöhnlichen Fund von Geröll auf der Spitze einer 2500 Fuß hohen Klippe verantwortlich gewesen und ebenso für riesige Strudelkessel in Relation zu den winzigen Wasserfällen, die sie speisten. Wo hätten so gigantische Mengen von Wasser herkommen können? Bretz konnte diese Frage nicht beantworten und für den Augenblick bildete er auch keine Hypothese dazu. Für ihn waren die Scablands ein geologisches Rätsel und er nahm sich vor, den empirischen Belegen zu folgen, egal zu welchem Schluss ihn das führen würde. Als er für den zweiten Arbeitssommer dorthin zurückkehrte, hatte er aber ein Erklärungsmodell im Gepäck. Bretz war nun überzeugt, dass diese geologischen Merkmale nur durch eine Flut unvorstellbaren Ausmaßes entstanden sein konnten, möglicherweise die größte Flutkatastrophe der Erdgeschichte. Und diese Behauptung entsprang keiner bloßen Vermutung. Fakt für Fakt, Merkmal für Merkmal hatte die

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Landschaft selbst Bretz klar vor Augen geführt, dass seine Theorie die einzige plausible Antwort für die Entstehung der Kanäle der Scablands darstellte.49

Die Arbeiten von J Harlen Bretz bilden einen faszinierenden und leider viel zu wenig bekannten Teil der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie, der einen genaueren Blick der Wissenschaftsgemeinschaft wirklich verdient hätte. Eine der wenigen Quellen zu diesem Thema ist John Soennichsens Buch Bretz’s Flood. Zum Glück bietet diese wundervolle Darstellung sowohl einen Überblick über die Steine, die Bretz im metaphorischen Sinne in den Weg gelegt wurden, als auch über den intellektuellen Kontext der Zeit, die Diskussion des geologischen Positivismus, des Widerstreits zwischen Aktualismus und der Katastrophentheorie, die Bemühungen um mehr Wissenschaftlichkeit in der Geologie sowie die Art und Weise, in der soziale Faktoren Einfluss auf wissenschaftliche Erklärungsmodelle nehmen können. Hier möchte ich an dieser Stelle das Thema enger fassen und mich auf die Folgen konzentrieren, die Bretz´ Geschichte für die wissenschaftliche Grundhaltung haben könnte. Was passiert, wenn der Konsens der Fachgemeinschaft gegen den Einzelnen steht, dessen Arbeit aber nachweislich korrekt ist? Beschädigt dies die Vorstellung, dass die wissenschaftliche Grundhaltung als Instanz auf der Ebene der Gruppe ansetzt und Wissenschaft vor allem deshalb erfolgreich ist, weil die Gemeinschaft der Wissenschaftler die Fehler des Einzelnen korrigiert? Ich hoffe im Verlauf dieses Abschnitts zeigen zu können, dass Bretz´ Arbeit, wie ich meine, nicht nur diese Herausforderungen übersteht, sondern sogar ein ganz erstaunlicher Beleg für die Wirkkraft der wissenschaftlichen Grundhaltung ist. Unbestritten ist wohl, dass Bretz´ Vorgehensweise ein wunderbares Beispiel für die wissenschaftliche Grundhaltung auf individueller Ebene darstellt. Er sammelte große Mengen empirischer Daten, um seine Hypothese belegen zu können, und hinterfragte und veränderte anhand dieser Daten seine Theorie. Weil seine Theorie aber in gewisser akademischer Hinsicht einen Rückschritt darstellte, rechnete er mit harscher Kritik.50 Bretz nahm zwar keine übernatürlichen Kräfte an, um die geologischen Befunde erklären zu können, aber ebenso wenig konnte er diese durch die langsam wirkenden Kräfte erklären, die der Aktualismus nahelegte. Stattdessen hatte er sein Modell auf einem katastrophalen Ereignis enormen Ausmaßes aufgebaut, das innerhalb einer kurzen Zeitspanne und durch Wasser aus einer unbekannten Quelle stattgefunden hatte. Was Bretz vorschlug, klang nach einer Geschichte aus der Bibel. Entsprechend groß würde der akademische Widerstand ausfallen.

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Die Geologie ist, wie andere Wissenschaften auch, eine Art Bruderschaft, in der Kameraderie und das Teilen von Daten, Vorstellungen und Ressourcen untereinander eine Rolle spielen. Sie zeigt sich als ein Fachgebiet, auf dem die Arbeit des Einzelnen andere inspirieren kann und wo durch die Zusammenarbeit aller Theorien ihren Kinderschuhen entwachsen und zu gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen reifen, die von der Fachgemeinschaft als Ganzes anerkannt werden. Wie in anderen Bruderschaften auch kann es aber ebenso zu Streitigkeiten kommen und Mitglieder, die sich nicht an die Grundregeln halten, können verbal zur Ordnung gerufen oder – vielleicht schlimmer noch – völlig ignoriert werden.51

Was Bretz herausgefunden hatte, klang nach Ketzerei. Man muss es ihm hoch anrechnen, dass ihn das nicht wirklich zu kümmern schien. Er verfügte über die Belege und wusste, dass er richtiglag. Es war an seinen Fachkollegen, ihre Überzeugungen zu ändern. In dieser Hinsicht erinnert Bretz an einen modernen Galilei.52 Seine Gegner hatten selbst nicht in den Scablands gearbeitet oder die Landschaften dort in Augenschein genommen.53 Bretz war eigensinnig genug, um von dem überzeugt zu sein, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, und wenn die Befunde den gängigen Theorien widersprachen, dann mussten diese Theorien falsch sein. Diese Denkweise zeugt zwar von seiner wissenschaftlichen Grundhaltung, sollte ihm jedoch bald Ärger einhandeln. Ein großes Problem an Bretz´ Modell war, dass es noch immer keine Ursache für eine solche Megaflut umfasste. Die erforderliche Wassermenge wäre gewaltig gewesen. Er würde also kausale Zusammenhänge beschreiben, ohne eine Ursache für die Wirkung benennen zu können, und ihm war klar, dass er sich und seine Theorie damit in höchstem Maße angreifbar machte. Doch die geologischen Merkmale erforderten schlicht enorme Wassermengen. Hier erinnert Bretz´ Geschichte an Darwin, der Belege für seine Evolutionstheorie erbrachte, lange bevor der Mechanismus dahinter bekannt war. Auch Newton kommt uns hier in den Kopf, der „keine Hypothese bildete“, als er die Gleichungen zum Phänomen der Schwerkraft ausarbeitete. Hier müssen wir kurz innehalten und uns die Folgen für die wissenschaftliche Grundhaltung vor Augen führen, weil sich daran zeigt, dass es zur Entwicklung eines wissenschaftlichen Erklärungsmodells nicht unbedingt notwendig ist, eine Ursache zu kennen. Ursächliche Erklärungen stellen einen wichtigen Teil einer vollständigen wissenschaftlichen Theorie dar, und ein göttliches Wunder ist kein akzeptabler Ersatz dafür. Am wichtigsten sind aber empirische Nachweise als Begründung der Hypothese, die Ursache lässt

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sich auch später noch erschließen. Damit soll der Wert der Ursache in der Wissenschaft nicht geschmälert werden. Nur ist es oft so, dass die Ursache das letzte Puzzleteil eines wissenschaftlichen Erklärungsmodells ist, das erst eingesetzt wird, wenn alle anderen Teile als Belege bereits gesammelt wurden und zusammenpassen. Es wäre für Bretz von Vorteil gewesen, wenn er bereits eine Ursache hätte präsentieren können. Doch weil er sie nicht benennen konnte, hielt er sich an die empirischen Daten der geologischen Befunde. Man beachte, dass Bretz dabei sehr selbstkritisch vorging und im Verlauf seiner Arbeit zahlreiche Korrekturen und Änderungen vornahm.54 Doch diese Selbstkritik ließ sich in ihrer Ausprägung nicht mit dem vergleichen, was ihm aus dem Fachkollegium an Gegenwind entgegenschlug. Im Jahr 1927 stand Bretz auf den Stufen des Cosmos Club in Washington D. C., im Begriff, seine Erkenntnisse vor einer Versammlung der Angesehensten des Landes zu präsentieren. Unter den Zuhörern waren auch sechs Mitglieder des US-amerikanischen Geological Survey (USGS), gewissermaßen ein Vorstand der beruflichen Standesvertretung. Bretz hielt einen ausführlichen und prägnanten Vortrag über die Ergebnisse seiner sechsjährigen geologischen Feldforschung in den Scablands. Als nach Vortragsende die Zeit für Nachfragen kam, „brach die Hölle los“: Einer nach dem anderen standen alle auf, die am Präsentationstisch Platz genommen hatten, und konfrontierten ihn mit Einwänden, Kritik und – zum ersten Mal – auch mit ihren eigenen Einschätzungen zu den Scablands. Schnell zeichnete es sich ab, dass der Angriff geplant war; eine strategische Veranstaltung, damit Bretz seine Einsichten vorstellen würde, nur um anschließend ertragen zu müssen, dass jeder angesehene Geologe dieser Zeit Gift und Galle in seine Richtung spuckte. … Offensichtlich zeichnete sich die offizielle Haltung des einflussreichen Teils des Fachkollegiums durch Intoleranz gegenüber jeder Theorie aus, die von der uniformitarianistischen Linie abwich.55

So soll der wissenschaftliche Prozess natürlich nicht ablaufen. In der Rückschau drängt sich der Verdacht auf, dass die gelehrten Wissenschaftler Bretz´ Theorie aufgrund motivierten Denkens ablehnten, das in einer fast ideologischen Hingabe an den Aktualismus begründet lag. Eine Theorie anzugreifen, weil sie nicht mit den verfügbaren empirischen Belegen in Einklang steht, ist die eine Sache. Eine ganz andere ist es aber, sie nicht zu tolerieren, weil sie den auf dem eigenen Fachgebiet hart erarbeiteten Fortschritt untergraben würde. Einen Fortschritt, der der Geologie durch eine Abkehr von religiös gefärbten Ansichten zu mehr Wissenschaftlichkeit verholfen hatte.

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Ich habe in diesem Buch beschrieben, dass die wissenschaftliche Grundhaltung nicht nur in den Werten einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Ausdruck kommt, sondern auch in der Gemeinschaft der Fachkollegen. Wie geht man dann aber mit einem Fall um, in dem der „Ketzer“ sich wissenschaftlicher verhält als seine Kritiker? Kann man die Bedeutung der wissenschaftlichen Grundhaltung verteidigen, wenn selbst der Konsens des eigenen Berufsstands sich als falsch erweist? Das ist eine heikle Frage, denn obwohl es mitunter vorkommt, dass der Einzelne die Gruppe überholt – tatsächlich vollzieht sich der wissenschaftliche Fortschrittsprozess durch bahnbrechende Ideen oft in dieser Weise –, ist es selten, dass jemand jahrzehntelang offen dem wissenschaftlichen Konsens widerspricht und später rehabilitiert wird. Galilei, Semmelweis, Alfred Wegener und andere Märtyrer der Wissenschaft kommen uns hier als herausragende Beispiele für dieses Phänomen in den Sinn. Wenn Ereignisse wie diese eintreten, woran kann sich dann die Wissenschaft orientieren, um nicht vom Weg abzukommen? Nur empirische Belege können diese Orientierungshilfe bieten. Bretz schüttelte in seiner Arbeit keine wilden, aus der Luft gegriffenen Spekulationen aus dem Ärmel. Er verfügte über die empirischen Daten, die seine Behauptungen stützten. Es mag also verständlich sein, wenn die Fachgemeinschaft bisweilen diejenigen ablehnt, die durch ihre wissenschaftliche Arbeit scheinbar gegen das gängige Dogma verstoßen. Doch früher oder später muss dieser Konflikt gelöst werden, und die einzige Möglichkeit dazu bieten in der Wissenschaft die empirischen Belege. Und genauso erging es auch der Theorie, die Bretz zur Entstehung der geologischen Formationen der Scablands aufgestellt hatte. Nach dem desaströsen Vortrag im Cosmos Club verhalf einer seiner früheren Rivalen Bretz zu der Einsicht, dass die enorme Wassermenge einer Megaflut nur aus der spontanen Entleerung eines Gletschersees stammen konnte. Wie sich herausstellte, war das die richtige Antwort. Heute geht man davon aus, dass der Bruch eines riesigen Eisdammes am Lake Missoula über 500 Kubikmeilen Wasser freigegeben hatte, dessen Ausdehnung bis 100 Meilen südlich von Portland im Bundesstaat Oregon reichte.56 Doch die Kritiker ließen nicht locker. Die geologische Gemeinschaft ging zur Tagesordnung über und versuchte diesen Emporkömmling von einem Geologen zu ignorieren, der irgendeinen Unsinn über gigantische Flutwellen verbreitete, die angeblich die Topografie einer ausgedehnten westlichen Landschaft innerhalb eines geologischen Wimpernschlags verändert hätten.57

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Bretz verfiel in tiefe Depressionen. Im Laufe der Jahre verstarben einige seiner Gegner, andere lenkten ein. Doch es wuchs auch eine neue Generation von Geologen heran, die Bretz´ Theorie gegenüber offener waren.58 Jahrzehnte später wurde Bretz schließlich rehabilitiert. Einer seiner Kritiker bemerkte später, als er endlich einmal selbst die Scablands besuchte: „Wie konnte man nur so danebenliegen?“59 Wie wohltuend muss es für Bretz gewesen sein, als im Jahr 1965 eine Gruppe von Geologen eine offizielle Exkursion in die Scablands unternahm und ihm ein Telegramm sandte mit den Worten: „Jetzt sind wir alle Katastrophisten.“60 Eine sehr merkwürdige Entwicklung im Nachgang dieser Geschichte ist die Vereinnahmung von Bretz´ Vermächtnis durch die Kreationisten. Sie verehren ihn als eine Art Volkshelden, weil er fast im Alleingang die Beweise für eine biblische Flut geliefert habe. Natürlich entspricht diese Auffassung nicht den Tatsachen, aber es gibt kreationistische Internetseiten, die Bretz´ Geschichte zum erfolgreichen Kampf eines Davids gegen den Goliath der etablierten Wissenschaft ummünzen.61 Was soll man dazu sagen? Und kann man aus dem Fall Bretz schließen, dass jemand wie Ted Cruz vielleicht doch der nächste Galilei sein könnte? Das erscheint absurd, wenn wir uns daran erinnern, dass der Leitstern der Bretz-Geschichte dessen aufrichtiges Bemühen um empirische Belege war, gepaart mit einer Scheu vor ideologischer Einflussnahme. Wenn ein Wissenschaftsleugner behauptet, dass der Klimawandel eine Erfindung sei, wo sind dazu die Belege? Ohne sie bleibt die Behauptung reine Spekulation oder Schlimmeres. Das bedeutet nicht, dass simple Skepsis oder selbst Eigensinn schon eine Abkehr von der Wissenschaft darstellt. Der Standard für die Akzeptanz einer neuen Theorie sollte hoch sein. Wenn aber eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler empirische Belege durch eine Ideologie ersetzt, betreibt sie oder er nicht länger Wissenschaft. Was passiert wohl, wenn ein angeblicher Spinner tatsächlich über empirische Belege verfügt? Dann müssen sie geprüft werden, und wenn sie der Überprüfung standhalten, muss der wissenschaftliche Konsens verändert werden. So wie die wissenschaftliche Grundhaltung das Vorgehen des Einzelnen leiten sollte, so sollte sie auch das der Gemeinschaft leiten. Wissenschaft muss ein sich selbst korrigierendes System sein  – auf individueller wie auf gemeinschaftlicher Ebene. Stellen wir uns eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler vor, die oder der eine völlig abweichende Theorie vertritt, die nicht mit den empirischen Belegen übereinstimmt und von der Berufsgemeinschaft abgelehnt wird. Wenn diese Wissenschaftlerin oder dieser Wissenschaftler an der Theorie festhält, hat sie oder er in gewisser Weise den Berufsstand verlassen. Kann genau das auch

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einem ganzen Fachgebiet geschehen? Obwohl es öfter vorkommt, dass die Gruppe das Individuum korrigiert – wie im Fall der kalten Fusion –, kann es manchmal passieren, dass ein Individuum die Gruppe korrigiert. So wie die Geologie durch ihre Ablehnung von Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung auf einem Irrweg war, erging es ihr als Fachdisziplin auch im Fall der Megaflut-Theorie zur Entstehung der Scablands. Es mag schmerzlich sein, sich bewusst zu machen, dass die Geologie damit zeitweise ein „nichtwissenschaftliches“ Gebiet gewesen ist. Aber genau das ist die Konsequenz, wenn Wissenschaftler nicht bereit sind, ihre Theorien auf der Basis stichhaltiger Belege zu verändern. Damit verhielt sich die Geologie ähnlich wie die katholische Kirche, die im Angesicht der Erkenntnisse Galileis bei ihrer vertrauten, aber falschen Ideologie blieb. Das Fachgebiet als Ganzes stellte den strikten Aktualismus über die empirischen Belege.62 Was aber die Wissenschaft von anderen Erkenntniswegen unterscheidet, ist die Möglichkeit, selbst von solchen Abwegen zurückkehren zu können.63 Die Geologie als Ganzes erkannte schließlich Bretz´ überzeugende Daten an und kehrte zu einer wissenschaftlichen Grundhaltung zurück. (Die katholische Kirche andererseits tat dies nicht und wurde stattdessen, 350 Jahre nachdem sie den Streit um das heliozentrische Weltbild verloren hatte, dazu genötigt, Galileo Galilei postum den gebührenden Respekt zu zollen). Wir müssen uns hier aber auch mit der Frage auseinandersetzen, was der Fall Bretz für die wissenschaftliche Grundhaltung als definierende Eigenschaft der Wissenschaft aussagt. Es kann nicht Teil der wissenschaftlichen Grundhaltung sein, dass die Gruppe grundsätzlich im Recht ist. Die Beispiele von Galilei, Semmelweis, Wegener und Bretz widerlegen eine solche Behauptung. Bisweilen ist die oder der Einzelne ihren oder seinen Zeitgenossen weit voraus. Zwar fällt der Erkenntnisgewinn, wie wir an Sunsteins experimentellen Studien gesehen haben, einer Gruppe leichter als dem Individuum. Das bedeutet jedoch nicht, dass dies immer der Fall sein muss. Manchmal entwickelt die oder der Einzelne einfach die bessere Theorie. Und das ist in der Wissenschaft vollkommen in Ordnung. Wichtig für das Bewahren der wissenschaftlichen Grundhaltung ist es, wissenschaftliche Auseinandersetzungen auf der Basis empirischer Nachweise beizulegen. Manchmal bedürfen nicht nur individuelle Theorien der Korrektur, sondern auch der Konsens einer ganzen Fachdisziplin. Kehren wir noch einmal zu Bretz zurück. Es lohnt sich ein genauerer Blick auf die Gründe, aus denen der Aktualismus in der Geologie einen so hohen Stellenwert besaß. Meiner Überzeugung nach haben wir hier ein seltenes Beispiel vor uns, in dem ein ganzes Fachgebiet dem Einfluss einer Ideologie ausgesetzt ist. Die geologische Gemeinschaft maß dem

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Aktualismus auch deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie ihn als ein Bollwerk gegen den Kreationismus ansah. Er bot die Möglichkeit, die Vorstellung langsam wirkender natürlicher Prozesse als Erklärungsmodell für die Zusammenhänge der Natur zu rechtfertigen, statt Katastrophen anzunehmen, die man auch göttlichem Wirken zuschreiben könnte. Aber auch die Annahme, dass natürliche Prozesse sich plötzlich und innerhalb kurzer Zeit vollziehen können, ist vollkommen konsistent. Man muss nicht zwingend daraus schließen, dass Gott existiert.64 Auch entschied sich Bretz nicht vorschnell für die Katastrophentheorie als Erklärungsmodell. Seine Leitphilosophie war der Aktualismus, bis ihn die empirischen Daten in eine andere Richtung führten. In seinen Publikationen und Vorträgen wird deutlich, dass er die Konsequenzen seiner Theorie ernst nahm. Er rechnete mit Kritik und versuchte sich damit auseinanderzusetzen, blieb jedoch von seiner Theorie überzeugt, weil nur sie die Befunde erklären konnte, die er in den Scablands vorgefunden hatte. Demgegenüber standen die Geologen, die Bretz mundtot zu machen versuchten, ohne selbst diese Befunde je untersucht zu haben. Sie verhielten sich in dieser Situation wie Ideologen. Wie konnten sich Bretz´ Gegner als Wissenschaftler eher der Theorie des Aktualismus als dem Bemühen um empirische Belege verpflichtet fühlen? Auch dieses Verhalten bedarf der Erklärung. Meine Hypothese ist, dass Ideologien sowohl auf jene einen korrumpierenden Einfluss ausüben können, die ihr anhängen, als auch auf Menschen, die sie bekämpfen. Als Wissenschaftler hätten sich die Mitglieder des USGS nicht davon beeinflussen lassen dürfen, mit welcher übergreifenden Theorie Betz´ Erkenntnisse in Einklang standen, doch genau das taten sie. Warum? Weil sie sich selbst im Kampf mit christlichen Fundamentalisten befanden und verhindern wollten, dass Betz mit seiner Arbeit ihren Feinden neuen Zündstoff lieferte. Dieses Beispiel zeigt, dass die Ideologie den wissenschaftlichen Prozess infizieren kann, ob wir auf der „richtigen“ Seite stehen oder nicht. Wir können also, selbst wenn wir nur die Art unserer wissenschaftlichen Arbeit verändern, um diejenigen zu bekämpfen, die sich unwissenschaftlich verhalten, der Wissenschaft Schaden zufügen. Es macht keinen Unterschied, ob Bretz´ Theorie von einer Einzelperson stammt oder von einer Gruppe, ob sie langsame Veränderungen nahelegte oder plötzliche Ereignisse. Was zählt, ist, dass sie mit den Daten übereinstimmte. Wenn wir aber versuchen, diesen Faktor zu umgehen – wenn wir eine Theorie be- oder widerlegen möchten, weil unsere außerwissenschaftlichen Verpflichtungen uns dazu verleiten –, entstehen unweigerlich Probleme. Am häufigsten geschieht dies, wenn religiöse oder

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politische Ideologen den Prozess des Erkenntnisgewinns aus empirischen Belegen verpatzen, weil ihnen ihre persönlichen Überzeugungen hinsichtlich göttlicher Intervention, menschlicher Freiheit, Gleichberechtigung, Anlage, Umwelt oder anderer spekulativer Verpflichtungen in die Quere kommen. Aber es kann auch passieren, wenn Einzelne oder Gruppen solche Ideologien bekämpfen. Die Versuchung kann manchmal groß sein, der Wahrheit (vielmehr dem, was wir für wahr halten) nur ein wenig nachzuhelfen. Die Folgen können unerwartete Rückschläge sein (oder sogar Betrug) und wir erreichen vielleicht das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollten, und höhlen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft aus. Die „Climategate“-E-Mail-Kontroverse, die vor ein paar Jahren bekannt wurde, entzündete sich an der Forderung einiger Wissenschaftler, entgegen den Bestimmungen des Freedom of Information Act einzelne Daten zurückzuhalten, weil ihnen klar war, dass Klimawandelleugner sich diese als Rosinen herauspicken und damit echte Klimaforschungsergebnisse untergraben würden. Obwohl diese Forderung nicht ernst gemeint war und diese Wissenschaftler sicherlich das Gefühl hatten, auf der „richtigen Seite“ zu stehen, waren die Folgen für die Klimaforschung fürchterlich. Selbst nach mehreren offiziellen Untersuchungen – im Zuge derer man kein Fehlverhalten der Wissenschaftler und keine Beeinträchtigung ihrer Forschungsarbeit feststellen konnte – befeuerten diese Ereignisse die Verschwörungsmythen rund um den Klimawandel als angebliche Erfindung linker Wissenschaftler. Wenn wir unsere eigenen wissenschaftlichen Standards untergraben, selbst aus dem Gefühl heraus, „für das Gute zu kämpfen“, kann die Wissenschaft darunter leiden.65 Es ist in höchstem Maße frustrierend, wenn Wissenschaft von Ideologen angegriffen wird, die sich nicht um ihren erkenntnistheoretischen Wert scheren und die Daten danach aussuchen, ob sie ihre bevorzugten Hypothesen stützen. Aber der Preis der wissenschaftlichen Freiheit ist die ewig währende Offenheit. Das heißt nicht, dass wir spinnerte Theorien tolerieren müssen. Wenn es keine empirischen Belege gibt und die Theorien sich nicht bewährt haben, gibt keinen Grund, die knappen wissenschaftlichen Ressourcen in ihre Überprüfung zu investieren. Was aber, wenn die Daten tatsächlich etwas Merkwürdiges zeigen? In diesem Fall hat Sagan wohl recht und wir müssen dem nachgehen. Und genau das werden wir am Ende dieses Kapitels tun, wenn es um die fast 30-jährige Forschungsarbeit zur außersinnlichen Wahrnehmung am Princeton Engineering Anomalies Research (PEAR) Center geht. Doch zunächst müssen wir uns mit dem Thema Pseudowissenschaft befassen.

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Pseudowissenschaftler sind nicht wirklich offen für neue Erkenntnisse Das Problem an Pseudowissenschaftlerinnen und Pseudowissenschaftlern ist nicht nur, dass sie nicht wissenschaftlich arbeiten. Problematisch ist auch, dass sie behaupten, wissenschaftlich zu arbeiten. Manchen von ihnen ist vielleicht bewusst, dass sie nur so tun als ob. Andere mögen vielleicht das Gefühl haben, zu Unrecht kritisiert zu werden. Am Ende zählt aber ganz allein, dass die Übereinstimmung von empirischen Hypothesen mit den empirischen Daten höchste Priorität haben muss.66 Warum ist es dann so schwierig, Pseudowissenschaftler zu dem Eingeständnis zu bewegen, dass nicht nur ihre Theorien falsch sind, sondern sie auch nicht wissenschaftlich vorgehen? Die Antwort lautet, dass ihre Hingabe an die eigenen Theorien, ähnlich wie im Fall der Leugner, tief im Wunschdenken verwurzelt ist. Es ist klar, dass Wunschdenken nicht mit einer wissenschaftlichen Grundhaltung zu vereinbaren ist. Man sollte nicht im Vorhinein festlegen, welche Ergebnisse man auf der Basis einer Ideologie gerne haben möchte, und dann die entsprechenden Daten als Nachweis heraussuchen. In der Wissenschaft müssen wir uns von den empirischen Daten leiten lassen und sie sollten es sein, die das Fundament unserer Überzeugungen bilden. Wie wir wissen, können wissenschaftliche Hypothesen aus allen möglichen Quellen stammen. Es gibt Beispiele dafür, dass Intuition, Wunschdenken, Hoffnung, Eigensinn und wilde Spekulationen anerkannte wissenschaftliche Theorien hervorgebracht haben. Der entscheidende Punkt ist aber, dass sie, dem Urteil der Wissenschaftsgemeinschaft nach, durch empirische Belege gestützt werden müssen. Kommen wir an dieser Stelle noch einmal auf Sagans Matrix zurück. Sind pseudowissenschaftliche Hypothesen offen für neue Erkenntnisse? Nicht wirklich. Man kann wohl mit Recht behaupten, dass viele Astrologen, Rutengänger, Steinheilkundler, Vertreter des Intelligent Design und andere (wie Sagan feststellt) extrem leichtgläubig sind. Aber sie sind auch für gewöhnlich im höchsten Maße geistig verschlossen, was jedwede Belege angeht, die ihren Theorien widersprechen. Sie weigern sich, ihre Überzeugungen einer möglichen Falsifizierung auszusetzen. Kontrollierte Experimente sind selten, das Rosinenpicken der Daten dagegen verbreitet. Ebenso wie die Leugner scheinen auch Pseudowissenschaftler vor widersprechenden Daten zurückzuscheuen, während sie sich gleichzeitig darüber beklagen, dass andere Wissenschaftler sich nicht mit den ihren auseinandersetzen.

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Wie zu erwarten, profitieren einige von diesem Katz-und-Maus-Spiel und wissen ganz genau, was sie tun. Während manche also absichtlich täuschen, lassen sich andere wiederum täuschen. Die Astrologie ist ein weltweites Milliardengeschäft.67 Den NBC News zufolge geben amerikanische Bürgerinnen und Bürger 3 Mio. US-Dollar im Jahr für Homöopathie aus.68 Andere Vertreter pseudowissenschaftlicher Konzepte mögen wiederum glasklare Ideologen sein, die nicht aus finanziellen Interessen heraus handeln, sondern weil sie überzeugt sind, im Recht zu sein. Und dann gibt es natürlich noch die vorsätzlich Uninformierten und die Menschen, die sich übers Ohr hauen lassen. Alle diese Gruppen stellen eine Gefahr für die Wissenschaft dar. Ob jemand die Unwahrheiten, die er verbreitet, auch selbst glaubt, oder ob er nur vorgibt, davon überzeugt zu sein, spielt keine Rolle. Sich der Verpflichtung zu verweigern, empirische Überzeugungen auf der Basis wissenschaftlicher Standards aufzubauen, schadet der Wissenschaft. Pseudowissenschaftler scheuen sich ebenso wie die Leugner davor, eine wissenschaftliche Grundhaltung einzunehmen, oder sie verstoßen gegen diese Grundhaltung. Sie stellen Intuition über Fakten und sind nur dann „skeptisch“, wenn es ihnen ins Konzept passt. Leichtgläubigkeit ist weit verbreitet. Empirische Belege betrachten sie durch einen Filter der Doppelmoral. Hinter der Arbeit ihrer Gegner vermuten sie dunkle Machenschaften. Sowohl unter den Pseudowissenschaftlern als auch unter den Leugnern finden sich Menschen, die von der öffentlichen Verunsicherung profitieren, während andere so naiv sind, ihnen dabei zur Hand zu gehen.69 Die entscheidende Frage an die Pseudowissenschaftler lautet: Wenn eure Theorien korrekt sind, wo sind dann die empirischen Belege? Ihr behauptet, dass euch die Mainstreamwissenschaft verfolgt oder ignoriert. Aber warum sollte sie das tun, wenn ihr wirklich gute Antworten auf Forschungsfragen hättet? Wie wir am Beispiel von Harlen Bretz gesehen haben, würde das Fachgebiet im Fall stichhaltiger Belege früher oder später in eure Richtung umschwenken. Aber die Beweislast liegt bei euch. Wenn selbst ein angesehener Geologe wie Bretz mit erbittertem, bisweilen ungerechtfertigtem Widerstand zu kämpfen hatte, warum sollten dann Pseudowissenschaftler erwarten dürfen, mit Samthandschuhen angefasst zu werden? Es zeugt vielleicht nicht von großer geistiger Offenheit in der wissenschaftlichen Praxis, dass seine Kollegen es Bretz so schwer machten – obwohl er nachweislich im Recht war –, aber das liegt in der Natur wissenschaftlicher Alleingänge. Wissenschaftler sind geizig mit Anerkennung. Wie können Pseudowissenschaftler also erwarten, ernst genommen zu werden, wenn sie

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keine – oder nur fragwürdige – empirische Belege zu bieten haben? Weil sie recht haben „könnten“? Wie wir bereits gesehen haben, macht das kaum einen Unterschied, wenn es um die Frage der Rechtfertigung geht. Wo sind die falsifizierbaren Voraussagen in der Astrologie? Wo sind die kontrollierten, doppelt verblindeten Studien in der Geistheilung? Warum sind Menschen, die behaupten, Zeitreisen seien möglich, nie in die Vergangenheit gereist, um ein Vermögen an der Börse zu machen?70 Wer möchte, dass seine „alternativen“ Überzeugungen ernst genommen werden, muss damit rechnen, dass sie einer strengen Überprüfung und Kritik standhalten müssen. Wie wir gesehen haben, passiert das bisweilen auch und die Ergebnisse sind normalerweise enttäuschend.71 Stattdessen ziehen es Pseudowissenschaftler für gewöhnlich vor, ihre eigenen selektierten Daten herauszugeben. Aber das ist keine Wissenschaft, sondern eine Maskerade.

Pseudowissenschaft in Aktion: Kreationismus und Intelligent Design Die lange, elende Geschichte des Widerstands gegen die Evolutionstheorie haben andere bereits ausführlich erzählt.72 Beginnend mit dem „Affenprozess“ gegen John Thomas Scopes, der 1925 in Tennessee stattfand, haben die Gegner der Evolutionstheorie vor allem versucht, sie aus dem Schulfach Biologie zu verbannen. Diese Strategie war recht erfolgreich, bis 1967 ihre Verfassungsmäßigkeit angefochten wurde.73 Wie wir in Kap. 2 gesehen haben, verschob sich dann eine etwas modernere kreationistische Strategie vom Ausgangspunkt der Verbannung der Evolution aus den Klassenzimmern hin zu der Forderung einer Aufnahme des Kreationismus in die Lehrpläne. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung 1981 mit dem Act 590 in Arkansas, der Lehrerinnen und Lehrern eine „gleichberechtigte Behandlung“ der beiden Konzepte und die Lehre von Schöpfungswissenschaft und Evolutionstheorie im Fach Biologie vorschrieb. Als dieses Gesetz im Prozess „McLean gegen den Bundesstaat Arkansas“ auf konstitutioneller Ebene erfolgreich angefochten wurde, fand der Richter William Overton in seiner Urteilsbegründung deutliche Worte. Die Behauptung, Darwins Lehre sei selbst eine „weltliche Religion“, sei lächerlich und die „Schöpfungswissenschaft“ nicht im Geringsten wissenschaftlich in dem Sinne, dass „eine wissenschaftliche Theorie vorläufig sein muss und immer die Möglichkeit besteht, dass man sie vor dem Hintergrund von Fakten, die nicht mit ihnen

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in Einklang stehen oder sie falsifizieren, ändern oder verwerfen muss“.74 Es zeigte sich also, dass die Schöpfungswissenschaft nichts anderes als eine Pseudowissenschaft war. Jahre später formierten sich die Kreationisten unter dem Banner des Intelligent Design (ID) neu und behaupteten nun, die wissenschaftliche Alternative zur Evolutionstheorie zu vertreten. Intelligent Design war das Produkt einer „Denkfabrik“, die unter der Bezeichnung Discovery Institute firmierte und im Jahr 1990 in Seattle im Bundesstaat Washington gegründet worden war mit dem Plan, die ID-Theorie zu verbreiten und der Evolutionstheorie den Kampf anzusagen. Was folgte, war eine mehrjährige Kampagne zur Finanzierung und Verbreitung ideologisch gefärbter Kritik an der Evolution sowie eine Flut von Falschinformationen, mit denen die Medien überschwemmt wurden, um in der Öffentlichkeit Zweifel an der Evolution zu säen. Mit dem Prozess „Kitzmiller gegen den Dover Area Schulbezirk“ im Jahr 2004 folgte dann die nächste gerichtliche Auseinandersetzung. Auch zu dieser Geschichte gibt es ausführliche Darstellungen.75 Entscheidend ist an dieser Stelle, dass das Ziel nicht länger war, den Kreationismus oder die Schöpfungswissenschaft auf die Lehrpläne zu setzen, sondern eine völlig eigenständige wissenschaftliche Theorie des Intelligent Design zu etablieren, die der Paläobiologe Leonard Krishtalka und andere als „Kreationismus in einem billigen Smoking“ bezeichnet haben.76 Auch diese Bemühungen endeten in einer erstaunlichen Niederlage. Ähnlich wie zuvor in Arkansas sprach sich Richter John E. Jones in seiner Urteilsbegründung gegen die ID-Theorie aus. Seiner Einschätzung nach handelte es sich dabei nicht um Wissenschaft, und die Kritik, die Vertreter des ID an der Evolution geübt hätten, sei bereits durch die Wissenschaftsgemeinschaft widerlegt worden. Zudem könne die ID-Theorie keine eigenen begutachteten Studien oder ihre Behauptungen stützenden Belege vorweisen. Jones wies in seiner Rede die Schulvertreter wegen ihrer „atemberaubenden Dummheit“ und der Verschwendung von Steuergeldern scharf zurecht. Dann verurteilte er sie zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von einer Million US-Dollar an die Kläger. Danach änderten die Kreationisten ihre Strategie. Gerichtsverfahren hielt man nun für zu gefährlich und so entschieden sich die Gegner der Evolution dazu, die Gesetzgebung selbst beeinflussen zu wollen. Im Jahr 2008 entwickelte das Discovery Institute ein Modellgesetz, mit dem man die „akademische Freiheit“ von Lehrern schützen wollte, die sich eingeschüchtert oder bedroht fühlten, weil sie das „gesamte Spektrum

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­ issenschaftlicher Sichtweisen in Bezug auf die biologische und chemische w Evolution“ unterrichteten.77 Im Wortlaut bezog man sich weiter auf die „Verunsicherung“, die durch das Urteil im Dover-Prozess entstanden sei, und sprach dann davon, dass man durch das Gesetz natürlich nicht „irgendeine religiöse Doktrin verbreiten“ wolle. Diese Formulierungen waren nichts als ein Feigenblatt für neuerliche Versuche, den Kreationismus zurück in die Klassenzimmer zu bringen. Nach einer ersten Niederlage in Florida im Jahr 2008 – wo die Demokraten die Mehrdeutigkeiten im Wortlaut des House-Entwurfs als Basis für ihre Argumentation nutzen, dass die akademische Freiheit von Lehrern auch das Unterrichten der Themen Verhütung, Abtreibung und Sexualerziehung umfassen müsse – wurde noch im selben Jahr ein solches Gesetz zur akademischen Freiheit in Louisiana verabschiedet. Das Gesetz entsprach zwar nicht vollständig dem Entwurf des Discovery Institute, wurde aber als ein Sieg antiwissenschaftlicher Kräfte angesehen. Die Gesetzgeber achteten hier darauf, alle Erwähnungen der Evolution (oder der globalen Erwärmung) als Beispiel für „kontroverse“ Theorien aus ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf zu entfernen, und benannten ihn in Louisiana Science Education Act um. Das Gesetz wurde von Gouverneur Bobby Jindahl unterzeichnet und ist bis heute eines von nur zwei bundesstaatlichen Gesetzen zur akademischen Freiheit in den Vereinigten Staaten. Ähnliche Bemühungen zur Gesetzgebung scheiterten in Missouri, Alabama, Michigan, South Carolina, New Mexico, Oklahoma, Iowa, Texas und Kentucky, bevor ein weiterer Entwurf in Tennessee 2012 die legislativen Hürden überwinden konnte. Dieses Gesetz gab vor, Lehrer schützen zu wollen, die „die wissenschaftlichen Stärken und wissenschaftlichen Schwächen der Evolution und des Klimawandels erkunden möchten.“78 Bald danach folgten die Bundesstaaten Colorado, Missouri, Montana und Oklahoma. Oklahoma ist inzwischen zu einem Aushängeschild für eine solche Gesetzgebung geworden, nachdem dort entsprechende Entwürfe in jede Sitzung des bundesstaatlichen Senats der letzten fünf Jahre eingebracht wurden. Der Wortlaut dieser Gesetze ist ähnlich.79 Im neuesten Entwurf des Oklahoma State Senate strebten die Gesetzgeber an, innerhalb der Bezirke der öffentlichen Schulen ein Umfeld zu schaffen, das die Schüler dazu ermuntert, wissenschaftliche Fragestellungen zu erkunden, Kenntnisse über wissenschaftliche Belege zu erlangen, Fähigkeiten im Bereich des kritischen Denkens zu erwerben und angemessen und respektvoll mit Meinungsverschiedenheit bezüglich kontroverser Themen umzugehen.80

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Dabei gibt es nur ein Problem: Auseinandersetzungen sollten in der Wissenschaft auf der Basis empirischer Belege beigelegt werden und nicht auf der Basis von Meinungen. Der Oklahoma-State-Entwurf von 2016 besagt das: Der Gesetzgeber befindet weiterhin, dass die Lehre einiger wissenschaftlicher Konzepte einschließlich, aber nicht beschränkt auf Teile der Biologie, Chemie, Meteorologie, Bioethik und der Physik Kontroversen auslösen kann und dass manche Lehrer möglicherweise unsicher sind, was die Erwartungen an die Art und Weise betrifft, in der sie in manchen Themenbereichen einschließlich, aber nicht beschränkt auf die biologische Evolution, die chemischen Ursprünge des Lebens, die globale Erwärmung und das Klonen von Menschen Informationen vermitteln sollten.81

Es ist mir eine Freude, mitteilen zu können, dass diese Gesetzesentwürfe ebenso wie ähnliche Entwürfe in Mississippi und South Dakota im Jahr 2016 allesamt scheiterten. Gesetzliche Bemühungen in diese Richtung scheiterten in den letzten Jahren auch in Arizona, Indiana, Texas und Virginia. Wer sich für das Schicksal aktueller und künftiger antiwissenschaftlicher Gesetzesvorhaben interessiert, dem sei die Internetseite des National Center for Science Education ans Herz gelegt, wo diese Entwürfe chronologisch aufgelistet werden.82 Dass es überhaupt so weit kommen konnte, sagt viel über das öffentliche Wissenschaftsverständnis aus. Wie Thomas Henry Huxley („Darwin´s Bulldog“) es einmal formulierte: „Das Leben ist zu kurz, um sich damit abzugeben, die Erschlagenen noch einmal zu erschlagen.“ Aber das ist genau die falsche Einstellung, wenn es um den Kampf gegen die Pseudowissenschaft geht. Dieser Kampf hört nämlich nie auf. Wie wir gesehen haben, ändern sich die Strategien und neue kommen hinzu, aber wir dürfen den Widerstand nicht aufgeben. Auch ich selbst habe schon ein Scharmützel mit dem Discovery Institute hinter mir. In einem 2015 im Chronicle of Higher Education erschienenen Artikel mit dem Titel „Attack on Truth“ (Angriff auf die Wahrheit) schrieb ich, das Discovery Institute sei „eine Organisation mit Sitz in Seattle, die sich dafür einsetzt, dass die ‚Intelligent-Design-Theorie‘ in den öffentlichen Schulen gelehrt wird, als Gleichgewicht zu den ‚Löchern‘ in der Evolutionstheorie“.83 Die Vertreter des Discovery Institute beschimpften mich – offenbar durch meinen Artikel in Wut geraten – in zwei aufeinanderfolgenden Blogposts, weil ich angeblich nicht begriffen hätte, dass sie sich doch immer „konsequent gegen eine Anordnung des Intelligent-Design-Unterrichts in

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öffentlichen Schulen ausgesprochen hätten“.84 Das ist eine absurde Aussage, aber vielleicht die neue Strategie des Discovery Institute, um dem Staub zu entgehen, den das Kitzmiller-Urteil aufgewirbelt hatte.85 Auf den Rat von Freunden hin enthielt ich mich einer Antwort. Hätte ich geantwortet, hätte ich sicherlich darauf hingewiesen, dass zwischen „anordnen“ und „befürworten“ ein Unterschied besteht, und die Frage gestellt, warum sie den Angeklagten im Fall Kitzmiller denn beratend zur Seite gestanden hätten, wenn ihnen doch angeblich nie an einer Aufnahme des Intelligent Design in die Lehrpläne gelegen hätte. Es zeichnet sich hier ein bekanntes Bild ab: Pseudowissenschaftler haben kein tiefer gehendes Wissenschaftsverständnis. Zudem drängt sich im Fall des Kreationismus/Intelligent Design der Verdacht auf, dass hier die Grenzen zwischen Pseudowissenschaft und Wissenschaftsleugnung fließend sind. Die Vertreter dieses Konzepts treten bereits mit vorgefassten Überzeugungen an, bevor sie sich überhaupt den verfügbaren Belegen zuwenden, weil ihre Überzeugungen eben nicht auf empirischen Daten basieren. Wie könnten die Anhänger also jemals hoffen, dass ihr Konzept als Wissenschaft durchgeht? Ihre Strategie ist es zu versuchen, die Schwächen der Wissenschaft auszunutzen. Erinnern wir uns an Sagans Kriterium, dass Wissenschaft offen sein muss für neue Erkenntnisse. Die Verfechter des ID beklagen sich darüber, dass die Vertreter der Evolutionswissenschaft unfairerweise ihre Ansichten ablehnen würden, ohne sich damit auseinanderzusetzen (während sie selbst sich weigern, jede Art von Nachweis anzuerkennen, der eben diesen Ansichten widerspricht). „Unterrichtet die Kontroversen“, lautet ihr Mantra. Wir müssen uns in der Wissenschaft mit allen Themen unvoreingenommen auseinandersetzen, weil neue Erkenntnisse aus allen möglichen Quellen stammen können. Wenn dem so ist, hört man die Kreationisten sich beschweren, warum werden dann die „wissenschaftlichen“ Behauptungen der ID-Theorie aus dem Fach Biologie ausgeschlossen? Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Weil es keine gibt. Ich könnte die „wissenschaftlichen“ Belege für die ID-Theorie in einer seitenlangen Abhandlung Punkt für Punkt auseinandernehmen, aber das haben andere bereits brillant und ausführlich getan.86 Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, das Gefühl haben, weitere Überzeugungsarbeit sei erforderlich, lege ich Ihnen die in der Endnote genannten Arbeiten ans Herz. Ich möchte für den Augenblick nur auf Richter Jones´ prägnante Schlussfolgerung im Fall Kitzmiller verweisen, nach der die ID-Theorie „keine Wissenschaft“ ist.87

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Natürlich versuchten die ID-Theoretiker sich zu wehren und hofften auf eine langwierige Diskussion über die Ursprünge des Auges und den Missing Link (dummerweise haben die Vertreter der Evolutionstheorie für beides eine Erklärung).88 Das wirft die wichtige Frage auf, ob sich solche Debatten überhaupt lohnen, denn erkennen die ID-Theoretiker die wissenschaftlichen Standards für Belege an? Als Pseudowissenschaftler streben sie danach, ihre Überzeugungen gegen Kritik zu immunisieren. Sie missverstehen das grundlegende Prinzip hinter wissenschaftlicher Argumentation: Forme deine Überzeugungen auf der Basis empirischer Belege und verpflichte dich dazu, diese Überzeugungen auf der Grundlage neuer Belege zu verändern. Die Anhänger des Intelligent Design unterliegen noch einem weiteren Missverständnis in Bezug auf Wissenschaft. Ihre Aussagen hören sich so an, als ob die Evolutionstheorie nur dann unterrichtet werden dürfe, wenn sie durch Belege vollständig bewiesen sei. Aber so funktioniert Wissenschaft nicht. Wie wir in Kap. 2 gesehen haben, sind wissenschaftliche Schlussfolgerungen niemals gewiss, egal wie stichhaltig die Belege sein mögen. Sollte man genau deshalb, so mag der ID-Theoretiker jetzt fragen, nicht auch alternative Theorien erwägen? Die Antwort lautet nein, weil jede alternative Theorie ebenso an den Grundsatz der Bewährung durch hinreichende Belege gebunden ist, und solche hat die Intelligent-Design-Theorie nicht zu bieten. Merken wir uns also, dass „Löcher“ in der Evolutionstheorie nicht automatisch die Gültigkeit einer bestimmten alternativen Theorie nahelegen  – es sei denn, sie würde stichhaltige Erklärungen für diese „Löcher“ bieten. Was schließen wir aus diesen Betrachtungen? Wir haben gesehen, dass Intelligent Design nicht mehr ist als die kreationistische Ideologie in einem fadenscheinigen Gewand aus Wissenschaftlichkeit. Der Einwand, die Evolutionstheorie sei keine „vollständig belegte Wissenschaft“, weshalb man die Intelligent-Design-Theorie zumindest miteinbeziehen müsse, ist Unsinn. Den Platz auf dem Wissenschaftslehrplan muss man sich verdienen. Natürlich ist es theoretisch möglich, dass sich die Evolutionstheorie als falsch erweist, diese Möglichkeit besteht bei jeder wirklich wissenschaftlichen Theorie. Aber es ist in höchstem Maße unwahrscheinlich, weil sie von der Mikrobiologie bis hin zur Genetik durch eine Fülle von empirischen Belegen gestützt wird. Nur zu behaupten, „deine Theorie könnte falsch“ oder „meine könnte richtig sein“, reicht in der Wissenschaft nicht aus. Man muss auch die entsprechenden Daten zu bieten haben. Wissenschaftliche Aussagen müssen sich bewähren. Obwohl es also theoretisch wahr ist, dass

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die Evolutionstheorie falsch sein könnte, verhilft das der ID-Theorie nicht zu mehr Wissenschaftlichkeit. Denn wäre das anders, könnte man dieses Argument auch auf die parodistische Religion des Pastafarianismus und seine „wissenschaftliche“ Theorie vom Fliegenden Spaghettimonster anwenden. Diese brillante Satire wurde von einem arbeitslosen ­ Physikstudenten während des Kitzmiller-Prozesses erfunden, um die wissenschaftliche Bankrotterklärung der ID-Theoretiker zu verdeutlichen.89 Wenn wissenschaftliche Unsicherheiten zur Akzeptanz aller alternativen Theorien führen sollen, muss dann ein Astronom auch die Theorie der flachen Erde unterrichten? Sollten wir zu Caloricum und Phlogiston zurückkehren? In der Wissenschaft mag Gewissheit unerreichbar sein, aber empirische Belege sind unerlässlich.90 Ein anderer vorhersehbarer Einwand der ID-Theoretiker bezieht sich darauf, dass die natürliche Selektion „nur eine Theorie“ sei. Wir erinnern uns an dieses Märchen aus Kap. 2. Das Wort „Theorie“ auf die Evolution anzuwenden, ist keine Beleidigung. Eine Theorie mit einer soliden empirischen Basis zu entwickeln – die sowohl ihre Voraussagen stützt als auch ihre Erklärungsmodelle und die im Einklang mit anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen steht –, ist absolut beeindruckend. Kein Wunder also, wenn die Intelligent-Design-Theorie da nicht mithalten kann. Stellen wir uns nun eine provokante Frage: Was wäre, wenn sie mithalten könnte? Was wäre, wenn es tatsächliche empirische Belege gäbe, die manche der Voraussagen des ID stützen würden? Wären wir ihr dann eine Überprüfung schuldig? Ich denke schon. Wie bereits angemerkt, muss man selbst grenzwertige Behauptungen manchmal ernst nehmen (was natürlich nicht heißt, dass man sie sofort in den schulischen Lehrplan aufnehmen sollte). Denn die Wissenschaft ist offen für neue Erkenntnisse. In dieser Hinsicht haben manche Vertreter grenzwertiger Theorien sogar recht, wenn sie sich darüber beklagen, dass man ihre Arbeit als Pseudowissenschaft abtut. Wenn es empirische Belege gibt, hat die Wissenschaft nicht das Recht, alternative Theorien auf einer anderen Basis als der entsprechender Daten abzulehnen. Das heißt aber auch, dass „pseudowissenschaftliche“ Theorien nur ernst genommen werden können, wenn sie öffentlich zugängliche empirische Belege bieten, die von anderen, unvoreingenommenen Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinschaft überprüft werden können. Wenn sie an diesen Standard heranreichen, warum überprüfen die Wissenschaftler sie dann nicht? Manchmal tun sie das.

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Das Princeton Engineering Anomalies Research Lab Im Jahr 1979 eröffnete Robert Jahn, der Dekan des Instituts für Ingenieurwesen und angewandte Wissenschaft an der Princeton University, ein Labor, um „dem sorgfältigen wissenschaftlichen Studium der Interaktion zwischen dem menschlichen Bewusstsein und physischen Geräten, Systemen und Prozessen der zeitgenössischen Ingenieurspraxis nachzugehen“.91 Er wollte, um es kurz zu machen, parapsychologische Untersuchungen anstellen. Unter der Bezeichnung Princeton Engineering Anomalies Research (PEAR) Lab (Labor für anomalistische Forschung des Princeton Instituts für Ingenieurswesen) verbrachte man die nächsten 28 Jahre damit, verschiedene Effekte zu studieren, darunter die weithin bekannte Psychokinese, also die angebliche Fähigkeit des menschlichen Geistes, die physische Welt zu beeinflussen. Ein Skeptiker könnte nun sofort zu dem voreiligen Schluss kommen, dieses Unterfangen sei ein pseudowissenschaftliches. Erinnern wir uns aber daran, dass in der Beschreibung des Forschungsvorhabens von einer wissenschaftlichen Untersuchung der Hypothese die Rede war. Das Team am PEAR nutzte einen Zufallszahlengenerator und bat Probanden, diesen mit ihren Gedanken zu beeinflussen. Und tatsächlich stellten sie einen geringen, statistisch signifikanten Effekt von 0,00.025 fest. Massimo Pigliucci schreibt dazu, dass dieser Effekt, obwohl gering, „wenn er sich bestätigen würde, trotzdem unser Verständnis grundlegender Zusammenhänge von Materie und Energie revolutionieren“ würde.92 Wie können wir das am besten einschätzen? Zuerst einmal müssen wir uns wieder die Grundlagen der Statistik ins Gedächtnis rufen: • Die Effektgröße ist die Höhe der Abweichung vom Zufall. Stellen wir uns vor, wir werfen 10.000-mal eine faire Münze und erhalten ein Ergebnis von 5000-mal Kopf. Dann malen wir eine Seite der Münze rot an und das Ergebnis ist 5500-mal Kopf. Die Zahl 500 ist dann unsere Effektgröße. • Die Stichprobengröße ist die Anzahl der Münzwürfe. Wenn wir die bemalte Münze nur 20-mal werfen würden und ein Ergebnis von 11-mal Kopf erhielten, wäre das nicht besonders beeindruckend. Das Ergebnis könnte zufällig sein. Wenn wir aber eine Stichprobe von 10.000 Würfen und ein Ergebnis von 5500 haben, ist das schon wesentlich aussagekräftiger.

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• Der p-Wert ist die Wahrscheinlichkeit, dass der beobachtete Effekt auf Zufall beruht. Wir erinnern uns aus Kap. 5 daran, dass der p-Wert nicht das Gleiche ist wie die Effektgröße. Der p-Wert wird von der Effektgröße beeinflusst, aber auch von der Stichprobengröße. Wenn wir bei einer sehr großen Anzahl von Münzwürfen immer noch ein auffälliges Ergebnis erhalten, ist der p-Wert niedriger, weil die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass das Ergebnis auf Zufall beruht. Aber auch die Effektgröße wirkt sich auf den p-Wert aus. Ein Ergebnis von 5500 bei 10.000 Münzwürfen ist sogar ein ziemlich großer Effekt. Das spricht dafür, dass die Wahrscheinlich eines zufälligen Ergebnisses viel geringer ist, und daher verringert sich der p-Wert. Bevor wir zu den Ergebnissen des PEAR kommen, wollen wir einen genaueren Blick auf unser Münzwurfexperiment werfen. Erinnern wir uns, dass der p-Wert nichts über die Ursache eines Effekts aussagt, sondern nur über die Wahrscheinlichkeit, dass man diesen Effekt beobachten könnte, wenn die Nullhypothese gültig wäre. Also könnte es sein, dass die rote Farbe, mit der wir die Münze auf einer Seite bemalt haben, magische Kräfte hätte oder dass die (neue) Gewichtsverteilung auf der Münze die Würfe dahin gehend beeinflusst hätte, dass sie öfter auf der Kopfseite landet. Man weiß es nicht. Was wir aber wissen, ist, dass eine größere Anzahl von Durchgängen selbst eine sehr geringe Effektgröße erhöhen kann. Nehmen wir an, wir hätten eine Münze, die unbemalt ist und völlig normal aussieht. Aufgrund der Art ihrer Prägung besitzt nun diese Münze aber eine winzig kleine Neigung zu einer bestimmten Seite. Wenn wir sie eine Million Mal werfen, würde sich diese Neigung stärker niederschlagen und den p-Wert beeinflussen. Die Effektgröße wäre immer noch klein, aber der p-Wert würde sich aufgrund der Anzahl der Würfe verringern. Die Schlussfolgerung lautet: Es war keine faire Münze. Genauso kann eine hohe Effektgröße selbst bei einer geringen Anzahl von Würfen einen enormen Einfluss auf den p-Wert haben. Nehmen wir an, wir bemalen eine faire Münze mit roter Farbe und haben ein Wurfergebnis von 10-mal hintereinander Kopf. Dieses Ergebnis beruht wahrscheinlich nicht auf Zufall. Vielleicht ist die Farbe bleihaltig. Was geschah im Labor des PEAR? Das Laborteam führte 28 aufeinanderfolgende Jahre lang ein experimentelles Pendant zu unserem Münzwurf durch. Die Effektgröße war winzig, aber auch der p-Wert war wegen der großen Anzahl von Durchgängen äußerst gering. Wir haben hier also einen Effekt, der nicht auf Zufall beruhen kann, oder? Nein, diese Schlussfolgerung ist nicht korrekt.

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Auch wenn die Absichten der Forscher sicher ehrenwert waren – und ich möchte den Mitarbeitern des PEAR-Labs keinen Betrug oder auch nur niedere Beweggründe vorwerfen –, könnten ihre Ergebnisse durch eine Art umfangreiches, unabsichtliches p-Hacking zustande gekommen sein. Pigliucci macht in seiner Darstellung der Forschung am PEAR-Lab (in seinem Buch Nonsense on Stilts ) deutlich, dass das ganze Ergebnis entscheidend davon abhängt, ob die Zufallszahlengeneratoren auch wirklich zufällige Zahlen auswarfen.93 Welche Belege gibt es dafür, dass sie nicht zufällig waren? Das ist hierbei die falsche Fragestellung. Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass man aus einem Ergebnis nicht auf die Ursache schließen kann, dass wir aber, bevor wir uns von der außergewöhnlichen Hypothese eines Einflusses des menschlichen Geistes auf die materielle Welt überzeugen lassen, alle anderen plausiblen Störfaktoren ausschließen müssen.94 Erinnern wir uns, dass wenn wir eine Münze bemalen, nicht erkennen können, ob der daraus entstehende Effekt auf „magische“ Eigenschaften der Farbe zurückzuführen ist oder auf eine andere Gewichtsverteilung. Wenn wir Ockhams Rasiermesser anwenden, welche Möglichkeit wird ein skeptischer Wissenschaftler wohl für wahrscheinlicher halten? Genauso konnte der Effekt der Versuche am PEAR-Lab durch Psychokinese oder einen fehlerhaften Zufallszahlengenerator entstanden sein. Bis wir Letzteres sicher ausschließen können, müssen wir mit damit rechnen, dass die jahrelange Arbeit mit Zufallszahlengeneratoren am PEAR gar nicht ergab, dass Psychokinese möglich ist, sondern vielmehr, dass es unmöglich ist, Zufallszahlen zu generieren! Wie Robert Park es in Voodoo Science formuliert, nimmt man „allgemein an, dass es keine echten Zufallsgeneratoren gibt. Daher kann es sein, dass sich der Mangel an Zufälligkeit erst nach vielen Durchgängen zu zeigen beginnt.“95 Wie können wir zwischen diesen Hypothesen unterscheiden? Warum gibt es keine Zufallsgeneratoren? Auf diese Frage gibt es keine Antwort und sie trifft den Kern der Überlegungen, ob die Hypothese der Psychokinese es wert ist, weiterhin experimentell überprüft zu werden (oder wie man sie überhaupt überprüfen könnte). In der Zwischenzeit sollte man jedoch auch die anderen methodischen Faktoren der PEAR-Forschung untersuchen. Zuerst einmal muss man es den Forschern anrechnen, dass sie andere Labore darum baten, Versuche zur Replizierung ihrer Ergebnisse durchzuführen. Wenn auch die Versuche fehlschlugen, ist doch die Bitte allein ein guter Indikator für die wissenschaftliche Grundhaltung.96 Was ist aber mit einem Peer-Review-Verfahren? Hier wird es schon etwas schwieriger. Der Leiter des PEAR-Labs beschrieb das Problem einmal wie folgt: „Wir reichten unsere Daten zur Begutachtung bei sehr guten Fachzeitschriften ein, aber es fanden

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sich keine Gutachter. Wir sind sehr offen mit unseren Daten umgegangen, aber wie soll man an Fachgutachten kommen, wenn es keine Fachkollegen gibt?“97 Und wie steht es mit Kontrollen? Es gibt Hinweise darauf, dass Kontrollen in die Versuche eingebaut wurden, aber sie reichten nicht an die von den PEAR-Kritikern geforderten Parameter heran. Was am PEAR am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass Vorschläge von Kritikern, die man hätte berücksichtigen müssen, grundsätzlich ignoriert wurden. Der Physiker Bob Park berichtet beispielsweise, dass er Jahn zwei verschiedene Experimente vorschlug, mit denen man die Hauptkritikpunkte seines Labors hätte umgehen können. Park fragte, warum man keinen doppelt verblindeten Versuch durchführen würde. Man solle einen zweiten Zufallsgenerator die Aufgabe des ersten bestimmen lassen und diese Entscheidung dem Aufzeichner der Ergebnisse nicht zugänglich machen. Damit hätte man den Vorwurf des Experimentatorenbias entkräften können.98

Es wurden zwar nie Betrugsvorwürfe gegen das PEAR geäußert, aber es war zumindest verdächtig, dass die Hälfte der Effektgröße über die gesamten 28 Jahre hinweg durch die Versuchsdurchgänge einer bestimmten Person zustande kam, die vermutlich am PEAR-Lab angestellt war. Vielleicht besaß dieser Mensch nur größere psychische Fähigkeiten als andere Versuchspersonen. Wir werden es wohl nie erfahren, denn im Jahr 2007 schloss das PEAR seine Tore. Jahn kommentierte: Es ist Zeit für eine neue Ära, Zeit, dass andere herausfinden, was unsere Ergebnisse für die menschliche Kultur bedeuten, für künftige Forschung und – wenn die Ergebnisse korrekt sind – was sie über unsere grundsätzliche wissenschaftliche Einstellung aussagen.99

Selbst wenn man den Ergebnissen des PEAR-Labs gegenüber wohl skeptisch bleibt, finde ich es ermutigend, dass überhaupt in dieser Richtung geforscht wurde und dass man diese Forschung ernst genug nahm, um sie zu überprüfen. Manche bezeichneten das Labor als eine Peinlichkeit für Princeton, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Einschätzung teilen kann. Die wissenschaftliche Grundhaltung erfordert sowohl Sorgfalt seitens des Forschers als auch eine Offenheit der erweiterten wissenschaftlichen Gemeinschaft für wissenschaftliche Daten. Waren die Daten des ­PEAR-Labs wissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich? Ich kann mich nicht dazu überwinden, sie als pseudowissenschaftlich zu bezeichnen. Ich denke nicht, dass die Forscher am PEAR-Lab nur vortäuschten, ­wissenschaftlich zu arbeiten, genauso wenig wie diejenigen nur Wissenschaft vortäuschen,

9  Wissenschaft auf Abwegen: Leugner, Pseudowissenschaftler …     229

die kalte Fusion oder die String-Theorie untersuchen. Vielleicht gab es methodische Fehler. Wenn es sich aber tatsächlich herausstellen sollte, dass es so etwas wie Zufallszahlengeneratoren gar nicht gibt, dann sollte man diese Entdeckung vielleicht dem PEAR-Team anrechnen! Andererseits wäre es schön gewesen, wenn man eine grundlegende Form der Kontrolle in den Versuch eingebaut hätte. Man hätte einen weiteren Zufallszahlengenerator vollkommen eigenständig (vielleicht in einem separaten Raum) 28 Jahre lang ohne jeden Versuch der Einflussnahme laufen lassen und seine Ergebnisse mit denen des anderen Generators vergleichen können. Wenn der Kontrollgenerator ein Ergebnis von 50 % und der Versuchsgenerator eines von 50,00.025 erbracht hätte, wäre ich eher bereit gewesen, die Ergebnisse ernst zu nehmen (sowohl im Hinblick auf eine mögliche Existenz der Psychokinese als auch der eines echten Zufallszahlengenerators).

Fazit Ist es möglich, dass jemand glaubt, er besäße eine wissenschaftliche Grundhaltung, sie aber in Wirklichkeit nicht einnimmt? Einstellungen sind merkwürdige Phänomene. Vielleicht bin ich der Einzige, der weiß, wie ich mich zu empirischen Belegen stelle. Nur meine ganz privaten Gedanken lassen erkennen, ob ich meine Theorie in ehrlicher Weise überprüfen oder nur gegen Kritik immunisieren möchte. Und selbst hierbei muss ich damit rechnen, dass es zahlreiche Ebenen der Eigenwahrnehmung gibt und das Phänomen der Selbsttäuschung noch verkomplizierend hinzukommt. Doch die wissenschaftliche Grundhaltung kann auch an Handlungen gemessen werden. Wenn ich behaupte, eine wissenschaftliche Grundhaltung einzunehmen, es dann aber ablehne, widersprechende Belege einzubeziehen, oder falsche Voraussagen treffe, muss ich mich zu Recht kritisieren lassen, ob ich nun aus ehrenhaften Motiven heraus zu handeln glaube oder nicht. Der Unterschied zwischen Leugnung und Pseudowissenschaft auf der einen und Wissenschaft auf der anderen Seite geht über die innere Einstellung der einzelnen Wissenschaftlerin oder des einzelnen Wissenschaftler hinaus und sogar über die der Gruppe von Wissenschaftlern, die die wissenschaftliche Gemeinschaft bilden. Sie steckt auch in den Handlungen sowohl einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch in denen der Mitglieder ihres oder seines Berufsstandes, die der Vorstellung gerecht werden müssen, dass sich die Wissenschaft aufrichtig um empirische Belege bemüht. Wie in anderen Bereichen des Lebens messen wir Einstellungen nicht nur an Gedanken, sondern auch am Verhalten.

10 Die wissenschaftliche Grundhaltung und die Sozialwissenschaften

In den letzten beiden Kapiteln haben wir verschiedene Beispiele diskutiert, in denen das Fehlen der wissenschaftlichen Grundhaltung erkennbar wurde. Ob der Grund nun Betrug, Leugnung oder Pseudowissenschaft heißt: Viele, die von sich behaupten, um empirische Belege bemüht zu sein, schaffen es nicht, den hohen Standards der wissenschaftlichen Forschung gerecht zu werden. Ein wichtiger Faktor, den wir in diesem Zusammenhang in unsere Überlegungen einbeziehen müssen, ist die Motivation. Manche dieser Mängel treten auf, weil die Beteiligten nicht nach Wissenschaftlichkeit streben (vielleicht weil sie einer Ideologie anhängen oder ihr Ego oder finanzielle Interessen über wissenschaftliche Integrität stellen) und nur eine Abkürzung zu wissenschaftlichem Erfolg nehmen möchten. Was ist aber mit Vertretern von Fachgebieten, die tatsächlich ein Streben nach mehr Wissenschaftlichkeit erkennen lassen? Was ist, wenn jemand bereit ist, mit viel Einsatz darauf hinzuarbeiten, aber die Bedeutung der wissenschaftlichen Grundhaltung die Erreichbarkeit dieses Ziels erfasst? In Kap. 6 haben wir gesehen, wie sich ein zuvor unwissenschaftliches Gebiet mithilfe der wissenschaftlichen Grundhaltung zur medizinischen Wissenschaft entwickeln konnte. Steht dieser Weg auch den Sozialwissenschaften offen? Jahrelang waren viele der Ansicht, dass die Sozialwissenschaften (Ökonomie, Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Geschichts- und Politikwissenschaft) mehr Wissenschaftlichkeit erlangen könnten, wenn sie die „wissenschaftliche Methode“ der Naturwissenschaften übernehmen würden. Aber dieser simple Ratschlag birgt einige Probleme.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_10

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Die Herausforderungen einer Wissenschaft des menschlichen Verhaltens Es gibt viele unterschiedliche Möglichkeiten, soziale Fragestellungen zu untersuchen. Manche Psychologen halten es für zielführend, ihre Forschungsarbeit auf kontrollierten Experimenten aufzubauen (und die Verhaltensökonomen beginnen, sich ebenfalls in diese Richtung zu entwickeln), aber in anderen Bereichen der Sozialforschung ist es schlicht nicht möglich, mehrere Datendurchläufe durchzuführen.1 In der Soziologie gibt es Fallstudien, in der Anthropologie die Feldforschung. Und bis vor Kurzem lehnten die Vertreter der neoklassischen Ökonomie die Vorstellung ab, dass zu stark vereinfachende Aussagen die Übertragbarkeit ihrer theoretischen Modelle des menschlichen Verhaltens untergraben könnten. Natürlich unterscheiden sich die Sozialwissenschaften darin nicht vollkommen von den Naturwissenschaften. Mit Newtons Modell der Physik vor Augen übersieht man leicht die Tatsache, dass auch das Studium der Natur eine methodische Vielfalt zu bieten hat: Geologen können keine kontrollierten Experimente durchführen und Biologen oft keine präzisen Voraussagen treffen. Dennoch sind seit der Zeit, als die logischen Positivisten (und Popper) behaupteten, es sei die Methode, die die Wissenschaft von anderen Erkenntniswegen abgrenze, viele der Meinung gewesen, dass die Sozialwissenschaften gut daran täten, sich an der Vorgehensweise der Naturwissenschaften zu orientieren. Diese Forderung hat im Laufe der Jahre sowohl bei Sozialwissenschaftlern als auch bei Wissenschaftsphilosophen Widerstand ausgelöst mit dem Einwand, dass man nicht erwarten könne, sozialwissenschaftliche Studien in der gleichen Weise zu betreiben wie naturwissenschaftliche. Die Untersuchungsgegenstände seien schlicht zu unterschiedlich, hieß es. Was wir über das menschliche Verhalten wissen, steht oft im Widerspruch zu unserem Wunsch, Handlungen nur auf ihre Ursachen reduzieren zu wollen. Wenn es also wirklich nur eine Art gäbe, Wissenschaft zu betreiben – eine Art, die durch die spezifische Methode der Naturwissenschaften definiert wäre (wenn nicht gar durch die „wissenschaftliche Methode“ selbst) –, ließe es sich leicht nachvollziehen, wenn man die Hoffnung auf mehr Wissenschaftlichkeit in den Sozialwissenschaften verlieren würde. In der Vergangenheit habe ich in meiner Arbeit viel Aufwand für den Versuch betrieben, die Schwächen in der Argumentation derjenigen zu identifizieren, die von einer grundlegenden Barriere für eine Wissenschaft des menschlichen Verhaltens sprachen. Diese Barriere bestünde

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in der Komplexität oder Offenheit des Untersuchungsgegenstands, der fehlenden Möglichkeit, kontrollierte soziale Experimente durchzuführen, und der besonderen Problematik der Subjektivität und Willensfreiheit in der Sozialforschung.2 Ich bin noch immer überzeugt davon, dass meine Argumentation hierbei stichhaltig ist, vor allem weil Komplexität und Offenheit auch in den Naturwissenschaften Teil der wissenschaftlichen Forschung sind und die anderen angeblichen Barrieren einen weniger starken Einfluss auf die tatsächliche Durchführung sozialer Forschungsarbeit ausüben, als Kritiker annehmen mögen. Auch bin ich der Auffassung, dass diese Probleme überzogen sind. Wenn sie wirklich eine Barriere für die wissenschaftliche Forschung darstellen würden, würden sich dies wahrscheinlich auch in einem großen Teil der Naturwissenschaften niederschlagen. Doch für den Augenblick möchte ich mich auf etwas vielversprechendere Argumente für eine Wissenschaft des menschlichen Verhaltens konzentrieren, denn inzwischen ist mir bewusst geworden, dass es nicht die Methode war, die den Sozialwissenschaften in der Vergangenheit fehlte, sondern die richtige Einstellung zu empirischen Belegen.3 Wie auch Popper war ich nie überzeugt davon, dass es so etwas wie eine wissenschaftliche Methode gibt. Aber ich meine, dass es ihre Methodologie ist, die die Wissenschaft auszeichnet.4 Popper argumentierte bekanntermaßen, dass die Sozialwissenschaften nicht falsifizierbar und damit nicht wissenschaftlich seien.5 Dagegen habe ich eingewandt, dass es in jeder bedeutenden Hinsicht eine methodologische Gleichwertigkeit von naturwissenschaftlicher und sozialer Forschung geben könne. Das mag auch der Fall sein, doch in diesem Argument fehlt ein entscheidender Punkt. Der erkenntnistheoretische Sonderstatus der Wissenschaft – sowohl der Naturwissenschaften als auch der Sozialwissenschaften – besteht nicht nur in der Art und Weise, in der Wissenschaftler ihre Forschungsarbeit durchführen, sondern auch in der Einstellung, die ihre Arbeitsweise prägt. Ein zu großer Teil der Sozialforschung lässt eine beschämend geringe Sorgfalt erkennen. Nicht nur sind die Methoden bisweilen qualitativ schlecht, viel schlimmer ist noch der Umstand, dass hinter ihnen eine nichtempirische Einstellung steckt. Viele der angeblich wissenschaftlichen Studien zur Einwanderung, zum Waffenbesitz, zur Todesstrafe und anderen wichtigen sozialen Themen sind durchdrungen von den politischen oder ideologischen Überzeugungen der Durchführenden. Kann man von diesen Studien nichts weiter erwarten, als dass manche Forscher Ergebnisse zusammentragen, die exakt mit ihren links der politischen Mitte angesiedelten Überzeugungen übereinstimmen, während andere wiederum zum politisch konservativen Lager passende Ergebnisse erhalten, die den

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erstgenannten vollkommen widersprechen? Ein gutes Beispiel dafür ist die Frage, ob Einwanderer „sich selbst finanziell tragen können“ oder ob sie ein „net drag“, ein Hemmschuh für die Wirtschaft sind. Wenn diese Frage wirklich eine empirische ist (und meiner Ansicht nach ist sie das), warum finde ich dann fünf Studien, die zeigen, dass Einwanderer ein „net plus“, also ein Motor für die Wirtschaft sind, daneben fünf weitere, die zeigen, dass sie das nicht sind, und kann dabei wahrscheinlich voraussagen, welche Studien aus welchen Forschungszentren stammen und wer der Verfasser ist?6 Ich möchte an dieser Stelle niemandem Betrug oder pseudowissenschaftliches Arbeiten vorwerfen. Es sind angeblich sorgfältige sozialwissenschaftliche Studien, durchgeführt von hoch angesehenen Wissenschaftlern. Nur widersprechen ihre Ergebnisse zu empirischen Forschungsfragen einander vollständig. In der Physik wäre das inakzeptabel, warum also toleriert man etwas Derartiges in der Soziologie? Ist es vor diesem Hintergrund verwunderlich, wenn die Politik in Washington D. C. sich davor scheut, ihre politischen Strategien auf wissenschaftlicher Arbeit aufzubauen, und sich stattdessen lieber die Rosinen aus den Studien herauspickt, um ihre vorgefassten Überzeugungen zu untermauern? Die Wahrheit ist, dass solche Forschungsfragen eigentlich für empirische Studien geeignet sind. Es ist in den Sozialwissenschaften möglich, diese Fragestellungen wissenschaftlich zu untersuchen. Denn es gibt in Fragen des menschlichen Verhaltens richtige und falsche Antworten. Tritt bei manchen Menschen ein Backfire-Effekt auf, wenn sie mit Fakten konfrontiert werden, die den eigenen Ansichten zu empirischen (eher als normativen) Fragen widersprechen, beispielsweise ob es Massenvernichtungswaffen im Irak gab oder ob Präsident George W. Bush ein vollständiges Verbot der Stammzellen plante? Gibt es so etwas wie einen unbewussten Bias, und wenn ja, wie kann man ihn messen? Fragen dieser Art können wissenschaftlich untersucht werden und wurden es auch bereits in der Vergangenheit.7 Obwohl die Sozialwissenschaftler vielleicht weiterhin anderer Ansicht sein mögen (und so etwas ist eigentlich ein gutes Zeichen in der Forschung), sollten sich die Kontroversen auf die Frage der besten Verfahren zur Untersuchung dieser Fragen konzentrieren statt auf die politische Akzeptanz ihrer Ergebnisse. Eine wissenschaftliche Grundhaltung zu empirischen Belegen ist für das Studium des menschlichen Verhaltens ebenso notwendig wie für das Studium der Natur.

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Dennoch stecken in der derzeitigen sozialwissenschaftlichen Forschung zahlreiche Probleme: 1. Zu viel Theorie: Zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien legen Ergebnisse nahe, die nicht anhand empirischer Daten geprüft wurden. Das klassische Beispiel ist hier die neoklassische Ökonomie, in der einige vereinfachende Annahmen – wie die vollkommene Voraussicht, die vollkommene Information – in schöne quantitative Modelle mündeten, die wenig mit dem realen menschlichen Verhalten zu tun hatten. 2. Fehlende Experimente/Daten: Mit Ausnahme der Sozialpsychologie und der neu hinzugekommenen Verhaltensökonomie führt ein großer Teil der Sozialwissenschaften noch immer keine Experimente durch, wo es möglich wäre. Beispielsweise wird die Strategie, Sexualstraftäter in einer öffentlichen Datenbank aufzuführen, oft mit der Aussage gerechtfertigt, dass dieses Vorgehen die Rückfallrate verringern würde. Diese Aussage muss jedoch an einer Rückfallrate ohne das Sex Offender Registry Board (SORB) gemessen werden, was schwierig ist und unterschiedliche Ergebnisse erbracht hat.8 Dieses Problem kommt noch verschärfend zu Punkt (1) hinzu, wenn bevorzugte theoretische Erklärungsmuster übernommen werden, selbst wenn sie nicht anhand experimenteller Daten überprüft wurden. 3. Schwammige Konzepte: Die Ergebnisse mancher sozialwissenschaftlichen Studien sind fragwürdig, weil sie „Stellvertreter“-Konzepte für das nutzen, was eigentlich gemessen werden soll. Ein aktuelles Beispiel ist das Messen von „Wärme“ als Stellvertreter für „Vertrauenswürdigkeit“ (die Details dazu finden sich im nächsten Abschnitt), was zu irreführenden Schlussfolgerungen führen kann. 4. Ideologischer Einfluss: Dieses Problem zieht sich durch den gesamten Bereich der Sozialwissenschaften. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist die Verfälschung empirischer Arbeiten zur abschreckenden Wirkung der Todesstrafe oder der Effektivität schärferer Waffengesetze für die Verringerung der Kriminalitätsrate. Wenn man schon im Vorhinein weiß, was man gerne herausfinden möchte, wird man es wahrscheinlich auch finden.9 5. Rosinenpicken: Wie wir gesehen haben, erlaubt der Einsatz von Statistik wissenschaftlichen Forschern verschiedene „Freiheitsgrade“. Doch hier besteht die höchste Wahrscheinlichkeit des Missbrauchs.

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Was ­ beispielsweise die Studien zur Einwanderung betrifft, beruht ein großer Teil der Unterschiede zwischen den Studien auf abweichenden Kalkulationen der „Kosten“, die durch die Einwanderung entstehen. Hier berührt dieser Punkt das unter (4) aufgeführte Problem. Wenn wir unsere Schlussfolgerung schon kennen, suchen wir uns gezielt die Daten, die sie stützen. 6. Mangelnde Zugänglichkeit der Daten: Wie Trivers berichtet, gibt es zahlreiche dokumentierte Fälle, in denen Forscher es versäumt haben, die Daten ihrer psychologischen Studien zugänglich zu machen, obwohl APA-unterstützte Fachzeitschriften diese Maßnahme für die Veröffentlichung vorschreiben.10 Als man später die Daten analysierte, fand man Fehler, die in den meisten Fällen zugunsten der Hypothese der Forscher ausgefallen waren. 7. Fehlende Replizierung: Wie bereits angesprochen, befindet sich die Psychologie in einer Replizierbarkeitskrise. Man kann zwar mit Recht einwenden, dass die ursprüngliche Feststellung, zwei Drittel der psychologischen Studien seien nicht replizierbar, fälschlicherweise so hoch ansetzte (vgl. Gilbert et al. 2016), aber es ist dennoch erschreckend, dass man im Nachgang der meisten Studien nicht einmal versucht, diese zu replizieren. Dieses Versäumnis kann zu Problemen führen, wenn sich Fehler einschleichen. 8. Fragwürdige Kausalität: Eine Grundregel in der Statistik besagt, dass „Korrelation ungleich Kausalität“ ist. Dennoch gibt es noch immer sozialwissenschaftliche Studien, die provokante Ergebnisse von fragwürdiger Qualität hervorheben. Eine kürzlich durchgeführte soziologische Studie ergab beispielsweise, dass die Einschreibung an einem zulassungsbeschränkten College mit Besuchen von Kunstmuseen durch die Eltern korrelierte, ohne deutlich zu machen, dass diese Korrelation wahrscheinlich ein Artefakt des elterlichen Einkommens war.11 Zu einem gewissen Grad bestehen all diese Probleme auch in der naturwissenschaftlichen Forschungsarbeit. Manche der in den vorhergehenden Kapiteln angesprochenen Probleme (p-Hacking, problematischer Peer-Review-Prozess) lassen sich auch in der sozialwissenschaftlichen ­ Forschungsarbeit nachweisen. Die weiter oben aufgeführten Mängel beschränken sich nicht ausschließlich auf die Sozialwissenschaften, aber sie sind hier besonders präsent. Auch wenn die Naturwissenschaften ebenfalls von diesen Problemen betroffen sind, sind sie in den Sozialwissenschaften im Verhältnis dazu stärker ausgeprägt.

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Die Schwächen der Sozialwissenschaften beruhen nicht auf einem Mangel an einer vorgegebenen Methode oder dem Fehlen bestimmter wissenschaftlicher Prozesse. Vielmehr sind einige ihrer Prozesse noch nicht auf einer wissenschaftsgemeinschaftlichen Ebene implementiert, sodass eine auf das gesamte Fachgebiet bezogene Verpflichtung zu einer wissenschaftlichen Grundhaltung erkennbar wäre. Schwammige Konzepte oder Irrtümer auf der Basis fragwürdiger Kausalitäten mögen nicht so stark ins Gewicht fallen, wenn Fachkollegen die Arbeit auf Fehler überprüfen. Aber in vielen Fällen bleiben diese Fehler – in einem Umfeld, in dem Daten nicht zugänglich gemacht und keine routinemäßigen Replizierungsversuche unternommen werden – unbemerkt. Die Sozialwissenschaften müssen ebenso wie die Naturwissenschaften eine wissenschaftliche Grundhaltung gegenüber empirischen Daten einnehmen und sich zur Beilegung wissenschaftlicher Auseinandersetzungen ausschließlich auf die Basis ebensolcher Belege stützen. Es muss offen als Peinlichkeit angesehen werden, dass in den Sozialwissenschaften ein so hoher Anteil an Meinung, Intuition, Theorie und Ideologie existiert. So wie uns heute in der Rückschau die Vorstellung operativer Eingriffe mit bloßen Händen zusammenzucken lässt, fragen wir uns vielleicht eines Tages bei der Betrachtung der Geschichte der Sozialwissenschaften: Warum hat denn niemand diese Hypothese überprüft? Nichts verhilft in dem Maße zu Ehrlichkeit wie eine öffentliche Überprüfung. Wir brauchen eine umfassendere Datentransparenz in den Sozialwissenschaften. Wir brauchen ein besseres Peer-Review-Verfahren und wirkliche wissenschaftliche Kontrollen. Es ist eine Schande, dass die Sozialwissenschaften bis vor Kurzem nicht einmal den Versuch unternommen haben, experimentell zu sein. Dieser Tatsache müssen wir uns stellen. Verglichen mit dem alten neoklassischen Ökonomiemodell ist das neue verhaltensökonomische Modell wie ein frischer Wind, der durch das Fachgebiet weht. Würden sich die Sozialwissenschaftler sowohl auf der Ebene des Einzelnen als auch auf der der Gruppe in stärkerem Maße zu einem Fundament aus empirischen Belegen und der Entwicklung angemessener Vorgehensweisen zu ihrer Nutzung verpflichtet fühlen, hätten diese Fachgebiete bereits einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Die Sozialwissenschaften können dabei den Weg beschreiten, den die Medizin bereits vor ihnen genommen hat. Ob man eine klinische Studie durchführt oder Feldforschung betreibt, die angemessene Einstellung in der Sozialforschung lässt sich am besten in den Worten Émile Durkheims beschreiben, nach denen der Soziologe sich „beim Vordringen in die soziale

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Welt … auf ­Entdeckungen vorbereiten [muss], die ihn überraschen und außer Fassung bringen werden“.12 Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass wir, nur aufgrund unseres Menschseins, bereits grundlegende Kenntnisse des menschlichen Verhaltens besitzen. Wann immer möglich, müssen wir Experimente durchführen, die unsere vorgefassten Annahmen infrage stellen, damit wir wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Handeln gewinnen können, statt diese Erkenntnisse aus mathematischen Modellen und abgehobenen Theorien ablesen zu wollen. All dies bezieht sich sowohl auf qualitative als auch auf quantitative Forschung. Es stimmt zwar, dass es in den Sozialwissenschaften unreduzierbar qualitative Daten gibt (siehe dazu die Arbeit von Clifford Geertz zur „dichten Beschreibung“ in seinem Buch The Interpretation of Cultures, Basic Books, New York, 1973; deutsche Ausgabe: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Suhrkamp, Berlin, 1983), muss man sich dennoch fragen, wie sich diese Daten messen lassen. Wir müssen uns im Fall qualitativer Arbeit sogar besonders vor Hybris oder Verzerrungen schützen. Unser gefühltes Wissen über die menschliche Natur ist wahrscheinlich nicht größer als die Kenntnisse der Ärzte im 18. Jahrhundert in Bezug auf Infektionen.13 Empirische Daten können und sollten uns überraschen. Nur weil sich ein Ergebnis „richtig anfühlt“, muss es nicht korrekt sein. Wer das menschliche Verhalten untersucht, ist nicht weniger anfällig für kognitive Verzerrungen und all die anderen Gefahren für solide wissenschaftliche Arbeit, als es naturwissenschaftliche Forscher sind. Die Revolution der Sozialwissenschaften mag eher eine Revolution der Einstellung als eine der Methodik sein, aber sie sollte sich dennoch in alle Bereiche der Forschungsarbeit erstrecken. Jahrelang herrschte die Ansicht, man könne den Sozialwissenschaften durch mehr „Objektivität“ zu mehr Wissenschaftlichkeit verhelfen. Besonders die logischen Positivisten hielten an der ­Fakt-Wert-Unterscheidung fest, nach der Wissenschaftler nur ihre Ergebnisse im Blick haben sollten und nicht deren Verwendung. Doch damit hatten sie unrecht. Wir sollten zwar unsere Hoffnungen, Wünsche, Überzeugungen und „Werte“ nicht unser Studium der „Fakten“ menschlichen Verhaltens beeinflussen lassen, das heißt aber nicht, dass „Werte“ unwichtig seien. Unsere Verpflichtung zu einer wissenschaftlichen Grundhaltung stellt sogar einen essenziellen Wert in der Durchführung unserer Forschungsarbeit dar. Der Schlüssel zu höheren Standards in den Sozialwissenschaften ist nicht die wissenschaftliche Methode, sondern die wissenschaftliche Grundhaltung.

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Die Strategie: die Medizin zum Vorbild nehmen Wenn wir uns an den Zustand der Medizin zur Zeit von Semmelweis zurückerinnern, stoßen wir auf deutliche Parallelen zu den Sozialwissenschaften. Kenntnisse und Vorgehensweisen basierten auf Volkswissen, Intuition und Brauch. Experimente waren selten. Hatte jemand eine Theorie gebildet, zog man diese in Betracht, wenn man sie für „sinnvoll“ hielt, auch wenn sie nicht durch empirische Belege untermauert war. Allein schon die Idee, sich um Belege zur Überprüfung einer Theorie zu bemühen, war für jene ein Schlag ins Gesicht, die meinten, Ärzte wüssten bereits um die Ursache der meisten Erkrankungen. Obwohl der überwiegende Teil der Medizingeschichte geprägt ist von eklatantem Unwissen und veralteten Praktiken, gab es eine Vielzahl von Theorien und Vorstellungen, die man selten infrage oder auf den Prüfstand stellte. Genau hier wird deutlich, warum Semmelweis´ Vorgehensweise so revolutionär war. Er stellte sich die Frage, ob seine Vorstellungen einer praktischen Überprüfung standhalten würden. Ihm war bewusst, dass er Erkenntnisse gewinnen konnte, indem er inkorrekte Hypothesen auf der Basis mangelnder Übereinstimmung mit empirischen Belegen verwarf. Doch sein Ansatz stieß bei fast allen seiner Fachkollegen auf erbitterten Widerstand. Zu dieser Zeit hatte sich in der Medizin noch nicht die wissenschaftliche Grundhaltung durchgesetzt. Ist das in den modernen Sozialwissenschaften der Fall? Es gibt Beispiele dafür. Doch es ist problematisch, dass selbst in Fällen, in denen gute wissenschaftliche Arbeit geleistet wird, viele meinen, die wissenschaftliche Grundhaltung ignorieren zu dürfen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der man sich in der Strafverfolgung – trotz eines alarmierend hohen Anteils falsch positiver Ergebnisse – noch immer auf die Aussagen von Augenzeugen verlässt und nichtsequenzielle polizeiliche Gegenüberstellungen durchführt. Und wir müssen uns fragen, ob nicht auch hier die Praxis hinter der Theorie zurückbleibt.14 Der Umgang der Politik mit Kriminalität, der Todesstrafe, Einwanderung oder der Reglementierung des Waffenbesitzes beruht nur selten auf empirischen Studien. Doch zum Teil scheint das auch an den inkonsistenten Standards zu liegen, mit denen die sozialwissenschaftliche Forschung schon immer zu kämpfen hatte. Dieses Problem hat zudem den Ruf der Sozialwissenschaften beschädigt und es ihren Vertretern erschwert, den eigenen Forschungsergebnissen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wie wir gesehen haben, schafft man kein Vertrauen in die sozialwissenschaftliche Forschung, wenn viele Studien gar nicht repliziert werden oder unterschiedliche Schlüsse aus demselben Datensatz

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ziehen. Ob es an schludriger Methodik liegt, an einer Beeinflussung durch eine Ideologie oder an anderen Problemen: Selbst wenn es beim Studium des menschlichen Verhaltens richtige und falsche Antworten gibt, sind die meisten Sozialwissenschaftler noch nicht der Position, sie auch finden zu können. Nicht alle Forschungsarbeiten in den Sozialwissenschaften weisen eine mangelnde Sorgfalt auf, aber wenn die Politik (und bisweilen sogar das Fachkollegium) sich bezüglich der Verlässlichkeit mancher Arbeiten unsicher sind, schadet das dem gesamten Forschungsfeld. Auch die Medizin genoss in der Vergangenheit einen ähnlich schlechten Ruf, konnte jedoch aus dem Schatten ihres vorwissenschaftlichen „dunklen Zeitalters“ heraustreten, indem die wissenschaftlichen Durchbrüche Einzelner zu praktischen Standards auf Gruppenebene erhoben wurden und auch bis zu einem gewissen Grad zu einer Standardisierung von empirischen Belegen führten. Bis heute haben die Sozialwissenschaften ihre eigene Entwicklung zu einer belegbasierten Wissenschaft noch nicht abgeschlossen. Es lassen sich Beispiele für die praktische Umsetzung der wissenschaftlichen Grundhaltung in der Sozialforschung finden, die auch einige Erfolge gebracht haben. Aber die Akzeptanz der Vorstellung, dass das Studium des menschlichen Verhaltens auf Theorien und Erklärungsmodellen beruhen muss, die unablässig anhand von Erkenntnissen aus Experiment und Beobachtung überprüft werden müssen, erstreckt sich noch nicht auf den gesamten sozialwissenschaftlichen Bereich. Wie in der vorwissenschaftlichen Medizin beruhen weite Teile der heutigen Sozialwissenschaften auf Ideologien, Vermutungen und Intuition. Im nächsten Abschnitt werden wir in einem Beispiel kennenlernen, wie sich eine wissenschaftliche Grundhaltung in der Sozialwissenschaft niederschlagen kann. Doch zuvor müssen wir uns mit einem Thema beschäftigen, das viele als eine unüberwindliche Hürde für die Entwicklung einer Wissenschaft des menschlichen Verhaltens ansehen. Manche halten die Sozialwissenschaften deshalb für einzigartig, weil hierbei Menschen das Verhalten anderer Menschen studieren – und eine Beeinträchtigung „objektiver“ empirischer Forschung durch unsere Werte unvermeidlich ist. Dieses Problem wird als Subjektivitätsbias bezeichnet. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir mit der Medizin ein Beispiel für ein Gebiet haben, das dieses Problem gelöst und sich zu einer Wissenschaft entwickelt hat. In vielerlei Hinsicht ähnelt die Medizin den Sozialwissenschaften bezüglich ihres Untersuchungsgegenstands. Wie besitzen unerlässliche Werte, die unweigerlich unser Studium leiten werden: Wir stellen das Leben über den Tod, die Gesundheit über die Krankheit. Wir dürfen der „desinteressierten“ Haltung eines Wissenschaftlers nicht einmal nahekommen,

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dem nur i­nsoweit etwas an seinem Untersuchungsobjekt liegt, als er sich Antworten auf Forschungsfragen erhofft. Medizinische Wissenschaftler hoffen inständig darauf, dass ihre Verfahren erfolgreich sind, weil Leben auf dem Spiel stehen. Wie aber gehen sie damit um? Nicht indem sie die Hände in den Schoß legen und eine mögliche Niederlage einräumen, sondern indem sie sich auf bewährte wissenschaftliche Vorgehensweisen stützen, wie randomisierte, doppelt verblindete klinische Studien und die Offenlegung von Interessenkonflikten. Der Placebo-Effekt, die Wirkerwartung, ist ein reales Phänomen sowohl für Patienten als auch für Ärzte. Wenn wir wollen, dass ein Medikament wirkt, könnten wir den Patienten unbewusst zu der Annahme veranlassen, es wirke tatsächlich. Aber wem würde das nützen? Wenn es um faktisch basierte Forschungsfragen geht, ist den medizinischen Wissenschaftlern bewusst, dass eine Beeinflussung der Ergebnisse durch ihre eigene Erwartung nicht weniger gefährlich ist als ihre Fälschung. Daher schützen sie sich gegen Hybris und das Gefühl, bereits die Antworten zu kennen, durch die Etablierung methodologischer Kontrollmechanismen. Sie schützen also das, was ihnen am Herzen liegt, indem sie die Gefahr durch kognitive Verzerrungen anerkennen. Die bloße Existenz von Werten oder einer emotionalen Bindung an den Forschungsgegenstand reicht nicht aus, um die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit zu untergraben. Wir können aus der Beobachtung lernen, selbst wenn wir uns ganz der Hoffnung hingeben, dass ein Medikament wirken wird oder eine Theorie korrekt ist. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, diese Hoffnung über die bewährte wissenschaftliche Praxis zu stellen. Wir können die wissenschaftliche Grundhaltung einnehmen, selbst wenn andere Werte mit ihr koexistieren. Es ist sogar das Wissen um mögliche Verzerrungen, das medizinische Forscher und Ärzte dazu bewegt hat, verschiedene Kontrollmechanismen zu entwickeln, die mit der wissenschaftlichen Grundhaltung in Einklang stehen. Sie möchten nicht aufhören, den Wert des menschlichen Lebens als Leitstern ihres Handelns zu betrachten, sondern bessere wissenschaftliche Arbeit leisten, um die Gesundheit ihrer Patienten fördern zu können. Die Geschichte der Medizin macht deutlich, dass, wenn es uns um auf den Menschen übertragbare Ergebnisse geht, es sogar besser ist, aus der Erfahrung zu lernen. Nur wenn wir die nötigen Schritte unternehmen, um unsere Objektivität zu bewahren – statt vorzugeben, das sei nicht erforderlich oder möglich –, können wir bessere wissenschaftliche Leistungen erzielen. Wie die Medizin sind auch die Sozialwissenschaften subjektiv. Und sie sind normativ. Es liegt uns viel daran, nicht nur Erkenntnisse über reale Zustände zu gewinnen, sondern auch daran, dieses Wissen dazu zu

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v­erwenden, diese Zustände nach unseren Vorstellungen zu formen. Wir untersuchen das Wahlverhalten, um unsere demokratischen Werte zu erhalten. Wir untersuchen den Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, um die Folgen der nächsten Rezession abzumildern. Doch im Gegensatz zur Medizin, haben die Sozialwissenschaften noch kein wirksames Mittel zur Abgrenzung empirischer Untersuchungen gegen normative Erwartungen gefunden. Dadurch kann es passieren, dass wir, statt objektives Wissen zu erwerben, uns nur von unserem „confirmation bias“ und Wunschdenken leiten lassen. Hier haben wir die tatsächliche Hürde, die wir auf dem Weg zu mehr Wissenschaftlichkeit in den Sozialwissenschaften nehmen müssen. Nicht nur verfügen wir über unzureichende Werkzeuge oder widmen uns einem besonders schwierigen Untersuchungsgegenstand, wir haben auch in gewisser Weise ein unzureichendes Bewusstsein für unsere eigene Unwissenheit und die Bedeutung wissenschaftlicher Aufrichtigkeit, die sich durch den unablässigen Abgleich unserer Vorstellungen mit empirischen Daten zeigt. Die Herausforderung für die Sozialwissenschaften ist es, eine Möglichkeit zur Erhaltung unserer menschlichen Werte zur finden und zugleich zu verhindern, dass diese Werte die empirische Forschung beeinflussen. Wir müssen die Welt verstehen, wenn wir sie ändern wollen. Die Medizin fand die Lösung des Problems in kontrollierten Experimenten. Wie mag eine Lösung für die Sozialwissenschaften aussehen?

Beispiele für gute und für schlechte Sozialwissenschaft Selbst wenn Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler „forschen“, ist diese Forschung of nicht experimentell. Das heißt, ein großer Teil dessen, was man als wissenschaftliche „Belege“ heranzieht, basiert auf Hochrechnungen aus Umfragedaten oder anderen Datensätzen, die von anderen Forschern zu anderen Zwecken erhoben wurden. Dieses Vorgehen kann zu verschiedenen methodologischen Problemen führen, etwa der Verwechslung von Kausalität und Korrelation, der Anwendung schwammiger Konzepte und anderen Schwächen, die wir in diesem Kapitel bereits umrissen haben. Wir können „schlechte“ Sozialwissenschaft als bloße Theorie ohne empirische Belege beschreiben, als beeinflusst durch Ideologien, als unzureichend durch Experimente gestützt und so weiter. Aber es ist noch etwas anderes, wenn wir diese Mängel in Aktion erleben.

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Ein Beispiel für schlecht durchgeführte sozialwissenschaftliche Forschung ist der 2013 in den Proceedings of the National Academy of Science veröffentlichte Artikel „Gaining Trust as Well as Respect in Communicating to Motivated Audiences about Science Topics“ (Der Erwerb von Vertrauen und Respekt in der wissenschaftsbezogenen Kommunikation mit einem motivierten Publikum) von Susan Fiske und Cydney Dupree.15 In dieser Studie widmeten sich die Forscher einem wichtigen Thema für den Schutz der Wissenschaft in der Gesellschaft: der Frage, ob eine angeblich niedrige Vertrauenswürdigkeit von Wissenschaftlern ihre Überzeugungskraft bei faktischen Themen wie dem Klimawandel untergraben könne. Überrascht es uns, wenn Wissenschaftler als nicht vertrauenswürdig gelten? Fiske und Dupree meinten, dafür untermauernde empirische Belege gefunden zu haben. In ihrer Studie führten die beiden zunächst eine Onlinebefragung unter erwachsenen Amerikanerinnen und Amerikanern durch und baten die Teilnehmer, typisch amerikanische Berufe aufzulisten. Dann suchten die Forscher die 42 Berufe heraus, die am häufigsten genannt worden waren, darunter Wissenschaftler, Forscher, Professor und Lehrer.16 In einem nächsten Schritt befragten sie eine neue Stichprobe nach der emotionalen „Wärme“ im Gegensatz zur „Kompetenz“ bei den Ausübenden dieser Berufe. Das Ergebnis war ein hohes Abschneiden von Wissenschaftlern hinsichtlich der Expertise (Kompetenz), jedoch ein relativ niedriger Wert der Wärme (Vertrauenswürdigkeit). Was hat Wärme mit Vertrauenswürdigkeit zu tun? Fiskes und Duprees Hypothese war ein positiver Zusammenhang zwischen Vertrauenswürdigkeit und Wärme und Freundlichkeit. Kurz gesagt, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand „auf meiner Seite“ steht, dann fällt es mir leichter, dieser Person zu vertrauen. Es gibt zwar Studien dazu, dass wir Personen leichter vertrauen, von denen wir glauben, sie seien „wie wir“17, aber es ist ein weiter Schritt von diesem Ausgangspunkt zur Verwendung von „Wärme“ und „Vertrauenswürdigkeit“ als austauschbare ­Stellvertreter füreinander. Wir sollten zunächst den Schritt von Aussage (1) „wenn X auf meiner Seite ist, dann ist X vertrauenswürdiger“ zu (2) „wenn X nicht auf meiner Seite ist, dann ist X weniger vertrauenswürdig“ näher beleuchten. Unser Grundlagenwissen der Logik sagt uns, dass die Aussage (2) nicht durch Aussage (1) impliziert ist und umgekehrt. Der Sprung von (1) nach (2) ist sogar der klassische logische Fehler der Verneinung des Antezedent (des Vorausgehenden). Das bedeutet, dass, selbst wenn es Belege für die Gültigkeit von Aussage (1) gäbe, die Gültigkeit von Aussage (2) noch immer nicht belegt

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wäre. Fiske und Dupree führen an keiner Stelle in ihrem Artikel Belege zur Untermauerung von Aussage (2) an. Dennoch bildet die bikonditionale Verbindung zwischen „auf meiner Seite sein“ und „vertrauenswürdig sein“ den Kern ihrer Schlussfolgerung, dass es methodologisch gerechtfertigt sei, „Wärme“ als Stellvertreter für die Messung von „Vertrauenswürdigkeit“ zu nutzen.18 Ist es nicht vorstellbar, dass Wissenschaftler zwar nicht als „warm“, aber dennoch als „vertrauenswürdig“ eingeschätzt werden könnten? Wäre es nicht sogar direkter gewesen, wenn die Forscher ihre Teilnehmer gebeten hätten, die Vertrauenswürdigkeit verschiedener Berufsgruppen zu bewerten? Man fragt sich, wie das Ergebnis dann wohl ausgefallen wäre. Aus welchem Grund auch immer entschieden sich die Forscher gegen diese Verfahrensweise und sprangen stattdessen in ihrem Artikel munter zwischen Bewertungen der Wärme und Schlussfolgerungen zum Vertrauen hin und her. [Wissenschaftler] erwerben Respekt, aber kein Vertrauen. Für kompetent, aber kalt gehalten zu werden, mag unproblematisch erscheinen, bis man sich ins Gedächtnis ruft, dass die Glaubwürdigkeit des Kommunizierenden nicht nur Status und Expertise (Kompetenz) erfordert, sondern auch Vertrauenswürdigkeit. … Selbst wenn Wissenschaftler als kompetent respektiert werden, wird ihnen vielleicht dennoch nicht aufgrund ihrer [fehlenden] Wärme vertraut.19

Wir haben es hier mit einem klassischen Beispiel für schwammige Konzepte in sozialwissenschaftlichen Studien zu tun. Unterschiedliche Konzepte werden als austauschbar behandelt, vermutlich weil eines dieser Konzepte leichter zu messen ist als das andere. In diesem Fall bin ich allerdings nicht überzeugt, dass dies der Grund ist, denn „Vertrauen“ ist wohl kaum ein esoterisches Konzept, zu dem die Umfrageteilnehmer keine Angaben machen könnten. Dennoch entnehmen wir dem Artikel die Schlussfolgerung, dass Wissenschaftler eher ein „Vertrauensproblem“ hätten und kein „Wärmeproblem“, was aber auf keiner direkten Messung des Vertrauens selbst beruht.20 Die hier beschriebenen Mängel sind bedauerlich, weil die eigene Studie der Forscher die Gültigkeit ihrer eigenen Studien infrage zu stellen scheint. In einer nachfolgenden Studie berichteten Fiske und Dupree, sie hätten zur weiteren Untersuchung Klimawissenschaftler herausgegriffen und eine neue Stichprobe von Teilnehmern mit einer leicht abweichenden Methode zwecks Messung des Vertrauens vorgenommen. In dieser Befragung wurde statt „Vertrauen“ das „Misstrauen“ anhand einer Skala mit sieben Items gemessen, darunter die Wahrnehmung „der Motivation,

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betreffend Statistiken zu lügen, einfache Zusammenhänge kompliziert darzustellen, Überlegenheit zur Schau zu stellen, Forschungsgelder zu erwerben, eine linke Agenda zu verfolgen, die Öffentlichkeit zu provozieren und großen Konzernen zu schaden“.21 Die Forscher waren überrascht von dem Ergebnis, dass Klimawissenschaftler als vertrauenswürdiger eingeschätzt wurden als Wissenschaftler im Allgemeinen (gemessen an der vorhergehenden Umfrage). Woran konnte das gelegen haben? Fiske und Dupree bieten die Hypothese an, dass die Skala unterschiedlich sei (was die Frage aufwirft, warum sie sich für eine andere Skala entschieden), verfolgen aber auch die Vorstellung, Klimawissenschaftler könnten vielleicht „konstruktiver an die Öffentlichkeit herantreten, indem sie Expertise (Kompetenz) mit Vertrauenswürdigkeit (Wärme) ausgleichen und dadurch eine Kommunikationsglaubwürdigkeit herstellen“ würden.22 Ich halte diese Schlussfolgerung für fragwürdig, weil im letzten Teil der Studie die „Wärme“ der Klimawissenschaftler gar nicht gemessen wurde, die Forscher aber wiederum kein Problem damit hatten, Vertrauenswürdigkeit und Wärme gleichzusetzen.23 Ich möchte diesem negativen Beispiel nun ein positives gegenüberstellen. Wir werden dazu eine sozialwissenschaftliche Arbeit betrachten, die ein solides Fundament der wissenschaftlichen Grundhaltung aufweist, empirische Daten zur Überprüfung einer intuitiven theoretischen Hypothese nutzt und experimentelle Methoden anwendet, um menschliche Motivation direkt anhand menschlichen Handelns zu messen. In Sheena Iyengars Arbeit zum Auswahlparadoxon wird ein klassisches sozialwissenschaftliches Dilemma erkennbar. Wie kann man etwas so Amorphes wie die menschliche Motivation durch empirische Daten messen? Der neoklassischen Ökonomie zufolge messen wir den Verbraucherwunsch direkt durch das Marktverhalten. Menschen kaufen, was sie kaufen wollen, und der Preis spiegelt den Wert wider, den das Produkt für den Käufer besitzt. Um die mathematischen Details nachvollziehbar zu machen, brauchen wir einige „vereinfachende Annahmen“. Erstens nehmen wir an, dass unsere Vorlieben rational sind. Wenn ich Kirschkuchen lieber mag als Apfelkuchen und Apfelkuchen lieber als einen mit Blaubeeren, lässt sich daraus ableiten, dass ich Kirschkuchen lieber mag als Blaubeerkuchen.24 Zweitens nehmen wir an, dass Konsumenten die vollkommene Information über die Preise besitzen. Obwohl die Ungültigkeit dieser Annahme in einzelnen Fällen weithin bekannt ist, bildet sie eine zentrale Annahme der neoklassischen Ökonomie, weil man sie als Erklärungsmodell dafür benötigt, wie der Markt als Ganzes die magische Aufgabe zustande bringt, Präferenzen durch Preise zu steuern.25 Es ist zwar bekannt, dass Verbraucher am Markt „Fehler“ machen (wenn

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sie ­beispielsweise nicht wissen, dass Kirschkuchen in einem nahe gelegenen Geschäft im Angebot ist), das Modell soll aber dennoch angeblich korrekt sein, denn wenn die Verbraucher die entsprechende Information gehabt hätten, hätten sie ihr Verhalten geändert. Und schließlich nimmt das neoklassische Modell noch an, dass „mehr besser ist“. Das soll nicht heißen, es gebe das Phänomen des abnehmenden Grenznutzens nicht – dass der letzte Bissen Kirschkuchen wahrscheinlich nicht so gut schmeckt wie der erste –, aber es bedeutet, dass es für Verbraucher besser ist, am Markt mehr Auswahlmöglichkeiten zu haben, weil man so seine Präferenzen maximieren kann. Diese letzte Annahme wollte Sheena Iyengar in ihrer Arbeit durch ein Experiment auf den Prüfstand stellen. Es stand viel auf dem Spiel, denn wenn sich die vereinfachende Aussage zu den Auswahlmöglichkeiten als falsch erweisen würde, wäre dadurch – auch vor dem Hintergrund der früheren Arbeiten von Herbert Simon, die die Annahme der „vollkommenen Information“ infrage stellten – das neoklassische Modell in Gefahr geraten. Iyengar und ihr Kollege Mark Lepper entwarfen ein kontrolliertes Experiment zur Frage der Verbraucherentscheidung, bei dem Kunden in einem Lebensmittelgeschäft die Möglichkeit erhielten, verschiedene Sorten von Konfitüre zu probieren. In der Kontrollgruppe erhielten die Teilnehmer die Wahl zwischen 24 verschiedenen Sorten. In der Versuchsgruppe wurde die Auswahlmöglichkeit auf sechs reduziert. Um sicherzustellen, dass verschiedene Käufer in beiden Gruppen eine Wahl treffen würden, wurden die Auslagen alle zwei Stunden durchgewechselt und weitere wissenschaftliche Kontrollen in den Versuchsaufbau integriert. Iyengar und Lepper hatten sich zwei Messungen vorgenommen: 1) wie viele Sorten von Konfitüren die Kunden wählen und probieren würden und 2) wie viele dieser Produkte sie insgesamt bei ihrem Einkauf erwerben würden. Um Letzteres messen zu können, erhielt jeder Kunde, der Konfitüre probierte, einen kodierten Gutschein, mit dem die Versuchsleiter nachhalten konnten, ob die Anzahl der in der Auslage zur Wahl gestellten Produkte das spätere Kaufverhalten beeinflussen würde. Und das war eindeutig der Fall. Obwohl die Auslage mit 24 Sorten zunächst ein etwas größeres Kundeninteresse auslöste, erwies sich das spätere Kaufverhalten hinsichtlich der Zahl der gekauften Produkte als recht niedrig in Relation zu dem der Kunden mit nur sechs Wahlmöglichkeiten. Obwohl jede Auslage gleich viele Konfitüretester anzog (damit entfiel der Faktor des Probierens als kausale Variable zur Erklärung des Unterschieds), nutzten die Käufer, die die Auslage mit 24 Konfitüresorten besucht hatten, ihren Gutschein nur in 3 % der Fälle, während die Kunden nach dem Besuch der Auslage mit nur sechs Produktsorten den Gutschein in 30 % der Fälle nutzten.

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Was war eine mögliche Erklärung für dieses Verhalten? In ihrer Analyse vermuteten Iyengar und Lepper, dass die Käufer in der ersten Gruppe eventuell von der Zahl der Auswahlmöglichkeiten überfordert waren.26 Selbst wenn sie einige Sorten probiert hatten, waren sie sich, da es nur ein geringer Prozentsatz der gesamten Möglichkeiten gewesen war, vielleicht unsicher, die richtige Wahl getroffen zu haben, und entschieden sich daher, gar keine Konfitüre zu kaufen. In der zweiten Gruppe waren die Kunden vielleicht eher in der Lage, ihre Wahl zu rationalisieren, da die Auswahl für sie auf einer verhältnismäßig größeren Stichprobe (von probierten Sorten) basierte. Wie sich herausstellte, wünschten Kunden weniger Auswahlmöglichkeiten. Obwohl die Teilnehmer sich dessen vielleicht nicht bewusst waren, zeigte ihr Verhalten eine überraschende Eigenschaft menschlicher Motivation auf.27 Das Experiment mag als solches vielleicht trivial klingen, aber seine Folgen waren weitreichend. Eine der wichtigsten direkten Anwendungen der Ergebnisse, die Iyengar und Lepper erarbeitet hatten, fand im Hinblick auf die geringe Nutzrate von 401k-Plänen (vom Arbeitgeber mitfinanziertes Modell zur Altersvorsorge in den USA) statt. Neue Angestellte waren für gewöhnlich von der Anzahl der Wahlmöglichkeiten zur Geldinvestition überfordert und schoben eine Entscheidung auf, was im Grunde bedeutete, dass sie gar kein Geld in die Altersvorsorge investierten. In Respecting Truth habe ich mich mit verschiedenen anderen Auswirkungen dieser Forschungsergebnisse beschäftigt, die von einer automatischen Teilnahme an Pensionsplänen bis hin zur Einführung von „Target-Date-Fonds“ (Zielfonds) für die Rente reichen.28 Hier haben wir nicht nur gute sozialwissenschaftliche Forschung vorliegen, sondern auch ihren beachtlichen positiven Einfluss auf unseren Alltag. Entscheidend ist im Hinblick auf unser Thema, dass wir uns selbst in Situationen, in denen wir unseren Untersuchungsgegenstand sehr genau zu kennen glauben – menschliche Präferenzen und Wünsche – irren können, was die Ursachen für menschliches Verhalten betrifft. Fragt man Menschen, ob sie sich mehr oder weniger Auswahlmöglichkeiten wünschen, werden die meisten wohl für mehr Auswahl stimmen. Aber ihr reales Verhalten widerspricht diesem Wunsch. Die Ergebnisse experimenteller Daten aus dem Studium menschlicher Handlungsweisen können uns überraschen. Selbst scheinbar qualitative Konzepte wie Wunsch, Motivation und menschliche Entscheidung können durch Experimente gemessen werden statt durch bloße Intuition, Theorie oder verbale Angaben. Hier erinnern wir uns wieder an Semmelweis. Wie können wir wissen, ob wir recht haben, noch bevor wir unsere Annahmen experimentell

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­berprüft haben? Unsere Intuition mag uns verlässlich erscheinen, aber ü ein Experiment führt uns vor Augen, wie sehr sie uns täuschen kann. Und diese Tatsache gilt für die Sozialwissenschaft genauso wie für die Medizin. Faktische Erkenntnisse zum menschlichen Verhalten können für die Politik ebenso nützlich sein wie bei der Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Daher ist eine wissenschaftliche Grundhaltung für die Sozialwissenschaften genauso erstrebenswert wie für jedes empirische Fach. Gibt es ein besseres Beispiel für das Bemühen um empirische Belege und die Bereitschaft, die eigenen Theorien auf der Basis von empirischen Daten zu ändern, als Iyengar und Leppers erfolgreiches Experiment? Pasteurs elegantes experimentelles Modell erlaubte es ihm, die veraltete Vorstellung der Spontanzeugung zu widerlegen. Könnte die Ökonomie sich ebenso weiterentwickeln, indem sie den Einfluss kognitiver Verzerrungen und der Irrationalität auf menschliche Entscheidungsprozesse anerkennt? Und vielleicht stünde dieser Ansatz dem gesamten Bereich der Sozialwissenschaften offen. Die Arbeiten zu kognitiven Verzerrungen der letzten Zeit könnten uns beispielsweise bei der Entwicklung eines effektiveren Ansatzes für den Wissenschaftsunterricht helfen sowie bei der Berichtigung der in der Öffentlichkeit bestehenden Missverständnisse in Bezug auf den Klimawandel. Wenn die von Fiske und Lepper als Grundlage ihrer Arbeit zitierten Forscher recht haben (was nichts mit der Frage einer angeblichen Verbindung zwischen Wärme und Vertrauenswürdigkeit zu tun hat), dann ist die Einstellung ebenso ein Teil des Entscheidungsprozesses wie die ­Beleglage. Erstens mag seitens der Wissenschaft ein Missverständnis bezüglich der Quellen für die Überzeugungen von Laien bestehen. Menschen sind keine Dummköpfe. Das Problem, das die Öffentlichkeit mit der Wissenschaft hat, liegt nicht unbedingt in der Unwissenheit. Die Öffentlichkeit verfügt inzwischen über immer mehr Kenntnisse im Bereich der Ursachen für den Klimawandel. … Die mögliche Spaltung zwischen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit besteht nicht nur in Bezug auf reines Wissen im einfachen Sinn. Der zweite, oft vernachlässigte Faktor ist die andere Seite von Einstellungen. Einstellungen sind Auswertungen, die sowohl Kognition (­Überzeugungen) als auch Affekte (Gefühle, Emotionen) umfassen. Gemäß einer Einstellung zu handeln, bezieht sowohl kognitive Fähigkeiten als auch die Motivation ein. Einstellungen zeigen einen intrinsischen Druck zur Herstellung einer Widerspruchsfreiheit zwischen Kognition und Affekt, daher sind bei den meisten Einstellungen beide Faktoren relevant. Wenn sich Einstellungen entweder zur Seite der Kognition oder des Affekts neigen, ist der argumentative Prozess der Überzeugung effektiver, wenn er zur

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e­ntsprechenden Art der Einstellung passt. Im Bereich des Klimawandels motivieren beispielsweise Affekt und Werte zusammen die Klimakognition. Wenn also Einstellungen der Öffentlichkeit zwei Seiten haben – Überzeugung und Affekt –, welche Rolle spielen diese dann in der Wissenschaftskommunikation?29

Wenn das stimmt, welche wissenschaftlichen Durchbrüche sind dann möglich, wenn wir erst einmal mehr experimentelles Wissen über menschliche Denkweisen gesammelt haben? Reale Menschen verfügen nicht über die vollkommene Information und sie sind auch keine vollkommen rationalen Wesen. Unser Verstand steht kontinuierlich unter dem Einfluss von kognitiven Verzerrungen, die es einer Fülle von Emotionen, falschen Wahrnehmungen und Wünschen erlauben, unser Denken zu trüben. Es sollte für Sozialwissenschaftler ein starker Anreiz sein, ihr Fachgebiet wissenschaftlich gesehen in Ordnung zu bringen, wenn wir dadurch dann besser in der Lage sind, Menschen von einem bestehenden wissenschaftlichen Konsens beispielsweise hinsichtlich des Klimawandels zu überzeugen. Wenn die Sozialwissenschaften einmal einen Weg gefunden haben, ihrem Fachgebiet zu mehr Wissenschaftlichkeit zu verhelfen, können sie vielleicht auch mehr dazu beitragen, das Unternehmen Wissenschaft als Ganzes zu bewahren.

11 Wissenschaft schätzen lernen

Wenn das Konzept, das ich in den vorhergehenden Kapiteln erarbeitet habe, stimmig ist, sind wir damit in der Lage, den Erfolg der Wissenschaft 1) zu erklären, 2) ihn zu verteidigen, wo er bereits erkennbar ist, und 3) ihn auf andere Bereiche zu übertragen. Wenn Fachgebiete wie die Sozialwissenschaften mehr wissenschaftliche Sorgfalt anstreben, müssen sie dabei den Weg gehen, den auch andere Gebiete wie die Medizin beschritten haben: Sie müssen eine wissenschaftliche Grundhaltung umsetzen. Das Konzept der wissenschaftlichen Grundhaltung hat es uns ermöglicht, den erkenntnistheoretischen Sonderstatus der Wissenschaft nicht an ihrer „wissenschaftlichen Methode“ festzumachen, sondern am Respekt vor der entscheidenden Bedeutung empirischer Belege für die Formung und Veränderung unserer Theorien sowie an der Entwicklung von Prozessen zur kritischen Überprüfung durch unsere Fachkollegen, um Fehler zu identifizieren, die unserer eigenen Überprüfung entgangen sind. In der Wissenschaft zählen empirische Belege. Und die Anerkennung dieser Tatsache ist die wichtigste Wertvorstellung, die den Unterschied zwischen Menschen beschreibt, die Wissenschaft betreiben, und denen, die das nicht tun. Selbst wenn empirische Belege nicht bestimmen können, ob eine Theorie „wahr“ ist, ist es dennoch der Respekt vor eben diesen Belegen, der der Wissenschaft ihre besondere explanative Kraft verleiht. Er hält uns auf Kurs, selbst wenn unsere unvollkommenen Vorstellungen und menschlichen Schwächen uns vom Weg abzubringen drohen. Wir können vor diesem Hintergrund nun auch nachvollziehen, warum ideologische Theorien wie das Intelligent Design oder die © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4_11

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­ limawandelleugnung nicht als wissenschaftlich angesehen werden dürfen, K denn in gewisser Weise stellen sie das Gegenteil von Wissenschaft dar. Sie erheben Ideologie über empirische Daten. Sie erkennen die Tatsache nicht an, dass uns wissenschaftliche Forschung nicht zur Gewissheit führt, sondern eher dazu, dass wir falsche Vorstellungen ablegen, an die wir so verzweifelt glauben wollen. Wissenschaft besteht nicht einfach nur darin, mithilfe von Technologie eine „richtige Antwort“ zu finden oder zu versuchen, die Gültigkeit einer Theorie zu beweisen. Aber ein wissenschaftliches Erklärungsmodell verliert nichts von seiner Besonderheit, wenn wir seine Eigenschaften realistisch betrachten. Wir müssen nicht so tun, als ließe sich jede Theorie im Grunde auf Physik reduzieren. Und der Erfolg wissenschaftlicher Theorien bedeutet auch nicht, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit wahr sind. Wissenschaft ist ein rationaler Prozess, durch den wir lernen, unsere Vorurteile, Wünsche und Vermutungen über die Zusammenhänge der Welt kontinuierlich neu zu bewerten und zu verwerfen, sie durch Schlussfolgerungen zu ersetzen, die mit den Daten der menschlichen Erfahrung und Beobachtung im Einklang stehen. Hierin besteht der Kern wissenschaftlicher Rechtfertigung. Obwohl uns die Wissenschaft nie zur „Wahrheit“ führen kann, stellt sie doch einen einzigartigen und bemerkenswerten Weg zur Erkenntnis dar. Und wenn wir schließlich anerkennen, dass es in der Wissenschaft um eine Haltung und nicht um eine Methode geht – um das Streben nach Rechtfertigung statt um voreilige Schlussfolgerungen über die Wahrheit –, haben wir damit unserem Arsenal ein höchst wirksames Werkzeug hinzugefügt. Meiner Überzeugung nach stellt die Wissenschaft trotz ihrer Grenzen die größte Erfindung dar, die der menschliche Geist jemals hervorgebracht hat, um empirische Erkenntnisse zu gewinnen. Und daher ist sie es wert, dass wir ihr Wesen verstehen, ihre Prozesse nachbilden und sie verteidigen. Es bleibt jedoch noch eine bedeutende Frage offen. Sollte ich nicht – vor dem Hintergrund einer so wirksamen Verteidigungsstrategie für die Wissenschaft – doch noch einmal den Versuch unternehmen, auf der Basis der wissenschaftlichen Grundhaltung ein neues Abgrenzungskriterium zu entwickeln? Ich hoffe und meine in den ersten Kapiteln dieses Buches deutlich gemacht zu haben, warum ich dieses Vorgehen nicht für klug (oder notwendig) halte. Jetzt, da wir uns dem Abschluss meiner Betrachtungen nähern, möchte ich noch einmal genauer darauf eingehen. Ich bin in meiner Definition der wissenschaftlichen Grundhaltung bewusst vage geblieben und habe davon abgesehen, zu viele Kriterien aufzuführen. Denn ich bin der Ansicht, dass der Wissenschaft nicht damit gedient ist, wenn wir zu strenge Kriterien an die Bestimmung von Wissenschaft und N ­ icht-Wissenschaft

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anlegen. Die Versuchung mag groß sein, die wissenschaftliche Grundhaltung auf eine Art methodologisches Schema zu reduzieren, aber meine Hoffnung ist, dass wissenschaftliche Grundhaltung nicht dazu dient, eine Mauer zu errichten, sondern dazu, in eine Richtung zu weisen, die Gebiete einschlagen müssen, wenn sie nach mehr Wissenschaftlichkeit streben. Es besteht ein Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Grundhaltung als einer notwendigen und als einer hinreichenden Bedingung.1 Wie bereits dargestellt, bin ich überzeugt, dass wir – im Hinblick auf unser Vorhaben, den erkenntnistheoretischen Sonderstatus der Wissenschaft zu erkennen und zu verteidigen – auf die Anwendung hinreichender Bedingungen verzichten sollten. Es gibt viele Gründe, aus denen die Untersuchung einer empirischen Fragestellung das Ziel der Wissenschaftlichkeit verfehlen kann. Daher habe ich mich bewusst entschieden, die wissenschaftliche Grundhaltung nur als eine notwendige Bedingung zu entwickeln. Aber meine Scheu, mich hierbei auf die Systematik des „genau dann, wenn“ einzulassen, die nach Meinung früherer Wissenschaftsphilosophen unerlässlich für die Abgrenzung der Wissenschaft von der Nicht-Wissenschaft ist, hilft uns dabei, eine viel gefährlichere Falle zu vermeiden. Denn wenn wir unsere Hoffnung daran hängen, ein Gerüst aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Wissenschaft zu finden, ist der Standard vielleicht so hoch, dass wir nie eine befriedigende Antwort auf die Frage nach den besonderen Eigenschaften der Wissenschaft finden. Damit bliebe keine Möglichkeit, die Wissenschaft zu verteidigen.2 Manche mögen einwerfen, dass auch ich hier mit einer offenen Flanke kämpfe – dass mein Wissenschaftskonzept vielleicht zu viele Bereiche einbeziehen könnte. Wenn die wissenschaftliche Grundhaltung die einzige Notwendigkeit ist, warum sollte man dann nicht beispielsweise alle Situationen, in denen jemand den Prozess des Ausschließens von Annahmen anwendet oder sich auf beobachtete empirische Daten stützt, als Wissenschaft ansehen? Erinnern wir uns an unser Beispiel der Schlüsselsuche und die Frage, ob sie in den Bereich der Wissenschaft fällt. Oder an die Farce der Bode‘schen Regel. Vielleicht ist hier noch weitere Arbeit erforderlich, um andere verbleibende notwendige Bedingungen für Wissenschaft festzulegen. Eine davon mag das Vorhandensein einer vollständig ausformulierten Theorie sein. Wenn es die wissenschaftliche Grundhaltung erfordert, dass wir empirische Belege nutzen, um unsere Theorie zu überprüfen, dann sollten wir auch besser eine Theorie haben, die wir überprüfen können! Am Beispiel der Bode‘schen Regel können wir ablesen, dass Wissenschaft mehr ist als eine Reihe von Zufallstreffern. Wenn unsere „Theorie“ nur durch Zufall mit den Daten übereinstimmt, ist sie nicht gerechtfertigt. Newtons Theorie

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mag uns (selbst wenn sie falsch ist) zum Mond und wieder zurück reisen lassen, während die Bode‘sche Regel erfolgreich zwei Planeten voraussagte (obwohl sie auf keiner wie auch immer gearteten Theorie basierte). Doch im ersteren Fall haben wir eine Rechtfertigung und im zweiten Fall nicht. Warum? Weil instrumenteller Erfolg nicht alles ist, was den wissenschaftlichen Sonderstatus ausmacht. Wir brauchen auch eine Rechtfertigung. Wenn wir die wissenschaftliche Grundhaltung anwenden, überprüfen wir eine Theorie anhand der empirischen Daten. Auch wenn sich die Theorie als falsch erweist, heißt das nicht, dass sie nicht wissenschaftlich ist. Doch im Fall der Bode‘schen Regel gibt es keine Theorie, die überprüft werden könnte. Der Erfolg dieser Regel zeigt, dass man auch bei der Untersuchung empirischer Fragestellungen einfach Glück haben kann.3 Aber das ist nicht Wissenschaft. Erfolg allein rechtfertigt Wissenschaft nicht. So wie eine nachweislich falsche Theorie nicht automatisch unwissenschaftlich ist, ist auch eine schlicht mit den empirischen Belegen übereinstimmende Hypothese dadurch nicht automatisch wissenschaftlich. Es muss eine Theorie auf dem Prüfstand stehen. Wenn wir also davon ausgehen, dass uns die wissenschaftliche Grundhaltung abverlangt, uns um empirische Belege zu bemühen und diese zur Veränderung unserer Theorie zu nutzen, müssen wir der Vorstellung Rechnung tragen, dass Wissenschaft nicht nur auf empirischen Daten beruht, sondern auch eine Theorie erfordert, die auf ihrer Grundlage gerechtfertigt werden kann. Damit haben wir den Kern wissenschaftlicher Erklärungsmodelle beschrieben. Wenn wissenschaftliche Theorien nie als wahr bewiesen werden können, werden wir uns vielleicht nie ganz sicher sein, wie unsere Welt funktioniert. Das bedeutet aber nicht, dass es eine bessere Alternative gibt. Selbst wenn es nicht das Ziel von Wissenschaft sein kann, uns Gewissheit zu verschaffen (denn das würde sogar über die größtmögliche Rechtfertigung hinausgehen, die wir aus der Übereinstimmung einer Theorie mit empirischen Daten ableiten können), stellt dieser Umstand nicht ihre erkenntnistheoretische Autorität infrage. Trotz ihrer Grenzen stellt die Wissenschaft den geeigneteren Weg zur Gewinnung von Erkenntnissen über die empirische Welt dar als alle ihre Mitbewerber. Denn sie basiert auf der entscheidenden Grundannahme, dass wir die Zusammenhänge der Welt am besten aus den empirischen Daten ablesen können, die sie uns bietet. Wir können uns nicht auf unsere Intuition oder auf Spekulation verlassen. Und wir können uns auch nicht der Illusion hingeben, dass der empirische Erfolg unserer Theorien uns der Wahrheit näherbringt. Aber es gibt einfach keinen besseren Weg, um die empirische Welt zu verstehen, als unsere Hypothesen an den Daten aus ihrer Beobachtung zu messen.

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Seit Jahrzehnten findet innerhalb der Wissenschaftsphilosophie eine erbitterte Auseinandersetzung statt. Auf der einen Seite stehen die Vertreter der Auffassung, die Wissenschaft besäße einen erkenntnistheoretischen Sonderstatus (den sie üblicherweise an ihrer angeblich einzigartigen Methode festzumachen versuchen), und auf der anderen Seite die Wissenschaftsphilosophen, die den Prozess des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns für ebenso gut oder schlecht halten wie alle anderen menschlichen Unterfangen (weil soziale Faktoren, Einstellungen und Interessen immer das menschliche Verhalten prägen). Welche Ironie wäre es also, wenn sich herausstellen würde, dass der größte Unterschied der Wissenschaft in der Einstellung und den Werten besteht, mit denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an ihre Arbeit herangehen! Am Ende ist es nicht die Methode, die die Wissenschaft zu einem besonderen Erkenntnisweg macht. Wenn wir das Wesen der Wissenschaft erklären wollen (und auch beschreiben möchten, wie andere Gebiete wissenschaftlicher werden können), müssen wir uns auf die wissenschaftlichen Werte konzentrieren. Frühere Wissenschaftskonzepte haben sich sehr intensiv einer Diskussion der Methodologie gewidmet, sowohl in dem Versuch, Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft abzugrenzen, als auch zur Erforschung der Frage, ob Gebiete wie die Sozialwissenschaften sich einer methodologischen Revolution unterziehen könnten, um wissenschaftlicher zu werden. Dieser Fokus hat sich als falsch erwiesen. Im Verlauf dieses Buches habe ich dargelegt, dass es von nur begrenztem Wert ist, wenn wir in der Wissenschaftsphilosophie den größten Teil unserer Zeit damit verbringen, die Methoden so erfolgreicher Fachgebiete wie der Astronomie und der Physik zu studieren, die ihre Entwicklung zur Wissenschaft bereits abgeschlossen haben. Man kann zwar viel von diesen Gebieten lernen, aber es hilft uns nicht dabei, den Kern dessen zu erkennen, was den wissenschaftlichen Sonderstatus ausmacht. Stattdessen habe ich mich in meiner Darstellung auf Gebiete konzentriert, die entweder keine Möglichkeit haben, sich zu Wissenschaften weiterzuentwickeln (weil sie hoffnungslos ideologisch oder von falschen Wertvorstellungen geprägt sind oder weil ihre Vertreter sich schlicht nicht darum bemühen, ihre Überzeugungen auf der Basis empirischer Belege zu entwickeln) oder auf Gebiete, denen der Weg zu mehr Wissenschaftlichkeit offensteht (wie die Sozialwissenschaften) und die ihn auch beschreiten möchten. Eine Untersuchung der Faktoren, die diesen Gebieten fehlen, macht uns deutlich, was für Wissenschaft notwendig ist. Die wissenschaftliche Grundhaltung ist schwer fassbar, aber sie war schon immer vorhanden. Sie steckte in Bacons „Tugenden“ und Poppers Konzept der Falsifizierung. Sie stand hinter Kuhns Darstellung des

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­aradigmenwechsels. Und sie war sogar in den kritischen Stimmen hörP bar, die der wissenschaftlichen Methodologie ihre Besonderheit absprachen. Wie sich gezeigt hat, mag es zwar kein in Stein gemeißeltes Kriterium zur Abgrenzung von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft geben. Aber dennoch ist Wissenschaft real und unterscheidbar und wir sollten sie als einen privilegierten Erkenntnisweg respektieren. Wenn wir uns um empirische Belege bemühen und diese dazu nutzen, unsere Theorien zu formen, haben wir den wissenschaftlichen Weg beschritten. Wenn nicht, versinken wir im Sumpf der Ideologien, des Aberglaubens und der Unsicherheit. Es ist schwierig, ein Ziel zu treffen, auf das man gar nicht abzielt. Eine der wichtigsten Eigenschaften der Wissenschaft ist das Ziel eines Verständnisses, das uns zwar nicht der Wahrheit näherbringen mag, aber das abstrakte Ideal der empirischen Forschung zu etwas Edlem und Erstrebenswertem macht. Die Wissenschaft ist eines der wenigen Unterfangen, das die besten menschlichen Eigenschaften zutage treten lässt. Wir können egoistische Motive oder kleinliche Interessen überwinden, indem wir unsere Prioritäten richtig setzen, unsere Arbeit unter Fachkollegen gegenseitig kritisch überprüfen und niemals das Ziel aus den Augen verlieren, auf das wir alle hinarbeiten: aus der Natur (oder der menschlichen Erfahrung) neue Erkenntnisse zu gewinnen. So wie Wissenschaft real ist, ist es auch die wissenschaftliche Grundhaltung. Selbst wenn sie schwer zu definieren und zu messen ist, bildet sie den Kern des Unterschieds zwischen Wissenschaft und N ­ icht-Wissenschaft. Für manche mag dieser Schluss überraschend und schwer zu akzeptieren sein. Es wäre schön, ein „verbindlicheres“ Kriterium zur Verfügung zu haben. Vielleicht ein logisches, eines, das uns helfen würde, die Welt der Wissenschaft sauber in zwei Hälften zu teilen. Damit würde ein lang gehegter Traum der Wissenschaftsphilosophie wahr. Doch ich halte diesen Traum nicht für realistisch. Dennoch können wir die Wissenschaft verteidigen und sie weitertragen, weil wir nun ihr innerstes Wesen kennen. Wissenschaft ist etwas Besonderes, wenn auch vielleicht nicht ganz das, was wir erwartet haben.

Anmerkungen

1. Einführung 1. Vgl. Peter H. Gleick et al., „Climate Change and the Integrity of Science“, in: Science 328, Nr. 5979, 2010, S. 689–690, https://science.sciencemag.org/ content/328/5979/689. 2. Vgl. „On Energy Policy, Romney’s Emphasis Has Shifted“, in: NPR, 12. April 2012, https://www.npr.org/2012/04/02/149812295/on-energy-policy-anothershift-for-romney. 3.  Vgl. „Scientific Evidence Doesn’t Support Global Warming, Sen. Ted Cruz Says“, in: NPR, 9. Dezember 2015, https://www.npr. org/2015/12/09/459026242/scientific-evidence-doesn-t-support-globalwarming-sen-ted-cruz-says. 4. Vgl. Oliver Milman, „Trump to Scrap NASA Climate Research in Crackdown on ‚Politicized Science‘“, in: Guardian, 23. November 2016, https://www. theguardian.com/environment/2016/nov/22/nasa-earth-donald-trumpeliminate-climate-change-research. 5. Mit neueren Beispielen abwertender Bemerkungen über die Philosophie, die von so renommierten Wissenschaftlern wie Stephen Hawking, Lawrence Krauss und Neil deGrasse Tyson stammen, setzt sich Massimo Pigliucci in seinem Aufsatz „Science and Pseudoscience: In Defense of Demarcation Projects“ (in: Science Unlimited, University of Chicago Press, Chicago, 2017) auseinander. Im Rahmen früherer Angriffe solcher Art berief man sich auch auf das Zitat des Physikers Richard Feynman, die „Wissenschaftsphilosphie sei für Wissenschaftler ebenso nützlich wie die Ornithologie für Vögel“, sowie auf das von dem Physiker Steven Weinberg verfasste Kapitel „Against Philosophy“ in seinem Buch Dreams of a Final Theory, Pantheon, New York, 1992. Jedoch sollte man all dies gegen Einsteins recht wertschätzende Worte zur Philosophie © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Mclntyre, Wir lieben Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61730-4

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258     Anmerkungen

und ihrer Bedeutung für wissenschaftliches Arbeiten abwägen. Siehe dazu Don A. Howard, „Albert Einstein as Philosopher of Science“, in: Physics Today, Dezember 2005, S. 34–40. 6.  Man beachte, dass sich dieser Anspruch stark von der Behauptung unterscheidet, eine wissenschaftliche Theorie sei wahr. Dafür gibt es leider keine Garantie, selbst wenn wir berechtigterweise annehmen, sie basiere auf einer nüchternen Betrachtung der Beweislage. (Wir werden uns damit ausführlicher in auseinandersetzen). 7. Allerdings sei hier ergänzt, dass in Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem, (University of Chicago Press, Chicago, 2013) Massimo Pigliucci und Maarten Boudry in reflektierter Weise versuchen, das Abgrenzungsproblem wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Zudem betrachtet Alex Rosenberg in The Atheist’s Guide to Reality: Enjoying Life without Illusions (Norton, New York, 2012) die Bezeichnung „Szientismus“ als eine Auszeichnung. 8. Auch der Umstand, dass Popper gelegentlich betont, manche wissenschaftlichen Fachgebiete wie die Evolutionsbiologie seien nicht wirklich als wissenschaftlich zu bezeichnen, weil sie nicht dem Kriterium der Abgrenzung genügen, beeinträchtigt sein Modell. Obwohl er sich später von dieser Position löste, sahen viele in ihr die überhebliche Vorstellung, es gebe eine scharfe Trennlinie zwischen Wissenschaft und dem, was nicht als wissenschaftlich gelten könne. Popper legte seine These, die natürliche Selektion sei „tautologisch“ und keine überprüfbare wissenschaftliche Theorie in seiner Autobiographie vor; letztere erschienen in Manfred Lube (Hrsg.), Gesammelte Werke: Band 15: „Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Mohr Siebeck, Tübingen, 2012. Innerhalb weniger Jahre revidierte Popper diese Ansicht, hielt jedoch weiterhin an der Vorstellung fest, es sei schwierig, Darwins Theorie zu überprüfen. Siehe dazu auch „Natural Selection and the Emergence of the Mind“, in: Dialectica 32, 1978, S. 344. 9. Ergänzend sei hinzugefügt, dass Kuhn selbst diese Interpretation seiner Arbeit ablehnte. Obwohl er den möglichen Einfluss theoretischer Werte wie Spielraum, Einfachheit und Ergiebigkeit auf die Paradigmenwahl anerkannte, löste er sich nie von der Vorstellung, Wissenschaft sei evidenzbasiert und solle dies auch bleiben (siehe Zitat in Fußnote 27 zu ). Mehr zu Kuhns Einschätzung der Rolle subjektiver Faktoren in der Theoriewahl findet man in „Objectivity, Value Judgment, and Theory Choice“, in: The Essential Tension, University of Chicago Press, Chicago, 1974, S. 320–339. 10. Vgl. Imre Lakatos und Alan Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge University Press, Cambridge, 1970; Paul Feyerabend, Against Method, Verso, London, 1978; Larry Laudan, Progress and Its Problems: Towards a Theory of Scientific Growth, University of California Press, Berkeley, 1978; Steve Fuller, Philosophy of Science and Its Discontents, Guilford Press, New York, 1992.

Anmerkungen    259

11. Mehr zu Poppers Einwänden gegen die Studiengebiete des menschlichen Verhaltens findet man in Lee McIntyre, Laws and Explanation in the Social Sciences: Defending a Science of Human Behavior, Westview Press, Boulder, 1996, S. 34–45 und 64–75. Poppers eigene Argumentationskette verteilt sich auf mehrere seiner Werke: Hubertus Kiesewetter (Hrsg.), Gesammelte Werke: Band 4, Das Elend des Historizismus, Mohr Siebeck, 2004; William W. (III.) Bartley (Hrsg.), Gesammelte Werke in deutscher Sprache: Band 8: Das offene Universum, Mohr Siebeck, Tübingen, 2001; „Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften“, in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Kiepenheuer & Witsch, Köln und Berlin, 1965, S. 113–125. 12. Wir werden diese Themen in aufgreifen, wenn wir einen genaueren Blick auf Wissenschaftsleugnung und Pseudowissenschaft werfen.

2. Die wissenschaftliche Methode und das Abgrenzungsproblem 1. Es herrscht Uneinigkeit in der Frage, wer den Begriff der wissenschaftlichen Methode zuerst eingebracht hat. Viele bringen ihn mit dem Philosophen und Theologen Roger Bacon im 13. Jahrhundert in Verbindung – nicht zu verwechseln mit dem Philosophen Francis Bacon (1561–1626), der zusammen mit seinem Lehrer Robert Grosseteste die Vorstellung entwickelte, wissenschaftliche Erkenntnis müsse auf sensorischen Daten aufbauen. Francis Bacon vertrat später ebenfalls diesen Ansatz und entwickelte die wissenschaftliche Methode mit denselben empirischen Zielsetzungen weiter. 2.  Vgl. Noretta Koertge (Hrsg.), The New Dictionary of Scientific Biography, Scribner’s New York, 2007. 3. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden wir auf einige weitere Gründe zu sprechen kommen, aus denen Wissenschaftsphilosophen wie Popper und Kuhn die Vorstellung einer wissenschaftlichen Methode ablehnen. 4. Vgl. Laudan, „The Demise of the Demarcation Problem“, in: Larry Laudan (Hrsg.), Beyond Positivism and Relativism: Theory, Method, and Evidence, Westview Press Boulder, 1996, S. 210–222. Einen hervorragenden allgemeinen Überblick findet man in Thomas Nickles, „The Problem of Demarcation: History and Future“, in: Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Hrsg.), Philosophy of Pseudoscience, University of Chicago Press, Chicago, 2013, S. 101– 120. 5. Die klassische Grundlagenquelle für den logischen Positivismus auf seinem Höhepunkt ist: Alfred Ayer, Sprache, Wahrheit und Logik, Reclam, Ditzingen, 1990. Eine interessante Geschichte seines langen Niedergangs findet sich in: Peter Achinstein und Stephen F. Barker, The Legacy of Logical Positivism, Johns Hopkins University Press, Baltimore, 1969. Die Autoren beschreiben die Probleme der logischen Positivisten detailliert, besonders das Dilemma, dass einige der Aussagen der Positivisten selbst der Überprüfung durch Verifizierung nicht standhielten.

260     Anmerkungen

6. In Kapitel 2 werde ich ausführlicher auf das Induktionsproblem und dessen schwierige Auswirkungen auf den Prozess wissenschaftlicher Schlussfolgerung eingehen. Kurz gesagt bedeutet es, dass man sich keiner Aussage sicher sein kann, die später durch empirische Daten widerlegt werden könnte. 7.  Strontium-90 ist ein radioaktives Isotop, das durch Kernspaltung entsteht und in die Nahrungskette gelangen kann, wo es sich, durch die Nahrung aufgenommen, wegen seiner chemischen Verwandtschaft mit Kalzium in den Knochen ablagert. Vor dem „Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser“ aus dem Jahr 1963 gab es weltweit Hunderte von oberirdischen Atomwaffentests. In einer Studie, die 1963 in St. Louis durchgeführt wurde, wurden in den Zähnen von Säuglingen fünfzigmal höhere Strontium-90-Werte gefunden als in Menschen, die vor 1950 geboren wurden. Die Halbwertszeit von Strontium-90 beträgt 28 Jahre. 8. Das muss nicht zwangsläufig der Fall sein, weil das Induktionsproblem eigentlich nicht nur die Gewissheit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit induktiver Aussagen unterminiert. In Kapitel 2 werden wir dieses Thema genauer beleuchten. 9.  Hierzu könnten weitere Untersuchungen notwendig sein, um herauszufinden, warum Gabriels Knochen kein Strontium-90 aufweisen. Ist er vor 1945 geboren worden? Wurde er 1994 geboren, ist jedoch nicht in der Nähe eines Kernkraftwerks aufgewachsen? Entscheidend ist hier jedoch, dass die Schlussfolgerung deduktiv valide ist. Wenn wir wissen, dass sich in seinen Knochen kein Strontium-90 nachweisen lässt, können wir ausschließen, dass er zwischen 1945 und 1991 geboren wurde. 10. Vgl. Karl Popper, Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Mohr Siebeck, Tübingen, 1994, S. 52 f. 11. Vgl. Herbert Keuth (Hrsg.), Karl Popper. Gesammelte Werke: Band 3: Logik der Forschung, Mohr Siebeck, Tübingen 2005. Es ist faszinierend, dass zwar fast alle Gelehrten Poppers Ausführungen zum Abgrenzungsproblem als eine Debatte zwischen den Polen von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft (oder Pseudowissenschaft) beschreibt, Popper selbst in seiner Arbeit aber keinen dieser Begriffe nutzt. Popper kommt der Bestimmung einer Grenzlinie am nächsten, wenn er (im vierten Teil) schreibt, man müsse zwischen empirischen Wissenschaften auf der einen Seite und Mathematik und Logik sowie „metaphysischen“ Erklärungssystemen auf der anderen Seite unterscheiden. Es wird deutlich, dass er Wissenschaft nicht nur von „metaphysischer“ Spekulation, sondern auch von anderen „unwissenschaftlichen“ Gebieten wie Mathematik und Logik abgrenzen wollte. Hier sehen wir vielleicht bereits den Begriff der Nicht-Wissenschaft entstehen als eine Verschmelzung von Pseudowissenschaft und unwissenschaftlichen Fachgebieten. Später, in seiner Arbeit Vermutungen und Widerlegungen: Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis (Mohr Siebeck, Tübingen, 1994), beginnt Popper den Begriff „Pseudo-Wissenschaft“ mehr oder weniger gleichbedeutend mit dem der „Metaphysik“ als Gegenentwurf zur Wissenschaft zu verwenden, der Begriff der „Nicht-Wissenschaft“

Anmerkungen    261

fehlt noch immer. Warum verwende ich ihn dann also hier? Weil er erstens als Kategorie in einer Diskussion erscheint, die sich seit Poppers Ausführungen weiterentwickelt hat. Und weil er zweitens Poppers ursprüngliche Definition widerspiegelt. Wie wir sehen werden, ist es ein gravierender Unterschied, ob man die Abgrenzungsdebatte zwischen den Polen Wissenschaft und NichtWissenschaft oder zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft ansiedelt. Ich ziehe den Begriff ­„Nicht-Wissenschaft“ vor, auch wenn Popper ihn nicht explizit nennt. 12. Den vollständigen Gesetzestext des „Act 590“ findet man in Michael Ruse (Hrsg.), But is it Science? The Philosophical Question in the Creation/Evolution Controversy, Prometheus Books, Amherst, NY, 1996, S. 283 ff. 13. Vgl. Lee McIntyre, Respecting Truth: Willful Ignorance in the Internet Age, Routledge, New York, 2015, S. 64. 14. Nicht alle sahen darin einen uneingeschränkten Vorteil. Denn öffnet man so nicht der Folgerung Tür und Tor, dass ein Erklärungssystem wie beispielsweise die Astrologie als Wissenschaft gelten müsse, weil sie mit falsifizierbaren Voraussagen arbeitet? Schlimmer noch: Zeigt nicht gerade das Ausmaß der als falsch belegten Aussagen der Astrologie, dass diese eindeutig falsifizierbar ist und daher auch wissenschaftlich? 15. Dieser Aufsatz ist als Vorwort zu William W. (III.) Bartley (Hrsg.), Karl Popper. Gesammelte Werke: Band 7: Realismus und das Ziel der Wissenschaft, Mohr Siebeck, Tübingen, 2002, erschienen. 16. Karl Popper, Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Band 1, Mohr Siebeck, Tübingen, 1994. 17. Die wissenschaftliche Methode ist nur eine Möglichkeit, eine methodologische Grenze zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu ziehen. Der Falsifikationismus ist eine andere. Vielleicht gibt es weitere Möglichkeiten. Wie wir gesehen haben, gibt es auch Konzepte, die diese Abgrenzung auf der Basis nichtmethodologischer Kriterien vorzunehmen versuchen. Dazu gehört die Vorstellung der logischen Positivisten, zwischen sinnvollen und kognitiv sinnleeren Aussagen zu unterscheiden (obwohl man einwenden mag, dass durch die Anwendung des Verifizierungskriteriums hier doch der Versuch einer methodologischen Unterscheidung unternommen wird). 18. Kuhn beteiligte sich an der Demontage des einfachen Begriffs der „wissenschaftlichen Methode“, indem er einwandte, dass jede Beobachtung theoriebeladen sei. Vgl. dazu Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Berlin, 1996. 19.  Kuhn kam einem Abgrenzungskriterium am nächsten, als er in seinem Kommentar zu Popper mit dem Titel „Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit?“, in: Herbert Keuth, Die Philosophie Karl Poppers (Mohr Siebeck, Tübingen, 2. Auflage 2011, S. 45) schreibt: „… so sieht man, daß jenes Überprüfen, das Sir Karl empfiehlt, in der Normalwissenschaft gar nicht vorkommt, eher in der außergewöhnlichen Wissenschaft, und eben

262     Anmerkungen

dies unterscheidet die Wissenschaft von anderen Unternehmungen. Gibt es ein Abgrenzungskriterium (ich glaube nicht, daß wir eine scharfe und entscheidende Abgrenzung zu suchen brauchen), so liegt dieses Kriterium irgendwo in jenem [normalen] Teil der Wissenschaft, den Sir Karl ignoriert“. Siehe hierzu S. 109 in Tom Nickles „Problem of Demarcation”, der Kuhns Vorstellung vom Rätsellösen innerhalb der Normalwissenschaft als „Kuhns Kriterium“ bezeichnet. Siehe dazu auch Sven Ove Hanssons Eintrag „Science and Pseudo-Science“ in The Stanford Encyclopedia of Philosophy (https://plato.stanford.edu/entries/ pseudo-science/), in dem er Kuhns Ausführungen zum Lösen von Rätseln explizit als dessen „Abgrenzungskriterium“ benennt. 20. Kuhn beschreibt in seiner Arbeit Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen die „Normalwissenschaft“ als die alltäglichen Arbeitsabläufe der Mehrheit der Wissenschaftler. 21. In seiner Arbeit Wider den Methodenzwang (Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1976) legt Feyerabend dar, dass in der Wissenschaft „alles erlaubt“ sei (anything goes) und dort ein „Methodenanarchismus“ praktiziert würde. 22. Eine unterhaltsame Darstellung der Geschichte dieser Bemühungen findet sich in: Peter Achinstein und Stephen F. Barker, The Legacy of Logical Positivism: Studies in the Philosophy of Science, Johns Hopkins University Press, Baltimore, 1969. 23. Beispielsweise dass es möglich sei, eine strenge Objektivität zu wahren, sowie die Existenz einer trennscharfen Unterscheidung zwischen Fakten und Werten. 24. Vgl. Laudan, „Demise of the Demarcation Problem“, S. 216 f. 25. Das alles ist natürlich ein klassisches Problem jedes Entscheidungsfindungsprozesses, bei dem wir genau die Dinge, die wir vorziehen, einschließen und genau die Dinge, die wir ablehnen, ausschließen möchten. Beispiele hierfür wären die Entscheidung über das Abschießen eines Flugzeugs (Feind oder Freund?), die Akzeptanz einer Schlussfolgerung (gültig oder ungültig?) oder das Entfernen eines Tumors (bösartig oder gutartig?). Ein vollkommener Entscheidungsfindungsprozess enthält keine Irrtümer (entweder falsch positive oder falsch negative), was genau der Eigenschaft entspricht, die viele auch in einem Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft verwirklicht sehen möchten. Leider ist der Anteil von falsch positiven Ergebnissen umgekehrt proportional zum Anteil der falsch negativen und umgekehrt. Indem man die eine Seite reduziert, erhöht man die Wahrscheinlichkeit der anderen. 26. Hier bringt Laudan eine Art „Meta-Argument“ ein, nämlich dass nicht nur die Philosophie in der Vergangenheit nicht in der Lage war, das Abgrenzungsproblem zu lösen, sondern auch dass eine solche Lösung die Entwicklung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft erfordern würde. Er erhebt also mit anderen Worten die Entwicklung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen selbst zu einer notwendigen Bedingung für die die Lösung des Abgrenzungsproblems. Vermutlich ist er auch überzeugt

Anmerkungen    263

davon, dass, wenn man in der Lage wäre, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft zu liefern, das wiederum hinreichend wäre, um das Abgrenzungsproblem zu lösen. Wenn man diese beiden Behauptungen kombiniert, erhält man die faszinierende übergeordnete Behauptung, dass man das Abgrenzungsproblem genau dann gelöst hat, wenn man die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissenschaft entwickelt hat. Weniger kunstvoll ausgedrückt ist also die Entwicklung hinreichender und notwendiger Bedingungen für Wissenschaft selbst eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Lösung des Abgrenzungsproblems. In Kap. 4 werde ich ausführlicher auf die heikle Frage der notwendigen und hinreichenden Bedingungen in der Abgrenzungsdebatte eingehen. 27.  Vgl. Hansson, „Science and Pseudo-Science“, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/pseudo-science/. 28. Vgl. Laudan, „Demise of the Demarcation Problem“, S. 218 f. 29.  Vgl. Robert Feleppa, „Kuhn, Popper, and the Normative Problem of Demarcation“, in: Patrick Grim (Hrsg.), Philosophy of Science and the Occult, SUNY Press, Albany, 1990, S. 142. Popper beschreibt in Vermutungen und Widerlegungen, ein System sei ausschließlich dann als wissenschaftlich anzusehen, wenn es Aussagen macht, die durch die Beobachtung widerlegt werden können. 30. Erinnern wir uns hier an Poppers Aussage, die Evolutionsbiologie sei nicht überprüfbar. Vgl. Endnote 8 der Einführung. 31. Dieses Zitat („a sentence (or a theory) is empirical-scientific if and only if it is falsifiable“) stammt aus Poppers „Falsifizierbarkeit, zwei Bedeutungen von“ [sic] ([1989] 1994), S. 82, zitiert in Sven Hanssons Eintrag „Science and PseudoScience“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/ entries/pseudo-science/. 32. Vgl. Hansson, „Science and Pseudo-Science“. Siehe dazu auch Frank Cioffi, „Psychoanalysis, Pseudoscience and Testability“, in: Gregory Currie und Alan Musgrave (Hrsg.), Popper and the Human Sciences, Martinus Nijhoff, Dordrecht, 1985, S. 13–44. 33.  Vgl. Larry Laudan, „Science at the Bar: Causes for Concern“, in: Beyond Positivism and Relativism: Theory, Method, and Evidence, Westview Press, Boulder, 1996, S. 223. 34. Vgl. Tom Nickles, „Problem of Demarcation“, S. 111. 35. Vgl. McIntyre, Respecting Truth, S. 64–71. 36. Vgl. McIntyre, Respecting Truth, S. 69. Weitere Erläuterungen finden sich in Kap. 8. 37. Vgl. Massimo Pigliucci, „The Demarcation Problem: A (Belated) Response to Laudan“, in: Philosophy of Pseudoscience, S. 17 ff. 38. Vgl. Pigliucci, „Demarcation Problem“, S. 22. 39. Vgl. Pigliucci, „Demarcation Problem“, S. 25. 40. Vgl. Pigliucci, „Demarcation Problem“, S. 25.

264     Anmerkungen

41. Vgl. Sven Hansson, „Defining Science and Pseudoscience“, in: Philosophy of Pseudoscience, S. 61–77. 42. Vgl. Maarten Boudry, „Loki’s Wager and Laudan’s Error“, in: Philosophy of Pseudoscience, S. 79–98. 43.  Erinnern wir uns, dass, obwohl Popper den Begriff ­ „NichtWissenschaft“ nicht verwendet, dieser Poppers ursprünglicher Darstellung in Logik der Forschung am nächsten kommt. Vgl. Endnote 11 zu diesem Kapitel. 44. Obwohl Boudry den Begriff „Unwissenschaft“ in seinem Aufsatz nicht verwendet, behaupte ich, dass er hier angemessen wäre, denn der Terminus „NichtWissenschaft“ scheint eine Fehlbezeichnung für die gebietsbezogene Debatte zu sein, die er hier anstoßen möchte. 45. Eine sorgfältige Darstellung dieser Unterscheidung findet sich in Tom Nickles, „Problem of Demarcation”, S. 101–120, und in James Ladyman, „Toward a Demarcation of Science from Pseudoscience“, S. 45–59, in: Philosophy of Pseudoscience. 46. Man könnte beides als Nicht-Wissenschaft zusammenfassen. Vgl. Endnote 11 zu diesem Kapitel. 47. Vgl. Laudan, „Demise of the Demarcation Problem“.

3. Irrtümer und Missverständnisse: Wie funktioniert Wissenschaft wirklich? 1. Es ist hierbei zu beachten, dass Popper sich zeit seines Lebens sehr darum bemüht hat, gegen den Vorwurf eines naiven Falsifikationismus vorzugehen. Mehr dazu in Endnote 10 zu diesem Kapitel. 2. Vgl. das Zitat „… he who gives up his theory too easily in the face of apparent refutations will never discover the possibilities inherent in his theory“, in Karl Popper, „Replies to My Critics“, in: Paul Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of Karl Popper, Band 14, Open Court, La Salle, IL, 1974, S. 984. 3. Manch einer wird sich hier wohl an die folgende bekannte Anekdote erinnern fühlen, nach der Einstein, konfrontiert mit der Bestätigung seiner Theorie und der Frage, was er unternommen hätte, wenn sie sich nicht bestätigt hätte, zur Antwort gab: „Dann hätte es mir leid getan für den lieben Gott – die Theorie stimmt.“ Darf man wirklich annehmen, dass – Einsteins Selbstvertrauen zum Trotz – seine Theorie allgemein akzeptiert worden wäre, wenn sich seine Voraussage als falsch erwiesen hätte? Vielleicht wären weitere Experimente erforderlich gewesen oder es hätte sich herausstellen können, dass Eddingtons Messungen fehlerhaft waren, doch falls nicht, hätte man die Theorie zumindest verändern müssen. 4. Vgl. Samir Okasha, Philosophy of Science: A very Short Introduction, Oxford University Press, Oxford, 2016, S. 15.

Anmerkungen    265

5. Damit ist die Besonderheit gemeint, dass Merkur beim Umkreisen der Sonne nicht immer wieder die exakt gleiche Bahn durchläuft, sondern sein Orbit sich bei jedem Umlauf um ein winziges Stück verschiebt. Das kann nur durch eine gravitative Störung geschehen. 6. Vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Berlin, 1996. 7. Vgl. Hilary Putnam, „The ‚Corroboration‘ of Theories“, in: The Philosophy of Karl Popper, S. 223. 8. Popper verwendet den Begriff der „corroboration“ an vielen Stellen in The Logic of Scientific Discovery (Basic Books, New York, 1959), u. a. in der Kapitelüberschrift „The Positive Theory of Corroboration: How a Theory May ‚Prove its Mettle‘“. 9. Wie Tom Nickles in seinem Aufsatz „The Problem of Demarcation: History and Future“ (in: Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Hrsg.), Philosophy of Pseudoscience, University of Chicago Press, Chicago, 2013) schreibt: „[Poppers] Ansicht nach hat selbst eine allgemeine Theorie, die vielen strengen Prüfungen standgehalten hat (und daher höchst bewährt ist), noch immer die Wahrscheinlichkeit Null. Gemäß Popper ist … in einem unendlichen Universum … die Wahrscheinlichkeit jedes (nicht tautologischen) allgemeinen Satzes gleich Null‘ (kursiv durch Popper)“ (S. 107 f.). 10.  „Die Falsifizierbarkeit als Kriterium ist eine rein logische Angelegenheit und hängt nicht von unserer (nicht-existenten) empirischen oder praktischen Fähigkeit ab, eine Aussage abschließend falsifizieren zu können“ (kursiv im Original). Persönlicher Brief von Karl Popper an Lee McIntyre vom 26. März 1984. 11. Vgl. Karl Popper, Conjectures and Refutations, Harper Torchbooks, New York, 1965, S. 41, Fußnote 8. 12.  Beispiele sind hier die Vorstellungen des Phlogistons, des Äthers und des Wärmestoffs. 13. Vgl. Richard Feynman, „The Essence of Science in 60 s“, https://www.youtube. com/watch?v=5v8habYTfHU. 14. Das bedeutet, dass, selbst wenn man die Falsifikation nicht als Abgrenzungskriterium nutzen kann, sie dennoch einen wichtigen Punkt des Wissenschaftsbegriffs trifft. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass der Abgleich einer Theorie mit Belegen eine entscheidende Eigenschaft der Wissenschaft ist. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang auch daran, dass Kuhn – denjenigen zum Trotz, die ihn scheinbar absichtlich missverstehen wollen – ebenfalls die Auffassung vertritt, dass Belege in der Wissenschaft von großer Bedeutung sind. 15.  Ein weiteres Beispiel, auf das ich in Kapitel 3 genauer eingehen werde, ist Semmelweis’ Entdeckung der Ursache des Kindbettfiebers, die später durch die Keimtheorie gestützt wurde. 16. Es ist jedoch eine interessante Frage, ob die Bode‘sche Regel letztlich durch das Fehlen einer Theorie oder durch die später als falsch erwiesenen Voraussagen

266     Anmerkungen

umgestürzt wurde. Siehe dazu meinen Aufsatz „Accommodation, Prediction, and Confirmation“, in: Perspectives on Science 9, Nr. 3 (2001), S. 308–323. 17 Vgl. Alberto Guijosa, „What Is String Theory?“ https://www.nuclecu.unam. mx/~alberto/physics/string.html. 18. Das lesenswerteste Buch zu diesem Thema ist: Brian Greenes, Das elegante Universum: Superstrings, verborgene Dimensionen und die Suche nach der Weltformel, Goldmann Verlag, München, 2005. 19.  Es ist an dieser Stelle interessant, dass die „Stringtheorie“ ursprünglich als „Stringhypothese“ bezeichnet wurde. Vgl. dazu Ethan Siegel, „Why String Theory Is Not a Scientific Theory“, in: Forbes, 23. Dezember 2015, https:// www.forbes.com/sites/startswithabang/2015/12/23/why-string-theory-is-notscience/. 20. Vgl. Richard Dawid, String Theory and Scientific Method, Cambridge University Press, Cambridge, 2014. Mitunter scheint hier Kuhn anzuklingen, aber es ist an dieser Stelle wichtig, dass Kuhns „außerempirische“ Kriterien als Ergänzung empirischer Belege gemeint sind und nicht als Ersatz. 21.  Siehe hierzu besonders die Ausführungen des Physikers und Nobelpreisträgers David Gross bei dieser Konferenz, der die „Stringtheorie als ‚grundsätzlich‘ überprüfbar und daher vollkommen wissenschaftlich klassifizierte, weil die Strings potentiell messbar sind“. Vgl. David Castelvecci, „Is String Theory Science?“, in: Nature, 23. Dezember 2015, https://www.scientificamerican.com/ article/is-string-theory-science/. Für weitere Einblicke in die Konferenzinhalte siehe Natalie Wolchover, „Physicists and Philosophers Hold Peace Talks, If Only for Three Days“, in: Atlantic, 22. Dezember 2015, https://www.theatlantic.com/ science/archive/2015/12/physics-philosophy-string-theory/421569/. 22. Siehe dazu Lee Smolin, Die Zukunft der Physik: Probleme der S­ tring-Theorie und wie es weitergeht, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 2009, und Peter Woit, Not Even Wrong: The Failure of String Theory and the Search for Unity in Physical Law, Basic, New York, 2007. 23.  Vgl. Peter Woit, „Is String-Theory Even Wrong?“, in: American Scientist, März/April 2002, https://www.americanscientist.org/issues/pub/is-stringtheory-even-wrong/. 24. Vgl. Theodosius Dobzhansky, „Nothing in Biology Makes Sense except in Light of Evolution“, in: American Biology Teacher 35, Nr. 3, März 1973, S. 125–129. 25. Siehe dazu auch Larry Laudan, Progress and Its Problems: Towards a Theory of Scientific Growth, University of California Press, Berkeley, 1978. 26.  Eine Darstellung der Erklärungsmodelle des Auges und anderer „Organe höchster Vollkommenheit“ findet sich in Richard Dawkins, Gipfel des Unwahrscheinlichen: Wunder der Evolution, Rowohlt, Hamburg, 1999. Eine Beschreibung relativ neuer Funde eines fossilen ­Ur-Fisches mit Schultern, Ellenbogen, Beinen, einem Hals und Handgelenken – genannt Tiktaalik – findet man unter Joe Palca, „The Human Edge: Finding Our Inner Fish“, bei: NPR, https:// www.npr.org/2010/07/05/127937070/the-human-edge-finding-our-inner-fish.

Anmerkungen    267

2 7. Siehe hierzu die Diskussion zum Intelligent Design in Kap. 8. 28. Diese Auffassung bietet noch einen weiteren Vorteil: Sie erlaubt es uns, die Vorstellung kritisch zu hinterfragen, wissenschaftliche Theorien seien so lange schwach, bis sie bewiesen werden können. Es stimmt zwar, dass man eine empirische Aussage nicht als wahr beweisen kann. Aber das bedeutet nicht, dass wir alles glauben dürfen, was wir wollen, nur weil es wahr sein „könnte“. Die Hypothese der flachen Erde „könnte“ wahr sein, doch wo bleiben die Belege, die sie stützen? Wenn man richtig geraten hat (wie im Fall der sprichwörtlichen stehen gebliebenen Uhr, die zweimal am Tag korrekt ist), dann ist das nicht Wissenschaft. Auch wenn wir nicht dazu berechtigt sind, „alles“ zu glauben, was wir wollen, heißt das nicht, dass wir berechtigt sind, „nichts“ zu glauben. Wissenschaft besteht darin, eine Theorie zu entwickeln und diese anhand der Daten zu überprüfen. Darin liegt die Berechtigung, sie als verlässlich zu betrachten und überzeugt zu sein. 29. Man bezeichnet das allgemein als pessimistische Induktion. Dieser Begriff ist jedoch nicht zu verwechseln mit einer sogenannten ­Counterinduktion. Dahinter steckt die Vorstellung, dass ein Ereignis zwingend in der Zukunft ausbleiben wird, weil es in der Vergangenheit bereits stattgefunden hat. Stellen wir uns dazu einen Vertreter der Induktion als Würfelspieler vor, der drei Siebenen hintereinander gewürfelt hat und daraufhin sagt: „Das wird mir ganz sicher noch einmal gelingen!“ Diese Aussage ist nicht valide, doch die des counterinduktiven Mitspielers ist es ebenso wenig, wenn er sagt: „Nein, du hast dein ganzes Würfelglück schon aufgebraucht, es ist so gut wie unmöglich, dass dir das noch einmal gelingt.“ Wenn die Würfel nicht gezinkt sind, sind die Chancen bei jedem Wurf gleich, egal was in der Vergangenheit passiert ist. Im Gegensatz dazu besteht die pessimistische Induktion schlicht in der Beobachtung, dass aufgrund des Wesens der Induktion die Annahme nahezu unmöglich ist, dass unsere begrenzte Erfahrung uns zur Entwicklung einer wahren Theorie führen kann. Auf dieser Grundlage wird jede Theorie früher oder später widerlegt werden. 30.  Einer der spannendsten Aufsätze zu diesem Thema stammt von dem angesehenen Philosophen und Pragmatiker Charles S. Peirce. In „The Scientific Attitude and Fallibilism“ beschreibt Peirce die Art von intellektuellen Tugenden, die wir auch in einer wissenschaftlichen Grundhaltung wiederfinden könnten, trägt dabei aber der Vorstellung Rechnung, dass empirisches Wissen seiner Natur nach immer unvollständig bleiben muss. Ein Mensch, der die „wissenschaftliche Grundhaltung“ in sich trägt, darf niemals der Forschung den Weg verstellen durch die Auffassung, dass Wissen immer lückenhaft ist und sich das Wesen der Wissenschaft immer durch einen weiteren möglichen Erkenntniserwerb auszeichnet. Vgl. https://www.textlog.de/4232.html. 31. Vgl. David H. Mellor, „The Warrant of Induction“, in: Matters of Metaphysics, Cambridge University Press, Cambridge, 1991, https://www.repository.cam. ac.uk/bitstream/handle/1810/3475/InauguralText.html?sequence=5.

268     Anmerkungen

32. Man mag jedoch einräumen, dass es vollkommen in Ordnung sei, als Wissenschaftler das Wort „wahr“ zu verwenden, ohne es jedes Mal in fallibilistische Anführungszeichen setzen zu müssen, weil später verfügbare Belege die Überzeugung zunichtemachen könnten – wenn man dabei im Hinterkopf behält, dass dies in jeder Diskussion über empirische Belege mit Sicherheit der Fall ist. 33. Vgl. David Hume, A Treatise of Human Nature, Buch VII, London 1738, zitiert nach: Gerhard Streminger, David Hume. Der Philosoph und sein Zeitalter, C. H. Beck Verlag, München, 2011, S. 160. 34. Obwohl Reichbachs eigene Arbeit aufschlussreich ist, finden sich die zugänglichsten Ausführungen zu diesem Thema in Wesley Salmon, „Hans Reichenbach’s Vindication of Induction“, in: Erkenntnis 35, Nr. 1, Juli 1991, S. 99–122. 35.  Entscheidend ist hier, dass der Begriff „gerechtfertigt“ verwendet wird im Gegensatz zu der Aussage, die Induktion sei „verifiziert“. 36. Der Grundsatz der konservativen Vorgehensweise bei der Veränderung und Anpassung von Theorien ist eine tief verwurzelte Norm in der Wissenschaft. Wie wir gesehen haben, ging Popper davon aus, dass man – bei einer Gleichwertigkeit anderer Faktoren – jenen Theorien den Vorzug geben sollte, die länger überdauert haben oder stärker „etabliert“ sind. Auch Quine spricht (aus praktischen Gründen) davon, dass wir zu Recht die Vorstellungen vorziehen dürfen, die am wenigsten unsere übrigen, bereits existierenden Überzeugungen verletzen. 37. Hier sind noch immer einige Probleme zu lösen. Darunter die Frage, was die pragmatische Rechtfertigung, selbst wenn sie als Bollwerk gegen die Gewissheit fungieren kann, darüber aussagt, ob begründete Überzeugungen vor dem Hintergrund der verfügbaren Belege wahrscheinlicher sind. Erinnern wir uns, dass die Wahrscheinlichkeit von der induktiven Beobachtung unterminiert wird, dass wir uns nicht sicher sein können, dass unsere Stichprobe der Welt repräsentativ für ihre Gesamtheit ist. Könnten wir dann nicht annehmen, dass, wenn sie es nicht ist, keine Überzeugung gerechtfertigt ist, und wenn sie es ist, unsere Überzeugung zumindest genauso gerechtfertigt ist wie jede andere auch? In meiner Arbeit „A Pragmatic Vindication of Warranted Belief“ (noch nicht erschienen) gehe ich auf diese Frage genauer ein. 38. Descartes fürchtete, unsere Sinne seien womöglich unzuverlässig, da wir uns möglicherweise in einem fortwährenden Zustand des Träumens befänden oder durch einen bösen Geist, einen Genius malignus, getäuscht werden könnten. Goodman äußerte in seiner Arbeit „Das neue Rätsel der Induktion“ die Befürchtung, dass wir uns nicht einmal der Überlegenheit unserer gebräuchlichen Bezeichnungen (wie „green“ (grün) oder „blue“ (blau)) gegenüber erfundenen Beschreibungen wie „grue“ oder „bleen“ sicher sein könnten, die ebenso gut durch empirische Belege gestützt sein könnten. Vgl. Nelson Goodman, Tatsache, Fiktion, Voraussage, Suhrkamp, Frankfurt 1988. 39. Wenn man die Rechtfertigung der Induktion nicht nur verteidigt, um zeigen zu können, dass Wissenschaftler X wissen, sondern auch um zu zeigen, dass

Anmerkungen    269

sie wissen müssen, dass sie X wissen, gibt man dann nicht e­ infach der Forderung nach Gewissheit nach? Einer Forderung also, die ja selbst auf einem Missverständnis in Bezug auf die Wissenschaft beruht? 40. Siehe hierzu beispielsweise den von 255 Mitgliedern der US National Academy of Sciences unterzeichneten Brief, den ich ganz zu Beginn dieses Buches erwähnt habe.

4. Warum eine wissenschaftliche Grundhaltung wichtig ist 1. Die klassische Diskussion wird dargestellt in Norwood R. Hanson, Patterns of Discovery: An Inquiry into the Conceptual Foundations of Science, Cambridge University Press, Cambridge, 1958. Einen exzellenten Überblick bietet Thomas Nickles, „Introductory Essay: Scientific Discovery and the Future of Philosophy of Science“, in: Thomas Nickles (Hrsg.), Scientific Discovery, Logic, and Rationality, Reidel, Dordrecht, 1980, S. 1–59. 2. Das Zitat „science is what we do to keep from lying to ourselves“ wird allgemein Feynman zugeschrieben, aber es spiegelt nur einen Teil seiner Ansichten zu diesem Thema wider. Mehr dazu findet man in seinem äußerst unterhaltsamen Aufsatz „What is Science?“, in: Physics Teacher 7, Nr. 6, 1968, S. 313– 320. 3. Es gibt durchaus Stimmen, die das hier anklingende Problem für wesentlich gravierender halten – dass die Belege immer uneindeutig sind, weil es unendlich viele mögliche Theorien gibt, die grundsätzlich zu derselben Datenlage passen könnten. Siehe dazu Helen Longino, „Underdetermination: A Dirty Little Secret?“, in: STS Occasional Papers 4, Department of Science and Technology Studies, University College London, 2016. Mehr Hintergrundinformationen dazu bietet Paul Horwich, „How to Choose between Empirically Indistinguishable Theories“, in: Journal of Philosophy 79, Nr. 2, 1982, S. 61–77, und Larry Laudan und Jarrett Leplin, „Empirical Equivalence and Underdetermination“, in: Journal of Philosophy 88, Nr. 9, 1991, S. 449– 472. Eine allgemeine Diskussion findet sich in Lee McIntyre, „Taking Underdetermination Seriously“, in: SATS: Nordic Journal of Philosophy 4, Nr. 1, 2003, S. 59–72. 4. In Kap.  5 werde ich näher auf die Vorgehensweise von Wissenschaftlern in dieser Hinsicht eingehen. 5.  Dennoch können wir sicherlich auf verräterische Anzeichen fehlerhafter Schlussfolgerungen achten. Leugner und Pseudowissenschaftler mögen zwar behaupten, sie würden sich um Belege bemühen, aber es kommt vor allem darauf an, wie sich das in ihrer Handlungsweise niederschlägt. Wer sich von einem Wunschdenken leiten lässt, hofft vielleicht einfach, dass es Belege für die eigenen Theorien gibt, aber das reicht eben nicht aus. Auch Menschen, die

270     Anmerkungen

vorschnell verallgemeinern, zeigen damit, dass sie sich nicht wirklich um Belege bemühen. Eine weitere Unart ist es, sich nach einem Lippenbekenntnis zur Bedeutung von Belegen nur diejenigen als Rosinen aus den Daten herauszupicken, die zur eigenen Theorie passen. Ein aufrichtiges Bemühen um Belege zeigt sich in der sorgfältigen wissenschaftlichen Arbeit sowohl an Daten, die eine Theorie belegen, als auch an solchen, die sie möglicherweise widerlegen. Auf dieses Thema werde ich in Kap. 8 ausführlicher zu sprechen kommen, wenn es um Wissenschaftsleugnung und Pseudowissenschaft geht. 6. Es gibt sogar Fälle, in denen sich ein gesamtes Wissenschaftsgebiet vergaloppiert hat. Wie soll man damit umgehen, wenn der Einzelne im Recht und die Wissenschaftsgemeinschaft im Unrecht ist? Auf dieses Thema werden wir in Kap. 8 am Beispiel von Harlan Bretz genauer eingehen. 7. Vgl. Peter Achinstein (Hrsg.), Scientific Evidence: Philosophical Theories and Applications, Johns Hopkins University Press, Baltimore, 2005, S. 1. Unter den hier von Achinstein erläuterten Konzepten des Begriffs „Beleg“ („evidence“) sind (1) falsifizierende, (2) induktive, (3) explanatorische, (4) auf Bayes basierende und (5) „anarchistische“ Nachweise. 8. Siehe dazu besonders Deborah Mayo, Error and the Growth of Experimental Knowledge, University of Chicago Press, Chicago, 1996. Mayos „fehlerstatistisches“ Modell ist eine mitreißende Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden, auf Bayes basierenden Ansatz. Andere Einblicke finden sich in Peter Achinstein, The Book of Evidence, Oxford University Press, Oxford, 2003 und in Clark Glymour, Theory and Evidence, Princeton University Press, Princeton, 1980. 9.  Grob umrissen sind die Anhänger des subjektivistischen Ansatzes der Auffassung, man könne als Ausgangspunkt auf das eigene Hintergrundwissen bzgl. vorhergehender Wahrscheinlichkeiten zurückgreifen, um die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese einzuschätzen und im weiteren Verlauf auf der Basis von Beobachtung und Erfahrung Anpassungen vorzunehmen. Die Vertreter des frequentistischen Ansatzes bestreiten dies und sehen es als unklug an, eine Hypothese vor ihrer Überprüfung anhand der Beobachtung mit einer Wahrscheinlichkeitseinschätzung zu versehen. Mayo betont, wissenschaftliche Erkenntnis könne nur aus der „strengen Überprüfung“ einer Theorie erwachsen. 10. Auf dieses Thema werde ich in Kapitel 4 noch wesentlich detaillierter eingehen. 11.  Ein solches Beispiel wurde vor einigen Jahren bekannt, als Astronomen behaupteten, das am Südpol stationierte Teleskop BICEP 2 habe einen direkten Beleg dafür entdeckt, „dass das Universum im ersten Bruchteil einer Sekunde nach dem Urknall einen ungewöhnlichen exponentiellen Wachstumsschub durchgemacht“ habe. Später zeigt sich, dass das Ergebnis ein Artefakt der Mikrowellenstrahlung aus Hintergrundstaub war. Die Forscher lösten sich zunächst nur widerwillig von ihrer Schlussfolgerung und reagierten erst, als die widersprechende Datenlage nicht mehr von der Hand zu weisen war. Vgl. Adrian

Anmerkungen    271

Cho, „Curtain Falls on Controversial Big Bang Result“, in: Science, 30. Januar 2015, https://www.sciencemag.org/news/2015/01/curtain-falls-controversial-bigbang-result. 12. In Kap.  5 werde ich noch wesentlich genauer auf die entscheidende Rolle der Wissenschaftsgemeinschaft bei der Evaluation wissenschaftlicher Theorien eingehen. 13. Diese kurzen Beispiele sollen hier verdeutlichen, was mit der wissenschaftlichen Grundhaltung gemeint ist. Darauf werde ich wesentlich genauer in Kap. 6 (wenn es um die Veränderungen in der Medizin durch die wissenschaftliche Grundhaltung geht) und in Kap. 5 eingehen (wenn es um den Fall der kalten Fusion geht, in dem die wissenschaftliche Grundhaltung dadurch unterminiert wurde, dass keine kritische Überprüfung von Forschungsergebnissen durch Fachkollegen stattfinden konnte). 14. Vgl. Carl Hempel, Philosophy of Natural Science, Prentice Hall, New York, 1966, S. 3–8 (auf Deutsch erschienen unter dem Titel Philosophie der Naturwissenschaften, dtv Wissenschaftliche Reihe, München, 1977). 15. Siehe hierzu Loretta Koertges faszinierenden Aufsatz „Belief Buddies versus Critical Communities“, in: Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Hrsg.), Philosophy of Pseudoscience, University of Chicago Press, Chicago, 2013, S. 165– 180, in dem sie darstellt, wie wichtig die kritische Bewertung der eigenen Ergebnisse durch das Fachkollegium ist, um diese zu verbessern und einer größeren Gemeinschaft zugänglich zu machen. 16. Vgl. Roy Porter, The Greatest Benefit to Mankind: A Medical History of Humanity, Norton, New York, 1999, S. 369 (auf Deutsch erschienen unter dem Titel Die Kunst des Heilens: Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute, Spektrum – Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin, 2000). 17. Vgl. Porter, Greatest Benefit, S. 369 18. Vgl. Porter, Greatest Benefit, S. 369 ff.; William F. Bynum (Hrsg.), The Western Medical Tradition 1800–2000, Cambridge University Press, Cambridge, 2006, S. 156; Carl Hempel, Philosophy of Natural Science, S. 3–8. 19. Ein weiteres Beispiel für einen unorthodoxen Wissenschaftler, der nach Jahren der Ablehnung rehabilitiert wurde, ist Galileo Galilei. Ein moderneres Beispiel – das die Frage aufwirft, wie es sich auf die wissenschaftliche Grundhaltung auswirkt, wenn ein Einzelner im Recht und das fachliche Umfeld im Unrecht ist – bildet Harlen Bretz mit seiner Theorie der Megafluten in den Scablands im Osten des ­US-Bundesstaates Washington. Auf diesen Fall werde ich in Kap. 8 ausführlicher zu sprechen kommen. 20. Koertge spricht jedoch in „Belief Buddies“ den interessanten Punkt an, dass selbst die Vorstellungen eines einsamen Genies noch von der Zugehörigkeit zu einer kritischen Gemeinschaft profitieren könnten. 21. Einen tieferen Einblick in das Thema der kalten Fusion im Kontext des PeerReview-Verfahrens bietet Kap. 5. Siehe dazu auch Lee McIntyre, Dark Ages: The Case for a Science of Human Behavior, MIT Press, Cambridge, MA, 2006, S. 19 f.

272     Anmerkungen

22. Siehe dazu auch Robert Mertons wichtigen Aufsatz „Die normative Struktur von Wissenschaft“, in: Robert Merton, Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1985, S. 86–99, der eine ungemein erhellende Darstellung der Rolle und Bedeutung von Werten in der wissenschaftlichen Forschung bietet. 23. Diese Vorstellung ist nicht so trivial, wie sie vielleicht klingen mag. Wäre es möglich, dass Popper sein eigenes Abgrenzungskriterium missverstanden hat? Vielleicht ist der entscheidende Punkt nicht die Falsifizierbarkeit einer Theorie, sondern die Absicht des dahinterstehenden Wissenschaftlers, sie zu falsifizieren. Eine faszinierende Darstellung dazu bietet Janet Stemwedels Aufsatz „Drawing the Line between Science and Pseudo-Science“, in dem sie schreibt: „Der große Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft, den Popper beschreibt, liegt in der Einstellung. Während die Pseudowissenschaft nach Belegen sucht, die ihre Behauptungen stützen …, zeigt eine Wissenschaft die Bereitschaft, ihre Behauptungen zu hinterfragen und nach Belegen zu suchen, die sie widerlegen könnten. Mit anderen Worten: Pseudowissenschaft strebt nach Bestätigung und Wissenschaft nach Falsifikation.“ Vgl. Scientific American, 4. Oktober 2011, https://blogs.scientificamerican.com/doing-goodscience/drawing-the-line-between-science-and-pseudo-science/. 24.  Vgl. Karl Popper, „Remarks on the Problems of Demarcation and of Rationality“, in: Imre Lakatos und Alan Musgrave (Hrsg.), Problems in the Philosophy of Science, North Holland, Amsterdam, 1968, S. 94. 25. Vgl. Karl R. Popper, Gesammelte Werke: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Mohr Siebeck, Tübingen 2012, S. 47 f. Kursivierungen wie in der Quelle. 26. Vgl. K. Brad Wray, „Kuhn’s Social Epistemology and the Sociology of Science“, in: William J. Devlin und Alisa Bokulich (Hrsg.), Kuhn’s Structure of Scientific Revolutions – 50 Years On, Springer, Dordrecht, 2015, S. 101. 27. Vgl. Thomas Kuhn, The Road since Structure: Philosophical Essays, 1970–1993, with an Autobiographical Interview, James Conant und John Haugeland (Hrsg.), University of Chicago Press, Chicago, 2002, S. 101. 28. Manche taten das wohl doch. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf Mertons Darstellung der wissenschaftlichen Werte hingewiesen. Er beschreibt vier dieser Werte (Gemeinschaftssinn, Vielseitigkeit, Uneigennützigkeit und organisierte Skepsis), die wiederum Sven Hansson – in seinem Beitrag „Science and Pseudo-Science“ in der Stanford Encyclopedia of Philosophy – als in ihrer Bedeutung verkannt für die Abgrenzungsdebatte ansieht. Es ist sehr interessant, dass Kuhn in seiner Arbeit Structure of Scientific Revolutions viele lobende Worte für Merton findet. 29. Siehe hierzu Kuhns Aussage (vgl. Kap. 1, Endnote 20), dass wir uns nicht zu sehr in die Suche nach einem Abgrenzungskriterium verstricken dürfen.

Anmerkungen    273

30.  Vgl. Popper, „Science: Conjectures and Refutations“, in: Conjectures and Refutations, Harper Torchbooks, New York, 1965, S. 52. 31. Siehe https://www.earlymoderntexts.com/assets/pdfs/bacon1620.pdf. 32. Vgl. Rose-Mary Sargent, „Virtues and the Scientific Revolution“, in: Noretta Koertge (Hrsg.), Scientific Values and Civic Virtues, Oxford University Press, Oxford, 2005, S. 78. 33. Vgl. Noretta Koertge (Hrsg.), Scientific Values and Civic Virtues, Oxford University Press, Oxford, 2005, S. 10. 34. Vgl. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend: Zur moralischen Krise der Gegenwart, Suhrkamp, Berlin, 1995, S. 13 f. 35.  In ihrem wichtigen Aufsatz „The Virtues of Scientific Practice: MacIntyre, Virtue, Ethics, and the Historiography of Science“ schreiben Daniel Hicks und Thomas Stapleford, „obwohl MacIntyres ­ tugendethischer Fokus nicht auf Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsphilosophie liegt, bildet doch die Wissenschaft ein wichtiges Beispiel in seiner Arbeit“. Vgl. Isis 107, Nr. 3, September 2016, S. 4. 36.  Wie wir in Kap. 8 sehen werden, kann mitunter auch der Wissenschaftsgemeinschaft ein Fehler unterlaufen. 37. Im letzten Teil ihres Aufsatzes sprechen sich Hicks und Stapleford für genau diesen Entwurf aus, in dem die Bedeutung der wissenschaftlichen Werte für die Handlungsweisen der Gemeinschaft in Anlehnung an MacIntyres Konzept der Tugendethik anerkannt wird. 38. Vgl. Abrol Fairweather (Hrsg.), Virtue Epistemology Naturalized: Bridges between Virtue Epistemology and Philosophy of Science, Springer, Dordrecht, 2014. 39. Gibt es eine Beziehung zwischen dem Inhalt einer Theorie und dem Verhalten ihrer Entwickler? Das traditionelle Abgrenzungsproblem konzentriert sich auf Ersteres, doch vielleicht spielt Letzteres auch eine Rolle. Siehe dazu Martin Curds Rezension zu Pigliuccis und Boudrys Philosophy of Pseudoscience in Notre Dame Philosophical Reviews, 22. Juli 2014, in der er, Boudrys Aufsatz zitierend, die Frage aufwirft, ob das Verhalten von Pseudowissenschaftlern für die Frage der Abgrenzung relevant sei. Vgl. https://ndpr.nd.edu/news/philosophy-ofpseudoscience-reconsidering-the-demarcation-problem/. Eine Handlung basiert schließlich auf Werten. Die Einstellung zu Belegen ist von Bedeutung, Absichten ebenso. Dies wiederum steht im Einklang mit der wissenschaftlichen Grundhaltung. 40. Auf diese wissenschaftlichen Verfahrensweisen werde ich in Kap. 5 genauer eingehen. 41. Selbstverständlich müssen wir auch auf die logische Kohärenz und Konsistenz unserer Theorie achten. Wenn eine Theorie in sich widersprüchlich ist, kann kein Beleg diesen Widerspruch kompensieren.

274     Anmerkungen

5. Die wissenschaftliche Grundhaltung muss keine Lösung des Abgrenzungsproblems liefern 1.  Siehe dazu auch meine vorherigen Ausführungen zu Laudans ­„Meta-Argument“ in Kap. 1, Endnote 27. 2. In der Logik ergibt „wenn A, dann B“ zusammen mit „wenn B, dann A“ den Schluss „A genau dann, wenn B“. Darin drückt sich die logische Äquivalenz von A und B aus. Für diejenigen unter den Lesern, die interessiert sind an den Feinheiten der Logiker in Bezug auf die Begriffe „notwendige und hinreichende Bedingungen“, die Beziehungen zwischen „wenn“, „nur wenn“ und „genau dann, wenn“ oder Begriffe wie „Bikonditional“, „Kontraposition“ und „logische Äquivalenz“, gibt es eine Vielzahl von Lehrbüchern zur Einführung in die Logik. Das meiner Ansicht nach Beste stammt von Edward J. Lemmon, Beginning Logic, Hackett, Cambridge, MA, 1978. 3. Siehe hierzu die Ausführungen in Kap. 1. Feleppa legt dar, dass es nur um ein notwendiges Kriterium ging. Vgl. Robert Feleppa, „Kuhn, Popper, and the Normative Problem of Demarcation“, in Patrick Grim (Hrsg.), Philosophy of Science and the Occult, SUNY Press, Albany, 1990. Erinnern wir uns aber hier an Poppers (spätere) Aussage, es sei ein notwendiges und hinreichendes Kriterium. 4. Rufen wir uns hier Poppers Behauptung ins Gedächtnis, die Evolutionsbiologie sei nicht falsifizierbar. 5. Vgl. Popper, „Falsifizierbarkeit, zwei Bedeutungen von“, [1989], 1994, S. 82. 6. Laudan scheint der Auffassung zu sein, der Grund für die Entwicklung sowohl notwendiger als auch hinreichender Bedingungen sei, dass beides zum Schutz vor Kritik erforderlich sei, die dann einen Ansatzpunkt besäße, wenn nur das eine vorhanden wäre. Aber vielleicht ist das gar nicht der Fall und man macht sich damit nur von beiden Seiten aus angreifbar. 7. Soll heißen, sie sind unter identischen Bedingungen wahr. Wenn etwas das Kriterium der Wissenschaft erfüllt, dann erfüllt es das Kriterium der Falsifizierbarkeit und umgekehrt. 8. Hier scheint das Argument gegen Laudan in Endnote 6 dieses Kapitels relevant zu sein. Wie schützt die Entwicklung eines Hinlänglichkeitsstandards für Falsifizierbarkeit Popper vor dem Kritikpunkt, dass sein Notwendigkeitskriterium die Aussage „Evolutionsbiologie ist nicht Wissenschaft“ enthält? Und wie soll der Notwendigkeitsstandard für die Falsifizierbarkeit ihn vor dem Vorwurf schützen, dass man anhand seines Hinlänglichkeitskriteriums die Astrologie in den Bereich der Wissenschaft einordnen könnte? 9. Man stelle sich nur die schwierige Suche nach einem Kriterium vor, mit dem sich das messen ließe! 10. Siehe hierzu Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, Basic Books, New York, 1959; Karl Popper, Conjectures and Refutations, Harper Torchbooks, New

Anmerkungen    275

York, 1965; Larry Laudan, „The Demise of the Demarcation Problem“, in: Larry Laudan (Hrsg.), Beyond Positivism and Relativism: Theory, Method, and Evidence, Westview Press, Boulder, 1996. 11.  Siehe hierzu Boudry, „Loki’s Wager and Laudan’s Error“, S. 80 ff., und Hansson, „Defining Pseudoscience and Science“, S. 61–77, beides in: Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Hrsg.), Philosophy of Pseudoscience, University of Chicago Press, Chicago, 2013. Macht sich auch Pigliucci dessen schuldig? In seinem Aufsatz „The Demarcation Problem“ wendet er sich von der Lösung des Abgrenzungsproblems durch notwendige und hinreichende Bedingungen ab und schreibt, der ganze Ansatz der Suche nach einem Abgrenzungsproblem sei „unscharf“, wohl weil er sich mehr mit der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft beschäftigt als mit der zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. 12. Vgl. Grafik 1.1. Weitere Ausführungen zu dieser Fragestellung finden sich in Kap. 1. Siehe dazu auch Tom Nickles, „The Problem of Demarcation: History and Future“, S. 101–120, und James Ladyman, „Toward a Demarcation of Science from Pseudoscience“, S. 45 ff., beides in: Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Hrsg.), Philosophy of Pseudoscience, University of Chicago Press, Chicago, 2013. 13. Galilei schrieb in einem Brief an Christine von Lothringen, die Großherzogin der Toskana, der Heilige Geist „lehrt, wie man in den Himmel kommt, nicht wie der Himmel sich bewegt“ (Florenz, 1615). 14. Meiner Ansicht nach könnte man hier wohl versuchen, innerhalb der Kategorie der Nicht-Wissenschaft eine schärfere Trennlinie zu ziehen zwischen dem, was ich als „Unwissenschaft“ bezeichnet habe, und der Pseudowissenschaft. Dies würde zwar nicht in ein umfassenderes Kriterium der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und ­Nicht-Wissenschaft (oder zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft) münden, vielleicht ließe sich aber anhand dessen die Kategorie der ­Nicht-Wissenschaft inhaltlich näher bestimmen. Man könnte innerhalb der Kategorie der Nicht-Wissenschaft die Gebiete bestimmen, die nicht vorgeben, empirische Belege anbringen zu wollen (Literatur, Kunst), und sie von den Gebieten trennen, die ein Bemühen um Belege vortäuschen (Astrologie, Kreationismus). Man könnte dann allerdings einwenden, dass sich die letzteren Gebiete im praktischen Sinne nicht wirklich um Belege bemühen. Auch wenn das vielleicht nur ein kleiner Schritt ist, kann hieraus dennoch ein Problem erwachsen. Dieser Ansatz verführt uns nämlich vielleicht dazu, 1) ihn als Grund für eine thematische Verschiebung der übergeordneten Abgrenzungsdebatte zu nutzen oder 2) uns in das Dickicht der Suche nach notwendigen und hinreichenden Bedingungen bei einer neuen Abgrenzungsdebatte innerhalb der Kategorie der Nicht-Wissenschaft zu begeben. Wenn wir aber schon dabei Probleme gehabt haben, zu bestimmen, wie das „Bemühen um Belege“ als Hinlänglichkeitsbedingung zur Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft fungieren könnte, wie schwierig wäre es dann erst, ein

276     Anmerkungen

weiteres Konzept basierend auf dem Faktor „täuscht vor, sich um Belege zu bemühen“ aufzubauen? Um es noch einmal zu wiederholen: Meiner Ansicht nach sollte man den Fokus der Abgrenzungsdebatte vernünftigerweise auf die Trennung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft legen. 15. Und wohl auch die Evolutionsbiologie. Siehe dazu Michael Ruse, „Evolution: From Pseudoscience to Popular Science, from Popular Science to Professional Science“, in: Philosophy of Pseudoscience, S. 225–244. 16. Siehe hierzu die herausragende Darstellung dieser Thematik in Frank Cioffis Aufsatz „Pseudoscience: The Case of Freud’s Sexual Etiology of the Neuroses“, in: Philosophy of Pseudoscience, S. 321–340. 17. Dieses Beispiel verdanke ich Rik Peels. 18. Obwohl manches dafürspricht, dass der Bruder in diesem Beispiel eine wissenschaftliche Grundhaltung einnimmt, würde ich dennoch nicht sagen, dass er hier Wissenschaft betreibt. Sidney Morgenbesser hat dieses Thema einmal angesprochen und dabei betont, einen Vorgang als wissenschaftlich einzustufen sei etwas anderes, als ihn als Wissenschaft zu klassifizieren. Auch Boudry beschäftigt sich mit dieser praktischen Fragestellung in seinem Aufsatz „Plus Ultra: Why Science Does Not Have Limits“, in: Maarten Boudry und Massimo Pigliucci (Hrsg.), Science Unlimited, University of Chicago Press, Chicago, 2017. 19. Sind Klempnerarbeiten Wissenschaft? Boudry meint (in seinem Aufsatz „Plus Ultra“), es sei in Ordnung, dieser Auffassung zu sein – man müsse Wissenschaft nicht unbedingt erkenntnistheoretisch begrenzen. Pigliucci dagegen vertritt in seinem eigenen Aufsatz „In Defense of Demarcation Projects“ einen anderen Ansatz, dies aber vor dem Hintergrund, dass seiner Ansicht nach Wissenschaftler „eine recht klar definierte Rolle zu spielen haben“. Ich stimme hier Boudry aus voller Überzeugung zu. Wichtig scheint doch hier die Herangehensweise eines „alltäglichen Forschens“ zu sein und weniger die soziologischen Rahmenbedingungen einer Tätigkeit (wie hier des Klempnerns). 20.  Die einzige Möglichkeit, wie man als Vertreter der Abgrenzung um das Problem der „Schlüsselsuche“ herumkommt, ist entweder, sich gänzlich von der Vorstellung eines Hinlänglichkeitsstandards zu lösen (was dazu führen kann, dass man auch die Abgrenzung an sich über Bord wirft) oder nach weiteren Notwendigkeitskriterien zu suchen. Aber wenn wir damit einmal anfangen, begeben wir uns auf eine unendliche Reise. Auch das ist für mich ein Grund, die wissenschaftliche Grundhaltung nicht als Hinlänglichkeitsstandard einsetzen zu wollen. 21.  Auch in Disziplinen wie der Logik oder Mathematik, in denen man sich naturgemäß nicht um empirische Belege bemüht, ist sie nicht erkennbar. 22. Vgl. Heike Delitz, Émile Durkheim: Soziologie, Ethnologie, Philosophie, CampusVerlag, Frankfurt am Main, 2013, S. 105.

Anmerkungen    277

23.  Eine der spannendsten Darstellungen, die ich in letzter Zeit gelesen habe, stammt von Tom Nickles, der in seinem Aufsatz, „The Problem of Demarcation“ (in: Philosophy of Pseudoscience, S. 116 f.) die „Fruchtbarkeit“ als mögliches Abgrenzungskriterium kritisch untersucht. Vielleicht liegt die Krux des Kreationismus ja nicht darin, fehlerhaft zu sein, Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen oder die wissenschaftliche Grundhaltung nicht umzusetzen, sondern darin, dass er nicht darauf ausgelegt ist, weitere Forschungsfragen hervorzubringen, die wir in Zukunft noch beantworten könnten. 24. Vielleicht lag Popper mit seinem ersten Impuls ja richtig und man braucht für ein Abgrenzungskriterium nicht mehr als die Notwendigkeitsbedingung. 25. Vgl. Hansson, „Defining Pseudoscience and Science“, in: Philosophy of Pseudoscience, S. 61. 26. Siehe dazu noch einmal meine Ausführungen zu Laudans ­„Meta-Argument“ (Kap. 1, Endnote 27). Laudan geht davon aus, dass man notwendige und hinreichende Bedingungen für Wissenschaft finden muss, um das Abgrenzungsproblem lösen zu können. 27. Vgl. Pigliucci, „The Demarcation Problem“, S. 21. Will er mit diesem Ansatz aber wiederum eine eindeutige Festlegung auf die Pseudowissenschaft oder Nicht-Wissenschaft als Gegenwurf bei der Abgrenzung umgehen? 28. Diese Darstellung wird deutlich in: Maarten Boudry und Massimo Pigliucci (Hrsg.), Science Unlimited, University of Chicago Press, Chicago, 2017. In diesem Band sprechen die Herausgeber davon, sich einer anderen Abgrenzungsdebatte zuwenden zu wollen, die sich eher an einem – wie Boudry es bereits vorher benannt hat – territorialen Problem entspinnt. In ihrer früheren Arbeit waren Pigliucci und Boudry darum bemüht, die Pseudowissenschaft daran zu hindern, auf die Wissenschaft überzuschwappen. Nun scheinen sie sich dem Problem des Szientismus zugewandt zu haben und der Frage, ob man andere Gebiete vor der Wissenschaft schützen müsse. 29. Vgl. Pigliucci, Science Unlimited, S. 197. 30. Kitcher äußert sich in ähnlicher Weise über die Pseudowissenschaft: „Pseudowissenschaft ist einfach das, was [Pseudowissenschaftler] tun.“ Zitiert nach Boudry, „Loki’s Wager“, S. 91. 31. Vgl. McIntyre, Respecting Truth: Willful Ignorance in the Internet Age, Routledge, New York, 2015, S. 107 ff. 32.  Pigliucci macht dies in seinem Aufsatz „The Demarcation Problem“ deutlich, wenn er wohl mit Boudry darin übereinstimmt, dass es die Aufgabe der Abgrenzung sei, die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu beschreiben und nicht die zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. 33. Siehe hierzu die Ausführungen in Kap. 8 zu der Frage, ob in der Wissenschaft der Inhalt einer Theorie entscheidend ist oder das Verhalten derjenigen, die sie entwickeln.

278     Anmerkungen

34. Wie wir an den Beispielen von Galilei und Semmelweis gesehen haben, verhält sich die Wissenschaftsgemeinschaft leider manchmal äußerst irrational. 35. Vgl. Pigliucci, Science Unlimited, S. 197. 36. Einen tieferen Einblick in das interessante Thema der Bestimmung familiärer Beziehungen der verschiedenen Gebiete beim Vergleich mit der Wissenschaft bieten Thomas Nickles, „The Problem of Demarcation: History and Future“, S. 101–120 und James Ladyman, „Toward a Demarcation of Science from Pseudoscience“, S. 45–59, beides in: Philosophy of Pseudoscience.

6. Wie Wissenschaftler die wissenschaftliche Grundhaltung ein- und umsetzen 1. Vgl. James Ladyman, „Toward a Demarcation of Science from Pseudoscience“, in: Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Hrsg.), The Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem, University of Chicago Press, Chicago, 2013, S. 56. 2. Vgl. dazu Noretta Koertge, „Belief Buddies versus Critical Communities“, in: Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Hrsg.), The Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem, University of Chicago Press, Chicago, 2013, S. 165–180. 3. Wenn sie doch veröffentlicht wird, gibt es sogar noch einen Prozess, durch den sie wieder zurückgezogen werden kann. Darauf werde ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels näher eingehen. 4. Mehr zum Thema p-Hacking findet sich im entsprechenden Abschnitt dieses Kapitels. 5. Vgl. Robert Trivers, The Folly of Fools: The Logic of Deceit and S­ elf-Deception in Human Life, Basic Books, New York, 2011. 6. Vgl. Robert Trivers, „Fraud, Disclosure, and Degrees of Freedom in Science“, in: Psychology Today, Blog-Eintrag vom 10. Mai 2012, https://www. psychologytoday.com/blog/the-folly-fools/201205/fraud-disclosure-anddegrees-freedom-in-science. 7. Vgl. Jelte M. Wicherts et al., „Willingness to Share Research Data Is Related to the Strength of the Evidence and the Quality of Reporting of Statistical Results“, in: PLOS ONE 6, Nr. 11, November 2011, e26828, https://journals. plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0026828. 8. Vgl. Joseph Simmons et al., „False-Positive Psychology: Undisclosed Flexibility in Data Collection and Analysis Allows Presenting Anything as Significant“, in: Psychological Science 22, 2011, S. 1359–1366, https://journals.sagepub.com/ doi/pdf/10.1177/0956797611417632. 9. Vgl. Simmons et al., „False-Positive Psychology“, S. 1359. 10. Vgl. Simmons et al., „False-Positive Psychology“, S. 1360.

Anmerkungen    279

11. Vgl. Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler Verlag, München, 2011. Ein weiterer moderner Klassiker der Verhaltensökonomie ist Richard Thaler, Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness, Penguin, New York, 2009. 12. Ein weiteres gutes Beispiel ist das Fiasko der kalten Fusion, das wir im Verlauf dieses Kapitels genauer beleuchten werden. 13.  Vgl. Peter Wason, „Reasoning about a Rule“, in: Quarterly Journal of Experimental Psychology 20, Nr. 3, 1968, S. 273–281. 14. Vgl. Lee McIntyre, Respecting Truth: Willful Ignorance in the Internet Age, Routledge, New York, 2015, S. 15 f. 15. Vgl. Cass Sunstein, Infotopia: How Many Minds Produce Knowledge, Oxford University Press, Oxford, 2008 (deutsche Ausgabe erschienen als Infotopia: Wie viele Köpfe Wissen produzieren, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2009). 16. Eine ausführliche Darstellung dieses Themas findet sich in McIntyre, Respecting Truth, S. 117 f. 17. Vgl. dazu auch die Darstellung in Sunstein, Infotopia, S. 207, und McIntyre, Respecting Truth, S. 119. 18. Vgl. Tom Settle, „The Rationality of Science versus the Rationality of Magic“, in: Philosophy of the Social Sciences 1, 1971, S. 173–194, https://journals. sagepub.com/doi/pdf/10.1177/004.839.317.100.100.201. 19. Vgl. Settle, „The Rationality of Science“, S. 174. 20.  Vgl. Sven Hansson, „Science and Pseudo-Science“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. 21. Vgl. Settle, „The Rationality of Science“, S. 183. 22. Vgl. Koertge, „Belief Buddies“, S. 177 ff. 23. Vgl. Helen Longino, Science as Social Knowledge: Values and Objectivity in Scientific Inquiry, Princeton University Press, Princeton, 1990. 24. Vgl. Longino, Science as Social Knowledge, S. 66 f. 25. Vgl. Longino, Science as Social Knowledge, S. 69 und 74. 26. Vgl. Longino, Science as Social Knowledge, S. 216. Einen faszinierenden Kontrast dazu bietet z. B. Miriam Solomons, Social Empiricism, MIT Press, Cambridge, MA, 2001. Auch sie vertritt die Auffassung, dass die Handlungsweisen einer „Zweckgemeinschaft von Wissenschaftlern“ das „individuelle Schlussfolgern einzelner Wissenschaftler“ übertreffen (vgl. S. 135); sie stimmt aber nicht mit Longino in der Frage überein, ob solche sozialen Interaktionen individuelle Fehlschlüsse „korrigieren“ können (vgl. S. 139). Zwar findet Solomon lobende Worte für Longinos Standpunkt, merkt jedoch kritisch an, dass die von Longino beschriebenen „Ideale“ zu wenig in tatsächliche wissenschaftliche Fallbeispiele eingebettet werden. Solomon geht sogar davon aus, dass solche wissenschaftlichen Fälle eine positive Rolle von Biases – sogar kognitiven Biases – für das Voranschreiten wissenschaftlichen Arbeit illustrieren würden. Weit von der Ansicht entfernt, dass Wissenschaftler Biases meiden sollten, stellt Solomon die unerhörte Behauptung auf, dass Wissenschaftler

280     Anmerkungen

normalerweise ihre Ziele mithilfe von „Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Biases“ erreichen würden (vgl. S. 139). 27. Manche dieser Fehler sind natürlich das Ergebnis kognitiver Verzerrungen, zu denen alle menschlichen Wesen neigen. Entscheidend ist hier nicht, dass diese Biases bei Wissenschaftlern nicht vorkämen, sondern dass sich die Wissenschaft in hohem Maße dazu verpflichtet fühlt, sie durch die gemeinschaftliche Überprüfung individueller Forschungsarbeit zu reduzieren. Mehr dazu findet man in Kevin deLaplantes Podcast Critical Thinker Academy: https://www.youtube. com/watch?v=hZkkY2XVzdw&index=5&list=PLCD69C3C29B645CBC. 28. Wie bereits angemerkt, soll das Thema des wissenschaftlichen Fehlverhaltens wie Datenfälschung und -manipulation, das in den Bereich des offenen Betrugs fällt, in Kap. 7 genauer beleuchtet werden. 29. Vgl. Gary King, Robert O. Keohane, Sidney Verba, Designing Social Inquiry: Scientific Interference in Qualitative Research, Princeton University Press, Princeton, 1994. Es ist hilfreich, wenn möglich statistische Belege in der Wissenschaft heranzuziehen. Ist dies nicht möglich, ist dieser Umstand jedoch keine Rechtfertigung für eine weniger strenge wissenschaftliche Vorgehensweise. 30. Wie zu erwarten ist, sammeln sich die Signifikanzeffekte in veröffentlichten Arbeiten meist bei 5 %. 31.  Für eine umfassende und gründliche Darstellung einiger grundlegender Probleme der Statistik und ihrer Auswirkungen auf die Wissenschaftsphilosophie gibt es keine bessere Quelle als Deborah Mayos Klassiker Error and the Growth of Experimental Knowledge, University of Chicago Press, Chicago, 1996. Mayo bietet nicht nur eine erschöpfende philosophische Darstellung der Bedeutung des Erkenntnisgewinns aus empirischen Belegen, sondern sie beschreibt auch ihren eigenen „fehlerstatistischen“ Ansatz als eine Alternative zur bekannten Methode nach Bayes. Der entscheidende Faktor für das wissenschaftliche Schlussfolgern ist nicht, dass man aus empirischen Belegen Erkenntnis gewinnt, sondern wie man dabei vorgeht. Mayos Darstellung der Bedeutung von Experiment, strenger Überprüfung und Fehlersuche ist für all jene Leserinnen und Leser unverzichtbar, die sich mehr (statistisches Schlussfolgern betreffende) Argumentationshilfen für die Wissenschaft aneignen möchten. 32. Man sollte sich jedoch vor Augen führen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der selbst Ereignisse mit der höchsten Korrelation kausal unzusammenhängend sind, nicht bei null liegt. 33. Der Begriff p-Hacking wurde von Simmons et al. in ihrem Aufsatz „FalsePositive Psychology“ geprägt. 34. Vgl. Megan L. Head, „The Extent and Consequences of P-Hacking in Science“, in: PLOS Biology 13, Nr. 3, 2015, e1002106, https://journals.plos.org/ plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.1002106. 35. Früher musste man t-Tests und F-Tests händisch rechnen und dann die entsprechenden p-Werte in einer Tabelle nachschlagen.

Anmerkungen    281

3 6. Vgl. Simmons et al., „False-Positive Psychology“, S. 1359. 37. Vgl. Simmons et al., „False-Positive Psychology“, S. 1359. 38. Vgl. Steven Novella, „Publishing False Positives“, in: Neurologica, ­Blog-Eintrag vom 5. Januar 2012, https://theness.com/neurologicablog/index.php/ publishing-false-positives/. 39. Vgl. Christie Aschwanden, „Science Isn’t Broken: It’s Just a Hell of a Lot Harder Than We Give it Credit For“, in: FiveThirtyEight, 19. August 2015, https://fivethirtyeight.com/features/science-isnt-broken/. 40.  Vgl. John P. A. Ioannidis, „Why Most Published Research Findings Are False“, in: PLOS Medicine 2, Nr. 8, 2005, e124, https://robotics.cs.tamu.edu/ RSS2015NegativeResults/pmed.0020124.pdf. 41. Vgl. Ronald Giere, Understanding Scientific Reasoning, Holt, Rinehart, and Winston, New York, 1984, S. 153. 42. Vgl. Regina Nuzzo, „Scientific Method: Statistical Errors“, in: Nature 506, 2014, S. 150 ff. 43. Vgl. Head, „Extent and Consequences of P-Hacking“. 44. Vgl. Nuzzo, „Scientific Method“. 45 Vgl. Nuzzo, „Scientific Method“. 46. „Das übermäßige, unter Wissenschaftlern verbreitete Vertrauen auf p-Werte hat dazu geführt, dass es zumindest uns für unsere Fachzeitschrift einfach reicht. Im Februar [2015] hat die Zeitschrift Basic and Applied Psychology angekündigt, nicht mehr länger p-Werte publizieren zu wollen. ‚Wir glauben, dass die Schwelle p [kleiner als],05 zu leicht zu umgehen ist und manchmal als Entschuldigung für minderwertige Forschungsarbeit dient‘, schrieben die Herausgeber in ihrer Ankündigung. Statt der p-Werte wird die Zeitschrift künftig ‚eindeutige deskriptive Statistiken einfordern, darunter die Effektstärken‘.“ Vgl. dazu Christie Aschwanden, „Science Isn’t Broken: It’s Just a Hell of a Lot Harder Than We Give it Credit For“, in: FiveThirtyEight, 19. August 2015, https://fivethirtyeight.com/features/science-isnt-broken/. 47 Vgl. Head, „Extent and Consequences“. Es ist hier aber zu beachten, dass Heads Ergebnisse von manchen infrage gestellt werden mit dem Einwand, sie seien ein Rundungsartefakt der zweiten Dezimalstelle. Das soll nicht bedeuten, p-Hacking käme nicht vor, nur ist der Gipfel, den Head bei 0,05 in ihrer p-Kurve angeblich feststellt, kein guter Beleg für eine weite Verbreitung dieser Vorgehensweise. Vgl. Chris Hartgerink, „Reanalyzing Head et al. (2015): No Widespread P-Hacking After All?“, in: Authorea, 12. September 2016, https:// www.authorea.com/users/2013/articles/31568/_show_article. 48. Vgl. Steven Novella, „P-Hacking and Other Statistical Sins“, in: Neurologica, Blog-Eintrag vom 13. Februar 2014, https://theness.com/neurologicablog/ index.php/p-hacking-and-other-statistical-sins/. 49. Oder in manchen Fällen darüber, wie gemessen werden soll. Wäre man beispielsweise Anhänger von Bayes und der Ansicht, es sei wichtig, die A-prioriWahrscheinlichkeit einer Hypothese mit einzuschließen, wie sollte man diesen subjektiven Faktor messen?

282     Anmerkungen

5 0. Vgl. Head, „Extent and Consequences“. 51. Vgl. Simmons et al., „False-Positive Psychology“, S. 1362 f. 52. Vgl. Simmons et al., „False-Positive Psychology“, S. 1365. 53. Vgl. Novella, „P-Hacking“. 54.  Und selbst wenn das nicht gelingt, die „bots“ stehen schon in den Startlöchern. In einem kürzlich publizierten Artikel mit dem Titel „The Prevalence of Statistical Reporting Errors in Psychology (1985–2013)“ berichten Michèle B. Nuijten et al. die Ergebnisse eines neuen Softwarepakets namens „statcheck“, das zur Fehlersuche in allen formal der APA-angepassten Artikeln eingesetzt werden kann. Bisher wurden 50.000 psychologische Artikel durchsucht und bei der Hälfte lagen mathematische Fehler vor (meist zugunsten des Autors). Diese Ergebnisse wurden auf der Seite pubpeer.com veröffentlicht (die manche als „Methodenterrorismus“ bezeichnen). Aber das dahinterliegende Ziel ist, so die Autoren, künftige Fehler zu verhindern, und daher wurde eine Webanwendung entwickelt, mit der man die eigene Arbeit auf Fehler überprüfen kann, bevor man sie zur Veröffentlichung einreicht. Auch damit wäre schon ein Kulturwechsel in der Wissenschaft erreicht, möglich gemacht durch eine verbesserte Technologie. Vgl. Behavior Research Methods 48, Nr. 4, 2016, S. 1205–1226, https://mbnuijten.files.wordpress.com/2013/01/ nuijtenetal_2015_reportingerrorspsychology1.pdf. Vgl. dazu auch Brian Resnick, „A Bot Crawled Thousands of Studies Looking for Simple Math Errors: The Results Are Concerning“, in: Vox, 30. September 2016, https:// www.vox.com/science-and-health/2016/9/30/13077658/statcheck-psychologyreplication. 55. Tatsächlich wird die Begutachtung in manchen Fällen doppelt oder sogar dreifach verblindet durchgeführt. Dabei kennt dann nicht nur der Autor den Gutachter nicht und der Gutachter den Autor nicht, sondern der Herausgeber kennt dann weder den Autor noch den Gutachter. 56.  Vgl. John R. Huizenga, Cold Fusion: The Scientific Fiasco of the Century, University of Rochester Press, Rochester, 1992, S. 235 (deutsche Ausgabe erschienen als: Kalte Kernfusion: Das Wunder, das nie stattfand, Verlag Vieweg + Teubner, Wiesbaden, 1994). 57. Vgl. Huizenga, Cold Fusion, S. 215–236. 58. Vgl. Huizenga, Cold Fusion, S. 218. 59. Vgl. Huizenga, Cold Fusion, S. 218. 60. Vgl. Huizenga, Cold Fusion, S. 57. 61. Vgl. Gary Taubes, Bad Science: The Short Life and Weird Times of Cold Fusion, Random House, New York, 1993. 62. Details zu all diesen „Bestätigungen“ sind Taubes Bad Science zu entnehmen. Er setzt sich mit den Problemen der einzelnen Fälle auseinander und beschreibt, dass der „Bor“-Artikel zurückgezogen wurde (aufgrund der Tatsache, dass der verwendete Neutronendetektor hitzeempfindlich war). Der „theoretische“ Artikel über Helium geriet unter Verdacht, weil er mit dem alleinigen Ziel

Anmerkungen    283

verfasst worden war, die Ergebnisse der kalten Fusion zu bestätigen. Und die Ergebnisse des „Wärmeüberschusses“ in schwerem Wasser wurden durch den Umstand infrage gestellt, dass sie auch bei Leichtwasser vorkamen, was mit einer chemischen Reaktion erklärt werden könnte. 63. Vgl. Solomon Asch, „Opinions and Social Pressure“ in: Scientific American 193, Nr. 5, November 1955, S. 31–35, https://www.panarchy.org/asch/social. pressure.1955.html. 64. Vgl. Taubes, Bad Science, S. 162. 65. Vgl. Taubes, Bad Science, S. 162. 66. Vgl. Wicherts et al., „Willingness to Share Research Data“. 67. Auch Fleischmann macht sich dessen schuldig, aber es war Pons, der sich wiederholt weigerte, die Daten weiterzugeben. 68. Vgl. John Maddox, zitiert in Taubes, Bad Science, S. 240. 69. Vgl. Taubes, Bad Science, S. 191. 70. Vgl. Taubes, Bad Science, S. 191. 71. Vgl. Taubes, Bad Science, S. 197. 72. Vgl. John R. Huizenga, Kalte Kernfusion: Das Wunder, das nie stattfand, Verlag Vieweg + Teubner, Wiesbaden, 1994, S. 281 f. 73. Die Tatsache, dass manche Menschen einen Mord begehen, widerlegt nicht die Tatsache, dass wir als Gesellschaft Gesetze gegen Mord geschaffen haben und diese auch durchzusetzen versuchen. 74. Selbst hier lässt sich nicht unbedingt ein negatives Motiv nachweisen. Vielleicht sind die Menschen, die gründlicher mit ihren Daten umgehen, damit diese weitergegeben werden können, auch die Personen, die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit eine sorgfältige Arbeitsweise praktizieren. 75. Vgl. Stuart Firestein, Failure: Why Science Is So Successful, Oxford University Press, Oxford, 2015. 76. Vgl. Firestein, Failure. 77.  Es sollte vollkommen klar sein, dass man nicht nur zwischen fehlender Replizierbarkeit und Betrug unterscheiden muss, sondern auch zwischen dem Zurückziehen eines Artikels und Betrug. Man sollte nicht aus diesem Vorgang der Zurücknahme darauf schließen, dass die betreffende Studie in betrügerischer Absicht gefälscht ist. Wie wir sehen werden, kann es viele Gründe für eine Zurücknahme geben. 78. Das könnte sich aber ändern – zumindest in Teilbereichen der Sozialwissenschaften –, weil manche Nachwuchsforscher sich dadurch einen Namen machen möchten, dass sie die Arbeiten ihrer bereits anerkannteren Kollegen infrage stellen. Siehe dazu Susan Dominus, „When the Revolution Came for Amy Cuddy“, in: New York Times, 18. Oktober 2017, https://www.nytimes. com/2017/10/18/magazine/when-the-revolution-came-for-amy-cuddy.html. 79.  Vgl. Ian Sample, „Study Delivers Bleak Verdict on Validity of Psychology Experiment Results“, in: Guardian, 27. August 2015, https://www.theguardian. com/science/2015/aug/27/study-delivers-bleak-verdict-on-validity-ofpsychology-experiment-results.

284     Anmerkungen

80. Vgl. Brian A. Nosek et al., „Estimating the Reproducibility of Psychological Science“, in: Science 349, Nr. 6251, August 2015, https://psych.hanover.edu/ classes/Cognition/Papers/Science-2015--.pdf. Man beachte aber, dass von den 100 ausgewerteten Studien drei aus statistischen Gründen ausgeschlossen, 62 als nichtreplizierbar und nur 35 als replizierbar eingestuft wurden. 81. Vgl. Benedict Carey, „Many Psychology Findings Not as Strong as Claimed, Study Says“, in: New York Times, 27. August 2015. 82. Vgl. Benedict Carey, „Psychologists Welcome Analysis Casting Doubt on Their Work“, in: New York Times, 28. August 2015. 83. Vgl. Joel Achenbach, „No, Science’s Reproducibility Problem Is Not Limited to Psychology“, in: Washington Post, 28. August 2015. 84. Vgl. Carey, „Many Psychology Findings“. 85. Vgl. Amy Ellis Nutt, „Errors Riddled 2015 Study Showing Replication Crisis in Psychology Research, Scientists Say“, in: Washington Post, 3. März 2016. 86.  Vgl. Benedict Carey, „New Critique Sees Flaws in Landmark Analysis of Psychology Studies“, in: New York Times, 3. März 2016. 87. Vgl. Nutt, „Errors Riddled 2015 Study“. 88.  Vgl. Peter Reuell, „Study That Undercut Psych Research Got It Wrong: Widely Reported Analysis That Said Much Research Couldn’t Be Reproduced Is Riddled with Its Own Replication Errors, Researchers Say“, in: Harvard Gazette, 3. März 2016. 89. Vgl. Carey, „New Critique Sees Flaws“. 90. Vgl. Reuell, „Study That Undercut Research“. 91. Vgl. Nutt, „Errors Riddled 2015 Study“. 92. Vgl. Reuell, „Study That Undercut Research“. 93. Vgl. Carey, „New Critique Sees Flaws“. 94. Vgl. Carey, „New Critique Sees Flaws“. 95. Vgl. Simonsohn, zitiert in Carey, „New Critique Sees Flaws“. 96. Siehe hierzu https://www.psychologicalscience.org/publications/psychological_ science/preregistration. 97. Können wir uns beispielsweise beim p-Hacking die Entscheidung einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers darüber, ob man die Studie offenhält, um weitere Daten zu erheben, nicht als Beleg für einen „confirmation bias“ vorstellen? Unbewusst wird hierbei zugunsten der eigenen Theorie entschieden. Würde es sich zwingend falsch anfühlen, mehr Daten erheben zu wollen, um feststellen zu können, ob sie wirklich funktioniert? An dieser Stelle wäre es klug, Hanlon’s Razor (Hanlons Rasiermesser) zu vermeiden, das besagt, man solle nicht der Böswilligkeit zuschreiben, was man ebenso gut auch durch Inkompetenz erklären kann. 98. Vgl. Kevin deLaplante, „Cognitive Biases and the Authority of Science“, in: The Critical Thinker (Podcast), https://www.youtube.com/watch?v=hZkkY2XVzdw &index=5&list=PLCD69C3C29B645CBC.

Anmerkungen    285

99. Das ist eine schwierige Aufgabe, denn es gibt hier zwei mögliche Irrwege: zum einen das zu lange Warten, bis man die Wahrheit anerkennt (wie die Reaktion auf Semmelweis zeigt), und zum anderen ein zu frühes Aufspringen auf den Zug einer Schlussfolgerung, die über verfügbare Belege hinausgeht (wie im Fall der kalten Fusion).

7. Wie die wissenschaftliche Grundhaltung die moderne Medizin veränderte 1. Wie wir aber in diesem Kapitel sehen werden, war der Weg zur modernen Medizin gepflastert mit zahlreichen Rückschlägen, Widerstand und dem Unvermögen, Erkenntnisse in die Praxis zu überführen, bevor die wissenschaftliche Grundhaltung vollständig Fuß fassen konnte. 2. Vgl. William F. Bynum, The History of Medicine: A Very Short Introduction, Oxford University Press, Oxford, 2008, S. 108. Siehe dazu auch William F. Bynum (Hrsg.), The Western Medical Tradition 1800–2000, Cambridge University Press, Cambridge, 2006, S. 112. 3. Wichtig ist an dieser Stelle aber, dass Lister die Antisepsis nicht „erfand“, obwohl er derjenige war, der den größten Beitrag zur E ­ ntwicklung einer effektiven Methodik und zur Schaffung einer entsprechenden Arbeitsroutine leistete. Vgl. dazu Roy Porter, The Greatest Benefit to Mankind: A Medical History of Humanity, Norton, New York, 1999 (deutsche Ausgabe: Die Kunst des Heilens: Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute, Spektrum – Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin, 2000). Selbst diese Methodik stieß jedoch bei einigen auf Ablehnung. Vgl. Porter, Greatest Benefit, S. 156. 4. Vgl. Bynum, History of Medicine, S. 91. 5.  Obwohl die Bezeichnung scientist (Wissenschaftler) erst von William Whewel 1833 eingeführt wurde, war natürlich der lateinische Begriff scientia schon gebräuchlich, von dem sich der Gebrauch des Wortes scientific (heute: wissenschaftlich) ableitet, der sich ungefähr mit der Umschreibung „Wissen erzeugend“ übersetzen lässt. 6. Vgl. Bynum, History of Medicine, S. 91. Siehe dazu auch Bynum (Hrsg.), Western Medical Tradition, S. 112. 7. Vgl. Roy Porter, Die Kunst des Heilens, S. 9. 8. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 57. 9. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 77. 10. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 76. 11. Obwohl manche gehofft hatten, vom Geist des wissenschaftlichen Fortschritts, der aus der Aufklärung erwuchs, profitieren zu können, konnte die Medizin nicht, wie Porter beschreibt, mit den Errungenschaften der experimentellen Physik oder Chemie Schritt halten. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 248.

286     Anmerkungen

12. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 11. 13. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 245. Sich die Frage nach dem Grund zu stellen, ist faszinierend. Porter legt dar, dass Historiker dieses offenkundige Paradoxon der medizinischen Wissenschaft der Aufklärung, also die großen Erwartungen und die enttäuschende Realität, als die Folge übereifrigen Theoretisierens beschrieben hätten. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 248. 14. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 11 und 274. Manchen mag dies ungerecht erscheinen. Es ist zwar richtig, dass die Theorie hinter Impfungen nicht auf einer Gelehrtenwissenschaft basierte, sondern auf der Erfahrung, dass Melkerinnen gegen Kuhpocken immun waren. Es war jedoch Edward Jenner, der durch seine Einstellung, nach der man, statt zu theoretisieren, ebenso gut experimentieren könne, die wissenschaftliche Grundhaltung umsetzte. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 276. Erst als die Beobachtung in einem Experiment überprüft wurde, konnte der klinische Durchbruch stattfinden. 15. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 284 und 305. 16. Vgl. Lewis Thomas, The Youngest Science: Notes of a Medicine Watcher, Viking, New York, 1983, S. 19 f. 17. Vgl. Ira Rutkow, Seeking the Cure: A History of Medicine in America, Scribner, New York, 2010, S. 37. 18. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 37 f. 19. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 44. 20. Vgl. Cristin O’Keefe Aptowicz, Dr. Mutter’s Marvels: A True Tale of Intrigue and Innovation at the Dawn of Modern Medicine, Avery, New York, 2014, S. 31. 21. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 306. 22.  „Die Medizin war praxis- und fallorientiert, weshalb sie sich mit Veränderungen schwertat. So fand beispielsweise das Mikroskop erst 200 Jahre nach seiner Entwicklung Eingang in die alltägliche medizinische Praxis.“ Porter, Die Kunst des Heilens, S. 527. 23. Die Ablehnung, die manche Gegner der Narkose entgegenbrachten, basierte auf der Vorstellung, dass man der Bibel widerspräche, wenn man dieses Verfahren beispielsweise bei Geburten anwendete. Laut der Bibel sollten Frauen ihre Kinder unter Schmerzen gebären. Die Gegner der Narkose meinten nun, sie würden damit Menschen etwas ersparen, das Gott ihnen absichtlich auferlegt hatte. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 59 f. 24. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 431 f. 25. Vgl. Porter, Die Kunst des Heilens, S. 436. 26. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 433. 27. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 66. 28.  Kein geringerer Denker als Rudolf Virchow lehnte die Erregertheorie der Krankheiten ab. Er bemerkte dazu einmal, dass er, wenn er sein Leben noch einmal leben könne, es dem Nachweis widmen würde, dass Erreger ihr natürliches Habitat, also erkranktes Gewebe, aufsuchen würden, statt die Ursache für eine Erkrankung des Gewebes zu sein.

Anmerkungen    287

29. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 79. 30. Das Zitat stammt von John Hughes Bennett, einem Chirurgen und Professor in Edinburgh. Er fährt fort mit den Worten: „Zeigen Sie sie uns, und wir werden daran glauben. Hat sie bisher schon irgendwer gesehen?“ Vgl. Porter, Die Kunst des Heilens, S. 375. 31. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 436. 32. Vgl. Porter, Die Kunst des Heilens, S. 446. 33. Vgl. Porter, Die Kunst des Heilens, S. 674. 34. Vgl. Bynum, Western Medical Tradition, S. 112. 35. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 525. 36. Vgl. Porter, Die Kunst des Heilens, S. 527. 37. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 527. 38. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 527. 39. Vgl. Thomas, Youngest Science, S. 28 und 35. 40. Vgl. James Gleick, Richard Feynman: Leben und Werk eines genialen Physikers, Droemer Knaur, München, 1993, S. 200. 41. Vgl. Paul Starr, The Social Transformation of American Medicine, Basic Books, New York, 1982. 42. Vgl. Starr, The Social Transformation of American Medicine, S. 39. 43. Vgl. Starr, The Social Transformation of American Medicine, S. 56. 44. Vgl. Starr, The Social Transformation of American Medicine, S. 57. 45. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 105. 46. „Was das Lizenzsystem vor allem zerstörte, war der Verdacht, es sei ein System der Bevorzugung und nicht Ausdruck der Kompetenz.“ Vgl. Starr, The Social Transformation of American Medicine, S. 58. Im Laufe der Zeit wurde diese Einstellung durch die wissenschaftlichen Entwicklungen abgelöst (vgl. S. 59). 47. Zwischen 1802 und 1876 (eine Spanne, die den erbitterten Widerstand gegen medizinische Gesellschaften der Jackson-Ära umfasste) wurden in den USA 62 kommerzielle Medizinschulen gegründet. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 530. 48. Vgl. Starr, The Social Transformation of American Medicine, S. 104. 49. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 124. 50. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 530. 51. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 119. 52. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 147 f. 53. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 530 f. 54. Vgl. Starr, The Social Transformation of American Medicine, S. 120 f. 55. Vgl. Rutkow, Seeking the Cure, S. 164. 56. Vgl. Bynum, Western Medical Tradition, S. 112. 57. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 456. 58. Vgl. Thomas, Youngest Science, S. 35. 59. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 455 f.

288     Anmerkungen

60. James Le Fanu bietet in The Rise and Fall of Modern Medicine (Carroll and Graf, New York, 1999) eine herausragende Darstellung dieser Geschichte, vgl. dort S. 5–15. Vgl. dazu ebenso Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 455 f. 61. Vgl. Le Fanu, The Rise and Fall of Modern Medicine, S. vii. 62. Vgl. Le Fanu, The Rise and Fall of Modern Medicine, S. 5. 63. Vgl. Le Fanu, The Rise and Fall of Modern Medicine, S. 160. 64. Vgl. Porter, Greatest Benefit to Mankind, S. 455. 65. Vgl. Le Fanu, The Rise and Fall of Modern Medicine, S. 201. 66. Vgl. Le Fanu, The Rise and Fall of Modern Medicine, S. 9. 67. Vgl. Le Fanu, The Rise and Fall of Modern Medicine, S. 10. 68. Vgl. Porter, Die Kunst des Heilens, S. 464.

8. Wissenschaft falsch gemacht: Betrug und andere Fehlschläge 1. Es gibt zwar verschiedene Definitionen, aber der bundesweite Standard für Fehlverhalten in der Forschung umfasst das absichtliche „Fingieren, Fälschen oder Plagiieren bei der Ankündigung, Durchführung oder Begutachtung von Forschungsarbeiten oder bei der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen“. Besonders wichtig ist hier die weitere Aussage: „Fehlverhalten in der Forschung umfasst nicht unbeabsichtigte Irrtümer oder Meinungsverschiedenheiten.“ Siehe dazu: https://www.aps.org/policy/statements/upload/federalpolicy.pdf. In ähnlicher Weise gehen die meisten Universitäten mit diesem Thema um. Eine ausführliche Beschreibung des Versuchs einer einzelnen Universität, eine eigene Definition in Einklang mit den bundesweiten Richtlinien zu entwickeln, bietet David Goodstein, On Fact and Fraud: Cautionary Tales from the Front Lines of Science, Princeton University Press, Princeton, 2010, S. 67. Von besonderer Bedeutung ist in Goodsteins Schilderung die schwierige Frage, wie hilfreich es tatsächlich ist, wenn eine Universität eine übermäßig breit gefächerte Definition unerlaubter Verhaltensweisen entwirft oder Betrug mit allen anderen Arten des Fehlverhaltens in der Forschung in einen Topf wirft. Das vollständige Regelwerk des Caltech findet sich in Goodstein, On Fact and Fraud, S. 136. 2. Siehe dazu den Text der Endnote 29, Kap. 2. 3. Man beachte, dass wir infolge dieser sehr präzisen logischen Definition nicht nur bestimmt haben, was Betrug ist, sondern auch was nicht Betrug ist. Wenn jemand nicht absichtlich Daten fingiert oder gefälscht hat, dann hat er nicht Betrug begangen, und wenn jemand nicht Betrug begangen hat, dann hat er nicht absichtlich Daten fingiert oder gefälscht. 4. Und natürlich folgt sie auch nicht aus Aussage (3). 5. In einigen besonderen Fällen könnte man wahrscheinlich argumentieren, dass p-Hacking Betrug darstellt – wenn beispielsweise eindeutig bekannt ist, dass es keine zugrunde liegende Korrelation gibt.

Anmerkungen    289

6.  Natürlich könnten wir die Definition anpassen, aber Goodsteins On Fact and Fraud lassen sich die Probleme entnehmen, die durch eine Aufnahme „fragwürdiger Forschungspraktiken“ in die Betrugsdefinition entstehen. 7. Auch hier gilt, dass manche Fälle in die Kategorie des Betrugs fallen können, je nachdem, wie die Einzelfallbewertung ausfällt (siehe dazu Trivers, „Fraud, Disclosure, and Degrees of Freedom in Science“, in: Psychology Today, 20. Mai 2012). Es bleibt auch die spannende Frage, ob sich derartige Verfahrensweisen zu einem Betrug entwickeln können. 8. Goodstein war Vize-Verwaltungsdirektor am Caltech und führte fast 20 Jahre lang die Aufsicht bei der Untersuchung aller Fälle von wissenschaftlichem Fehlverhalten. 9. Vgl. Goodstein, On Fact and Fraud, S. 2. 10. Interessant ist, dass Goodstein im weiteren Verlauf eine Definition des Begriffs „selbstkorrigierend“ liefert, die sich mit meiner Darstellung der wissenschaftlichen Grundhaltung deckt. Er legt dar, „selbstkorrigierend“ könne wohl kaum bedeuten, dass man von einzelnen Forschern verlangt, die Stichhaltigkeit ihrer eigenen Arbeit infrage zu stellen. Vielmehr sind damit Prozesse der empirischen Überprüfung gemeint, die von der „wissenschaftlichen Gemeinschaft als Ganzes“ umgesetzt werden. Vgl. Goodstein, On Fact and Fraud, S. 79. 11. „Unwahrheiten in den Korpus der Wissenschaft einzufügen, ist selten, wenn überhaupt jemals, die Absicht von Betrügern. Fast immer glauben sie, dass sie dem wissenschaftlichen Besitzstand eine Wahrheit hinzufügen … allerdings ohne den Aufwand zu betreiben, den die tatsächliche wissenschaftliche Methodik erfordert.“ Vgl. Goodstein, On Fact and Fraud, S. 2. 12. Obwohl sich einige Wissenschaftsphilosophen in letzter Zeit des Betrugsthemas angenommen haben, haben sich die meisten von ihnen noch nicht von der stereotypenhaften Sichtweise gelöst, dass sich jeder Betrug durch wissentliches Einfügen „von Unwahrheiten in den Informationsfluss der Wissenschaft“ auszeichnet. Vgl. Liam Bright, „On Fraud”, in: Philosophical Studies 174, Nr. 2, 2017, S. 291–310. 13.  Siehe dazu besonders Platon, Theaitetos, Abschn. 200d–201c, und Menon, Abschn. 86b–c. 14. In seinem Buch The Folly of Fools (Basic Books, New York, 2011) bietet Robert Trivers eine bewegende Darstellung des Begriffs „Selbsttäuschung“, in der er argumentiert, dass wir vielleicht deshalb lernen, uns selbst zu täuschen, weil wir dann eher in der Lage sind, andere zu täuschen. 15. Vgl. Platon, Menon, Abschn. 98b. 16. Vielleicht befürchten sie gerichtliche Verfahren oder die Rufschädigung der Universität, bei der der Betrüger angestellt war. Goodstein legt dar, dass eine der schwierigen Folgen dieses Vorgehens ist, dass die von Vorwürfen Entlasteten viel Medienaufmerksamkeit bekommen, während in den Fällen tatsächlichen Betrugs der Druck bedauerlicherweise hoch ist, die Vertraulichkeit zu wahren und die Schuldigen zu schützen (vgl. On Fact and Fraud, S. vii). (Wenn dem

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so ist, muss man sich fragen, ob dieses Vorgehen nicht den Geist der Wissenschaftlichkeit verletzt und es erschwert, die Grenze zwischen Fehlern und Fehlverhalten zu ziehen). Goodstein merkt jedoch an, dass in einem Fall die Stanford University sich vor dem Abschluss einer Untersuchung verpflichtete, die Ergebnisse öffentlich zu machen. Vgl. On Fact and Fraud, S. 99. 17. In einem hervorstechenden Beispiel wurde der an der Iowa State University tätige Wissenschaftler Dong-Pyou Han zu einer Gefängnisstrafe von mehr als vier Jahren verurteilt, weil er seine Arbeiten in der AIDS-Forschung gefälscht hatte. Siehe dazu Tony Leys, „Ex-Scientist sentenced to Prison for Academic Fraud“, in: USA Today, 1. Juli 2015, https://www.usatoday.com/story/news/ nation/2015/07/01/ex-scientist-sentenced-prison-academic-fraud/29596271/. In einem anderen Fall wurde der südkoreanische Wissenschaftler Hwang ­Woo-suk für gefälschte Arbeiten zur Stammzellenforschung verurteilt. Vgl. Choe Sang-Hun, „Disgraced Cloning Expert Convicted in South Korea“, in: New York Times, 26. Oktober 2009, https://www.nytimes.com/2009/10/27/world/ asia/27clone.html. 18. Obwohl so etwas vorkommen kann. Ein Beispiel dafür ist der Fall Thereza Imanishi-Kari, der von der Bundesregierung untersucht wurde. Imanishi-Kari wurde beschuldigt, Labordaten gefälscht zu haben, doch die Anschuldigungen erwiesen sich als unhaltbar und sie wurde entlastet. Vgl. „The Fraud Case That Evaporated“, in: New York Times (Opinion), 25. Juni 1996, https://www. nytimes.com/1996/06/25/opinion/the-fraud-case-that-evaporated.html. 19.  Vgl. Carolyn Y. Johnson, „Ex-Harvard Scientist Fabricated, Manipulated Data, Report Says“, in: Boston Globe, 5. September 2012, https://www. bostonglobe.com/news/science/2012/09/05/harvard-professor-whoresigned-fabricated-manipulated-data-says/6gDVkzPNxv1ZDkh4w VnKhO/story.html. 20. Vgl. Goodstein, On Fact and Fraud, S. 65. 21. Vgl. Goodstein, On Fact and Fraud, S. 60 f. 22.  Siehe auch hierzu noch einmal Trivers Arbeit zur möglichen Verbindung zwischen Täuschung und Selbsttäuschung. 23. Vgl. Park, Voodoo Science: The Road from Foolishness to Fraud, Oxford University Press, Oxford, 2000, S. 10. 24. Vgl. Goodstein, On Fact and Fraud, S. 129. 25. Vgl. Goodstein, On Fact and Fraud, S. 70. 26. Gibt es eine mögliche Verbindung zwischen Betrug und Pseudowissenschaft? Ist es Selbsttäuschung, was wir an Pseudowissenschaftlern verdammen? Siehe hierzu den Text der Endnote 53 zu Kap. 5, in dem ich argumentiere, dass der Unterschied zwischen von Wissenschaftlern praktizierten Verfahren und denen von Pseudowissenschaftlern nur gradueller Natur ist. 27. Natürlich hängt dies wohl auch von den Gründen für die inkorrekte Datensicherung ab. Die eigenen originalen Datensätze zu löschen, fällt eindeutig in

Anmerkungen    291

den Bereich der schlechten Praxis. Wenn die Löschung aber erfolgt, um im Fall einer Untersuchung von Unregelmäßigkeiten Hinweise zu vertuschen, kann sie als Betrug eingestuft werden. 28. Vgl. Goodstein, On Fact and Fraud, S. xxiii–xiv. 29.  Manche mögen jedoch einwenden, dass eine solche Auseinandersetzung mit der Frage der „Absicht“ einen gegenteiligen Effekt haben und die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Wissenschaft noch weiter erschweren könne. Doch tun wir dies nicht schon bei Fällen von Betrug? Manchmal ist es notwendig, Absicht aus der Handlung abzuleiten, doch dies darf nicht dazu führen, dass man sich auf stellvertretende Handlungen wie die Rücknahme von Artikeln konzentriert. 30. Vgl. Seth Mnookin, The Panic Virus: The True Story Behind the ­Vaccine-Autism Controversy, Simon and Schuster, New York, 2011, S. 109. 31. Vgl. Michael Specter, Denialism, Penguin, New York, 2009, S. 71. 32. Vgl. Mnookin, Panic Virus, S. 236. 33. Vgl. Mnookin, Panic Virus, S. 305. 34. Vgl. Mnookin, Panic Virus, S. 19. 35. Manche versuchten aber auch dem entgegenzuwirken wie Jennifer Steinhauser, „Rising Public Health Risk Seen as More Parents Reject Vaccines“, in: New York Times, 21. März 2008. 36. Vgl. Brian Deer, „How the Case against the MMR Vaccine Was Fixed“, in: British Medical Journal 342, 2011, c5347. 37. Vgl. Deer, „How the Case against the MMR Vaccine Was Fixed“, c5347. 38. Vgl. Fiona Godlee et al., „Wakefield Article Linking MMR Vaccine and Autism Was Fraudulent“, in: British Medical Journal 342, 2011, c7452. 39. Vgl. Godlee et al., „Wakefield Article“, S. 2. 40. Vgl. D. K. Flaherty, „The Vaccine-Autism Connection: A Public Health Crisis Caused by Unethical Medical Practices and Fraudulent Science“, in: Annals of Pharmacotherapy 45, Nr. 10, 2011, S. 1302 ff. 41. Mark Berman, „More Than 100 Confirmed Cases of Measles in the U.S., CDC Says“, in: Washington Post, 2. Februar 2015. 42. Alle Koautoren behaupteten, keine Kenntnis des schwerwiegenden Interessenkonflikts oder der Datenmanipulation durch Wakefield gehabt zu haben, obwohl zwei von ihnen später eine Untersuchung durch den britischen General Medical Council über sich ergehen lassen mussten und einer von ihnen des Fehlverhaltens überführt wurde. 43. Die Konsequenzen werden noch verschärft durch die fortwährende Berichterstattung über Wakefields eindeutig widerlegte Hypothese, auch durch prominente Persönlichkeiten wie Robert F. Kennedy jr., Thimerosal: Let the Science Speak: The Evidence Supporting the Immediate Removal of Mercury – a Known Neurotoxin – from Vaccines (Skyhorse Publishing, New York, 2015), und den Schauspieler Robert De Niro, der sich 2016 zunächst dazu entschied,

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den Film Vaxxed: From Cover-Up to Conspiracy beim Tribeca Film Festival zu zeigen (und ihn dann wieder aus dem Programm nahm). De Niro sagte später, er bereue es, den Film aus dem Programm genommen zu haben. 44.  Vgl. Michael D. Lemonick, „When Scientists Screw Up“, in: Science, 15. Oktober 2002.

9. Wissenschaft auf Abwegen: Leugner, Pseudowissenschaftler und andere Scharlatane 1.  Manche mögen den Begriff „denier“ der Bezeichnung „denialist“ im Fall bestimmter Vorstellungen vorziehen (z. B. „vaccine denier“, Impfleugner), aber das Phänomen als solches wird als „denialism“ (Leugnung) bezeichnet. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass es eindeutiger ist, Menschen mit diesem Verhalten als „denialists“ zu bezeichnen. Spätestens seit Michael Specters Denialism: How Irrational Thinking Hinders Scientific Progress, Harms the Planet, and Threatens Our Lives (Penguin, New York, 2009) ist diese Bezeichnung allgemein akzeptiert. (Beide Begriffe lassen sich mit „Leugner“ übersetzen). 2. Ich werde auf Beispiele hierzu im weiteren Verlauf dieses Kapitels eingehen. 3. Und es kann zu großem Schaden und Leiden führen. Die ­AIDS-Leugnung ist ein besonders schädliches, wenn auch leider wesentlich seltener diskutiertes Beispiel. Zwischen den Jahren 2000 und 2004 basierte Präsident Thabo Mbekis Regierungspolitik der Ablehnung antiretroviraler Medikamente auf der Arbeit des wissenschaftlichen Außenseiters Peter Duesberg von der Universität Berkeley in Kalifornien. Diese Politik kostete nach Einschätzung von Forschern der Harvard University 300.000 Menschen in Südafrika unnötigerweise das Leben. Siehe dazu: Sarah Boseley, „Mbeki AIDS Denial ‚Caused 300,000 Deaths‘“, in: Guardian, 26. November 2008, https://www.theguardian.com/ world/2008/nov/26/aids-south-africa. 4.  Vgl. dazu „Public Praises Science; Scientists Fault Public, Media“, Pew Research Center, U.S. Politics & Policy, 9. Juli 2009, https://www.people-press. org/2009/07/09/public-praises-science-scientists-fault-public-media/; Cary Funk und Brian Kennedy, „Public Confidence in Scientists Has Remained Stable for Decades“, Pew Research Center, 6. April 2017, https://www. pewresearch.org/fact-tank/2017/04/06/public-confidence-in-scientists-hasremained-stable-for-decades/; The National Science Foundation, „Science and Engineering Indicators 2014“, https://www.nsf.gov/statistics/seind14/index. cfm/chapter-7/c7h.htm. 5. Siehe dazu Solomon Aschs experimentelle Arbeit zur sozialen Konformität aus den 1950er Jahren („Opinions and Social Pressure“, in: Scientific American 193, Nr. 5, November 1955, S. 31–35), die zeigt, dass nicht nur Zustimmung Überzeugungen zementiert, sondern auch dass die Dissonanz mit Mitgliedern der

Anmerkungen    293

eigenen Gruppe Probanden dazu veranlassen kann, ihre Überzeugungen zur Unwahrheit hin zu verändern. 6.  Vgl. Lee McIntyre, Respecting Truth: Willful Ignorance in the Internet Age, Routledge, New York, 2015. 7.  Vgl. Noretta Koertge, „Belief Buddies versus Critical Communities“, in: Massimo Pigliucci und Maarten Boudry (Hrsg.), The Philosophy of Pseudoscience: Reconsidering the Demarcation Problem, University of Chicago Press, Chicago, 2013, S. 169. 8. Vgl. Carl Sagan, The Demon-Haunted World: Science as a Candle in the Dark, Ballantine Books, New York, 1996 (deutsche Ausgabe: Der Drache in meiner Garage: Die Kunst der Wissenschaft, Unsinn zu entlarven, Knaur, München, 2000). 9. Vgl. Sagan, Demon-Haunted World, S. 304. Siehe auch seine Darstellung auf S. 31 und S. 305 f. 10. Vgl. Sagan, Demon-Haunted World, S. 305. 11. Vgl. Sagan, Demon-Haunted World, S. 305. 12. Vgl. Sagan, Demon-Haunted World, S. 13 und S. 100. 13. Sagan führt in seinem Buch über 70 verschiedene Beispiele für Pseudowissenschaften auf: Vgl. Demon-Haunted World, S. 221 f. 14. Vgl. Sagan, Demon-Haunted World, S. 187. „Aufgeschlossenheit, Offenheit ist eine Tugend, aber man möge doch nicht so offen sein, dass einem das Gehirn herausfällt.“ (Hier zitiert nach: Kurt Andersen, Fantasyland: 500 Jahre Realitätsverlust – Die Geschichte Amerikas neu erzählt, Goldmann, München, 2018, S. 633) 15. Man muss es Sagan zugutehalten, dass er drei Hypothesen des Gebietes der Forschung zur außersinnlichen Wahrnehmung nennt, die es sich seiner Ansicht nach zu untersuchen lohnen würde (vgl. Sagan, ­ Demon-Haunted World, S. 302). Eine dieser Hypothesen – die Behauptung, dass man per Gedankenkraft einen Zufallszahlengenerator beeinflussen kann – werde ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels näher beleuchten. Man sollte jedoch daraus nicht schließen, Sagan sei leicht zu beeinflussen, denn er vertritt auch Laplaces Auffassung: „Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Belege.“ 16. Siehe dazu https://www.csicop.org/about/csicop. 17.  Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich näher darauf eingehen, in welchem Sinne Wissenschaftler skeptisch sind, Leugner jedoch nicht. Man könnte vielleicht besser sagen, Leugner seien „selektiv“, aber das Kriterium für Selektivität bei der Leugnung (bei dem die Rosinen aus den Daten gepickt werden, um eine Übereinstimmung mit der bevorzugten Ideologie zu erreichen) ist, wie wir noch sehen werden, wissenschaftlich unzulässig. 18. Vgl. Sagan, Demon-Haunted World, S. 304. 19. Hier gehe ich offensichtlich über Sagans eigentliche Aussage hinaus – da er sich nicht mit dem Phänomen der Leugnung auseinandersetzt –, halte es aber

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dennoch für nützlich, seine Matrix als Werkzeug bei der Betrachtung der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Leugnung und Pseudowissenschaft zu verwenden. 20.  Man beachte hier den Unterschied zwischen Andrew Wakefield selbst, der fälschlicherweise behauptete, Impfungen würden Autismus auslösen, und den Impfleugnern, die weiterhin von seinen Falschbehauptungen überzeugt sind, obwohl sein Betrug inzwischen eindeutig belegt ist. 21. Sie haben natürlich Überzeugungen, nur sind es keine wissenschaftlichen Überzeugungen, sondern ideologische. Daher ist der Standard, den Leugner an ihre anderen Überzeugungen anlegen, von Bedeutung. 22. Das mag seltsam erscheinen. Wenn ihre Überzeugungen ideologischer Natur sind, warum meinen sie dann, Belege zu benötigen? Weil sie nicht bereit sind zuzugeben, dass ihre Überzeugungen ideologisch geprägt sind. Doch dadurch verfangen sie sich in Doppelmoral, denn wenn wir einmal anfangen, empirische Belege zu diskutieren, wie lange können sie dann bei der Behauptung bleiben, ihre eigenen Ansichten seien stärker untermauert als die der Wissenschaft? Das erscheint völlig realitätsfern. Wenn ein Leugner darauf besteht, dass wir seine Belege widerlegen müssen, während er gleichzeitig unsere Belege ablehnt, ist eine echte Diskussion nicht mehr möglich. 23. Es wäre vielleicht nützlich, den wissenschaftlichen Skeptizismus mit dem von Robert Merton als „organisiertem Skeptizismus“ bezeichneten Konzept zu vergleichen. Siehe hierzu Robert Merton, „The Normative Structure of Science“ (1942), nachgedruckt als Kap. 13 in: Robert Merton (Hrsg.) The Sociology of Science, University of Chicago Press, Chicago, 1973. 24.  Obwohl es mit der „experimentellen Philosophie“ eine neu aufkeimende Bewegung gibt. 25.  Eine solche Aussage mag den String-Theoretikern unangenehm nahegehen, aber sie würden es sicherlich schätzen, ihre Theorien überprüfen zu können, wenn diese Möglichkeit auch derzeit nicht besteht. 26.  In meinem Artikel „The Price of Denialism“, in: New York Times, 11. November 2015, https://opinionator.blogs.nytimes.com/2015/11/07/the-rulesof-denialism/ gehe ich hierauf näher ein. 27. In einer provokanten Studie zeigten Brendan Nyhan und Jason Reifler, dass eine Konfrontation von Probanden mit vorgefassten Überzeugungen mit Belegen, die diese Überzeugungen widerlegten, einen „Backfire-Effekt“ auslösen konnte. Vgl. Brendan Nyhan und Jason Reifler, „When Corrections Fail: The Persistence of Political Misperceptions“, in: Political Behavior 22, Nr. 2, 2010, S. 303–330, https://www.dartmouth.edu/~nyhan/nyhan-reifler.pdf. Eine frühere wegbereitende Studie findet sich unter Charles G. Lord, Lee Ross und Mark R. Lepper, „Biased Assimilation and Attitude Polarization: The Effects of Prior Theories on Subsequently Considered Evidence“, in: Journal of Personality and Social Psychology 37, Nr. 11, Nov. 1979, S. 2098–2109, https://dx.doi. org/10.1037/0022-3514.37.11.2098.

Anmerkungen    295

28. Sagan hat sie natürlich nicht als solche intendiert, aber sie erscheint als eine konsistente Weiterführung seiner Ansichten. Meiner Überzeugung nach ist die Matrix ebenfalls nicht korrekt in ihrer Darstellung von Pseudowissenschaftlern als offen für neue Erkenntnisse. Das soll im weiteren Verlauf noch näher ausgeführt werden. 29. Beispielsweise behauptete Präsident Mbekis Gesundheitsminister, man könne AIDS mit Knoblauch und Zitronensaft heilen. Siehe dazu Celia W. Dugger, „Study Cites Toll of AIDS Policy in South Africa“, in: New York Times, 25. November 2008, https://www.nytimes.com/2008/11/26/world/africa/26aids. html. 30. Vgl. Massimo Pigliucci, Nonsense on Stilts: How to Tell Science from Bunk, University of Chicago Press, Chicago, 2010, S. 137. 31. In einer Literaturanalyse, die 2004 in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde, stellte die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes fest, dass von 928 begutachteten wissenschaftlichen Aufsätzen zum globalen Klimawandel, die zwischen 1993 und 2003 veröffentlicht worden waren, kein einziger der Auffassung widersprach, dass ein menschengemachter Klimawandel real ist. Eine Nachfolgeanalyse aus dem Jahr 2012 ergab, dass von 13.950 zwischen 1991 und 2012 erschienenen peer-reviewten Artikeln nur 0,17 % die globale Erwärmung negierten. Eine Darstellung der wissenschaftlichen Beleglage findet sich auf den Internetseiten https://climate.nasa.gov/evidence/ und https://www.ucsusa.org/ our-work/global-warming/science-and-impacts/global-warming-science#.VbeXvkrK1s. 32. Vgl. Naomi Oreskes und Erik Conway, Merchants of Doubt, Bloomsbury, New York, 2010 (deutsche Ausgabe: Die Machiavellis der Wissenschaft: Das Netzwerk des Leugnens, Wiley–VCH Verlag, Weinheim, 2014). 33. Vgl. Respecting Truth, S. 72–80. 34. Zum Beispiel Senator James Inhofe, Senator Rick Santorum und Präsident Donald Trump. 35. Vgl. Rebecca Kaplan und Ellen Uchimiya, „Where the 2016 Republican Candidates Stand on Climate Change“, CBSNews.com, 1. September 2015, https://www. cbsnews.com/news/where-the-2016-republican-candidates-stand-on-climatechange/. 36. Vgl. Thomas R. Karl et al., „Possible Artifacts of Data Biases in the Recent Global Surface Warming Hiatus“, in: Science, 26. Juni 2015, https://science. sciencemag.org/content/348/6242/1469.full. 37. Vgl. „Scientific Evidence Doesn’t Support Global Warming, Sen. Ted Cruz Says“, NPR, 9. Dezember 2015, https://www.npr.org/2015/12/09/459026242/ scientific-evidence-doesn-t-support-global-warming-sen-ted-cruz-says. 38. Vgl. Justin Gillis, „Global Warming ‚Hiatus‘ Challenged by NOAA Research“, in: New York Times, 4. Juni 2015, https://www.nytimes.com/2015/06/05/ science/noaa-research-presents-evidence-against-a-global-warming-hiatus.html.

296     Anmerkungen

39. Vgl. Michele Berger, „Climate Change Not on Hiatus, New Research Shows“, Weather.com, 4. Juni 2015, https://weather.com/science/environment/news/ no-climate-change-hiatus-noaa-says. 40.  Die unkorrigierte Kurve findet sich auf der Seite https://scienceblogs.com/ significantfigures/files/2013/04/updated-global-temperature.png, die korrigierte Kurve auf https://cdn.arstechnica.net/wp-content/uploads/2015/06/noaa_karl_ etal-640x486.jpg. 41. Die Associated Press verhielt sich wenig hilfreich, indem sie dazu überging, Klimawandelleugner nicht mehr als „Leugner“ oder „Skeptiker“ zu bezeichnen und stattdessen die Bezeichnung „Zweifler“ zu verwenden. Einerseits hatte es wohl Beschwerden gegeben, weil der Begriff „Leugner“ zu stark mit dem der „Holocaustleugner“ assoziiert wurde, auf der anderen Seite gab es Stimmen, die meinten, der Begriff „Skeptiker“ könne mit dem wissenschaftlichen Skeptizismus in Verbindung gebracht werden. Der Kompromiss, den man wählte, erweckt natürlich den Eindruck, es gäbe noch einen „Anlass zum Zweifeln“ hinsichtlich der Realität des Klimawandels. Passender ist der Begriff „Skeptiker“ in diesem Zusammenhang allerdings auch nicht. Vgl. Puneet Kollipara, „At Associated Press, No More Climate Skeptics or Deniers“, Sciencemag.org, 23. September 2015, https://www.sciencemag.org/news/2015/09/associated-pressno-more-climate-skeptics-or-deniers. 42. Ja, es gibt sie noch, und sie betreiben eine großartige Internetseite. Man fragt sich allerdings, ob sie glauben, dass Satelliten für ihre Seitenbesuche eine Rolle spielen, denn was sollten diese Satelliten umkreisen? Vgl. https://www. theflatearthsociety.org/home/index.php. 43. Vgl. McIntyre, Respecting Truth, S. 73. Eine interessante Nachfolgestudie ergab aber, dass fast alle der widersprechenden Artikel zum Klimawandel methodologische Fehler aufwiesen. Rasmus E. Benestad, Dana Nuccitelli, Stephan Lewandowsky et al., „Learning from Mistakes in Climate Research“, in: Theoretical and Applied Climatology 126, Nr. 3–4, 2016, S. 699, https://doi. org/10.1007/s00704-015-1597-5. 44. Vgl. Pew Research Poll, zitiert in: https://ncse.com/blog/2013/08/how-manycreationists-science-0014996. 45.  Thomas Kuhn erklärt diesen Prozess sehr anschaulich in seiner Arbeit Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Berlin, 1996. 46. Siehe dazu Koertge, „Belief Buddies versus Critical Communities“. 47. Vgl. Philip Bump, „Ted Cruz Compares Climate Change Activists to ‚FlatEarthers‘: Where to Begin?“, in: Washington Post, 25. März 2015, https://www. washingtonpost.com/news/the-fix/wp/2015/03/25/ted-cruz-compares-climatechange-activists-to-flat-earthers-where-to-begin/. Eigentlich wandte sich Galilei aber gegen den Geozentrismus. Nicht alle Anhänger des Geozentrismus glaubten an eine flache Erde. 48. Vgl. John Soennichsen, Bretz’s Flood: The Remarkable Story of a Rebel Geologist and the World’s Greatest Flood, Sasquatch Books, Seattle, 2008, S. 126.

Anmerkungen    297

49. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 131. 50. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 133. 51. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 143 f. 52.  Viele würden zweifellos auch einen Vergleich zwischen Bretz und seinem Zeitgenossen und Fachkollegen Alfred Wegener ziehen, dessen Theorie der Kontinentalverschiebung auf großen Spott und starke Ablehnung stieß. Wegener wurde erst viele Jahre nach seinem Tod von der Fachwelt rehabilitiert. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 165 ff. 53. Die meisten der stärksten Kritiker hatten im Gegensatz zu Bretz die Scablands nie selbst besucht. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 201. Das erinnert an die erbitterten Gegner Galileis, die sich weigerten, selbst durch das Teleskop zu blicken. 54. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 160. 55. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 191 und 207. 56. Vgl. https://magazine.uchicago.edu/0912/features/legacy.shtml. 57. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 144. 58. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 226. Manchmal läuft der wissenschaftliche Prozess so ab. Siehe dazu Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 59. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 228. 60. Vgl. Soennichsen, Bretz’s Flood, S. 231. 61. Zum Beispiel https://www.godsaidmansaid.com/printtopic.asp?ItemId= 1354. 62. Das bedeutet nicht, dass Bretz den Aktualismus im Allgemeinen untergrub. Die meisten geologischen Merkmale können tatsächlich durch graduelle Veränderungen über enorme Zeitspannen hinweg erklärt werden. Aber er zeigt auf, dass es Ausnahmen gab und dieses Erklärungsmodell nicht auf alle geologischen Phänomene anwendbar war, besonders nicht auf die geologische Beschaffenheit der Scablands. 63. Hier kommt der entscheidende Punkt meines bereits erwähnten Widerspruchs gegen Pigliuccis Aussage zum Tragen, nach der Wissenschaft das sei, was Wissenschaftler tun. Denn wie geht man dann damit um, wenn sie sich so verhalten wie Bretz’ Gegner? 64. Wichtig ist hier beispielsweise Stephen Jay Goulds Theorie des Punktualismus, die zwar wissenschaftlich kontrovers ist, aber dennoch die Möglichkeit eines nichttheistischen Erklärungsmodells für plötzliche Veränderungen natürlicher Abläufe aufzeigt. Vgl. https://www.pbs.org/wgbh/evolution/ library/03/5/l_035_01.html. 65. Ein weiteres Beispiel mag man in einigen der Fehler sehen, die Stephan Jay Goulds Arbeit zum wissenschaftlichen Rassismus aufwies. Siehe dazu Robert Trivers wütende Antwort auf Gould, den er fast des Betrugs zum Zwecke der Verbreitung seiner politischen Agenda bezichtigte. Vgl. Robert Trivers, „Fraud in the Imputation of Fraud: The Mis-Measure of Stephen Jay Gould“, in:

298     Anmerkungen

Psychology Today, 4. Oktober 2012, https://www.psychologytoday.com/blog/ the-folly-fools/201210/fraud-in-the-imputation-fraud. 66. Es stimmt zwar, dass andere Faktoren wie Widerspruchsfreiheit, Aussagekraft, Reichweite, Fruchtbarkeit und ähnliche Überlegungen manchmal eine Rolle bei der Theoriewahl in der Wissenschaft spielen können, doch kommen sie im Idealfall in einem Kontext zum Tragen, in dem mehr als eine Theorie mit der Beleglage übereinstimmt und eine Entscheidung getroffen werden muss. Eine ausführliche Diskussion der Vorstellung, dass „soziale Faktoren“ manchmal entscheidend für die Theoriewahl sein können, findet sich in Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Doch selbst Kuhn ist der Auffassung, dass eine Theorie, die nicht mit den verfügbaren empirischen Belegen in Einklang steht, nicht durch die Einbeziehung anderer Faktoren gerettet werden kann. 67. Es ist nicht leicht, exakte Zahlen zu finden, aber diese Einschätzung stammt von Paul Kurtz, einem bekannten amerikanischen Philosophen und Skeptiker, aus einer 1985 veröffentlichten Studie zur astrologischen Industrie. Vgl. Brian Lehrer, „Born Under a Dollar Sign Astrology is Big Business, Even If It Is All Taurus“, in: Orlando Sentinel, 10. November 1985, https://articles. orlandosentinel.com/1985-11–10/news/0340290056_1_astrology-columns-unsign-astrology-scientific-fact. 68. Vgl. „34 Billion Spent Yearly on Alternative Medicine“, NBCNews.com, 30. Juli 2009, https://www.nbcnews.com/id/32219873/ns/health-alternative_ medicine/t/billion-spent-yearly-alternative-medicine/#.V-bqYPkrK1t. 69.  Ob man Pseudowissenschaft als „fake“ (Fälschung) oder „fraud“ (Betrug) bezeichnet, mag vielleicht kein großer Unterschied sein, aber ich bezeichne Menschen, die eine wissenschaftliche Grundhaltung einnehmen und dann gegen sie verstoßen, als Betrüger, während Personen, die eine wissenschaftliche Grundhaltung nur vortäuschen, indem sie vorgeben, wissenschaftlich zu arbeiten, „fakes“ (Schwindler) sind. 70. Mein liebstes Beispiel in diesem Zusammenhang (ich verdanke es Carl Sagan) ist die Frage, warum ein spiritistisches Medium, das behauptet, mit dem Geist von Fermat in Kontakt zu stehen, ihn niemals nach den Details seines fehlenden Beweises befragt. 71.  Wer sich für diese Bemühungen interessiert, findet im Skeptical Inquirer Informationen dazu, der unter CSIOP veröffentlicht wird: https://www.csicop. org/si. Sagans Arbeit hierzu ist meisterhaft. Siehe besonders sein Kapitel „The Fine Art of Baloney Detection“, in: Demon-Haunted World, S. 203–218. 72. Vgl. Michael Ruse, But Is It Science? The Philosophical Question in the Creation/ Evolution Controversy, Prometheus Books, Amherst, NY, 1996; Pigliucci, Nonsense on Stilts, S. 160–186; Lee McIntyre, Dark Ages: The Case for a Science of Human Behavior, MIT Press, Cambridge, MA, 2006, S. 85–92; McIntyre, Respecting Truth, S. 64–71. 73. Im Gegensatz zu dem verbreiteten Märchen von einem „moralischen Sieg“ vor Gericht (der als Theaterstück und Film Inherit the Wind umgesetzt wurde),

Anmerkungen    299

blieb das Antievolutionsgesetz in Tennessee bestehen, bis es 1967 aufgehoben wurde. 74. Vgl. Ruse, But Is It Science?, S. 320. 75. Vgl. McIntyre, Respecting Truth, S. 67 f. 76. Vgl. https://www.nytimes.com/2001/04/08/us/darwin-vs-design-evolutionistsnew-battle.html. Den Verfechtern des Intelligent Design wäre wohl eher geholfen gewesen, wenn nicht einer ihrer zentralen Texte eine wortgetreue Wiedergabe eines früheren kreationistischen Textes gewesen wäre, in dem man nur das Wort „creationist“ entfernt und durch den Begriff „design proponent“ (Design-Befürworter) ersetzt hatte. Nur an einer Stelle hatte man etwas unsauber gearbeitet und es war von „cdesign proponentists“ die Rede. 77. Vgl. https://ncse.com/library-resource/discovery-institutes-model-academicfreedom-statute. 78. Vgl. McIntyre, Respecting Truth, S. 69. 79.  In der Tat hat Nicholas Matzke in einem absolut brillanten Aufsatz eine phylogenetische Analyse der familiären Beziehungen zwischen allen diesen Gesetzestexten angefertigt und dabei ein zentrales ­Werkzeug der Evolution zur Untersuchung der Antievolutionsgesetzgebung genutzt. Vgl. Nicholas Matzke, „The Evolution of Antievolution Policies after Kitzmiller v. Dover“, in: Science 351, Nr.  6268, 1. Januar 2016, S.  28–30, https://science.sciencemag.org/ content/early/2015/12/16/science.aad4057. 80.  Vgl. Laura Moser, „Another Year, Another Anti-Evolution Bill in Oklahoma“, in: Slate, 25. Januar 2016, https://www.slate.com/blogs/ schooled/2016/01/25/oklahoma_evolution_controversy_two_new_bills_ present_alternatives_to_evolution.html. 81. Vgl. John Timmer, „This Year’s First Batch of Anti-Science Education Bills Surface in Oklahoma“, in: Ars Technica, 24. Januar 2016, https://arstechnica. com/science/2016/01/this-years-first-batch-of-anti-science-education-billssurface-in-oklahoma/. 82. Vgl. https://ncse.com/creationism/general/chronology-academic-freedom-bills. 83. Vgl. Lee McIntyre, „The Attack on Truth“, in: Chronicle of Higher Education, 8. Juni 2015, https://www.chronicle.com/article/The-Attack-on-Truth/230631. 84. Vgl. https://www.evolutionnews.org/2015/06/willful_ignoran096781.html. 85. „Nach dem Kitzmiller-Prozess behaupteten sogar die Vertreter des Discovery Institute, der Heimat des ID, sie hätten nie gefordert, dass man die ID-Theorie an öffentlichen Schulen unterrichten solle (inkorrekt). Stattdessen setzten sie sich sehr für die ‚Academic Freedom Acts‘ (AFAs) ein – Gesetzesentwürfe, die darauf abzielten, Lehrer zur Verbreitung des Antievolutionismus aufzufordern.“ Vgl. Matzke, „Evolution of Antievolution Policies“, S. 1. 86. Die klassische Quelle hierzu ist Michael Ruse, But Is It Science? Siehe dazu aber auch Massimo Pigliucci, Denying Evolution: Creationism, Scientism, and the Nature of Science, Sinauer Associates, Sunderland, MA, 2002; Donald Prothero, Evolution: What the Fossils Say and Why It Matters, Columbia University Press,

300     Anmerkungen

New York, 2007; Sahotra Sarkar, Doubting Darwin? Creationist Designs on Evolution, Wiley-Blackwell, New York, 2007. 87.  Die Urteilsbegründung im Kitzmiller-Prozess ist faszinierender Lesestoff. Man findet sie unter https://ncse.com/files/pub/legal/kitzmiller/highlights/2005-12-20_Kitzmiller_decision.pdf. Im Anklang an Richter Overtons Urteil im Verfahren „McLean gegen Arkansas“ aus dem Jahr 1981 legte Richter Jones dar, dass, wenn es grundsätzlich unmöglich wäre, eine Theorie durch empirische Daten zu widerlegen, diese Theorie nicht wissenschaftlich sei. Ein vollständiges Transkript der Urteilsbegründung im McLean-Prozess findet man in Ruse, But Is It Science? 88. Vgl. Ruse, But Is It Science? Siehe auch Pigliucci, Denying Evolution; Prothero, Evolution und Sarkar, Doubting Darwin? 89. Vgl. Bobby Henderson, The Gospel of the Flying Spaghetti Monster, Villard Books, New York, 2006. 90. Eine ID-Theoretikerin oder ein ID-Theoretiker mag sich beschweren, es sei nicht fair, ihre oder seine Theorie mit dem Phlogiston zu vergleichen, weil die Existenz des letzteren widerlegt sei. Das Problem ist aber, dass die ID-Theorie nicht falsifiziert ist. Damit bietet sie gar keine Möglichkeit, widerlegt zu werden. 91. Vgl. https://skepdic.com/pear.html. 92. Vgl. Pigliucci, Nonsense on Stilts, S. 78. 93. Vgl. Pigliucci, Nonsense on Stilts, S. 77–80. Auf Seite 78 bemerkt Pigliucci, was das PEAR betrieben habe, sei keine Pseudowissenschaft gewesen, sondern schlicht falsch. 94. Manche mögen der Ansicht sein, dass der zentrale Beleg dafür, dass die Zufallszahlengeneratoren nicht wirklich zufällige Zahlen ausgaben, der Effekt selbst sei. Das wirft natürlich Fragen zur Forschung an sich auf und wir müssen uns bemühen, solche Mängel zu vermeiden. 95. Vgl. Robert Park, Voodoo Science: The Road from Foolishness to Fraud, Oxford University Press, Oxford, 2000. 96. Vgl. https://www.csicop.org/si/show/pear_lab_closes_ending_decades_of_ psychic_research. 97. Vgl. Benedict Carey, „A Princeton Lab on ESP Plans to Close Its Doors“, in: New York Times, 10. Februar 2007. 98. Vgl. https://skepdic.com/pear.html. 99. Vgl. Carey, „A Princeton Lab“.

10. Die wissenschaftliche Grundhaltung und die Sozialwissenschaften 1. Das liegt zumindest in Teilen an dem Problem der reflexiven Vorhersage, nach der ein Proband eine Vorhersage des eigenen Verhaltens einbezieht, was sich

Anmerkungen    301

wiederum in seinen Handlungen niederschlägt. Es ist zu beachten, dass aus diesem Phänomen nicht unbedingt folgt, dass menschliches Handeln sowohl auf der Ebene des Einzelnen auch der der Gruppe unvorhersehbar wäre. Aber es sorgt dafür, dass man kein k­ ontrafaktisches Experiment durchführen kann, um herauszufinden, wie sich der Proband ohne die jeweiligen Informationen verhalten hätte. 2. Vgl. Lee McIntyre, Laws and Explanation in the Social Sciences: Defending a Science of Human Behavior, Westview Press, Boulder, 1996; Lee McIntyre, Dark Ages: The Case for a Science of Human Behavior, MIT Press, Cambridge, MA, 2006. 3. Natürlich kann die Einstellung die Methodik beeinflussen (wie ich in Dark Ages, S. 20, anerkenne), doch möchte ich hier eher die Bedeutung der Dynamik hervorheben. 4. Vgl. McIntyre, Dark Ages, S. 93. 5.  Vgl. Karl Popper, „Prediction and Prophecy in the Social Sciences“, in: Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge, Harper Torchbooks, New York, 1965, S. 336–346. 6. Vgl. McIntyre, Dark Ages, S. 123, Fußnote 4. 7.  Vgl. Lee McIntyre, Respecting Truth: Willful Ignorance in the Internet Age, Routledge, New York, 2015, S. 37. 8. Siehe dazu Steven Yoder, „Life on the List“, in: American Prospect, 4. April 2011, https://prospect.org/article/life-list. 9. Vgl. McIntyre, Dark Ages, S. 63–68. 10.  Vgl. Robert Trivers, „Fraud, Disclosure, and Degrees of Freedom in Science“, in: Psychology Today, Blog-Eintrag vom 10. Mai 2012, https://www. psychologytoday.com/blog/the-folly-fools/201205/fraud-disclosure-anddegrees-freedom-in-science. 11. Vgl. Jay Gabler und Jason Kaufman, „Chess, Cheerleading, Chopin: What Gets You Into College?“, in: Contexts 5, Nr. 2, Frühjahr 2006, S. 45–49. Wenn man genauer sucht, stellt man fest, dass diese Ergebnis auf einer früheren Studie basierte, in der die Forscher den sozioökonomischen Status einbezogen, aber es erscheint dennoch verdächtig, wenn hier ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen elterlichen Museumsbesuchen und einer Collegezulassung vermutet wird. Die Forscher spekulieren beispielsweise, ob ein „Namedropping“ über die neueste Kunstausstellung am Whitney Museum of American Art während eines Aufnahmegesprächs den Interviewpartner eher als geeignet für das College erscheinen lässt. Diese Hypothese wurde jedoch nie überprüft. Vgl. Jason Kaufman und Jay Gabler, „Cultural Capital and the Extracurricular Activities of Girls and Boys in the College Attainment Process“, in: Poetics 32, 2004, S. 145–168. 12. Vgl. Tanja Bogusz und Heike Delitz (Hrsg.), Émile Durkheim: Soziologie  – Ethnologie – Philosophie, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2013, S. 105.

302     Anmerkungen

13. Erinnern wir uns an die Medizin vor Semmelweis. Eine Argumentation zur Intuition ohne verfügbare Daten, anhand derer man sie überprüfen könnte, ist in der wissenschaftlichen Forschung gefährlich. Wir müssen uns selbst gegenüber ehrlich bleiben, indem wir uns, wann immer möglich, um empirische Belege bemühen. 14. Es gibt eine langjährige Studie, die eine bessere, kosteneffektivere Alternative zu simultanen Gegenüberstellungen ergab, doch sie wurde von verschiedenen Strafverfolgungsbehörden rundweg abgelehnt, darunter vom FBI. Vgl. R. C. Lindsay und Gary L. Wells, „Improving Eyewitness Identification from Lineups: Simultaneous versus Sequential Lineup Presentation“, in: Journal of Applied Psychology 70, 1985, S. 556–564. 15. Vgl. Susan Fiske und Cydney Dupree, „Gaining Trust as Well as Respect in Communicating to Motivated Audiences about Science Topics“, in: Proceedings of the National Academy of Science 111, suppl. 4, 16. September 2014, S. 13.593–13.597, https://www.pnas.org/content/111/Supplement_4/13593. full. 16. Vgl. Fiske und Dupree, „Gaining Trust“. 17. Vgl. M. Brewer und Rupert Brown, „Intergroup Relations“, in: D. Gilbert, S. Fiske und G. Lindzey (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Oxford University Press, New York, 1998, S. 554–595. 18. Sie können dabei durchaus eine Verbindung zwischen der Eigenschaft „ist auf meiner Seite“ und der Beurteilung als „warm“ ziehen. Was ihnen aber fehlt, ist ein Beleg für die wechselseitige Beziehung zwischen den Eigenschaften „warm“ und „vertrauenswürdig“. 19. Vgl. Fiske und Dupree, „Gaining Trust“. 20  Das kommt in der sozialwissenschaftlichen Forschung öfter vor, als man vielleicht annehmen würde. Selbst der schönste Versuchsaufba.u nützt nichts, wenn aus den erhobenen Daten die falschen Schlussfolgerungen gezogen werden. Viele der sozialwissenschaftlichen Experimente ergeben „etwas“, nur vielleicht nicht das, was die Durchführenden behaupten. 21. Vgl. Fiske und Dupree, „Gaining Trust“. 22. Vgl. Fiske und Dupree, „Gaining Trust“. 23. Hier könnte man sicherlich noch viele weitere Beispiele anführen. Aber setze ich mich an dieser Stelle selbst der Kritik aus, weil ich mir die Rosine eines besonders negativen Beispiels herausgepickt habe? Ich denke nicht, denn diese Studie wurde von Forschern an einer höchst angesehenen Universität (Princeton) durchgeführt und in einer angesehenen Fachzeitschrift publiziert. Was eine Stichprobenverzerrung betrifft, bin ich auf diese Studie gestoßen, als ich eigentlich auf der Suche nach Informationen zu der Frage war, wie Wissenschaftler bessere kommunikative Fähigkeiten im Hinblick auf Themen wie den Klimawandel erwerben können.

Anmerkungen    303

24.  Mehr Informationen zu den klassischen Annahmen u. a. der Ökonomen zur menschlichen Rationalität und wie diese Annahmen im Angesicht experimenteller Daten zusammenbrechen, finden Sie bei Daniel Kahneman, Thinking Fast and Slow, Farrar, Straus and Giroux, New York, 2013. 25. Sehr früh schon stellte Herbert Simon dies in seiner Arbeit zur begrenzten Rationalität und zur Anspruchserfüllung infrage. Siehe Herbert A. Simon, „Theories of Bounded Rationality“, Kap. 8 in: C. B. McGuire und Roy Radner (Hrsg.), Decision and Organization, N ­ orth-Holland, Amsterdam, 1972. 26. Man beachte, dass Spekulationen selbst in methodisch sehr guten wissenschaftlichen Studien manchmal erforderlich sind. Hier aber betrafen sie eine eng gefasste Forschungsfrage unter kontrollierten Bedingungen, die nachfolgende wissenschaftliche Arbeit ermöglichten. 27. Vgl. Sheena Iyengar und Mark Lepper, „Rethinking the Value of Choice: A Cultural Perspective on Intrinsic Motivation“, in: Journal of Personality and Social Psychology 76, Nr. 3, 1999, S. 349–366. 28. Vgl. McIntyre, Respecting Truth, S. 29–36. 29. Vgl. Fiske und Dupree, „Gaining Trust“.

11. Wissenschaft schätzen lernen 1. Und natürlich besteht ein Unterschied zu der Aussage, sie sei notwendig und hinreichend. Vgl. Kap. 4. 2. Erinnern wir uns an Laudan: Die Philosophie wandte sich nach seinem Aufsatz von 1983 für 30 Jahre von diesem Projekt ab. 3. Und wenn das der Fall ist, muss man weitere Untersuchungen anstellen. Man stelle sich vor, was passiert wäre, wenn die Forscher hinter der kalten Fusion nur ein wenig mehr Erfolg mit ihren Voraussagen gehabt hätten.

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