Topographien der Kindheit: Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen [1. Aufl.] 9783839425640

The places and spaces of childhood and youth are remembered and imagined in literary and media presentations. The curren

196 38 10MB

German Pages 402 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
[ EDITORIAL ]
»Hier, genau hier habe ich damals gelebt« oder »Die Erde ist rund« Annäherung an Topographien der Kindheit
[ »BLUME-ZOOF« – ERINNERTE KINDHEITEN ]
»Heimweh nach dem Traurigsein« – Kindheit im Unfertigen
Vom »sentimentalischen« Kinderbild zur Topographie der Kindheit
»Darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten« Oder: Vom Versuch, Kindheit zu erinnern
Kindheitslandschaften. Literaturgeografische Lektüren besonderer Orte und Räume
Der Widerschein vergessener Wonnen. Zur Virtualität erinnerter Kindheit
[ »HIMMEL & HÖLLE« – HANDLUNGSRÄUME DER KINDHEIT ]
Orte der Kindheit – im Bild erinnert. Ein Essay
»meine verdammte gegend« Literarische Aneignungen der Vorstadt
Türe zu. Fenster auf. Das Kinderzimmer als kinder- und jugendliterarischer Raum
(K)ein Ort nirgends und überall. Spielraum und Spielerraum des Computer- und Videospiels
Pädagogische Raumpraktiken. Zur Topographie philanthropischer Anschauungspädagogik
Zwischen pädagogischer Utopie und institutioneller Routine. Raumordnungen und raumbezogene Praktiken im Kindergarten
Der soziale Raum ›Schule‹ in unterschiedlichen Perspektiven: literarisch und linguistisch
Das englischsprachige Kind im Raum. Repräsentation und Rezeption von kindlicher Welterfahrung im interkulturellen Vergleich
Postkoloniale Räume der Hybridität. Kindheiten in zwei Welten
[ »ORPLID« – IMAGINATIONSWELTEN DER KINDHEIT ]
»Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist.«
Kinderfiguren, Kindheitsorte, Kinderspiele und Kinderzeit bei Jean Paul
Phantastische Ländchen. Beiträge zu einem historisch-literarischen Atlas der Kindheit
Bedeutende Räume. ›Elementar-Poetisches‹ in Raumkonzepten der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur
Zoë Jenny. Kindheitstraum als versuchte Heterotopie
Glück im Überfluss? Zur kinderliterarischen Besetzung des Schlaraffenlandes
Andere Orte. Topographien der Ferne in jugendliterarischen Werken
Gender-Dystopien. Beobachtungen zu Adoleszenz und Pop-Figurationen in der Gegenwartsliteratur
[ AUTORINNEN / AUTOREN ]
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Topographien der Kindheit: Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen [1. Aufl.]
 9783839425640

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Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit

Lettre

Caroline Roeder (Hg.)

Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen

Mit Unterstützung der VolkswagenStiftung und der Universität Zürich/Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien und der Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. Unter Mitarbeit von Judita Kanjo und Caroline Merkel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Mädchen mit Luftballon (bearbeitete Fotografie eines Graffitis in Ludwigsburg), © Laura Blankenhorn Lektorat & Satz: Caroline Roeder, Judita Kanjo, Caroline Merkel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2564-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2564-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

[ EDITORIAL ] »Hier, genau hier habe ich damals gelebt« oder »Die Erde ist rund« Annäherung an Topographien der Kindheit

Caroline Roeder | 11

[ »BLUME -ZOOF « – ERINNERTE KINDHEITEN ] »Heimweh nach dem Traurigsein« – Kindheit im Unfertigen

Jenny Erpenbeck | 29 Vom »sentimentalischen« Kinderbild zur Topographie der Kindheit

Burkhardt Lindner | 41 »Darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten« Oder: Vom Versuch, Kindheit zu erinnern

Carsten Gansel | 59 Kindheitslandschaften Literaturgeografische Lektüren besonderer Orte und Räume

Barbara Piatti | 83 Der Widerschein vergessener Wonnen Zur Virtualität erinnerter Kindheit

Ingrid Tomkowiak | 103

[ »HIMMEL & HÖLLE « – HANDLUNGSRÄUME DER KINDHEIT ] Orte der Kindheit – im Bild erinnert Ein Essay

Hubert Sowa | 119 »meine verdammte gegend« Literarische Aneignungen der Vorstadt

Caroline Merkel | 133 Türe zu. Fenster auf. Das Kinderzimmer als kinder- und jugendliterarischer Raum

Heidi Lexe | 153

(K)ein Ort nirgends und überall Spielraum und Spielerraum des Computer- und Videospiels

Matthis Kepser | 167 Pädagogische Raumpraktiken Zur Topographie philanthropischer Anschauungspädagogik

Nikola von Merveldt | 183 Zwischen pädagogischer Utopie und institutioneller Routine Raumordnungen und raumbezogene Praktiken im Kindergarten

Roswitha Staege | 199 Der soziale Raum › Schule ‹ in unterschiedlichen Perspektiven: literarisch und linguistisch

Rüdiger Vogt | 211 Das englischsprachige Kind im Raum Repräsentation und Rezeption von kindlicher Welterfahrung im interkulturellen Vergleich

Jan Hollm | 231 Postkoloniale Räume der Hybridität Kindheiten in zwei Welten

Judita Kanjo | 253

[ »ORPLID « – IMAGINATIONSWELTEN DER KINDHEIT ] »Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist.«

Peter Bichsel im Gespräch mit Christine Tresch | 271 Kinderfiguren, Kindheitsorte, Kinderspiele und Kinderzeit bei Jean Paul

Monika Schmitz-Emans | 283 Phantastische Ländchen Beiträge zu einem historisch-literarischen Atlas der Kindheit

Gundel Mattenklott | 301 Bedeutende Räume ›Elementar-Poetisches ‹ in Raumkonzepten der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur

Ulf Abraham | 313 Zoë Jenny Kindheitstraum als versuchte Heterotopie

Stefan Tetzlaff | 329

Glück im Überfluss? Zur kinderliterarischen Besetzung des Schlaraffenlandes

Ute Dettmar | 347 Andere Orte Topographien der Ferne in jugendliterarischen Werken

Gabriele von Glasenapp | 363 Gender-Dystopien Beobachtungen zu Adoleszenz und Pop-Figurationen in der Gegenwartsliteratur

Toni Tholen | 381

[ AUTORINNEN / AUTOREN ] | 395

[ Editorial ]

»Hier, genau hier habe ich damals gelebt« oder »Die Erde ist rund« Annäherung an Topographien der Kindheit C AROLINE R OEDER

Mit einer Landpartie beginnen die Erkundungen zu den TOPOGRAPHIEN DER KINDHEIT. Als Ausgangspunkt für diese Exkursion dient ein Zugabteil. Dort hat der Schweizer Autor Peter Bichsel einen Fensterplatz eingenommen. Für Bichsel bedeutet Reisen keine Fortbewegungsart, sondern eine Lebenshaltung – sein literarisches Werk weist dies in vielfältiger Weise aus. Seit seinen Kindergeschichten (Bichsel 1969) und den darin entfalteten Spracherkundungen und kontinentalen Infragestellungen weiß man, dass dieser Autor den kindlichen Kosmos nicht nur schrittweise auszumessen versteht, sondern konsequent erdachte Weltumrundungen ausbuchstabiert. Von Bichsels Reise-Obsession zeugt auch ein schmaler, doch nicht minder gewichtiger Band, der mit Eisenbahnfahren (Bichsel 2002) betitelt ist. Er beinhaltet verschiedene kurze Erzählungen, wobei eine dieser fein gearbeiteten Prosabilletts mit »Begegnung mit meiner Landschaft« überschrieben ist (ebd.: 34-37). Der kurze Text hebt an mit: »In Norddeutschland bevorzuge ich die langsamen Züge, die gemächlich von einer Station zur anderen ziehen und die ruhige Landschaft in Ruhe lassen [...] «. Wenige Zeilen später folgt das Bekenntnis: »[...] hier möchte ich sein, hier möchte ich bleiben. [...] Die norddeutsche Landschaft [...] hat für mich immer wieder so etwas wie Heimkommen« (ebd.: 34) – für einen Schweizer Autor scheint dies eine ungewöhnliche Landschaftspassion, ihr folgt ein Blick. Er wird durch das Zugfenster gerahmt und führt zu einem überraschenden Moment: »An einer Station hält dieser Zug, und da gibt es ein Strohhaus, einen alten Weidenzaun und das Graugrün des Vorfrühlings, und plötzlich sehe ich das Bild aus meiner Kindheit. Hier, genau hier habe ich damals gelebt.« (Ebd.)

Das Panorama, das Bichsel hier entwirft, erweist sich als Erinnerungsfenster. Öffnet man es, so transformiert sich der Blick aus dem Jetzt der erzählten Wahrnehmung in das Einst vergangener Kindertage. Die Erinnerungsspur wird hier nicht durch ein teegetunktes Gedächtnis-Gebäckstück evoziert, sondern als Reisesignal in die Vergangenheit dient ein Landschaftsensemble, getaucht in ein markantes Graugrün. Bichsel konkretisiert diesen Ort, wenn er weiter schreibt:

12 | C AROLINE R OEDER »Stundenlang stand ich an diesem Zaun, ließ ihn verschwinden, zerstörte ihn, baute ihn wieder auf und liebte dieses Grün, das es nirgends sonst gab, nur hier. Hier habe ich gewohnt, ganz allein, ohne meine Eltern, und niemand hat von meinem Wohnen gewußt. Ich wußte auch nichts davon – oder wollte es nicht wissen –, daß es irgendwo in Wirklichkeit solche Landschaften gab.« (Ebd.)

Das Rätselhafte, das diesen scheinbar geheimen Ort umgibt, lichtet sich in den folgenden Zeilen, wo zu lesen ist: »Denn meine Landschaft war ein Zusammensetzspiel. Sechzehn Würfel mit je sechs Bildausschnitten, die man zu Landschaften zusammenfügen konnte, und weil das Spiel wohl aus Deutschland kam, waren es deutsche Landschaften aus Grimms Märchen.« (Ebd.)

Diese Kindheits-Landschaft, die beim Halt in Norddeutschland aus dem Gedächtnis aufblitzt, erweist sich als ein auratischer Kindheits-Ort – ein Fundstück, ein Gegenstand mit illustrierter Oberfläche. Betrachtet man das Würfelspiel genauer und untersucht es auf seine Bauart, so wird deutlich: Es gleicht mit seiner disparaten Form der in sich beweglichen Einzelteile, mit seiner kaleidoskopischen Konstruktion, der Erinnerung und dem Erinnern selbst. Bichsel rekonstruiert aber nicht nur seine eigene Kindheits-Landschaft, wie der Titel des Textes suggeriert, sondern er weist mit dem Blick, den er ins Bild fasst, auf den kindlichen Kosmos des Spielens und Wahrnehmens hin, der sich an dieser Landschaft ablesen lässt: »Ich wußte auch nichts davon – oder wollte es nicht wissen –, daß es irgendwo in Wirklichkeit solche Landschaften gab.« (Ebd.: 34) Folgende Überlegungen lassen sich an diese ersten Reise-Eindrücke anschließen: Zum einen wird in dieser Passage der Blick auf die Kartographie kindlicher Weltbetrachtung deutlich, die sich hier an einem Kinderspielzeug ausgebildet und zugleich in ihm eingebrannt hat. Die erinnerte Landschaft bedeutet eine Miniatur von Landschaft, die für das Kind das Große im Kleinen erfahrbar gemacht hat. Diese liliputeske Form der Welterkundung fügt sich passgenau in das Bichsel’sche Werk, das Meisterstücke sprachlicher Miniaturen beinhaltet und bedeutet. Zugleich weist Bichsels erinnerter Kindheitsgegenstand auf ein Verfahren, das in Kindheitsbüchern eine traditionsreiche Vorgeschichte hat. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (2000). In seinen Prosaminiaturen richtet sich der forschende Blick in die Vergangenheit. Benjamin wählte für sein Kindheitsbuch, das im Exil verfasst wurde, das Verfahren der Archäologie, das in seinem geschichtsphilosophisch motivierten Text »Ausgraben und Erinnern« wie folgt beschrieben ist: »Und gewiß ist’s nützlich, bei Grabungen nach Plänen vorzugehen. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich in’s dunkle Erdreich. Und der betrügt sich um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde.« (Benjamin 1980, IV-1: 400f.)

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Die Fundstücke, die bei dieser Aus-Grabung in den Blick genommen werden, sind in der Schatulle des Kindheitsbuches ausgestellt. – Burkhard Lindner, der zu den versiertesten Kennern dieses Textes (und des Benjamin’schen Œuvres) zu zählen ist, schreibt über die Berliner Kindheit, dass hierin »eine verschüttete Ding- und Bildwelt freigelegt (werde, CR). Sie ist die Deponie des Unbewußten und Vergessenen. Dieser Dingwelt – und nicht der Identität der Person – gilt die Anamnese.« (Lindner 1984: 27f.) Kehren wir zurück zu Bichsel und seiner Eisenbahnfahrt. Der flüchtige Blick aus dem Zugfenster wird mit einem Bekenntnis versiegelt. Bichsel schreibt: »Man hat auch Heimaten im Kopf, unerreichbare und unlebbare – ich könnte da nicht wohnen –, aber ich habe da einmal als Kind in meinem Kopf gewohnt.« (Bichsel 2002: 35) Erinnerung – Handlung – Imagination: Mit diesen drei Begriffen kann man den Bichsel’schen Text kartographieren – der Erinnerungsblitz, der sich wie ein Schlaglicht auf das Vergangene richtet; die Konkretisierung der Erinnerungsspur, die sich auf zweierlei Weise manifestiert, an dem Spielzeug selbst und damit einhergehend an einer Sequenz und Handlung, die (körperlich-sinnliche) Kindheitswelt wird wiedererinnert (Benjamin); schließlich der imaginative Akt, der ein Band flicht zwischen der kindlichen Phantasieleistung des Spiels und dem literar-ästhetischen Geschehen, das hier hervorgezaubert wird. Diese drei an dem Bichsel’schen Text ausbuchstabierten Begriffe dienen dem vorliegenden Band als Raum-Dominanten, die als Achsen angelegt die 22 Beiträge bündeln. Bevor diese theoretisch veranschaulicht werden, wird vorerst KindheitsRaum vermessen und werden Eckpunkte der Raum-Forschung markiert.

K INDHEITS -R AUM Marcel Prousts berühmtes Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913ff.) weist einen residualen Raum aus, der durch Erinnerung erbaut und durch den legendären Duft der Madeleine geöffnet wird. Der Sinneseindruck dient als Schlüssel, der es ermöglicht, zeitlich weit in die Vergangenheit zurückzublicken und eine Tür zur Lebensgeschichte wieder aufzuschließen, er erlaubt aber nicht allein die (Wieder-) Entdeckung einer Landschaft, sondern erlaubt dem sich erinnernden Ich hierin einzutreten: So ›gelangt‹ man in den Garten von Combray und in die Stuben des Proust’schen elterlichen Hauses. – Die Landschaft, die sich vor dem inneren Auge entfaltet, erweist sich nicht allein als Konkretisierung des Kindheitsortes, sondern als ›Kindheit selbst‹. – Prousts Recherche bedeutet eine Expedition, die »in die unterseeischen Tiefen der Kinderstuben« führt, wie Walter Benjamin dies bezeichnet hat. (Benjamin 1980, II.3.: 1077) Kindheit und Landschaft sind in der ErinnerungsLiteratur des autobiographischen Schreibens eng miteinander verflochten. (Vgl. Imorde 2010: 156) Die Erinnerung ›sucht‹ sich einen Raum, in den die Erinnerungen fließen können. Kindheit wird in diesem Raum re-konstruiert und in Szene gesetzt. Doch nicht allein in der Erinnerungsliteratur wird Kindheit räumlich ablesbar.

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Verallgemeinernd könnte man das Verfahren der Kindheits-Konstruktion als Landschaft auch auf Kinder- und Jugendliteratur und auf Medien, die Kindheit und Jugend zu ihrem Gegenstand machen, übertragen. (Vgl. Richter 1996: 77f.) Die Texte der Kinder- und Jugendliteratur wären in diesem Sinn als Expeditionsberichte zu lesen: Die vielgestaltigen Erzählungen über Kindheit sind dabei in den unterschiedlichsten Kindheits-Räumen beheimatet. »Die ganze Kindheit selbst« – Kinderliteratur als Kindheitsliteratur Kindheit und Jugend markieren lebensgeschichtlich eine bedeutsame Passage. Der komplexe Gegenstand wird noch konturierter, geht man über seine temporäre Vermessung hinaus und ergänzt diese um die räumliche Dimension. Solcherart als Kindheits-Topographie apostrophiert, entfalten sich gänzlich neue Perspektiven: Kindheits-Räume erweisen sich als Palimpseste (Assmann, A. 2009). Ablesbar werden kulturelle Landschaften und soziale Praktiken ebenso wie politische Ideologeme und erzieherisch-pädagogische Diskurse. Kindheits-Räume verkörpern Transiträume oder bedeuten Fluchtpunkte, sei es als verlorene Heimat, sei es als utopische Schlaraffenländereien, um nur einige Aspekte zu nennen. Mit Hilfe raumtheoretisch orientierter Analysen von Architekturen und Repräsentationen verräumlichter Kindheit(en) wird das Palimpsest entschlüsselbar.

R AUM -F ORSCHUNG Die Raumforschung kristallisierte in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Leitdiskurs innerhalb der Kulturwissenschaften, Raumwenden werden mit dem spatial turn und topographical turn diagnostiziert. (Vgl. Weigel 2002; Bachmann-Medick 2006) Wesentlich für diese Turns erscheinen die Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften, die zu einer Abkehr von einer physisch-territorial verorteten (Container-)Raumverortung führen. Grundlegend sind Arbeiten aus den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, die soziologisch und philosophisch erste Raumvermessungen vornahmen (Georg Simmel, Ernst Cassirer). Die Grundannahme aktueller raumtheoretischer Betrachtung geht, Bezug nehmend auf Henri Lefèbvres zum Klassiker avancierte Studie La production de l’espace (1974), von der kulturellen Konstruktion und Konstitution von Räumen aus und legt einen relationalen Raumbegriff in transkultureller Ausrichtung zu Grunde. (Vgl. Ott 2003: 118) Charakteristisch für das Feld der aktuellen Raumforschung sind Methodenpluralismus und Begriffsheterogenität; zugleich lässt sich eine Vervielfältigung der Raumkonzepte ablesen. Verschränkt finden sich in diesem Raumbegriff soziale Raumstrukturen und -praktiken (Émile Durkheim, Georg Simmel, Pierre Bourdieu), sozialgeographische Sichtweisen (Edward Soja) und Macht- und Ordnungsdispositive (Michel Foucault, ternäre Raummodelle, Edward W. Said); wesentlich eingeschrieben haben sich die postkoloniale Theoriebildung und das Denken von Figuren der Zwischen-Räumlichkeit (Homi K. Bhabha, Ottmar Ette). Der Historiker Karl Schlögel weist mit seiner Untersuchung Im Raume lesen wir die Zeit (2003) auf

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die Verschränkung von Raum und Geschichtsdiskurs und ›aktualisiert‹ Benjamins Geschichtsphilosophie unter historischer Perspektive. Die Medialität des Raumes wird in literarischen und ästhetischen Raumdarstellungen virulent. (Vgl. Dünne 2010: 219ff.; Günzel 2012) Raum und Zeit als wesentliche Konstitutionsmerkmale der Literatur zählen zu den zentralen Komponenten fiktionaler Wirklichkeitsdarstellung. Dennoch sind systematische Kategorien für die Analyse der Raumdarstellung mit der Darstellung von Zeit kaum vergleichbar. Die literaturwissenschaftliche Raum-Betrachtung hat durch die Toposforschung bzw. Stoff- oder Motivgeschichte wichtige Impulse erhalten (Preisendanz) und kann auf zahlreiche Einzeluntersuchungen zur Raumdarstellung in Romanen und Erzählungen zurückgreifen, exemplarisch sei verwiesen auf Volker Klotz’ Untersuchung Die erzählte Stadt (1969). Seit den 1980er Jahren entfernt sich die theoretische Diskussion von strukturalistischen Analysen der (topologischen) Raumdarstellung (Lotman 1972) und widmet sich der Erforschung der kulturellen Konstruktion von Räumen und Grenzen. In die heutige kulturwissenschaftlich bestimmte Theoriediskussion werden zunehmend Raumdimensionen einbezogen. (Vgl. Nünning 2008; Dünne 2010, Günzel 2010) Dabei erfährt die Auseinandersetzung mit dem literarisch gestalteten Raum durch die unterschiedlichen theoretischen Ansätze methodisch vielfältige Anregungen, zunehmend werden narratologische Fragestellungen einbezogen (Würzbach 2001). Neue Leitbegriffe haben sich neben Kartographie, kognitiven Karten und cognitive mapping herausgebildet wie beispielsweise Grenzüberschreitung (Koschorke 1990), Geo-Politik oder Raum und Emotionsforschung (Werber 2007, Lehnert 2011). Paradigmatisch sind die Studien zu Erinnerungsräumen und kulturellem Gedächtnis zu werten, die sich ab Mitte der 1990er Jahre in die Diskurse eingeschrieben haben (J. Assmann 1997, A. Assmann 2009). Wichtige Impulse für Raum und Landschaft generieren sich aus den gender studies/gender spaces und der Ökokritik/ecocriticism. (Vgl. Ott 2003: 148; Krug 2004) In der Literaturwissenschaft lässt sich die Raumwende zeitlich mit dem DFG-Symposion »Topographien der Literatur« (Böhme 2005) markieren. Als Kanonisierungsmerkmal der theoretischen Debatte ist die Publikation verschiedener Sammelbände zu werten, die v.a. klassische Raumtexte vorstellen (Dünne/Günzel 2006; Heuner 3/2008;), inzwischen liegt auch ein erstes umfängliches philosophisch-lexikalisches Kompendium zum Raum vor. (Vgl. Günzel 2010) – Der Kindheits-Raum wurde in diesem ertragreichen Forschungskontext bisher jedoch kaum erschlossen, eine systematische Bestimmung dieses Feldes steht bisher aus.

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Konzeption des Bandes Der vorliegende Band knüpft mit seiner Fragestellung an die aktuelle Forschungsdebatte an und stellt sich zur Aufgabe, Räume von Kindheit und Jugend neu zu vermessen. Mit dem interdisziplinären Zuschnitt werden Kindheiten grenzüberschreitend – sowohl bezüglich der Wissenschaftsdisziplinen als auch bezüglich der geographisch-kulturellen Räume – ausgelotet und der Versuch unternommen, KindheitsRäume in ihrer Vielfalt und wissenschaftlichen Diversität aufzuspannen. Die Spuren des Benjamin’schen Flaneurs aufnehmend, werden ertragreiche Expeditionen in diese Landschaft initiiert. Die Beiträge gehen auf das Symposium »Topographien der Kindheit. Orte und Räume in Kinder- und Jugendliteratur und Medien« zurück, das vom 5. bis 8. Juni 2013 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg durchgeführt wurde. Das Symposium bezog in der Gesamtkonzeption neben literaturwissenschaftlichen Fragestellungen Wissensdiskurse mit ein, die das breite Spektrum der Geisteswissenschaften sowie der sozial- und naturwissenschaftlichen Forschung aufzeigte, ebenso wie ästhetisch-künstlerische Raumdimensionen berücksichtigte. Systematisch wurde das Feld der Kindheits-Landschaften hinsichtlich dieser Zielführung in seinen sprachlichen, künstlerischen und kulturellen, historischen wie geographischen, politischen wie transnationalen, sozialen wie pädagogischen und psychologischen Dimensionen untersucht. Die Konzeption des Symposiums legte sieben Schnittstellen an, die als Koordinaten fungierten. Sektionen gleich bündelten sich an diesen Schnittstellen grundlegende Fragestellungen der Topographieforschung: Ordnungssysteme, Fragen der Kartierung, des Genders, der Transkulturalität, des Spiels, der Architektur und Virtualität. Die transdisziplinäre Konzeption der Schnittstellen beförderte eine konstruktive Dynamik, die sich sowohl in den Beiträgen als auch in den sich anschließenden regen Diskussionen niederschlug. Für die Publikation dieser Beiträge, die um drei Nachwuchsarbeiten erweitert werden konnte, ergibt sich eine strukturelle Neugliederung des Bandes, die eingangs bereits an dem Bichsel-Text veranschaulicht wurde und die drei Raum-Dominanten umfasst: Erinnerung – Handlung – Imagination. Im Folgenden werden diese drei Raum-Dominanten als Achsen vorgestellt, die den Beiträgen zugeordnet werden und diese inhaltlich bündeln.

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I. B LUME - ZOOF – E RINNERUNGSRÄUME »Keine Klingel schlug freundlicher an. Hinter der Schwelle dieser Wohnung war ich geborgener als selbst in der elterlichen. Übrigens hieß es nicht Blumes-Hof, sondern Blume-zoof, und war eine riesige Plüschblume, die so, aus krauser Hülle, mir ins Gesicht fuhr. In ihrem Innern saß die Großmutter ...« WALTER BENJAMIN

Die erste Raum-Dimension stellt mit dem Ensemble von fünf Beiträgen eine Erinnerungs-Partitur bereit: Aus kulturhistorischer Perspektive wie bezogen auf Fragen autobiographischen Schreibens werden literarische und theoretische Reflexionen an das Erinnern von Kindheit angelegt, verschiedene Archive herangezogen und einer Anamnese unterzogen. Für die Reflexion von Kindheit ist Erinnerung konstitutiv. Versteht man Kinderund Jugendliteratur als »Roman der Kindheit« (vgl. Richter 1996), so weist sich das kinder- und jugendliterarische Textkorpus als Erinnerungs- und Gedächtnisliteratur und lässt sich an substantielle Fragen der kulturwissenschaftlichen Reflexion von Erinnerung anschließen. [Jenny Erpenbeck, Burkhard Lindner, Carsten Gansel] Kinder- und Jugendliteratur als Repräsentation von Erinnerungsräumen wirft darüber hinaus auf der Ebene des Discourse (Todorov) narratologische Fragen auf. Ab dem 20. Jahrhundert werden populärkulturelle Artefakte bedeutsam und spiegeln sich in medialisierten (Denk-)Bildern von Kindheit. Die Untersuchungen zur RaumGeographie erweisen sich als erkenntnisförderlich für den Komplex autobiographischen Schreibens und die Entwicklungsgeschichte der Erinnerungsliteratur (eng verzahnt mit dem Kindheitsbild), ebenso für die Entschlüsselung historischer wie aktueller literarischer (Generations-)Phänomene unter erinnerungskulturellen Gesichtspunkten. [Barbara Piatti, Ingrid Tomkowiak]

II. H IMMEL & H ÖLLE – H ANDLUNGSRÄUME »Die Kinder haben keine Zukunft. Sie fürchten sich vor der ganzen Welt. Sie machen sich kein Bild von ihr, nur von dem Hüben und Drüben, denn es läßt sich mit Kreidestrichen begrenzen. Sie hüpfen auf einem Bein in die Hölle und springen mit beiden Beinen in den Himmel.« INGEBORG BACHMANN

Kindheit ist wesentlich von Handlung bestimmt, die sich wiederum an Raumdispositiven aufzeigen lässt. Folgende Handlungsräume werden in dieser Raum-Dominante ausgelotet: Räume alltäglicher Routine (wie die Lebenswelt Vorstadt, das familiale Kinderzimmer oder Spiel-Universen), Räume institutioneller Ordnung (wie Kinder-

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garten oder Schule) sowie Räume gesellschaftlich-kultureller Prägung (wie Sprachlandschaften oder kulturelle Identitätsräume). Insbesondere die Kategorien der sozialwissenschaftlichen Forschung erlauben diese Raumformationen – gesellschaftlich-kulturelle, institutionelle oder alltagsbezogene Handlungsräume von Kindheit und Jugend – auszuloten und zu dynamisieren. Der Blick auf Raumdispositive, die als Handlungs- und Aktionsraum innerhalb familialer Ordnung fungieren, führen beispielsweise ins ›Kinderzimmer‹ und weisen dieses als komplexe Raumdimension auf, die neue Perspektiven auf die Architektur(en) von Kindheit eröffnet. Das soziale Raumgefüge der Suburbia führt zu jugendlichen Handlungsfeldern, die streunend durchstreift werden und Transiträume darstellen. Zwischen alltagsbezogenen und medial-fiktionalen Räumen oszillieren hingegen Spieler- und Para-Spielräume, wie sie Computer- und Videospiele bedeuten. Diese fungieren als Kommunikationsraum der Peer-Gespräche oder als GameKonvention, die bei Multi-User-Online-Games Spiel und Spieler global zusammenbinden. [Hubert Sowa, Caroline Merkel, Heidi Lexe, Matthis Kepser] Im Blickfeld der Kindheitsforschung stehen ebenso Räume institutioneller Ordnung wie die Schule (wesentlich auch in Bezug auf unterrichtliches Handeln, aber ebenso als Transitraum und hier als heterotope Raumfiguration). Der Stellenwert pädagogischer Bestimmtheit von Kindheit stand ab den 1960er Jahren zentral im Blickfeld dieses Forschungsfeldes und führte nicht nur diskurstheoretisch zu einem Paradigmenwechsel der Kindheitsforschung. Ergiebig erweisen sich insbesondere unter historischer Perspektive Raumordnungen und raumbezogene Praktiken, die beispielsweise im Kindergarten anzusiedeln sind und hier zwischen pädagogischer Utopie und institutioneller Routine zu verorten wären. [Nikola von Merveldt, Rüdiger Vogt, Roswitha Staege] Die bereits genannte Suburbia verweist nicht nur auf den Schwellenort jugendlicher Aufbrüche, sondern ebenso auf veränderte Raum-Kategorien einer globalisierten Welt-Gesellschaft. Diese führt zu komplexen Fragestellungen und Aufgaben, die trans- und interkulturell austariert werden müssen. So eröffnen sich Fragen der kindlichen Welterfahrung im interkulturellen Vergleich (als Rezeptionserfahrung heterotopischer Alterität), neue Perspektiven auf Sehnsuchtsorte und identitätsstiftende Projektionsflächen, beispielsweise bei der Lektüre fremdsprachiger Literatur(en). [Jan Hollm, Judita Kanjo]

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III. O RPLID – I MAGINATIONSRÄUME »Du bist Orplid, mein Land! Das ferne leuchtet;« EDUARD MÖRIKE

Die dritte Raumdimension umfasst literarästhetische Fragestellungen und wird literarisch von Peter Bichsel (im Gespräch mit Christine Tresch) eingeleitet. Die Raumdimension ORPLID lässt sich unter drei Zugangsweisen resümieren. Reflektiert werden Fragen von Elementar-Erfahrungen, die im kindlichen (alltäglichen) Spiel ebenso wie in romantisch verwobenen Kindheitsszenen benannt wurden. Dabei ergeben sich interessante Koinzidenzen, die aus den Spielarten anthropologischer Fragestellungen hervorgehen und Bausteine liefern, die zwischen romantischen Imaginations-Welten des Kleinen und der Idee eines ›Imaginaire der Kindheit‹ oszillieren. [Monika Schmitz-Emans, Gundel Mattenklott, Ulf Abraham, Stefan Tetzlaff] Topographie und Utopia: Wirkungsmächtig erweisen sich Utopien im Bereich der Kindheitsforschung. An diesen Nicht-Orten werden Ideen von Kindheit angesiedelt; ebenso fassen dystopische Modelle Formen verordneten Kinderglücks. Das utopische Potential tritt auch in Topographien der Ferne und der Kindheitsautonomie zu Tage (hier beispielsweise als Inszenierung von Moratorien). Der utopische Gehalt aktueller Geschlechterkonstellationen und deren Situierung in (literarischen) PopFigurationen zeigt sich schließlich an der Auseinandersetzung mit Orten, Räumen und Passagen gegenwartsspezifischer »Topographien der Geschlechter«. [Ute Dettmar, Gabriele von Glasenapp, Toni Tholen] Zu den Beiträgen Die Berliner Autorin Jenny Erpenbeck eröffnet mit ihrer Poetikvorlesung BLUMEZOOF die Raumdimension Erinnerung. Erpenbecks Kunst liegt in historisch pointierten und poetisch fein geschliffenen Texten; mit ihrem Beitrag folgt sie dem »Tourismus in halbversunkene Kindheiten« (Christa Wolf) und richtet den Blick zurück auf das Ost-Berlin der 1970er Jahre. Proklamiert wird eine »Kindheit im Unfertigen«, wobei das Erzählte lebensgeschichtlich ausgewiesen und historisch lokalisiert wird. Solcherart verzahnt Erpenbeck Kindheits-Spiel-Räume mit dem Thema Erinnerung und collagiert Reflexionen über autobiographisches Schreiben und Fiktionalisierungsstrategien mit politisch-ideologisch überformten sowie versunken geglaubten Kindheitsbildern. Der Medien- und Literaturwissenschaftler Burkhard Lindner (Frankfurt/M.) zählt zu den versiertesten Kennern von Walter Benjamins Werk. Als Herausgeber der kritischen Ausgabe in Einzelbänden hat er sich intensiv mit Benjamins Kindheitsbuch auseinandergesetzt und eine »Topographie der Kindheit« diagnostiziert. (Lindner 1984) Der Titel TOPOGRAPHIEN DER KINDHEIT lehnt sich mit kleiner Erweiterung hieran an. In seinem Beitrag spannt Lindner einen kulturhistorischen Bogen von Schillers am Idealismus geschulter sentimentalischer Position bis hin zur Umgestaltung der Figur des Kindes durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds. In einem weiteren Schritt fokussiert Lindner seine Überlegungen auf Walter Benjamins

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Berliner Kindheit um neunzehnhundert und weist die vorgenommene Darstellung von Kindheit als die literarische Konstruktion eines achronischen und topographischen Raums aus. Der Literaturwissenschaftler und ausgewiesene Uwe-Johnson-Spezialist Carsten Gansel (Gießen) hat einen seiner profunden Forschungsschwerpunkte im Bereich der Erinnerungs- und Gedächtnisliteratur. In seinem Beitrag »›Darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten‹ oder Vom Versuch, Kindheit zu erinnern« unterzieht er die Gegenwartsliteratur einer erinnerungskulturellen Analyse, bevor er in einer systematischen Annäherung Formen des Erinnerns und Erzählens von Kindheit zur Darstellung bringt. In einem dritten Schritt widmet er sich dem Autor Uwe Johnson und dessen Versuchsanordnung, das »Kind, das ich war«, zu erinnern. Barbara Piatti (Zürich) ist eine ausgewiesene Literaturgeographin, ihre diesbezüglichen Vermessungs-Arbeiten sind in den differenzierten Literatur-Karten, beispielsweise in Literarischer Atlas Europa (2013), dokumentiert. In ihrem Beitrag widmet sie sich Kindheitslandschaften, die sie an den Kindheitsromanen von AlainFournier Le Grand Meaulnes (1913), Wlodzimierz Odojewski Ein Sommer in Venedig (2000) und Zsuzsa Bánks Die hellen Tage (2011) ausrollt. Bei diesen erinnerten Kindheiten wird ein besonderes Augenmerk auf »projizierte Orte« gerichtet, d.h. auf literarische Ortseinblendungen in Träumen, Erinnerungen oder Sehnsuchtsmomenten, die mit der Methode des Triggern verglichen werden. Der Beitrag mündet in grundlegende Fragen zur Kindheitskartographie. Die Kulturwissenschaftlerin Ingrid Tomkowiak (Zürich) hat ihren Forschungsschwerpunkt im Bereich Populäre Literaturen und Medien (mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien) und blickt in ihren Ausführungen auf den Stellenwert von Jugendlektüren im Rahmen von Erinnerungsliteratur. Ausgehend von Walter Benjamins Betrachtungen über Kindheits-Lesestoffe wird das Augenmerk auf Umberto Ecos Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana (2004) gelegt, der als Generations-Roman und als ein Memorial-Projekt (Sigrid Löffler/Henning Klüver) durch massenkulturelle Einschreibungen von Allerweltsprodukten charakterisiert wird. Tomkowiak präsentiert die von Eco im Rahmen eines virtuellen Kindheitsraumes bereitgestellten populären Text-, Bild- und Musikprodukte in gesellschaftlichen und ideologischen Kontextualisierungen – solcherart wird eine Topographie alltagskultureller Artefakte aufzeigbar. Eingeleitet wird die zweite Raumdimension HIMMEL & HÖLLE ebenfalls mit einem künstlerischen Beitrag, der nach dem erinnerungskulturellen Ortstermin Erpenbecks bildliche Annäherungen an Kindheitsräume anbietet. Kuratiert und kommentiert hat den Foto-Essay Hubert Sowa, der an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg mit Kunst-Studierenden Kindheitsräume performativ erforscht hat. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung mündeten in eine Wanderperformance, bei der inszenierte Bilder von Kindheit in begeh- und bespielbaren Installationen und als olfaktorischer Erlebnisraum vorgestellt wurden. Eine Station des Reflexionsprozesses stellte die Galerie der Kindheitsorte dar. Besonders eindrücklich erscheint bei diesem künstlerischen Projekt der spielerische und selbstreferentielle Umgang mit Kindheitsbildern – seien sie zum Stereotyp geronnen, seien sie persönlich geformt oder utopisch überhöht. Caroline Merkel (Tübingen): Die Literaturwissenschaftlerin und Skandinavistin führt mit ihrem Beitrag in die Vorstädte. Merkel verweist auf die sozialwissenschaft-

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lichen Diskurse dieser als Brennpunkte stigmatisierten und als Peripherie markierten Orte und fächert die vielfältigen Erzählkonzepte auf, die sich hier eingeschrieben haben. Georg Kleins Roman unserer Kindheit (2010) nimmt in dem Beitrag eine zentrale Rolle ein. In Augenschein genommen wird der periphere Ort Vorstadt, der für die Jugend ein Stück unbehauste Heimat bedeuten kann, als Gegen-Raum dient, als Grenzraum und Kontaktzone oder leerer Raum. Mittels »literarischer Aneignungen« wird die Vorstadt als öder Ort markiert, aber auch als Erzählterrain, das Benjamins Flaneur gleich streunend auserzählt wird, aber das auch als Matrix des Erzählens selbst dient. Heidi Lexe (Wien) ist eine versierte Spezialistin des aktuellen Kinder- und Jugendbuchmarktes und seiner medialen Schreibweisen. Lexe kartographiert mit ihrem Beitrag das Narrativ Kinderzimmer und misst es topologisch und als ein psychosoziales Raumgefüge im familialen Kontext aus. Die Blickführung richtet sich auf das Spannungsverhältnis von Innen- und Außenraum. Auf der Erzählebene werden Territorialisierungsstrategien am Inventar wie an der innenarchitektonischen Ausstattung aufgezeigt; so werden beispielsweise Kinderzimmerwände als Kulisse und Leinwand ausgewiesen, die Projektionen spannungsvoller Erzählformate dienen. Matthis Kepser (Bremen) zählt zu den ausgewiesenen Medienwissenschaftlern, die profund die Angebote der Jugend-Medienkultur theoretisch untersuchen. In seinem Beitrag beschäftigt er sich mit dem populären Stoff der Computerspiele und hier mit deren Räumen, eine Perspektive, die bisher noch wenig wissenschaftlich durchdrungen wurde: Nach einer historischen Reflexion über Spielplätze nähert Kepser sich dem virtuellen Thema und liefert einen systematisierenden Überblick über den Spielraum sowohl in topographischer als auch in topologischer Hinsicht. Seine grundlegende Betrachtung führt zum Spielerraum, d.h. dem Raum, in dem ein oder mehrere Spieler leiblich anwesend sind und mit einem Computerspielgerät interagieren bzw. kommunizieren. Sein Ausblick auf Para-Spielräume, in denen die User über ihre Spiel-Erfahrungen kommunizieren, weist neue Forschungsperspektiven auf. Die kanadische Literaturwissenschaftlerin Nikola von Merveldt (Montreal) nimmt pädagogische Raumpraktiken und die Topographie philanthropischer Anschauungspädagogik des 18. Jahrhunderts in den Blick. Gefragt wird, wie diese topographischen (theoretischen) Texte Denkräume und Wissensordnungen spiegeln, modellieren oder transformieren. Am Beispiel von Christian Gotthilf Salzmanns Schriften und seinem Modell des idealen Lernorts, das im Naturalienkabinett in Schnepfenthal bei Gotha realisiert wurde, wird der erzieherische Ansatz herausgearbeitet, der sich als »raumpraktische Pädagogik der Nähe« bezeichnen lässt. Weiterführend wird die Dynamisierung des pädagogischen Raumes und die Programmatik des Spazierengehens vorgestellt. So eröffnet sich mit dem fundierten Blick in die Historie der philanthropisch-erzieherischen Schriften und Praktiken eine Topographie der pädagogischen Diskurse. Roswitha Staege (Ludwigsburg) hat ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkt im Bereich der Frühkindlichen Bildung und Didaktik des Elementarbereichs und stellt in ihrem Beitrag Raumordnungen und raumbezogene Praktiken im Kindergarten vor. Neben dem motivlichen Kontext des (Kinder)gartens und den hieraus erwachsenden erzieherischen Implikationen wird der Kindergarten als Raumordnung des kindlichen Freispiels ausgewiesen. Nach der theoretischen Fundierung, die sich explizit auf

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Fröbel bezieht, wird der Fokus auf raumbezogene Praktiken in heutigen Kindertageseinrichtungen gelegt und mit drei Fallbeispielen veranschaulicht. Deutlich werden räumliche Leitphantasien des pädagogischen Denkens, Redens und Handelns, deren identitätsstiftende Bedeutung hinsichtlich der institutionellen Ordnung sowie die Entwicklungsgeschichte dieser Diskurse bis hin zu den Ausgestaltungsformen der Alltagspraktiken. Der Sprachwissenschaftler Rüdiger Vogt (Ludwigsburg) beschäftigt sich mit dem sozialen Raum Schule in historischer, literarischer und linguistischer Perspektive. Nicht nur aus historischer Perspektive erweist sich die Institution Schule auch als Disziplinaranstalt, in der eine Selektion der Schüler und Schülerinnen vollzogen wird. Vogt rekonstruiert unterrichtliche Praxis sowohl in historischer Sicht als auch in ihrer literarischen Inszenierung und liefert beispielhaft an einer kurzen Unterrichtssequenz gesprächsanalytische Gesichtspunkte. Der Amerikanist und Kulturwissenschaftler Jan Hollm (Ludwigsburg) erschließt kinder- und jugendliterarische Landschaft(en) unter dem Aspekt der spezifischen kulturellen anglo-amerikanischen Raum-Wahrnehmung. Neben motivlichen Ausgestaltungen und diskursiven Paradigmen weist er die Attraktivität und den Stellenwert der ›fremden‹ Landschaft als Schauplatz für deutschsprachige Literatur an kinderliterarischen Beispielen nach. Diese interkulturellen Sehnsuchtsorte werden als identitätsstiftende Projektionsflächen identifiziert, die Raummentalitäten vorstellen, die für die Entwicklung von kindlichen und jugendlichen Rezipientinnen und Rezipienten bedeutsam sind. Judita Kanjo (Ludwigsburg) untersucht unter postkolonialer Perspektive literarische Kindheitsräume und lotet insbesondere die Konstruktion hybrider Identitätsbildung an exemplarischen Beispielen aus. Herangezogen wird mit Jeannette Landers Jahrhundert der Herren (EA: 1993) ein Werk, das post- und neokoloniale Verhältnisse in Sri Lanka spiegelt, während Giselher W. Hoffmanns Die verlorenen Jahre (EA: 1991) in Namibia verortet ist und interkulturelle Alteritätserfahrungen in den Mittelpunkt stellt. Auch die dritte Raumdimension ORPLID wird mit einem künstlerischen Beitrag eröffnet. Der Beitrag »Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist« geht auf die Lesung von Peter Bichsel im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar zurück, die von einem kenntnisreich geführten Autoren-Gespräch begleitet wurde, das die Schweizer Kulturjournalistin Christine Tresch geleitet hatte. Christine Tresch bearbeitete in Absprache mit Bichsel die Transkription und bestückte den Beitrag mit drei Originaltexten des Autors, die Einblicke in Kompositionen von Kindheits-Erinnerungen und ihre imaginativen Formationen erlauben. Der Name der Komparatistin Monika Schmitz-Emans (Bochum) steht für innovative Forschungsschwerpunkte der Topographieforschung und romantischer Schreibweise. In dem vorliegenden Beitrag geht Schmitz-Emans Kinderfiguren und Kindheitsorten bei Jean Paul nach und erkundet in dessen autobiographischen wie auch fiktionalen Texten semantische Akzentuierungen topographischer Kindheitsorte. Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach temporalen Modellen des Erzählens von Lebensaltern und die Bedeutsamkeit der Verschränkung von Zeitthematik und Kindheitstopographie.

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Die Literatur- und Erziehungswissenschaftlerin Gundel Mattenklott (Berlin) stellt aus ihrem Forschungsschwerpunkt der Musisch-Ästhetischen Erziehung Kinderspielwelten vor und verortet sie auf dem Atlas der Kindheit unter Tagträumen. Diese Rêverien beinhalten komplexe Imaginationswelten und bedeuten Spielarrangements, die in kleinen Kindergruppen oder intergenerationell ersonnen werden. Mattenklott systematisiert diese kostbaren Kindheitszeugnisse und zeigt, dass diese sehr eigenen Spielarrangements teils verschriftlicht, teils materialisiert, oftmals prozesshaft weitergesponnen werden. Gemeinsam ist den von Mattenklott titulierten kollektiven Phantasiespielen ihre topographische Ausgestaltung. Die Fundgruben für diese Quellen finden sich in autobiographischen Zeugnissen (insbesondere in romantischen Schriften wie beispielsweise Brentanos Ländchen Vaduz), besondere Schätze und topographische Ländereien versprechen die Einblicke, die aus dem bisher unveröffentlichten Archivmaterial der Forscherin gegeben wurden. Der Literaturdidaktiker Ulf Abraham (Bamberg) ist nicht nur ein profunder Kafka-Kenner, sondern ebenso geschätzt für seine vielgestaltigen Arbeiten zu Fragen des (poetischen) Lesens, der medialen Ausgestaltungen wie zu phantastischen Werken. Der vorliegende Beitrag fragt nach elementar-poetischen Raumkonzepten der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur und buchstabiert an vier Gruppen von raumbezogenen Motiven diese aus. Unter anthropologischer Fragestellung unterscheidet Abraham nach Orten der Mitte als verräumlichter Geborgenheit, nach feindlichen Räumen und gefährlichen Wegen als Orten und Richtungen der Bewährung, nach Räumen der grenzüberschreitenden Bewegung und nach deren Vehikel. Psychologisch wie ontogenetisch bedeuten diese phantastischen Räume Spielflächen, die elementare Selbst- und Fremd-Erfahrungen für den Prozess der Identitätsbildung repräsentieren. Stefan Tetzlaff (Münster) widmet sich der jungen deutschen Gegenwartsautorin Zoë Jenny und zeigt an deren Œuvre Bezüge zu romantischen Raumentwürfen. Ausgehend von Foucaults Heterotopie-Begriff werden Kindheitskonzepte untersucht und hierfür die Romane Das Blütenstaubzimmer (1997), Der Ruf des Muschelhorns (2000) und Ein schnelles Leben (2002) untersucht. Dabei stehen sich heterotope Entwürfe von Schutzräumen und Formen kindlich räumlicher Desorientierung gegenüber. An diesen Arsenalen werden Raumkategorien aufgezeigt, die als Schutzund Transiträume der jugendlichen Protagonistinnen fungieren. Ute Dettmar (Oldenburg) hat ihren Forschungsschwerpunkt im Bereich der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft und insbesondere in der historischen Forschung. Sie stellt motivgeschichtlich die literarische Inszenierung des Schlaraffenlandes vor und weist an diesem Land des Überflusses restriktive Direktiven nach, die dieser utopischen Raumkonstellation eingeschrieben sind. Konturen und Repräsentationen des legendären Landes werden erschlossen und es wird der Frage nachgegangen, wie dieses zu kinderliterarischen Territorien umgeformt wird und zum anderen, in welches Verhältnis zu pädagogischen Implikationen die schlaraffigspezifischen Kinderwunschländer zu setzen sind. Die Kinder- und Jugendliteraturwissenschaftlerin Gabriele von Glasenapp (Köln) ist eine versierte Kennerin historischer Stoffe. In ihrem Beitrag widmet sie sich der Schnittstelle zwischen Allgemein- und Jugendliteratur und leuchtet die Topographie der Ferne in jugendliterarischen Texten aus. Hierzu untersucht sie realistische jugendliterarische Erzählungen hinsichtlich spezifischer Funktionen von

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Raumkonzepten. Das Augenmerk liegt auf den Parametern Element des Reisens, Moratorium und Zwei-Welten-Modell. Untersucht wird, inwieweit sich in diesen räumlichen Figurationen gesellschaftliche Normen und Grenzen bzw. Projektionsflächen aufzeigen lassen, die jugendliche Identitätsprozesse steuern und als gesellschaftliche Selbstbilder den jugendlichen Aufbrüchen entgegengesetzt sind. Der Literaturwissenschaftler Toni Tholen (Hildesheim) hat mit seinen Untersuchungen zu Genderfragen und Männlichkeitsrepräsentationen wesentliche Forschungsimpulse gegeben. In seinen »Beobachtungen zu Adoleszenz und PopFigurationen in der Gegenwartsliteratur« greift Tholen Raumparadigmen der »Topographien der Geschlechter« (Weigel) auf und fragt nach der Bedeutung von familialen und öffentlichen Räumen. Der Beitrag folgt der These, dass in aktuellen Texten, die Adoleszenz inszenieren, Gender-Dystopien ablesbar werden. Dabei wird offenbar, dass in den oftmals gewalthaltigen Szenarien dieser Zeitabschnitt des Transitorischen als unvollendbare Passage zur Darstellung kommt. Topographie des Danks Diese Raumerkundung zu realisieren war nur möglich durch die großzügige Unterstützung von Vielen. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Im Besonderen möchte ich meinen Dank aussprechen: Der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, sie bot nicht nur den Container-Raum, um diese Unternehmung auszurichten; der VolkswagenStiftung, sie ermöglichte großzügig die Expedition auszurüsten; dem Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien, in persona Ingrid Tomkowiak, die auch die Universität Zürich und hier das Institut für Populäre Kulturen vertritt, für die konstruktive Kooperation; dem Marbacher Literaturarchiv, hier vor allem Jan Bürger und Thomas Schmidt; sowie der gesamten Studien- und Beratungsstelle Wien (allen voran Heidi Lexe) für die mentale wie kreative Kraft, die durch Himmel & Hölle führte. – Ein Buch ist ein Buch, frei nach Peter Bichsel, aber es wäre kein rechtes geworden ohne Laura Blankenhorn, die die TOPOGRAPHIEN DER KINDHEIT mitgestaltet hat; das Luftballon-Mädchen, das als Titel-Illustration den Band begleitet und im Übrigen eine originale Ludwigsburger-Banksy-Graffiti-Kopie ist, stammt in der Coverversion ebenfalls aus ihrer Werkstatt. Das Buch wäre auch kein Buch ohne den Sachverstand und den außerordentlichen Einsatz von Judita Kanjo und Caroline Merkel. – Und dieses Buch wäre kein umfänglicher und ansehnlicher Band geworden ohne die Beiträgerinnen und Beiträger, die diese Kindheitsvermessungen vorgenommen haben, die nun zu einem Logbuch gebunden werden konnten. – Das vorliegende Buch möge nun dazu dienen, den eingeschlagenen Routen zu folgen, ebenso neue Wege zu finden und ungewohnte Erkundungen zu wagen: So vielleicht die Welt zu umrunden, warum auch nicht, denn: »Die Erde ist rund.«1

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Bichsel 1969: 9.

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L ITERATUR Primärliteratur Bichsel, Peter (1969): Kindergeschichten, Neuwied/Berlin: Luchterhand. Bichsel, Peter (2002): Eisenbahnfahren. Hrsg. und mit einem Nachwort v. Rainer Weiss (=Insel-Bücherei Nr. 1227), Frankfurt/M./Leipzig: Insel.

Sekundärliteratur Assmann, Aleida (2009): Geschichte findet Stadt. In: Moritz Csáky/Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum: Orientierungen im spatial turn der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 13-28. Assmann, Jan (1997): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt. Benjamin, Walter (1980): Gesammelte Schriften. Hg. Tillman Rexroth. (Werkausgabe), Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1970/1988): Berliner Chronik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Benjamin, Walter (2000): Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Gießener Fassung, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Böhme, Hartmut (2005) (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart/Weimar: Metzler. Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.) (2008): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dünne, Jörg: Geschichten im Raum und Raumgeschichte. Topologie und Topographie: Wohin geht die Wende zum Raum? www.uni-potsdam.de/romanistik/ ette/buschmann/dynraum/pdfs/duenne.pdf (20.1.2014) Faber, Richard/Naumann, Barbara (Hg.) (1995): Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, Würzburg: Königshausen & Neumann. Gansel, Carsten (2009): Rhetorik der Erinnerung. Zur narrativen Inszenierung von Erinnerung in der Kinder- und Jugendliteratur und Allgemeinliteratur, in: Carsten Gansel/Hermann Korte (Hg.), Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 13-40. Günzel, Stephan (Hg.) (2010): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler. Günzel, Stephan (2012): Raum | Bild. Zur Logik des Medialen. Berlin: Kadmos. Hess-Lüttich, E.W.B. et al (Hg.) (1999): Signs and Space/Raum und Zeichen, Tübingen: Narr. Imorde, Joseph (2010): Atmosphärische Landschaft, in: Irene Nierhaus /Josch Hoenes/Annette Urban (Hg.), Landschaftlichkeit. Forschungsansätze zwischen Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Reimer, S. 149-159. Klotz, Volker (1969): Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München/Wien: Hanser.

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[ »Blume-zoof« – Erinnerte Kindheiten ]

»Heimweh nach dem Traurigsein« – Kindheit im Unfertigen J ENNY E RPENBECK

Als ich kürzlich die Zeitung aufschlug, las ich einen Nachruf auf meine Grundschule. Ja, tatsächlich, ehemalige Schüler hatten eine Traueranzeige für das Gebäude, in dem ich acht Jahre lang zur Schule gegangen war, in die Zeitung gesetzt. In stillem Gedenken trauern wir heute um den Abriss unserer Schule. Diese inzwischen erwachsenen Schüler aber hatten in der außergewöhnlich langen Anzeige nicht nur von ihrer Trauer gesprochen, sondern vor allem vom Alltag in und mit dieser Schule, die 1973/74 in dem Tal zwischen den Ostberliner Hochhäusern der Leipziger Straße und dem Springer-Hochhaus auf der anderen Seite der Mauer gebaut worden war – ein Standard-Neubauklotz, der nach der Wende noch etwa zehn Jahre als Gymnasium diente, dann verlassen wurde, dann weitere zehn Jahre leer stand und allmählich von Bäumen, Büschen, Unkraut überwuchert wurde. Ein schweigender Ort, mit dem Sportplatz zusammengenommen vielleicht einen Quadratkilometer groß, gleich um die Ecke vom Trubel des Checkpoint Charlie, der Weltattraktion für alle, die wissen wollen, wie sich die Mauer angefühlt hat. Und nur eine Viertelstunde Fußweg vom Potsdamer Platz entfernt, mit seinen gläsernen Palästen. Wo gäbe es das sonst noch in einer der Hauptstädte der westlichen Welt, dass mitten im Zentrum eine Brache einfach so daliegt, ein totes Stück Land, ein gestorbenes Stück Alltag einer anderen Zeit? Den Ground Zero in New York verwandelte man, sobald der Schutt fortgeräumt war, sofort wieder in eine Baustelle, und am Rand dieser Baustelle entstand sofort ein Museum zum Gedenken an die bei dem Anschlag aufs World Trade Center ums Leben Gekommenen. Aber in unserer Schule war ja niemand gestorben. Es hatte, gottseidank, keinen Krieg gegeben und kein Attentat. Vielleicht fehlt es in den Familien, die heutzutage die Leipziger Straße bewohnen, einfach an Kindern, auch ungeklärte Besitzverhältnisse oder finanztechnische Kniffe mögen zum Verrotten des Gebäudes beigetragen haben, oder war es wieder einmal nur der sozialistische Asbest, der den Grund abgab für die Schließung? An unserer Schule jedenfalls ließ sich, nachdem sie von den Behörden aufgegeben worden war, nichts weiter ablesen als das Warten der neuen Gesellschaft auf ein Grundstück in bester Lage. Als ich jetzt hingehe, um den Trümmerhaufen zu besichtigen, steht vom

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hinteren Treppenhaus gerade noch ein kleiner Rest. Das war das Treppenhaus, das zu meiner Zeit zu den naturwissenschaftlichen Fachräumen geführt hat. In den Hofpausen standen in der Nische zwischen dessen Außenseite und dem eigentlichen Schulgebäude die Jungen aus meiner Klasse in engem Kreis beieinander und wandten allen anderen den Rücken zu, um heimlich zu rauchen. Als dann einer von ihnen mein Freund wurde, war ich das erste Mädchen, das in den Hofpausen auch dort stehen und allen anderen den Rücken zuwenden durfte. Was passiert, wenn eine Wand zusammenstürzt, wenn die Zimmerdecke auf den Fußboden stürzt, mit der Krümmung der Raumzeit? Das Verschwinden von Orten hat immer zwei Phasen, das wird mir erst jetzt klar, als ich neben dem großen Trümmerhaufen den schlaffen Berg roter Gummimatten sehe, mit denen der Sportplatz belegt war. Die erste Phase: die Entleerung, das Überwuchertwerden, Zusammenstürzen, aber Noch-da-Sein, und dann zweitens: das Wegwischen und die Neubesetzung. Erst nach dem Wegwischen, dem Abräumen, dem Entsorgen kann etwas anderes an die Stelle treten, wo schon einmal etwas war. Die verwahrloste Fermatenpause im Bezirk Mitte war immerhin noch eine Art Platzhalter für meine Erinnerung an diese Schule gewesen, die, wie es Schulen so an sich haben, durchaus nicht immer ein glücklicher Ort war. Eine Wildnis mitten im aufstrebenden Bezirk Berlin-Mitte, war dieser eine Quadratkilometer auch so etwas wie eine alte Zeit, die der neuen noch im Hals steckt, bevor sie endlich ausgespuckt werden kann. Erst mit dem Glätten und Säubern der Oberfläche treten der verschwundene Ort und die mit ihm verschwundene Zeit ihren letzten Weg an, den Weg ins rein Geistige, wenn man so will, existieren von da an nirgendwo mehr sonst als in zum Beispiel meinen Gehirnwindungen und den Gehirnwindungen einiger anderer, finden in irgendeinem Gedächtnis ihre je andere letzte Zuflucht. Wenn eine Decke einstürzt und auf einen Fußboden fällt, und so den Raum, der vorher zwischen den beiden war, auslöscht, wenn der wirkliche Raum ausgetrieben ist, aber immerhin noch über seiner nun flachgewordenen Hülle schwebt, beginnen die Gedanken und Erinnerungen derer, die ihn bewohnt und benutzt haben, schon zu zucken, und erheben sich schließlich, wenn auch noch ebendiese letzte wirkliche Hülle beiseitegeräumt ist, an Stelle der gestorbenen Wirklichkeit zu einem eigenen Leben, als müsse sich so irgendein unsichtbares Gleichgewicht wieder herstellen. Vielleicht sollte man einmal diese Art von Verwandlung, diese Art unterirdischer Zuflüsse von Wirklichkeit zum großen Meer des Erinnerns einmal genauer untersuchen, vielleicht ist das, woran wir uns erinnern, nicht nur Abbild der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst in aufgehobener Form. Wenn meine Schule, zum Beispiel, oder mein Sportplatz, der mit roten Gummimatten belegt war, verschwinden; wenn alle Trümmer und alle Reste in Containern abtransportiert sein werden, wird alles, was ich an diesem Ort erlebt habe, in meinem Gehirn hellwach und lebendig sein, viel wacher und lebendiger als die quasi schlafenden oder ruhenden Gedanken an die Dinge, die ich noch in der Wirklichkeit weiß. Der Platz vor dem Haupteingang der Schule war genau so groß, dass alle Schüler sich beim Fahnenappell dort im Karree aufstellen konnten. Dort stellten wir uns aber

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auch auf, wenn von der Schulleitung übungshalber der Feueralarm ausgelöst worden war. Und ab April oder Mai vollführten wir ebendort nach einer strengen, selbstauferlegten Ordnung Sprünge über zusammengeknotete und zwischen zwei Mädchenbeinpaaren aufgespannte Gummibänder, Schlüppergummmi nahm man dafür, und Gummihopse hieß das Spiel bei uns, heutzutage sagt man wohl Gummitwist dazu. Erste Höhe die Höhe der Knöchel, zweite Höhe die Kniekehlen, dritte Höhe die Hüften, und einfacher waren die Sprünge, bei denen man mit den Füßen verschiedene Bewegungen ausführte, als die, bei denen man mit beiden geschlossenen Füßen über eines der Bänder springen musste. Auf der Treppe, die von diesem Sprung-, Fahnenappell- und Feueralarmplatz zum Haupteingang hinaufführte, wurden auch die jährlichen Klassenfotos gemacht, stufenweise die Größeren hinter den Kleineren aufgestellt wie in einem Chor. Ein Platz, der genau so groß ist, dass alle Schüler Platz haben, um sich beim Fahnenappell dort im Karree aufzustellen (Wo ist der blaue Faltenrock? Wo mein Käppi? Wieso hält das nicht? Komm her, ich steck es Dir mit der Haarklemma fest! Nicht, das tut weh!), also so ein Platz ist mit Platten belegt, und wenn so ein Platz mit Platten belegt ist, kann man auf ihm auch sehr gut über ein Gummiband springen, das zwischen zwei Mädchenbeinpaaren aufgespannt ist. Ein Fahnenappell kann Alltag sein, genauso wie ein Spiel, das Mädchen spielen, wenn das Wetter endlich so warm ist, dass man Kniestrümpfe anziehen kann. Dort, wo dieser Platz war, stehen jetzt keine Schüler mehr, und das Wort Fahnenappell ist eine Vokabel, die ausgedient hat, ein Trümmerwort. Dort, wo nichts war, damit man sich ordnungsgemäß versammeln konnte, sind nun die Betonstücke des Gebäudes übereinander hergefallen. Der Berg aus Betonstücken betrifft mich, denn an einem von ihnen, sehe ich, kleben noch die kleinen blauen Fliesen aus der Mädchentoilette. Habe ich diese Toilette gemocht? Kann man eine Schülertoilette überhaupt mögen? Freue ich mich denn nicht auf die Zukunft? Auf die lichtdurchfluteten Wohnungen oder Büroräume, die sich bald anstelle zum Beispiel dieser ehemaligen sozialistischen Schülertoilette erheben werden? Auf Granit, Edelstahl, Eichenholz – anstelle der Klassenzimmerwände mit Wandzeitungen, die Überschriften trugen wie: Aus dem Funken schlug die Flamme!, und auf leise schließende Fahrstühle anstelle der vielen Luft, in der die Schüler auf die Aufforderung: Für Frieden und Sozialismus – seid bereit! mit einem zackigen oder müden: Immer bereit! geantwortet haben? Nein, es geht merkwürdigerweise gar nicht darum, ob das, was jetzt ersetzt wird, erfreulich oder unerfreulich war, gut oder böse, ehrlich oder unehrlich. Es war einfach Zeit, die tatsächlich auf diese, mir bekannte Weise vergangen ist und in diesen Räumen aufgehoben war. Es geht um Zeit, die einmal eine Gegenwart war, und zwar eine allgemeine Gegenwart, die meine persönliche Gegenwart mit einschloss. Zeit, zu der ein bestimmter Begriff von Zukunft gehörte, der mir vertraut war, wenn diese Zukunft selbst auch noch in weiter Ferne liegen mochte. Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war, ist ein schöner Satz von Karl Valentin. Was aus der lichten Zukunft geworden ist, auf die wir in dieser Schule vorbereitet werden sollten, weiß ich inzwischen. Die Mühen der Ebene. Die Ebene

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war zu weit gewesen. Aber jetzt? Jetzt gibt es wieder eine Zukunft. Oder fallen Gegenwart und Zukunft jetzt für immer in eins? Und wird vielleicht mit den Ruinen, die nun ein für allemal abgeräumt werden, auch die Vergangenheit ein für allemal abgeschafft? Kommen wir nun für immer in einer Zeit an, die für alle Zeit Gültigkeit haben soll? Jetzt, wo der Keller, in dem an manchen Tagen eine Impfstelle eingerichtet war, und der Essensaal, in dem es noch solche Gerichte wie Blutwurst mit Sauerkraut gab, und die Aula, in der unsere Bilder aus dem Kunstunterricht aufgehängt waren, in Trümmern liegen, sehe ich, dass in Entsprechung zu den zwei Phasen des Ver-schwindens, von denen ich vorhin gesprochen habe, auch meine Trauer zwei Phasen hat: Mit dem Verfall dieses Ortes habe ich zuerst nur konkret um Impfstelle, Essensaal oder Aula getrauert, natürlich nicht um die Räume als solche, aber um diese Räume als Bühnenbild meines Kinderalltags, dem nun allmählich die Kulisse, durch die er bis zuletzt noch mit der Gegenwart verbunden geblieben war, dahinschwand, als könnte auch so ein Alltag, der längst vorbei ist, noch im nachhinein alt und schwach werden. Mit dem Wegwischen der Trümmer aber beginnt bei mir außerdem eine grundsätzlichere Art von Trauer, die über meine eigene Biographie hinausreicht: Die Trauer über das Verschwinden einer solchen sichtbaren Verwundung eines Ortes, über das Verschwinden kranker oder gestörter Dinge und Räume, die Zeugnis davon ablegen, dass eine Gegenwart nicht mit allem fertig wird, fertig wird, wie es so passend heißt. In dieser zweiten Phase, der Phase der Säuberung, trauere ich also um das Verschwinden des Unfertigen oder Kaputten an sich, dessen, was sich bis dahin sichtbar einer Eingemeindung verweigert hat, um das Verschwinden des Drecks, wenn man so will. Wo Gras einfach so wächst, wo sich Unrat ansammelt, tritt eine Relativierung menschlicher Ordnung ein. Und das ist angesichts der Tatsache, dass wir selbst allesamt sterblich sind, nie schlecht fürs Nachdenken. Das zur Schau gestellte Fertigwerden mit allem aber beunruhigt mich, denn im Fertigwerden steckt eben die Behauptung, dass die Zukunft schon da sei. Eine glatte Oberfläche erzählt mir auch, dass die andere Hälfte der Wahrheit, also der Dreck, immer noch irgendwo sein muss, nur dass man ihn nicht mehr sieht. Ich glaube einfach nicht daran, dass der Dreck sich zu hundert Prozent in Ordnung auflösen lässt. Ich glaube, er verschiebt sich nur und wartet von da an auf seinen Auftritt als Gespenst. Einer sauberen Zukunft, wo auch immer sie in Aussicht gestellt wird, sehe ich also grundsätzlich nur mit größtem Misstrauen, mit Fremdheit und, ja, auch mit Trauer entgegen. Wo die sozialistischen Architekten die bösen Geister aussperren wollten, fehlte im Zweifelsfall der Beton oder riss wenigstens. Es war auch nicht alles auf einmal zu schaffen. Ersatzteile waren ein Problem. Und außerdem: Wem gehört überhaupt Volkseigentum? Wen kümmert es? Während ich ein Kind war, erzählte in dieser Stadt alles, was ich sah (auch wenn ich es damals noch nicht verstand), aber vor allem davon, dass die Gegenwart des sozialistischen Versuchs noch nicht allzu lange von der Gegenwart eines Krieges entfernt war. Das Unfertige und die Vision der lichten Zukunft, das Zerstörte und die Baustellen der neuen Welt existierten noch nebeneinander und waren jederzeit zu besichtigen. Auferstanden aus Ruinen und der

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Zukunft zugewandt, hieß die erste Zeile der DDR-Nationalhymne, das eine war ohne das andere nicht zu denken, die Zukunft nicht ohne die Ruinen. Und ein Kind lernt ja zunächst nur durch die Dinge, die da sind, es lernt durch das Sehen dessen, was da ist, was parallel existiert. Die Geschichten kommen erst später, die eigenen Erfahrungen. Für ein Kind sind Ruinen anderer Zeiten, die es bei seiner Geburt vorfindet – ebenso wenig wie Krankenhäuser, in denen es noch niemanden, der ihm nahesteht, hat leiden sehen, oder Friedhöfe, in deren Erde es noch keinen Freund, keine Großmutter, keinen Großvater, nicht Vater oder Mutter begraben musste – zunächst ja keine Orte der Trauer. Nicht einmal Orte der Angst, weil ihm auch zur Angst die Erfahrung fehlt. Meine, nennen wir es einmal so, Liebe zum Dreck, zum Unfertigen und zu den Ruinen war, als ich ein Kind war, eine unbelastete Liebe, und mein Lernen fand allein durch die Gegenwart solcher beschädigten Orte und Räume statt, durch ihr bloßes Dasein, dadurch, dass ich mit ihnen meine Lebenszeit teilte. Ruinen waren in meiner Kindheit ein alltäglicher Anblick gewesen, und zwar ebendiese Ruinen, die mich nichts gekostet hatten, die, in deren Wirklichkeit ich hineingeboren worden war. Hatte ich meine ersten Rendezvous mit dem schon erwähnten Freund aus meiner Klasse nicht in der Ruine des Deutschen Doms gehabt, zwischen Unkraut und schartigen Steinblöcken? War ich nicht über eine Birke, deren starke Äste bis zum zweiten Stock hinaufreichten, in die Ruine des Neuen Museums hinübergeklettert, auf die noch heile Hälfte eines Museumsgangs, um die Statuen dort anzuschauen, von denen niemand sonst wusste? Die Statuen, als Torso gedacht, nun aber von einem Krieg, der sie nichts anging, noch mehr verstümmelt. Hatte mein Vater nicht jedes Mal, wenn wir in unserem Trabi am Alex vorbeifuhren, auf den Bauzaun gegenüber vom Roten Rathaus gezeigt, und an die biedermeierlichen mumifizierten Toten erinnert, die er als Student in den unzerstört gebliebenen Katakomben der Nikolaikirche gefunden hatte, und die wahrscheinlich noch immer dort unter den Trümmern des leergebombten Gevierts lagen? Ich kannte die Einschusslöcher im Sockel der Humboldt-Universität und der Staatsbibliothek und all der anderen großen Gebäude in Berlin-Mitte, ich wusste zu jeder Zeit, wie es aussieht, wenn ein Baum aus einer Dachrinne wächst, wusste, wie es ist, wenn man aus einem Zimmer einen Ausblick hat auf einen Luftschutzbunker, und kannte die blassen Farben, mit denen sich an einer übriggebliebenen Ziegelwand ablesen ließ, wo einmal ein Badezimmer, eine Küche, eine Speisekammer gewesen war. Stahlträger. Verkohlte Balken. Wände mit nichts dahinter. Räume, in denen es auf tote Tauben regnet, weil kein Dach da ist. Brandmauern, die bei Sonnenuntergang schöne Silhouetten machen. Abgesperrte Gelände. Leerstellen und Sackgassen mitten in Berlin-Mitte. Als Kind habe ich die Ruinen geliebt. Es waren heimliche Orte, unbesetzte Orte, wo das Unkraut kniehoch wuchs, und zu denen uns kein Erwachsener folgte. Es waren manchmal auch gefährliche Orte, Orte mit schönem Ausblick, Orte, an denen wir Entdeckungen machen konnten, die nur uns allein gehörten. Ruhige Orte, an denen nichts passierte, als dass die Wolken darüber hinwegzogen. Orte, an denen man durch mehrere Wände und leergebrannte Fenster hindurch den Himmel sehen konnte. Orte, an denen Hirtentäschel wuchs, und die Herzen davon konnte man

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essen. Es waren Orte, die Landschaft waren, mitten in der Stadt. Spät erst habe ich verstanden, dass auch das, was meinem kindlichen Blick vertraut war, in Wahrheit eine zerstörte andere Zeit war, die der neuen im Hals steckt, bevor sie endlich ausgespuckt werden kann. Einen Unterschied allerdings gab es: Dass die Ruinen da standen, kostete damals nichts. Die Zeit lief nicht, die Zeit stand. Kein Mensch redete über Geld. Das Privateigentum war abgeschafft. Die Immobilien machten ihrem Namen alle Ehre: Sie waren da und bewegten sich einfach nicht. Wahrscheinlich habe ich in dieser Zeit gelernt, mit dem Unfertigen zu leben, und mit dem Bewusstsein, dass Häuser, die für die Ewigkeit gebaut sind, nicht ewig halten. Erst als Erwachsene habe ich erfahren, dass Hitler seine Großbauten für das Tausendjährige Reich unter anderem auch dafür konzipiert hat, dass sie nach den tausend Jahren immerhin noch großartige Ruinen abgeben würden. Am zerstörten Berlin dann konnte man sehr gut studieren, was von einer Kuppel übrigbleibt, und was von einem Warenhaus, konnte ohne viel Mühe lernen, dass sich in einem Mietshaus in den unteren zwei Etagen noch immer ganz gut leben lässt, auch wenn die oberen beiden weggebombt sind. Und dieses Wissen ist eines von der Art, das man nicht wieder vergessen kann. Heute noch rechne ich, ganz ohne besonders nachzudenken, alle Einkaufspassagen in Ruinen von Einkaufspassagen um, lasse Staubwolken in Edelboutiquen sich aufbäumen, stelle mir vor, wie die Glasverkleidungen der Bürohäuser in Scherben gehen und herabrauschen, dahinter dann die nackten Büros, in denen niemand mehr sitzt. Ich weiß wohl, wie es wäre, wenn alle Gummibäume in den Wohnzimmern und alle Geranien auf den Balkons verdorrten, weil keiner mehr da wäre, sie zu gießen, oder weil die, die noch da wären, Dringenderes zu tun hätten, als sich um ihre Pflanzen zu kümmern. Ich sehe Brunnenbecken voller Schutt, ich sehe Straßen, die unbefahrbar geworden sind, und überlege, welche meiner Möbel wohl noch auf einem Stück Fußboden stehen werden, wenn es die Wohnung im Ganzen nicht mehr gibt. Ebenso wusste ich immer schon, wie die Menschen, die mir in der U-Bahn als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene im besten Alter gegenübersaßen, mit 80 Jahren aussehen würden, ich konnte gar nicht anders, als auch diese Menschen in ihre eigenen Ruinen umzurechnen, in kranke, in weise, verwüstete oder überreife Ruinen von Gesichtern und Körpern, ich wusste von dem Verfall, der ihnen bevorstand und sah ihn in immer anderer Gestalt. Dieses zwanghafte Umrechnen ist mir bis heute geblieben, so als sei der Verfall dessen, was es gibt, eben die zweite Hälfte der Welt, ohne die sich nichts denken lässt. Und zugleich lebte ich selbst mitten auf einer Baustelle, die dort nur sein konnte, weil vorher nichts, oder doch fast nichts mehr da war – ohne dass mir damals bewusst gewesen wäre, was ich da erlebte. Ich fange an mit meinem Leben als Schülerin, ich wachse, und die Häuser um unser Haus wachsen auch. Mit meinem eigenen bewussten Leben beginnt auch das sozialistische Leben der Leipziger Straße, die heute auf den Potsdamer Platz zuführt, damals aber an der Mauer zu Ende war.

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Und so ist es wahrscheinlich immer: Man braucht das ganze eigene Leben, um das eigene Leben zu enträtseln. Schicht um Schicht legt sich Wissen auf die Vergangenheit und lässt sie immer wieder neu wie eine Vergangenheit aussehen, die man zwar gelebt hat, dabei aber gar nicht kannte. Heute weiß ich, das die Leipziger Straße vor hundert Jahren eine enge, beliebte und sehr belebte Geschäftsstraße war, mit Tabakläden und Pferdebahn, Sandsteinschnörkeln an den Häusern und Frauen mit schönen Hüten. Jüdische Tuchfabriken hat es noch zu Beginn der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts in dem Viertel gegeben. Aber als ich ein Kind war, gab es das alles nicht mehr, und ich wusste nicht, dass etwas dort fehlte, oder wer. Heute weiß ich auch, dass die Hochhäuser, in deren einem ich wohnte, durchaus als Pendant zum Springer-Hochhaus gebaut wurden, aber als ich ein Kind war, habe ich mich einfach gefreut, wenn wir an Silvester von der Terrasse über dem 23. Stockwerk auf die vielen Lichter blicken konnten. Als ich ein Kind war, war die eine Hälfte der Stadt für mich ein Ganzes, und noch heute weiß zwar mein Verstand, aber nicht mein Gefühl, dass die Stadt erst jetzt wieder so funktioniert, wie sie gewachsen ist und gemeint war. Hundert Male kann ich zum Beispiel die Chausseestraße entlangfahren, die vom Ostberliner Stadtbezirk Mitte in den Westberliner Wedding führt und inzwischen wieder eine ganz normale Straße ist (abgesehen vom monströsen Neubau des Ministeriums des Innern), und doch fahre ich alle hundert Male über einen Grenzübergang. Dieses Wieder-Zusammenwachsen ist für mich kein Wieder-Zusammenwachsen, sondern eine recht willkürliche Addition, eben weil ich als Kind Berlin nicht als eine Stadt erlebt habe. Ich sehe, wie die Funktionen einer kapitalistischen Metropole wieder in die Gebäude einziehen, die ihnen, fünfzig Jahre zuvor, schon einmal gehört haben, und begreife jetzt, dass diese Gebäude schon immer mehr wussten, als sie mir erzählen konnten. Haus der Schweiz, wie hatte es mich immer gewundert, dass mitten unter den sozialistischen Linden dieses eigentümlich gebaute Haus, in dessen Erdgeschoss ein Lebensmittelladen war, so hieß. Inzwischen aber gehört das Haus wieder Banken und Versicherungen, wie bei seiner Erbauung. Und dennoch – was ich mit dem Gefühl eines Kindes nicht gelernt habe, kann ich mit dem Gefühl einer Erwachsenen nicht nachholen. Jemandem wie meinem alten Nachbarn, der seine Brötchen vor dem Krieg immer auf der anderen Seite der Straße geholt hat, dort, wo dann plötzlich von einem Tag auf den anderen Westen war, ist es wohl genau andersherum ergangen. Der hat mit dem Gefühl eines Kindes das ganze Berlin gelernt, für den war die Mauer, denke ich mir, wohl vierzig Jahre lang eine Subtraktion. Als ich ein Kind war, unterschied ich nicht zwischen den Ruinen, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, und den Brachflächen und städtebaulichen Absurditäten, die durch den Mauerbau entstanden waren. Ein Kind schleift alles, was ihm begegnet, zu einer, zu seiner Gegenwart ab. Auch die unerreichbare Welt hinter der Mauer war eben vor allem ein Leerraum, und dabei kam es mir als Kind nicht darauf an, ob das eine Leerstelle war, die direkt vom Krieg herrührte, oder ob es erst eine Leerstelle war seit 1961. Für mich, die ich in den 70er Jahren ein Kind war, waren die Häuser, an denen noch in Nazi-Fraktur-

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schrift Molkerei oder Kohlehandlung stand, während dort längst keine Molkerei und keine Kohlehandlung mehr waren, eben ein genauso alltäglicher Anblick wie die versperrten Eingänge zu den seit dem Mauerbau stillgelegten U-Bahn-Stationen. Altes Papier und trockenes Laub wehte der Wind zum Fuß dieser Treppen, die dreißig Jahre lang niemand hinunterging; die Fahrgeräusche dieser U-Bahn-Linien, die unter dem Osten Berlins verkehrten, waren zwar durch die Lüftungsgitter manchmal bis hinauf zu uns Ostkindern zu hören, und wir kannten auch die warme Luft, die uns aus diesen unerreichbaren Schächten anwehte, aber wir lernten, dass ebenso, wie städtische Molkereien und Kohlehandlungen für immer verschwinden können, unter unseren Füßen auch Wege verlaufen, die nicht für uns bestimmt sind, dass über unseren Köpfen auch Flugzeuge fliegen, mit denen wir niemals fliegen werden, wir hörten die Handwerker auf den Baugerüsten in Westberlin hämmern und bohren, und wussten, dass eine ganze Welt, die so nah schien, dennoch unerreichbar sein konnte. Zugleich aber lernten wir, wenn man es einmal andersherum ansieht, dass es neben der Welt, die wir kannten, ganz in der Nähe überhaupt eine zweite Welt gab. Wir lernten, ohne zu lernen, einfach nur durchs Dasein in dieser Stadt und durchs Leben in diesem Leben, dass das, was man greifen konnte, nicht alles war. Dass sich andere Welten verbargen in der Erde, über die wir liefen, und in dem Himmel, dessen Wolken ungerührt über Ostteil und Westteil der Stadt dahinschwammen. Als Kind war ein Leerraum für mich nicht das Zeugnis eines Mangels, sondern ein Ort, der von den Erwachsenen entweder aufgegeben oder verboten worden war und daher nun, in der Phantasie, ganz und gar mir gehörte. Oft stand ich bei meiner Großmutter zu Hause im Wohnzimmer an der Gardine und sah mir das große Haus an, das hinter der Mauer, drüben, zu sehen war. Es mochte eine Schule sein oder eine Kaserne. Am Morgen war dieses Haus ganz sonnenbeschienen. Es gefiel mir und ich fragte mich, was da für Leute wohnen oder arbeiten mochten. Die Mauer, die mich von dem Stadtteil trennte, in dem das Haus stand, und die Spanischen Reiter vor der Mauer, auch der wahrscheinlich verminte Sandstreifen, auf dem die Spanischen Reiter standen, und der Grenzposten, der direkt unter mir patrouillierte, interessierten mich wesentlich weniger. Abends waren die Fenster dieses Hauses lange hell, jedes Fenster mit dem gleichen Neonlicht, also waren es wahrscheinlich doch keine Wohnungen. Ein Leerraum ist ein Raum für Fragen, nicht für Antworten. Was man nicht kennt, ist unendlich. Meine Großtante zum Beispiel, die mir immer die schönsten Westpakete aus der anderen Hälfte Berlins schickte, wohnte in der Sickingenstraße. Die Adresse stand auf dem Packpapier. Sickingenstraße. Der Trompeter von Sickingen, habe ich meine ganze Kindheit über gedacht, und dabei ist es der Trompeter von Säckingen. Und der Trompeter von Säckingen konnte, das war mir eigentlich schon damals klar, auf gar keinen Fall derjenige Trompeter sein, an den ich dachte, wenn ich das Lied vom Kleinen Trompeter sang: Von all unsern Ka-ameraden, war keiner so lieb und so gut, als unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut, ein lustiges Rotgardistenblut. Aber wenn man ein Kind ist, vermischt sich eben die unerreichbare Sickingenstraße in Westberlin mit dem kommunistischen Trompeterlied Erich Weinerts, das mich als Kind jedes Mal zu Tränen gerührt hat, und so wird die Sickingenstraße eine

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schöne Straße, eine schöne Straße im unerreichbaren Westen, in der es nach Ariel und nach Jacobs Krönung duftet, während der kleine Trompeter den melodiösen Heldentod sterben muss. Nach dem Mauerfall dann habe ich meine Tante irgendwann einmal besucht, und die Sickingenstraße war, wie könnte es anders sein, durchaus nicht schön und duftend, sondern laut und schmutzig, und die Wohnung meiner Tante befand sich in einem bescheidenen Nachkriegsbau aus den fünfziger Jahren, zwei Zimmer, Küche, Bad, dunkel, mit niedrigen Decken, Schrankwand, Sammeltassen, Sofaecke. Aus dem gardinenverhangenen Fenster blickte ich auf das gegenüberliegende Haus mit der Überschrift Arbeitsamt, und auf die vielen traurigen Männer, die davorstanden und offenbar darauf warteten, dass das Amt endlich aufmachte. Noch durchs geschlossene Fenster hindurch hörte ich bis ins stille Wohnzimmer meiner Tante hinein das Lärmen der nahen Stadtautobahn. Der freigelassene Westen sah also gar nicht so aus, roch gar nicht so, hörte sich gar nicht so an wie der Westen, als er noch in meinem Kinderkopf seine Blüten trieb. Und von der anderen Seite her war das Unbekannte, das sich wie ein Vakuum mit Geschichten füllt, wahrscheinlich genauso groß. Grau sei Ostberlin gewesen, sagen diejenigen, die vom Westen aus sich in den Ostteil hinübergewagt haben. Und erst jetzt verstehe ich so ganz, was für ein Abenteuer es damals gewesen sein mag, nach Erlegung des Eintrittsgeldes in so eine verbotene Zone hineinzugehen. Vielleicht war das ganze Ostberlin für die damaligen Besucher aus der wirklichen Welt so eine Art von Wildnis wie für mich die Ruine des Deutschen Doms. Als ich als Halbwüchsige später in der Nähe des Grenzübergangs Friedrichstraße wohnte, schenkten mir manchmal Westler, die ihr zwangsumgetauschtes Geld im Osten nicht losgeworden waren, ihre Zwanziger. Sie sahen so aus, als ob sie sich ein wenig dafür schämten, dass sie mich wie eine Bettlerin behandelten, sie sahen auch so aus, als verstünden sie ganz und gar nicht, wie dieser Osten eigentlich funktioniert, und sie sahen so aus, als ob sie froh seien, wieder dorthin zurückkehren zu können, wo sie sich auskannten. Dabei war das östliche Berlin, glaube ich heute, nachdem ich den Westen kenne, wahrscheinlich gar nicht um so viel grauer als das westliche, nur fehlten die Werbeplakate und Leuchtreklamen an den zerschossenen Wänden und vor den Trümmerlücken. Ja gut, der Putz fiel von den Wänden der Häuser im Prenzlauer Berg, und manche Balkons durften nicht mehr betreten werden, ja. Die Haustüren wurden nicht abgeschlossen, weil Privateigentum uninteressant war, und deswegen pinkelte manchmal ein Betrunkener in einen Hausflur. Gut. Ich aber erinnere ich mich, Grau hin, Grau her, vor allem an eine Art von beinahe kleinstädtischer Ruhe, die bei mir als Kind den tiefen Eindruck erzeugte, zu Hause zu sein – in einer abgeschlossenen und daher ganz und gar sicheren Welt. Jedes Kind baut sich gern Verstecke, Höhlen unter Tischen oder in Bäumen, im Verhältnis zu seinem 3, 4 oder 5 Jahre alten Körper kaum größer als die Höhle, aus der es einmal geschlüpft ist, eine zusammengeklappte Hollywoodschaukel konnte für mich und meinen Spielkameraden eine Wohnung sein mit vier Zimmern, je enger das Eigene war, desto mehr war es ein Zuhause. Von außen gesehen, mochte unser sozialistischer Alltag exotisch anmuten, aber wir selbst waren uns ja kein Wunder und auch

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kein Schrecken, sondern Alltag, und in diesem Alltag waren wir unter uns. Das Einzige, was uns Kinder mit der sogenannten großen, weiten Welt da draußen verband, waren zum einen die Westpakete, die aber nicht alle bekamen, und zum anderen die internationale Solidarität, der weltweite Kampf für die Freilassung von Luis Corvalan oder von Angela Davis zum Beispiel, und den übersetzten wir als Schulkinder in sehr überschaubare Schmalzstullenbasare oder Altstoffsammlungen. Biedermeierlich waren die Möbel meiner Eltern, und unser Geld leicht wie Spielgeld. Unmündig sein, solange man unmündig war, tat nicht weh. Als Kind liebt man, was man kennt. Nicht das, was für Erwachsene schön ist. Oder für Fremde. Sondern einfach das, was man kennt. Man ist froh, dass man etwas kennt. Und diese Freude brennt sich ein und verwandelt sich in das Gefühl, zu Hause zu sein. Und ich, ja ich also liebte das hässliche, das sogenannte graue, das verkommene östliche Berlin, das mir vertraut war, und das es zumindest in der Gegend, in der ich ein Kind war, nicht mehr gibt. Nachdem ich zu Beginn meines erwachsenen Lebens dann doch noch zu unterscheiden gelernt habe zwischen diesen und jenen ruinösen Stätten, nachdem ich selbst durch dieses Alter, in dem fünfzehn oder zwanzig Jahre ein Menschenleben sind, hindurchgegangen bin, nähere ich mich jetzt zu meinem eigenen Erstaunen der Zeit, in der im Rückblick wieder alles verschliffen wird: Selbst inzwischen zwanzig Jahre vom Einkaufen in der Kaufhalle entfernt (nur zwanzig Jahre!), wird mir klar, dass ich und mit mir all die sozialistischen Persönlichkeiten meiner Generation auch nur zwanzig Jahre nach Hitlers Selbstmord geboren wurden, und beginne allmählich, alles, was ich als Kind zu einer, nämlich meiner Gegenwart abgeschliffen hatte, nun zu einer, nämlich meiner Vergangenheit abzuschleifen; verstehe ich plötzlich, wie eng der Mauerbau tatsächlich und ursächlich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbunden war. Jetzt erst komme ich wieder bei dem an, was ich als Kind schon wusste, ohne es zu wissen, gelernt hatte, ohne es zu lernen. Die Kinder und Jugendlichen von heute aber wird es sicher freuen, dass es noch ein paar stillgelegte Schulen gibt, in die sie einsteigen, an deren Wände sie ein paar Buchstaben sprayen dürfen, wo keiner es sieht, es wird sie freuen, dass es jetzt etliche verlassene Gutshäuser gibt, die bis Anfang der 90er Jahre zwar zweckentfremdet, aber immerhin doch genutzt wurden, als Kindergarten, Altersheim, Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Und ihnen wird es ganz egal sein, ob das wilde Ufer entlang der Spree Folge des Mauerbaus ist, oder irgendein leerstehendes Gebäude Folge des Mauerfalls. Sie werden mit Steinen auf die Fenster des Säuglings- und Kinderkrankenhauses in Berlin-Weißensee zielen, das bis Anfang der 90er in Betrieb war, und in der großen Fabrik in Berlin-Schöneweide herumklettern, wo bis Anfang der 90er der Volkseigene Betrieb »Bärensiegel« Liköre und Weinbrände herstellte. Die interessanteste Frage aber ist die: Was wird das für eine Welt sein, wenn all diese maroden Gebäude endlich abgetragen, fachgerecht in ihre Bestandteile zerlegt und umweltfreundlich entsorgt sein werden? Wie wird die Welt dann aussehen, wenn sie endgültig schön und modern ist?

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Ihnen ist sicher auch schon längst aufgefallen, dass es bei den Italienern, von denen doch jeder weiß, wie sehr sie Kinder lieben, überraschend wenig Spielplätze gibt. Bei den Deutschen aber, die schon jetzt mit Furcht ihrem Aussterben entgegensehen, gibt es für die wenigen Kinder, die man sich noch leistet, nicht nur pädagogisch wertvolles Haba-Spielzeug, sondern überdies die schönsten und abwechslungsreichsten Spielplätze, die man sich denken kann. Was mag das bedeuten? Die einzigen Kinder, die ich in den letzten Jahren allein, das heißt: ohne Eltern, in unserem Viertel habe spielen sehen und hören, waren Zigeunerkinder, die in meinem Nachbarhaus wohnten, sie trugen sich gegenseitig Huckepack, liefen noch im Dezember mit rutschenden Kniestrümpfen umher und versteckten sich kreischend in den Büschen auf dem Innenhof hinter meinem Haus – kurz: Sie sahen so aus und benahmen sich so wie die Kinder auf den Zeichnungen des Berliner Zeichners Heinrich Zille zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und wie auch ich selbst noch, damals, in meiner Ost-Kindheit (zumindest in den Ferien). Seit der Sanierung des Nachbarhauses aber sind andere Mieter eingezogen, jetzt herrscht auf unserem Innenhof, und vielleicht bis in alle Ewigkeit, wohlhabende Ruhe. Mit meinem Sohn streife ich im Sommer, wenn wir auf dem Land sind, manchmal gemeinsam umher, krieche mit ihm durch zerlöcherte, windschiefe Zäune auf verlassene Grundstücke ehemaliger Betriebsferienlager, öffne die Türen leerstehender Bungalows, nicht einmal abgeschlossen sind die, und blicke mit ihm stumm auf die sorgsam zusammengelegten Wolldecken am Fuß der Doppelstockbetten; auf die bei einer lang, lang zurückliegenden Abreise ordnungsgemäß vorgezogenen Gardinen; und auf die Mitropa-Tassen, die irgendjemand vor über zwanzig Jahren frisch abgewaschen ins Küchenregal gestellt hat. Blicke mit ihm, ohne dass einer von uns ein Wort sagt, auf all das, was wie durch eine Verwünschung unverändert erhalten geblieben ist, seit die letzten sozialistischen Urlauber dort ihren Jahresurlaub verbracht haben, unmittelbar bevor zu Beginn der 90er Jahre ihre Betriebe abgewickelt wurden, und sich eine Abwesenheit, die nur zwei Tage dauern sollte, in eine Abwesenheit für immer verwandelt hat. Wie aber wird unsere Zukunft wirklich aussehen, wenn alle Besitzverhältnisse endgültig geklärt, wenn die Ikea-Hallen und all die anderen Container-Bauten von nun an tausend Jahre in den Außenbezirken der großen Städte stehen und niemals verrotten werden, wenn alle Fachwerkhäuschen entkernt und saniert worden sein werden, und alle alten Ziegelwände mit einer Schicht, die die Patina schützt, aber auch abdichtet, überzogen sein werden, wenn alle herrlichen Ausblicke mit Cafés versehen sein werden, wenn alles, was einmal war, entweder abgerissen und durch einen Neubau ersetzt oder ein Museum geworden ist – und alles, was ist, nicht einmal kitschig, und schon gar nicht schäbig, nicht ärmlich und nicht billig, sondern wirklich schön sein wird? Wenn es aus keinem Rohr mehr tropft, wenn sich nirgendwo mehr Grünspan bildet, wenn nichts Brüchiges mehr mit einem Bindfaden umwickelt sein wird, nichts Wackeliges mehr mit einem halben Ziegelstein, der

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gerade herumliegt, abgestützt wird? Was für Kindheiten werden das sein, wenn alles fertig und makellos ist? Aber darüber nachzudenken, ist ja heute und hier nicht meine Aufgabe. Ich sollte und wollte mich einfach nur ein wenig an meine unvollkommene Kindheit erinnern, zum Beispiel an eben diese Schule, in der ich immer in der ersten großen Pause, der sogenannten Milchpause, meine Vanillemilch aus einer kleinen dreieckigen Tüte getrunken habe, an die Fallbleistifte, die wir aufschraubten und als Blasrohr für Papierkügelchen verwendeten, an die Zettel, die wir uns schrieben und zusteckten, an die Lachkrämpfe, die meine beste Freundin und ich hinten in der letzten Reihe bekamen, daran, wie wir kippelten, oder hinter der aufgeklappten Federmappe mit Nadeln und Knöpfen und Radiergummis Arzt spielten (operiert wurde allerdings nur an unseren Händen); erinnern wollte ich mich auch an den Tag, an dem ich zum ersten Mal mit einer Brille auf der Nase in den Unterricht kommen musste, und alle sagten, ich sähe jetzt aus wie Lilo Hermann, die antifaschistische Widerstandskämpferin, die im Schulbuch abgebildet war, und die uns damals abgrundtief hässlich zu sein schien, nur weil sie eine Hornbrille getragen hatte; oder an den anderen Tag, an dem ich mitten im Unterricht aufstand, quer durch den Raum ging und dem Jungen, der mich immer ärgerte, eine Ohrfeige gab, um Eindruck zu machen – und dann aber von diesem Knaben zurückgeohrfeigt wurde: eine vollkommen unritterliche und daher nicht erwartete Revanche. Bis in die Pause hinein war der rote Fleck auf meiner Wange zu sehen gewesen. Wenig später war es genau dieser Junge, der mein Freund wurde. Der Ort, an dem all dies statthatte, ist jetzt flach geworden wie ein zusammengeklapptes Buch, neben dem stehe ich und weiß: Da drin habe ich lesen gelernt. Die Wüste sei nicht das Gegenteil von einem Berg, sondern nur ein hingestreuter Berg, hat der Bergsteiger Reinhold Messner einmal gesagt. Mein ganz normaler Schulalltag, der letztendlich nicht viel anders war als tausend andere Schulalltage auch, ist erst durch den Abriss des Ortes, an dem er stattgefunden hat, und durch das Verschwinden der Gesellschaft, die diesen Ort geprägt hat, etwas Bemerkenswertes geworden. Von dem Moment an, von dem an die Wirklichkeit, mit der ich eine Zeitlang mein Leben geteilt habe, nicht mehr existiert, nicht einmal mehr als Trümmerlandschaft, von diesem Moment an, in dem meine Wirklichkeit ganz und gar durch eine andere Wirklichkeit ersetzt sein wird, muss also mein Kopf allein herhalten für die heimatlos gewordenen Erinnerungen – als eine Art Flüchtlingslager. Aber auch das nur für eine kurze Übergangszeit. Denn Erinnerungen sind ja in sterbliches Fleisch eingeschrieben, und werden sich also auch, je älter ich werde, desto mehr verwischen und verwirren, werden vielleicht, bevor ich sterbe, sogar vollkommener Quatsch sein. Haben Sie schon einmal gehört, wie ein alter, zahnloser Mund das Wort Quatsch ausspricht? Mit mir schließlich werden sie endgültig weggewischt werden, damit dort, wo ich mit meinen Erinnerungen an alles Mögliche auf der Welt herumspaziert bin, hoffentlich jemand anderes herumspazieren und sich an etwas anderes erinnern kann.

Vom »sentimentalischen« Kinderbild zur Topographie der Kindheit B URKHARDT L INDNER

S CHILLERS » SENTIMENTALISCHE « K ONSTRUKTION DER K INDHEIT Die kulturhistorischen Konturen des modernen Kinder- und Kindheitsbildes haben sich im 18. Jahrhundert ausgeprägt. Ich möchte dieses Bild mit Schillers Formulierung »sentimentalisch« nennen. Seine Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung von 1795/96 (vgl. Schiller 1967: 694-780), Dokument einer kritischen wie zugleich hochgradigen Bewunderung Goethes als eines naiven Genies1, geht von einem der Gegenwart entgegengesetzten Pol aus, der wechselweise »die Natur« oder »die Griechen« heißt. Ihm steht als Gegenpol das eigene Zeitalter gegenüber, das Schiller, wie schon in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, als eine verderbte und gekünstelte Welt (vgl. ebd.: 702), als Zustand der Unnatur (vgl. ebd.: 696) charakterisiert. Man muss diese kulturkritisch-politische Positionierung unbedingt beachten, um Schillers an Kants Aufklärungsphilosophie geschulten Idealismus zu verstehen. Der Moderne mit ihrer arbeitsteiligen Zersplitterung und ihrer Aufspaltung in soziale Klassen erscheint die Unschuld, die Ganzheit, das Insichruhende der griechischen Welt bzw. der Natur in weite Ferne gerückt. Insofern bleibt in der Tat der kritische Weg allein noch offen. Denn die ursprüngliche Harmonie ist durch ein bloßes ›Zurück zur Natur‹ (Rousseau) nicht wieder herstellbar. Der moderne Mensch befindet sich der Natur gegenüber notwendig in einem »sentimentalischen« Verhältnis. Es äußert sich in Momenten der Zuneigung, die einfache Gärten, Blumen und Tiere, empfindsame Reisen, ländliches Leben und Zeugnisse des Altertums wecken können, indem diese Gegenstände »bloß weil sie Natur sind« (ebd.: 694), uns rühren. Dem Intellektuellen (Künstler wie Philosophen) ist es aufgegeben, diesen Zwiespalt der modernen Kultur, welchem das Sentimentalische zugrunde liegt, theoretisch zu 1

Diese Kennzeichnung diente Schiller auch zur Abgrenzung der eigenen Dichtungsweise von der Goethes. Peter Szondi (vgl. Szondi 1973) hat die Dialektik zwischen den beiden Polen naives Genie vs. sentimentalischer Dichter genauer nachgezeichnet. Für die folgenden Überlegungen, in denen es um Schillers Kindheitsbild geht, bleibt dies außer Betracht, da Naivität »der wirklichen Kindheit in strengster Bedeutung nicht zugeschrieben werden« kann, sondern eine Projektion der Erwachsenen darstellt. (Schiller 1967: 699).

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reflektieren. Diese Reflexion erweist, dass jene Sentimentalität, jene Empfänglichkeit für den Reiz der reinen Natur, sofern sie nicht bloß affektierte Attitüde ist, in ihrem Kern einem moralischen Interesse entspringt. Moralisch ist das Interesse für Natur dadurch, dass es sich »auf eine Idee gründet«, auf »unsere Menschheit als Idee« (ebd.: 696). Der emanzipatorischen Tendenz, den antagonistischen Kulturzustand zu wenden und ihn dem Ideal einer sich aus moralischer Freiheit konstituierenden Menschheit immer mehr anzunähern, sind alle kunsttheoretischen Programmschriften Schillers verpflichtet. Für die Frage nach der Entstehung des bürgerlichen Kindheitsbildes ist nun höchst bemerkenswert, dass und wie Schiller auf den ersten zwölf Seiten von Über naive und sentimentalische Dichtung das philosophische Paradigma der ursprünglichen Natur mit der Figur des Kindes verknüpft. Diese Verknüpfung geht über die bloße Metaphorik der griechischen Welt als Menschheitskindheit hinaus.2 Bereits mit dem ersten Satz drängt sich ein genuines Interesse an der konkreten Kindheit dazwischen, indem als Gegenstand sentimentalischer Empfindungsweise von »der menschlichen Natur in Kindern« die Rede ist. Anders als die Griechen, die nur aus Texten der historischen Überlieferung bekannt sind, sind die Kinder der unmittelbaren Beobachtung konkret zugänglich. Warum erscheinen sie der sentimentalischen Perspektive so rührend? »Man irrt, wenn man glaubt, daß es bloß die Vorstellung der Hülflosigkeit sei, welche macht, daß wir in gewissen Augenblicken mit soviel Rührung bei Kindern verweilen.« (Ebd.) Es ist vielmehr ein philosophisch-moralisches Interesse im Spiel. Schiller zeigt an Beispielen, wie wir oft das Verhalten und die Stimme des Kindes nicht als hilflosen Unverstand erleben, sondern darin »eine Beschämung der wirklichen Welt« unmoralischer Verhältnisse (ebd.: 702) erfahren. Wir fühlen uns lachend überrumpelt und doch beschämt von einer vermeintlich absichtsvollen Naivität, in der wir eine höhere Gesinnung anzutreffen meinen, als sie das Kind realiter haben kann. (Kindermund tut Wahrheit kund, heißt es im Sprichwort). In diesem Zusammenhang formuliert Schiller den großartigen Satz: »Unsre Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen« (ebd.: 710). In der Sprache des philosophischen Diskurses der Idee heißt das: Das moralische Interesse an der Natur in Kindern vollzieht notwendig eine Idealisierung. Das Kind erscheint als »eine Vergegenwärtigung des Ideals«, als Inbegriff der »reinen Unschuld«, ja als »ein heiliger Gegenstand, der durch die Größe einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet«. (Ebd.: 697)3 Letztere Formulierung nimmt direkt Kants Analytik des Erhabenen auf.

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Diese Metaphorik benutzt noch Marx, um die historische Wirksamkeit der griechischen Antike zu erklären. »Es gibt ungezogene und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen. Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, woraus sie wuchs. Ist vielmehr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, daß die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstand, und allein entstehen konnte, nie wiederkehren können.« (Marx 1953: 31) Jenseits des Schillerschen Diskurses bleibt von ihm nur das verlogene Klischee vom engelhaften Kind, das sich in zahlloser Kitschproduktion niederschlug und noch weiter

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Die historische Schärfentiefe des Schillerschen Textes reicht aber weiter. Schillers Kindheitsdiskurs ist nicht so homogen, wie er zunächst erscheinen mag. In ihn ist eine Spaltung eingeschrieben, die sich in dem zitierten Satz durch die Formulierung »Unsre Kindheit« anzeigt. »Unsre Kindheit« – eben nicht: Die Kindheit. Ich zitiere noch eine weitere Passage: Was wir von der menschlichen Kindernatur bei Kindern gewahren, sind »Darstellung[en] unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.« (Ebd. 695) Dieser Erfahrung entstammt »das Gefühl [...], womit wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklagen« (ebd. 710). Auf den ersten Blick scheinen im sentimentalischen Kinderbild die an Kindern erblickte Kindheit und die eigene vergangene Kindheit zusammenzufallen. Was Schiller als ein »Zugleich« fassen will, erweist sich jedoch diskursanalytisch als etwas tatsächlich Getrenntes. Denn »Wehmut« (bzw. Beklagung) und »erhabene Rührung« haben nicht den gleichen Gegenstand. Erhabene Rührung gilt dem Kind als Idee, gilt ihm als Erscheinung der Vergegenwärtigung des Ideals. Wehmut hingegen bezieht sich auf »unsre Kindheit«, auf die je eigene »verlorene Kindheit«. Dieser Gegenstand kann schlechterdings nicht erhaben genannt werden. Das Interesse an der verlorenen Kindheit ist ein anderes als eine moralische Achtung vor der Idee. Es rührt an das Geheimnis unserer eigenen Herkunft und Ichbildung. »Verlorene Kindheit«, »das entflohene Alter der Kindheit«, bedeutet nicht eo ipso Unschuld und Naturhaftigkeit, die verloren wurde, sondern zunächst: die in mir vergessene Kindheit. Jean Paul hatte formuliert: »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Sogar die ersten Eltern waren nicht daraus zu bringen.« (Jean Paul 1977: 820). Aber woher rührt die Überzeugung, dass das am beobachteten Kind abgelesene Glück ein Erinnerungs-Wiederschein der eigenen paradiesischen Anfangszeit sei und nicht vielmehr die Wunschvorstellung des Erwachsenen, der die Stärke des Wunsches einer vermeintlichen Erinnerung unterschiebt? So gefragt erweist sich der sentimentalische Diskurs von der unschuldigen, paradiesischen, heiligen Kindheit als idealische Überhöhung einer tiefen Verschlossenheit oder psychoanalytisch gesprochen als Resultat einer großen Verdrängung. In der Romantik verstärkte sich die im sentimentalischen Kindheitsbild angelegte Idealisierung, ehe es zu gegenläufigen Tendenzen kam. Eine in ihren Widersprüchen interessante Übergangsfigur stellt in dieser Hinsicht der Pädagoge Friedrich Fröbel dar. Er war ein Pionier in der genauen Beobachtung des Kindes; er erkannte die zentrale Bedeutung der Mutter in der frühkindlichen Erziehung; er erfand den Kindergarten als Ort einer kindgemäßen und eigenständigen vorschulischen Bildung. Im Mittelpunkt seiner Erziehungsvorstellungen steht nicht die trockene Belehrung, sondern die Naturbeobachtung und das an einfachen Gegenständen ausgerichtete Spiel. Seine Spielpädagogik wird noch heute als wegweisend anerkannt. Andererseits verband sich die realitätsorientierte Ausrichtung seiner Reformideen mit einer niederschlägt. Man tut gut daran, jenes Klischee und die damit verknüpfte Ideologie mit dem kritischen philosophischen Kontext zu konfrontieren, in dem es bei Schiller steht.

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Sakralisierung des Kindes, die Schillers an Kant angelehnte Idealbildung weit übertraf. Sie fußte auf einem der Frühromantik verpflichteten Mystizismus, in dem die Utopie einer neuen Menschheitserziehung mit naturphilosophisch-mathematischen Spekulationen verknüpft wird und Himmel und Erde Hochzeit halten. Die Kindheit wird als Paradies verherrlicht, der Kindergarten zum heiligen hortus conclusus überhöht und die Polarität von Mann und Weib als eine im göttlichen Schöpfungsakt erzeugte Einheit ausgelegt, in dem alles Geschlechtliche vergeistigt ist.4

D ER E INSCHNITT

DER

P SYCHOANALYSE F REUDS

Das sentimentalische Kindheitsbild, das das unschuldige Kind als kulturelles »Ideal« stilisierte, erfuhr am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Psychoanalyse Freuds eine dramatische Erschütterung. Deren Heftigkeit kann man ermessen, wenn man die starke Abwehr bedenkt, die ihr zuteil wurde. Sie galt besonders Freuds Erweiterung des Begriffes der Sexualität, nämlich seiner Theorie der infantilen Libido-Entwicklung, der uranfänglich sich formierenden Körperlust, der polymorph-perversen Plastizität des Triebs, der Lehre vom Ödipuskomplex und seinem Untergang. Diese Lehre verstieß gegen die populäre Vorstellung, dass das Geschlechtliche der Kindheit fehle. Der Psychoanalyse wurde eine pornographische Beschmutzung des Bildes vom unschuldigen Kind unterstellt. Dahinter verblasste, dass Freud die Psychoanalyse primär als Methode zur Behandlung von neurotischen Symptomen und als Theorie des psychisch Unbewussten konzipierte. Hinsichtlich der kindlichen Libido ging es ihm vor allem darum, Bereiche, die im Zwielicht moralischer Verleugnung abgewehrt werden, vorurteilsfreier Erkundung zugänglich zu machen. Im Vorwort seines Buchs Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1904 heißt es: »Verstünden es die Menschen, aus der direkten Beobachtung der Kinder zu lernen, so hätten diese drei Abhandlungen überhaupt ungeschrieben bleiben können.« (Freud 1999c: 32) Freud fordert eine Offenheit des Erwachsenen für die Andersartigkeit der kindlichen Psyche, für die Vielfalt seiner Welterfahrung, seine kreative Neugierde und Verletzlichkeit. Solcher Forderung ist freilich mit dem guten Willen zu vorurteilsfreier Wahrnehmung allein nicht schon Genüge getan. Scheint es selbstverständlich und problemlos, dass der Erwachsene sich nur auf die eigene Kindheit zu besinnen braucht, um die Welt des Kindes zu verstehen, so ist dies tatsächlich nicht derart einfach. Vielmehr ergibt sich daraus eine spezifische Schwierigkeit. Es ist die gleiche, die anfangs mit Schillers Wort von der verlorenen Kindheit bezeichnet wurde. Sie ist Resultat von Verdrängungen und ihres Widerstands gegen eine Zulassung im bewussten Ich. 4

Vgl. die Tagebuchaufzeichnungen und Entwürfe zur Sphärischen Erziehung in Friedrich Fröbel (1986). Es ist kennzeichnend für diese romantisch-mystische Gedankenwelt, dass bei seiner Tätigkeit als Hauslehrer in der Frankfurter Familie von Holzhausen Fröbel und Caroline von Holzhausen eine enge, als rein geistig verstandene Ehe unterhielten. Die Hauslehrertätigkeit wurde abgebrochen als Frau von Holzhausen wieder schwanger wurde und befürchtete, das Aussehen ihres fünften Kindes könne den geistigen Ehebruch verraten, so wie Goethe es in den Wahlverwandtschaften dargestellt hatte (vgl. ebd. 428 und 343) – Fröbel selbst hatte keine Kinder.

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Parallel zur theoretischen Rekonstruktion der infantilen Triebschicksale taucht deshalb bei Freud ein zweites Thema auf, das aus der Praxis der psychoanalytischen Sprechkur unmittelbar entspringt: nämlich die Kindheits-Amnesie, also das Vergessen von großen Teilen der eigenen erlebten Kindheit im Gedächtnis des Erwachsenen. Bei diesem Ausfall infantiler Reminiszenzen handele es sich nicht um eine Symptomatik mit neurotischem Krankheitswert, sondern sei bei allen Erwachsenen in unterschiedlichem Grade anzutreffen. Freud thematisiert dieses Vergessen in der Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslebens (vgl. Freud 1999c), die Fehlleistungen des psychischen Apparats im normalen Alltagshandeln – Vergessen von Gewusstem, Sich-Versprechen, Sich-Vergreifen, Sich-Irren – analysiert und an ihnen psychoanalytisch deutbare Auswirkungen des Unbewussten abliest. In solchen momentanen Ausfällen können sich, müssen sich aber keinesfalls immer, konflikthafte psychische Impulse verraten. Ein Kapitel dieses Buchs trägt den Titel »Über Kindheits- und Deckerinnerungen«. Dieses Kapitel nimmt in dem Buch einen besonderen Platz ein, da hier eine weitergefasste Theorie des Erinnerns und des Vergessens ins Spiel kommt als sie bei den Fehlleistungen erforderlich war. Es greift einen früheren Aufsatz »Über Deckerinnerungen« wieder auf (vgl. Freud 1999a). Ich beziehe mich im Folgenden auf beide Texte. Freuds Überlegungen zur Kindheitserinnerung gehen von einem bemerkenswerten, aber kaum beachteten Widerspruch aus, der auch heute noch anzutreffen ist. Einerseits bezweifelt als Erwachsener niemand, dass die Erlebnisse schon der frühesten Kinderjahre prägende und unverlöschbare Spuren in seiner Psyche hinterlassen haben. Andererseits verwundert man sich nicht über deren geringen Umfang und die oftmals marginalen Gegenstände dieses Erinnerns, sondern führt das auf einen noch unfertigen Zustand des kindlichen Gedächtnisses zurück. Angesichts der großen Gedächtnisleistung schon des kleinen Kindes – etwa beim Spracherwerb – und der großen Intensität seines Affektlebens, das sich in akuten Erinnerungen niederschlägt, sei diese Erklärung aber irreführend. Dagegen setzt Freud eine andere Konzeption. Zum einen bestehe hinsichtlich des Gedächtnismaterials eine wesentliche Verschiedenheit zwischen dem psychischen Verhalten des Kindes und des Erwachsenen. Das infantile Erinnern sei vor allem primär visueller Natur und bestehe in plastischen Gesichtsbildern mit undeutlicher zeitlicher Zuordnung. Dies beruhe darauf, dass erst ab dem sechsten oder siebten Lebensjahr »die Reproduktion des Erlebens als fortlaufende Erinnerungskette« (1999a: 533) ausgebildet wird und sich eine konstante Beziehung zwischen affektiv Erlebtem und Gedächtnisspeicherung bildet. Für das Kind unterliegt das affektiv Erlebte nicht einem zeitlich geordneten Verlaufs- und Erinnerungsschema, das dem normalen Erwachsenen selbstverständlich ist. Zum zweiten bestünden spätere Kindheitserinnerungen oft aus scheinbar banalen Erinnerungsresten, die mit allen Details »überscharf« als Erinnerungen zugänglich sind, ohne dass der Erwachsene sich erklären kann, warum gerade diese Reminiszenzen im Gedächtnis geblieben sind. Das psychische Vergessen wichtiger Ereignisse und das partielle spätere Wiederauftauchen derartiger unverständlicher Erinnerungsreste sei das Resultat von Verdrängungsprozessen, die bei der kindlichen Ichbildung in hohem Maße erfordert werden. Die scheinbar unbedeutenden Erinnerungsreste lassen sich dann dadurch erklären, dass sie »Deckerinnerungen« darstellen, hinter denen sich eine verdrängte Erlebenssituation verbirgt. Freud berich-

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tet in dem Aufsatz von 1898 ausführlich von einer hartnäckig wiederkehrenden Kindheitserinnerung, die er zusammen mit dem Analysanden als Manifestation eines zentralen psychischen Konflikts erschließen kann. Freud unterscheidet außerdem zwischen einer »rückläufigen« und einer »vorgreifenden« Deckerinnerung (Freud 1999a: 551; 1999c: 52). Im ersten Fall deckt eine spätere Erinnerung ein verdrängtes Erlebnis der Kindheit, im zweiten Fall stellt sich eine Kindheitserinnerung ein, um einen akuten Konflikt verdrängt zu halten. Weiter betont er, dass derartige Deutungen ohne direkte Beteiligung des SichErinnernden nicht möglich seien (vgl. Freud 1999c: 54). Es bedarf seiner Mithilfe, um das in den Deckerinnerungen Latente zugänglich werden zu lassen. Denn die Psychoanalyse setzt voraus, dass der Weg ins Leben bei jedem Einzelnen ein eigener, individueller, in seinen äußerst konkreten Umständen letztlich nur von ihm erschließbarer Weg ist. In Freuds Erinnerungs-/Vergessenstheorie kompliziert sich deutlich die Frage nach der Authentizität und dem ›eigentlichen Inhalt‹ des Erinnerten. Sie ist durch eine faktische Überprüfung der Plausibilität allein nicht zu lösen. »Starke Mächte aus der späteren Lebenszeit«, stellt Freud fest, »haben die Erinnerungsfähigkeit der Kindheitserlebnisse gemodelt, dieselben Mächte wahrscheinlich, an denen es liegt, daß wir uns allgemein dem Verständnis unserer Kindheitsjahre so weit entfremdet haben.« (Freud 1999c: 55) Die Fraglichkeit des Erinnerns beruht nicht allein auf dem Bruchstückhaften des Erinnerten, sondern auch auf dem Zeitpunkt, wo solche Erinnerungen sich einstellen. Freud betont diese Nachträglichkeit, wenn er schreibt: »Als ich in meinem dreiundvierzigsten Jahr begann, mein Interesse den Resten der Erinnerung an die eigene Kindheit zuzuwenden [...]«, ehe er eine Erinnerung von sich als Dreijährigem mitteilt und analysiert (Freud 1999c: 58-60).

T OPOGRAPHIE EINER B ERLINER K INDHEIT UM

NEUNZEHNHUNDERT

Die bisherigen Überlegungen haben die Entwicklung vom »sentimentalischen« Kindheitsbild zur psychoanalytischen Umgestaltung der Figur des Kindes umrissen und dabei als durchgehende Problematik die Frage aufgeworfen, wieweit der erinnernde Zugang zur eigenen Kindheit durch Idealisierung oder Verdrängung verstellt ist. Damit ist die historisch-kulturelle Folie aufgespannt, auf der die herausragende literarische Leistung von Benjamins Kindheitsautobiographie dargestellt werden kann. Die Berliner Kindheit um neunzehnhundert entsteht um 1932/33 als sich Benjamin, wie Freud ebenfalls als Vierzigjähriger, sich erstmals intensiv seinen Erinnerungen an die Kindheit zuwendet.5 Dabei geht es ihm, anders als jenem, nicht um die Aufschlüsselung von Deckerinnerungen oder um das Ergründen eigener neurotischer Symptome. Benjamin war kein Freudianer. Aber es ist unübersehbar,

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Die Berliner Kindheit wurde als selbständiges Projekt aus der Arbeit an den Pariser Passagen herausgelöst, weil die Topographie der eigenen Kindheit und die Topographie von Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts ganz unterschiedliche Darstellungsweisen verlangten. Vgl. dazu Lindner 1984.

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dass die Freudlektüre, die sich Ende der 1920er Jahre noch intensivierte, für das Projekt des Kindheitsbuchs zwei ganz wesentliche Impulse bereitstellte. Zum einen betrachtet er die Erfahrung des Kindes wie Freud als eine vom »Lustprinzip« – also von phantasierten Ersatzbildungen, libidinöser Wunscherfüllung und magischen Energien – bestimmte, die den Konflikt mit dem Realitätsprinzip auf eigene Weise austrägt.6 Die kindliche Aneignung der Dingwelt (inklusive der Sprache und der Personen) ist zugleich mimetisch-anschmiegend und despotischherrschaftlich. Benjamin spricht hier von »Entstellung«, wobei der Ausdruck keine Missbildung meint, sondern ein Herausrücken der Objekte aus der Stelle oder Funktion, die sie in der realitätsgerechten Perspektive des Erwachsenen haben. Zum anderen sah er in Freuds Theorie der Kindheitsamnesie und seiner Betonung der Fragmentarität des Erinnerns eigene Gedanken und Erfahrungen bestätigt. Analog zur psychoanalytischen Arbeit mit Assoziationen, die sich zum Erinnerten einstellen, bedurfte es für Benjamin eines längeren, intensiven Schreibprozesses, um für das Erinnerungsmaterial eine abschließende literarische Form zu finden. 7 In der Geschichte der autobiographischen Literatur nimmt das Buch Berliner Kindheit um neunzehnhundert eine besondere Stellung ein, indem es sich entschieden von narrativen Darstellungsweisen abkehrt und zu einer ganz eigenen Form findet, die so eng wie möglich an der Erfahrungsweise des Kindes orientiert ist. Man kann sagen, Benjamin macht als Erster Ernst mit der Darstellung der Kindheit als eines achronischen und topographischen Raums. Damit zieht Benjamin literarische Konsequenzen aus Freuds bereits zitiertem Hinweis, dass das Erinnerungsmaterial sich gegen die fortlaufende biographische Kette des Erwachsenen sperrt. Wie diese Form sich im Schreibprozess auskristallisiert, soll im Folgenden dargelegt werden, ehe in einem weiteren Abschnitt die erinnerungstheoretische Konzeption der ›Kindheitsautobiographie‹ thematisiert wird. Benjamins Berliner Kindheit besteht aus einer Folge kleiner, in sich geschlossener Prosastücke mit jeweils eigenem Titel. Vorangegangen waren, als erster autobiographischer Versuch, die als Berliner Chronik betitelten Aufzeichnungen (vgl. Benjamin 1985: 465-519). Diese fragmentarischen Aufzeichnungen waren noch nicht allein auf die Kindheit beschränkt. Von diesem Manuskript aus begann Benjamin, Einzelstücke auszuarbeiten, die zahlreiche Fassungen durchliefen. Schauplatz der Schreibarbeit ist der lange, das Exil vorwegnehmende Aufenthalt auf Ibiza und in Italien von Anfang April bis Ende November 1932 und verdankt sich offenbar 6

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Die Verschiebung von der Vormacht des Lustprinzips zur Anpassung ans Realitätsprinzip wird sehr eindrucksvoll im Stück VERSTECKE beschrieben (vgl. Benjamin 2000: 52f.). Das zunächst in die dichte Stoffwelt der Wohnung eingeschlossene Kind emanzipiert sich zum Ingenieur, der Ostereier aufspürt. Benjamins Kindheitsbuch ist das Resultat eines komplexen Schreibprozesses, der sich aus dem umfangreich überlieferten Nachlass erschließen lässt. Zu ihm gehören die Berliner Chronik, zwei Konvolute mit Stück-Fassungen sowie eine große Zahl von Manuskriptblättern mit Entwürfen und Notizen. Eine ausführliche Analyse dieser Manuskripte habe ich andernorts publiziert (vgl. Lindner 2010). – Die textkritische Edition der Berliner Kindheit um neunzehnhundert (mit Faksimiles und Transkriptionen aller Manuskripte), die ich zusammen mit Nadine Werner herausgebe, wird als Bd. 11 der neuen BenjaminGesamtausgabe des Suhrkampverlags erscheinen.

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diesem neuen Projekt, dass Benjamin den Entschluss, seinem Leben ein Ende zu setzen, aufgab. Um die Jahreswende 1932/33 diktierte er dann in Berlin das Buchtyposkript mit 30 Stücken (vgl. Benjamin 2000), um es als Buch zu publizieren. Da weder der Rowohlt- noch der Kiepenheuer-Verlag, angesichts der nazistischen Machtübernahme, sich auf Verhandlungen über die Publikation einließen, verkaufte Benjamin noch vor seiner Flucht aus Deutschland nach Paris das Typoskript an die Frankfurter Zeitung, wo 1933 der größte Teil der Stücke erschien, bereits unter dem Pseudonym Detlev Holz. Im Exil kamen noch einige neue Stücke hinzu (LOGGIEN, DER MOND, DIE FARBEN, WINTERABEND, NEUER DEUTSCHER JUGENDFREUND). 1938 begann Benjamin nochmals mit einer Redaktion des Buchs, aber die Publikation zerschlug sich wieder. Mit der eigenwilligen Form der Berliner Kindheit, um deren Analyse es im Weiteren gehen soll, knüpft Benjamin an eine schon länger erprobte Praxis seines literarischen Schreibens an, nämlich an das Schreiben von »Denkbildern«. Es handelt sich dabei um kurze Prosa-Texte, in denen scheinbar Marginales – Reisebeobachtungen, Rituale des Alltags wie das Essen und das Wohnen, Lektürefunde oder auch sprachliche Gemeinplätze – zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden. Eine genaue Phänomenalität des Wahrnehmens und deren philosophische Reflexion gehen dabei eine enge Verbindung ein. So entwickelt Benjamin, um ein Beispiel heranzuziehen, aus einer Tagebucheintragung vom Ibiza-Aufenthalt 1932 das Denkbild Raum für das Kostbare. Es greift die »ersten nachzudenkenden Bilder in San Antonio« (Benjamin 1985: 446) auf, die aus Blicken in das einfache und arme Interieur der Fischerhäuschen bestehen. Das Denkbild beschreibt die im täglichen Gebrauch wechselnde Anordnung der Gegenstände des Wohnraums – der Stuhl, der Sombrero, das Fischernetz, der Kupferkessel etc. – als einen Raum, der das Kostbare der wenigen Dinge hervortreten lässt. Der mitteleuropäische Großstadtmensch weiß davon nichts mehr. Diese Einsicht hält der Schlusssatz fest: »In unseren wohlbestellten Häusern aber ist kein Raum für das Kostbare, weil kein Spielraum für seine Dienste« (ebd.: 404). Mit Denkbild ist also kein ›Denken in Bildern‹ gemeint, sondern eine konstruktive Stillstellung des Nachdenkens, das in der Rahmung zum textuellen Bild einen räumlichen Abschluss findet. Worin bestand nun der wichtigste Formimpuls, den die Denkbildform für die definitive Gestalt der Berliner Kindheit bot? Er bestand wesentlich darin, dass das Denkbild seinen Gegenstand nicht narrativ, nicht im Modus einer erzählten Geschichte entfaltet, sondern ihn als Bild- und Reflexionsraum thematisiert. Benjamin greift darauf zurück, um in der Berliner Kindheit Achronizität als Darstellungsprinzip auszuprägen. Autobiographische Texte sind üblicherweise eher nach dem Muster von Geschichten, also erinnerungs- und erzählenswerten Vorkommnissen angelegt, die im biographischen Zeitverlauf ihren narrativen Ort finden. Dieses Schema, das die autobiographische Identität des Sich-Erinnernden sichert, verwirft die Berliner Kindheit. Schon der Titel deutet die Achronizität an, wenn die Kindheit »um« eine Jahreszahl situiert wird. Sodann gehorcht die Abfolge der Stücke im Buch in keiner Hinsicht der biographischen Chronologie, setzt sie vielmehr weitgehend außer Kraft. Und noch die einzelnen Stücke sparen genaue zeitliche Daten aus zugunsten der unmittelbaren Darstellung erinnerter Situationen und ihrer späteren Reflexion.

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In welcher knappen und verdichteten Weise dies möglich wird, zeigt das folgende Stück mit dem Titel DAS KARUSSELL: »Das Brett mit den dienstbaren Tieren rollte dicht überm Boden. Es hatte die Höhe, in der man am besten zu fliegen träumt. Musik setzte ein, und ruckweis rollte das Kind von seiner Mutter fort. Erst hatte es Angst, die Mutter zu verlassen. Dann aber merkte es, wie es selber treu war. Es thronte als treuer Herrscher über einer Welt, die ihm gehörte. In der Tangente bildeten Bäume und Eingeborene Spalier. Da tauchte, in einem Orient, wiederum die Mutter auf. Danach trat aus dem Urwald ein Wipfel, wie ihn das Kind schon vor Jahrtausenden, wie es ihn eben erst im Karussell gesehen hatte. Sein Tier war ihm zugetan: wie ein stummer Arion fuhr es auf seinem stummen Fisch dahin, ein hölzerner Stier-Zeus entführte es als makellose Europa. Längst war die ewige Wiederkehr aller Dinge Kinderweisheit geworden und das Leben ein uralter Rausch der Herrschaft mit dem dröhnenden Orchestrion in der Mitte. Spielte es langsamer, fing der Raum an zu stottern und die Bäume begannen sich zu besinnen. Das Karussell wurde unsichrer Grund. Und die Mutter stand da, der vielfach gerammte Pfahl, um den das landende Kind das Tau seiner Blicke warf.« (Benjamin 2000: 52)

Besser kann man kein Bild von der Karussellfahrt eines kleinen Kindes entwerfen. Einem Erwachsenen, der einmal Kind war, ist es ganz nah. Er berührt eine frühe Erinnerung, mehr noch: eine Erfahrung, die einem plötzlich gegenwärtig wird. So war es. So muss es gewesen sein. Und so spricht das Denkbild das Geheimnis aus, warum das Karussell auch heute noch gegen die schreienden, elektronisch aufgerüsteten Jahrmarktsattraktionen seine Faszination behalten hat. Die Form des Denkbilds, so können wir sagen, wird nunmehr neu gefasst für Bilder der erinnerten Kindheit. Präziser ist es deshalb, von einem Gedenkbild zu sprechen, in dem Eingedenken und literarische Denkbildform zusammenrücken. Dabei kommt es auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks zu einer eigenartigen Synchresie. Einerseits benutzt der Autor ein Vokabular des Urzeitlichen und der griechischen Mythologie, das dem Kinde gar nicht zu Gebote steht und der Reflexion des Erwachsenen entspringt, andererseits findet er eine mimetische Sprache, die die psychisch-körperliche Erfahrung des kleinen Kindes empathisch wiedergibt. Es ist eine erstaunliche poetische Leistung, wie diese beiden Sprachen sich fugenlos verbinden. Von dem Stück DAS KARUSSELL aus lässt sich der Prozess der Formfindung der Berliner Kindheit noch in einer anderen Hinsicht genauer erschließen. Denn das Stück reicht, wie man überraschenderweise feststellen kann, viel weiter zurück als das Kindheitsbuch. Es findet sich bereits in Benjamins 1928 erschienenem Buch Einbahnstraße, einer avantgardistischen Textfolge von Aphorismen, Reflexionen, Traumaufzeichnungen und eben Denkbildern. Nur der Titel »Karussellfahrendes Kind« wurde in DAS KARUSSELL umformuliert. Bestätigt sich hierin also die aufgezeigte Verbindung zwischen Denkbildform und Berliner Kindheit auf direkte Weise, so zeigt der Text im Vergleich zu anderen Stücken des Kindheitsbuchs zugleich eine wichtige Differenz. Indem es in seiner alten Form belassen wurde, fällt in der Schreibweise auf, was sonst in den fertiggestellten Stücken der Berliner Kindheit deren Spezifik ausmacht: die Einführung des Ich als autobiographisches Subjekt der Texte.

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Denkbilder können die Subjektivität des Schreibenden im Unpersönlichen belassen; in DAS KARUSSELL gibt es nur »das« Kind. Für das Projekt des Kindheitsbuchs hingegen erwies es sich als unumgänglich, das ›Ich‹ als Gegenstand und auktoriale Quelle einzuführen. Das war aber keineswegs bloß eine stilistische Frage. Dahinter verbarg sich das Problem, wie der Vorgang des Erinnerns schreibend in Gang gesetzt und darstellbar gemacht werden könnte. Und dies erwies sich als schwierig. In der Berliner Chronik notiert Benjamin dazu, er habe in seinem bisherigen Schreiben sich zur Regel gemacht, »das Wort ›ich‹ nie zu gebrauchen, außer in Briefen« (Benjamin 1985: 475) und nun bei dem Versuch, sich seiner Kindheit zu nähern, hätte dieses Ich »sich nicht so einfach auf die Rampe bitten« lassen (ebd.: 476). Und dieses Ich konnte nicht bloß das des sich aktuell Erinnernden sein, sondern musste als gedoppeltes auftreten: als Autor-Ich und als Ich des erinnerten Kindes. Dieses zwischen beide Pole gespannte Ich stellt die Artikulationsinstanz aller Texte der Berliner Kindheit dar. Es bedurfte beträchtlicher Umwege in der Ausarbeitung von Notizen, Textentwürfen und Schreibformen, ehe die definitive Formung zustande kam und darin eine erstaunliche Erinnerungsarbeit, die der vierzigjährige Benjamin unternimmt, zu ihrem Ende findet. Wie variativ sich die Instanz des Ichs zu Wort meldet, zumeist gleich mit dem Anfang des jeweiligen Stücks, zeigen einige Beispiele, die ich kurz hintereinanderstelle. DAS BUCKLICHTE MÄNNLEIN: »Solange ich klein war, sah ich beim Spazierengehn gern durch jene waagerechten Gatter, die auch dann erlaubten, vor einem Schaufenster sich aufzustellen, wenn grade unter ihm ein Schacht sich auftat [...].« (Benjamin 2000: 109) / BLUMESHOF 12: »Keine Klingel schlug freundlicher an. Hinter der Schwelle dieser Wohnung war ich geborgener als selbst in der elterlichen.« (Ebd.: 64) / UNGLÜCKSFÄLLE UND VERBRECHEN: »Die Stadt versprach sie mir mit jedem Tag aufs neue und am Abend war sie sie schuldig geblieben.« (Ebd.: 94) / BETTLER UND HUREN: »In meiner Kindheit war ich ein Gefangener des alten und neuen Westens.« (Ebd.: 92) / DAS TELEFON: »Es mag am Bau der Apparate oder der Erinnerung liegen – gewiß ist, daß im Nachhall die Geräusche der ersten Telefongespräche mir sehr anders in den Ohren liegen als die heutigen.« (Ebd.: 23) / SCHRÄNKE: »Der erste Schrank, der aufging, wann ich wollte, war die Kommode.« (Ebd.: 72)

Jedes Stück fängt anders an, jedes unternimmt eine andere Grabung in die verschollene Erfahrungswelt der Kindheit. An Gershom Scholem, dem Benjamin im Dezember 1932 die ersten fertiggestellten Texte schickte, schreibt er, dass diese »kleinen Stücke [...] keineswegs chronistisch erzählen sondern eine Expedition in die Tiefe der Erinnerung darstellen« (Benjamin 1998: 134). Jedes einzelne Stück der Berliner Kindheit unternimmt eine solche Expedition, die in der Darstellung nun präzise konturierte Gestalt gewonnen hat. Benjamins Kindheitsbuch ist topographisch angelegt. Die Stücke gruppieren sich um bestimmte Dinge, Orte, Situationen, Wörter, auch um bestimmte Geräusche, um Gerüche und haptische Eindrücke. Sie formen sich zu voneinander separierten Stücken: diskontinuierliche Szenen und stillgestellte Augenblicke in einem. Der topographische Charakter wird durch die Titel der Stücke von vornherein angezeigt. Die Titel weisen gleichsam auf eine imaginäre Landkarte der Kindheit, in

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der bestimmte Stellen markiert werden. Die Titel thronen, um es mit einem anderen Vergleich zu sagen, wie die Inscriptio über einem emblematischen Bild. Die Titel sind hinlänglich konkret und bestimmt, um je für eine bestimmte individuelle Situation einzustehen, sie sind aber zugleich auch abstrakt und unbestimmt genug, um sich von der autobiographischen Familiengeschichte abzulösen und als KindheitsErinnerungsbilder kollektiv wirksam zu sein. Die Topographik der Stücke sollte im Buch durch ihre Anordnung und Abfolge unterstützt und verstärkt werden. Die Konstruktion der Stück-Reihenfolge war Benjamin äußerst wichtig. Es gibt in den Manuskripten mehrere Anordnungsschemata, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Generell lässt sich aber sagen: Die Reihenfolge ist so gestaltet, dass jedes Stück neu ansetzt und keineswegs das folgende Stück thematisch als Fortsetzung des vorangegangenen sich lesen ließe. Unbedingt sollte vermieden werden, dass bei der Lektüre ein biographisches Zeitschema entsteht. Denn für die Formfindung des Kindheitsbuchs war ja gerade ausschlaggebend, dass die Vorstellung von einem kontinuierlichen Zeitfluss des Erlebens, der das Erinnern trägt, als trügerisch erkannt und suspendiert wurde. Im Deutschen ist Erinnern ein selbstreflexives Verb: ich erinnere mich. Die Berliner Kindheit bricht diese zirkuläre Figur auf. Das Ich, das sich erinnert, nimmt das Ich, das in Erinnerung tritt, nicht in Regie. Das erinnerte Ich bleibt, so nahe es erscheint, dem Sich-Erinnernden ein fernes Kind. So schließt das Stück LOGGIEN, das nach Benjamins brieflichem Kommentar einem Selbstporträt am nächsten kommt, mit dem Bild, das Kind, das er einmal gewesen ist, halte sich »auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf.« (Benjamin 1972: 296) Hier am Schluss verschwindet das Ich, das in dem Stück berichtet, wie es diesem ›Abstellort‹ seine frühesten bleibenden Eindrücke verdankt, als träte es zurück in die Namenlosigkeit. Es wäre indes ein falscher Eindruck, wollte man in Benjamins Topographien der Kindheit nur eine quasi zeitlose Verräumlichung am Werk sehen. Wenn wir gesagt haben, die chronologische Kontinuität des Zeitablaufs werde aufgehoben und in ebenso separaten wie disparaten Augenblicken stillgestellt, so ist Zeit damit nicht verschwunden. Die Zeit wird in den Stücken vielmehr anders erfahren und dargestellt: nicht als exakt messbares und datierbares Medium, sondern als äußerst wandelbares Medium von Erfahrungsintensitäten. Sie erscheint im Warten, im sich am Spiel Ersättigen, in (manchmal enttäuschter) Vorfreude, in den ersten Mühen des Lernens oder im Blick auf die immer aufs Neue herandrängenden Schneeflocken. Und zudem wird im Ganzen des Buchs diese Kindheitszeit selbst wieder zeitlich begrenzt. Sie findet ihr Ende im Eintritt der Pubertät. Das Kind, das in den Stücken BETTLER UND HUREN, ERWACHEN DES SEXUS oder auch ZWEI BLECHKAPELLEN memoriert wird, steht hier diesseits und jenseits jener Schwelle. Und das Ich erinnert sich rückblickend daran, wie das genitale sexuelle Begehren den Raum der Stadt mit einem Schlag neu aufteilt.

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D AS B UCKLICHTE M ÄNNLEIN , P ROUST

UND

F REUD

Bei der im vorangegangenen Abschnitt durchgeführten Analyse der Form von Benjamins Kindheitsbuch konnte eine Frage außer Betracht bleiben, die sich doch aufdrängen muss. Wie verhält sich Benjamins poetische Schreibweise zu seiner Autorschaft als Philosoph und Kritiker, der in vielen seiner Schriften den problematischen Status des Erinnerns wie des kulturellen Gedächtnisses zum Thema machte? Vom Buchtyposkript ausgehend bleibt die Beantwortung dieser Frage schwierig. Aber es ergibt sich eine Antwort im Umweg über den umfangreichen Manuskriptbestand, der zur Ausarbeitung der Berliner Kindheit gehört. Denn viele der frühen Aufzeichnungen und Entwürfe enthalten erstaunliche Überlegungen, in denen Benjamin sich über den Prozess des autobiographischen Erinnerns und Aufschreibens theoretisch Rechenschaft zu geben sucht. Um ein Beispiel heranzuziehen: So enthält etwa das umfangreiche Manuskriptblatt »Rousseau-Insel« nicht nur eine Reihe von Motiven, die später in verschiedenen Stücken wiederaufgenommen werden, sondern ruft sie auf als Stationen einer Seefahrt durchs Labyrinth des Vergangenen. Da »machte ich in mir wie ein suchendes Boot das Gedächtnis los«. (Lindner 2010: 112) Das Gedächtnis mustert mit »Scheinwerfern« die Erinnerungsreste, die wie unzugängliche, verdorrte Inseln des Gewesenen erscheinen, bis der Schreibende diese Art der Suche abbricht und sich nun einer Folge von Assoziationen überlässt, die die Loggien, die Hinterhöfe und den Sommer von Berlin umkreisen. Andere Blätter reflektieren die Erinnerungsversuche metaphorisch als archäologische Grabungsarbeit. Ein anderes umschreibt das Erinnern als paradoxen Versuch, einen mit gelebtem Leben vollgesogenen Schwamm aus dem Meeresgrund emporzuziehen, während das Vergessene unaufhaltsam abströmt. Solche erinnerungstheoretischen Selbstreflexionen, mit denen der Autor schreibend die Such- und Erinnerungsarbeit direkt thematisiert, sind nun aber im Prozess der Überarbeitung zu den abgeschlossenen Stücken fortgefallen. Sie werden von Benjamin im Vorgang der Abschließung der Einzelstücke bewusst getilgt. In den Gedenkbildern der Berliner Kindheit soll die Expedition in die Tiefe des Erinnerns sich nur noch präsentisch, als eine bereits vollzogene präsentieren. Die Tilgung der erinnerungstheoretischen Reflexionen geschieht allerdings nicht vollständig. Sie sind nun einem besonderen Stück, dem DAS BUCKLICHTE MÄNNLEIN genannten, vorbehalten, das Benjamin als Schlussstück konzipierte. Es erhielt die Funktion, von der Erinnerung an das Volkslied ausgehend, in eine Erinnerungstheorie zu münden, die das ganze Buch übergreift. Auch zu diesem Stück gibt es verschiedene Vorfassungen und Notizblätter. Auf einem frühen Notizblatt heißt es: »Das bucklige Männlein /Das bucklige Männlein streicht den Zehnten des Vergessens ein. [...]/ Wieweit kann die Erinnerung zurückgehn? Bis an den Punkt/ Wo im Erinnerten das Vergessen beginnt./ [...] Habe ich das bucklige Männlein gesehn? Nein, das bucklige/ Männlein hat mich gesehn./ Das Bild unserer selbst in Erinnerung./ Proust-Notiz/ Das Vergessen ist der Kokon, in den die Erinnerung sich einspinnt./ Wo mich das bucklige Männlein überall gesehen hat? Eine/ Variation des Inhaltsverzeichnisses des Buches./ [...] Die Fehlleistungen, die entstehen, wenn das bucklige Männlein/ uns helfen will. ›Ungeschickt läßt grüßen‹./ Ungeschickt – das ist der Name des buckligen Männleins./ Niemand hat es geschickt. [...].« (Lindner 2010: 122)

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Offenkundig ist bereits hier der Text vom Bucklichten Männlein als Abschluss und memoriale Rekapitulation des Buchs anvisiert, wenn seine Auftritte mit dem »Inhaltsverzeichnis« gekoppelt werden. Im späteren Text werden dann in der Tat Situationen aufgezählt, zu denen es vorher im Buch die jeweiligen Stücke gibt. Darüber hinaus sind diese Notizen besonders aufschlussreich, indem Benjamin hier Einblick in ›Quellen‹ seiner Erinnerungstheorie gibt. Zum einen fällt der Name Proust, dessen Recherche er übersetzt hat. Zum andern weist das Stichwort »Fehlleistungen« auf die Freud-Lektüre, die im Stück DAS BUCKLICHTE MÄNNLEIN deutliche Spuren hinterlassen hat. Nun handelt Freud freilich von psychischen »Fehlleistungen« des Erwachsenen, während Benjamins Notizblatt von »Fehlleistungen« des Kindes, das etwas falsch macht oder etwas zerbricht, spricht. Damit verschiebt sich auch die Erklärung. »Ungeschickt läßt grüßen«, steht auf dem Notizblatt (ebd.). Was dieser Spruch bedeutet, wird dann im abgeschlossenen Stück vom BUCKLICHTEN MÄNNLEIN genauer ausgeführt: Es war in der Kinderzeit eine Redewendung der Mutter, mit der sie das ungeschickte Tun des Kindes zu tadeln pflegte. Dem Eigensinn des kindlichen Ichs aber galt dies »Ungeschickt« als ein Nomen, als eine Art ›Herr Ungeschickt‹, dessen unsichtbare Anwesenheit mit dem Missgeschick irgendwie zusammenhing. Aber erst dem Erwachsenen gelingt es, den rätselhaften Spruch der Mutter aufzulösen, indem er ihn mit einem anderen Strang kindlicher Phantasien verknüpft: grausigen Figuren wie den bedrohlichen Gnomen im Traum, die den Kellerluken entstammten, dem »Lumpengesindel« aus Grimms Märchen und eben dem Volkslied vom Bucklichten Männlein. Damals kam, schreibt Benjamin, der Bucklige »mir nicht näher. Erst heute weiß ich, wie er geheißen hat. Meine Mutter verriet mir's, ohne es zu wissen. ›Ungeschickt läßt grüßen‹, sagte sie immer, wenn ich etwas zerbrochen hatte oder hingefallen war.« (Benjamin 2000: 110) Benjamins deutende Auflösung der Kinderphantasien setzt da ein, wo sie die Figur des Bucklichten Männleins aus dem Feld der kindlichen Unaufmerksamkeit oder des Mutwillens löst und auf die Thematik des Erinnerns/Vergessens verschiebt. Auch darin können wir eine Spur der Freud-Lektüre erkennen, die sich auf die bereits erwähnte Theorie der »Deckerinnerungen« bezieht. Und auch hier findet eine interessante Umakzentuierung statt. Ich hatte schon gesagt, dass Benjamin Freuds triebtheoretische Konzeption der Verdrängung nicht abgelehnt hat, aber für die Zwecke seiner Erinnerungstheorie nicht brauchbar fand. Ihm war eine andere, in Freuds Text »Über Deckerinnerungen« mitgeteilte Überlegung wichtiger, die der Blickanordnung in Kindheitserinnerungen galt. Freud bemerkt: »In den meisten bedeutsamen und sonst einwandfreien Kinderszenen sieht man in der Erinnerung die eigene Person als Kind, von dem man weiß, daß man selbst dieses Kind ist; man sieht dieses Kind aber, wie es ein Beobachter außerhalb der Szene sehen würde.« Aber es sei doch evident, »daß dieses Erinnerungsbild nicht die getreue Wiederholung des damals empfangenen Eindrucks sein kann. Man befand sich ja mitten in der Situation und achtete nicht auf sich, sondern auf die Außenwelt.« (Freud 1999a: 552) Die Erinnerungsbilder, in denen man sich selbst als Kind sieht, seien Produkte von späteren Erweckungszeiten, die keine unmittelbare Reproduktion eines gehabten Erlebnisses darstellen. Benjamin nimmt diese Beobachtung auf, modifiziert sie aber beträchtlich.

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Zunächst wird der Dualismus von erlebendem und erinnerndem Ich durch eine imaginäre dritte Instanz, eben das Bucklichte Männlein, modifiziert. Das Männlein wird in Freuds Worten als »Beobachter außerhalb der Szene« eingeführt. Und bei seinem Auftritt heißt es vom Kind, es »achtete nicht auf sich«. Das Bucklichte Männlein nimmt den Platz des Beobachters ein. Mehr tut es eigentlich nicht. So heißt es in dem fertigen Stück: »Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Er steht verstört vor einem Scherbenhaufen. […] Allein ich habe es nie gesehn. Es sah nur immer mich. Und desto schärfer, je weniger ich von mir selber sah.« (Benjamin 2000: 110f.) Anders als in Freuds Überlegung gehört das Bucklichte Männlein als »Ungeschickt« der Kindheit unzertrennlich zu. Und indem es nur auf das Kind blickt, tut es doch noch etwas: es streicht »von jedwedem Ding, an das ich kam, den Halbpart des Vergessens ein« (ebd.). Wie diese Positionierung zu erklären sei, ergibt sich aus einer anderen Spur von Benjamins Freud-Lektüre, nämlich der Rezeption der Schrift Jenseits des Lustprinzips. In dieser Schrift entwirft Freud eine neue Theorie des Gedächtnisses, die über die Konzeption der Verdrängung grundsätzlich hinausgeht. Ihr Kerngedanke lautet, dass das Vergessen kein defizitärer, sondern ein für den psychischen Apparat konstitutiver Vorgang sei. Freud ordnet nun das bewusste Erinnern und die Fixierung von Dauerspuren des Erlebten zwei prinzipiell verschiedenen psychischen Systemen zu, deren Leistung und Funktion einander ausschließen. Benjamin zögert nicht, diese Konzeption für seine Zwecke zu übernehmen. Und es ist dieser Ort, der Ort der dem Bewusstsein entzogenen Dauerspuren, wo das Bucklichte Männlein und seine geheimnisvolle Tätigkeit situiert wird. Darauf, dass Benjamin diese Schrift Freuds bereits im Kontext der Berliner Kindheit herangezogen hat (und nicht erst in den späteren Baudelaire-Studien), verweist im oben zitierten Notizblatt das Stichwort »Proust-Notiz«. Gemeint ist eine handschriftliche Aufzeichnung, die für eine Überarbeitung des Proust-Essays von 1929 gedacht war. In dieser Aufzeichnung verweist Benjamin ausdrücklich auf Freud und verknüpft die Gedächtnistheorie aus Jenseits des Lustprinzips mit der Konzeption der mémoire involontaire. Hervorgehoben wird die »von Freud formulierte und für die Kenntnis Prousts so aufschlußreiche Feststellung: man könne ein Erlebnis nur entweder erleben oder aber erinnern, der Gegenstand wahrer Erinnerung – der mémoire involontaire – sei immer ein Nicht-Erlebtes.« (Benjamin 1977: 1066). Wie Nicht-Erlebtes und wahre Erinnerung zusammenhängen, wird dann in dem Manuskript »Aus einer kleinen Rede über Proust, an meinem vierzigsten Geburtstag gehalten« (1932) näher ausgeführt. Der erste Abschnitt beschreibt die Bilderzeugung der mémoire involontaire, die im Kindheitsbuch direkt dem Wirken des Bucklichten Männlein zugeschrieben wird. Es heißt da: »Zur Kenntnis der mémoire involontaire: ihre Bilder kommen nicht allein ungerufen, es handelt sich vielmehr in ihr um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten. Am deutlichsten ist das bei jenen Bildern, auf welchen wir – genau wie in manchen Träumen – selber zu sehen sind. Wir stehen vor uns, wie wir wohl in Urvergangenheit einst irgendwo, doch nie vor unserm Blick, gestanden haben. Und gerade die wichtigsten – die in der Dunkelkammer des gelebten Augenblicks entwickelten – Bilder sind es, welche wir zu sehen bekom-

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men. Man könnte sagen, daß unsern tiefsten Augenblicken gleich jenen Päckchenzigaretten – ein kleines Bildchen, ein Photo unsrer selbst – ist mitgegeben worden.« (Ebd.: 1064)

Zwei Aspekte sind hier bedeutsam. Zum einen wird gesagt, dass die Funde des nichtintentionalen Erinnerns sich unwillkürlich einstellen; sie kommen »ungerufen« wie das Bucklichte Männlein. Sie stellen gleichsam eine unerwartete Zugabe dar. Auf den Entstehungsprozess der Berliner Kindheit bezogen bedeutet dies: Erst die immer wieder neu begonnene Arbeit des Aufschreibens, das zunächst von einer bewussten Suche nach Erinnerungen an die vergangene Kindheit ausgeht, ehe es sich im Fortgang dem Sog der memorialen Assoziationen überlässt und sie konstruktive Gestalt gewinnen lässt, eröffnet dem Ich das Geschenk jener kleinen Bildchen, die als tiefste Erinnerungs-Augenblicke gelten können. Zum Zweiten hebt Benjamin hervor, dass nicht allein im Unwillkürlichen und Ungewollten der Erinnerungsassoziationen die besondere Qualität der mémoire involontaire besteht – sie können ja vielmehr ganz flüchtig und verworren bleiben –, sondern in der Möglichkeit, dass die Nachträglichkeit des Erinnerns in unvorgängige Bilder umschlägt. So lautete die wichtigste Bestimmung in der zitierten Rede über Proust, es handele sich »um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten. [...] Wir stehen vor uns, wie wir wohl in Urvergangenheit einst irgendwo, doch nie vor unserm Blick, gestanden haben.« (Ebd.: 1064) Es geht also nicht länger um die Wiedergewinnung des ursprünglich Erlebten, sondern um den nie zuvor gehabten Blick auf das Kind. Das entspricht der Freudschen Beobachtung von der Nachträglichkeit der Kindheitserinnerung. Es geht um die genuine memoriale Erzeugung von ›Selbsterblickungen‹, die es vordem im Erleben nie gegeben hatte. Dieses ›Selbst‹ ist nicht der metaphysische Wesenskern des Ich, die Seele, sondern stellt sich dar als ein Ensemble sehr verschiedener Selbsterblickungen: Stück für Stück. Und wenn sie sich dem Wegschnappen des Bucklichten Männleins verdanken, so setzen sie der Sehnsucht nach einem schrankenlosen und vollständigen Wiedererinnern eine Schranke. Hatten wir zunächst gesagt, das Bucklichte Männlein repräsentiere das Vergessen und zwar als Bedingung der Möglichkeit wahren Erinnerns, so wollen wir diesen Gedanken nun präzisieren. Die Anwesenheit des Bucklichten Männleins führt, wie der Text sagt, zunächst dazu, dass Dinge der Kindheit »schrumpften [...] als wüchse ihnen ein Buckel« (Benjamin 2000: 110). Was das Kind als Vorgang des Größerwerdens erlebt, ist zugleich ein Vorgang der Beraubung, der die einstmals geliebten Dinge in Vergessenheit geraten und ins Unbewusste absinken lässt. Zugleich aber besteht die Arbeit des Bucklichten Männleins darin, jene ungesehenen Selbstbildnisse gleich einem Photographen als unbelichtete Negative zu speichern. Erst in dem späteren, an den Schreibprozess gebundenen Vorgang des partiellen Wiedererinnerns gewinnen sie ihre Sichtbarkeit als Denkbilder. Aber es bleibt ein unerlöster Rest: der Buckel, in dem die Dingwelt der Kindheit thesauriert ist, und der noch das Verschwinden des Bucklichten Männleins überdauert, das mit dem Ende der Kindheit seine Arbeit getan hat.

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D IE H ALTBARKEIT

DER

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Benjamin hat, wie das Vorwort von 1938 andeutet, die Berliner Kindheit als einen seine Ausbürgerung vorwegnehmenden Abschied von Berlin betrachtet. Die Stücke selbst sprechen vom Schicksal des Exils und der Katastrophe des Faschismus indes nicht. Nur einmal, in dem Stück WINTERMORGEN scheint etwas davon auf. Es beginnt: »Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eignen Leben die Erfüllung wieder.« (Benjamin 1989: 398) Das Stück handelt ausführlich von den Wonnen des winterlichen Bratapfels, dessen schaumigen Duft das kleine Schulkind nach dem Wecken in der Ofenröhre erschnuppert. Doch diese Wonne hielt nicht vor. In der Schule kam die Müdigkeit des Zufrüh-Gewecktwerdens »verzehnfacht wieder. Und mit ihr jener Wunsch: ausschlafen zu können. Ich habe ihn wohl tausendmal getan und später ging er wirklich in Erfüllung. Doch lange dauerte es, bis ich sie darin erkannte, daß noch jedesmal die Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot gehegt hatte, umsonst gewesen war.« (Benjamin 1989: 398) Hinter dieser lakonischen Formulierung verbirgt sich alles, was in Benjamins Lebensweg bis zum Freitod vor den Nazis in Port Bou an Entbehrungen erlitten wurde. Die fast hermetische Abschließung der Stücke auf den Zeit-Raum »um neunzehnhundert« war Bedingung ihrer literarischen Form. Und die Konkretheit der Stücke, die sich die Dingwelt des Kindes erschließen und nicht das biographische Milieu, sicherte ihnen den Anspruch auf Allgemeinheit. Es war Benjamins Intention, wie es im Vorwort heißt, »daß die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten. Mit ihnen die Physiognomien – die meiner Familie wie die meiner Kameraden. Dagegen habe ich mich bemüht, der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt.« Damit sprach er die Hoffnung aus, die Bilder seiner Großstadtkindheit seien »vielleicht befähigt, in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrungen zu präformieren.« (Ebd.: 385) Denn die erstaunliche Suggestionskraft dieser Bilder beruht darauf, dass sie jenen verschwundenen Stadtraum des kaiserlichen Berlin zu Fragmenten einer Anthropologie der Kindheit verdichten, deren Bedeutungsgehalte nicht mit den Bedingungen ihrer sozialen Genese zusammenfallen, sondern von ihr ablösbar wurden. Die fortwirkende Rezeption der Berliner Kindheit hat Benjamins Hoffnung, dass das Buch späteren Lesern einen historischen Zugang zur eigenen Kindheit biete, bestätigt.

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L ITERATUR Benjamin, Walter (1972): »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften IV.1, hg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 235-304. Benjamin, Walter (1977): Gesammelte Schriften II, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1985): Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften, Gesammelte Schriften VI, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1989): »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« [Fassung von 1938], in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften VII.1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 235-304. Benjamin, Walter (1998): Gesammelte Briefe, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Bd. IV 1931-1934, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (2000): Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Gießener Fassung, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Freud, Sigmund (1999a): »Über Deckerinnerungen«, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u.a. Bd. I, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 531-554. Freud, Sigmund (1999b): »Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum)«, in: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u.a. Bd. IV, Frankfurt a.M.: Fischer. Freud, Sigmund (1999c): »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u.a. Bd. V, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 27-145. Fröbel, Friedrich (1986): Ausgewählte Schriften, Bd. V: Briefe und Dokumente über Keilhau. Erster Versuch der Sphärischen Erziehung, hg. von Erika Hoffmann und Reinhold Wächter, Stuttgart: Klett-Cotta. Jean Paul (1977): »Impromptu's, welche ich künftig in Stammbücher schreiben werde«, in: Jean Paul, Sämtliche Werke, Abtlg. II, Bd. 3 Vermischte Schriften II, hg. von Norbert Miller und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 814-823. Lindner, Burkhardt (2010): »Schreibprozeβ, Finisierung und verborgene Erinnerungstheorie in Benjamins Berliner Kindheit. Zur erstmaligen Edition des Gesamtnachlasses«, in: Peter Brandes/Burkhardt Lindner (Hg.), Finis. Paradoxien des Endens, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 83-128. Lindner, Burkhardt (1984): »Das Passagen-Werk, die Berliner Kindheit und die Archäologie des ›Jüngstvergangenen‹«, in: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.), Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, München: Fink, S. 27-48. Marx, Karl (1953): Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1850-1859, Berlin: Dietz Verlag. Schiller, Friedrich (1967): »Über naive und sentimentalische Dichtung«, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Band 3, München: Hanser, S. 694-780. Szondi, Peter (1973): »Das Naive ist das Sentimentalische«, in: ders., Lektüren und Lektionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 47-99.

»Darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten« Oder: Vom Versuch, Kindheit zu erinnern C ARSTEN G ANSEL

Uwe Johnsons Jahrestage (EA: 1970-1983) ist der Titel des Beitrags entlehnt; die Jahrestage gelten als ein offenes Kunstwerk, weil sie eine fortlaufende Gesprächssituation zwischen Mutter und Tochter imaginieren und zwei qualitativ unterschiedliche Lebenswelten bzw. Zeitebenen miteinander vernetzten: das moderne New York der späten sechziger Jahre und das vormoderne Mecklenburg.1 Auf der Gegenwartsebene, die vom 21. August 1967 bis zum 19. August 1968 reicht, kann der Leser sich ein Bild von Gesines Leben in den USA machen. Über ihre Arbeit als Fremdsprachensekretärin in einer Bank, Einkäufe, Gespräche mit Freunden, Nachbarn, den Schulfreunden der Tochter Marie, die Liebesgeschichte mit Dietrich Erichson. Zu diesen persönlichen Erfahrungen kommen Informationen aus der New York Times über den Vietnam-Krieg, die Ermordung Martin Luther Kings oder Robert Kennedys. Dabei lösen der amerikanische Alltag, Sinneseindrücke oder Fragen der Tochter Marie erinnernde Assoziationen Gesines aus, die auf eine (Re)Konstruktion des Vergangenen, nicht zuletzt der Kindheit im Dritten Reich, zielen. Die Analepsen sind darauf aus, »das Kind, das ich war«, einzufangen (Gansel 2012d). Weil dies so ist, denkt Gesine wiederholt darüber nach, wie das Erinnern funktioniert. Allerdings gelangt sie dabei zu einem anderen Ergebnis, als mein Titel suggerieren könnte. Der Versuch, noch einmal in die Kindheit einzutreten, wird als nicht machbar eingestuft. »Das gibt es nicht«, heißt es. Im Gesamtzitat lautet das Gesine Cresspahl zugeordnete Nach-Denken so: »[I]hr kam es an auf eine Funktion des Gedächtnisses, die Erinnerung, nicht auf den Speicher, auf die Wiedergabe, auf das Zurückgehen in die Vergangenheit, die Wiederholung des Gewesenen: darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten. Das gibt es nicht.« 2 (JT: 63)

Gesine gibt zwar die Hoffnung nicht auf, »[d]ass das Gedächtnis das Vergangene doch fassen könnte in die Formen, mit denen wir Wirklichkeit einteilen« (ebd.). 1 2

In Hinblick auf eine Einordnung der Jahrestage folge ich Positionen von Norbert Mecklenburg (vgl. Mecklenburg 1995 und 1997). Johnson1970: 63; nachfolgend der Titel unter der Sigle ›JT‹.

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Gleichwohl bleibt sie skeptisch und stellt einmal mehr die Schwierigkeit des Erinnerns fest: »Das Stück Vergangenheit, Eigentum durch Anwesenheit, bleibt versteckt in einem Geheimnis, verschlossen gegen Ali Babas Parole« (JT: 64). Johnson legt – auch im Weiteren – seiner Figur Gesine das in den Mund, was inzwischen in gedächtnistheoretischen Untersuchungen hinreichend erfasst wurde: Zwischen den realen Geschehnissen der Vergangenheit und den dann entstehenden Erinnerungen existiert eine Kluft. Der zeitliche Abstand zwischen ›realer Vergangenheit‹ und dem aktuellen Moment, in dem diese erinnert wird, führt dazu, dass die früheren Geschehnisse aus dem Blickwinkel der Gegenwart wahrgenommen und bewertet werden.3 Damit erfolgt bereits eine Art Umbau. Es werden nämlich jene Momente als bedeutsam hervorgehoben, die in der aktuellen Gegenwart für das erinnernde Individuum von größerem Gewicht sind. Dazu gehört auch, dass Retuschen das Vergangene sentimentalisch verklären. Man kann mit Uwe Johnson von »Tricks der Erinnerung« sprechen (Johnson 1975: 63). Hinzu kommt etwas anderes: In die Erinnerungen können beständig ›äußere Elemente‹ eindringen, ohne dass sich der Einzelne dessen bewusst wird. So vermischen sich beispielsweise die von anderen erzählten Geschichten, Filmhandlungen oder gar fiktive Romanerlebnisse mit der eigenen Geschichte. Damit ist auch das Phänomen der ›false memories‹ angesprochen. Es ist nämlich problemlos möglich, ›falsche Erinnerungen‹ in das eigene Gedächtnis zu importieren, vor allem dann, wenn dies der Stabilisierung des Ichs dient. Diese ›Quellenamnesie‹ steigert sich mit zunehmendem Alter und macht es möglich, Erlebnisse anderer zu einer eigenen ›Wunschbiographie‹ zu erinnern. In den Jahrestagen wird nun zum Ende des ersten Bandes zwischen Gesine und ihrer zehnjährigen Tochter Marie eben jene Frage debattiert, wie authentisch das Erinnerte ist. »Ich werde dich jetzt prüfen: sagt Marie. – Ich werde jetzt mal nachsehen, woher du deine Vergangenheiten hast. Das hat jetzt ein Ende mit dem Anlügen.« Marie versucht, die Mutter in eine Falle zu locken und stellt die Forderung: »Erzähl mal was über das Kind Gesine, als es zwei Jahre alt war!« (JT: 454) Und nach Gesines redlichem Versuch, eine Antwort zu geben, hegt sie den Verdacht: »Das hast du von mir« (ebd.). Marie vermutet also, dass die Mutter in dem Fall, da Erinnerungen angesprochen sind, die ihren Status als Kleinkind in der Vergangenheit betreffen, sich mit Erinnerungen an ihre Tochter Marie aushilft. Mit Maries Verdacht sind grundsätzliche Probleme angesprochen, die das Erzählen und Erinnern von Kindheit betreffen. Ich möchte diesen Fragen nachfolgend in mehreren Schritten nachgehen. In einem ersten Teil sei gewissermaßen als Einstieg knapp und sehr summarisch auf Aspekte des Erinnerns in der Gegenwartsliteratur verwiesen. Ausgehend davon soll dann in einem umfangreichen zweiten Teil der Versuch unternommen werden, Formen des Erinnerns und Erzählens von Kindheit zu unterscheiden. Schließlich wird es drittens um ein Problem gehen, dass ein Autor wie Uwe Johnson bei dem Versuch sah, »das Kind, das ich war«, zu erinnern.4 3

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Siehe dazu die Ergebnisse der Gedächtnisforschung seit den 1970er Jahren, insbesondere die Überlegungen von Endel Tulving (Tulving 1983). Neuere Positionen, die davon ausgehen, dass Erinnerungsinhalte von den aktuellen Bedingungen ihres Abrufs abhängen, finden sich u. a. bei Schachter 2001 oder Welzer 2002. Es handelt sich nachfolgend um eine Vortragsfassung, die weitgehend beibehalten wurde und die an bisherige Beiträge des Verfassers zum Gegenstand anschließt.

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M EMORY B OOM UND DAS E RINNERN K INDHEIT UND J UGEND

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VON

Lassen Sie mich mit einem Rap-Song und von daher mit einem Textauszug beginnen, den man den sogenannten Lyrics, den Liedtexten, zuordnet. Es handelt sich um Prinz Pi und den Frühstücksclub der toten Dichter. »Staubtrocken schnarren Pausenglocken – Schulanfang / Einer wird Klassenspast, einer Ass – gut erkannt / Der neue trägt sein Fragenzeichen mit sich in die erste Stunde / Sein Blatt noch weiß, neue Schule, Ehrenrunde / Die als erste einen Busen kriegt – wird gehasst / Der Typ, der immer alles weiß – wird gehasst / Und die, die dort wirklich blass / Die Hände um die Wasserflasche legt auf dem Tisch / Hasst sich selber so sehr, dass sie kaum etwas isst / Tumblrblogs sagen ihr, dass sie hässlich ist / Werbung sagt ihr, dass sie hässlich ist / Weil sie nicht wie die photogeshopten Skelette ist / Der Typ zwei Reihen hinter ihr weiß, dass sie die Perfekte ist / Wenn er sich traut, sie anzugucken / blickt sie weg und lächelt nicht [Hook] / Wenn du jedesmal alleine sitzt / Und vom ersten bis zum letzten Jahr Scheiße frisst / Dann heißt das nicht / Dass die Recht behalten, die Letzten werden die Ersten sein / Schwören wir uns flüsternd da im Kerzenschein / Und schreien: NEIN!« (Prinz Pi 2013: 12)5

In diesem Fall funktioniert das Erinnern bei einem wertgeschätzten deutschen Rapper, der für seine ›hintersinnigen Punchlines‹, also Zeilen aus seinen Rap-Songtexten, gelobt wird: Friedrich Kautz, alias Prinz Pi (vgl. Schieferdecker 2013 und Waechter 2013). Auf seinem neuen Album Kompass ohne Norden, das am 12. April 2013 erschienen ist, stehen Kindheit und Jugend im Zentrum der Songs. So auch in Frühstücksclub der toten Dichter, mit dem Prinz Pi auf zwei Filme aus den 1980er Jahren anspielt. Breakfast Club (1985), in dem die Simple Minds mit dem Song Don‹t you ihren größten Hit hatten und Der Club der toten Dichter (1989). Der Rap von Prinz Pi ist ein – sagen wir – selbstreflexiver Song. In der ›communal voice‹, der Wir-Stimme, wird an gruppenbezogene Kindheits- und Jugenderfahrungen erinnert, die allerdings keinen sentimentalen Status besitzen. Prinz Pi verweist im Gespräch zu diesem Song darauf, dass letztlich diejenigen, »die vermeintlich die Verlierer sind, plötzlich später, wenn jeder individuell sein und seinen eigenen Style finden möchte, und ganz anders sein möchte als die Masse, genau diese Leute plötzlich die Gewinner sind.« Sie würden »nicht mehr so krass ihre Identität suchen müssen, weil sie die schon früher gefunden haben.« (Toxik trifft Prinz Pi 2013) Die Erfahrung, die Prinz Pi hier herausstellt, ist einmal mehr ein Hinweis auf die Rolle der Adoleszenz. In Absetzung von Sigmund Freud, der Adoleszenz als eine Art Wiederholung früherer Kindheitserfahrungen sieht, gilt Adoleszenz etwa bei Mario Erdheim als »zweite Chance« (Erdheim 1984) der Individuierung. Frühe Kindheitserfahrungen können korrigiert werden, das Individuum hat die Möglichkeit, neue Wege zu gehen und

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Beim ›Tumblr‹-Blog, der 2007 gegründet wurde, handelt es sich um eine ausgesprochen erfolgreiche Blogging-Plattform, die es einfach möglich machen soll, Bilder, Fotos, Links, Texte in einem eigenen Blog zu veröffentlichen. ›Kim Yong-Il Looking at Things‹ ist ein vielzitiertes Beispiel für einen weltweit erfolgreichen Tumblr-Blog.

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andere Lebensformen zu erproben (vgl. Gansel 2011). Wie heißt es im Song: »Die letzten werden die ersten sein.« Dass hier wirklich erinnert wird, erfährt man im letzten Teil des Songs, der die vorher vermittelten Erfahrungen aus Kindheit und Jugend zu einer Aufforderung bzw. Message zusammenfasst: »Speicher in deinen Augen all die großen Momente / Denn es sind genau die, die wir stets erst nachher erkennen«. (Prinz Pi 2013: 12) Wollte man schon jetzt erinnerungstheoretisch argumentieren, dann könnte man sagen, hier holt jemand etwas aus dem Speichergedächtnis ins ›lebendige Gedächtnis‹, das sogenannte Funktionsgedächtnis. Von einer Gegenwartsebene ausgehend wird an Kindheit und Jugend erinnert. Dass selbst in der Popmusik ein solcher Vorgang des Erinnerns einsetzt, das hat man noch vor einigen Jahren eher für nicht möglich gehalten. Die Popmusik, so hatte der Kritiker Dirk Peitz Mitte 2005 noch notiert, »versinkt gerade im schwarzen Loch ihrer eigenen Bestimmung: in der ewigen, zukunfts- und vergangenheitslosen Gesellschaft« (zit. nach Jacke/Zierold). Das Album Ballast der Republik von den Toten Hosen oder Udo Lindenbergs RetroPlatte MTV Unplugged freilich zeigen, dass sehr wohl auch in der Pop-Musik erinnert wird, bevorzugt Kindheit und Jugend. Der Rap von Prinz Pi ist zudem ein populäres Beispiel für den nach wie vor anhaltenden Memory-Boom in der deutschen Kultur. Spätestens Ende der 1990er gewann dabei das Erinnern von Kindheit und Jugend eine neue Bedeutung in Verbindung mit einer jungen Autorengeneration, deren Texte dann unter dem Label der Popliteratur gefasst wurden. Das Besondere dabei war, dass diese jüngeren Autoren – sie waren damals Ende 20 – ihren Einstand in der deutschen Literatur mit Texten gaben, die Kindheit und Jugend in der alten Bundesrepublik erinnerten. Florian Illies’ autobiographischer Bericht von der Generation Golf (EA: 2000) wurde gewissermaßen ein Trendsetter. Es ging in dem faktualen Text einmal mehr um Kindheit und Jugend in den 1980er Jahren. Das Resümee, das bereits im ersten Teil in einer Art Prolepse vorweggenommen wurde, sah so aus: »Auch ansonsten war es sehr unpraktisch, in jenen Jahren jung zu sein. Denn die achtziger Jahre waren mit Sicherheit das langweiligste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Kein Wunder, daß das Spielen mit dem Jo-Jo in den Pausen so beliebt war. Und daß das Computerspielzeitalter mit einem Spiel anfing, für das man fast schon stoische Qualitäten brauchte: Zwei weiße Stäbe spielten sich unter elektronischem Wimmern ein weißes Klötzchen hin und her, das ganze hieß Tennis [...]. Es ging allen gut, man hatte kaum noch Angst, und wenn jemand den Fernseher anmachte, sah man immer Helmut Kohl. Nicole sang von ein bißchen Frieden, Boris Becker spielte ein bißchen Tennis, Kaffe hieß plötzlich Cappuccino, das war’s auch schon.« (Illies 2000: 16)

Es handelt sich hier – gut erkennbar – um einen auto- bzw. homodiegetischen Erzähler. Wenig später wird – hinreichend eingestimmt – vom ›Ich‹ zum ›Wir‹, also zur communal voice, gewechselt. In Folge von Illies entstanden dann zahlreiche fiktionale Texte, die Kindheit und Jugend in der Bundesrepublik erinnerten (vgl. Gansel 2012d). Dazu gehörten Romane wie Tobias Hülswitts Saga (EA: 2000), Frank Goosens Liegen lernen (EA: 2000), Kolja Mensings Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz (EA: 2002), Peter Renners Griff in die Luft (EA: 2003), Marcus Jensens Oberland (EA: 2004) oder auch Sven Regeners Neue Vahr Süd

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(EA: 2004).6 Erzählt und erinnert wird in Texten dieses Typs an ein geradezu paradiesisch anmutendes Aufwachsen (vgl. Gansel 2012d). Es geht zumeist um eine Kindheit, die auf den ersten Blick so idyllisch erscheint, wie jene, die Astrid Lindgren in ihren Bullerbü-Büchern entworfen hat. Selbst in der Adoleszenz fehlen Risse und Brüche. Wo Gegenwart als »Mischung aus Totalversicherung und schlechten Prognosen, aus Overprotection und Verwahrlosung« (Spinnen 2001: 12) erfahren wird, wächst der Wunsch, Kindheit und Jugend in der Provinz der 1980er Jahre zu erinnern. Die aktuelle Unsicherheit provoziert das idyllische Erinnern an die Sicherheit der Vergangenheit. Man wird bei einigen der Texte durchaus davon sprechen können, dass sie im Sinne von Friedrich Schiller »sentimentalisch« angelegt sind. Dass Kindheit selbst unter Bedingungen einer geschlossenen Gesellschaft wie der DDR von einer nachgeborenen Generation fast liebevoll erinnert werden kann, das zeigte sich bei Zonenkinder (EA: 2002). Jana Hensel, Jahrgang 1976, legte mit Zonenkinder einen ebenfalls autobiographischen Text vor, der rückblickend über Kindheit in der DDR erzählte. Einschnitte, Konflikte, Katastrophen bzw. sogenannte Diktaturerfahrungen finden sich in Zonenkinder nicht. Das hat einen Grund: Diese im Real-Sozialismus aufwachsende Generation war bis zum Ende der DDR noch nicht in Widerspruch zur Gesellschaft geraten. Wenn hier also an »das Kind, das ich war«, erinnert wird, dann kann eine communal voice – wie bei Florian Illies’ Generation Golf – ein durchaus positives Gemeinschaftsgefühl ausdrücken: »Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit, von denen ich damals natürlich noch nicht wusste, dass sie die letzten sein würden, für uns wie Türen in eine andere Zeit, die den Geruch eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden. Eine Zeit, die sehr lange vergangen scheint, in der die Uhren anders gingen, der Winter anders roch und die Schleifen im Haar anders gebunden wurden.« (Hensel 2002: 13)

Jana Hensels Erinnerung an die DDR-Kindheit ist mitunter als nostalgisch und unkritisch abgewehrt worden. Und es ist nachvollziehbar, wenn die Jahrgänge von Erich Loest, Christa Wolf oder Volker Braun, von Thomas Braasch oder Jürgen Fuchs, von Uwe Kolbe oder Steffen Mensching in dem Fall, da sie über Kindheit und Jugend erzählen, nach Formen des Erinnerns gesucht haben, die auch die auf die Kindheit folgenden Brüche fassbar machen. Gleichwohl wird man auch Argumente finden können, die in der Lage sind, Hensels ›Prinzip Erinnerung‹ zu legitimieren. Man könnte etwa auf Martin Walser verweisen und seinen autobiographisch intendierten Roman Ein springender Brunnen (EA: 1998), in dem es ebenfalls um die Erinnerung an die Kindheit geht. Walser, der in dem Text durchweg in der dritten Person erzählen lässt, schiebt jeweils eine Ebene der poetologischen Reflexion ein, indem er seinen Er-Erzähler in allen drei Teilen des Romans zu Beginn über das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit reflektieren lässt:

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Inzwischen liegen weitere Romane von jüngeren Autoren vor: Georg Klein: Roman unserer Kindheit (EA: 2010), Andreas Altmann: Das Scheißleben meines Vaters (EA: 2011), Hansjörg Schertenleib: Cowboy Sommer (EA: 2010), Thomas Lang: Bodenlos (EA: 2010).

64 | C ARSTEN G ANSEL »Manche haben gelernt, ihre Vergangenheit abzulehnen. Sie entwickeln eine Vergangenheit, die jetzt als günstiger gilt. Das tun sie um der Gegenwart willen. Man erfährt nur zu genau, welche Art Vergangenheit man gehabt haben soll, wenn man in der gerade herrschenden Gegenwart gut wegkommen will.« (Walser 1998: 281)7

Was Walsers Erzähler hier problematisiert, steht durchaus in Zusammenhang mit den von Johnson angesprochenen »Tricks der Erinnerung« wie auch den ›falschen Erinnerungen‹, von denen die Rede war. Dass hier keineswegs nur das Erzählen und Erinnern über die DDR gemeint ist, muss nicht betont werden.

S CHREIBEN ÜBER K INDHEIT ODER – M ODELLE DES E RZÄHLENS

AUS

K INDERPERSPEKTIVE

In einem Gespräch im Jahre 2001 hat Marcel Beyer auf eine notwendige Unterscheidung aufmerksam gemacht: »Es sind zwei ganz verschiedene Sachen, ob man über Kindheit schreibt oder aus Kinderperspektive.« (Beyer/Schmidt/ Schwertfeger 2001: 16) Was Marcel Beyer hier herausstellt, das ist durchaus schon frühzeitig von Autoren erkannt worden und war selbst in einer Zeit, da die Kinder- und Jugendliteratur noch durchweg als Sozialisationsliteratur funktionierte, Gegenstand des Nachdenkens. Christian Adolf Overbeck – Hans-Heino Ewers hat früh auf seine Bedeutung aufmerksam gemacht – notiert in der Vorrede zu seiner Sammlung Fritzchens Lieder von 1781: »In diesen Liedern hab ich versuchen wollen, wie weit ich‹s etwa im Kinderton treffen könnte.« Dabei setzt Overbeck sich bewusst zu Christian Felix Weißes erfolgreichen Liedern für Kinder ins Verhältnis und grenzt sich von ihnen ab. Bei Weiße nämlich »hört man den herablassenden Lehrer, zwar meist im Ausdruck der Kinder, aber doch mit den Ideen des Erwachsenen«. Dem setzt Overbeck sein für die damalige Zeit – wird sind in der Zeit der Aufklärung – revolutionäres Programm entgegen: »Hier spricht, wenn ich‹s gut gemacht habe, wirklich ein Kind.« (Overbeck 1781: o.p.) Aber da es mir nachfolgend nicht explizit um Kinder- und Jugendliteratur geht, komme ich auf Marcel Beyer zurück. Der bezieht sich mit seiner Unterscheidung auf eigene Schreiberfahrungen. Sie betreffen seinen vielbeachteten Roman Flughunde (EA: 1995), für den er 1996 auch mit dem UweJohnson-Preis ausgezeichnet wurde und den 2001 erschienenen Roman Spione (EA: 2001). Die Überlegung von Marcel Beyer ist, narratologisch gesehen, von entscheidender Bedeutung. Und dies in folgender Hinsicht: Das Schreiben über Kindheit lässt sich vereinfachend dem zuordnen, was man unter Histoire fasst, die Story, das ›Was‹ des Erzählens. Und dazu gehören Ereignisse, Handlungen, Figuren, Räume. Ein Schreiben aus Kinderperspektive meint dagegen den Discourse, das ›Wie‹ des Erzählens. Es geht also um den Erzähler (Stimme) und den Modus (Distanz, Fokalisierung). Wenn nun nachfolgend das ›Was‹ und das ›Wie‹ getrennt betrachtet werden, dann muss klar sein, dass dies zum Zweck der Analyse erfolgt und mit dem Ziel, gewissermaßen Probebohrungen vorzunehmen. Dass das ›Was‹ und ›Wie‹ natürlich

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Der Verweis auf Martin Walsers Roman findet sich ebenfalls bei Butzer 2005.

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zusammengehören, sei – der Anschaulichkeit wegen – an einer Verfilmung einsehbar gemacht. Es geht um die Verfilmung von Heinrich Manns Der Untertan (EA: 1918) aus dem Jahre 1951. Für den in Rede stehenden Komplex ist die Eingangssequenz von besonderer Bedeutung, weil hier in die Welt des Kindes Diederich Heßling eingeführt wird. Dabei wird dieser in extremer Froschperspektive gezeigt, was der subjektiven Sicht des kindlichen Protagonisten entspricht. Der aus dem Off kommende Ton des Erzählers markiert, in welcher Weise dem Kind bedrohliche Mächte gegenüberstehen, denen es schutzlos ausgeliefert ist. Die extreme Froschperspektive führt zu einer überspitzten Abbildung von Wirklichkeit, die der karikierenden Intention des Regisseurs ebenso entspricht wie der Romanvorlage von Heinrich Mann. Vater, Mutter, Arzt und schließlich die Lehrer werden in ihren Machtpositionen aus der Sicht des Kindes bzw. der Kinder in Szene gesetzt. Dabei wird die Bedrohlichkeit durch die extreme Untersicht bereits subversiv unterlaufen und ironisiert. Die extreme Froschperspektive wechselt immer dann mit einer extremen Vogelperspektive, also einer Aufsicht, wenn der kindliche Protagonist, das Kind Diederich Heßling, sich an die Mächtigen wendet (vgl. Gast 1993: 25). Die Eingangssequenz aus der Verfilmung des Untertan macht zweierlei deutlich: Zum einen zeigt sich, wie wichtig für die Kindheit wie das Erzählen und Erinnern von Kindheit die konkreten politischen und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen sind, in diesem Fall die wilhelminische Ära, in der Kinder in jeder Hinsicht autoritären Instanzen ausgeliefert waren. Zum anderen ist erkennbar, wie entscheidend das ›Wie‹ des Erzählens – in diesem Fall die Kameraeinstellung – ist. Durch den Wechsel zwischen extremer Untersicht (Froschperspektive) und extremer Aufsicht (Vogelperspektive) werden zwei Seiten des ›autoritären Charakters‹ des wilhelminischen Deutschland präsentiert: Unterordnung und Überordnung bzw. Dienen und Herrschen. Ausgehend von diesem Beispiel soll nachfolgend der Versuch gemacht werden, exemplarisch unterschiedliche Modelle des Erzählens aus Kinderperspektive herauszuarbeiten. Dabei können allerdings die jeweiligen kulturhistorischen Kontexte keine Rolle spielen, mithin auch nicht der historische Wandel diskutiert werden. Mit Blick auf das ›Wie‹ bedarf es keiner großen Anstrengung, um das erste Modell beim Erzählen aus Kinderperspektive zu benennen: Es ist die Installierung eines kindlichen Ich-Erzählers. Das Modell findet sich bevorzugt in der spezifischen Kinder- und Jugendliteratur. Dass seit den 1970er Jahren der Einsatz von kindlichen Ich-Erzählern in der Kinder- und Jugendliteratur zugenommen hat, ist bekannt. Mit einigem Recht kann man Texte dieses Typs der Subgattung des psychologischen und komischen Kinderromans zuordnen. Nehmen wir ein Beispiel, den Textanfang von Andreas Steinhöfels Rico, Oscar und die Tieferschatten (EA: 2008):

66 | C ARSTEN G ANSEL »Die Nudel lag auf dem Gehsteig. Sie war dick und geriffelt, mit einem Loch drin von vorn bis hinten. Etwas getrocknete Käsesoße und Dreck klebten dran. Ich hob sie auf, wischte den Dreck ab und guckte an der alten Fensterfront der Dieffe 93 rauf in den Sommerhimmel. Keine Wolken und vor allem keine von diesen weißen Düsenstreifen. Außerdem, überlegte ich, kann man Flugzeugfenster nicht aufmachen, um Essen rauszuwerfen.« (Steinhöfel 2008: 7)

Offensichtlich gerät für diesen Text Komik zu dem, was man mit Hans-Robert Jauß »systemprägende Dominante« (Jauß 1973: 112) nennen kann.8 Insofern ist Steinhöfels Rico-Text der Subgattung des komischen Kinderromans zuzurechnen. Die Faszination, die eine auf dem Gehsteig befindliche Nudel auf den Ich-Erzähler ausübt, ist dabei in der Lage, bei kindlichen Lesern gleichermaßen Erstaunen wie Freude hervorzurufen. Dies betrifft auch die Reflexion des Protagonisten über die Herkunft des ›Corpus Delicti‹, der Nudel. Die Komik des Textes lebt von der Figurenanlage der Hauptfigur, die wenig später von sich als einem »tiefbegabten Kind« sprechen wird. Es muss nicht betont werden, dass die Spezifik des homodiegetischen Erzählers die Chance bietet, einen naiv-verfremdenden Blick auf die Wirklichkeit zu werfen und dabei auch die Schattenseiten kindlichen wie erwachsenen Daseins zu erfassen. Dass dieses Modell in der Kinder- und Jugenditeratur hinreichend genutzt wird, zeigt eine Sichtung von herausragenden Neuerscheinungen aus dem Jahr 2012/2013: Marit Kaldhols Allein unter Schildkröten (EA: 2010), Joke von Leeuwens Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor (EA: 2010), John Greens Das Schicksal ist ein mieser Verräter (EA: 2012), Michael Williams‹ Der Tag der Krokodile (EA: 2009). Allerdings – auch für Steinhöfels Text gilt dies – eine Erinnerung an Kindheit findet in diesen Texten nicht statt. Narratologisch gesehen wird der Leser mit Textbeginn unmittelbar auf eine Gegenwartsebene geführt. Als ein zweites Modell kann eine Art polyperspektivisches Erzählen mit mehreren Ich-Erzählern gelten, das sich inzwischen ebenfalls in der Kinder- und Jugendliteratur findet und einmal mehr anzeigt, in welchem Maße es zu einer Annäherung von moderner Literatur für junge Leser und der Allgemeinliteratur gekommen ist.9 Laura Summers Kinderroman Der Tag, an dem wir wegliefen (EA: 2009) ist ein aktuelleres Beispiel. Hier wird jeweils aus der Sicht der 14jährigen Vicky und ihrer behinderten Zwillingsschwester Rihanna erzählt. Verlassen wir damit das Feld der Kinder- und Jugendliteratur und kommen zu einem für unsere Fragestellung wichtigen Text. Es soll um Marcel Beyers Roman Flughunde gehen. In der Begründung für die Auszeichnung mit dem Uwe-Johnson-Preis wurde von der Jury herausgestellt, dass der Text jenen Mechanismus offenlegt, »der zu Versagen und Schuld einer ganzen Generation geführt hat. Eindrucksvoll schildert der Autor, wie persönliche Leidenschaften durch eine Gesellschaft unabhängig von den jeweiligen ideologischen Denkmustern instrumentalisiert werden können.«10 Flughunde ist ein Roman 8

Siehe dazu etwa meinen Vorschlag, die Rolle der »systemprägenden Dominante« im Rahmen der Phantastik zu diskutieren (Gansel 2012b). 9 Siehe dazu im Rahmen der All-Age-Tendenz Gansel 2012c. 10 Begründung der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises. Siehe www.uwe-johnsonpreis.de (Zugriff am 12.12.2013). Siehe auch die Laudatio von Sigrid Löffler (Gansel 1998).

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über das Dritte Reich und den Holocaust. Erzählt wird die Geschichte des Tontechnikers Hermann Karnau in den Jahren 1940 bis 1945. Karnau ist besessen von der Idee, mit der Veränderung und Manipulation des Sprechapparates auch das Sprechen und Denken der Menschen verfügbar zu machen. Und er ist bereit, moralische Grenzen zu überschreiten. In dem Roman – und nur das soll hier interessieren – gibt es drei Erzählinstanzen: einen heterodiegetischen Erzähler, der sich lediglich im 7. Kapitel meldet und im Berichtston mitteilt, dass man im Juli 1992 »bei einer Besichtigung des städtischen Waisenhauses in Dresden im Keller ein Schallarchiv [findet], das bisher hinter einem mit Brettern vernagelten Mauerdurchbruch verborgen gelegen hat.« (Beyer 1995: 219) Im Zentrum des Romans stehen zwei Erzählerstimmen, die gegeneinander gesetzt werden. Es handelt sich dabei um zwei homodiegetische Erzähler, nämlich den Ich-Erzähler Karnau und die kindliche Ich-Erzählerin Helga, die älteste Tochter von Joseph Goebbels. Zu Beginn der Handlung ist Helga acht Jahre alt, und sie ist zwölf, als sie von ihren Eltern im Führerbunker ermordet wird. Beide Figuren liefern jeweils ein Bild ihrer Erzählgegenwart. So wird dem Leser aus der Sicht von Helga die Sportpalastrede von Goebbels vom 18. Februar 1943 vermittelt, in der er bekanntlich unter Beifallsstürmen den ›totalen Krieg‹ einfordert: »Er spricht von den vielen Millionen Menschen, die alle im Moment seine Zuhörer sind, der sagt etwas über die Ätherwellen, und: Alle sind jetzt mit uns verbunden. Vielleicht hören sogar die Toten ihn, die letzten Stalingradkämpfer, die schon vor Wochen ihren Schlußbericht gefunkt haben. Die Leute rufen Bravo, sie rufen Heil, und wenn sie klatschen, ist das ein ungeheurer Lärm. Papa will uns ein ungeschminktes Bild der Lage entwerfen. Er ruft: Der Ansturm der Steppe. Die Zuhörer hängen an seinen Lippen. [...] Papa ruft: Sie verdient überhaupt keine Wiederholung, nein Wiederlegung meint er. Er achtet sehr auf seine Aussprache, damit man jedes Wort verstehen kann.« (Ebd.: 158)

Aus kindlicher Perspektive werden Fragmente der Goebbels-Rede wiedergegeben, wobei es nicht die bekannten Passagen sind, die in den Blick geraten. Gleichwohl wird gerade durch die kindliche Sicht die nationalsozialistische Propaganda entlarvt und demontiert. Bei den bisher skizzierten zwei Modellen wird zwar im Sinne von Beyer aus kindlicher Perspektive erzählt, aber es geht nicht um »das Kind, das ich war«, Kindheit wird nicht erinnert. Das Erinnern von Kindheit spielt nunmehr bei den beiden nachfolgenden Modellen eine Rolle und rückt ins Zentrum. Für das Modell 3, also das Erinnern von Kindheit durch einen Ich-Erzähler, stehen eine Reihe der Kinderromane von Jutta Richter, die zumeist unmittelbar mit einer Erinnerung einsetzen: »Es war so ein Sommer, der nicht aufhört. Und dass es unser letzter werden würde, hätte damals keiner geglaubt« (Richter 2004: 5), so beginnt ihr Kinderroman Hechtsommer (EA: 2004). Es handelt sich hier um einen extradiegetisch-homodiegetischen Erzähler, einen Erzähler also, der seine eigene Geschichte im zeitlichen Abstand erzählt. Das Temporaladverb »damals« zeigt diesen Umstand explizit an. Das »Damals« wie die im Text spürbare Distanz zur erzählten Geschichte, sind ein Indiz dafür, dass hier ein Erzähler aus einer nicht näher bestimmten Gegenwart Kindheit erinnert. Diese Gegenwart des vermutlich erwachsenen Ich-Erzählers ist allerdings nicht weiter ausgeformt. Vergleichbar funktioniert Elenora Hummels Die Fische von

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Berlin (EA: 2005), bei dem bereits zu Beginn des Textes ein Zusammenspiel von Gegenwarts- und Vergangenheitsebene erkennbar wird: »Selbst heute verlässt mich nicht das Gefühl, dass zwischen dem, der mein Großvater war, und mir etwas unausgesprochen geblieben ist. An manchen Tagen ist dieses Gefühl nur unterschwellig da, an anderen drängt es empor an die Oberfläche. Es scheint mir dann ganz nah, und doch weiß ich nicht, wie es sich greifen ließe. Jahr für Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg zu seinem Haus. In meiner Erinnerung gibt es keinen Sonntag, an dem nicht Großvater am Ende meines Weges die Tür geöffnet hätte; Großvater mit seiner seltsamen Leidenschaft fürs Heizen und Angeln, für Fische und Öfen.« (Hummel 2005: 7)

Mit dem »Selbst heute« ist auf die Gegenwart verwiesen. Sodann beginnt im zweiten Absatz die Erinnerung und der Wechsel auf die Vergangenheitsebene (»Jahr für Jahr ging ich sonntags den gleichen Weg«). Wollte man narratologisch verallgemeinern, so entsteht in Die Fische von Berlin ein Spannungsverhältnis zwischen Basiserzählung (erzählendem bzw. erinnerndem Ich/Gegenwart) und Analepse, der Rückwendung (erzähltem bzw. erinnertem Ich). Dabei erfasst die Analepse jene Ereignisse, die sich in der erinnerten Vergangenheit, der Kindheit, abspielen, die Basiserzählung dagegen gibt Einblick in die aktuellen Verhältnisse während des Erinnerns. Eleonora Hummel hat ausführlich begründet, welche Probleme sich ihr stellten, als sie zunächst konsequent aus dieser Sicht erzählen wollte und in welcher Weise es im Schaffensprozess zu einer Veränderung kam. Zunächst gab es nur zwei Ebenen, nämlich die Gegenwartsebene der 12jährigen Alina und die Geschichte aus der Vergangenheit des Großvaters. Letztlich kam es zu einer Veränderung und dies aus folgendem Grund: »Jedoch erschien es mir während des Schreibprozesses zunehmend problematisch, die kindliche Perspektive von Anfang bis Ende durchzuhalten. Den häufigen Vorwurf, der Texten aus kindlicher Perspektive gemacht wird – z. B. ›So redet/denkt doch kein Kind!‹ oder ›Solche Ausdrücke benutzen Kinder gar nicht!‹ – möchte ich jedoch nicht gelten lassen. Das ›literarische‹ Kind ist kein ›normales‹ Kind, und ich gestehe ihm einige Freiheiten zu, sowohl in seinem Denken als auch in seiner Sprache. Es erschien mir dennoch plausibler, die Erzählerin aus einer gewissen Distanz sprechen zu lassen, weil manche Dinge sich erst aus (zeitlicher) Entfernung beurteilen lassen. Zudem hatte ich erst im fortgeschrittenen Arbeitsprozess die exakte Vision des Romanendes, in dem ich meine Heldin als erwachsene Frau sah. So führte ich relativ spät die dritte Zeitebene ein, die einen Bogen vom Anfang bis zum Ende der Geschichte spannt.« (Gansel/Hummel 2007: 287)

Allerdings erfährt der Leser in Die Fische von Berlin ausgesprochen wenig über die Gegenwart der erwachsenen Ich-Erzählerin. Die aktuelle Erinnerungssituation ist nicht ausgeformt, über das erwachsene beziehungsweise das erinnernde Ich werden keine Informationen geliefert. Dies hängt schlichtweg damit zusammen, dass es der Autorin und ihrer Erzählerin um die ›blinden Flecken‹ der Großvatergeschichte geht, das Trauma der Gulags unter Stalin, das erst durch eine nachgeborene Generation und mehr als 60 Jahre später zum Gegenstand des Erzählens wird. Die Entscheidung für eine kindliche Erzählerin ist für das Funktionieren der Geschichte von

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entscheidender Bedeutung, weil auf diese Weise trotz der erzählten Schrecken ein Ton entsteht, der Hoffnung lässt. Eleonora Hummel hat im Gespräch bestätigt, dass es gerade nicht ihr Anliegen war, den Leser ohne Trost zu lassen. Ein Kind als Hauptfigur und Erzählerin bietet zudem die Möglichkeit, eine »neutrale Erzählhaltung« einzunehmen, die letztlich keine harschen Bewertungen und Urteile fällt. »Ich wollte nur zeigen und jegliche Wertung dem Leser überlassen«, so Eleonora Hummel. »Ein Kind ist zudem an sich ein Hoffnungsträger, da es die Zukunft noch vor sich hat und jede Aussicht auf eine Zukunft auch Hoffnung enthält.« (Ebd.) Grundsätzlich gilt für das skizzierte Modell: Ein Ich blickt aus einer gegenwärtigen Perspektive in die Kindheit zurück, wobei die Gegenwartsebene nur von untergeordneter Bedeutung ist. Texten dieses Typs – ich habe das an anderer Stelle diskutiert – lassen sich als Gedächtnisromane bezeichnen.11 Zu betonen ist dabei, dass in Texten dieses Typs die Erinnerung fest und sicher ist, es gibt keine Instanz, die das Erinnerte in Zweifel ziehen würde. In Eleonora Hummels Roman – wie in anderen Texten mit vergleichbarer Struktur – hat dies einen konkreten Grund: Es geht schlichtweg darum, Ereignisse in den Horizont des kollektiven Gedächtnisses zu holen, die bislang in diesem keine Rolle spielten, an den Rand verwiesen waren oder gar gänzlich ausgeschlossen blieben. Eben diese Motivation, überhaupt erst die weitgehend unbekannten Geschichten zu erzählen, hat die Autorin betont: »Vielleicht hat bei meinem inneren Antrieb, diese Geschichte zu erzählen, auch ein Stück historisches Verantwortungsgefühl mit hineingespielt«, führt Eleonora Hummel im Gespräch aus: »Ich habe immer wieder feststellen müssen, dass die Geschichte der Russlanddeutschen selbst in groben Zügen den wenigsten bekannt ist – das gilt sowohl für Menschen in der DDR, der BRD als auch in der damaligen Sowjetunion. Diese Aus- und Rückwanderung über einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten wird allgemein hierzulande nicht als Teil deutscher Geschichte gesehen. Das ist bedauerlich, denn ich denke, es geht uns alle an. Natürlich ist es nicht meine Aufgabe, geschichtliche Aufklärungsarbeit zu betreiben, aber wenn an der erzählten Geschichte etwas neu war für den einen oder anderen Leser, so ist es doch ein Gewinn für beide Seiten.« (Ebd.: 297)

In der deutschen Gegenwartsliteratur sind – das sei hier angemerkt – eine Vielzahl von Texten nach dem Muster des Gedächtnisromans gebaut, weil es oftmals darum geht, bislang Verschwiegenes oder Verdrängtes überhaupt erst einmal zu Erzählen. Durchweg kommt dabei auch die Kindheit zur Sprache. In diesen Fällen ist nicht beabsichtigt, das Erinnerte sofort wieder dadurch in Zweifel zu ziehen, dass der Erzähler die Fragwürdigkeit und Unsicherheit des Erinnerungsprozesses betont. (Vgl. Gansel 2012d) Das Modell 4 ist etwas komplizierter, weil nunmehr neben der erinnerten Vergangenheit der Prozess des Erinnerns stärker in den Vordergrund tritt: Geradezu prototypisch finden wir diese Form des Erzählens bei Peter Härtling, der seinem Roman

11 Siehe die Ergebnisse im Rahmen des Gießener SFB Erinnerungskulturen, darunter u. a.: Neumann 2004.

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Zwettl (EA: 1973) ganz bewusst den Untertitel Nachprüfung einer Erinnerung gegeben hat. Erinnert wird auch hier eine Kriegskindheit. Der Text beginnt so: »›Die Ankunft‹ Der Junge stand vor dem Haus, es war gegen Abend. Sie waren eben angekommen, nach einer umständlichen Bahnfahrt durch Böhmen, von der er später erzählte, von Tieffliegerangriffen und der Angst seines Vaters; wie sein Vater in einem Café am Wenzelplatz mit Reichsmark hatte zahlen wollen und der Ober sehr scharf sagte: Ich nehme nur noch Kronen. Vater trug Zivil; // er trug, sagt Tante K., Uniform, er hätte es nicht wagen dürfen, er war auf Dienstreise, hatte uns, obwohl er es nicht mehr erwartete, in Olmütz angetroffen. […]; // ich erinnere mich daran; ich habe eine elektrische Birne auf den Boden geworfen. […] // Vater trug kein Zivil, ich erinnere mich, wie er aufstand, den Kellner bat, sich zu gedulden, er müsse wechseln gehen, habe keine Kronen dabei, ich spüre die Furcht, die uns die Stühle an einem Tischende zusammenrücken ließ, wie Mutter L. anherrschte: Sei still, wir müssen warten, Lore. // Ich stand vor dem Haus. Ich war zwölf Jahre alt. Es war vor sechsundzwanzig Jahren.« (Härtling 1982: 5)

Der Textanfang mit dem ersten Satz (»Der Junge stand vor dem Haus«) erscheint zunächst auktorial. Mit Genette würde man von einem heterodiegetischen Erzähler sprechen. Was die Perspektivierung der Darstellung betrifft, handelt es sich zunächst um eine Nullfokalisierung (auktorial), die dann in eine interne Fokalisierung (= aktorial, Mitsicht) übergeht. Der vermutete heterodiegetische Beginn wird wenig später aufgebrochen, denn es erfolgt ein Wechsel der Erzählinstanz, wenn es heißt: »ich erinnere mich daran; ich habe eine elektrische Birne auf den Boden geworfen«. Hier setzt der Ich-Erzähler ein. Wenig später notiert das Ich dann: »Vater trug kein Zivil, ich erinnere mich, wie er aufstand, den Kellner bat, sich zu gedulden, er müsse wechseln gehen«. Härtling entwickelt sodann im Prozess des Erinnerns eine multiple interne Fokalisierung, denn dasselbe Geschehen wird von unterschiedlichen Figuren anders erinnert bzw. vermittelt. Die Tante widerspricht nämlich, denn nach ihrer Erinnerung habe der Vater Uniform getragen. Das wirkt auf das Ich irritierend, es ist sich seiner Erinnerung nicht sicher. Mit anderen Worten: Auf der diegetischen Ebene (der der Handlung) werden die Erinnerungsfragmente immer wieder an das gegenwärtige Sein bzw. die aktuelle Situation des erinnernden Ichs gebunden. Das, was in der Vergangenheit geschehen ist, kann das Ich nur noch unvollkommen, fragmentarisch, diskontinuierlich erinnern. Was einmal war, ist nicht eindeutig auszumachen, vielmehr läuft ein Prozess ab, in dem das Ich gewissermaßen seine eigenen Kindheitserinnerungen aushandelt, interpretiert, konstruiert. Texte dieses Typs lassen sich als Erinnerungsromane bezeichnen. Mit dem Textende von Zwettl wird diese den Erinnerungsroman kennzeichnende Unabgeschlossenheit, mithin die

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Diskontinuität und Fragmentarisierung der Erinnerung, erneut betont. Nachdem das Ich versucht hat, der Vergangenheit intensiv-bohrend auf die Spur zu kommen, heißt es: »Ich weiß nicht, ob ich es gewesen bin. Ich könnte es gewesen sein. Mutter und Großmutter sind tot. Die Lebenden stehen vor ihren Abbildern, durch die Jahre abgerückt, sie erzählen, wer sie waren, aber sie finden zu ihrem Bild nicht zurück.« (Ebd.: 126)

Die Struktur von Gedächtnis- wie Erinnerungsroman führt auf eine weitere Frage, die sich narratologisch stellt und die nunmehr angesprochen sei: Unstrittig dürfte sein, dass es sich bei Erinnerungen um Bewusstseinsinhalte handelt. Von daher ist von Interesse, wie die Innenweltdarstellung konkret funktioniert. Es bieten sich bei einem homodiegetischen Erzähler nach Genette eine externe und eine interne Fokalisierung an. Durch externe Fokalisierung wechselt der Akzent von der diegetischen auf die extradiegetische Ebene. Das erzählerische Ich sieht die vergangenen Ereignisse aus der Kindheit im Licht der Gegenwart. Es erfolgt eine Evaluation und Bewertung. Man kann hier mit Daniel Schacter (vgl. Schacter 2001) und Susan Lanser (vgl. Lanser 1992) von ›observer memories‹, also von Beobachtererinnerungen, sprechen oder – so mein Vorschlag – vom Erwachsenenblick. Es wird zwar Kindheit erinnert, aber eben nicht aus Kinderperspektive. Ein für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wichtiger Text, er ist bereits als Erinnerungsroman eingeordnet worden, funktioniert nach eben diesem Prinzip: Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders (EA: 2003). Bereits zu Beginn gesteht der homodiegetische Erzähler seine Unsicherheit ein. »An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern« (Timm 2003: 9), heißt es. Der Text setzt unvermittelt, also in medias res, mit der Beschreibung eines prägenden Erlebnisses ein und führt über 50 Jahre zurück in die Kindheit des Ich-Erzählers: »Erhoben werden – Lachen, Jubel, eine unbändige Freude – diese Empfindung begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat, mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis: Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. Sie werden etwas gesagt haben, woran ich mich nicht mehr erinnere, vielleicht: Schau mal, oder sie werden gefragt haben: Siehst du etwas? Und sie werden zu dem weißen Schrank geblickt haben, von dem mir später erzählt wurde, es sei ein Besenschrank gewesen. Dort, das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über dem Schrank sind Haare zu sehen, blonde Haare«. (Timm 2003: 9)

Diese Episode ist die »einzige Erinnerung an den 16 Jahre älteren Bruder« (ebd.), der im Oktober 1943 als Angehöriger einer SS-Division in einem Feldlazarett verstirbt. Der Ich-Erzähler bündelt nachfolgend die Vergangenheitspartikel, er bedenkt sie reflexiv, und er ordnet und interpretiert sie aus der Sicht der Gegenwart. Bei der Reflexion stößt der Ich-Erzähler allerdings an Grenzen, denn sechzig Jahre danach kann die Erinnerung nicht mehr sicher sein. Andererseits besteht aus der zeitlichen Distanz die Chance, damalige Ereignisse neu zu bewerten. So heißt es: »Erst Jahre später, ich war schon erwachsen, habe ich das Märchen zu Ende gelesen« (ebd.). Als Hilfe bei der Rekonstruktion des Vergangenen funktioniert das Tagebuch des Bruders. Die Analepsen, in denen der Erzähler streckenweise zur Welt der Figuren

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gehört, sind anachronisch angeordnet und zumeist in der distanzerzeugenden ErForm fixiert. Sie beziehen sich auf a) Kindheit (»das Kind in hellen Hosen, weißen Kniestrümpfen, so gingen wir am Seeufer spazieren«, ebd.: 55), b) die Jugend (»Vielleicht lag darin der tiefere Grund, warum der Jugendliche, der jetzt kein Kind mehr war, mit dieser Empörung stritt und schrieb«, ebd.: 131) und c) die Zeit als Erwachsener (»manchmal erzählte ich ihr von zu Hause, von den Kindern, von Dagmar, von meiner Arbeit«, ebd.: 113). Auf diese Weise spaltet sich das erzählende Ich vom erlebenden Ich ab, der Erzähler spricht nicht von seinem damaligen Ich in der Ich-Form, sondern berichtet vom »Kind in hellen Hosen«. Insofern handelt es sich um einen Erwachsenenblick beziehungsweise Beobachtererinnerungen. Anders bei der internen Fokalisierung oder dem personalen Erzählen über eine Reflektorfigur. Hier besteht die Chance, die Vergangenheit aus der Sicht des damals erlebenden Ichs zu erfassen, der übergeordnete und gegenwärtige Wissenshorizont tritt zurück. Die Ereignisse werden aus der Sicht des damaligen (kindlichen) Erlebens erfasst, mithin gewinnt das »Kind, das ich war«, Gestalt. In diesem Fall spricht man von ›field memories‹, also Felderinnerungen. Man könnte das auch Kinderblick nennen, wofür Eleonora Hummels Die Fische von Berlin ein Beispiel ist, denn durchgängig wird aus der Sicht der zwölfjährigen Alina erzählt. Der Kinderblick, davon war bereits die Rede, dominiert auch bei einem letzten, einem fünften Modell, das abschließend angedeutet sei. Folgte man dem hinreichend bekannten Ansatz von Franz K. Stanzel (vgl. Stanzel 1987), dann ist natürlich klar, dass mit dem Einsatz eines personalen Erzählers die Möglichkeit besteht, die Welt aus der Sicht eines Kindes zu erfassen. Auch dieses Modell ist in der modernen Kinder- und Jugendliteratur wie der Allgemeinliteratur vielfach variiert und angewandt worden. Es sei an einem Text belegt, der gleichzeitig einen Hinweis darauf gibt, welche Probleme entstehen können, wenn aus Kinderperspektive erzählt wird. Es geht um John Boynes Weltbestseller Der Junge im gestreiften Pyjama (EA: 2006). Mit dem neunjährigen Bruno begibt sich der Leser auf eine Reise, die von Berlin an einen Ort des Schreckens führt, nach Auschwitz. In Boynes Roman werden nun die Ereignisse und Handlungen aus der Sicht des kindlichen Protagonisten präsentiert. Dabei arbeitet Boyne gewissermaßen mit einer Art Trick. Er baut eine Figur, die die vorgegebenen Normen und Sichtweisen der Erwachsenen annimmt und nur bedingt kritisch-reflexiv mit dem Wahrgenommenen umgeht. Diese Besonderheit ist von der Kritik durchaus herausgestellt worden. »Confronted by a network of silences and elisions, the protagonist […] [has] succumbed to […] blind masking without questioning its moral bias, having been conditioned, as it were, to a reality of nonseeing«, so Curry. (Curry 2006: 67) Zudem wird Bruno eine Unwissenheit zudiktiert, die letztlich zu der für den Text kennzeichnenden tragischen Ironie führt. Bruno ist zwar durchaus eine kindliche Reflektorfigur, aber bis zum Textende bleibt der Wissenshorizont begrenzt. Genau dies ermöglicht einen bzw. den naiven Blick auf die Welt. Dass die Wirklichkeit aus der Sicht der kindlichen Figur erfasst wird, das zeigt sich bereits zu Beginn des Textes, bei dem der Erzähler versucht, die Tätigkeit des Vaters zu beschreiben: »Vater bekam oft Besuch von Männern in phantastischen Uniformen und Frauen mit Schreibmaschinen, die Bruno nicht mit seinen schmutzigen Händen anfassen durfte, und alle waren

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immer sehr höflich zu Vater und versicherten einander, dass er ein Mann war, auf den man ein Auge haben musste, und dass der Furor Großes mit ihm vorhatte. ›Weißt Du, wenn jemand sehr wichtig ist‹ fuhr Mutter fort, ›dann wird er von seinem Vorgesetzten manchmal gebeten, woandershin zu gehen, weil dort eine spezielle Arbeit erledigt werden muss.‹« (Boyne 2006: 10)

Die Informationen über den Beruf des Vaters sind gänzlich an die Sicht des kindlichen Protagonisten gebunden. Für ihn stehen Äußerlichkeiten im Zentrum, also etwa die Uniformen, die auf Bruno »phantastisch« wirken. Hinweise dazu, wer die Personen sind, die den Vater aufsuchen und warum sie kommen, finden sich nicht, weil dies den Rahmen der kindlichen Figur überschreiten könnte. Auch, wer der Vorgesetzte ist, das vermag Bruno nicht zu sagen, er nimmt lediglich wahr, dass er »Furor« genannt wird. Und dieser »Furor« versetzt den Vater von Berlin an einen anderen Ort. Brunos Vater wird der Lagerkommandant von Aus-Wisch bzw. Auschwitz. Sowohl bei »Furor«, gemeint ist der Führer, und »Aus-Wisch« vermag Bruno die Laute nicht in ein sinnvolles Ganzes zu bringen, was dazu führt, dass es zu einer Bedeutungsverschiebung kommt. »Gretel musterte ihren kleinen Bruder und musste ihm ausnahmsweise recht geben. ›Ich weiß, was du meinst‹, sagte sie. ›Hier ist es nicht sehr schön, wie?‹ ›Es ist schrecklich‹, sagte Bruno. ›Ja, stimmt‹, pflichtete Gretel bei. ›Im Moment ist es noch schrecklich. Aber wenn das Haus ein bisschen herausgeputzt ist, sieht es vielleicht nicht mehr so schlimm aus. Vater hat gesagt, die Leute, die vor uns hier in Aus-Wisch gewohnt haben, hätten ihre Arbeit schnell verloren und keine Zeit mehr gehabt, das Haus für uns herzurichten.‹ ›Aus-Wisch?‹, fragte Bruno. ›Was ist ein Aus-Wisch?‹ ›Es heißt nicht ein Aus-Wisch, Bruno‹, sagte Gretel seufzend. ›Nur Aus-Wisch.‹ ›Na gut, aber was ist Aus-Wisch?‹, wiederholte er. ›Was auswischen?‹« (Ebd.: 35)

Es ist für den Spracherwerb von Kindern kennzeichnend, dass sie in einer frühen Phase die Sprache und die Bedeutung der Wörter entdecken. Dazu gehört es, dass Kinder die Wörter zunächst gänzlich falsch aufnehmen und nachahmen, wie dies bei Bruno der Fall ist. Marcel Beyer hat ganz in diesem Sinne auf das autobiographische Lebensprojekt von Michel Leiris hingewiesen, der eine Episode wiedergibt, »in der er als kleiner Junge das erste Mal darauf hingewiesen wird, dass er ein Wort völlig falsch ausspricht. Diese Situation wird für ihn das Entdecken der Sprache und zugleich ein Entdecken der Welt der Älteren«. (Beyer/Schmidt/Schwertfeger 2001: 16) Boyne macht sich diese Gesetze spielerisch zunutze. Er entwirft – wie Eleonora Hummel notiert – ein »literarisches« Kind, das in diesem Sinne kein »normales« Kind ist, und er gesteht ihm »einige Freiheiten zu, sowohl in seinem Denken als auch in seiner Sprache«. (Gansel/Hummel 2007: 287) Durch die Regelverletzungen beim Sprechen kommen Irritationen bzw. Störungen zustande, die allerdings im Fall des Boyne-Textes nur den erwachsenen Leser betreffen. Nur er wird die der Figur zudiktierte Unkenntnis, die in dem Wortspiel liegt, aufklären können. Freilich hat Boyne auf der Ebene der ›Histoire‹ Bruno eine kindliche Figur zur Seite gestellt, dessen Wissenshorizont deutlich über dem von Bruno liegt, den polnischen Jungen Schmuel. Schmuel agiert denn auch teilweise wie eine Art Mentor-Figur, die zurückhaltend versucht, die Blindheit des Protagonisten und seine nicht hinreichenden Kenntnisse

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von der Welt durch Fakten zu korrigieren. Dabei ist Schmuel mehrfach fassungslos über Brunos Unkenntnis: »›Polen‹, sagte Bruno nachdenklich und wägte das Wort auf der Zunge ab. ›Das ist nicht so schön wie Deutschland, oder? […] Wir sind überlegen‹. Schmuel starrte ihn an, sagte aber nichts, und Bruno verspürte das starke Bedürfnis, das Thema zu wechseln, denn noch während er die Worte gesagt hatte, kamen sie ihm irgendwie falsch vor, und er wollte keineswegs, dass Schmuel ihn für unfreundlich hielt. ›Wo liegt Polen eigentlich?‹ […] Schmuel starrte ihn kurz an, öffnete und schloss zweimal seinen Mund, als überlege er sich sorgfältig seine Antwort. ›Aber hier ist doch Polen.‹« (Boyne 2006: 140f.)

Offensichtlich ist für den erwachsenen Leser, dass Bruno schlichtweg in seiner Naivität nicht in der Lage ist, die ›wirkliche Wirklichkeit‹ zu durchschauen. Dies ist der Grund, warum seine mitunter paradox anmutenden Schlüsse nicht dazu führen, ein distanziertes Verhältnis zu der Figur aufzubauen, sondern im Gegenteil Empathie erzeugt wird. Erst zum Ende des Textes beginnt Bruno zu ahnen, dass an seiner Sicht auf die Verhältnisse im Lager etwas nicht stimmen kann. Entsprechend modifiziert sich seine ursprünglich naive Bewertung der »zwei Gruppen von Menschen«: »Wohin er auch sah, konnte er zwei Gruppen von Menschen unterscheiden: entweder glückliche, lachende, schreiende Soldaten in Uniformen; oder unglückliche, weinende Menschen in gestreiften Anzügen, von denen die meisten vor sich hinstarrten, fast so als würden sie schlafen. ›Ich glaube, mir gefällt es hier nicht‹, sagte Bruno nach einer Weile. ›Mir auch nicht‹, erwiderte Schmuel.« (Ebd.: 258)

Diese Erkenntnisse kommen allerdings zu spät. Bruno wird zusammen mit Schmuel und den anderen Insassen des Vernichtungslagers in einen Duschraum getrieben. Bis zum Tod, über den der Text keine explizite Auskunft gibt, halten sich Schmuel und Bruno an den Händen. Der melodramatische Schluss steigert das Grauen und die Trauer, die beim Leser erzeugt werden. Bruno, der zur Familie eines Täters gehört, ist in seiner unschuldigen Unwissenheit, aber auch wegen seiner mangelnden kritischen Distanz, zum Opfer geworden. Boynes Roman, der auch erfolgreich verfilmt wurde, provozierte – vergleichbar wie Bernhard Schlinks Der Vorleser (EA: 1995) – in der Rezeption in Nordamerika bei Lesern wie in der Literaturwissenschaft kritische Reaktionen auch deshalb, weil das Erzählen aus der Kinderperspektive als dem Gegenstand unangemessen empfunden wurde. Rabbi Benjamin Blech etwa hat scharf kritisiert, in welcher Weise es zu einer Simplifizierung des Holocaust kommt, womit eine gängige Ausrede vieler Deutscher nach 1945, sie hätten nichts vom Holocaust gewusst, bestätigt werde: »And, oh yes, this son of a Nazi in the mid 1940's does not know what a Jew is, and whether he is one too! And […] a same-aged nine-year-old Jewish boy who somehow manages every day to find time to meet him at an unobserved fence (!) (Note to the reader: There were no nineyear-old Jewish boys in Auschwitz – the Nazis immediately gassed those not old enough to work) […]

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According to the book’s premise, it was possible to live in the immediate proximity of Auschwitz and simply not know – the defense of those Germans who denied their complicity.« (Blech 2008)

Auch in der deutschen Rezeption ist angemerkt worden, dass die Naivität der BrunoFigur zu weit gehe und für sein Alter untypisch sei. »Die Persönlichkeit Brunos erscheint eigentümlich entwicklungsgehemmt«, so Siggi Seuss. (Seuss 2007) Boyne hat seinen Kritikern entgegengehalten, dass es ihm um eine Fabel gehe, die folglich keinen Anspruch auf Wirklichkeitstreue stelle, sondern vielmehr eine Moral vermitteln wolle: »I just thought because I was changing some facts of the camp, and was making it one step away from reality, […] it was better to call it a fable and have it represent all the camps. […] It’s a fable; you’re not supposed to look for the absolute, definitive facts. It’s a fiction with a moral at the centre of it.« (Agnew 2008) Aber eben diese Argumentation ist in der Literaturkritik abgewehrt worden, weil sich der Holocaust für ein solches Spiel nicht eigne. »It is as risky to turn the Holocaust into a fable as to deny it«, so Eaglestone. (Eaglestone 2007)

P ROBLEME BEIM E RZÄHLEN – A BSCHLUSS

AUS

K INDERPERSPEKTIVE

Abschließend seien einige ausgewählte Probleme diskutiert, die mit dem Erinnern und Erzählen aus Kinderperspektive zusammenhängen. Unabhängig davon, ob es sich um Beobachter- oder/und Felderinnerungen handelt, stellt sich die Frage, ob die den Erinnerungsroman kennzeichnende Unsicherheit nicht mit Notwendigkeit ein ›unzuverlässiges Erzählen‹ (unreliability of narration) zur Folge hat. In dem Sinne nämlich, als die »Behauptungen über die erzählte Welt« als »zweifelhaft oder falsch aufzufassen sind« (Martinez/Scheffel 2003: 192). Die Frage ist narratologisch leicht zu beantworten. Um es kurz zu machen: Es erscheint dringlich, zwischen ›unzuverlässigem Erzählen‹ (unreliability of narration) und der Unzuverlässigkeit des Erinnerns (unreliability of memory) zu unterscheiden. Eigentlich ist davon auszugehen, dass es eine Zuverlässigkeit des Erinnerns nicht geben kann, und insofern sind jene, die ihre Unsicherheit in Hinblick auf die erinnerte Kindheit eingestehen, eigentlich glaubhafter als Erzählinstanzen, die keinerlei Zweifel in Bezug auf ihre erinnerte Vergangenheit aufkommen lassen. Die Frage nach der Unzuverlässigkeit stellt sich aber noch in anderer Weise. So finden sich in der Forschung Stimmen, die der Auffassung sind, dass das Erzählen aus der Perspektive des Kindes grundsätzlich unzuverlässig sei. Dem muss entgegengehalten werden: Es würde den Begriff des ›unzuverlässigen Erzählens‹ unbrauchbar machen, wenn sämtliche Texte, in denen ein ›Kinderblick‹ dominiert oder über field memories Vergangenes erinnert wird, als ›unzuverlässig‹ im narratologischen Sinne eingestuft werden. Dass und in welcher Weise allerdings der Kinderblick zu Problemen führen kann, dies hat Uwe Johnson in Jahrestage vorgeführt. Es ist an anderer Stelle angemerkt worden, dass Johnson die Erinnerung seiner Person Gesine anders baut als dies bei

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dem immer wieder zitierten Marcel Proust der Fall ist. Gesine gibt sich ihren Erinnerungen nicht einfach hin wie der Ich-Erzähler in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (EA: 1913-1927), »sondern sie erinnert sehr bewusst, denn sie hat einen Plan« (Golisch 1994: 123). Für Gesine gehören Erinnern und Reflexion zusammen, und erst die Synthese wird es möglich machen, auch dem Schrecklichen aus der Vergangenheit eine gleichermaßen bedrückende wie befreiende Wirkung abzugewinnen. Offenkundig wird in den Jahrestagen, inwieweit die befreiende Wirkung nur »um den Preis der vorbehaltlosen Konfrontation mit allen erreichbaren Informationen zu denken ist« (ebd.). Wie dies – auch narratologisch – funktioniert, sei nachfolgend an einer Episode angedeutet, in der Johnson seine Gesine ausnahmsweise einmal eine glückliche Kindheitsepisode, ja eine Idylle im Sommer 1944 erinnern lässt. Der Eintrag datiert auf den 4. April 1968: Erzählt wird von einem Aufenthalt des Kindes Gesine an der Ostsee, dem so genannten Fischland. Es handelt sich dabei um Erinnerungen von Gesine, die mit Beginn des Eintrags als Ich-Erzählerin, also homodiegetische Erzählerin agiert. Gesine erinnert jene Zeit, als sie bei ihrem Onkel Alexander Paepcke und dessen Familie zu Besuch war. Offensichtlich ist der mündliche Erzählduktus, der durch das Mecklenburger Platt an Authentizität gewinnt (vgl. Gansel 2012a und Butzer 2005). Nur einige wenige Anspielungen wirken in dieser Idylle aus dem Kriegsjahr 1944 irritierend – etwa der Verweis auf das Ambulanzauto, »das auf eine gefährliche Weise amtlich aussah« (JT: 952); der Beschuss der Küstenbatterien am Hohen Ufer, Alexanders Reisebefehl nach Südfrankreich. Die Protagonistin versucht nun die Authentizität ihrer Kindheitserinnerung dadurch herzustellen, dass sie sich in das Kind einfühlt, das sie damals war, und sie sagt mitunter nicht mehr, als sie damals hätte wissen können. Die Ereignisse werden aus der Sicht des damaligen (kindlichen) Erlebens erfasst, mithin über field memories (vgl. Schacter 2001 und Gansel 2009). Allerdings wird dieser Kinderblick nicht durchgehalten, es finden sich kleine Kommentierungen, die nur von der erwachsenen Gesine stammen können. Etwa wenn sie mitteilt, dass Alexander eigentlich gegen seinen Stellungsbefehl nach Südfrankreich kurz Station auf dem Fischland gemacht hat und am nächsten Tag, ohne Abschied von den Kindern zu nehmen, verschwunden ist. »Er hatte es nicht von sich verlangen mögen, ausgesprochen Abschied zu nehmen von den Kindern« (JT: 954). Doch Gesine geht noch einen Schritt weiter. In einem scharfen Schnitt notiert sie:

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»Heute weiß ich, daß die Ferien von anderer Art waren. Nicht weit von Althagen, auf der anderen Seite des Saaler Boddens, war das Konzentrationslager Barth. Darin wurden Häftlinge aus der Sowjetunion, aus Holland, aus der Tschechoslowakei, aus Belgien und Ungarn gehalten und mußten für einen ausgelagerten Betrieb der Ernst Heinkel Flugzeugwerke A.G. arbeiten. Der tschechische Arzt Dr. Stejskal hat eine Liste geführt über die Frauen und Männer, die auf dem Friedhof von Barth und in Massengräbern beerdigt wurden. Es sind 292 Namen. Aus Barth wurden 271 Leichen von Häftlingen an das Rostocker Krematorium geschickt. [...] Dort wurden Menschen ›auf der Flucht erschossen‹, und wenn eine Frau immer noch nicht an Flugzeugen zum Einsatz gegen ihr eigenes Land arbeiten wollte, wurde sie zurückgeschickt ins Konzentrationslager Ravensbrück und mit Gas ermordet. Wir wussten es nicht. Hilde Paepcke ist mit uns nach Barth gefahren, über die Drehbrücke, damit wir die Stadt ansahen. Wir haben nichts gesehen. Die Bahnstrecke, auf der Cresspahls Kind zum Fischland kam, passierte Rövershagen. In Rövershagen war ein Konzentrationslager, dessen Häftlinge für die Ernst Heinkel Flugzeugwerke A.G. arbeiten mussten. Heute weiß ich es.« (JT: 955)

Nachdem dann wieder idyllische Tage erinnert werden, notiert Gesine erneut: »Aus der Zeit nach dem Krieg weiß ich: Alexander hatte in der Organisation Todt Zivilpersonen zur Arbeit einweisen müssen, die die S.S. ihm aus der sowjetischen Bevölkerung zuführte« (JT: 956). Schließlich endet der Eintrag nach einer erneut harmonischen Kindheitsepisode um das Drehkreuz im Grenzzaun: »die Ferien weiß die Erinnerung von diesem Sommer. Er war nicht so« (ebd.). Gesine, die durchaus beständig versucht, ihrer Erinnerung auf die Spur zu kommen, um eine »Wiederholung des Gewesenen« zu erreichen, »darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten«, vermag es nicht, das spätere Wissen um die Kriegsjahre auszuschließen. Im Gegenteil. Die authentische Erinnerung an glückliche Kindertage, der Kinderblick, erfährt durch das inzwischen vorhandene Wissen vom Holocaust, von Mord und Vernichtung eine Entwertung. Insofern wird dem Versuch, erinnertes und erinnerndes Ich in eins zu bringen, eine Absage erteilt. Sukzessive dringt der übergeordnete und gegenwärtige Wissenshorizont in die Erinnerung ein. Offenbar wird: ein nochmaliges authentisches Erleben des vergangenen Kinderglücks ist nur möglich um den Preis des Nicht-Wissens. Was Johnson letztlich am Beispiel von Gesine vorführt, ist die Unmöglichkeit, angesichts der Verbrechen der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus überhaupt harmonische Kindheiten zu erinnern. Das Wissen um den Zivilisationsbruch hat – so Johnsons Auffassung – jegliche authentische Erinnerung abgetötet bzw. entwertet. Insofern erteilt Johnson seiner Figur Gesine in der Tat Glücksverbot. Johnson und seine Person Gesine können in der Erinnerung nicht einmal dem unschuldigen Kind Momente der Harmonie zubilligen. Dahinter steht, wenn man so will, das viel zitierte Diktum von Theodor W. Adorno: »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen«. (Adorno 1994: S. 42)

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L ITERATUR Primärliteratur Andreas Altmann (2011): Das Scheißleben meines Vaters, München: Piper. Beyer, Marcel (1995): Flughunde, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Boyne, John (2006): Der Junge im gestreiften Pyjama. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, München: Fischer. Goosen, Frank (2000): Liegen lernen, Frankfurt/M.: Eichborn. Green, John (2012): Das Schicksal ist ein mieser Verräter. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz, München: Carl Hanser. Härtling, Peter (1982): Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand. [1973] Hensel, Jana (2002): Zonenkinder, Hamburg: Rowohlt. Hülswitt, Tobias (2000): Saga, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Hummel, Eleonora (2005): Die Fische von Berlin, Göttingen: Steidl. Illies, Florian (2000): Generation Golf. Eine Inspektion, Frankfurt/M.: Argon Verlag. Jensen, Marcus (2004): Oberland, Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt. Johnson, Uwe (1970-1983): Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (Bd. 1-4), Frankfurt/M.: Suhrkamp. Johnson, Uwe (1975): »Versuch, eine Mentalität zu erklären. Über eine Art DDRBürger in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Ders., Berliner Sachen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 52-63. Kaldhol, Marit (2012): Allein unter Schildkröten. Aus dem Norwegischen von Maike Dörries, München: Mixtvision. [2010] Klein, Georg (2010): Roman unserer Kindheit, Reinbek: Rowohlt. Lang, Thomas (2010): Bodenlos, München: C.H. Beck. von Leeuwen, Joke (2012): Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, Hildesheim: Gerstenberg Verlag. [2010] Mensing, Kolja (2002): Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Overbeck, Christian Adolf (1781): Fritzchens Lieder. Vorrede des Herausgebers, Hamburg: Carl Ernst Bohn. Prinz Pi (2013b): »Frühstücksclub der toten Dichter«, in: Kompass ohne Norden. Booklet, Berlin: Keine Liebe Records, S. 11-12. Regener, Sven (2004): Neue Vahr Süd, Frankfurt/M.: Eichborn. Renner, Peter (2003): Griff in die Luft, München: dtv. Richter, Jutta (2004): Hechtsommer, München: Hanser Verlag. Schertenleib, Hansjörg (2010): Cowboy Sommer, Berlin: Aufbau Verlag. Steinhöfel, Andreas (2008): Rico, Oscar und die Tieferschatten, Hamburg: Carlsen Verlag. Summers, Laura (2011): Der Tag, an dem wir wegliefen. Aus dem Englischen von Eva Riekert, München: dtv. [2009] Timm, Uwe (2003): Am Beispiel meines Bruders, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Walser, Martin (1998): Ein springender Brunnen, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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V OM V ERSUCH , K INDHEIT ZU ERINNERN

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Kindheitslandschaften Literaturgeografische Lektüren besonderer Orte und Räume B ARBARA P IATTI

E INLEITUNG »Ich habe das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das, als mein Großvater starb, in fremde Hände kam. So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment aufbewahrt ist. In dieser Weise ist in mir alles verstreut – die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt wurde: – alles das ist noch in mir und wird nie aufhören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen; in jedem meiner Organe ist ein Stück davon, und das größte ist in meinem Herzen.« (RILKE 2010: 261F.)

Die Literatur ist voller erstaunlicher, berührender Kindheitserinnerungen, eine große Zahl von erzählenden Prosatexten widmet sich ganz explizit diesem Thema. Das Auffallende daran: Räume, Raumkonstellationen haben – wie bereits das Eingangszitat mit dem in tausend Stücke zerschellenden erinnerten Haus deutlich macht – in fiktionalen oder autobiografischen Kinderwelten einen ganz besonderen Stellenwert. »Wenn man zum Beispiel die Landschaften meiner Kindheit nimmt, wenn man die in Proportion setzen würde zu dem anderen, was ich beschreibe, müsste diese Landschaft die Größe eines Kontinents haben«, bemerkt Christoph Ransmayer in einem

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Radiointerview zu seinem Buch Atlas eines ängstlichen Mannes (Kaindlstorfer 2012). Die Aura der Kindheit, ob es eine traumhafte oder eine alptraumhafte war, verleiht Orten ganz besondere Qualitäten. Welche das sein könnten, soll in diesem Aufsatz anhand dreier Beispiele diskutiert werden. Im Hintergrund der Überlegungen steht ein aufstrebendes literaturwissenschaftliches Gebiet, das mit den Oberbegriffen Literaturgeografie und Literaturkartografie umschrieben werden kann. Der Aufsatz gliedert sich dabei in vier Hauptabschnitte. Den Auftakt bildet eine kurze Einführung in die Literaturgeografie und -kartografie, im Sinne einer Inspirationsquelle. Es folgt eine punktuelle Lektüre von drei großen Kindheitsromanen – eben unter literaturgeografischen und -kartografischen Gesichtspunkten. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Kategorie der sogenannten projizierten Orte gerichtet. Diese werden von den Figuren nicht als Schauplätze ›betreten‹ und ›benutzt‹, sondern im Modus von Traum, Erinnerung oder Sehnsucht in die Fiktionen eingeblendet. Dass sie damit ganz wesentlich zur Dynamik der Handlung beitragen, ja sie manchmal sogar steuern, soll ausführlich dargelegt werden. Schließlich soll, sozusagen auf dem Trockenen, vorgeschlagen werden, wie man den literarischen Kontinent der Kindheit effektiv kartografisch vermessen und vielleicht sogar abbilden könnte. Dabei wäre, so die Idee, eher an ein topologisches denn an ein topografisches Kartenwerk zu denken. Der Aufsatz schließt mit einigen Bemerkungen zum möglichen Nutzen solcher kartografischer Konzepte, der idealerweise sogar über die rein fachbezogene wissenschaftliche Beschäftigung hinausgeht.

G EOKRITIK , G EOPOETIK , L ITERATURGEOGRAFIE L ITERATURKARTOGRAFIE

UND

In jüngster Zeit sind – unter dem ungebrochen wirkungsmächtigen Oberbegriff des spatial turns – eine Reihe von Ansätzen, Ideen, Methoden neu entwickelt (oder produktiv weiterentwickelt) worden: Geokritik, Geopoetik, Literaturgeografie, Literaturkartografie. Trotz verschiedener Etikettierungen ist ihnen der Umgang mit literarischen Texten, die sich auf eine bestehende Landschaft, Region, Stadt, also einen georäumlichen Ausschnitt beziehen, gemeinsam. Geokritik ist ein Begriff, der durch den französischen Komparatisten Bertrand Westphal eingeführt worden ist – erstmals 2000 (siehe Westphal 2000), dann grundlegend in seinem Buch La Géocritique. Réel, Fiction, Espace (2007). Westphal definiert seine Geokritik als Methode, die das Verhältnis von Literatur und geografischem Raum untersucht. Die ausdrückliche Bezugnahme auf den geografischen Raum ist dabei zentral – geokritische Studien im Sinne Westphals bedeuten, dass ein einzelner Raum (eine Stadt, eine Region usw.) untersucht wird, unter Berücksichtigung einer möglichst großen Zahl literarischer Zeugnisse. Der Zugriff wird deshalb als »une approche géocentrée« (Westphal 2007: 183) bezeichnet. Und die Referenzhaltigkeit von Literatur wird dabei vorausgesetzt:

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»Central to Westphal’s conception of literary criticism is the conviction that it is only by emphasizing the referential force of literature – the ability of the fictive imagination to interact with and meaningfully shape the real world in which we live – that we can understand the essential function of true literary creation.« (Prieto 2001: 20)

In der Geokritik geht es explizit um die Vielstimmigkeit und Pluralität der Räume. Verschiedene Texte, die sich auf ein und denselben Raum beziehen und die bisher unabhängig voneinander interpretiert worden sind, werden durch die Setzung des geografischen Bezugsrahmens erstmals miteinander in einen Dialog gebracht (Sizilien ist eines der Beispiele, das Westphal anführt – die Insel wurde zunächst nur vereinzelt zum literarischen Thema, bei Goethe und Vivant Denon, ehe sie in der Literatur der Moderne von einer ganzen Reihe berühmter Autoren zum Schauplatz gemacht wird, darunter Lawrence Durell, Pirandello und di Lampedusa). Auf den letzten Zeilen seines Buches liefert Westphal noch einmal eine sehr einleuchtende Definition seiner Geokritik, es handelt sich um eine »étude des stratifications littéraires de l’espace réferentiel« (Westphal 2007: 187). Geopoetik (als Ausdruck geprägt von Kenneth White) wurde ursprünglich für die dichterische Produktion verwendet, hat aber jüngst eine Umformulierung erfahren, die ihn auch für die literaturwissenschaftliche Forschung tauglich macht: »Zunächst möchten wir den Fokus im Wort Geopoetik auf die Poetik, auf das Herstellen von Territorien und Landschaften in der Literatur richten. [...] In diesem Kontext kann diskutiert werden, mit welchen Schreibweisen, Verfahren, Narrativen, Symbolen und Motiven spezifische Raumpoetiken hervorgebacht, semantisch aufgeladen und an bestimmte Orte, Landschaften und Territorien gekoppelt werden.« (Marszałek/Sasse 2010: 9)

Im Rahmen des so eingeführten Sammelbandes Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen (2010) wird u.a. das Phänomen der »Bosnien-Texte« unter die Lupe genommen, ein Textcorpus aus dem 20. und 21. Jahrhundert, das sich auf einen Raum bezieht, der politisch, kulturell und historisch so prekär konzipiert ist, dass man sogar sagen könnte: Bosnien »gibt es überhaupt nicht« (Jakiša 2010: 69). Miranda Jakiša untersucht in ihrem Aufsatz, wie eine solche »realitätsunabhängige literarische Parallelwelt« (ebd.: 79) funktionieren kann. »Der literarische Text gibt im Bosnientext, entgegen anderer Regionalliteratur, nicht mehr vor, über eine Landschaft, eine Region oder ein Land, die außerliterarisch sind oder als solche aufgerufen werden, zu schreiben. [...] Einer fraglichen Realität wird, das ist der Clou der Bosnientexte, das Faktum literarischer Texte entgegengehalten.« (Ebd.: 69)

Eine dritte Linie von Forschungsansätzen lässt sich unter dem bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts bestehenden Begriff ›Literaturgeografie‹ versammeln. Einen Unterbereich (wahlweise: eine Hilfsdisziplin) der Literaturgeografie bildet die Literaturkartografie, die sich an der wissenschaftlich motivierten Kartierung von Literatur versucht – und zwar von Literatur im Raum (Wohn- und Wirkungsorte von Schreibenden, Rezeptions- und Distributionskanäle etc.) wie auch von Raum in der Literatur (fiktionale Geografien). Letzteres, die Kartierung innerfiktionaler Welten, ist eine besonders komplexe Aufgabe: Jede literarische Handlung ist irgendwo lokali-

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siert, wobei die Skala von realistisch gezeichneten Schauplätzen mit hohem Wiedererkennungswert bis hin zu gänzlich imaginären Handlungsräumen reicht. Literatur weist somit eine spezifische Geografie mit ganz eigenen Gesetzen auf. Wie lässt sich diese kartografisch abbilden? Und welche neuen Erkenntnisse ergeben sich daraus? Methoden der Literaturkartografie sind konzipiert, um die komplexen Überlagerungen von realen und imaginären Geografien sichtbar und der Deutung zugänglich zu machen. Literaturgeografie – über deren Inhalt und Umfang noch keineswegs Klarheit herrscht – kann ganz ohne kartografische Visualisierungen betrieben werden. Der Seitenzweig der Literaturkartografie befasst sich ebenfalls mit der Geografie der Literatur, setzt zu deren Analyse aber Instrumente der Kartografie ein: Literaturkartografie ist kartengestützte Literaturgeografie. Ein Beispiel für diesen Zweig ist der seit 2006 an der ETH Zürich, Institut für Kartografie und Geoinformation, entwickelte Prototyp eines »Literarischen Atlas Europas« (www.literaturatlas.eu). Anhand dreier Modellregionen – Zentralschweiz, Nordfriesland und Prag – werden die Überlagerungen von realen und fiktionalen Geografien im Detail untersucht. Durchaus vergleichbar mit Westphals Geokritik geht es um ein Abtasten der Möglichkeiten, einen Ausschnitt aus dem Realraum in seinem ganzen literarischen Reichtum zu untersuchen. Von besonderem Interesse sind dabei die Grade der Referentialität: Wie genau bezieht sich ein fiktionaler Text auf den gegebenen realräumlichen Ausschnitt – mimetisch oder eher verfremdend, überblendend, durch Umbenennungen und Verschiebungen, durch eine Kombination fiktiver und bestehender Elemente? Die Argumentation basiert in Teilen auf für jedes Untersuchungsgebiet erstmals entworfenen literaturkartografischen Darstellungen. Visualisierte Aspekte sind u. a. Schauplätze in Verbindung mit bestimmten Stoffen, die gewisse Zonen für andere Motive schlicht blockieren: Eine diesbezügliche Sondertopografie zeichnet sich zum Beispiel beim Wilhelm-Tell-Stoff, der Schweizer Befreiungssage, ab. Sehr interessant ist, dass gewisse Tell-Schauplätze rund um den Vierwaldstätterseee sich offenbar nur für diesen einen Stoffkreis anbieten und darüber hinaus nicht für andere Handlungseinheiten genutzt werden (können). Das Rütli, eine waldumstandene Wiese, ist ein solcher monosemantisierter Schauplatz, der ausschließlich für die Thematik von Tellsage und Befreiungsgeschichte reserviert zu sein scheint, ebenso die Hohle Gasse. Generell scheint ein ›Über-Schreiben‹ der Tell-Topografie, etwa mit einer Liebesgeschichte oder einer Sequenz aus einem Kriminalroman, tunlichst vermieden zu werden. Der interaktive, digitale »Literarische Atlas Europas« ist ein Versuch unter mehreren. Eine wachsende Gruppe von Atlasprojekten befasst sich mit dem Ziel einer solchen räumlich organisierten und teils visualisierten Literaturgeschichte, so Malcolms Bradburys Atlas of Literature (1996), Franco Morettis bahnbrechender Atlas of the European Novel, 1800–1900 (1998) Francesco Fiorentinos und Giovanni Sampaolos Atlante della letteratura tedesca (2009) sowie Sergio Luzzattos und Gabriele Pedullàs Atlante della letteratura italiana (2010-2012), um nur ein paar Beispiele in herkömmlicher Buchform zu nennen.1 Den bisher kurz vorgestellten Ansätzen ist gemeinsam, dass es um Wechselwirkungen zwischen fiktionalen Räumen und Realräumen (zuweilen auch Erstraum 1

Zur Geschichte der Literaturlandkarten und -atlanten siehe Döring 2009.

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oder Georaum genannt) geht. Darüber ist in (Human)Geografie, Literaturtheorie und Philosophie schon eingehend nachgedacht worden – schließlich geht es um ein Problem von ontologischen Ausmaßen: Darf man überhaupt davon ausgehen, dass zwischen fiktionaler Welt und unserer Realwelt (räumliche) Referenzen bestehen? (Vgl. zu dieser Frage und möglichen Antworten Piatti 2012) Um es für den vorliegenden Zweck kurz zu machen: Man darf, wenn man es reflektiert tut und so, dass am Ende neue Einsichten stehen, die wiederum dem Textverständnis und dadurch freigelegten literaturgeschichtlichen Aspekten zugute kommen. Denn Geokritik und Geopoetik haben vorgeführt, wie sich literarische Landschaften und Städte eingehend, mit großem Gewinn und viel Tiefenschärfe analysieren und deuten lassen. Die Literaturkartografie macht diese Räume, in ihrem oben beschriebenen Zwischenstatus zwischen Realität und Fiktion, zusätzlich sichtbar. Eine Synthese dieser jeweils leicht anders akzentuierten, aber doch einander affin gesinnten Vorgehen – Geokritik, Geopoetik, Literaturgeografie, Literaturkartografie – steht noch aus. Es darf aber die Vermutung geäußert werden, dass ein Zusammenführen von Glossaren, Methoden, Modellstudien und Referenzen (nicht von ungefähr wird beim Entwickeln der einzelnen Theorien immer und immer wieder auf dasselbe Set großer Studien zu Literatur und Raum verwiesen: auf Bachelard, Bachtin, Lotman, Lefebrve, Soja, Moretti...) einen gewaltigen Schritt vorwärts in Richtung einer ›literarischen Landkarte‹ bedeuten würde. Ein möglicher Schnittpunkt könnte die Kategorie der projizierten Räume sein, von denen im nächsten Abschnitt die Rede sein soll. Projizierte Räume: Traum-, Erinnerungs- und Sehnsuchtsorte Eine besonders ergiebige literaturgeografische Kategorie (vielfach untersucht im »Literarischen Atlas Europas« und mit neu entwickelten Symbolen visualisiert: vgl. Piatti/Reuschel/Hurni 2013) sind die projizierten Orte. Projizierte Orte sind Traum-, Erinnerungs-, Sehnsuchtsorte,2 Orte, an denen die handelnden Figuren nicht präsent sind, sondern die sie in ihrer Imagination aufrufen: Sei es, dass sie schon einmal dort waren, sei es, dass sie sich ohne Lokalkenntnis dorthin sehnen, sei es, dass dieser Ort tatsächlich nur in der Dichtung oder der Phantasie existiert und insofern nicht zu betreten ist. Ein paar Beispiele aus der Weltliteratur: In Flauberts Madame Bovary (EA: 1856) träumt die Titelheldin in der normannischen Provinz von Paris – mit dem 2

Auf eine ausführliche Diskussion des Begriffs ›Sehnsuchtsort‹ wird hier verzichtet. Aigi Heero spricht z.B. in ähnlichem Zusammenhang über die zentrale Unterscheidung von ›Alltagsorten‹ (gegenwärtiger Alltag) und ›Sehnsuchtsorten‹ (nostalgische Rückblenden auf Kindheit und Jugend). »Es geht an dieser Stelle weniger um die konkreten Städte oder Dörfer, sondern eher um kleinere Lokalitäten: Straßen, Höfe, Spielplätze, Parks etc.« (Heero 2009: 208). Heero merkt zudem an, dass Sehnsuchtsorte »manchmal gar nicht explizit genannt bzw. eindeutig definiert« sind. »Ihre Präsenz ist gedanklich und nicht real« (ebd.: 218). Vgl. außerdem die 2012 an der Universität Basel durchgeführte Tagung »Eden für jeden. Touristische Sehnsuchtsorte in Mittel- und Osteuropa (vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart)« bzw. den Tagungsbericht von Benedikt Tondera (2012).

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Finger geht sie auf einem Stadtplan der Metropole spazieren und hört dabei das Rattern der Kutschen auf dem Kopfsteinpflaster, hört das Rascheln der Seidenkleider, riecht die Parfüms und sieht die Gaslaternen, die einen Glanz von Feierlichkeit über die Stadt legen – Immersion in einen Sehnsuchtsort. Ebenso sehnen sich Tschechows Drei Schwestern (EA: 1901), mehr oder minder gefangen in einer langweiligen Garnisonsstadt, nach dem pulsierenden Moskau. Und während in Max Frischs Montauk (EA: 1975) die elegische Haupthandlung in New York und auf Long Island angesiedelt ist, besteht das Erzählte über weite Strecken aus Rückblenden, Erinnerungsfragmenten des Ich-Erzählers, durch die Schweizer Gegenden und Orte wie das Tessin und Zürich gewissermaßen in die Haupthandlung ›hereingeholt‹ werden. Die Literatur ist voller projizierter Orte, ja man kann mit Gewissheit sagen, dass sie eine der wichtigsten Raumkategorien darstellen, denn sie sind als ein genuin literarisches Konzept aufzufassen – keine andere Kunst (vom Film vielleicht einmal abgesehen) verfügt über ein solches Spektrum an Möglichkeiten, projizierte Räume bzw. Übergänge von Schauplätzen zu projizierten Räumen oder umgekehrt zu gestalten. Schon auf der Ebene eines einzelnen Textes kann das Abrufen einer ›Geografie der projizierten Orte‹ sehr erhellend sein. Bruce Chatwins Roman Utz (EA: 1988), in dessen Zentrum der gleichnamige, verschrobene tschechoslowakische Porzellansammler steht, der von einem amerikanischen Experten besucht wird (noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs), spielt auf der Schauplatzebene fast ausschließlich in obskuren Wohnungen und trostlosen Restaurants in Prag. Nimmt man aber die – zahlreichen – projizierten Orte hinzu, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Utz’ Geschichte(n) und die Geschichte des Ich-Erzählers knüpfen quer durch Europa ein dichtes Netzwerk von Orten, die innerfiktional (meist) nur über die Imagination zu erreichen sind – von Meißen über Berlin nach London, Paris, Genf und bis nach Italien, und so entsteht ein von Prag aus gesehen deutlich westlich orientiertes Geflecht von Orten. Zu den ausführlich geschilderten projizierten Orten gehört der französische Kurort Vichy. Diesen imaginiert Utz zunächst und knüpft allerlei Vorstellungen daran: »Von russischen Romanen oder der Liebesgeschichte seiner Eltern in Marienbad her, hatte Utz die Vorstellung, daß eine Kurstadt ein Ort sei, an dem unweigerlich das Unerwartete eintreffe.« (Chatwin 2002: 80) In der Folge reist er tatsächlich zu einem Kuraufenthalt nach Vichy, das somit seinen Status ändert und zu einem Schauplatz wird. Mit anderen Worten: Die Dimension der projizierten Orte bereichert und erweitert die fiktionale Geografie maßgeblich. Und auf einer Karte literarischer Kindheitslandschaften wäre die Kategorie der projizierten Orte absolut zentral. Das ergibt sich bereits bei flüchtiger Durchsicht einiger einschlägiger Titel. Genauer: Diese Orte, von einer ganz speziellen Aura umgeben, müssten auf einer Karte literarischer Kindheitsorte und -räume leuchtend markiert werden. Diese These soll anhand von drei in jeder Hinsicht großen Kindheitsromanen weiter ausgeführt werden.

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D REI K INDHEITSLANDSCHAFTEN IM R OMAN : F RANZÖSISCHE S OLOGNE , POLNISCHES H INTERLAND , SÜDDEUTSCHE N ECKARLANDSCHAFT Aus der überwältigenden Fülle von literarischen Kindheitsorten und -räumen seien drei Beispiele herausgegriffen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben, auf den zweiten aber sehr wohl – ein französischer, ein polnischer und ein deutscher Roman: Le Grand Meaulnes (EA: 1913; deutscher Titel: Der grosse Meaulnes) von Alain-Fournier, Sezon w Wenecji (EA: 2000, deutscher Titel: Ein Sommer in Venedig) von Włodzimierz Odojewski und Die hellen Tage (EA: 2011) von Zsuzsa Bánk.3 Es geht in diesen Texten um Liebe, um das Erwachsenwerden, um den Krieg, um Mütter und Väter, aber auch – in dieser Lektüre sogar: vor allem – um magisch zu nennende Orte. Zu den Inhalten: Bei Fournier entdeckt ein junger Mann, Augustin Meaulnes, zufällig ein geheimnisvolles Landschloss, nimmt an einem rauschenden Fest teil, verliebt sich in die blutjunge Hausherrin, kann aber, nach seiner Abreise, das herrschaftliche Anwesen und die Frau nicht mehr finden. Eine von Leidenschaft und Verzweiflung getriebene Suche beginnt: »Der große Meaulnes stand da, völlig ausgerüstet, die Pelerine umgelegt, bereit loszuziehen, und jedesmal blieb er an der Grenze zu jenem geheimnisvollen Land, in das er schon einmal geflohen war, zögernd stehen.« (GM 35f.) Bei Odojewski wird dem neunjährigen Marek eine sommerliche Reise nach Venedig versprochen. Doch als der Krieg in just jenem Sommer 1939 ausbricht, ist an eine Ferienreise nicht mehr zu denken. Während draußen die Gefechte toben, hält Marek an seinem Sehnsuchtsort fest und inszeniert mit Hilfe seiner Lieblingstante Barbara sein eigenes Venedig im feuchten, überfluteten Keller einer Villa im Städtchen P. Ein Pingpongtisch wird zur Piazza San Marco, Bügelbretter fungieren als Brücken: »Die Türen zu allen Räumen standen sperrangelweit offen, so daß ein weitläufiges Ensemble von Wandelgängen, Kanälen und dem Hafen an der Treppe entstand, wo sich, bestehend aus zwei alten Singer-Nähmaschinen mit darübergelegten Brettern die Basilica di San Marco befand, mit Blick auf die Buchten, die kleinen Plätze und Gassen in den kleineren und größeren Nebenräumen, wo die an den Wänden stehenden Schränke und Regale die Häuser und Palazzi darstellten; das Wasser wogte und plätscherte; das Licht, das vom Garten durch die Fenster hereinschien, erleuchtete die Innenräume und ließ sie grünlichgolden wirken; es brach sich an der Oberfläche, glänzte und glitzerte, flackerte an den Wänden mal feurig, mal kalt auf, und alles erinnerte an die echte Stadt ›auf dem Wasser‹, an Venedig. Und da hatten sie während eines kurzen Augenblicks den Krieg vergessen.« (SI 92f.)

Als die Inszenierung auch noch stimmungsvoll von Lampions beleuchtet wird, kann sich niemand mehr dem Venedig-Zauber entziehen.

3

In der Folge werden die drei Romane für die Zitatnachweise mit den Siglen GM (Der große Meaulnes), SI (Ein Sommer in Venedig) und HT (Die hellen Tage) abgekürzt.

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Bei Bánk ist es ein Garten, der das Zentrum gleich mehrerer Leben bildet. Auf den Feldern vor der süddeutschen Kleinstadt Kirchblüt haben sich Aja und Évi, Mutter und Tochter, in einer Baracke eingerichtet. Sie haben eine Zirkus- und Artistenvergangenheit. Évis wilder Garten mit Obstbäumen, Beerensträuchern, Hängematten und Badezubern wird für Aja und ihre Freunde Seri und Karl zum Kindheitsparadies. Und mitten drin steht ein Häuschen, gehalten von Brettern und Drähten, »wo die Felder beginnen und die Kieswege sich kreuzen, nicht weit vom Bahnwärterhäuschen, und es sieht aus, als würde es schweben.« (HT 13) Um aber erwachsen zu werden, müssen die drei weg aus dieser Idylle, die Flucht antreten hinaus in die Welt – zum Studium nach Rom. »Wir ließen die hellen Tage hinter uns, in denen wir leicht durch die Minuten und Stunden gesprungen waren, uns im Kreis immerzu nur um uns selbst gedreht hatten, in unserer winzigen, fest abgesteckten Welt zwischen Évis Garten, dem Schultor, dem Glockenschlag des Kirchturms und den Wegen hinaus zu den Erdbeerfeldern, wo unsere Blicke nie über die Ränder gereicht hatten. Nie hatten wir uns um etwas kümmern müssen, weil sich diese Welt auch ohne unser Zutun im selben Takt, mit demselben Klang ununterbrochen weiterbewegt hatte.« (HT 383)

Je weiter sie sich von Kirchblüt entfernen, desto deutlicher werden auch die Schatten, die die hellen Tage zu verdrängen beginnen. Es gibt im Leben der drei jungen Menschen nämlich jeweils eine leere Stelle, einen weißen Fleck – einen verstorbenen Vater, einen abwesenden Vater, einen spurlos verschwundenen Bruder. »Jedes dieser jungen Leben ist um eine Leerstelle gebaut, um einen Sehnsuchtsflecken«, kommentiert die Autorin dazu (Hosemann 2011). Alle drei Romane weisen autobiografische Spuren auf: Alain-Fournier (1886 geboren und 1914, im allerersten Kriegsjahr, gefallen bei Verdun) schöpft aus eigenen Jugenderfahrungen im ländlichen Frankreich, wo er, wie seine Hauptfigur François, von seinem eigenen Vater in einer Dorfschule unterrichtet worden ist. Auch im Falle von Odojewski gibt es einen biografischen Hintergrund: Wie seine Hauptfigur Marek war der 1930 in Posen geborene Autor bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs neun Jahre alt. Bánks Verbindungen zu Neckarlandschaften sind nicht offensichtlich, sicher ist, dass ihre eigene Geschichte – 1956 sind ihre Eltern aus Ungarn geflohen, sie selber wurde 1965 in Frankfurt am Main geboren und wuchs zweisprachig auf – sich bis zu einem gewissen Grad im Schicksal des ungarischen Artistenpaares Zigi und Évi spiegelt. Bánk selbst erklärt, dass es in ihrem Roman ein »winziges Fenster« gäbe, »durch das man nach Ungarn schauen kann. Nach Budapest, wo Ajas Eltern als Artisten im Staatszirkus engagiert waren, bevor sie 1956 während des Volksaufstands in den Westen geflohen sind.« (Hosenmann 2011) Aufschlussreich ist ein Blick auf die Zeitspanne, die die drei Romane abdecken und damit auf die Entwicklungsdauer, die den Helden und Heldinnen zugestanden wird. In Der große Meaulnes sind zwei phasenverschobene Entwicklungsstadien zu verzeichnen: Während François, der Ich-Erzähler und zugleich engster Freund und Vertrauter von Meaulnes, fast noch ein Junge ist, ist Meaulnes selber ein junger Mann mit einer auch bereits unverkennbar männlichen Ausstrahlung. Die Handlung erstreckt sich aber über mehrere Jahre, so dass François am Ende auch den Eintritt ins Erwachsenenalter hinter sich hat. Ein Sommer in Venedig ist eine Momentauf-

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nahme, die Handlung erstreckt sich über einige wenige Wochen. Marek ist und bleibt neun Jahre alt, wiewohl das Kellerabenteuer und die Venedigfantasien einen Entwicklungsschub bewirken.4 Bei Bánk ist die Spanne dagegen sehr viel länger: Aja, Siri und Karl sind zu Beginn Kinder im Primarschulalter, der Roman zeichnet ihre Lebensläufe detailliert nach, bis sie Studenten und später sogar Berufsleute geworden sind, jenseits des dreißigsten Lebensjahres. Unterschiedlich aufgestellt sind auch die Erzählinstanzen: Die in diesen Räumen und Landschaften situierten Kindheitserlebnisse werden vermittelt durch reflektierte, informierte Erzählstimmen, die rückblickend über das Geschehene berichten (über deren jeweilige Gegenwart erfahren wir nur Bruchstückhaftes, wohl aber, dass sie aus ihrem jetzigen Wissenstand heraus das Ende der erzählten Kindheiten, die Wendepunkte genau identifizieren können). Bei Alain-Fournier ist es der direkt in die Geschehnisse und Geheimnisse involvierte Ich-Erzähler François, bei Bánk ist es Seri, eine der drei Hauptfiguren, die erzählt, bei Odojewski ist es ein Erzähler in der dritten Person, der aber sehr nahe an den neunjährigen Marek heranrückt und dessen kindliche Perspektive oft (aber nicht immer) einnimmt. Räumliche Arrangements Im Hinblick auf das hier hauptsächlich interessierende Thema Kindheitsorte und räume gibt es in den drei Romanen ganz erstaunliche Parallelen. Alle drei Hauptschauplätze befinden sich auf dem Land, es handelt sich insofern auch um wirklich Kindheitslandschaften und nicht um urbane Ensembles wie wir sie beispielsweise bei Charles Dickens’ Oliver Twist (London; EA: 1838) oder bei J. D. Salingers Catcher in the Rye (New York; EA: 1951) antreffen. In allen drei Romanen werden überdies extrem detailsatte, sinnliche Kindheitssommer geschildert, in allen drei Fällen handelt es sich um provinzielle Räume (was keineswegs wertend gemeint ist). In allen drei Texten findet sich ein Muster wieder, das man so beschreiben könnte: Der Hauptschauplatz, von dem aus alle Handlung organisiert wird, ist eingebettet in eine existierende Region – in das polnische Hinterland, die französische Sologne, in die süddeutsche Neckarlandschaft. Es werden Städte und Landstriche genannt, die eine ungefähre Lokalisierung erlauben. Doch der Hauptort selber bleibt namenlos oder ist mit einem fiktiven Toponym belegt. In Der grosse Meaulnes wird der Rahmen der Sologne, einer waldreichen Landschaft in Zentralfrankreich, durch die Nennung der Städtchen Vierzon und Bourges abgesteckt, die des geheimnisvollen Landgutes Les Sablonnières bleibt aber im Unbestimmten. Hinter dem Dörfchen und der Schule Saint-Agathe im Roman vermuten etliche Alain-Fournier-Kenner den Ort Epineuil-le-Fleuriel, wo der Autor aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Das Schulhaus ist 1994 in ein Museum umgewandelt worden. In Ein Sommer in Venedig findet eine unklare Positionierung 4

An dieser Stelle ist aber ergänzend zu erwähnen, dass Marek in Odojewskis Erzählbande Jedźmy, wracajmy i inne opowiadania (EA: 2000, deutscher Titel: Aufbruch und Rückkehr und andere Erzählungen) noch mehrfach auftaucht, in verschiedenen Stadien der Kindheit und Adoleszenz. In der Erzählung Nie można cię samego zostawić o zmierzchu ist Marek bereits zwölf, in Cyrk przyjechał, cyrk odjechał entdeckt er als Jugendlicher die märchenhafte Zirkuswelt und macht seine ersten erotischen Erfahrungen.

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der Kleinstädte L. und P. statt, auch das Landhaus wird nicht genauer verankert. Es wird an einer Stelle eine »Sanbrücke« (SI 22) erwähnt, was eine vage Eingrenzung auf Südostpolen im Grenzgebiet zur Ukraine zulässt: Der San, ein Nebenfluss der Weichsel, verläuft in dieser Region. Klar hingegen sind die Koordinaten von Venedig, dem zentralen Sehnsuchtsort. Kirchblüt in Die hellen Tage ist vage situiert in der Umgebung von Neckar und Heidelberg, ein Städtchen dieses Namens existiert aber nicht. Rom, das zum Gegenpol wird und wie Kirchblüt selbst zwischen Schauplatz und projiziertem Raum changiert, verfügt dagegen über eine eindeutige Position auf der Landkarte. Diese unterschiedlichen Kombinationen von fixen Positionen und bloß vager Einbettung tragen zweifellos zum Reiz der räumlichen Gestaltung bei. Man muss nicht gleich Literaturtourismus betreiben wollen, also die Romanorte in einer wie auch immer zu definierenden Realität aufsuchen – aber viele, auch berufsbedingte Vielleser und -leserinnen kennen das Bedürfnis, nachzuprüfen, ob ein in der Literatur beschriebener Ort existiert oder eben nicht. Wenn man ihn nicht bestimmen kann, wenn er authentisch, aber eben nicht real wirkt, geht von ihm ein besonderer Zauber aus. Die Rolle der projizierten Orte Am wichtigsten aber im vorliegenden Zusammenhang ist der auffallend große Stellenwert, den projizierte Orte innerhalb der drei Romanhandlungen einnehmen. Bei Alain-Fournier wird das Landgut Les Sablonnières zunächst Schauplatz, dann – für eine sehr lange Phase und den schönsten Teil des Romans – projizierter Ort im Modus der Sehnsucht. Die Suche nach dem Landgut wird zum zentralen Motiv: Meaulnes’ Wege verlaufen mäandrierend. Immer neue Anläufe nimmt er, um den Weg zu dem geheimnisvollen Landgut zu rekonstruieren: »›Wir waren um Mitternacht abgefahren‹, sagte er lebhaft. ›Ich wurde um vier Uhr morgens etwa sechs Kilometer westlich von Saint-Agathe abgesetzt, während ich über die Bahnhofstraße nach Osten abgefahren war. Man muß also zwischen Saint-Agathe und dem unbekannten Ort die sechs Kilometer abzählen. Ja, wirklich, ich glaube, wenn man aus dem Gemeindewald herauskommt, ist man nicht mehr als zwei Meilen von dem Ort entfernt, den wir suchen.‹ ›Genau diese zwei Meilen fehlen auf deiner Karte.‹« (GM 113)

Nach zahllosen vergeblichen Suchaktionen erzählt jemand eines Tages ganz zufällig von einem grauen Türmchen über Tannen und einem ganzen Labyrinth »aus verfallenen Gebäuden, die man in Abwesenheit des Besitzers besichtigen konnte. [...] wie es hieß, waren da nur noch der Bauernhof und ein kleines Landhaus. [...] Ich hörte ihm nicht mehr zu, denn mir war gleich klar, daß er richtig geraten hatte und daß sich vor mir, fern von Meaulnes, fern jeder Hoffnung, deutlich und leicht wie eine vertraute Straße soeben der Weg zum namenlosen Landgut aufgetan hatte.« (GM 139f.) In Ein Sommer in Venedig wird die Lagunenstadt nie betreten, sie wird nachgebaut, inszeniert, aber nie erreicht (Ausführlicheres dazu im nächsten Abschnitt). Würde sie das, würde die ganze tragende Romanidee in sich zusammenfallen. In Die hellen Tage ist Kirchblüt für fast zwei Drittel des Romans alleiniger Schauplatz. Dann

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kommt Rom hinzu als Gegenpol. Aja, Seri und Karl leben und studieren zu dritt in Rom, aus Aja und Karl wird zudem ein Paar. Es finden wechselseitige Projektionen statt: Sind die drei in Rom, ist Kirchblüt trotzdem sehr gegenwärtig, in Gesprächen, Erinnerungen, Briefen, durch Besuche der Mütter: »Es war, als sei nicht nur Évi, sondern ganz Kirchblüt mit ihr gekommen, als habe Évi es in ihren Koffer gepackt und mitgebracht, als habe sie unsere Häuser in den Rosengärten eingesammelt, unsere Linden und die Feldwege aus Staub, das Glöckchen des Fotoladens, die kleinen Geschäfte rund um den großen Platz, den Wald mit seinem See, den Friedhof mit seinen gusseisernen Toren, als habe sie den Koffer in unserer Küche geöffnet, und alles sei herausgesprungen und habe sich aufgestellt zu Évis Füßen, neben ihren Absätzen aus Holz auf unseren Steinböden.« (HT 482f.)

Sind Aja, Seri und Karl hingegen in Kirchblüt, denken sie an Rom, erzählen von Rom. Als Seri in Évis Küche sitzt, »sollte ich ihr von unseren Zimmern erzählen, von den Farben der Wände und Fensterläden, von den orangeroten Bussen, die uns zur Hochschule fuhren und immer zu spät fuhren, von dem Plätschern des Brunnenwassers, das über den Plätzen lag, von den Schwalben, die aus einem Meer roter Ziegel aufstiegen, von dem Krankenhaus, in dem sie Aja Dottoressa nannten und nichts von ihren Kunststücken ahnten, von den Sirenen der Rettungswagen, deren Klang durch unser Viertel hoch in unsere Küche drang, auch am Abend, wenn wir warteten, bis sich ein satter Mond auf die schrägen Dächer setzte und sein Licht in unsere Fenster goss.« (HT 454) In gewissen Jahren hielten sie »Rom für die Mitte der Welt [...] und nicht mehr Kirchblüt.« Aber dann wird auch diese Verschiebung des geografischen Lebensmittelpunktes aufgehoben: »Wir haben schon lange aufgehört, Rom für die Mitte der Welt zu halten, wir haben sogar aufgehört, uns selbst für die Mitte der Welt zu halten, auf unseren Wegen rund um den großen Platz und an den Feldrainen haben wir damit aufgehört.« (HT 667) Die Figuren sind Getriebene, sind sie am einen Ort, denken sie sich an den anderen. Schließlich schieben sich die rund 1200 Kilometer zwischen Nord und Süd als eine Art Keil zwischen die drei Freunde. Während Aja und Seri in Kirchblüt weilen, um Klarheit in Ajas Familiengeschichte zu bringen, bleibt Karl in Rom, es zieht ihn, den Fotografen, zurück an den Tiber, denn er will das »erste Herbstlicht« (HT 649) nicht versäumen. Weder Rom noch Kirchblüt lassen die drei jungen Menschen los, im Spannungs-, Kräfte- und Magnetfeld der beiden Orte werden, so kann man es zumindest lesen, Kindheit und vermeintlich für die Ewigkeit gemachte Freundschaften allmählich zerrieben, auch wenn sie im Herbst noch immer »zu dritt über die herbstnackten Felder« laufen und zurückblicken, räumlich und zeitlich, »auf Évis Haus, das den Wind noch immer abwehrt, auf den Wald mit seinem verborgenen See, auf den Friedhof und die kleine Brücke über den Klatschmohn, auf die abgesteckten Pfade unserer Kindheit, auf denen mit uns allen dreien etwas begonnen hat, auf denen für uns überhaupt alles begonnen hat.« (HT 658) Wie es einmal war, wird es jedenfalls nie wieder werden.

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Triggering Mit guten Gründen kann man davon sprechen, dass die projizierten Räume in den drei Romanen ›getriggert‹ werden. Der Ausdruck ist der Psychologie und der Tontechnik entliehen. In der Traumapsychologie bezeichnet ein Trigger einen flashbackauslösenden Sinneseindruck, woraufhin erinnerte Szenen als real und unmittelbar erlebt erscheinen. Die gegenwärtige, reale Situation wird dabei oft komplett ausgeblendet. Als Trigger können Reize in Form von z.B. Geräuschen, Geschmackserlebnissen oder visuellen Eindrücken fungieren. In der Tontechnik kann ein bestehendes Signal durch das Triggering ein anderes Signal auslösen. Das getriggerte Signal entspricht dem auslösenden Signal in der Ausschlagstärke und kann es je nach Funktion ergänzen oder ganz überdecken (siehe dazu Bäumler 2011: 30). Diese Prozesse lassen sich recht präzise auf das literarische Verfahren, einen projizierten Ort in die Handlung einzublenden, anwenden. Dort befindet sich eine Figur an einem bestimmten Ort, wird aber durch einen Auslöser, eben einen Trigger, gedanklich an einen anderen Ort versetzt: »So [...] braucht es nicht viel, um mich an Rom denken zu lassen, an die Flecken und Farbsplitter unseres Küchenbodens, ein Licht reicht aus, ein Stein, ein Regen. Wenn ich die vier Buchstaben, ein R, ein O, ein M, ein A, auf einem Wagen sehe, ROMA, zieht es etwas in mir zusammen, als habe sich dort unser Leben gewendet [...].« (HT 666f.) Komplex und mehrstufig ist der projizierte Ort in Ein Sommer in Venedig aufgebaut: Die Venedig-Fixierung kommt ursprünglich daher, dass der erst eineinhalbjährige Marek in Polen zurückgelassen wurde, während seine Mutter einen Sommer in Venedig verbracht hat. Dem Kindermädchen gelang es, ihn zu beruhigen durch Geschichten über die »schwimmende Stadt«. Ein Bild setzt sich in der Einbildungskraft des Jungen zusammen, »aus steinernen Spitzen und Arabesken [...], deren silbrigrote Fäden als kunstvolle Verzierungen auf dem Verputz leuchteten, und das wiederum schien Ähnlichkeit zu haben mit den bunten Miniaturen auf den Porzellandöschen, wie sie die Grossmutter in einer ihrer Glasvitrinen aufbewahrte: voller Kanäle mit darauf schwimmenden Gondeln und den sich darüber wölbenden Brückenbögen, von denen sich nach Einbruch der Nacht die geflügelten Löwen in die Lüfte schwangen, in Richtung der Piazza San Marco, wo riesige Pferde aus Bronze herumgaloppierten und tagsüber einfach nur Tauben herumspazierten, sicherlich weniger verzaubert als die Pferde, aber ein bißchen doch auch.« (SI 8) Sobald Marek selber lesen, schreiben und blättern kann, beginnt er seine Kenntnisse über Venedig sozusagen systematisch zu erweitern:

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»Er hatte über Venedig schon etliche Bücher gelesen, die er von Tante Barbara ausgeliehen hatte, aus Illustrierten hatte er eine Menge Photos ausgeschnitten – vom Canal Grande, vom Dogenpalast, von verschiedenen Brücken, Kanälen, kleinen Gassen, Ansichten von Straßen, Plätzen, Höfen, vom Meer, von Schiffen, die aus der Levante den Hafen ansteuerten, und er klebte die interessantesten in ein eigens dafür angelegtes Album. Er hatte genauestens den Stadtplan studiert und sich die vielen schön klingenden Namen eingeprägt [...].« (SI 10)

Die Mutter verspricht ihm im Jahr 1939 eine Reise nach Venedig (sein Bruder Wiktor durfte das Mal zuvor mit), nun sind die Schlafwagenplätze erster Klasse über Budweis und Wien nach Venedig schon gebucht. Doch plötzlich ist von der Reise keine Rede mehr, der drohende Krieg macht alle Pläne zunichte. Als im Keller des Landhauses von Tante Weronika plötzlich eine geheimnisvolle Heilquelle zu sprudeln beginnt (im weiteren Verlauf des Romans gibt es Hinweise darauf, dass es sich auch einfach um einen Rohrbruch handeln könnte), als der gesamte verwinkelte Keller überflutet wird, kann Marek seine angelesenen und erträumten VenedigKenntnisse in einer Inszenierung umsetzen. Aber selbst damit endet die facettenreiche Projektionskette nicht. Als Marek erschöpft vom Venedig-Spiel einschläft, vermischen sich alle Eindrücke und Fantasien nochmals in einem Traum: Er sah » zwischen den Stadtmauern die schwarzen Wasser der Kanäle, die silbrig schimmerten, er sah die Piazza San Marco, den Dogenpalast, die steinernen Löwen, die Quadriga byzantinischer Pferde aus Bronze, die Kirchtürme und Kuppeln über den Herrschaftsgebäuden. Die Katzen von Tante Weronika hatten Flügel, kreisten über der Wasseroberfläche wie Fledermäuse, und die mit Kordeln an der Kellerdecke befestigten bunten Lampions bewegten sich im Wind sanft hin und her wie über den Kanälen hängende echte Laternen.« (SI 105f.) Was das Dreiecks-Verhältnis von Menschen, Objekten und Orten betrifft, gibt es Unterschiede. Bei Alain-Fournier und Bánk spielen Orte als belebte und benutzte, als eigentliche, sehr plastisch geschilderte Lebenswelten, eine große Rolle. Objekte, Ort, menschliche Interaktion sind unauflösbar miteinander verbunden in der Erinnerung, einzig in Ein Sommer in Venedig erscheint die Lagunenstadt menschenleer, belebt nur durch Rosse, Tauben und geflügelte Löwen. Das erklärt sich auch sehr logisch aus der Konstitution dieses projizierten Ortes: Venedig wird nie betreten, es bleibt im Modus des projizierten Ortes verhaftet. Les Sablonnières und Rom dagegen wechseln in ihrer Funktion zwischen Schauplatz und projiziertem Raum, sie sind gefüllt, angereichert mit direkter Anschauung der Figuren, mit tatsächlichen Erlebnissen und Sinneseindrücken. Marek hingegen wird immer nur sein Venedig kennen. Er sei, so heißt es, auch in seinem späteren Leben, als es ihm möglich gewesen wäre, nie nach Venedig gegangen. Weshalb? Der Roman schließt mit den Worten: »Vielleicht hatte er im tiefsten Inneren ein wenig Angst. Nein, er wusste nicht wovor. Er wusste hingegen, daß ihn dort eine Gondel erwartete, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Waschzubern im Keller der Tante Weronika hatte. Und deshalb wollte er nicht.« (SI 126) Zusammenfassend lässt sich sagen: Alle drei Romane sind auf räumlicher Ebene zwei- oder mehrpolig aufgebaut: Kirchblüt – Rom (wobei auch Heidelberg, New

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York5 und die Provence später eine kleinere Rolle spielen), Sainte-Agathe – Les Sablonnières – Paris, P. – Venedig. Die projizierten Orte werden nicht nur einmalig, sondern über einen längeren Zeitraum evoziert, in mehreren Anläufen, was ihnen zu einer ungewöhnlichen Dichte und Strahlkraft verhilft. Das fragile, ständig wechselnde Kräfteverhältnis zwischen den Orten trägt so wesentlich zur Spannung, zur Dynamik der erzählten Welten bei. Oder noch pointierter ausgedrückt: Die Relationen zwischen den Orten bringen die Handlung überhaupt erst in Schwung. Besonders deutlich wird das in Die hellen Tage. Der Roman wirkt wie »aus einer andern Zeit, ein Buch nicht ganz von dieser Welt« (Isenschmid 2011). Er macht die achtzehn Jahre einer Kindheit und Jugend zum »jahresüberwölbenden Raum eines ewig scheinenden Kindheitssommers« (ebd.). In dieser zum Raum gewordenen Zeit sitzen die Kinder in den Bäumen, schlagen Räder zur Begrüßung, schwimmen im Waldsee, stellen den Küchentisch flux unter den Birnbaum und bewundern die leichtfüßigen Kunststücke von Ajas Vater, dem Artisten Zigi. Erst mit Rom als Gegenpol bricht die Zeit in die Idylle ein und Bewegung kommt in das Leben der drei jungen Menschen, die sonst, so schön sich die Kindheit in Kirchblüt ausnimmt und liest, wohl für alle Zeiten in einer Zauberglaskugel eines unbeweglichen Provinzstädtchens gefangen geblieben wären. Genau dieses Bild wird bei einer Rückkehr nach Kirchblüt auch eingesetzt: »Alles war weggerückt und weggesprungen, die Fenster und Treppen unserer Schule, die Vorgärten hinter den Hecken und Zäunen, selbst die schmalen Pfade zu den Feldern. Jemand hatte die Häuser Kirchblüts mit einer Pinzette hinter Glas gesetzt und darin verschlossen. Wie Pantheon und Engelsburg blieben sie in einer dieser Glaskugeln, und damit Schnee auf ihre Dächer fiel, brauchten wir sie nur umzudrehen und zu schütteln.« (HT 589)

Kirchblüts Statik wird erst durch den Rom-Kontrast offenbar, nun stehen die Protagonisten draußen vor der Glasscheibe, nicht drinnen. Von Rom her, beginnt Kirchblüt sich aufzulösen. Die Besuche der Rückkehrenden zeigen, dass sich die Kindheitslandschaft vielleicht nicht verändert, aber die Wahrnehmung verändert sich und ein bekannter Effekt stellt sich ein – alles erscheint auf einmal viel, viel kleiner als man es in Erinnerung hatte und ganz anders: »Ja, Weizen und Mais stehen hoch, ja, der Klatschmohn blüht und wie er blüht, wenn du ihn sehen könntest, ja, im Bach fließt Wasser, und ja, wir sitzen auf dem großen Platz unter einem Dach aus Blättern. Ich sagte nicht, aber es ist nicht wie früher, weil nichts wie früher ist, weil sich alles gedreht und verschoben hat. Wir laufen durch Kirchblüt und alles ist anders, wir haben es verloren, so wie wir die Orte unserer Kindheit verlieren, zum ersten Mal, wenn wir keine Kinder mehr sind, und später noch einmal, wenn wir als Erwachsene zurückkehren und uns wundern, wie sie wirklich aussehen.« (HT 574f.)

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In New York lebt Ajas Vater Zigi den größten Teil des Jahres. Für Aja wird New York zu einem weiteren projizierten Ort, der in ihrer Kindheit vermutlich sehr wirkungsmächtig war. Später will sie den Ort kennenlernen, zu dem sie als Kind »all ihre Gedanken geschickt hat« (HT 656).

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Aber auch in Le Grand Meaulnes ist der projizierte Ort unverkennbar die treibende Kraft für die Handlung. Wohl hat François Klarheit über die Lage des geheimnisvollen Landgutes gewinnen können, aber da ist nichts mehr von dem, was Augustin Meaulnes in jener Nacht erlebt hat. Alles ist verschwunden: »Und jedesmal mußte ihm das junge Mädchen gequält wiederholen, daß nichts mehr vorhanden sei: das alte, so seltsame, so verwinkelte Herrschaftshaus abgebrochen; der große Teich trockengelegt, aufgefüllt; die Kinder in den bezaubernden Kostümen in alle Winde zerstreut...« (GM 167) Vielleicht liegt es (auch) an dieser immerzu schmerzenden Lücke, dass keine der drei Hauptfiguren, weder François noch Augustin noch Yvonne de Galais glücklich werden können im weiteren Verlauf des Romans. So gesehen werden nun auch die Funktionen der drei Raumkonstellationen deutlich, die projizierten Orte erfüllen je nach Handlung ganz verschiedene Funktionen: Einbruch des Märchenhaften in den Alltag, gefolgt von Ernüchterung und dem endgültigen Verlassen der Kindheitswelt (Le Grand Meaulnes), Flucht aus dem Kriegsalltag zwischen Fliegeralarm, Bombendetonationen, den ersten Toten und den einsetzenden Flüchtlingsströmen (Ein Sommer in Venedig), Ermöglichung des Aufbruchs aus einer in sich bereits märchenhaft angelegten Kindheit, aber damit zugleich der scheinbar endgültige Verlust eines wie auch immer gearteten Heimatgefühls – am Ende des Romans scheinen die Figuren ›ihren‹ Ort noch immer nicht gefunden zu haben (Die hellen Tage).

E INE K ARTE

LITERARISCHER

K INDHEITSORTE

UND - RÄUME

Bisher wurde gezeigt, dass literarische Kindheitslandschaften sich ganz besonders gut eignen (würden) für literaturgeografische Konzepte und Darstellungen – eben weil Räume, und in manchen Fällen auch das Wechselspiel zwischen konkreten Landschaften und erfundenen Örtlichkeiten, zwischen projizierten Räumen und Schauplätzen, in vielfältigster Ausprägung eine ganz besondere Rolle spielen. Aber wenn man tatsächlich eine Landkarte literarischer Kindheitsorte zeichnen möchte, die auf einer Vielzahl von Texten basieren würde, wie sähe die aus? Vielleicht so, wie sie Ingeborg Bachmann in ihrer Poetikvorlesung schon 1959/60 entworfen hat, als sie von einem »Atlas, den nur die Literatur sichtbar macht« (Bachmann 1993: 239), sprach: »Diese Landkarte deckt sich nur an wenigen Stellen mit den Karten der Geographen. Freilich sind auch Orte darauf eingetragen, die der gute Schüler kennt, aber auch andere, die kein Lehrer kennt, und alle zusammen ergeben ein Netzwerk, das reicht von Delphi und Aulis bis Dublin und Combray, von der Rue Morgue bis zum Alexanderplatz und vom Bois de Boulogne bis in den Prater; die Wüste von T. H. Lawrence und der Himmel, den Saint-Exupéry beflogen hat, stehen auch darauf, aber viele Wüsten nicht, viel fruchtbare Erde nicht – hier gibt es sie nicht. Und Orte gibt es darauf, manche viele Male, wohl hundertmal Venedig, aber immer ein anderes, das von Goldoni und von Nietzsche, eines von Hofmannsthal und eines von Thomas Mann, und es gibt Länder, die sind schwerlich zu finden auf den käuflichen Karten, Orplid und Atlantis, und andere, die gibt es wohl, wie Illyrien, aber Shakespeares Illyrien deckt sich nicht damit [...]. Auf dem Zauberatlas ist es eingezeichnet, wahrer, viel wahrer, und es grenzt dort die

98 | B ARBARA P IATTI Newa an die Seine, und über die Seine führt der Pont du Carrousel von Balzac und der Pont Mirabeau von Apollinaire, und die Steine und die Wasser sind aus Worten gemacht. Dort werden wir unseren Fuß nie hinsetzen, auf diesen Pont Mirabeau niemals, und das schneeige Rußland, durch das die Zwölf von Alexander Blok gezogen sind, wird uns nicht sehen. Aber andererseits: auf all unseren Fahrten, wo sind wir wirklich gewesen? Im Bordell von Dublin und auf dem Blocksberg, auf den finnischen Gütern des Herrn Puntila und in den Salons von Kakanien – dort waren wir vielleicht wirklich.« (Bachmann 1993: 239f.)

Bachmann denkt hier unverkennbar topologisch, in Richtung einer Karte, die sich eher durch Nachbarschaften und Beziehungen auszeichnet als durch exakte Distanzen und Proportionen. Ganz genau so funktioniert zum Beispiel auch die berühmte London Underground Map, 1933 vom technischen Zeichner Harry Beck entworfen. Sie bildet nicht die realgeografischen Verhältnisse ab, sondern vereinfacht sie, rückt Stationen je nach Bedarf näher zusammen oder weiter auseinander als es der Realität entspricht. Sie stellt in leicht erfassbarer Weise die räumlichen Beziehungen der Stationen untereinander dar. Solche Darstellungen nennt man in der Fachsprache Kartogramme. Eine Karte literarischer Kindheitsorte und -räume könnte möglicherweise so funktionieren. Anders formuliert: Die bestehenden literaturgeografischen und -kartografischen Konzepte, wie sie einführend vorgestellt worden sind, spielen weiterhin eine Rolle, denn sie bilden den theoretischen Hintergrund, sie liefern die Kategorien, die Lektüreanleitungen. Sie müssten aber für einen ›Literarischen Atlas der Kindheit‹ ein Stück weit überwunden werden. Denn bei den literarischen Kindheitslandschaften würde es durchaus Sinn machen, den geografisch-topografischen Raum partiell zu verlassen und sich topologisch zu orientieren. Das bedeutet nichts anderes als das, was thematisch, atmosphärisch und funktional zusammengehört, näher zueinander zu rücken. Es würden sich rasch Topoi abzeichnen, Raumtypen, die in mehreren Texten auftauchen: Das Dorf, das Provinzstädtchen, das Elternhaus, der Garten, das Internat, der Wald, der selbstgebaute Zufluchtsort (Baumhütte, Höhle, Zelt), Sommerlandschaften, Seen, Flüsse. Die wichtigsten Kategorien und damit Funktionen ließen sich leicht markieren: Manche dieser Orte wären Schauplätze, andere – erreichbare oder unerreichbare – projizierte Räume. Wieder andere wären Phantasieländer, die durch einen Trick oder vermeintlichen Zufall betreten werden können wie Lewis Carrolls »Wonderland« oder Michael Endes »Phantásien«. Der Effekt davon? Auf einer so organisierten Landkarte würden Alain-Fourniers Sologne, Odojewskis polnisches Hinterland und Bánks süddeutsche Neckarlandschaft ganz eng zusammenrücken, vielleicht sogar ein ›räumliches Kontinuum‹ bilden, obwohl die drei Romane in ihrer Entstehungszeit fast hundert Jahre auseinanderliegen und in drei verschiedenen Sprachen geschrieben worden sind. Idealerweise müssten die Wege ablesbar sein – nicht in ihrer Totalität, sondern in ihrem bestimmenden Charakter: zirkulär, mäandrierend für Meaulnes und François, stationär bzw. in die Vertikale führend und bloß in Form einer Gedankenreise für Marek und seine Familie, ein reges Hin und Her zwischen Rom und Kirchblüt im letzten Drittel des Romans für das Trio in Die hellen Tage. Mit Sicherheit müssten die Schauplätze/projizierten Orte ein Zusatzsymbol bekommen, denn allen diesen Raumkreationen ist ein Zug ins Märchenhafte eigen. Über Évis Haus heißt es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Zwischen Klatschmohn und Kastanien, nicht weit

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vom Neckar, steht das notdürftig und phantasievoll zurecht gezimmerte Häuschen ohne Anschrift, ohne Straßennamen und Hausnummer. Als wäre dies der Ort, den es nicht geben kann, es sei denn im Märchen.« (Spiegel 2011) Und dass es eher in einer Märchenzeit und einem Märchenraum situiert ist, gilt selbstredend auch für das bröckelnde Landgut Les Sablonnières und den überfluteten Keller in einer »Jugendstilvilla voller geheimer Schlupfwinkel, Dachböden, Keller und wunderlicher Orte« (SI 18), die von einem »märchenhaften Garten« (SI 23) umgeben ist. Die Romanfigur Marek bewegt sich übrigens mit größter Selbstverständlichkeit in einem solchen imaginierten Land, in dem es keine Brüche und Grenzen gibt. Er hat keine Mühe, in erzählte Welten einzutauchen, mit besonderer Lust tut er dies zum Beispiel bei Frances Hodgson Burnetts Jugendbuchklassiker The Secret Garden (EA: 1911). Von dort, dem englischen Landhaus mit dem geheimen Garten, zieht er dann aber unverdrossen weiter: Er verließ »das Schloss Misselthwaithe Manor und zog durch die weiten mitteleuropäischen Ebenen und Gebirge, bis er in Venedig ankam.« (SI 35)

W OZU

LITERATURGEOGRAFISCHE

UND LITERATURKARTOGRAFISCHE

K ONZEPTE ?

Wozu sich aber überhaupt mit dem Gedanken einer Karte literarischer Kindheitslandschaften befassen? Weil solche (in der Literaturwissenschaft noch durchaus unkonventionelle) Darstellungen Verbindungen, literarische Nachbarschaften aufzeigen können und weil sie darauf hinweisen, wo sich fiktionale Schichten mit realen Geografien berühren – und viel wichtiger noch: Wo sie diese erweitern, durch erfundene, umbenannte oder verfremdete Orte und Räume. Wer selber über eine lebhafte Imagination verfügt, kann sich das auch einfach vorstellen. Er oder sie braucht dazu keine Karte. Wer aber eine Art Wegweiser oder Reiseführer durch das literarische Land der Kindheit wünscht, der oder die würde sich über eine solche Karte, die es wie gesagt noch gar nicht gibt, sicherlich freuen. Sie würde auf einen Blick augenscheinlich machen, wie viel reicher – tatsächlich auch räumlich und geografisch –unsere Welt durch literarische Erzählungen wird. Man kann mit solchen literaturkartografischen Darstellungen aber auch durchaus anspruchsvolle Thesen bilden: Die Schauplätze und projizierten Räume könnten mit bestimmten Attributen versehen und dadurch leicht verglichen werden: Modus, Betretbarkeit, Funktion, geografische Schärfe. Vielleicht ließe sich auch ablesen, ob es prägende, dominierende Orte einer bestimmten Autorengeneration gibt? Oder typische Konstellationen wie zum Beispiel das Spannungsfeld zwischen Provinz und Großstadt? Denkt man in diese Richtung weiter, dann würde dies zu einem Schulterschluss zum Beispiel mit der Mentalitätsgeschichte führen: Wie sieht das literarische Land der Kindheit in Krisen- und Kriegszeiten aus, wie in Phasen des Friedens? Und dies, wohlgemerkt, ist natürlich immer in komparatistischer, die Grenzen der Nationalliteraturen überschreitender Perspektive möglich und sinnvoll. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass literaturkartografische Darstellungen niemals Resultate, Antworten auf Fragen sind, vielmehr sind es Inspirationsquellen, Ideengeneratoren. Im besten Fall lassen sich darauf neue, bisher ungeahnte

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Zusammenhänge erkennen, die dann, mit dem bekannten und erprobten literaturwissenschaftlichen Rüstzeug weiterverfolgt werden sollten. Aber über die rein fachwissenschaftliche Motivation hinaus gibt es weitere Gründe, weshalb es wichtig sein könnte, mehr über den nicht unmittelbar sichtbaren literarischen oder allgemeiner gefasst: künstlerischen (Bedeutungs)reichtum von Landschaften und Städten zu wissen – und über das Netzwerk, das sie untereinander verbindet, das aber erst herausgearbeitet werden muss. Es ist ein wachsendes Interesse an Bereichen wie ›story maps‹, ›fictional cartography‹, ›narrative atlas‹ und ›geospatial storytelling‹ zu erkennen – der gemeinsame Horizont all dieser Interessen ist der Wunsch, (besser) zu verstehen, wie Orte und Räume funktionieren und wie sie mit Erzählungen aller Art Verbindungen eingehen (vgl. dazu Caquard 2011). Und Literaturkartografie ist ein einprägsamer, attraktiver Weg, dies zu vermitteln, selbstverständlich auch für breitere Leserkreise und nicht nur für die akademische Welt (vgl. ein Projekt wie www.literatur-karten.ch). Denn zweifellos wird Raum auch in kommenden Zeiten ein großes Thema bleiben. Nicht von ungefähr hat die UNESCO vor einiger Zeit die Kategorie der »assoziativen Kulturlandschaften« eingeführt, deren Wert sich eher in geistigen Bezügen aus Religion, Kunst oder Literatur als in materiellen Bestandteilen darstellt: »The final category is the associative cultural landscape. The inclusion of such landscapes on the World Heritage List is justifiable by virtue of the powerful religious, artistic or cultural associations of the natural element rather than material cultural evidence, which may be insignificant or even absent.« (UNESCO)

Auch im Falle von verlorenen, verschwundenen, untergegangenen Orten und Regionen sind literaturgeografische, geokritische oder geopoetische Verfahren von besonderer Bedeutung. Zahlreiche Orte Mitteleuropas sind unwiederbringlich verschwunden im Laufe von zwei Weltkriegen: »Man erkennt sie daran, daß man sie im Museum oder in der Literatur besichtigen muß« (Schlögel 2003: 301). Marszałek und Sasse spitzen diese Beobachtung noch zu: »Wenn geographisch-historische Räume eine besonders intensive literarische Existenz haben, wie Galizien, die Bukowina, Bosnien oder Mitteleuropa, heißt das nicht, dass es sich dabei um bloße Fiktionen handelt; vielmehr lässt das wirkungsvolle imaginative Fortdauern jener Räume in der Literatur ihnen einen labilen Status zwischen Empirie und Fiktion zuteil werden. Eine Beobachtung für den ostmitteleuropäischen Raum scheint sich in diesem Zusammenhang immer wieder zu bestätigen, und zwar: Je prekärer sich die historisch-politische Existenz von Räumen darstellt, umso intensiver existieren diese Räume als literarischer Text.« (Marszałek/Sasse 2010: 13)

Das gilt bis zu einem gewissen Grad natürlich für alle Lebenswelten, die schon ein Weilchen zurückliegen. In allen drei Romanen, die hier besprochen worden sind, handelt es sich um verlorene Landschaften und zwar inner- wie außerfiktional: Die Sologne um 1890, Polen um 1939, Süddeutschland in den sechziger Jahren. Diese spezifischen Raum-Zeit-Gefüge mit erfundenen Orten, aber eben auch einem jeweils authentischen Rahmen sind für die Figuren ebenso unwiderruflich verloren wie für die Lesenden. Nicht von ungefähr haftet allen drei Romanen auch ein Zug ins

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Melancholische an. Odojewski sagt über sein Schreiben: »Mein Ziel ist es, in meinen Erzählungen und Romanen eine Welt zu zeigen, die verschwunden ist, damit sie nicht auch aus unserem Gedächtnis verschwindet. Deshalb halte ich die Erinnerung wach an eine Zeit mit all ihren Emotionen, ihrem Schmerz, ihren Ängsten, ihrer Liebe und ihrem Hass und auch mit ihren historischen Tatsachen.« (Schaefer 2014) Literaturkartografische Konzepte können so gesehen einen – ergänzenden – Beitrag leisten zu einer künftigen, weit ausgreifenden Geschichte literarischer Kindheitsorte und -räume.

L ITERATUR Primärliteratur Alain-Fournier (2003): Der große Meaulnes. Übertragung aus dem Französischen von Christina Viragh, Frankfurt am Main: Suhrkamp. [1913] Bánk, Zsuzsa (2013): Die hellen Tage, Frankfurt am Main: S. Fischer. [2011] Chatwin, Bruce (2002): Utz. Übersetzung aus dem Englischen von Anna Kamp, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. [1988] Odojewski, Wlodzimierz (2007): Ein Sommer in Venedig. Aus dem Polnischen von Barbara Schaefer, München: SchirmerGraf Verlag. [2000] Rilke, Rainer Maria (2010): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Mit ergänzenden Textpassagen aus dem Nachlass und Stellenkommentar, Zürich: Manesse. [1910] Sekundärliteratur Bäumler, Andreas (2011): Das Engadin als literarisierte Landschaft. Literaturgeographische Untersuchungen zum Verhältnis von Text und Raum. Unveröffentlichte Masterarbeit, Universität Basel. (Download unter: http:// www.literaturatlas.eu/2012/02/02/engiadine-as-literary-landscape/) Bachmann, Ingeborg (1993): »Frankfurter Poetikvorlesungen, IV. Der Umgang mit Namen«, in: dies., Werke, Vierter Band, hrsg. von Christine Koschel u.a., München: Piper Taschenbuch Verlag, S. 238-254. Caquard, Sébastien (2011): »Cartography I – Mapping Narrative Cartography«, in: Progress in Human Geography 37 (1), S. 135-144. Döring, Jörg (2009): »Zur Geschichte der Literaturkarte (1907-2008)«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: Transcript, S. 247-290. Heero, Aigi (2009): »Zwischen Ost und West: Orte in der deutschsprachigen transkulturellen Literatur«, in: Helmut Schmitz (Hg.), Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 69), Amsterdam: Rodopi, S. 205-225.

102 | B ARBARA P IATTI

Hosemann, Jürgen (2011): Interview mit Zsuzsa Bánk, http://www.fischerverlage.de/ interview/Zsuzsa_B%C3%A1nk_im_Gespr%C3%A4ch_mit_ihrem_Lektor_J%C 3%BCrgen_Hosemann/1356470 vom 17.03.2014. Isenschmid, Andreas (2011): »Die Kieswege des Lebens (zu Zsuzsa Bánks Roman Die hellen Tage)«, in: DIE ZEIT, 16/2011 vom 18. April 2011, S. 47. Jakiša, Miranda (2010): »Bosnien-Texte. Über-Leben im literarischen Text«, in: Magdalena Marszałek/Sylvia Sasse (Hg.), Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen, Berlin: Kadmos, S. 69-91. Kaindlstorfer, Günter (2012): SWR2-Buch der Woche, 19.11.2012, Christoph Ransmayer: Atlas eines ängstlichen Mannes, http://www.swr.de/swr2/literatur/ buch-der-woche/christoph-ransmayr-atlas-aengstlichen/-/id=8316184/sdpgid =696114/nid=8316184/did=10593286/1yak4i7/index.html vom 17.03.2014. Literaturatlas: www.literaturatlas.eu vom 17.03.2014. Literaturlandkarten: www.literatur-karten.ch vom 17.03.2014. Marszałek, Magdalena/Sasse, Sylvia (2010): »Geopoetiken«, in: dies. (Hg.), Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen, Berlin: Kadmos, S. 7-18. Piatti, Barbara (2012): »Mit Karten lesen. Plädoyer für eine visualisierte Geographie der Literatur«, in: Brigitte Boothe/Pierre Bühler et al. (Hg.), TextweltLebenswelt. Interpretation interdisziplinär. Bd. 10, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 261-288. Piatti, Barbara/Reuschel, Anne-Kathrin/Hurni, Lorenz (2013): »Dreams, Longings, Memories – Visualising the Dimension of Projected Spaces in Fiction«, in: Proceedings of the 26th International Cartographic Conference, Dresden, Deutschland 2013. (Download unter www.literaturatlas.eu/publications) Prieto, Eric (2001): »Geocriticism, Geopoetics, Geophilosophy, and Beyond«, in: Robert T. Tally Jr. (Hg.), Geocritical Explorations. Space, Place, and Mapping in Literary and Cultural Studies, New York: Palgrave Macmillan, S. 13-28. Schaefer, Barbara (2014): Eintrag »Odojewski, Włodzimierz« in Munzinger Online/KLfG - Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, http://www.munzinger.de/document/18000000536 vom 17.3.2014. Schlögel, Karl (2003): Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Carl Hanser. Spiegel, Hubert (2011): »An der Honiggrenze. Zsuzsa Bánks Helle Tage«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Februar 2011, S. 25. Tondera, Benedikt (2012): »Eden für jeden«, Tagungsbericht eines Workshops an der Universität Basel 2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=4662 vom 17.03.2014. UNESCO: http://whc.unesco.org/en/culturallandscape/#2 vom 17.03.2014. Westphal, Bertrand (2000): La géocritique mode d’emploi, Limoges: PULIM. — (2007) : La Géocritique. Réel, Fiction, Espace, Paris: Les Editions de Minuit.

Der Widerschein vergessener Wonnen1 Zur Virtualität erinnerter Kindheit I NGRID T OMKOWIAK »Nie wieder können wir Vergessenes ganz zurückgewinnen. Und das ist vielleicht gut. Der Chock des Wiederhabens wäre so zerstörend, daß wir im Augenblick aufhören müßten, unsere Sehnsucht zu verstehen. So aber verstehen wir sie, und um so besser, je versunkener das Vergessene in uns liegt.« (WALTER BENJAMIN, BERLINER KINDHEIT UM 1900)

Kindheitserinnerungen und Lektüreerinnerungen sind häufig eng miteinander verbunden. Man erinnert sich nicht nur daran, was man in fernen Kindertagen gelesen, betrachtet, gehört hat, sondern auch, und dies mit einem gewissen wohligen Gefühl, unter welchen Bedingungen, wann, wo und wie es geschah. Autobiographisch geprägte Texte – Memoiren wie Romane – erzählen viel davon. Unterschieden wird dabei oft zwischen verordneter und freiwilliger Literaturrezeption, wobei Letztere in der subjektiven Rückschau zumeist die intensivsten Rezeptionserlebnisse brachte. So schildert es auch der Philosoph und Kulturanalytiker Walter Benjamin in seiner zu Beginn der 1930er Jahre entstandenen Textsammlung Berliner Kindheit um 1900 (Fassung letzter Hand 1938) an mehreren Stellen, sei es, dass es darum ging, in der Schülerbibliothek der Vorschlagsauswahl des Lehrers zu entgehen (»Wie blieb er ganz und gar geprellt als armer Teufel bei seiner Fron zurück, wenn ich schon längst auf einem Zauberteppich unterwegs ins Zelt des letzten Mohikaners oder ins Lager Konradins von Staufen war.», Benjamin 2013: 101), oder lesend am geliebten heimischen Pult in ferne Kontinente zu reisen: »Ich suchte mir die stillste Zeit am Tag und diesen abgeschiedensten von allen Plätzen. Danach schlug ich die erste Seite auf und war dabei so feierlich gestimmt wie jemand, der den Fuß auf einen neuen Erdteil setzt. Auch war es in der Tat ein neuer Erdteil, auf dem die Krim und Kairo, Babylon und Bagdad, Alaska und Taschkent, Delphi und Detroit so nah sich aufeinanderschoben wie die goldenen Medaillen auf den Zigarrenkisten, die ich sammelte. Nichts tröstlicher als derart eingeschlossen von allen Instrumenten meiner Qual – Vokabelheften, Zirkeln, Wörterbüchern – zu weilen, wo ihr Anspruch nichtig wurde.« (Ebd.: 108) 1

Titel in Anlehnung an ein Zitat aus Eco 2004: 280.

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Nach solch intensiver Lektüre veränderte sich auch die Wahrnehmung der häuslichen Umgebung, so Benjamin, etwa das weihnachtliche Wohnzimmer nach dem ersten Hineinschmökern in den zum Geschenk erhaltenen Neuen deutschen Jugendfreund: »Hatte man aber eine Weile vertieft gesessen und trat dann wieder an den Tisch mit den Geschenken, so stand er nicht mehr wie beim ersten Schritt ins Weihnachtszimmer fast gebietend da, sondern es war, als schritte man eine kleine Estrade hinunter, die uns von unserm Geisterschloß wieder in den Abend hinabführte.» (Ebd.: 98)

Als Walter Benjamin in den 1930er Jahren die Erinnerungen an seine Kindheit in Berlin niederschrieb, befand er sich bereits im Ausland und war sich klar darüber, dass er von seiner Geburtsstadt dauerhaft würde Abschied nehmen müssen. Bewusst rief er die Bilder seiner Kindheit in sich hervor, wie er im Vorwort schreibt, um nicht das Gefühl der Sehnsucht, des Heimwehs, über den Geist Herr werden zu lassen: »Ich suchte es durch die Einsicht, nicht in die zufällige biographische sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten.« (Ebd.: 9) Es geht also hier nicht um ein Schwelgen in der Erinnerung, sondern um eine rationale Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit im Kontext ihrer Zeit – sowohl der Zeit um 1900, in der sie sich ereignete, als auch im Kontext der Zeit der (der Erinnerung folgenden) Niederschrift, in der Zeit und Ort dieser Kindheit unwiederbringlich vorbei waren. Benjamin will diese seine Kindheit dabei nicht primär als seine individuelle persönliche Erfahrung verstanden wissen, sondern sieht sie als stellvertretend für eine Großstadt-Kindheit seiner Klasse zur Zeit der Jahrhundertwende an. Deshalb fährt er fort: »Das hat es mit sich gebracht, daß die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten. Mit ihnen die Physiognomien – die meiner Familie wie die meiner Kameraden. Dagegen habe ich mich bemüht, der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt. Ich halte es für möglich, daß solchen Bildern ein eignes Schicksal vorbehalten ist. [...] sind die Bilder meiner Großstadtkindheit vielleicht befähigt, in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren.» (Ebd.: 9; Hervorhebung im Original)

Insbesondere diese Überlegungen sind es wohl, die Theodor W. Adorno veranlassten, Benjamins Prosaminiaturen im Zusammenhang von dessen Gesamtwerk als das komplementäre Gegenüber zum parallel entstehenden und Fragment gebliebenen Passagen-Werk (1928-1929, 1934-1940) zu verstehen. In seinem Nachwort zur Berliner Kindheit um 1900 schreibt er: »Die ›Berliner Kindheit‹ [...] bildet das subjektive Gegengewicht zu den Stoffmassen, die er für das projektierte Werk über die Pariser Passagen zusammentrug. Die geschichtlichen Archetypen, die er in diesem aus ihrem pragmatisch-gesellschaftlichen und philosophischen Ursprung entwickeln wollte, sollten in dem Berliner Buch aus der Unmittelbarkeit der Erinnerung jäh aufleuchten, mit der Gewalt des Schmerzes ums Unwiederbringliche, das, einmal verloren, zur Allegorie des eigenen Untergangs gerinnt.« (Adorno in Benjamin 2013: 111)

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2004 legte Umberto Eco mit dem Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana seine literarische Antwort auf Benjamins Überlegungen – und ihre experimentelle Weiterführung – vor. Dies soll im Folgenden gezeigt und mit Überlegungen zur Medialität bzw. Virtualität erinnerter Kindheit verknüpft werden.

P APIERENES G EDÄCHTNIS Der Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana von Umberto Eco erzählt von dem Mailänder Antiquar Yambo, der nach einem Unfall aus dem Koma erwacht. Über sein Bildungswissen verfügt er zwar noch, doch sein persönliches, autobiografisches Gedächtnis hat er verloren. Er beginnt, in aufgehobenen Erinnerungsstücken danach zu suchen: »Der erste Karton war voller Fotografien aus meiner Kindheit. Ich erwartete mir wer weiß was für Offenbarungen, aber nichts. Ich empfand nur eine gewisse, fast religiöse Ergriffenheit. [...] Nur ein Foto hat mich wirklich gerührt: Es war ein vergrößerter Schnappschuss, man sah es an der Unschärfe, und man sah einen kleinen Jungen, der ein bißchen verlegen den Kopf hinunterbeugt, während ein noch kleineres Mädchen in weißen Schühchen auf Zehenspitzen steht, ihm die Hände um den Hals legt und ihn auf die Wange küßt. So hatten uns die Mama oder der Papa überrascht, während Ada mich spontan, vielleicht müde vom Posieren, ihrer schwesterlichen Liebe versicherte. Ich wußte, daß ich der Junge und sie das Mädchen war, ich konnte nicht umhin, bei diesem Anblick gerührt zu sein, und doch war es so, als sähe ich einen Film und empfände die Rührung als Außenstehender, vor einer künstlerischen Darstellung der Geschwisterliebe. [...] Es heißt, wir hätten zwei Hemisphären im Hirn, die linke, die für die rationalen Beziehungen und die verbale Sprache zuständig ist, und die rechte, die sich um die Gefühle und das visuelle Universum kümmert. Vielleicht war meine rechte Hälfte gelähmt. Oder nein, doch nicht, denn ich verzehre mich auf der Suche nach etwas, und die Suche ist eine Leidenschaft, nicht ein Gericht, das man kalt wie die Rache genießt. Ich legte die Fotos zurück, die mir nur Sehnsucht nach dem Unbekannten einflößten, und öffnete den zweiten Karton.» (Eco 2004: 304-306)

Mit Hilfe von Büchern, Heften, Bildern, Werbeanzeigen und Schlagerschallplatten, die seine Kindheit in den 1930er und 1940er Jahren begleiteten und die er auf dem Dachboden im Landhaus seines Großvaters wiederfindet, tastet sich Yambo in seine Kindheit zurück. Im Wissen um die konstituierende Bedeutung dieses populärkulturellen Universums für sein Bewusstsein und mit einer Flut entsprechender Reminiszenzen in seinem Kopf begibt sich der Erwachsene Yambo auf die Suche nach seinem Ich. »Ein Gedächtnis aus Papier« heißt denn auch der zweite Teil des Romans. Der Dachboden wird zu einem Raum erinnerter Kindheit. Dass Ecos Protagonist sich in diese Dachbodenschätze vertieft, gibt dessen Frau Paola zu Beginn des Romans allerdings zu denken:

106 | I NGRID T OMKOWIAK »›... ich fürchte, daß du dich mit dem, was du liest, zu sehr identifizierst, denn dann leihst du dir das Gedächtnis von anderen aus. Bist du dir über den Abstand zwischen dir und diesen Geschichten im klaren? [...] du fühltest dich unterdrückt von einer Enzyklopädie, die aus Homer, Manzoni, Proust und Flaubert bestand, und jetzt hast du dich in die Enzyklopädie der Trivialliteratur begeben. Das ist doch kein Gewinn.‹ – ›O doch, das ist einer‹, antwortete ich, ›denn erstens ist Stevenson keine Trivialliteratur, und zweitens ist es nicht meine Schuld, wenn der Typ, den ich wiederfinden will, Trivialliteratur verschlungen hat [...].‹ – ›[...] Wenn du das Gefühl hast, daß es dir hilft, dann mach weiter. Aber vorsichtig, laß dich von dem, was du liest, nicht vergiften.‹» (Ebd.: 180)

Dieser kleine Dialog zeigt zum einen das Spannungsfeld auf, in dem Populärkultur steht: Das, was Yambo als Jugendlicher verschlungen hat, zählt nach Paolas Definition zum Schund. Zum anderen aber wird hier ihre Vorstellung eines gleichsam reinen, nicht kontaminierten Gedächtnisses vorgebracht und zugleich für unmöglich erklärt: Der Typ, den Yambo wiederfinden will, hat Trivialliteratur verschlungen, und diese Lektüreerfahrung und deren Inhalte sind nun genauso untrennbar mit ihm verbunden wie das Wissen um die »kulturelle Unwürdigkeit« (Bourdieu) seines Lesestoffs und der Reiz des Verbotenen. Unter den Dachbodenschätzen in des Großvaters Haus findet sich auch das Heft, dem der Titel des Romans entliehen wurde: La misteriosa fiamma della regina Loana, aus der Reihe mit Abenteuern von Cino und Franco von Lyman Young, in Italien 1935 erschienen. Yambo erzählt: »Ich schlug das Heft auf und vertiefte mich in die fadeste, dümmste Geschichte, die je ein menschliches Hirn sich hatte ausdenken können. [...] Du liest als kleiner Junge eine beliebige Geschichte, dann läßt du sie im Gedächtnis wachsen und reifen, transformierst sie, überhöhst sie, steigerst sie ins Erhabene, und so kommt es vor, daß du dir eine völlig sinnlose Geschichte zum Mythos erwählst. Tatsächlich war das, was mein eingenicktes Gedächtnis befruchtet hatte, nicht die Geschichte an sich gewesen, sondern der Titel. Ein Ausdruck wie fiamma misteriosa hatte mich in Entzücken versetzt, zu schweigen von dem süß klingenden Namen Loana [...]. Während der ganzen Jahre meiner Kindheit – und vielleicht auch noch später – hatte ich nicht ein Bildnis, sondern einen Laut angeschwärmt. [...] Und Jahrzehnte später, als mein Gedächtnis blockiert war, hatte ich den Namen einer in Kindertagen verehrten Flamme reaktiviert, um den Widerschein vergessener Wonnen zu bezeichnen.« (Ebd.: 278-280)

Diesen Satz kann man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Reaktivierung des Namens verhilft dem Protagonisten zu einer Bezeichnung des Widerscheins vergessener Wonnen. Dieser Protagonist ist sich völlig darüber im Klaren, dass er seine Kindheit nicht 1:1 wiederfinden kann. Auch geht es ihm gar nicht nur um dieses Wiederfinden, sondern um eine Einschätzung aus dem Heute.

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D ER R EIZ

DES

V ERBOTENEN

ODER :

L EKTÜRE

IM

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V ERSTECK

Das Oszillieren zwischen Faszination und Abwehr, wie es nicht nur an dieser Stelle des Romans deutlich wird, ließe sich vielleicht mit Hans-Otto Hügels Begriff der ästhetischen Zweideutigkeit der Unterhaltung fassen (vgl. Hügel 1993 und 2007). Die Rezeption von populären Lesestoffen ist stets ambivalent: Wer kennt nicht das Lesen verbotener Hefte auf der Toilette, hoch oben im Baum oder unter der Bettdecke? Bei dem man genau weiß, dass dieser Lesestoff als minderwertig gilt, dessen literarische Schwächen als solche erkennt und ihn gerade deshalb lustvoll erlebt – und sich gleichzeitig dafür schämt (vgl. Maase 2001 und 2011). Das Verstecken von Lesestoff oder verbotenes Lesen im Verborgenen gehört zur Erfahrung von Kindern vieler Generationen und somit sind auch diese heimlichen Lektüre-Orte (wie auch Orte des Lesestofferwerbs, -tauschs oder seiner Ausleihe) Bestandteile einer Topographie der Kindheit. Dazu seien hier einige Beispiele angeführt, und am Anfang soll Walter Benjamin stehen, der in der Berliner Kindheit um 1900 von einer Zeit fiebriger Krankheit erzählt, in der ihm das Lesen vom Arzt verboten worden war: »Mein Bett, das sonst der Ort des eingezogensten und stillsten Daseins gewesen war, kam nun zu öffentlichem Rang und Ansehen. Auf lange war es nicht mehr das Revier heimlicher Unternehmungen am Abend: des Schmökerns und meines Kerzenspiels. Unter dem Kissen lag nicht mehr das Buch, das sonst allnächtlich nach verbotenem Brauch mit letzter Kraft dort hingeschoben wurde. [...] vielleicht raubte die Krankheit mir im Grunde nichts als jenes atemlose, schweigsame Spiel, das niemals frei von einer geheimen Angst für mich gewesen war – Vorbotin jener späteren, die ein gleiches Spiel am gleichen Rand der Nacht begleitete. Die Krankheit hatte kommen müssen, um mir ein reinliches Gewissen zu verschaffen.« (Benjamin 2013: 38; vgl. auch ebd.: 88f.: lustvoll erlebte, verbotene Lektüre der Werke E.T.A. Hoffmanns)

Interessant ist hier die offen zutage tretende Einprägung des nächtlichen Tuns als etwas Verbotenen und ein Grad von Selbstdisziplinierung bzw. Selbstzivilisierung, der soweit geht, die aufgetretene Krankheit als Strafe und Heilmittel zur Erreichung eines guten Gewissens zu begreifen. Der Schweizer Autor Paul Wehrli teilt in seinem autobiographisch gefärbten Buch Martin Wendel. Roman einer Kindheit (1942) über den Sohn eines Briefträgers im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl einiges über die Bedingungen von dessen Lektüreerfahrungen mit. Deutlich wird, dass die Aura des Missliebigen und Verbotenen, die die Lektüre im Verborgenen umgab, die Intensität des Genusses ganz offenbar erhöhte (vgl. Maase 2012: 118): »Ich riß Schmid das Heft aus der Hand, gab ihm den Apfel dafür und barg das Heft in der Hose [...] raste nach Hause, raste wie der Sturmwind einherbraust, hinauf in den dritten Stock, hinein in den Abort, wo ich das Heft in den Luftschacht emporschleuderte. Am Abend las ich es. Es war die schönste Geschichte von Ruby, die mir je vor die Augen gekommen war.« (Wehrli 1942: 86f.)

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Aus der unmittelbaren Nachkriegszeit in Westdeutschland berichtet Heinz Galle, Laienforscher und Sammler sogenannter Trivialliteratur, in einem Beitrag mit »Erinnerungen aus einem Leben mit Groschenheften« Ähnliches. Er und seine Freunde werden von einem neu eröffneten Kiosk im Nachbardorf magisch angezogen: »Eine kleine Bretterbude, an deren Wänden bunte Zeitschriften hingen, und ganz versteckt zwischen Kristall, Revue und Quick die ersten Hefte der Nachkriegszeit. Mit Wäscheklammern an einer Schnur befestigt hingen dort Sun Koh, der Erbe von Atlantis; Rah Norten, der Eroberer des Weltalls; Frank Kenney, Kriminalabenteuer aus unserer Zeit; Rolf Torring‹s Abenteuer oder Robert Perkins und seine 1000 Abenteuer und wie sie alle hießen – wer konnte da widerstehen? [...] Die Hefte waren für uns, die wir förmlich ausgehungert waren nach derartiger Lektüre, das große Erlebnis, die Erfüllung aller Sehnsüchte, der Weg in ferne Tropenzonen, gepflastert mit wilden Abenteuern. Wir stürzten uns wie die Verrückten auf die dünnen Hefte. [...] Vorsichtig wurde der Schatz unter das Hemd geschoben und dann ging es per pedes wieder die neun Kilometer zurück, diesmal allerdings noch etwas schneller als auf dem Hinweg. Zuhause angekommen verschwand ich im Heuboden und ward für Stunden nicht mehr gesehen. Ich lag auf dem Boden eines alten Stalles im Heu, in Gedanken war ich jedoch weit weg, war in London und erlebte mit, wie der Held vom Himmel schwebte und begann, die englische Metropole in Atem zu halten. In der Haferkiste, gut verpackt, verschwand dann das Heft, um vierzehn Tage lang, bis zum Erscheinen der nächsten Nummer, immer wieder gelesen zu werden. Für mich tat sich damals ein Spalt zur Welt auf, und so [...] erlebte der Knabe auf dem Dorfe den Aufbruch in die Welt der Abenteuer.« (Galle 2008: 29f.)

Es ist eine Art Lasur, die sich mithilfe der Heftromane über den tristen Alltag der Jungen ziehen lässt, diesen erträglich macht und das Leben als Aufbruch bzw. Ausbruch zu denken ermöglicht. Im ersten Teil seines Doku-Dramas Eine geschlossene Gesellschaft (1987) über seine Jugend am katholischen Internat Canisianum in Lüdinghausen in den 1950er Jahren erzählt auch der Regisseur und Autor Heinrich Breloer vom heimlichen Lesen mit der Taschenlampe im Bett, abends, wenn man sich unbeobachtet wähnte und dann doch erwischt wurde – was der Liebe zur verbotenen Heftliteratur jedoch keinen Abbruch tat. Es waren Geschichten wie die von der Königin Loana, mit wilden Tieren und siegreichen Kämpfen im Dschungel, mit körperbetonten Darstellungen männlichen Heldentums und weiblicher Attraktivität, in die man sich hineinträumte, und genau diese waren den Erziehern auch noch jener Zeit ein Dorn im Auge. Wie Breloers Film zeigt, sahen die Erzieher diese Heftliteratur im Widerspruch zu christlichen Moralvorstellungen und angestrebten ästhetischen Standards. In Ecos Roman knüpft sich eine solche Lektüre-Erinnerung an Yambos erstes sexuelles Erlebnis: »War es in jenem Jahr oder im folgenden, daß der erste Comic für Erwachsene, Grand Hotel, herauskam? Das erste Bild des ersten Fotoromans verlockt mich und treibt mich zugleich in die Flucht. Nichts jedoch im Vergleich zu dem, was ich dann in Großvaters Laden entdeckte, eine französische Illustrierte, die mich, als ich sie aufschlug, vor Scham erglühen ließ. Ich entwendete sie kurz entschlossen, schob sie mir unters Hemd und machte mich aus dem Staub. Zu Hause liege ich dann bäuchlings auf dem Bett, genau in der Haltung, von der die frommen

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Traktätchen abraten, und blättere in der Illustrierten. Auf einer Seite, ziemlich klein, aber aufregend deutlich, ein Foto von Josephine Baker mit nacktem Busen. [...] Es muß meine erste Ejakulation gewesen sein: Sie kommt mir vor wie etwas Verbotenes, noch verbotener, als einem Deutschen die Kehle durchzuschneiden.« (Ebd.: 427f.)

Mit dem letzten Satz dieses Zitats führt Yambo sich – bzw. Eco die Leserschaft – wieder in die erzählte Gegenwart und dann sogleich wieder zurück in die Zeit des Faschismus und deren erinnerte Ideologie.

V ERMISCHUNG

VON

B IOGRAFISCHEM

UND

M EDIALEM

Mit Rocambole, Nick Carter, Mickey Mouse, Flash Gordon, Fantomas und all den anderen Heroen aus Groschenheften und Pulp Fiction hatte sich der kleine Yambo im faschistischen Italien Mussolinis eine Parallelwelt geschaffen. Jetzt ist der Erwachsene auf der Suche nach dem, was sein Ich konstituiert. Lese-, Seh- und Hörerlebnisse – bzw. die neu gewonnene Erinnerung daran – überlagern die physischen Erfahrungen und Erlebnisse der Vergangenheit oder sind mit ihnen vermischt. Auf den letzten Seiten seines Romans Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, beim halluzinierten großen Finale vor Yambos Tod, einer Nummernrevue der populären Figuren auf der Treppe von Yambos Gymnasium (der Showtreppe in Vincente Minnellis Musicalfilm An American in Paris, 1951, nachgebildet), lässt Eco die Vermischung von Biografischem und Medialem augenfällig werden: Die so entstehende erinnerte Kindheit ist eine virtuelle Kindheit. Bruchstücke aus den auf dem Dachboden vorhandenen Medien formen sich zusammen mit aufscheinenden Erinnerungen zu einer gedachten Entität, die zwar so nicht physisch vorhanden ist, auch so nicht in der Vergangenheit vorhanden war, aber doch Wirkung erzeugt hat und immer noch erzeugt und die Funktionalität besitzt. Die Kindheit existierte nicht in der Form, in der sie existiert zu haben scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung gleicht sie einer möglichen Kindheit in der erinnerten Zeit. Eco erzählt hier nicht nur von individuellem Erinnern auf einer Spurensuche im Alltag. Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana ist auch kein autobiographischer Text im Sinne Philippe Lejeunes – verstanden als Identität von Autor, Erzähler und Protagonisten, auf die der Leser sich verlassen könne und die ihm (im Gegensatz zur Fiktionalität) die Faktualität des Textes garantiere (vgl. Lejeune 1975). Anhand seiner zusammengetragenen Sammlung populärkultureller Artefakte lässt der Autor Eco den Ich-Erzähler Yambo zwar Umstände und Ereignisse schildern, wie sie ihm auch in seiner eigenen Kindheit und Jugend begegnet sind, dennoch ist er mit seinem etwa gleichaltrigen Protagonisten nicht gleichzusetzen. Dieser steht stellvertretend für eine ganze Generation, der Roman ruft das kulturelle Gedächtnis einer Epoche auf und bringt die mediale Alltagskultur ihrer Zeit in Erinnerung. Dabei geht Eco von den Gegebenheiten aus: »Ob wir es anerkennen oder nicht, das Universum der Massenkommunikation ist unser Universum«, schrieb er bereits in den 1960er Jahren in seinem Buch Apokalyptiker und Integrierte (Eco 1992: 18). Im Jahr 1984, als nach zwanzig Jahren die erste deutsche Übersetzung seines Buches erscheint, schreibt Eco eigens ein Vorwort zur deutschen Ausgabe, in dem er unter anderem die selbst

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gestellte Frage beantwortet, weshalb er sich seit Ende der fünfziger Jahre für die Phänomene der Massenkultur interessiere (vgl. dazu Tomkowiak 2014): »Ich las Comics und Kriminalromane, ich liebte die Filme von Fred Astaire und das Musiktheater des Broadway. Vielleicht schämte ich mich heimlich dafür, da viele berühmte Schriftsteller mir sagten, daß dies alles nichts tauge. [...] Später bewunderte ich Walter Benjamin, weil er, im Unterschied zu seinen Freunden der ›Frankfurter Schule‹, die Massenkultur mit großer und wacher Neugier und ohne Vorverurteilung studierte.« (Eco 1992: 9f.)

Doch gehen wir nochmal zum Anfang des Romans: Der erste Mensch, den Yambo nach dem Aufwachen aus dem Koma sieht, ist ein Arzt, der ihn nach seinem Namen fragt. »Ich heiße Arthur Gordon Pym«, antwortet Yambo und weiß sogleich, dass dies nicht stimmen kann (Eco 2004: 10). Er hat sich verloren, in seinem Kopf gibt es nur mehr Zitate. Sie sind seine »einzigen Leuchten im Nebel« (ebd.: 74). Der Bezug auf Edgar Allan Poes Roman The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838) aber ist Programm. Poes Text schildert das Erlebnis einer inneren Reise, die Geschichte der Entwicklung der Weltanschauung des Protagonisten. Und eben dies ist auch Ecos Thema. Wie alle Romane Ecos lässt sich Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana auf unterschiedliche Weise lesen: Als Reise in die individuelle Biographie des Helden. Als theoretische Aussage über das Funktionieren des Gedächtnisses. Als Kommentar zur Macht der Medien über das Individuum. Als Rekonstruktion der Bewusstseinsbildung einer Generation. Als Thesenroman über die Bedeutung des Populären, für die Bewusstseinsbildung des Einzelnen, der Bevölkerung – für das kulturelle Gedächtnis. Umberto Eco konstruiert in seinem Roman den Rückblick auf eine Zeit, in der – wie auch in anderen Zeiten – vieles nebeneinander stand: faschistische Propaganda und amerikanische Comics, Schlagerschnulzen über den süßen Zauber der Liebe und lustfeindliche Unterweisungsbüchlein aus dem Religionsunterricht, militaristische Märsche und Befreiungslieder der Partisanen. Es ist dieses Nebeneinander, das ihn interessiert. Die Artefakte der Massenkultur »wurden damit«, so Eco, »zu wichtigen Dokumenten, die uns sagen, dass sich unter der großen Geschichte Bewegungen, Dinge, Ablagerungen befinden, die man mit bedenken muss.« (Umberto Eco – der Bestseller-Professor 2005) Es geht Eco um die Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit von Massenkultur: »Plunder, der es gleichwohl verstanden hat, Mythen zu schaffen und die Bilderwelten von mehr als einer Generation zu bevölkern«, hatte er in anderem Zusammenhang formuliert (Eco 1986: 81) – hierin steckt eine These, die er in seinem Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana anschaulich ausführt. Dieser Roman sei ein Memorial-Projekt, das den Allerweltsprodukten der Massenkultur verpflichtet sei, schreiben Sigrid Löffler und Henning Klüver – eine Art Anti-Proust, und sie zitieren den Autor:

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»Deshalb muss man konträr zu Proust vorgehen – keine privaten, nur objektive, unpersönliche Erinnerungen. Da mein Held sein persönliches Gedächtnis verloren hat, muss er versuchen, es anhand objektiver Materialien zu rekonstruieren – und die hat er mit seiner ganzen Generation gemein.« (Eco, zitiert bei Klüver/Löffler 2004)

Über den Griff in den medialen Fundus ruft der Roman das kulturelle Gedächtnis einer ganzen Epoche auf und führt in einen virtuellen Kindheitsraum, in dem erinnertes Erlebtes mit erinnertem Gelesenem, Gesehenem, Gehörtem – aus derselben, aber auch aus andereren Zeiten des Lebens – untrennbar verschmilzt. Zwar leiht Eco seinem Protagonisten seine allerpersönlichsten Erfahrungen, doch nicht nur diese: »Es ist unmöglich, eine Romanfigur zu entwerfen, ohne sie mit eigenen Erfahrungen, Ideen und Emotionen auszustatten. Eine Menge persönlicher Kindheitserinnerungen sind in den Roman eingegangen, aber er erzählt die Geschichte meiner Generation. Außerdem war ich so frei, meinem Helden auch die Erinnerungen anderer Leute zuzuschreiben. [...] An einem bestimmten Punkt der Sammelwut entschloss ich mich, das Buch zu beenden, denn ich war nahe daran, verrückt zu werden. Ich wurde zum Autisten. Ich habe nur noch im Internet gesurft und die alten Schlager-Ohrwürmer gesummt. Ich musste diesem Alptraum ein Ende machen – aber es war ein wundervoller Alptraum.« (Ebd.)

Eco betrachtet seine Bücher als historische Revisitationen. Und eine solche sei auch der Loana-Roman, allerdings ganz eigenen Charakters: »nicht eine hochnotpeinliche Rekonstruktion von Dokumenten, sondern eine Art Live-Show« (ebd.). Dafür habe er die Erscheinungen der faschistischen und post-faschistischen Alltagskultur mit politischen Materialien, etwa Mussolini-Reden oder Propaganda-Liedern, verschnitten: »Es herrscht ein ständiger Austausch zwischen Geschichte, groß geschrieben, und den Geschichten der kleinen Leute, ein zivilisatorischer clash. Die Zeitungen berichteten von der Schlacht um El Alamein oder vom Bombenabwurf auf Hiroshima, aber das Radio dudelte dazu seichte Schlager.« (Ebd.)

A UFSCHEINEN

DER E RINNERUNG STATT TOTALISIERENDER E MPATHIE Ein gänzlich anders geartetes, aber dennoch vergleichbares Memorial-Projekt verfolgt der Historiker Gerhard Paul mit dem von ihm herausgegebenen Bildatlas Das Jahrhundert der Bilder, der die visuelle Geschichte des 20. Jahrhunderts und den entsprechenden Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses nachzuzeichnen versucht. In Anlehnung an Siegfried Kracauers Diktum aus den 1920er Jahren vom »Photographiergesicht« der Welt, nach dem die visuelle Realität wie ein Schleier über der äußeren Wirklichkeit liege (Kracauer 1963: 34) – geht er dabei von einer durch die Bilderwelt geschaffenen zweiten Realität aus, die genauso handlungsbestimmend geworden sei wie die erste (vgl. Paul 2009: 25). Soziale Wirklichkeit habe sich, so Paul mit Bezug auf den Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier, in

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eine Medienwirklichkeit verwandelt, in eine medial vermittelte Dimension von Welterfahrung, »die mit den Wahrnehmungen des Alltags teils konkurriert, sie teils unterwandert, teils mit ihnen jene Allianzen eingeht, die sehr bald zum festen Inventar des modernen Bewusstseins gehören« (Kreimeier zitiert ebd.: 25). Bilder seien nicht nur das Medium, mit und in dem Politik, Kultur und Werbung gemacht würden, sondern auch der Stoff, in dem sich unser Bild von der Vergangenheit forme, Geschichte entstehe (ebd.: 27): »Die visuellen Medien und ihre Erzeugnisse haben Politik, Wirtschaft und Kultur dieser Zeit entscheidend geformt. Sie haben Weltbilder vermittelt, Sichtweisen geprägt und schließlich auch noch die Erinnerung bestimmt. In diesem Sinne haben sie gleich mehrfach Geschichte gemacht.« (Ebd.: 14; Hervorhebung im Original)

Diese Bilderzählung wird je nach Ereignissen und individuellen Befindlichkeiten neu montiert und mit persönlichen Bedeutungen und Legenden versehen. Erinnerte Kindheit ist so verstanden eine assoziative Montage von Einzelbildern, Bildsequenzen und Bildclustern unterschiedlichster Gattungen, vergangene wie gegenwärtige Mentalitäten und Deutungskonjunkturen verbinden sich mit schnappschussartigen Einblicken in vergangene Zeiten und Räume. Paul kommt hier auch auf die Unzuverlässigkeit dieser Bilderzählung zu sprechen: »Allerdings: wir erinnern uns in Bildern, oft genug, ohne zu wissen, woher wir sie beziehen, wer sie gemacht hat oder was sie ausblenden. Gerade die Ungebundenheit und Unverbundenheit der Bilder, ihre Mehrdeutigkeit und Ambivalenz macht sie offen für Assoziationen, Umdeutungen und Projektionen jedweder Art [...]. Dieses Konglomerat besitzt – wie es auf den ersten Blick scheint – anders als die lineare Rekonstruktion der Geschichte durch die Chronisten keine festgefügte grammatikalische Struktur.« (Ebd.: 27)

Nur als Bilder sei uns die Vergangenheit präsent, hatte schon der von Eco geschätzte Walter Benjamin geschrieben (vgl. ebd.), und es verwundert nicht, dass Eco den Weg Yambos in seine Erinnerung bzw. die Rekonstruktion des kulturellen Gedächtnisses seiner Generation eng entlang Überlegungen Benjamins gestaltet. Dem Autor Eco dient die »mysteriöse Flamme« als Metapher Yambos für das Aufscheinen seiner Erinnerung. Yambo beschreibt dies seiner Frau Paola so: »Es ist eher so, daß ich etwas in mir gespürt habe. Etwas wie einen Schauder. Nein, keinen Schauder. [...] So, wie wenn uns jemand aus der vierten Dimension berühren würde [...]. Ich würde sagen ... eine mysteriöse Flamme.« (Eco 2004: 79) Was Ecos Helden hier durchzuckt, ließe sich mit Benjamin als blitzhafte Erkenntnis fassen, wie er sie in seinem Passagen-Werk umschrieben hat: »Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.« (Benjamin 1982: 576) Es geht um jene »blitzartig aufleuchtende Erkenntnis, bei der das Vergangene mit dem Gegenwärtigen in unmittelbaren Bezug tritt, die Träume und Wunschbilder eines Kollektivs erfasst sowie die Trugbilder und Phantasmagorien aufgedeckt werden«, fasst Winfried Nerdinger zusammen (Nerdinger 2011: 12).

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Benjamin selbst arbeitete mit einem komplexen System von Verweisen, Archivierung und Indexikalisierung, ihn inspirierte der unvollendet gebliebene Bilderatlas Mnemosyne (1927-29) des Kunst- und Kulturhistorikers Aby Warburg (vgl. Warburg 2000 und Kany 1987). Für diesen waren die gesammelten Bilder unterschiedlichster Herkunft Engramme, materielle Zeichen des kollektiven kulturellen Gedächtnisses. Benjamin stellte in seinem Werk Verbindungen zwischen seinen eigenen Texten, Zitaten anderer oder allgemeinen Begriffen her, die sich über die traditionelle Argumentation legten. Aus bestimmten Reihungen autonomer Materialien, aus der dialektischen Entgegensetzung von Gegenständen, deren Einzelbedeutung unmöglich zu versprachlichen sei, entstehe eine neue Bedeutungskonstellation – ein Erkenntnisvorgang, den Benjamin (mit Bezug auf André Breton in dessen Roman Nadja von 1928) als »profane Erleuchtung« bezeichnete. Mit dem Aufreißen der Oberfläche durch Montage, verknüpft mit der Rationalität der Konstruktion, verbindet sich bei Benjamin ein neuer Blick auf die Geschichte bzw. die Geschichtsschreibung: Entscheidende politische Ereignisse lassen sich in scheinbar unbedeutenden Momenten, Anekdoten und trivialen Gesten entdecken, »in Situationen also, die bescheiden mit der totalisierenden Empathie brechen, die uns die etablierte Realität als die einzig historisch mögliche sehen lässt« (vgl. Rendueles/Useros 2011: 56-63, Zitat 63). Wie später Eco, denkt Benjamin Geschichte als Ansammlung von scheinbar bedeutungslosen Dingen, denen wir von der Gegenwart aus Sinn verleihen: »Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.« (Benjamin 1972: 696) Was der Autor Umberto Eco in seinem kulturanalytischen Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana praktiziert, ist eine Konstruktion im Sinne von Benjamins profaner Erleuchtung: Es geht ihm darum, »›durch den Blutnebel‹ [Walter Benjamin] der Geschichte hindurch zu blicken» (Nerdinger 2011: 13) und durch die im Rahmen eines virtuellen Kindheitsraumes geschaffene Kombination populärer Text-, Bild- und Musikprodukte unter der Oberfläche liegende gesellschaftliche Zusammenhänge und Bedeutungen freizulegen.

L ITERATUR Primärliteratur Benjamin, Walter (1972-99): Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Bd. 1 (1972); Bd. 5 (1982). — (2013): Berliner Kindheit um 1900. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno. (Fassung letzter Hand und Fragmente früherer Fassungen), Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch. [1987] Breton, André (1985): Nadja. Übersetzt von Max Hölzer, Leipzig: Insel. [1928] Eco, Umberto (1986): Nachschrift zum ›Namen der Rose‹. Übersetzt von Burkhart Kroeber, München: dtv. [1983]

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— (1992): Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Übersetzt von Max Looser, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. [1964] — (2004): Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Illustrierter Roman. Übersetzt von Burkhart Kroeber, München und Wien: Hanser. Poe, Edgar Allan (1986): The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, Harmondsworth: Penguin. [1838] Wehrli, Paul (1942): Martin Wendel. Roman einer Kindheit, Zürich: Büchergilde Gutenberg. Young, Lyman (1935): La misteriosa fiamma della regina Loana, Florenz: Nerbini. [1934] Sekundärliteratur Galle, Heinz (2008): »Sun Koh, mein Held aus Atlantis. Erinnerungen aus einem Leben mit Groschenheften«, in: Schloßmuseum des Marktes Murnau (Hg.): Atlantis steigt auf. Paul Alfred Müller. Science Fiction aus Murnau, Murnau am Staffelsee: Schloßmuseum Murnau, S. 29-35. Hügel, Hans-Otto (2007): Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und populärer Kultur, Köln: von Halem. — (1993): »Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie«, in: montage/av 2, S. 119-141. Kany, Roland (1987): Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen: Niemeyer. Klüver, Henning/Löffler, Sigrid (2009): Apocalypso aus Sprache und Zeichen, http://www.cicero.de/salon/apocalypso-aus-sprache-und-zeichen/45690?seite=1 vom 30.12.2013. Kracauer, Siegfried (1963): Das Ornament der Masse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lejeune, Philippe (1975): Le pacte autobiographique, Paris: Éd. du Seuil. Maase, Kaspar (2011): Das Recht der Gewöhnlichkeit. Über populäre Kultur (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Band 111), Tübingen: TVV. — (2012): Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt a. M.: Campus. — (2001): »Texte und Praxen. Populärliteraturforschung als historische Ethnografie«, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 97, S. 43-51. Nerdinger, Winfried/Barja, Juan (2011): Walter Benjamin. Eine Reflexion in Bildern, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Nerdinger, Winfried (2011): »Breton und Le Corbusier umfassen. Walter Benjamin und die Architektur«, in: Nerdinger/Barja, Walter Benjamin. Eine Reflexion in Bildern, S. 11-18. Paul, Gerhard (2009): »Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses«, in: Ders. (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 14-38. Rendueles, César/Useros, Anna (2011): »Walter Benjamin. Konstellationen«, in: Nerdinger/ Barja, Walter Benjamin. Eine Reflexion in Bildern, S. 53-99.

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Tomkowiak, Ingrid (2014): »Lili Marleen auf Latein. Umberto Eco und das Populäre«, in: Thomas Forrer/Angelika Linke (Hg.), Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse, Zürich: vdf, S. 127-145. Umberto Eco – der Bestseller-Professor, 3sat, kulturzeit extra, 9.7.2005, http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/specials/80399/index.html vom 30.12.2013. Warburg, Aby (2000): Der Bilderatlas Mnemosyne. Hg. von Manfred Warnke/ Claudia Brink, Berlin: Akademie Verlag. Filmografie AN AMERICAN IN PARIS (1951) (USA, R: Vincente Minelli) EINE GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT (1987) (BRD, R: Heinrich Breloer)

[ »Himmel & Hölle« – Handlungsräume der Kindheit

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Orte der Kindheit – im Bild erinnert Ein Essay H UBERT S OWA

Orte unserer Kindheit können wir uns jederzeit imaginativ vergegenwärtigen. Schon die an uns gerichtete Aufforderung, solche Orte zu benennen, kann einen Strom biographischer Erinnerungen auslösen, der sich – kaum fängt man an einer konkreten Stelle an – verzweigt und vernetzt und zu einem wuchernden Imaginationsgeschehen wird. Die Vernetzungsstruktur wird von zumindest zwei deutlich unterscheidbaren Prinzipien beherrscht: Orte verknüpfen sich in narrativen Folgen oder in topographischen Folgen. Wir können etwa den Erlebniskomplex eines Ferienaufenthaltes am Meer mit seinen verschiedenen Erlebnisorten vergegenwärtigen, wir können aber auch gedanklich durch unser Elternhaus wandern oder den alten Schulweg entlanggehen. Beide imaginative Operationen unterscheiden sich in ihrer mentalen

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Handlungsstruktur voneinander, haben aber auch miteinander zu tun: Ortserinnerungen ergeben sich aus episodisch-narrativen Handlungserinnerungen und sind eng in sie eingewoben – aber umgekehrt füllen sich erinnerte topographische Komplexe alsbald mit narrativ vergegenwärtigten Ereignissen, die dort ›stattgefunden‹ haben. Eine ›reine‹ Ortsvorstellung ist imaginativ nicht zu leisten (außer natürlich in der geometrischen Vorstellungsform), weil sich episodische Erinnerungen nicht aus ihr fernhalten oder ausschalten lassen, und umgekehrt kann man keine narrative Imagination von biographischen Episoden leisten, ohne von den Handlungen der darin vorkommenden Personen auf die szenischen und topographischen Raumstrukturen ›abzuschweifen‹. Im Vorfeld des Symposiums „Topographien der Kindheit“ an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg im Frühsommer 2013 arbeitete ich mit einer Gruppe von Kunstpädagogikstudierenden an einem performativen Ausstellungskonzept zu Orten der Kindheit. Die Studierenden stellten sich in diesem Zusammenhang die Aufgabe, Orte ihrer Kindheit zu fotografieren – entweder die realen Orte selbst oder Orte, die diesen in einem imaginativen Bezug entsprechen und assoziativ Erinnerungen zu aktivieren vermögen. Die folgende Auswahl von Bildern soll einige Aspekte der topographischen Kindheitserinnerung sichtbar machen und die Komplexität der räumlichen Imagination andeuten. Zugleich sollte beachtet werden: Wenn eine Gruppe junger Erwachsener Orte ihrer Kindheit Photographisch zur Darstellung bringt, bilden sie nicht einfach biographische Realität ab, sondern praktizieren gemeinsam eine bestimmte ›Kultur‹ der Raumerinnerung, die auch bestimmten Konventionen der Verbildlichung folgt. Was diese Bilder zeigen, wird nur in der von Anfang an dazugehörigen bildpragmatischen Nutzung der Bilder greifbar: In den Erzählungen, in denen – in Kooperation mit den Zuhörenden und Betrachtenden – die Bedeutung der Bilder konstruiert wird. Die folgenden Bilder sind nur eine kleine Auswahl aus einem größeren Fundus, der erarbeitet wurde von Karin Grübele, Patricia Otte, Sophia Lange und Karoline Merz. Die Liste der Bilder, die uns im Seminar durch den Kopf gingen ist viel länger und wäre immer weiter fortsetzbar: Mit Eisdiele, Badezimmer, Keller, unter dem Bett, Besenschrank, Schlittenberg, Beichtstuhl, Kirchenbank, Kindergartengarderobe, Großmutters Küche, Hallenbad, Schultoilette, Treppenhaus, Garage …

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S TADT

Das Foto zeigt das kindliche Stadterleben in der Brechung durch künstlerische Gestaltungsarbeit: Ein Kind baut ein Stadtmodell und schematisiert dabei sein Raumerleben in seinen topographischen und emotionalen Aspekten. Das freie imaginative Spiel wird im Modellbau in gestalthafte Konkretion gebracht. Es gibt Wege, Richtungen, vereinzelt gesetzte Häuser, Fahrzeuge, Farben, aber es gibt auch Unbestimmtheits- und Fehlstellen. Es entsteht eine subjektive Topographie, die vermutlich an einzelnen Stellen mit individuell erlebter Realität besetzt ist. Zugleich aber wird der Topos – typisch für rein imaginativ gesteuerte Gestaltungsarbeiten von jüngeren Kindern – ›Stadt‹ in allgemein-symbolischer Weise schematisiert: Die Häuser sind ›hoch‹, sie sind ›anonym‹, sie sind relativ willkürlich verstreut.

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S PIELFELD

Das Foto weckt Erinnerungen an Raumerleben im Spiel. Etwa wie hier in einem Brettspiel verengt sich die Raumwahrnehmung: Auf engem Raum werden stark emotionsgetragene Handlungen realisiert – in Reaktion auf die Spielhandlungen der Mitspielenden. Für die Spielzeit fokussiert sich das Denken fast ausschließlich auf das Ziel, das über verschlungene Wege und über Hindernisse hinweg zu erreichen ist. Die eigenen Spielfiguren werden mit imaginativer Identifizierung besetzt – die Spielfiguren der Mitspielenden werden symbolisch zu Gegnern. Der Raum zieht sich zusammen – die Bezüge von Nähe und Ferne, von Anfang und Ende sind in hochverdichteter Weise präsent. Der Raum um das Spielfeld herum wird vergessen, er ist imaginativ nicht anwesend. Der zu bewältigende Weg zum Ziel wird zum ›Alles‹ der Wahrnehmung und des Denkens.

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B IBLIOTHEK

Das Foto zeigt ein Regalbrett in einer Bibliothek aus der Sicht eines Kindes. Die Bücher reihen sich in unüberblickbarer Fülle. Die Raumerfahrung geschieht hier im konzentriert suchenden oder frei schweifenden Entlanggehen einerseits, im fokussierenden Auswählen und Verharren andererseits. Sie ereignet sich im Modus des ›Versinkens‹ im Imaginären. Jedes Buch mit der ihm innerlichen imaginärnarrativen Räumlichkeit hat seine Stelle in der Reihe, es steht in einer Gegend anderer bekannter oder unbekannter Bücher. Die Topographie der Bibliothek ist das ›Worinnen‹, in dem jedes einzelne Buch situiert ist, in dem es erinnert, gesucht und wiedergefunden werden kann. So hat die sich an die Bibliothek heftende Raumimagination den Charakter eines Wissensraumes, in dem man sich orientieren kann. Dieser konkrete Wissensraum ist kein abstrakter Datenraum. Es ist ein gegliederter und überschaubarer Ort, der wiederum situiert ist im umgreifenden Ort des Stadtraumes.

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D ACHBODEN

Der Dachboden eines Mietshauses: Ein abgelegener Ort, der in der Topographie der Kindheit eine feste Größe ist. Wiewohl nur zu Zeiten aufgesucht – oft wohl auch heimlich und in Übertretung von Verboten – ist er ein Niemandsland, gefüllt mit den abgestellten Gegenständen fremder und eigener Familien: Ein Fundus von Möglichkeiten der Betrachtung, des Spiels, des Phantasierens, ein dunkles Versteck, das nicht von der Reinlichkeit der Wohnungen geprägt ist, sondern von Vernachlässigung und Verfall. Der Dachboden ist Freiraum und verbotenes Territorium. Wenn das Kind vom Dachboden zurück in die Wohnung kommt, hinterlässt es Schmutzspuren und riecht nach Staub.

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B AUMHAUS

Kinder, die auf dem Land oder am Rande der Städte aufwachsen, haben noch Freiräume, in denen es möglich ist, sich eigene Räume abzugrenzen. Die kindlichen Tätigkeiten des Bauens und Konstruierens von Lagern, Zelten, Häusern ahmen menschliche Grundverhaltungen nach, die in der gebauten Umwelt immer schon von den Erwachsenen vorgelebt sind. Aus dem großen Freiraum der Gärten oder Wälder werden Kleinräume ausgegrenzt. Wände und Dächer verengen die Sicht und geben zugleich Schutz vor fremden Blicken. Der erhöhte Standort gewährt distanzierte Übersicht und Überlegenheit über die außen und unten befindliche Normalwelt. Während im gewöhnlichen Leben das Kind ›unten‹ und die Erwachsenen ›oben‹ sind, wird dieses Verhältnis im Baumhausleben lustvoll umgekehrt. Im Kleinraum des Baumhauses stehen Stuhl, Tisch und Bett – in einer Verdichtung, die diesen Raum deutlich von dem der gewohnten (!) Wohnungen unterscheidet. Mit diesen Eigenschaften ist das Baumhaus eine hochsymbolische Gestaltung von kindlicher Raumerfahrung.

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S CHULHOF

Ein weiter Raum, vielleicht der weiteste Raum, der Kindern zum Bewohnen und Benutzen gewährt wird. Zugleich ein Zwischenraum – situiert zwischen dem reglementierten Schulhaus und der von anderen Regeln beherrschten Straße – und ein geschützter, ausgesparter Raum. Der Schulhof ist Schauplatz unzähliger hochemotionaler Ereignisse: Pausenraum, Kommunikationsraum, sozialer Kampfplatz, Ort der Auseinandersetzung zwischen kleineren und größeren Schülerinnen und Schülern, Spielraum, Freiraum, Angstraum... Wer als Erwachsener einmal den Versuch wagt, seinen alten Schulhof nach vielen Jahren wieder zu besuchen, wird eine Fülle von emotionalen Erinnerungen in sich aufsteigen sehen. Er wird erstaunt sein über die reale Größe dieses Raums, die oft in keiner Weise mit der erinnerten Größe übereinstimmt.

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K INDERZIMMER

Von allen Orten der Kindheit ist das Kinderzimmer wahrscheinlich der klarste Brennpunkt unserer Imagination der Kindheit. Das Foto zeigt einen Lebensraum, der in der Ausgestaltung seiner topischen Ordnung geprägt ist vom Übergang der Kindheit ins frühe Jugendalter. Spielraum, Arbeitsraum, Rückzugs- und Ruheraum in einem. Die architektonisch vorgegebenen Raumorte werden besetzt von verschiedenen Aktivitäten. Interessant ist z.B. das Fensterbrett mit der Sammlung von Spielfiguren, die hier vom Spiel ausruhen und auf die Inanspruchnahme in neuen Spielsituationen warten. Verschiedene Flächen werden durch bestimmte Bilder markiert – jedes einzelne Bild stellt wiederum einen je spezifischen Imaginationsraum dar. Die Verhältnisse von Ordnung und Unordnung zeugen vom Wechsel der Aktivitäten in verschiedenen Zeit-Räumen.

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B ADESEE

Das Foto – zur Darstellung gebracht von einer jungen Erwachsenen – zeigt einen Ort, der von Grund auf positiv besetzt ist. Doch die Weise der Darstellung ist deutlich geprägt von einer romantisch verklärenden Sicht, die sich in Distanz befindet zur Kindheitswahrnehmung. Der Badesee ist Freizeitort, Ort des Spiels, der Kommunikation, der Erfahrung der eigenen Körperlichkeit im Kontakt mit Luft und Wasser. Auf dem Foto ist der Badesee leer. Der Blick verliert sich mit den Fluchtlinien im Gegenlicht der tief stehenden Nachmittagssonne. Der Badesteg wird zum imaginativ aufgeladenen Fluchtweg ins Unendliche. Vielleicht klingen in dieser Sichtweise Erinnerungen an biographische Erfahrungen nach. Das Bild ist still. Aber in unserer Erinnerung steigen die Gerüche und Geräusche eines Sommernachmittags auf: der Geruch von Wasser, Erdbeereis und nasser Haut, Kindergeschrei, Wasserplantschen, die Pfiffe des Bademeisters …

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Z OO

Allein mit dem Bild des Eingangsgebäudes verbinden sich vielfältige Erinnerungen an Situationen gespannter Erwartung und Vorfreude. Mit dem Durchschreiten des Eingangs eröffnet sich eine Welt, deren Unterschied zur urbanen Umwelt markant ist: Eine Welt des Exotischen, des Unerwarteten, des Geheimnisvollen. Der Ort der Tiere. In der Begegnung mit dem Tier erfährt das Kind die rätselhafte Atmosphäre, die das fremde und unverständliche ›andere‹ Leben verbreitet. Im Blick auf das Tier wird die Tragweite von Empathie und Verstehen von ›Fremdpsychischem‹ erprobt. Das Tier kann Sympathie wecken – wie der drollige und ›liebe‹ Delphin, es kann in seinem kindähnlichen Gebaren – etwa wie die turnenden Affen im Affenbaum – zum Lachen reizen. Es kann aber auch – wie der Löwe in seinem Käfig – den wohligen Schauder der Gefahr spürbar werden lassen. Als Ort in der Topographie der Kindheit wird der Zoo zum verdichteten Symbol der ›großen‹ Welt. Seine scheinbare Nähe birgt in sich den Verweis auf eine unerreichbare Ferne.

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S ÜßIGKEITENVERSTECK

Im Herzen der elterlichen Welt angesiedelt, in der Küche, ist das Süßigkeitenversteck ein Kindheitsort von besonderer Attraktivität. Es ist ein Lagerort, in dem sich symbolisch Reglementierung, Belohnung und Strafe versammeln. Das Süßigkeitenversteck, das Mutter und Vater für das Kind angelegt haben, befindet sich außer Reichweite. Es ist tabu. Und doch ist es imaginär ständig anwesend, als Fluchtpunkt von Begehrlichkeiten und gelegentlichen heimlichen oder offensichtlich bettelnden Blicken. Türe zu und weg! Türe auf zum großen Auftritt von Gummibärchen & Co.

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F ROSCHTEICH

Welchen Zauber vermag dieser Ort auszuüben: Schon beim Gang durchs Gebüsch zum Froschteich kündigt sich in Schall und Geruch eine Grenzerfahrung an, die sich erst beim Griff ins brackige Wasser zur Erfüllung bringt – zumal dann, wenn die Hand im Schlamm wirklich eine Kaulquappe oder einen Frosch zu greifen bekommt. Wohliger Schauer an der Grenze zwischen Lust und Ekel. Und dann möglicherweise ein Sturz kopfüber ins Wasser. Grenzüberschreitung im intensiven Sinne. Erst dann – wenn die Fülle dieser Ereignisse eingetreten ist – wird der Froschteich zu einem unauslöschlich markierten Gebiet in der Topographie der Kindheit, zwar ein randständiges und selten betretenes, aber in die Erinnerung umso fester eingeschriebenes Gebiet.

Fotos: © Karin Grübele, Patricia Otte, Sophia Lange, Karoline Merz und Hubert Sowa.

»meine verdammte gegend« Literarische Aneignungen der Vorstadt C AROLINE M ERKEL

V ORSTADT – J UGEND »Die gestaltete Stadt kann ›Heimat‹ werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes.« (Mitscherlich 1961: 15) – Alexander Mitscherlich tadelt 1961 in seinem programmatischen Pamphlet zur Unwirtlichkeit unserer Städte die Einfallslosigkeit der Nachkriegsarchitektur und Stadtplanung. Vor allem an den neu entstehenden Rändern der Städte kritisiert er die menschenunfreundliche Monotonie gescheiterter Großwohnprojekte auf der einen, die stilistische Vereinzelung von Einfamilienhaussiedlungen auf der anderen Seite. Sorgen macht sich Mitscherlich aber auch und vor allen Dingen um die Jugend dieser Vororte, um »Jugendliche aus den Slums oder aus komfortablem Vorstadtmilieu«, die »mit emotioneller Spar- und Rohkost aufgezogen« (ebd.: 24) werden würden. Wenn der Ort seine Bewohner prägt, dann, so die Befürchtung, stehe es schlecht um die jungen Generationen aus der Vorstadt. Was diesen Jugendlichen fehle, sind Orte, deren Unverwechselbarkeit und Geschichte Identität stiften können: »Um Schwung zu haben, muß man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben.« (Ebd.) Einen solchen festen Ort scheinen die heterogenen Ränder deutscher, aber auch westeuropäischer Städte nicht zu bieten, diese Vermutung findet sich auch in vielen anderen Darstellungen zur Vorstadt bis in die 1990er Jahre. Egal, ob man sie negativ oder positiv bewertet: Die Peripherie ist immer in Bewegung, bildet sich immer neu aus, ist weder ganz Stadt noch ganz Umland und hat meist wenig Wiedererkennungsmerkmale oder andere identitätsstiftende Wahrzeichen. Wie ›stößt‹ man sich von einem solchen Ort ab? Und wenn Ortszugehörigkeit und Ortsidentitäten eine Art von Geschichtsbewusstsein erfordern, wie – so ist zu fragen – entsteht dieses Gedächtnis, wenn es in der Architektur eines Ortes nicht sofort ersichtlich ist? Wie nimmt man ihn zum Ausgangspunkt nicht nur des eigenen Weges ins Erwachsenenleben, sondern auch zu einem Ausgangspunkt für das eigene Schreiben? Dieser Frage möchte ich im Folgenden am Beispiel von Texten nachgehen, die Kindheit und Jugend in der Vorstadt nicht nur thematisieren, sondern Jugend und eigenes Schreiben selbst eng mit der Topographie des Stadtrandes verknüpfen.

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Denn auch wenn Mitscherlich an ihrer Eignung als Orte der Jugend zweifelte, sind seit den 1960er Jahren zahlreiche so genannte Coming-of-Age-Geschichten insbesondere in Vorstädten angesiedelt.1 Und dies verwundert auch nicht, wenn man die enge Verknüpfung der Lebenswelt ›Vorstadt‹ mit Erfahrungen von Kindheit und Jugend betrachtet. Seit der Nachkriegszeit haben junge Familien einen hohen Prozentsatz der Bewohnerschaft ausgemacht, nicht nur in idyllischen Einfamilienhaussiedlungen, sondern auch, vor allem in deren Anfangsphase, in den seit den 1960er Jahren massenhaft entstehenden Großwohnsiedlungen. (von Saldern 2000: 85) In der traditionellen Zuordnung von Rollen und Stadträumen arbeiteten die Väter als Haupterwerbstätige in den Städten oder angrenzenden Industriegebieten, während die Vorstädte als Räume der Hausfrauen und Kinder betrachtet wurden, die sich hier tagsüber aufhielten. Anders als im amerikanischen Suburbiadiskurs mit seinen vielen Varianten von Stepford Wives (Ira Levin: The Stepford Wives, EA: 1972) bis Desperate Housewives (TV-Serie 2004-2012) scheint es zwar die Lebenswelt der Hausfrau in den Vororten nicht zu einem prominenten Thema der europäischen Vorstadtliteratur gebracht zu haben. Ein sehr viel deutlicheres literarisches Echo findet allerdings die (vor allem männliche) Jugend in der Vorstadt. Dabei ist die typische Umgebung, der Schreibort des erwachsenen Schriftstellers zunächst nicht die Vorstadt, sondern die akademische, urbane Kultur und/oder Subkultur der Großstädte. Im erzählenden Blick desjenigen also, der die Vorstadt unwiederbringlich verlassen hat, lässt sich so eine räumliche Entsprechung für den unüberwindbaren Graben zwischen dem Blickwinkel und der Sprache des erzählenden (und in den meisten Fällen) erwachsenen Ichs und dem erzählten jugendlichen Ich ausmachen, den Moritz Baßler die »Alteritätsschwelle« nennt. (Baßler 2002: 28) Baßler geht davon aus, dass Jugenderzählungen somit das generell schwierige Verhältnis von erzählendem und erzähltem Ich verschärfen, das ansonsten vor allem für Autobiographien eine Rolle spielt. Der Blick zurück in die Vorstadt als dem Raum der zurückgelassenen Jugend bildet diese Schwelle auch stadträumlich ab. Es ist zudem in jedem Fall bezeichnend, dass viele Autoren2 solcher Vorstadttexte autobiographische Verbindungen zu den Orten haben, die sie in ihren Romanen beschreiben. Die Texte sind verankert an konkreten, in der außerliterarischen Welt eindeutig und geographisch benannten Orten, die sich auch in den jeweiligen Biographien wiederfinden lassen. Diese Anknüpfungen an die Autorenbiographien und geographien wurden im Feuilleton immer wieder als Thema aufgegriffen. Sie können leicht in eine ›autorenphilologische‹ Lektüre oder, vor allem im Falle so genannter Migrationsliteratur, in eine Reduktion von Autor und Text auf eine möglichst ›authentische‹ Repräsentation von Lebenswelten abrutschen. So wäre die auto1

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Neben den hier besprochenen Texten sind dies zum Beispiel ebenfalls autobiographisch inspirierte Romane wie Sven Regeners Neue Vahr Süd (2004), der im gleichnamigen Neubau-Vorort von Bremen spielt, oder der ostdeutsche Nachwende-Roman von Clemens Meyer Als wir träumten (2006). Tatsächlich sind auch alle hier besprochenen Romane Texte männlicher Autoren. Im Folgenden ist die Verwendung des rein männlichen Genus diesem Umstand geschuldet. Welche Gründe ein solches Ungleichgewicht gerade für die lange weiblich konnotierte Vorstadt hat, wäre an anderer Stelle noch zu diskutieren.

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biographische Verankerung vielleicht wenig mehr als eine interessante Anekdote, wenn nicht in den Texten selbst dieses komplizierte Spiel mit lebensweltlichen Verweisen, Autor- und Erzählerfigur, Authentizität und Konstruktion zu einem Grundprinzip der Textkomposition gemacht worden wäre. Georg Klein beschreibt beispielsweise im Roman unserer Kindheit (2010) den Augsburger Vorort Bärenkeller der 1960er Jahre, in dem er aufgewachsen ist. John Ajvide Lindqvist hat seinen Vampirthriller Låt den rätte komma in (2004, dt. So finster die Nacht, 2007) in der Stockholmer Vorortsiedlung Blackeberg angesiedelt und damit seine eigene Kindheit in den 1980er Jahren zum Ausgangspunkt genommen. Und gerade bei denjenigen Autoren, die in ihren Debütromanen der neuen ›Migrationsliteratur‹ zugeordnet wurden, wird der autobiographische Bezug oft hergestellt. Nicht so sehr die regionale Herkunft, sondern die Identifikation des Autors mit der in den Texten beschriebenen (Sub-)Kultur hat dabei zum Teil problematische Grenzverwischungen von konstruierter Textwelt und realweltlichen Bezügen vorgenommen. Die Autoren wurden hier zu Sprechern, Repräsentanten und Übersetzern einer fremden Welt der Einwanderer. Hanif Kureishis Buddha of Suburbia (1990) enthält Elemente einer Jugend am südlichen Rand Londons in den 1970er Jahren, die auch in seiner dezidiert autobiographischen Auseinandersetzung mit dem Vater My Ear at His Heart (2004) wieder auftauchen. Bei Feridun Zaimoglu (Kanak Sprak 1995) ist dieser autobiographische Bezug weniger eindeutig, wird aber dennoch hergestellt. Zaimoglu wurde zu Beginn seiner Karriere in den Medien vor allem als Mittelsmann einer in den Vorstädten (in diesem Fall Kiel-Gaarden) verorteten Jugendsubkultur dargestellt, der er zugeordnet wurde, auch wenn er nicht dort aufgewachsen war. Dennoch identifiziert sich auch Zaimoglu stark mit seiner Stadt, seine ersten Texte sind Statements aus einer einheimischen Perspektive heraus geschrieben: »[I]ch lebe hier und wüte hier, ihr Großstädter, hier habt ihr das Pamphlet aus der Peripherie!« (Zaimoglu 2007: 13) So kommentierte er den Schreibanlass seines Debüts Kanak Sprak später in einer Liebeserklärung an seine Stadt. Es liegt aber durchaus nicht nur an autobiographischen Bindungen, dass Jugend und Vorstadt literarisch gerne verbunden werden. Im Sprechen über Vororte und über Kindheit und Jugend finden sich zudem Überschneidungen, die dies nahelegen. Der ›Zeit-Raum‹ Jugend und der topographische Raum des Stadtrandes lassen sich in mancher Hinsicht mit ähnlichen Kategorien umschreiben, die in literarischen Texten zu Jugend und Vorstadt unter verschiedenen Aspekten und Wendungen durchgespielt werden. Zusammenfassen möchte ich diese unter den räumlichen Konstellationen des ›Gegen-Raums‹, des ›Leer-Raums‹ und des ›Grenzraums‹. Vorstadt als Gegen-Raum Viele Definitionsversuche von ›Vorstadt‹ beginnen bezeichnenderweise mit ihrem klassischen Gegenpart – dem urbanen Inneren der Stadt. Beschreibung und Bewertung der Peripherie hängen so direkt zusammen mit dem dazugehörigen Bild von der Kernstadt (vgl. Halsall 2004: 159): Wird das Innere der Stadt als ›Moloch‹, als gedrängter oder gefährlicher Ort verteufelt, dann vermutet man oftmals in Vorstädten Orte der Zuflucht – idyllische und moderne Gegen-Orte. Seit den 1960er Jahren wurden dagegen Urbanität und Dichte zum architektonischen Ideal, während Vor-

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städte auch heute noch oft als Orte der Ausgrenzung erscheinen, die eben nicht urban, nicht zentral, nicht historisch sind. Gerade – aber nicht nur – in kritischen Diskursen wird die Vorstadt oft zu etwas ganz ›Anderem‹, zum Fremden, beinahe exotischen Gegenstand des Interesses, der sich vom urbanen intellektuellen Standpunkt des Betrachtenden klar unterscheidet. Peter Handke nennt das Märkische Viertel 1974 eine »Siedlung aus einer anderen Welt« (Handke 1974: 32) und macht sich auf die weite Reise an die ausgeschlossenen Ränder der Stadt, zu einem ethnographischen Abenteuer fernab von der Lebenswelt der Leserinnen und Leser: »Das Märkische Viertel in Berlin ist eine im Auftrag des Berliner Senats geplante Stadtrandsiedlung mit inzwischen über 50 00 Bewohnern. Wenn man mit der S-Bahn fährt, muß man in einen Bus umsteigen und nähert sich nach einer Stunde Fahrt, nachdem man sich schon aus der Stadt heraus geglaubt hat, plötzlich einer Siedlung aus einer anderen Welt.« (Handke 1974: 32)

Dass sich hier Mechanismen diskursiver, sozialer und eben auch stadtgeographischer Ein- und Ausgrenzung verbinden und den Blick darauf lenken, wie soziale Schichten, Ethnizität oder Geschlechterverhältnisse sich im Raum auswirken, liegt nahe und rückt die ›exotischen‹ Vorstädte in strukturelle Nähe zu anderen Peripherien wie ehemaligen Kolonialgebieten. In der Abgrenzung von den Vorstädten lernen wir gemeinsam mit dem Erzähler etwas über die definierenden Grenzen unserer eigenen, urbanen, intellektuellen, nicht-entfremdeten Welt. Verbindet sich zudem die Ausgrenzung der mysteriösen Vorstadt mit den Ab- und Ausgrenzungsmechanismen von Jugend und Jugendkulturen, wird insbesondere in literarischen Texten die Opposition bzw. die jugendliche Gegenwelt zur Gesellschaft der Erwachsenen sehr deutlich: Noch nicht Teil der ›wirklichen‹ Welt, bildet sie quasi einen Wartesaal im Außen, mit der eigenen Sprache, eigenen Codes – und eigenen Räumen, »die zunächst nur von ihnen selbst begehbar und verstehbar« (Gansel 2011: 24) sind. Jugend- und Subkulturen zelebrieren diese Abgrenzung und finden trotzdem – oder gerade deswegen – immer wieder den Weg von der Peripherie ins Zentrum des Mainstreams. Diese jugendliche Abgrenzung von der etablierten Kultur der Erwachsenen potenziert sich noch, wenn sie mit einer ethnisch-kulturellen Ab- oder Ausgrenzung in Verbindung tritt, wie dies in Kanak Sprak der Fall ist: »Wir sind wüchsige aus gaarden, hier, wo man das olle gras halm für halm wachsen hört [...] Gaarden is knochenbrecher, 'n sperrbezirk, das is hier das olle ostufer und dort der reiche westen, und dazwischen reckt sich wie’n langer arm die gablenzbrücke, doch du denkst, die vermaledeite brücke is tag wie nacht und ewig hochgeklappt, so is es in gaarden, wo ja prall unzählige kümmel hausen...« (Zaimoglu 1995: 91)

Der Stadtteil Kiel-Gaarden aus Feridun Zaimoglus Debüt ist in diesem Abschnitt vor allem gezeichnet als ein ebensolcher Gegenort: explizit nicht-urban, getrennt und ausgeschlossen von der Kernstadt. Gaarden ist ›sozialer Brennpunkt‹ Kiels, mit einem relativ hohen ›Migrantenanteil‹ und hoher Arbeitslosenquote. Am Ostufer der Kieler Förde liegt er quasi gegenüber der ›eigentlichen‹ Stadt. Gaarden liefert den

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gemeinsamen Nenner für die meisten Interviewpartnerinnen und -partner in Kanak Sprak und auch für den nachfolgenden Band Koppstoff (1998). Wenn sie sich, wie der Jugendliche im Kapitel »Bist du’n Lamm, fressen sie dich« (Zaimoglu 1995: 39ff.), auf ihren Bezirk beziehen, wird dieser oft diametral der restlichen Stadt, der Stadt der ›Alemannen‹, gegenübergestellt: »hier das olle ostufer und dort der reiche westen«. Gaarden ist nicht nur »sperrbezirk« sondern ebenso oft »ghetto«, »bimboslum« oder »reservat« (ebd.: 25 bzw. 31), geographisch abgetrennt von der Stadt durch das Wasser, verbunden durch eine Brücke. Doch der kulturelle und soziale Graben wirkt hier, aus Perspektive der Vorortbewohner, unüberwindbar, die Brücke hochgeklappt wie bei einer mittelalterlichen Stadtanlage unter Belagerung. Die Jugend von Gaarden scheint auf ihren Stadtteil verwiesen, ohne Möglichkeit, einen Weg ins Innere der Stadt oder der Gesellschaft zu finden, eine räumliche Spiegelung der Restriktionen des Labels ›Migrant‹. Vorstadt als Grenzraum und Kontaktzone Als Randzone einer Stadt bildet die Peripherie aber auch immer eine Zone des Übergangs: zwischen Stadt und Land, zwischen Metropole und Provinz – nicht nur rein geographisch gesehen. Die ersten stadtplanerischen Projekte in Vorstädten, wie Ebenezer Howards Garden City, sollten nicht nur die Vorteile von Stadt und Land vereinen. Ziel war ebenso eine Kontaktzone über Klassengrenzen hinweg, ein Viertel für Bürgertum ebenso wie für Angestellte und Arbeiterschaft. (Vgl. Harlander 2006: 25f.) Die Bemühungen dieses stadtplanerischen Sowohl-als-auch wurden in der kritischen Betrachtung der Vorstädte jedoch ebenso oft zu einem Weder-noch und machen Vorstädte oft zu einem unliebsamen Zwischending, das schwer zu fassen, schwer zu greifen ist. Für ihre Bewohnerinnen und -bewohner sind Vorstädte oft eine Übergangs- und Kontaktzone, vor allem, weil sie nach wie vor eine erste Stufe für Zuzüge bilden – früher vermehrt aus dem ländlichen Umland, mit der einsetzenden Arbeitsmigration seit den 1970er Jahren auch aus anderen Kulturkreisen. Durch die starke Fluktuation und den ›Übergangs‹-Charakter treffen gerade in peripheren Großsiedlungen unterschiedliche Kulturen aufeinander, aus denen sich in manchen Vierteln eigene neue ›Zuwanderungskulturen‹ ergeben. Hier wird der Stadtrand besonders deutlich nicht nur Grenze, sondern Membran ja ›contact zone‹ – »where cultures meet, clash, and grapple with each other«. (Pratt 1991: 33) Jugendliteratur und Literatur über die Jugend als der Schwellen-Situation per se sind natürlich ebenfalls voller Übergänge, rites de passages und Entwicklungsgeschichten, die ihre Protagonisten von der einen auf die andere Seite befördern, voller Reisen, Nächte und gewalttätiger Grenzüberschreitungen. (Vgl. Gansel 2011: 27f.) Als ein ›Reich unbekannter Möglichkeiten‹ wird die Vorstadt zu einer Zwischenzone oder Grenze, die dem Topos der Jugend im Sinne des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsenenalter räumlichen Ausdruck verleiht. Die Jugend als ein Zeitraum der Veränderung und Verwandlung wird so z.B. in Georg Kleins Roman unserer Kindheit mehrfach thematisiert. Darüber hinaus noch zeitlich im Zwischenbereich der Sommerferien angesiedelt, schildert sein Roman einer Vorstadtkindheit sowohl das Ende als auch den Beginn von etwas:

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Vor allem der »Ältere Bruder« und das einzige Mädchen der Kinderbande, die »Schicke Sybille«, werden also am Ende des Sommers den begrenzten Raum der Kindheit in der Vorstadt verlassen, der Weg in die Stadt ist ein Weg ins Erwachsenwerden. Im Verlauf der Erzählung sehen sich diese beiden immer wieder mit ihrer ›Verwandlung‹ »mit Haut und Haar und Stimme in etwas Neues« (ebd.: 364) konfrontiert. Dieser Neuanfang ist ganz bewusst auch ein Erinnern an und Abschiednehmen von Kindheitspraktiken wie dem Käfersammeln, für das er »natürlich längst zu groß« ist (ebd.: 42). Schließlich verwandelt und entwickelt sich auch der Stadtrand selbst immer wieder und der suburbane Raum, dessen Grenzen sich immer wieder verschieben und erweitern, bleibt selbst schwer festzulegen, wie Dominic Head vermutet: »[S]uburbia constantly relocates itself.« (Head 2000: 71) Die Uneindeutigkeit macht den Rand und seine Bewohner vom (Stadt-)Zentrum aus nur schwer wahrnehmbar, wird als Defizit oder aber als exotisches Faszinosum ausgelegt. Die Vorstadt als leerer Raum Im Blick des interessierten, aber doch befremdet wirkenden Peter Handke zum Beispiel sind Vorortsiedlungen öde, ereignis- und bewegungslose Orte, deren Bewohnerschaft kaum ein interessantes Figurenensemble zu bieten scheint: »[A]b und zu kreuzten einander Autobusse, Autos fuhren kaum, da die Männer drinnen in der Stadt arbeiteten und nur wenige Frauen hier Zweitwagen hatten. Außer ein paar Betrunkenen neben einem fahrbaren Würstchenstand sah ich weit und breit keine lebende Seele.« (Handke 1974: 32f.)

Ereignisse – und Geschichten – von Interesse, soviel wird hier deutlich, vollziehen sich außerhalb der Vorstadt, »drinnen in der Stadt«. Und dies liegt nicht allein am Personal der Stadtränder, dem es an Prestige und Mobilität gleichermaßen fehlt. Es sind öde Orte, deren Leere sich zum einen aus ihrer fehlenden architektonischen oder kulturellen Signifikanz speist: Gleich ob Einfamilienhaussiedlungen oder Sozialbauten, Stadtrandgebiete werden kaum im Touristen- oder Stadtführer einer Großstadt auftauchen. Sie bilden einen Ort, »der im Verzeichnis der Wohnstätten, der Situationen, nicht vorkommt.« (Lyotard 1998: 23) Fehlende signifikante oder repräsentative Bauten machen sie zu »weiße[n] flecken auf der inneren landkarte« (Röggla 2006: 11) einer Stadt, obwohl ein Großteil ihrer Bewohnerinnen und Bewohner dort lebt. Zum anderen wird ihnen im direkten Zusammenhang damit oft ein weiterer Mangel zugeschrieben: Den Siedlungen, so wird es dargestellt, fehlt nicht nur die räumlich differenzierte Struktur, sondern auch die historische Tiefe. Vor allem die seit 1945 entstandenen Vorortsiedlungen werden also nicht wie die altehrwürdigen

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europäischen Großstädte als Gedächtnisorte oder gar als Palimpseste vergangener Zeiten verhandelt, sondern als Orte ohne Vergangenheit: »Suburbia has no ›history‹: its archives are empty«, so der Literaturwissenschaftler Roger Webster (Webster 2000: 2). Diese Eigenschaft als leerer, undefinierter Raum kann aber auch gerade das Potential der Vorstadt als kulturellem, philosophischem oder literarischem Raum werden: Zwar bildet sie einen unbesetzten, wenig repräsentierten Raum, damit aber, so die Vermutung, einen Raum, der in seiner Unbestimmtheit zu Deutungsaktivitäten stimulieren kann. (Vgl. auch Wischmann 2003: 344f.) Seine Orientierung weniger in die Vergangenheit als in die Zukunft kann als die schlummernde Produktivität einer Brache begriffen werden, deren Fläche noch frei, unbesetzt und vielversprechend ist. Hierin paart sich die Unmarkiertheit der Vorstadt mit einer erwartungsvollen Jugendlichkeit ihrer Bewohner: »Boredom means latency and latency is a pregnant silence quite different from the mute silence of oblivion.« (Pajaczkowska 2005: 43) Meine These für den folgenden Blick auf jüngere Vorstadtliteratur ist es, dass auch die Texte dieses Potential der Unbesetztheit kreativ für sich nutzen. Sie lassen ihre jugendlichen Protagonisten bisher literarisch wenig erschlossene Orte und Räume erkunden, besetzen, aneignen und – in enger Verknüpfung damit – erzählen. Eine Vermutung ist es, dass im Spannungsfeld von Jugend, Vorstadt und eigenem Schreiben nicht nur der Impuls für eine eigene Geschichte dieser Vorstädte gesetzt wird. Die Vorstadt als literarischer Ort des jugendlichen Außenvor, des Aufbruchs und der Identitätsfindung ist Schreibanlass und Ausgangspunkt gleichermaßen auf dem Weg in die erwachsene und urbane Autorschaft.

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ERZÄHLEN

Öde Orte »[I]f the secret police ordered you to live in the suburbs for the rest of your life, what would you do? Kill yourself? Read?« (Kureishi 1990: 145) – auf den ersten Blick finden sich auch in literarischen Texten viele öde Orte, viel Langeweile und Ereignislosigkeit. Auch die Jugend ihrer Protagonisten besteht dabei nicht nur aus frohem Zukunftsoptimismus, vor allem nicht als eine Jugend abseits der Innenstädte. Langeweile, Identitätssuche, Sprachlosigkeit und Ohnmacht sind vielleicht sogar besonders Attribute einer provinziellen Jugend, die sich mit der nachgesagten Identitätslosigkeit der Vorstadt verbinden und verstärken: Der südliche Londoner Vorort Beckenham in Hanif Kureishis The Buddha of Suburbia (1990) ist vor allem eins: »a leaving place« (ebd.: 117), ein Ort, den man schnellstmöglich verlassen sollte, um ein wirkliches Leben beginnen zu können. Bereits in der Struktur des Buches – dem ersten Teil »In the Suburbs« steht der zweite »In the City« gegenüber – scheint die Opposition zwischen Vorort und Kernstadt, die Entwicklung des Protagonisten weg von der Kindheit hin zum ›wirklichen‹ Erwachsenenleben, angelegt. Durch die Augen des Protagonisten erscheinen die Vorstädte öde in ihrer Konformität und Mittelmäßigkeit, ein trostloser Verbannungsort, von dem man sich schnellstmöglich losmachen sollte.

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Die Geringschätzung des Protagonisten durchzieht bei Kureishi fast alle Schilderungen Beckenhams. Die Eintönigkeit des Vorstadtlebens spiegelt sich für ihn in seiner Umgebung wider, deren Bedeutungslosigkeit sich besonders aus ihrer funktionalen Leere speist: »It was starting to rain, so the three of us sat in a bus shelter. There was never anywhere to go.« (Ebd.: 72) Es scheint einfach keinen ›Ort‹ für die Jugendlichen zu geben außer diesem Lieblingsort jeder Jugend in der Provinz, der Bushaltestelle – dem vermeintlichen Ort der Transgression, des Weiter- und Herauskommens, der doch vor allem ein Ort des Wartens bleibt. Die Leere manifestiert sich darüber hinaus in der Stille, die Karim immer wieder als beklemmend und allumfassend erlebt, »the streets were quiet and uninhabited after South London, as if the area had been evacuated. The silence was ominous; it seemed piled up and ready to fall on me« (ebd.: 101). In anderen Beispielen macht ihre Ereignislosigkeit die Vorstadt der Kindheit dagegen durchaus zur Idylle. In Georg Kleins Roman unserer Kindheit liefern die unendlich scheinenden Sommerferien, die fast zeitlose Einteilung der Ereignisse und Kapitel in ›Sommertage‹ und ›Regentage‹ eine friedvolle, Nostalgie verströmende Folie der Ereignisse. Die Nachkriegssiedlung, in der die Gruppe von Kindern zuhause ist, erscheint als Musterbeispiel erfolgreichen Neuaufbaus, als eine Szenerie des ›Wirtschaftswunders‹: »›Von Herzen willkommen in der Neuen Siedlung‹ Die Sonne ist blank wie Konservendosenblech, der wolkenlose Himmel prunkt mit klassisch reinem Blau. Der letzte Sommermonat wirft ein präzises Licht in den Kreuztöterweg, in die Einkaufsstraße der Neuen Siedlung«. (Klein 2010: 441)

Die Atmosphäre der frühen 1960er Jahre wird hier entworfen als eine an der Oberfläche der Dinge friedvolle, geordnete Welt im Geiste der Rationalität und Modernisierung: »Die plüschig altmodischen Wonnen haben endgültig helleren Freuden Platz gemacht.« (Ebd.: 172) Das Schweigen über die Vergangenheit ist Teil dieser Idylle und Lebensprinzip der meisten älteren Vorortsbewohner, nach deren Meinung »wenn irgend möglich, stets die Gegenwart regieren« (ebd.: 172) sollte. Und dennoch lässt die völlige Abwesenheit der jüngsten Geschichte im Nachkriegsalltag bereits erahnen, dass diese Stille, dieser Stillstand in seinen letzten Zügen liegt. Die Kinder im Roman unserer Kindheit sind in ihrer Jugend und Zukunftserwartung also regelrechte Verkörperungen der Nachkriegszeit. Ihr junges bisheriges Leben fällt zudem zusammen mit der kurzen Geschichte der Neuen Siedlung, dem architektonischen Manifest dieser Vergangenheitslosigkeit. Sie kennen nichts anderes als die Ruhe und Ordnung der Vorstadt, die Geschichtlichkeit, aber auch das Gemacht-Sein ihrer Umgebung ist ihnen nur bedingt bewusst: »[Der Ältere Bruder] weiß nicht, dass man das gesamte Gehölz erst im Geburtsjahr der Neuen Siedlung, das auch sein Geburtsjahr ist, auf einer weiten Heuwiese und einem breiten Streifen Acker angepflanzt hat.« (Ebd.: 29) Eine wieder andere Szenerie des Vorortsalltags baut sich in John Ajvide Lindqvists Vampirroman Låt den rätte komma in auf. Winterlich, kalt und dunkel

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erinnert sie zunächst eher an sozialrealistische Darstellungen von gemobbten oder vernachlässigten Kindern, alkoholkranken und einsamen Erwachsenen.3 Die Bedrängnis der Hauptfigur – des elfjährigen Oskar, inkontinent, ohne Freunde und als Außenseiter brutal drangsaliert – lässt von Anfang an kein Gefühl von Kindheitsidylle aufkommen. Gemeinsam mit den vorherigen Beispielen ist der Atmosphäre bei Lindqvist aber ihre anfängliche Zähflüssigkeit. Während sie bei Klein implizit in der Ruhe des Sommerferienalltags liegt, wartet Oskar im schwedischen Roman ganz wörtlich auf eine Erlösung aus seiner Lage durch ein Ereignis: »Es war ganz still in der Wohnung. Nichts geschah. Die Betonwände schlossen sich um ihn. Er setzte sich auf sein Bett und legte die Hände auf die Knie, sein Bauch war vor Süßigkeiten ganz prall. Als würde etwas passieren. Jetzt. Er hielt die Luft an, lauschte. Eine klebrige Angst ergriff schleichend Besitz von ihm. Irgendetwas kam näher. Ein farbloses Gas sickerte aus den Wänden, drohte Gestalt anzunehmen, ihn zu verschlucken.« (Ajvide Lindqvist 2007: 32)4

Die Stille, die Ereignislosigkeit des Vorortes empfindet auch Oskar als beklemmend, erdrückend. Mindestens ebenso beängstigend wie diese Stille zwischen den Betonwänden erscheint ihm aber noch der unbestimmte Schrecken, der bereits in den Wänden des Hochhauses lauert. Hier werfen die sich anbahnenden Ereignisse einen langen Schatten voraus, sind eingelagert in die Architektur, scheinen fast zwingend aus der Ereignislosigkeit und Leere heraus zu entstehen. Und so sehr Oskar das Unbekannte, Andere fürchtet, ist er doch fasziniert vom Gruseln, das der Mord an einem fast gleichaltrigen Jungen in der Nachbarschaft mit sich bringt. Er sehnt sich nach einem solchen gewaltsamen Riss in seiner Normalität: »Insgeheim hoffte er ein wenig, dass es so kam. Am liebsten in Blackeberg.«5 (Ebd.: 69) Der abwartende Stillstand in allen drei Beispielen, so wirkt es, muss durchbrochen werden, um überhaupt eine Narration in Gang zu setzen, um Furcht und Geheimnisse der taghellen Übersichtlichkeit entgegenzustellen. Auch der Roman unserer Kindheit beginnt mit einem Zwischenfall, einem Fahrradunfall, der die sommerliche Ruhe stört: »Blut!« – mit dem allerersten Wort bricht Gewalt ein in die Vorstadt. Es ist der Unfall, das Ausscheren aus dem Alltag, das die Handlung anstößt, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen bringt er ihre Protagonisten in Bewegung, lässt sie den Raum der Vorstadt durchstreifen, entdecken, neu besetzen. Er bringt zum anderen die Protagonisten zum Erzählen, lässt sie Ereignisse und Räume in eigenen Narrationen verknüpfen, gestalten und tradieren.6 3 4

5 6

Wie Rochelle Wright bemerkt, ist das in seinem Milieu isolierte Kind ein häufiges Motiv im schwedischen Gegenwartsfilm. Vgl. Wright 2010: 58. »Det var tyst i lägenheten. Ingenting hände. Betongväggarna slöt sig kring honom. Han satt på sin säng med händerna på knäna, magen tung av sötsaker. Som skulle någonting hända. Nu. Han höll andan, lyssnade. En klibbig skräck smög sig över honom. Något närmade sig. En färglös gas sipprade ur väggarna, hotade att anta en form, sluka honom.« (Ajvide Lindqvist 2005: 22f.) »Han hoppades lite att det gjorde det. Helst i Blackeberg.« (Ebd.: 45). Zum Thema der Überlieferung im Roman unserer Kindheit vgl. auch: Köster 2013.

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Die Bewegung im Raum, der Gang der Ereignisse und ihr Zusammensetzen zu einer Geschichte hängen also in den Texten selbst unmittelbar zusammen. Diese enge Verknüpfung vom Gehen im Raum und dem Berichten von und aus Räumen hat besonders Michel de Certeau in der Kunst des Handelns (1988, EA 1980) betont. Zwei Arten, sich einem Raum zu nähern, macht de Certeau aus: das Sehen und das Gehen. Der analytische Überblick einerseits, die Bewegung, eine flüchtige, gegenwärtige Spur andererseits. Das Gehen, dem er sein Hauptaugenmerk schenkt, beschreibt nun de Certeau mithilfe der Sprechakttheorie. Gehen steht so im Verhältnis zum gegebenen Raum wie die Äußerung zur Sprache. (de Certeau 1988: 189) In der räumlichen Ordnung findet sich eine Reihe von Möglichkeiten aber auch Verboten, der Gehende ›aktualisiert‹ einige dieser Möglichkeiten und verwirft andere: »Dadurch verhilft er ihnen zur Existenz und verschafft ihnen eine Erscheinung. Aber er verändert sie auch und erfindet neue Möglichkeiten, da er durch Abkürzungen, Umwege und Improvisationen auf seinem Weg bestimmte räumliche Elemente bevorzugen, verändern oder beiseite lassen kann.« (Ebd.: 215)

Das Gehen aktualisiert also nicht nur, es belegt Orte und Wege auch mit Bewertungen, Einschätzungen und Warnungen. Das Erzählen, das Berichten von Räumen funktioniert ganz ähnlich. Jede Geschichte geht mit Räumen um, wählt und strukturiert, setzt sie hintereinander und spricht ihnen so auch Eigenschaften zu. So lässt sich auch in literarischen Texten das Entstehen von Räumen anhand von Certeaus Faktoren beobachten: Gehen und Sprache bleiben dabei nicht einfach nur Metaphern füreinander; gerade in diesem Zusammenspiel von Bewegung und Sprache tragen, so die Vermutung, literarische Texte dazu bei, einem Ort eine eigene Narration zu geben. Streunen in der Vorstadt Betrachtet man aber die Praktiken, die nicht nur die Handlung der vorliegenden Romane vorantreiben, sondern auch deren suburbane Szenerien entwerfen, dann ist deutlich, dass sich die jugendlichen Protagonisten in den Texten immer wieder den ihnen zur Verfügung stehenden Raum aneignen. So durchstreunen sie nicht nur die ihnen vertrauten, alltäglichen Orte ihrer Vororte, sondern auch deren Ränder – den Wald, eine private Müllkippe, eine unvollendete Bauruine –, erweitern ihre Alltagswelt und erforschen deren Geheimnisse. Sie ›aktualisieren‹ damit im Gehen den suburbanen Raum, erweitern ihr Territorium, kürzen ab, überwinden Mauern, entdecken versteckte Durchgänge, erneuern damit manche Orte und lassen andere unbeachtet. »Die jungs streunen durch die stadt« (Zaimoglu 1995: 109), berichten zum Beispiel Zaimoglus fiktive Interviewpartner. Parallel zur sprachlichen Aneignung des pejorativen Begriffs ›Kanake‹ werden in Kanak Sprak auf der topographischen Ebene Strategien der Gebietsaneignung des fremd zugewiesenen Ortes am Rande der Stadt thematisiert:

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»daß ich fragen kann: hier hängt ihr rum, das geht klar, weil’s meine verdammte gegend is. [...] weil der wert, den gibt’s nicht im kaufhaus, den hast du, weil die leute sagen: er ist die gegend.« (Ebd.: 92f.)

In diesem Zitat wird deutlich, wie die Eroberung des suburbanen Territoriums mit der Konstruktion einer eigenen subkulturellen Identität inmitten stereotyper Zuschreibungen einhergeht. Auch wenn Gaarden an anderer Stelle wieder als ›Ghetto‹ oder ›Reservat‹ beschrieben wird, ist das Besetzen und Markieren der ›Gegend‹ wesentlicher Bestandteil der eigenen Selbstinszenierung. Die Nutzung des Raums, das Aktualisieren und Ignorieren bestimmter Bereiche führt zu Bewertungen und darüber zu einer inneren Landkarte, die nicht festgehalten wird und sicher auch immer wieder changiert, die jedoch Zugehörigkeit und Identität vermittelt. Solche Arten der Aneignung und (Um-)Deutung vorhandener Räume durch eine eigene, jugendliche ›Kartographie‹ werden in raumsoziologischen Analysen als eine charakteristische Handlungsstrategie jugendkultureller Szenen gedeutet. Das wird zum Beispiel in der Grafitti- oder Skaterszene deutlich, bei den ›Traceuren‹, aber auch in weniger ›raumgreifenden‹ Jugendkulturen wie den Punks, die ihre eigenen festen Orte im Stadtbild schaffen. ›Raumaneignung‹, wie sie etwa Deinet und Reutlinger beschreiben, betrifft dabei oft ungenutzte, unbeachtete Räume, stillgelegte Industriegelände oder ungenutzte ›Nischen‹ in der Stadtlandschaft. Die Jugendlichen deuten Räume für sich um und ›kartographieren‹ so Stadt neu. (Deinet/Reutlinger 2004) Sie erschaffen in ihrem Handeln performativ Räume, indem sie ihnen eine Bedeutung zuweisen, sie zu Cool Places (Skelton/Valentine 1998) transformieren und eigene Raumbezüge herstellen. Es ist bezeichnend, dass viele solcher jugendlichen Subkulturen zunächst in Vororten aufgekommen sind. Bereits 1978 beschreibt Jean Baudrillard in dem Essay Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen für das New York der 1970er Jahre, wie mit dem Phänomen Graffiti »in einer Art von Aufstand der Zeichen das linguistische Ghetto in die Stadt ein[bricht].« (Baudrillard 1978: 28) Die mit jugendkulturellen Angeboten latent unterversorgten Teile der Großstädte scheinen sich besonders gut als ›Spielwiese‹ neuer Entwicklungen anzubieten. Einerseits kann auch auf diese Art und Weise der symbolisch wenig aufgeladene Ort der Vorstadt mit ›Bedeutung‹ besetzt werden.7 Mit dem ›Übergriff‹ in bereits besetzte Räume wie der Innenstadt (vgl. Graffiti) wird aber andererseits auch die herkömmliche Raumordnung und Kartographie der Stadt konfrontiert, verändert, gestört – die Deutungsmacht über öffentlichen (oder auch nicht-öffentlichen) Raum wird angezweifelt. Die Kinder und jugendlichen Protagonisten aller der hier erwähnten Vorstadtromane erobern ihre Umgebung zu Fuß – oder auch mit dem Bus oder dem Fahrrad. Die einen streunen und irren durch versteckte Gänge oder Parks, andere besetzen den Spielplatz, den Keller, die Bushaltestelle. Es scheint ein anderes Gehen zu sein als in der Großstadt: weder zielgerichtet auf einen Punkt hin noch intellektuell reflektierendes Spazieren. Es stellt sich viel eher eine kindliche Variante des Flanierens heraus:

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So sprechen die Kultursoziologen Klein/Friedrich der global verorteten Hiphop-Kultur gerade in ihrer Theatralisierung des urbanen und posturbanen Raums eine »Poesie des Lokalen« zu, die den konkreten Ort aufwertet. (Klein/Friedrich 2003: 111)

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zufällig, abkürzend, entdeckend, ohne eine andere Zeiteinteilung als die einbrechende Dunkelheit. Die Kinder im Roman unserer Kindheit können sich kaum einigen, wohin sie zuerst aufbrechen sollen: Plätze und Wege zwischen ihren Wohnblocks sind eindeutig ihr Revier. Sie streunen aber nicht nur durch die ihnen vertrauten Orte, sondern erforschen gerade außer- und vor allem unterhalb der Alltagswelt, auf Brachflächen und in unterirdischen Tunneln die alten Geheimnisse ihrer so jungen Siedlung. Im Roman unserer Kindheit resultieren solche Grenzüberschreitungen in nächtliche Begegnungen mit dem Nicht-Alltäglichen und Tabuisierten: »Eigentlich wäre dahinten Schluss. Selbst bei Tag ist es dort mit dem Weiterfahren vorbei. Seit sie zusammen losziehen, kennen sie die Grenze, die dort ihrem Vorstoßen Richtung Norden gesetzt ist. Hinter ihr wartet zwar noch ein weiteres Stück der Welt, sie wissen sogar seinen Namen, aber als Kind geht man besser nicht hin.« (Klein 2010: 197)

Natürlich überschreiten die Kinder eben diese Grenze und ›aktualisieren‹ damit im Gehen den suburbanen Raum, erweitern ihr Territorium, kürzen ab, überwinden Mauern, entdecken versteckte Durchgänge. Sie erneuern und integrieren damit vergessene Orte und lassen andere unbeachtet, genauso wie de Certeau es beschrieben hat. (Vgl. de Certeau 1988: 215)8 Die Grenzüberschreitung und die Benennung von Grenzen und Differenzen geht in diesen Beispielen miteinander einher: Die Wahl und die Beschreibung eines Weges führen die Bewertung und Ordnung, sprich ein Kartographieren dieser Wegstrecke mit sich. Manchmal steht die Benennung auch in unmittelbarem Zusammenhang mit den Benutzern eines Weges: Unbenannte Wege bekommen einen Namen und eine Bedeutung, wenn sie nur oft genug genutzt werden – wie zum Beispiel zwei der zahlreichen Fußwege in Låt den rätte komma in, die nach ihren Benutzern von Lacke mit den Namen »Jockes Weg« und »Virginias Weg« benannt werden (Ajvide Lindqvist 2007: 297). Zwei Dinge werden an diesen Textbeispielen deutlich. Zum einen zeigt sich, dass es sich dabei in der Tat um Techniken des Kartographierens handelt, im Sinne der Verbindung von Raumgegebenheiten und semiotischer Bedeutungszuweisung. Zweitens aber werden diese Techniken auf Räume und Gegenstände angewendet, die nicht nur fremdes Eigentum sind, sondern auch fremd bleiben. Besonders bei Zaimoglu bleibt die jugendliche Gebietsaneignung in den Texten also immer eine vorübergehende, prekäre Eroberung, deren Ausdehnungen immer wieder neu verhandelt und ausbalanciert werden müssen und die nie in einem ganz ›eigenen‹ Territorium mündet: »So hat man sich also fremdes Territorium angeeignet und verteidigt, alles nur so Pseudoterritorium, is ja gar nicht deins, es gehört ja den Deutschen, amina koyum. Du denkst, in diesem Territorium is ein Teil von dir, aber Scheiße is da, amina koyum.« (Zaimoglu 1997: 65)

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Tim Ingold würde die Wege der Kinder wahrscheinlich als typisches »wayfaring« im Sinne eines nomadischen Umherwanderns beschreiben. Vgl. Ingold 2007.

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Das ›Rumhängen‹ in der Gegend ist also Markierung eines Reviers, das ebenso fremd wie heimisch ist. Es bleibt fremd, auch wenn es in der Nutzung durch Fußgänger, Sprayer o.ä. kurzzeitig angeeignet, aktualisiert, also quasi ›ausgeliehen‹ wird. Natürlich wird auch der innerstädtische Raum im Gehen erobert, zum Beispiel bei Kureishi: »So this was London at last, and nothing gave me more pleasure than strolling around my new possession all day. London seemed like a house with five thousand rooms, all different; the kick was to work out how they connected, and eventually to walk through all of them […]« (Kureishi: 126)

Auch hier wird ein ›Besitz‹ angeeignet, der nicht der eigene ist. Allerdings wird die Stadt als ein bereits strukturierter und bewerteter Raum beschrieben, als ein fertiges ›Haus‹, dessen Aufteilung, Wege und Regeln man lernen kann und muss. Das Besondere am peripheren Raum ist, dass dessen Zugehörigkeiten und Grenzen beweglich und aushandelbar bleiben, nicht zuletzt deshalb, weil die Stadtperipherie selbst ein dynamisches Gebiet bleibt, das sich immer wieder verschiebt, so vermutet Hannes Böhringer: »Immer ist man in Bewegung, alles bewegt sich, nicht nur der Beobachter, sondern auch das Beobachtete. Das Periphere wächst, verändert sich, verfällt, wird neu gebaut, bewohnt, betrieben, bearbeitet, von Menschen in Bewegung.« (Böhringer 1998: 360)

Anders als Karten und Modelle, deren Ziel die Abbildung eines Ist-Zustands sein mag, birgt die Ortsannäherung über die Wegstrecke ein Möglichkeitsmoment in sich, das noch einmal die Dynamik und damit Historizität dieser Art von Ortsbericht betont. Ihre Spuren sind meist nicht dauerhaft und bleiben an die sie herstellenden Praktiken gebunden, mithin auch an ihre Akteure, die gehen, benennen und bewerten. Dennoch produzieren auch das ziellose Streunen oder das routinierte Benutzen von Wegen kurzzeitig Karten, insbesondere natürlich mental maps ihrer Umgebung. Als eine Form der Aneignung eröffnen und generieren sie in diesem Sinne eigene, neue Wissensbestände und -räume.

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Erzählen aus der Vorstadt Ort und Sprache, Gehen und Erzählen hängen in de Certeaus Argumentation eng zusammen. Sie liefern nicht nur die Bilder füreinander – der Akt des Gehens ist wie ein Sprechakt, das Erzählen funktioniert wie das Auswählen und Durchschreiten von Räumen. Sprache und Raum gehen beizeiten starke, wenn auch manchmal widersprüchliche Verbindungen ein, wenn es um Fragen von individueller wie kollektiver Identität, von Biographie und Geschichte geht. Orte setzen Erzählungen in Gang, Wege führen zu Erfahrungen und Geschichte, und Erzählungen wiederum produzieren Ortsidentitäten, sie »führen eine Arbeit aus, die unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt« (de Certeau 1988: 220). Für de Certeau ist ein Ort zunächst einmal »eine momentane Konstellation von festen Punkten« (ebd.: 217). Im Konzept des ›Raums‹ treten dagegen Bewegung, Richtung, Dynamik, kurz: Handlung hinzu. »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.« (Ebd.: 218) Was also ›macht‹ die Sprache, insbesondere das Erzählen mit dem Raum? Wie sieht diese Arbeit aus, die Orte in Räume, Nicht-Orte in Orte oder glatte in gekerbte Räume umwandeln soll? Ein Blick auf die in den literarischen Texten auftauchenden Techniken des Erzählens zeigt, inwiefern darin ähnliche Elemente zum Tragen kommen wie in den eben beschriebenen räumlichen Praktiken: Spuren verfolgen und legen, Wege entdecken und vergessen, erinnern und archivieren. Sprache wirkt auf Raum ein, aber wird auch maßgeblich vom Raum beeinflusst: Zu Beginn des Abenteuers im Roman unserer Kindheit, am Anfang des Weges steht so nicht nur eine rätselhafte Prophezeiung. Auch das mündliche Erzählen des Älteren Bruders initiiert das Streunen der Kinderbande, indem es Realität und Imagination zu einem neuen, erweiterten Raum verschwimmen lässt: »Die Eschen ragen am höchsten. Wie die Spitzen von Masten piksen sie ins weiche, noch nicht von der kommenden Hitze ausgehärtete Blau, und damit ist unserem Älteren Bruder offenbar, dass er für seine Freunde heute als Erstes eine Piratengeschichte erfinden wird.« (Klein 2010: 29)

Die Geschichten des Bruders wurzeln also in seiner näheren Umgebung, nehmen diese auf und transformieren sie ins Märchen- oder wenigstens Abenteuerhafte. Gleichzeitig liefert die Erzählung des Älteren Bruders schon Deutungsmöglichkeiten für die nachfolgenden Geschehnisse der Handlung. Im Verlauf der weiteren Reise müssen dann vermeintlich kontingente Spuren und Zeichen nicht nur entdeckt und gesammelt, sondern auch gedeutet und in eine Erzählung zusammengebracht werden, welche die Vorortumgebung und den imaginierten Raum der Abenteuererzählung verbindet. Gegenstände wie ein magischer Schlüssel werden in der Piratengeschichte des Bruders zuerst erzählt und tauchen dann später tatsächlich auf, um den Kindern gleich drei verschlossene Tore zu öffnen (ebd.: 378). Dass ihre Reise und Abenteuer ohne eine rahmende und erklärende Geschichte gar nicht erfahrbar sind, darüber reflektieren die Kinder bereits währenddessen. So soll der Ältere Bruder nicht nur »die Wahrheit in eine schöne Geschichte stopfen« (ebd.: 249), wenn es um die Vergangenheit ihrer Siedlung geht. Auch die zukünftige Historisierung und Narrativierung der aktuellen Ereignisse muss bereits mitgedacht und vielleicht auch ein wenig beeinflusst werden:

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»Und dann soll unser großer Bruder die ganze Trichterglotzerei als eine richtige Geschichte, also als etwas, wofür die Hauptperson nicht wie ein armer Affe ausgelacht wird, sondern im Gegenteil als Held aufglänzt, an die Herzen der anderen legen.« (Ebd.: 288)

Im Roman unserer Kindheit wird überhaupt viel erzählt, nicht nur Geschichten, auch Witze und Anekdoten, diese kindliche Form der Kurzprosa, die hier von den ›Witzigen Zwillingen‹ gesammelt, im »gemeinsamen Gedächtnis« (ebd.: 17) gespeichert, bei Bedarf erzählt und den Gegebenheiten nach modifiziert wird. Neben der aneignenden Bewegung im Raum ist es oft das Erzählen, das die Handlung ermöglicht und weiterbringt, indem es Realität und Imagination verschwimmen lässt. Indem sie das Phantastische erzählend in ihre Alltagswelt integrieren, sind die Kinder in der Lage, eine Sprache und Bilder für das Unaussprechliche zu finden, das im Verschweigen der Erwachsenen an sie weitergegeben wird. Es wird außerdem deutlich, dass die scheinbar geschichtslose Vorstadtsiedlung sich im genaueren Betrachten als Raum voller Geschichte(n) herausstellt. Die Kinder erzählen Geschichten, ihr eigenes Abenteuer wiederum wird Teil einer solchen suburbanen Legende – und vielleicht zum Anfang für ein Archiv der Vorstadt. Die Praktiken des Entdeckens und des Erzählens können so als zwei Komponenten im Entstehen eines suburbanen Mythos und als solche als essentielle Elemente einer lokalen suburbanen Identität betrachtet werden. Sammeln, Ausleihen, Archivieren Das Moment des Archivs für scheinbar vergangenheits- und ereignislose Orte wird noch verstärkt durch die Komponente des Sammelns und Anordnens von Erzähltem und Erzählbarem, die sich bei Klein im Sammelalbum der Zwillinge findet, in dem sich die Bilder zu einer Geschichte zusammensetzen, die der Ältere Bruder vorliest bzw. erzählt (ebd.: 125), aber auch in den Büchern, die aus der Leihbücherei des Kaufmanns mitgenommen, verschlungen, vom Älteren Bruder in Geschichten kunstvoll ausgeschmückt und weitergesponnen werden (ebd.: 209) bevor er sie wieder abliefert. Hier, in der Leihbücherwelt, ist Wissen, sind Geschichten im Fluss, ganz anders als diejenigen Bücher, Geschichten und Dokumente, die zwar – wie die Kriegsromansammlung des verschollenen Onkels – in den Truhen und Küchenbänken der Wohnungen gelagert werden, die aber nicht gelesen, von denen nichts weitererzählt wird. Mit dem Sammeln geht auch die Auswahl dessen einher, was weitergegeben und der Geschichte der (Vor-)Stadt hinzugefügt werden soll. Indem die Kinder im Roman unserer Kindheit nicht nur die von den Veteranen für sie ausgelegten Gegenstände und Zeichen finden, sondern diese Zeugnisse des Krieges (Krücken aus dem Lazarett; das Medaillon des Kommandanten Silber) in eine neue, phantastische Erzählung verweben, machen sie auch diese schlummernden Wissensbestände für sich zugänglich und verstehbar. Sie stopfen wiederum »die Wahrheit in eine schöne Geschichte« (ebd.: 249) und bewahren sie so in veränderlicher Form. Geht man davon aus, dass es einer Sammlung so wie in dem ihr verwandten Archiv insbesondere darum geht, dauerhaft »die in ihr aufbewahrten Objekte vor dem Vergessen« (te Heesen/Spary

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2001: 19)9 zu schützen, dann bilden sich im Roman unserer Kindheit eben nicht dort solche Archive aus, wo allein die Objekte bewahrt werden. Vielmehr entstehen bewegliche, orale oder vorübergehende Archive in den Erzählungen und geliehenen Büchern. Das Geschichtensammeln findet sich auch in den anderen Texten. Es verweist darin durchaus nicht immer ausschließlich auf eine Gedächtnisfunktion, wohl oft aber auf eine (literarische) Tradition. Die jugendlichen Archivare der Vororte lesen wie sie streunen: Sie sammeln an Lektüre ein, was ihnen über den Weg läuft. Als zeitgenössischer Lesestoff garantiert dies zum einen den Anschluss an ein größeres Ganzes: Im Buddha of Suburbia ist dies die urbane Jugendkultur, an der nur durch Musikzeitschriften zu partizipieren ist (Kureishi 1990: 8), in Låt den rätte komma in sammelt Oskar in seinem Bastelbuch Artikel und Berichte über die alltäglichen Horrorgeschichten, die im Verlauf der Handlung auch in die Vorstadt finden. Oskar bewahrt das in Ausschnitten »materialisiert[e] Geschehen« (te Heesen 2006: 8) und kann schließlich sogar die eigenen Erlebnisse, die eigene Geschichte zu seiner Sammlung hinzufügen. Zum anderen weben sich Figuren wie Texte durch spezifische Verweise auf Film und Literatur in die verschiedensten kulturellen Traditionsstränge ein: Lanzerromane bei Klein, das Dschungelbuch von J.R. Kipling im Buddha of Suburbia als Prototyp einer Narration, die ethnische Minderheiten auf die Rolle des exotischen Jünglings oder des spaßig-faulen Bären Baloo reduziert. Die Rezeption von Literatur und Film bildet in allen Fällen weniger eine Fußnote, sondern mündet vielmehr wiederum in Versuche, diese Referenzen zu sammeln und zu ordnen, in dem vorgegebenen Angebote besprochen, bewertet und in einen ganz eigenen Kanon formiert werden – eine Strategie, mit der sich gleichzeitig die Texte selbst intertextuell verorten können. In Kanak Sprak vollzieht sich das Sammeln und Ordnen weniger auf inhaltlicher Ebene als vielmehr in der Anlage des Gesamtbandes und in der Komposition der Texte in mehrere stilisierte Interviewtexte. Der Erzähler als Ethnologe sammelt, so das ›Vorwort‹, Geschichten und Texte, die er nicht ethnologisch korrekt, wohl aber in einem für ihn besonders ›echten‹ Sinne festhält und archiviert. Das Tonband findet Erwähnung und Gebrauch, muss jedoch ›gelöscht‹ werden, um damit der ›Übersetzung‹ der profanen Erzählungen in Literatur Platz zu machen. Zusammen bilden die 24 Mißtöne eine sehr eigenwillige Melodie, eine Auswahl von Stimmen, die Kanak Sprak repräsentieren dürfen. Auch auf sprachlicher Ebene wird also wieder gesammelt, angeeignet und neu zusammengesetzt, indem lokal verortete Sprachen ebenso wie überregionale Sprachkulturen wie der Rap, die ihren Ort in der Sprache der ›Kanak Kultur‹, wie Zaimoglu sie gesetzt hat, finden. Mit dieser sprachlichen Ebene der Aneignung durch Collage findet sich so abschließend ein sprechendes Bild für die Folgen, die das jugendliche Sammeln der Figuren ebenso wie der intertextuelle und zuletzt auch sprachliche Eklektizismus ihrer Autoren für diese ›Geschichten aus der Vorstadt‹ haben: So wie 9

Wobei eben nicht jede Sammlung auf eine solche Dauerhaftigkeit angelegt ist - darin liegt einer der Unterscheide zum Archiv, ein weiterer wäre das aktive Zusammensuchen der Sammlung.

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sich aus den einzelnen Wegstrecken der Protagonisten der Raum der Vorstadt erschlossen und kartographiert wird, so setzen sich im Erzählen und Sammeln Profanes und Hochkulturelles, jugendliche Popkultur und Literaturkanon, Konsumgüter und Exotismus zu einer Bibliothek, zu einer Sprache, zu einem kulturellen Gedächtnis – kurz zu einem Archiv der Vorstadt neu zusammen.

L ITERARISCHE A NEIGNUNGEN II: V ORSTADT – R ESÜMEE

ERZÄHLEN AUS DER

»Wenn man alle Städteschilderungen, die es gibt, nach dem Geburtsort der Verfasser in zwei Gruppen teilen wollte, dann würde sich bestimmt herausstellen, daß die von Einheimischen verfaßten sehr in der Minderzahl sind. Der oberflächliche Anlaß, das Exotische, Pittoreske wirkt nur auf Fremde.« (Benjamin 1972: 194)

Walter Benjamins Beobachtung zu Stadtbeschreibungen (hier speziell zu Hessels Spazieren in Berlin) lässt sich wohl in gewissem Maße auch für das Ende des 20. Jahrhunderts noch aufrechterhalten. Reisebeschreibungen und Stadtführer werden auch heute zumeist von erfahrenen, professionell Reisenden geschrieben, auch wenn es ihr Ziel sein mag, möglichst aktuelles und authentisches ›Insiderwissen‹ zu vermitteln. Wer aber schreibt Texte über diejenigen Orte, die in solchen Reiseführern nicht erwähnt – oder vielleicht mit einer Warnung versehen – werden, über die ›weißen Flecken‹ an den Rändern der Städte? Hier, so zeigt die Textauswahl, scheint der Anteil der ›Einheimischen‹ unter den Autoren enorm zuzunehmen. Wenn also Alexander Mitscherlich im Jahr 1965 in Sorge um den Verlust von ›Heimat‹ eine zerstörungswütige Jugend ohne »Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative« aus den Vorstädten prophezeite, dann sind es eben gerade Vertreter dieser in den Nachkriegssiedlungen aufgewachsenen Generationen, die nun mit und über diese Orte zu schreiben beginnen. »Um Schwung zu haben, muß man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben«, so Mitscherlich. Ob eine solche Sicherheit zum Schreiben (oder zur Identitätsfindung) notwendig ist, bleibe dahingestellt, aber zumindest bekommt man doch den Eindruck, dass eine Reihe von jungen Schriftstellern ganz bewusst den heimischen Vorort als Ausgangspunkt des kreativen ›Abstoßens‹ gewählt haben. John Ajvide Lindqvist inszeniert zum Beispiel den heimischen Vorort dezidiert als Schreibanlass: »Das war meine ganze Welt bis ich 14 oder so wurde. Blackeberg zu schildern, wie es zu dieser Zeit war, war zentral für mich, als ich anfing zu schreiben«10 (Sjöstrand 2008). Mitscherlich hatte vermutet, die Nachkriegsstadtränder gäben keine Möglichkeit der Identifikation oder des Zugehörigkeitsgefühls. Diese Unfähigkeit der Vorstädte als ›Heimat‹ wurde festgemacht an ihrer fehlenden Geschichte, ihrer Überplanung und Inszeniertheit, sowie an ihrer nur »agglomerierten« Unbestimmtheit. Ein Blick auf 10 »Det var världen för mig fram tills att jag blev 14 eller så. Att skildra Blackeberg under den tiden var centralt för mig när jag började skriva« (Sjöstrand 2008).

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die Darstellung vorstädtischer Räume vor allem in Texten über Kindheit und Jugend – als zugleich globales und lokales Phänomen, als Ort der Herkunft wie des Übergangs – lässt vermuten, dass Vorstadt in der Literatur durchaus zu einem, wenn nicht sogar zu dem typischen Raum von Herkunft und Identität geworden ist. Texte aus den Vororten thematisieren den Ort und oft sogar seine Entstehung, spielen mit den Besonderheiten eines ›jungen‹ Ortes, werden selbst zu Trägern eines kollektiven oder eines räumlichen Gedächtnisses. Als Erinnerungstexte und Kindheitsromane im weiteren Sinne sind sie nicht nur in ihrem Handlungsort, sondern ebenso in ihrem zeitlichen Rahmen eindeutig verortet. Die Texte werden aber auch zu einer Inszenierung der eigenen Schreibanfänge in der Vorstadt: Sie verankern den Beginn der Autorschaft intertextuell in einem eigenen Kanon von Referenzen und räumlich im noch unbesetzten, aber erwartungsvollen Raum neuer Vorstadtsiedlungen. Ihre scheinbare Ereignis- und Geschichtslosigkeit wird zum Ausgangspunkt sowohl für die eigene Geschichte der Vorstädte wie für das eigene Schreiben – für diejenigen Geschichten also, die unter der ruhigen Oberfläche der suburbanen Alltagswelt schlummern.

L ITERATUR Primärliteratur Ajvide Lindqvist, John (2005): Låt den rätte komma in, Stockholm: Ordfront. ——— (2007): So finster die Nacht, Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe. Handke, Peter (1974): »Die offenen Geheimnisse der Technokratie«, in: Als das Wünschen noch geholfen hat, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 31–54. Klein, Georg (2010): Roman unserer Kindheit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kureishi, Hanif (1990): The Buddha of Suburbia, London: Faber and Faber. Levin, Ira: The Stepford Wives, New York: Random House. Meyer, Clemens (2006): Als wir träumten, Frankfurt am Main: S. Fischer. Regener, Sven (2004): Neue Vahr Süd, Frankfurt am Main: Eichborn. Zaimoglu, Feridun (1995): Kanak Sprak. 14 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Hamburg: Rotbuch-Verlag. ——— (1997): Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongun, Hamburg: Rotbuch-Verlag. ——— (1998): Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft, Hamburg: Rotbuch-Verlag. ——— (2007): »Mein Kiel. Feridun Zaimoglus Liebeserklärung an seine Stadt«, in: Merian Kiel extra 1/07, S. 12–13.

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Sekundärliteratur Baßler, Moritz (2002): Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: Beck. Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Aus dem Frz. übersetzt von Hans-Joachim Metzger, Berlin: Merve-Verlag. Benjamin, Walter (1972ff.): Gesammelte Schriften Bd. III. Hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Böhringer, Hannes (1998): »Peripherie bedeutet wortwörtlich Herumtragen«, in: Peripherie ist überall. Hrsg. v. Walter Prigge, Frankfurt am Main/New York: Campus-Verlag, S. 360–363. De Certeau, Michel (1980): L’invention du quotidien I. Arts de faire, Paris: Gallimard. ——— (1988): Kunst des Handelns. Aus d. Franz. von Ronald Voullié, Berlin: Merve-Verlag. Deinet, Ulrich/Reutlinger, Christian (Hg.) (2004): »Aneignung« als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. Beiträge zur Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte, Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften. Gansel, Carsten (2011): »Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur«, in: Ders. (Hg.), Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung: Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg: Winter, S. 15–48. Groys, Boris (1992): Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München: Hanser. Halsall, Robert (2004): »Phenomenology of the Suburb: Peter Handke’s Mein Jahr in der Niemandsbucht«, in: Julian Preece/Osman Durrani (Hg.), Cityscapes And Countryside In Contemporary German Literature, Oxford u.a.: Lang, S. 159–178. Harlander, Tilman (2006): »Zentralität und Dezentralisierung. Großstadtentwicklung und städtebauliche Leitbilder im 20. Jahrhundert«, in: Clemens Zimmermann (Hg.), Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner, S. 23–40. Head, Dominic (2000): »Poisoned Minds. Suburbanites on Post-War British Fiction«, in: Roger Webster (Hg.), Expanding suburbia: reviewing suburban narratives, New York/Oxford: Berghahn Books, S. 71–89. Heesen, Anke te (2006): Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag. Heesen, Anke te / Spary, E. C. (Hg) (2001): Sammeln als Wissen: das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen: Wallstein-Verlag. Ingold, Tim (2007): Lines. A brief history, London: Routledge. Klein, Gabriele / Friedrich, Malte (2003): Is this real? Die Kultur des HipHop, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Köster, Juliane (2013): »Zwischen Artistik und Zeitgeschichte. Überlieferungsmodi in Roman unserer Kindheit«, in: Christoph Jürgensen/Tom Kindt (Hg.), »Wie in luzidem Schlaf«: zum Werk Georg Kleins. Berlin: Erich Schmidt, S. 165–176. Lyotard, Jean-François (1998): »Zone«, in: Ders., Postmoderne Moralitäten, Wien: Passagen-Verlag, S. 23–36.

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Pajaczkowska, Claire (2005): »Urban memory/suburban oblivion«, in: Mark Crinson (Hg.), Urban memory. History and amnesia in the modern city, Oxon: Routledge, S. 23–45. Pratt, Mary Louise (1991): »Arts of the Contact Zone«, in: Profession 91, S. 33–40. Röggla, Kathrin (2006): »geisterstädte geisterfilme«, in: Dies., Disaster awareness fair: zum Katastrophischen in Stadt, Land und Film. Graz/Wien: Literaturverlag Droschl 2006, S. 7–30. Sjöstrand, Johann (2008): »Vampyrboken har satt Blackeberg på kartan«, in: Svenska Dagbladet vom 24.10.2008. Skelton, Tracey/Valentine, Gill (Hg.) (1998): Cool places. Geographies of youth cultures, London/New York: Routledge. Von Saldern, Adelheid (2000): »Stadtrandwohnen – Soziale Ungleicheit in historischer Perspektive«, in: Annette Harth (Hg.), Stadt und soziale Ungleichheit, Opladen: Leske und Budrich, S. 79-97. Webster, Roger (Hg.) (2000): Expanding suburbia: reviewing suburban narratives, New York/Oxford: Berghahn Books. Wright, Rochelle (2010): »Vampire in the Stockholm suburbs: Let the Right One In and genre hybridity«, in: Journal of Scandinavian Cinema 1/1. Wischmann, Antje (2003): Verdichtete Stadtwahrnehmung. Untersuchungen zum literarischen und urbanistischen Diskurs in Skandinavien 1955-1995, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag.

Türe zu. Fenster auf. Das Kinderzimmer als kinder- und jugendliterarischer Raum H EIDI L EXE

Abbildung 1: Die Legende von Alexandra & Rose. Bildgeschichte von Jon Klassen © Beltz & Gelberg 2011. Die Legende von Alexandra & Rose. Ihren Ausgang nimmt die in sich geschlossene Bildgeschichte in einer Dachkammer. (Siehe 1.) Das »Zimmer mit dem kleinen Fenster« scheint Grund und Ursache für einen reichlich martialisch ausgetragenen Kampf um die bessere Aussicht: Aus den Bildlegenden der Legende lässt sich erschließen,

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dass die arme, nunmehr in Einzelteile zerstückelte Rose die Welt nicht mehr vom »Zimmer mit dem größeren Fenster« aus betrachtet, sondern von unten. (Siehe 4. 5. 6. 7.) Der in den Bildlegenden mit ›2.‹ markierte Raum hingegen hat seine Besitzerin gewechselt. Mit der feindlichen Übernahme des (Kinder-) Zimmers mit dem größeren Fenster lässt der kanadische Illustrator Jon Klassen die Protagonistin Alexandra mit den Mitteln der Horrorgeschichte jene »Raum-Macht« demonstrieren, die Hartmut Böhme der Architektur als »Territorialisierungsstrategie« (Böhme 2007: 57) zuschreibt. Der künstlerische Blick wird dabei von außen auf das fragliche Zimmer geworfen – die einzige Information, die über das Zimmer gegeben wird, betrifft die Größe seines Fensters. Wenn im Folgenden versucht wird, ein kinder- und jugendliterarisches Narrativ des Kinderzimmers in den Blick zu nehmen, wird das Fenster eine durchaus nicht unwesentliche raumpoetologische Rolle spielen; dennoch wird die räumliche Innensicht dominieren: Spannt man den Bogen vom Bilderbuch bis zum Jugendroman, wird in der Kinder- und Jugendliteratur aus dem geschlossenen Raum heraus erzählt – und erst in einem zweiten Schritt aus diesem geschlossenen Raum heraus der Blick nach außen geworfen. Territorialisierungsstrategien finden dabei auf der Erzählebene ihre Anwendung, wenn die innenarchitektonische Ausstattung und das Inventar des Kinderzimmers um- und neugedeutet werden, und aus dem (scheinbar) Alltäglichen die Kulisse für Abenteuer-, Mord- oder Gespenstergeschichten erwächst.

H INTER

VERSCHLOSSENEN

T ÜREN

Der Horror, der sich bei Jon Klassen in der Raum-Macht-Übernahme von Alexandra abzeichnet, setzt sich im Kinderzimmer selbst durchaus fort; dann zum Beispiel, wenn des Nachts ein Blutbad unter Kuscheltieren anhebt: »Da lief was krumm im Kinderzimmer. Da war was faul im Spielzeugschrank. Bös fing es an und wurde schlimmer, roch penetrant, noch mehr: es stank. Nach Futterneid. Allabendlich begann ein Kampf auf Tod und Leben Manche Sachen sagten sich: Es kann nur einen Liebling geben.« (Straßer/Krausser 2002: o.S.)

In ihrem Bilderbuch Wenn Gwendolin nachts schlafen ging (EA: 2002) lassen Susanne Straßer und Helmut Krausser die »Hinterlist« regieren, sobald das Kind sein Kinderzimmer schlafend aus den Augen verliert. Von »Ernstfalltraining« ist da im gestempelten Text zu lesen, denn »Konkurrenz, die schläft ja nicht« (ebd.). Die titelgebende Gwendolin selbst hingegen scheint sehr wohl zu schlafen, denn sie ist nie im Bild zu sehen, während unter ihren ruchlosen Spielfiguren das Hauen und Stechen um ihre Gunst anhebt:

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»Was ablief war ein Blutgericht, von ausgesuchter Grausamkeit. In manchem Spielzeug machte sich Ein lebenslanges Trauma breit. Doch lebenslang ist relativ – das geht mitunter schnell vorüber. Die Mörder waren kreativ und litten unter Arbeitsfieber.« (Ebd.)

Die Illustrationen zoomen mit jedem Mordanschlag erneut in das Kinderzimmer und breiten die ausgefeilten Details des Massakers über die abfallenden Bildseiten der Bilderbuch-Bühne aus: Der Hampelmann im Pinocchio-Outfit baumelt erhängt an seiner eigenen Schnur, das rosa Aufzieh-Häschen liegt betäubt auf den Schienen der Spielzeugeisenbahn, während sich schon eine Wagengarnitur nähert, der kleine Roboter erleidet ein »Blutbad in der Waschmaschine« (ebd.). Zu lesen ist der mörderische Wettstreit um die Vorherrschaft als schwarzhumorige Variante der motivischen Tradition des belebten Spielzeugs, wie E.T.A. Hoffmann sie mit seiner Erzählung Nußknacker und Mausekönig (EA: 1816) in die Literatur eingeführt hat. Dort ist es Maries Spielzeugschrank, von dem das nächtliche Geschehen seinen Ausgang nimmt und eine Schlacht zwischen dem Mäuseheer und Spielzeugsoldaten die kleine Marie an die Grenzen ihres Verstandes führt. Bis hin zu John Lasseters Animationsfilm Toy Story (1995) setzt sich diese Tradition fort, die das Kinderzimmer als jenen Ort ausweist, an dem das Spielzeug nicht nur seine Beheimatung findet, sondern auch sein Eigenleben führt. Susanne Straßer und Helmut Krausser dient das Kinderzimmer dabei nur noch als räumliche Referenz; dennoch entfaltet dessen Topographie ihre Handlungsrelevanz im Sinne Hartmut Böhmes: Als Vorzeichnung möglicher Handlungen performiert sie den Aktionsraum (vgl. Böhme 2007: 62). »Wilhelm Tell, die Schnellversion: Man nimmt nen Apfel und drapiert Ihn auf dem Kopf der Zielperson, Schuss, Armbrust rein – kalt abserviert.« (Straßer/Krausser 2002: o.S.)

Wie diese »Zielperson« ausgesehen haben mag, ist in der Illustration nicht ersichtlich. Es zeichnen sich am Kinderzimmerboden nur jene Kreideumrisse ab, die die Lage der Leiche markieren (1); daneben kommt wie verloren ein Apfel zu liegen (2); ein Richtungspfeil weist aus dem Zimmer hinaus (3) und markiert wohl den Fluchtweg des Mörders oder der Mörderin. Gezeigt wird also ein Tatort, oder – mit Blick auf die Nummerierungen – die Skizze eines Tatorts, wie man ihn aus medialen Kontexten kennt. Bespielt wird der Aktionsraum des Kinderzimmers also wortwörtlich mit den szenischen Mitteln der Populärkultur. Sie fügen sich in ein illustratorisches Spiel mit Versatzstücken und Zitaten, das auf die unterschiedlichsten künstlerischen und kulturellen Kontexte verweist: Im Schattenspiel der Mörder finden sich Anleihen an den film noir; Landschaftsmalereien, Heiligenbildchen oder kleine Rehgeweihe an den Wänden kontrastieren in ihrer kitschigen Lieblichkeit die Ereignisse;

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Betrachterinnen und Betrachter werden vor die Leiche des Holzkrokodils drapiert, als würde es sich um ein Museumsobjekt handeln. Susanne Straßer und Helmut Krausser befreien das Kinderzimmer aus einer zuckerlrosa Umklammerung der Kinder-Werbe-Ästhetik und dekonstruieren deren kommerzielle Ikonografie – bis hin zur Barbie, deren wortwörtliche Dekonstruktion nur noch die leblosen Beine überlässt, wenn sie als »Rohrkrepiererin« im Staubsauger verschwindet. Illustratorisch basiert diese Inversion einer als heil geltenden Kinderwelt auf dem Materialmix – wobei in den Collagen auf ganz anachronistisch wirkende Materialien zurückgegriffen wird. Eine bildgestalterische Hauptrolle spielt zum Beispiel die Tapete mit ihren unterschiedlichen, immer ein wenig angestaubt wirkenden Mustern. Bewusst oder unbewusst stellt das Bilderbuch damit eine Verbindung zu dem kinderliteraturhistorisch wohl prägendsten Bilderbuchbeispiel her, in dem die Topographie des Kinderzimmers die dort stattfindenden Aktionen »präfiguriert« (Böhme 2007: 62): Franz Karl Ginzkeys Bilderbuch Florians wundersame Reise über die Tapete, erstmals 1931 erschienen: »Wer von euch, ihr Kinder, kennt Nicht was man Tapete nennt? […] Was nicht alles sieht man hier! Berge, Täler, Wald und Tier, Kirche, Schloß und Regenbogen, Auch ein Vogel kommt geflogen, Auch ein Reiter kommt geritten, und ein Blümlein steht inmitten. […] All dies und noch viel mehr, Florian sieht‘s und freut sich sehr. Mit ihm freun sich diese drei, Wurstel, Dackel, Papagei.« (Ginzkey/Tintner 1943: o.S.)

Topographien, so hält Hartmut Böhme fest, sind »Darstellungen von etwas, das ist, und das als solches in der Darstellung erst hervorgebracht wird« (Böhme 2007: 62). Franz Karl Ginzkey und sein Illustrator Erwin Tinter holen die Repräsentation eines Landschaftsbildes als Tapete ins Kinderzimmer und eröffnen damit die performative Dimension von dessen Topographie. Die »Bahnungen« (ebd.) dieser Topographie weisen die Richtung, in die Florians Reise gehen wird: Die Tapetenlandschaft weitet sich zu einer bespielbaren Abenteuerlandschaft. »Auf der Höh im grünen Klee Überm Kahn im Zaubersee? Schöne Welt, nun bist du mein! Kann ich nicht zu dir hinein? Kann ich nicht von hier heraus, Da zu eng mir ist mein Haus? Sieh, kaum hat er es gedacht, Ist das Wunder schon vollbracht.

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Plötzlich ist er winzig klein, steigt schon in den Fahrstuhl ein, Winzig klein sind auch die drei: Wurstel, Dackel, Papagei.« (Ginzkey/Tintner 1943: o.S.)

Wenn der nunmehr winzig kleine Florian in den Fahrstuhl zur »Haltestelle Schrank« steigt, von der aus die Spielzeug-Eisenbahn in den Tunnel des Tapeten-Berges führt, wird der geschlossene Raum des Kinderzimmers zum offenen Raum, dem in der kindlichen Phantasie weder topografische noch figurale Grenzen gesetzt sind. (In sich) geschlossen ist der Raum dabei auch im Sinne des autonomen kindlichen Handelns, das erst durch die deutliche räumliche Abgrenzung zum erwachsenen Denken und Handeln möglich wird. Nur wenn das Kinderzimmer zur Welt der Erwachsenen hin deutlich begrenzt wird, können jene Territorialisierungsstrategien ausgespielt werden, die es zu unterschiedlichen literarischen Genre- und Aktionsräumen machen. Erst wenn die Türe des Kinderzimmers geschlossen ist, kann man sich in ihm verlaufen wie in einem Wald. Denn auch der wohl berühmteste Wald der Kinderliteratur, der je in einem Kinderzimmer gewachsen ist, tut dies, nachdem die Türe vermutlich heftig von innen zugeschlagen wurde. Sichtbar ist in den Illustrationen in Maurice Sendaks Bilderbuch Wo die wilden Kerle wohnen (EA 1963) nur, dass sie geschlossen ist, als das Kinderzimmer beginnt, sich in einen Wald zu verwandeln. Durch das nächtliche Fenster des zu diesem Zeitpunkt noch geschlossenen Raumes scheint bereits jener sich rasch verändernde Mond, der auch den offenen Raum jenes Landes bestrahlt, das dem geschlossenen Raum entwächst. Erst durch diese Gleichzeitigkeit von offenem und geschlossenem Raum entsteht jenes liminale Dazwischen, dem Victor Turner den Zustand des »bitwixt/between« (vgl. Turner 1957) zuschreibt. Es ist ein Liminalitätsraum, in dem Gundel Mattenklott »individuelle Riten« verortet sieht, die Kinder selbst »erfinden oder vollziehen« (Mattenklott 2013: 29). Wenn es in der Originalausgabe heißt: »›And now‹, cried Max, ›let the wild rumpus start!‹« (Sendak 2000: o.S.), beginnt das in der deutschsprachigen Übersetzung leider nur als »Krach« benannte Spektakel, mit dem Max den geschlossenen Raum hinter sich lässt, der sein kindliches Spiel sichtbar begrenzt hat: Das noch von breitem Weißraum umgebene Beginnbild ist über die Doppelseiten hinaus zum Aktionsraum angewachsen, in dem Max als archetypisches Kind einem »ursprünglichen, unbewussten und instinktiven Zustand« (Jung 1997: 118) entsprechend agiert. Erst die kathartische Wirkung der sanktionierten kindlichen Omnipotenzerfahrung als »König aller wilden Kerle« (Sendak 1967: o. S.) ermöglicht ihm die Rückkehr in das Kinderzimmer, dessen räumliche an eine zivilisatorische Begrenzung gebunden ist. Unter den veränderten Bedingungen erhält auch die Kinderzimmertüre nach Maxʼ Rückkehr eine neue Bedeutungsaufladung: Das Raumsignal der kindlichen Abgrenzung von der Mutter repräsentiert nunmehr deren beschützende Präsenz. Und obwohl Max zu Beginn der Geschichte »ohne Essen« ins Bett musste, wartet bei seiner Rückkehr nach Wochen und Wochen im Kinderzimmer das Abendessen auf ihn – »und es war noch warm« (ebd.: 37).

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D AS K INDERZIMMER

ALS RAUMGESTALTERISCHES

F AKTUM

Die Türe weist das Kinderzimmer als Teil des familiären Wohnraums aus, als »Teilbereich eines räumlich-materiellen Arrangements der kindlichen Umwelt« (Gehrke-Riedlin 2002: 8). Es ist damit ein relationaler Raum, der in seiner Existenz angebunden ist an die elterlichen Vorgaben lebensweltlicher Gestaltung. Doch nicht jeder Raum, der von einem Kind bewohnt wird, ist auch ein Kinderzimmer; vielmehr entsteht das Kinderzimmer überhaupt erst dort, wo sich das Konzept familiärer Bürgerlichkeit auch in deren Verhäuslichung abzeichnet. Aus heutiger Sicht nimmt die familiäre Relation des Kinderzimmers begrifflich keine Rücksicht darauf, wer in diesem Kinderzimmer wohnt – welches Alter also dieses Kind seiner Eltern hat. Antje Flade hat in ihrem Beitrag über das Kinderzimmer in dem vom Kinderschutzbund herausgegebenen Band Kind und Wohnen darauf hingewiesen, dass »ein Kinderzimmer heute längst nicht nur mehr ein Kinderzimmer im engeren Sinn, d.h. ein Zimmer für kleine Kinder« (Flade 1994: 145) ist. Am Kinderzimmer als relationalen Wohnraum werden jedoch durch dessen Existenz, dessen Ausstattung und Interieur innerfamiliäre Hierarchien ebenso ablesbar wie die kulturelle und soziale Verortung des in ihm lebenden Kindes oder Jugendlichen – das gilt im sozialwissenschaftlichen Kontext ebenso wie für deren Übertragung in einen medialen Kontext. Das »Verhältnis von empirischen Raumwirklichkeiten und ihren textuellen Figurationen« (Hallet/Neumann 2009: 22) zielt in der Darstellung von Kinderzimmern in der Kinder- und Jugendliteratur ebenso wie der Populärkultur zuallererst auf die Charakterisierung der in ihnen lebenden Figuren ab. Als architektonisches und raumgestalterisches Faktum ist das Kinderzimmer ein Anschauungsraum (vgl. Haupt 2004), der sich im narrativen Kontext abbilden lässt. Weit interessanter als dieser literarische Abbild-Charakter sozialwissenschaftlich ausdifferenzierter Lebensmodelle, die sich am Wohnraum manifestieren, erscheint es jedoch, auch das Kinderzimmer in den Kontext von Raummodellen zu stellen.

S PANNUNGSRAUM

ZWISCHEN

T ÜRE

UND

F ENSTER

Wenn Martin Heidegger vom Moment des Einräumens in die Welt spricht, »vom Freigeben des Zuhandenen auf seine Räumlichkeit« (Heidegger 2006: 148), dann entsteht dem Kinderzimmer vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung: Es ist der erste Raum, in den ein solches Einräumen erfolgt. »Das Wohnen ist die erste Raumnahme« (Böhme 2007: 56), hält Hartmut Böhme in Anschluss an Heidegger fest. Denn das »Leben […] ist zuallererst eine selbstregulierte und dynamische Verkörperung im Raum« (ebd.: 57). Das Kinderzimmer wird unter diesem Blickpunkt in der Literatur für Kinder und Jugendliche zum Raum kindlicher Selbsterprobung ebenso wie zum Basiscamp phantastischer Reisen, zum Rückzugsraum ebenso wie zum Raum körperlicher Selbsterfahrung. Das zeitliche Moment kindlicher Entwicklung erfährt im Kinderzimmer seine Verräumlichung, die in der Kinderliteratur selten so explizit abzulesen ist wie in Jörg Müllers Bilderbuch Der standhafte Zinnsoldat (EA: 1996).

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In das großformatige, textlose Bilderbuch (ein Abdruck des Märchens von Hans Christian Andersen ist auf einem Extrablatt beigelegt) führt der Schweizer Illustrator mit einem Wohnraum ein, der gerade renoviert wird. Unter den Dielen des neu zu verlegenden Bodens liegt vergessen ein Zinnsoldat, dessen Reise bis hin zu einem ethnologischen Museum im Bilderbuch erzählt wird. Seine erste Station ist das Zimmer eines Kindes. Dessen Heranwachsen zeigt Müller in drei Bildern:
 Gereicht wird der Zinnsoldat einem Kleinkind, das gerade einmal sicher auf seiner über den Kinderzimmerboden gebreiteten rosa Babydecke sitzen kann. Im Hintergrund ein Kinderbett, an der Wand ein Poster aus Jörg Müllers Bilderbogen Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder, erschienen 1973. Die Türe zum Kinderzimmer ist offen und gibt den Blick in einen weiteren Teil der Wohnung frei; es ist Tag, außerhalb des Kinderzimmers spiegelt sich das Licht eines Fensters auf dem Holzboden. Im zweiten Bild ist das Kind, das weitgehend geschlechtslos bleibt, wohl etwa im Grundschulalter. Es spielt mit dem Zinnsoldaten und ist dabei umgeben von einem Turm aus Legosteinen, einer Barbie, einer Puppe. Im Hintergrund des Kinderzimmers steht ein Stockbett, an der Wand hängt nun ein Poster, das ein Sujet aus Jörg Müllers Bilderbuch Die Kanincheninsel, erschienen 1977, zeigt. Die Türe zum Kinderzimmer ist erneut offen; es ist Abend, durch die offene Türe sieht man im Nachbarzimmer einen Erwachsenen fernsehen. Im dritten Bild ist die Türe geschlossen, das Kind zum Jugendlichen geworden, der Blick nach draußen nur noch ein digitaler. Unaufgeräumter Schreibtisch, Computer, dahinter wiederum (nunmehr unterschiedliche) Poster an den Wänden: das Titelsujet aus Jörg Müllers Bilderbuch Aufstand der Tiere, erschienen 1989, Woody aus Toy Story, die Kelly Family. Am Boden des Kinderzimmers häufen sich Spielsachen, die bereits im nächsten Bild in einen Müllsack gesteckt auf ihren Abtransport warten. Unter ihnen natürlich der Zinnsoldat. Jörg Müllers Bildfolge entspricht einerseits dem oben genannten Abbild-Charakter und dessen implizierten Lebensmodellen; sie zeigt das Moment des Einwohnens, von dem Heidegger spricht, und eine Medialisierung der kindlichen Lebenswelt. Aufwachsen in Raum und Zeit wird darin sichtbar. Die Bildfolge hat aber auch eine raumpoetologische Komponente: Die Türe macht die Anbindung des Kinderzimmers an den familiären Wohnbereich sichtbar – wobei sie im dritten Bild geschlossen bleibt. In der kindlichen Abgrenzung jedoch wird der relationale Charakter des Raums nur umso deutlicher. Das Kinderzimmer ist ein von den Eltern determinierter Raum und seine Raumdynamik entwickelt sich ausschließlich aus eben dieser Determination. Raummotivisch steht der Türe dabei das Fenster gegenüber (das in diesem Fall außerhalb des Kinderzimmers liegt).

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D AS K INDERZIMMER

ALS DETERMINIERTER I NNENRAUM

Im Fall von Der standhafte Zinnsoldat spielt das Fenster nur eine Nebenrolle; seine raumpoetologische Funktion entfaltet sich erst dann vollends, wenn ihm eine topografische Hauptrolle zugewiesen wird – wie zum Beispiel jenem Fenster, durch das Peter Pan ins Kinderzimmer der Darlings kommt. Jener Peter Pan, von dem Mrs. Darling zum ersten Mal hörte, »als sie die Gedanken ihrer Kinder aufräumte« (Barrie 1988: 12). Dieser geordneten Kinderwelt gehen Wendy und ihre beiden Brüder verloren, wenn sie Peter Pan durch das Fenster nach Neverland folgen. In diese geordnete Welt jedoch kehren sie auch wieder zurück und fügen sich mit dem Erwachsenwerden in die vorbestimmten Rollenmuster ein. Für Peter Pan wird das Fenster offen gelassen und mit jeder nachfolgenden Generation, die ihm folgt, wird Neverland neu aus seiner Imaginationskraft heraus erschaffen. Figuren, so zeigt sich an allen bisher genannten Beispielen, »werden durch die Räume identifiziert, in denen sie sich aufhalten und durch die Art und Weise charakterisiert, in der sie im Raum handeln, Grenzen überschreiten, mobil werden oder immobil bleiben« (Hallet/Neumann 2009: 25). Diese Bedeutung des Raums im Kontext fiktionaler Subjektkonstitution soll im Weiteren an zwei Beispielen gezeigt und das Kindezimmer dabei als integrativer Bestandteil kinder- und jugendliterarischer Raumrepräsentationen ausgewiesen werden, mit deren Hilfe eine Fiktionalisierung von Identitätsfindungsprozessen stattfindet. Die entscheidende raumpoetologische Rolle spielt dabei weiterhin das Fenster. »Die Rollläden waren heruntergelassen und durch die Ritzen fielen Sonnenstreifen. Ich sah die tanzenden Staubkörnchen im Licht. Draußen hörte ich die anderen: ›Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?‹ und ›Deutschland erklärt den Krieg gegen Frankreich!‹ Das Wasser wurde ohne mich überquert, der Krieg ohne mich verloren. Und am lautesten war Rainers Stimme: ›Ich hab ihn!‹, rief er und ›Mein Land!‹ rief er. Ich hätte alles getan, um draußen auf der Straße zu sein. Die Straße gehörte nämlich uns Kindern.« (Richter 2002: 19f.)

Das Draußen, das die namenlos bleibende, kindliche Ich-Erzählerin in Jutta Richters Kinderroman Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen (EA: 2000) ersehnt, wirft sein Licht durch das Fenster in das Kinderzimmer, den Ort des Hausarrests. Das Moment der Gefangenschaft lässt den materiellen Raum, über dessen Ausstattung kaum etwas zu erfahren ist, zum mentalen Raum im Sinne Edward Sojas (vgl. Hallet/Neumann 2009: 16) werden; in diesen wird das pädagogische Prinzip der beginnenden Wohlstandsgesellschaft im Nachkriegsdeutschland projiziert, deren oberste Prinzipien Moral und Sittlichkeit sind. Das ist ein »ordentliches Haus« (Richter 2000: 17), stellt der Vater der Ich-Erzählerin mit scheelem Blick auf Rainer fest, der Ausgeburt des Asozialen, dessen Mutter schon morgens betrunken ist.

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Als einziges Symbol im Raum, in dem sich der Freiheitsdrang der Ich-Erzählerin verdichtet, platziert Jutta Richter eine Zigarrenkiste; die darin gesammelten »Knippsteine und Abziehbilder, Schneckenhäuser [und] Taubenfedern« (ebd.: 16), weisen die Ich-Erzählerin als Schatzsucherin aus. Der scheinbar offene Raum des Außen bleibt mit dieser Schatzkiste auch im hermetischen Innen präsent. Die Grenze zwischen dem Innen und Außen ist das Fenster – und niemals würde die Ich-Erzählerin es wagen, diese Grenze zu überschreiten; denn über diese Grenze bestimmt der Vater. Bei Schwester Lioba im Kindergarten hat die Ich-Erzählerin einst gelernt, dass der liebe Gott allmächtig ist. »›Was Gott will, das geschieht.‹ Bei uns war das anders. Bei uns geschah immer, was mein Vater wollte.« (ebd.: 18)

Und so wie im Anfang das Wort war, wird auch die Welt der Ich-Erzählerin bestimmt vom Wort des Vaters: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Der Junge gehört ins Heim. Schandfleck. Das wird ein Nachspiel haben. Doch gerade weil er außerhalb der Grundprinzipien der ihn umgebenden Gesellschaft steht, kann Rainer sich flexibel im Raum bewegen. Er macht das Fenster zur Schwelle – die er an jenem Tag, als die titelgebende Spinne auftaucht, mit Leichtigkeit überspringt, um dem Hilferuf der Ich-Erzählerin zu folgen und von draußen nach drinnen zu gelangen. Die Totalverbarrikadierung (Rollladen, Vorhang) wird von der Ich-Erzählerin in einer Affekthandlung aufgehoben und zeigt Rainers Möglichkeit, den Raum frei zu bespielen. Er ist es, der aufgrund seiner Beweglichkeit für die IchErzählerin Raum überhaupt erst konstituiert und sie zum Beispiel mit zum Gruselhaus nimmt, jenem verbotenen Ort unten am Bahndamm. Als Rainer nach dem fatalen Streit mit Michael Franke vom Außenseiter zum Angeklagten wird, vermag er dennoch den Raum, von dessen moralischen Ecken und Winkeln alle anderen stets begrenzt werden, für sich zu nutzen, und sich gerade unter den Augen aller zu verstecken. Am Tag, an dem die Spinne in ihrem Zimmer auftaucht, entdeckt die IchErzählerin einen Riss in der Zimmerdecke. Entlang dieser Bruchlinie öffnet sich ihr Raum nach und nach für Rainer, der nach dem Streit mit den anderen Kindern Unterschlupf bei ihr sucht. Das Innen und das Außen verlieren an Bedeutung und schrumpfen auf den Intimraum einer Deckenhöhle zusammen, in der die beiden Haferflocken löffeln, Kakao trinken und über die Kellerkatze sprechen: Jenes in der Finsternis des Unbewussten lauernde Wesen, das Jutta Richter als Metapher für die kindliche Angst einführt. Der Vater jedoch zerstört diesen Deckenhöhlenraum ebenso, wie er den Inhalt der Schatzkiste als Strafe für den Ausflug zum Bahndamm zerstört hat. Die IchErzählerin ist erneut und umso nachhaltiger zurückgeworfen auf das Innen des Arrestraums; die darin empfundene Einsamkeit hat Folgen – und verändert auch den Außenraum. Doch: »›Wozu‹, dachte ich, ›wozu ist eigentlich ein Freund gut, den niemand leiden kann?‹« (ebd.: 75) Vor diesem Hintergrund lenken auch hier »räumliche Dimensionen […] soziale Einund Ausschlussprozesse« (Hallet/Neumann 2009: 26): Der finale Verrat der IchErzählerin an Rainer lässt den Außenraum zum gespiegelten Innenraum schrumpfen.

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Dass »gesellschaftliche Hierarchien über räumliche Strukturen produziert und legitimiert« (ebd.) werden, zeigt sich daran, dass Bewegung nun auch im Außenraum nicht mehr möglich ist: »Und ich sah noch einmal seinen schmalen Rücken, und ich sah, dass er ganz schmale Schultern hatte, und wäre diese Mauer nicht hinter mir gewesen, diese raue Viaduktsteinmauer, dann wäre ich weggelaufen und nie wiedergekommen.« (Richter 2000: 93)

Das Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen, das sich am Kinderzimmer als Spannungsverhältnis zwischen Türe und Fenster manifestiert, wird aufgehoben in einer Gleichsetzung von Innen- und Außenraum, die nun beide von den auf die Kinder übertragenen Werthaltungen der Eltern bestimmt werden. Noch deutlicher als in einem Kinderroman wie Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen zeichnet sich das Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen dort ab, wo die Bewegung im Raum zum konstitutiven Prinzip fiktionalisierter Identitätsfindungsprozesse wird: im Adoleszenzroman.

D AS J UGENDZIMMER

ALS

S CHWELLE

ZUM

A USSENRAUM

»Abends um neun lag ich im Bett, weil neun meine Bettzeit war. Meine Mutter kam zu mir und sagte, dass sie mich lieb hatte, und ich sagte: ›Bis morgen‹, und sie sagte: ›Bis morgen.‹ Dann machte sie das Licht aus und zog die Tür bis auf einen Spalt zu. Als ich mich zur Seite drehte, stand Margo Roth Spiegelman vor dem Fenster und drückte das Gesicht gegen die Scheibe. Ich stieg aus dem Bett und machte das Fenster auf. Das Fliegengitter war zwischen uns und zerlegte sie in Pixel.« (Green 2008: 11)

Der mittlerweile 17jährige Ich-Erzähler Quentin setzt an den Beginn von John Greens Roman Margos Spuren (EA: 2008) eine Kindheitserinnerung. Der Versuch, im folgenden Erzählverlauf Margos Identität Stück für Stück zusammenzusetzen, zeichnet sich in dieser Rückerinnerung bereits in der »Verpixelung« von Margos Gesicht durch das Fliegengitter des Fensters ab. Über all die Jahre ihrer Nachbarschaft hin wird Quentin kein klares Bild vom Mädchen von nebenan haben, die neun Jahre später erneut vor seinem Fenster auftaucht und ihn unter dem Motto »Carpe noctem« zum Helfer und Komplizen in einem nächtlichen Rachefeldzug an Mitschülerinnen und Mitschülern macht. Mit dem Fenster, durch das Quentin Margo in die Nacht und damit in einen aus seiner Sicht unbestimmten Raum folgt, wird hier ganz im Sinne Jurij Lotmanns die Grenze eines semantischen Feldes überschritten (vgl. Lotmann 1993: 332): Der zurückbleibende Innenraum des Kinderzimmers ist der Raum der ungebrochenen Biografie eines Jugendlichen, der sich im harmonischen Kontext der Familie und umgeben von gewitzten All-American-Buddies auf das College vorbereitet. Das »Ereignis« (Lotmann 1993, S. 330), das zur Grenzüberschreitung führt, ist Margo selbst. Es ist letztlich ihr Identitätsfindungsprozess, dem Quentin mit der Grenzüberschreitung folgt – denn nach der angesprochenen Nacht ist Margo verschwunden und Quentin muss sich auf die Suche nach ihr machen.

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Adoleszente Identitätsfindungsprozesse, so hat Nicole Kalteis in ihren auf Ottmar Ette basierenden Beiträgen gezeigt (vgl. Kalteis 2006), sind immer an Bewegung im Raum gebunden. Doch erst außerhalb des Kinderzimmers als räumliche Verdichtung elterlicher Determination können solche Identitätsfindungsprozesse stattfinden. Die Topographie jener Queste, auf die Quentin sich begibt, wird dabei von Margo selbst erschaffen – in Form eines Rätselspiels. Ihren Ausgang nimmt diese Queste in Quentins Zimmer gleichermaßen wie in jenem von Margo: Von seinem Zimmer aus erkennt Quentin ein Plakat auf den heruntergelassenen Rollläden von Margos Zimmer im Nachbarhaus; es zeigt einen Musiker, auf dessen Gitarre ein markanter Sticker klebt: THIS MACHINE KILLS FASCISTS. Die entsprechende Recherche führt vom 21. Jahrhundert zurück in die 1970er Jahre und zu Woody Guthrie. Dessen Antlitz lädt Quentin förmlich ein, erstmals in seinem Leben das Kinderzimmer von Margo zu betreten. Dort erwartet ihn Margos Musiksammlung. »Hunderte von Vinyl-Platten.« (Green 2008: 124) Billy Braggs Album Mermaid Avenue, das Woody Guthrie am Rück-Cover zeigt, verweist Quentin durch einen Songtitel auf das nächste Indiz: Walt Whitmans berühmten Lyrikband Leaves of Grass. Im darin verewigten Song of Myself heißt es: »Schraub die Schlösser von den Türen los! Schraub die Türen selbst von den Pfosten los!« (Ebd.: 128) Mit diesem Türpfosten ist jener in Quentins Zimmer gemeint, in dessen Scharnier Margo einen Adresshinweis platziert hat. Mit der wortwörtlichen Dekonstruktion von Quentins Zimmer setzt an diesem Punkt die Erzählstruktur eines Roadmovies ein. Hunderte Vinyl-Platten weisen dem Raum ambivalenten Charakter zu: Folgt man dem Erziehungswissenschaftler Wilfried Lippitz, entsteht diese Ambivalenz, indem Dinge und Orte von Kindern (in diesem Fall Jugendlichen) beseelt werden (vgl. Lippitz 1989: 101); über ihre Nützlichkeit hinaus werden sie »hochgradig mit subjektiver Bedeutung durchsetzt« (ebd.). Die Plattensammlung erhält damit eine ähnliche Raumfunktion wie die Schatzkiste der Ich-Erzählerin in Jutta Richters Kinderroman. Sie machen in Margos Zimmer die Überschreibung des faktischen Raums durch den medialen Raum sichtbar: Gerade die Tatsache, dass es sich um Schallplatten und nicht um CDs handelt, zeigt jene Vervielfältigung medialer Milieus, die auf eine »fragmentierte Lebensweise« (Hallet/Neumann 2009: 25) verweist. Sie setzt sich in Margos Selbstinszenierung im Außenraum fort. Identität muss dabei als »segmental« begriffen werden, als eine »lose assoziierte Konfiguration räumlichsozialer Verortungen« (ebd.). Das Patchwork an Orten (und an diesen Orten platzierten Symbolen) lässt Quentin auf seiner Spurensuche erkennen, dass Margo ihr Leben ständig neu überschreibt – so wie sie auch den Roman ihres Lebens in nur ein Heft schreibt und dabei die schon beschriebenen Seiten immer neu überschreibt. Der Raum, der durch die Spurensuche entsteht, ist zusammengesetzt aus Nicht-Orten, die über eine entsprechende Bedeutungsaufladung durch Marc Augé hinausreichen; es sind keine Orte, die existieren und dennoch keinerlei organische Gesellschaft beherbergen (vgl. Augé 1994: 83), sondern vielmehr Orte, die im topografischen Sinn überhaupt nicht existieren und nur durch Margos einsame Präsenz performiert werden. John Green greift hier das Motiv der Papertowns erzählerisch auf: fiktive Städte, die in Landkarten eingezeichnet werden, um einem Plagiat dieser Landkarten vorzubeugen.

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Wie Wendy ihrem Peter Pan, folgt also auch Quentin seiner Margo durch das Fenster in einen Raum verlorener Existenzen, der im Identitätsfindungsprozess immer neu entsteht. »Der physische Raum zwischen uns löst sich auf« (Green 2008: 331), stellt Quentin im romantisierenden Finale fest. Mit Blick auf das Kinderzimmer kann diese Form empfundener Entgrenzung nur disloziert vom elterlich determinierten Raum stattfinden. Wie auch schon in Jutta Richters Kinderroman zeigt sich auch hier, dass sich am und im Kinderzimmer zwar Entwicklungsstadien abzeichnen, dass der Innenraum des Kinderzimmers jedoch nicht durch Entwicklungs- und Identitätsfindungsprozesse performiert wird. Aus der gezeigten Dynamisierung des Innen- und des Außenraums, die ihren Ausgang im Kinderzimmer findet, lässt sich das Narrativ des Kinderzimmers durchaus noch weiter differenzieren. Der Bewegung von innen nach außen wäre dann auch noch die Frage nach der Bewegung von außen nach innen hinzuzufügen, wie sie zum Beispiel Milena Michiko Flašar ihrem Roman Ich nannte ihn Krawatte (EA: 2012) zu Grunde legt. Die junge, österreichische Autorin etabliert einen Hikikomori als Ich-Erzähler – einen jener japanischen Jugendlichen, die sich über Wochen, Monate oder gar Jahre weigern, ihr Zimmer im Haus der Eltern zu verlassen. Milena Michiko Flašar setzt erzählend ein mit der Rückeroberung des Außenraums und platziert das Kinderzimmer retrospektiv als räumliche Manifestation eines an den existentiellen Zumutungen des Lebens gescheiterten Jugendlichen. Es ist das Kinderzimmer als ein vom Tod besetzter Raum, der sich in Ich nannte ihn Krawatte abzeichnet. – Der kleine Horror, der sich in der schwarzhumorigen Annäherung an das Kinderzimmer in Jon Klassens Die Legende von Alexandra & Rose (EA: 2009) gezeigt hatte, wird hier abgelöst von der bitteren Erkenntnis: »Man lebt nur einmal, heißt es, warum stirbt man dann so oft.« (Flašar 2012: 124)

L ITERATUR Primärliteratur Barrie, James M. (1988): Peter Pan. Aus dem Englischen von Bernd Wilms, Hamburg: Dressler. [1911 unter dem Titel »Peter und Wendy«] Flašar, Milena Michiko (2012): Ich nannte ihn Krawatte, Berlin: Wagenbach. Ginzkey, Franz Karl/Tinter, Erwin (1943): Florians wundersame Reise über die Tapete, Wien: Wiener Verlag. [1931] Green, John (2010): Margos Spuren. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz, München: Hanser. [2008] Hoffmann, E.T.A. (2007): »Nussknacker und Mausekönig«, in: Die Serapionsbrüder, 7. Aufl., Düsseldorf: Patmos. [1819-21] Klassen, Jon (2011): »Die Legende von Alexandra & Rose«, in: Susan Rich (Hg.), Mein kleiner Horrortrip. Die kürzesten Schockgeschichten aller Zeiten. Aus dem Englischen von Karsten Singelmann, Weinheim: Beltz & Gelberg, S. 23. [2009] Müller, Jörg (1996): Der standhafte Zinnsoldat. In Bildern frei nacherzählt nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen, Zürich: Sauerländer.

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Richter, Jutta (2003): Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen. 2. Aufl., München: Hanser bei dtv. [2000] Schubiger, Jürg/Muggenthaler, Eva (2007): Der weiße und der schwarze Bär, Wuppertal: Peter Hammer. Sendak, Maurice (2000): Where the wild Things are, London: Red Fox Books. [1963] Sendak, Maurice (1967): Wo die wilden Kerle wohnen. Aus dem Englischen von Claudia Schmölders, Zürich: Diogenes. [1963] Straßer, Susanne/Krausser, Helmut (2002): Wenn Gwendolin nachts schlafen ging, München: Kunstmann. Sekundärliteratur Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologischen Einsamkeit, Frankfurt/Main: S. Fischer. Böhme, Hartmut (2007): »Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne«, in: Christina Lechtermann/Kirsten Wagner/Horst Wenzel (Hg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 53-72. Flade, Antje (1994): »Das Kinderzimmer – ein Zimmer im Wandel«, in: Christa Burghardt/Peter Kürner (Hg.), Kind und Wohnen. Vom Wohngrundriß bis zur Hausordnung. Erfahrungen aus der Praxis, Opladen: Leske und Budrich, S. 137-146. Gehrke-Riedlin, Renate (2002): Das Kinderzimmer im deutschsprachigen Raum. Eine Studie zum Wandel häuslicher Erfahrungs- und Bildungswelt des Kindes. Unveröffentlichte Dissertation, Göttingen. Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (2009): »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript, S. 11-32. Haupt, Brigitte (2004): »Zur Analyse des Raums«, in: Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 69-110. Heidegger, Martin (2006): »Die Räumlichkeit des Daseins«, in: Jörg Dünner/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt: Suhrkamp, S. 141-152. Jung, C.G. (1997): Archetypen. 7.Aufl., München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Kalteis, Nicole (2006): »Strich Punkt«, in: Heidi Lexe (Hg.), Länge mal Breite. Raum und Raumgestaltung in der Kinder- und Jugendliteratur. Tagungsbericht. Reihe Fokus im Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der STUBE. Fernkursskriptum, Wien: STUBE, S. 54-69. Lexe, Heidi (2003): Pippi, Pan und Potter. Zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur, Wien: Verlag Praesens. Lippitz, Wilfried (1989): »Räume – von Kindern gelebt und erlebt. Aspekte einer Phänomenologie des Kindraumes«, in: Wilfried Lippitz/Christian Rittelmeyer (Hg.), Phänomene des Kinderlebens. Beispiele und methodische Probleme einer Pädagogischen Phänomenologie, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 93-106.

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Lotman, Jurij M. (1993): Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von RolfDietrich Keil. 4. Aufl., München: Wilhelm Fink Verlag. Mattenklott, Gundel (2013): »Zwischenräume. Individuelle Translationsräume und riten literarischer Kinderfiguren«, in: Heidi Lexe (Hg.), Flussgras & Florfliege. Wandel und Verwandlung (in) der Kinder- und Jugendliteratur. Tagungsbericht. Reihe Fokus im Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der STUBE. Fernkursskriptum, Wien: STUBE, S. 28-37. Turner, Victor (1996 [1957]): Schism and Continuity in an African Society. A Study of Ndembu Village Life, Oxford: Berg. Filmografie Toy Story (1995) (USA, R: John Lasseter)

(K)ein Ort nirgends und überall Spielraum und Spielerraum des Computer- und Videospiels M ATTHIS K EPSER

E INLEITUNG Plätze zum Spielen haben sich wohl Kinder erobert, seit der Mensch im Pliozän (nicht Holozän, wie Max Frisch behauptet hatte) die Erde zu erobern begann. Spielplätze sind dagegen eine verhältnismäßig neue und zunächst auch nur für Erwachsene gedachte Erfindung, deren architektonische Formierung immerhin schon in der minoischen Kultur vor mehr als 4000 Jahren nachweisbar ist: Es sind die aus kultischen Orten hervorgegangenen Theater- und Sportstätten der Antike, die man als erste Spielplätze bezeichnen kann. Spielplätze für Kinder sind dagegen eine Schöpfung der Moderne, wie denn die Kindheit überhaupt bekanntlich eine Errungenschaft der Aufklärung ist. Erste Spielgeräte für Kinder wurden zunächst um 1800 in bürgerlichen Privatgärten aufgestellt und bis zu den ersten öffentlichen Spielplätzen im städtischen Raum sollten dann nochmals rund 70 Jahre vergehen (vgl. Rimbach 2010). Der erste Computerspielplatz war für sehr kurze Zeit ein Gebäude des Brookhaven National Laboratory, in dem der Physiker William Higinbotham 1958 sein Tennis for Two ausgestellt hatte, um Besuchern die Leistungen seines Forschungsinstituts zu veranschaulichen (vgl. z. B. Kepser 2008: 486). Als erste öffentliche Computerspielplätze dürfen aber wohl erst jene US-amerikanischen Spielhallen bezeichnet werden, in denen 1971 Nolan Bushnell seine Spacewar!Automaten aufstellte: Hier konnten sich zum ersten Mal zwei Spieler unter virtuellen Beschuss nehmen (vgl. ebd.: 487). Von hier aus eroberten Computerspiele nicht nur öffentliche Räume, sondern vor allem private: Software statt Teddybär betitelte Ulrich Dittler seine 1993 erschienene Magisterarbeit und verwies damit auf eine gewaltige Veränderung kindlicher Spielplätze, die bis heute anhält (vgl. Dittler 1993). Mit Spielplatz Computer überschrieb Konrad Lischka seine 2002 veröffentlichte Darstellung der Kultur, Geschichte und Ästhetik des Computerspiels (vgl. Lischka 2002), ohne sich allerdings über diese Begriffswahl tiefere Gedanken zu machen.

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B EGRIFFLICHKEITEN Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Topographie und Topologie des Computerspiels ist eine Begriffsklärung unerlässlich, zumal hier in der Forschung leider kein wirklicher Common Sense herrscht. Für die folgenden Ausführungen wird davon ausgegangen, dass Plätze mehr oder weniger deutlich abgegrenzte oder abgrenzbare Orte sind, die intentional mehr oder minder eindeutig bestimmten kommunikativen Zwecken dienen. Ein Marktplatz ist ein städtebaulich definierter Ort, an dem Menschen zusammenkommen können, um Waren auszutauschen, und ein Fußballplatz ein Rasenrechteck für die mögliche Austragung von Fußballspielen. Zwar kann auch der Computer als universelle zeichenverarbeitende Maschine der Kommunikation dienen, ein Platz in diesem Sinne liegt hier aber nicht vor, auch kein Spielplatz. Allenfalls ist er Teil eines Ensembles, das einen Arbeits- oder Spielplatz konstituiert. Der Begriff des Raumes geht über den des Platzes nicht nur dahingehend hinaus, als er die potenzielle Mehrdimensionalität impliziert. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch handelt es sich um ein Abstraktum, das in zahlreichen Disziplinen wie der Mathematik und Physik, der Soziologie, der Psychologie, der Liteaturwissenschaft, natürlich der Geographie und nicht zuletzt Philosophie sehr unterschiedliche Deutungen erfahren hat. Für die Untersuchung von Computerspielen ist es notwendig, es in mindestens fünf Richtungen zu konkretisieren: Zum einen können Räume unmittelbar sinnlich erfahrbare, natürliche oder künstliche Gebiete sein. So sind Himmel und Erde zwei voneinander abgrenzbare Räume, von denen ersterer visuell, der zweite auch haptisch erfassbar ist. Diese Räume hat der Philosoph Gernot Böhme als Räume »der leiblichen Anwesenheit« bezeichnet (Böhme 2004: 129). Zum Zweiten können Räume ikonisch oder symbolisch (im Sinne der Terminologie von Charles Sanders Pierce, vgl. Nöth 2000) repräsentiert, aber auch konstituiert sein. Hier ist an Raumdarstellungen in der Bildenden Kunst, Fotographie oder Film zu denken, wie auch an Raumbeschreibungen durch künstliche und natürliche Sprachen. Böhme nennt solche Räume »Darstellungsräume« (Böhme 2004: 139); es ließe sich auch mit Rolf F. Nohr von »Raumanmutungen« sprechen (Nohr 2007: 61). Sie können ein Analogon in den Räumen leiblicher Anwesenheit haben, aber auch rein fiktive U-Topoi bilden. Meist wenig beachtet, aber von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist drittens der akustische Raum, der durch Geräusche, Töne und Musik gebildet wird. Natürliche Klangräume umgeben uns ständig, auch wenn sie oft gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Artifizielle Klangräume entstehen in Konzert-, und Opernhäusern, in Theatern und Kinos oder bei Klanginstallationen im Museum. Man findet sie im Auto, wenn dort das Radio eingeschaltet ist und natürlich auch im Wohnzimmer, sobald dort Musik gehört oder Fernsehen gesehen wird. Viertens ist von mentalen Räumen auszugehen, also Vorstellungen von Räumen, die Menschen in ihrem Gehirn konstruieren, um sich in leiblichen oder dargestellten Räumen zu orientieren (vgl. ebd.: 70-72). Und fünftens können sich Räume durch vorgenommene Handlungen definieren. So unterscheidet sich der Spielplatz vom Spielraum dadurch, dass er a) als Spielraum

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nur existiert, wenn hier tatsächlich auch gespielt wird und b) er jederzeit von dem oder den Spielern im wahrsten Sinne des Wortes überspielt werden kann. Hodologische Räume, die durch Bewegungen entstehen (vgl. Günzel 2007: 23), werden ebenfalls als Handlungsräume aufgefasst. Selbstverständlich sind auch kommunikative Praxen Handlungen, sodass Kommunikationsräume einen weiteren Spezialfall der Handlungsräume im Allgemeinen bilden. Unter Topo-Graphie werden im Folgenden nicht nur technische und kulturelle Repräsentationsweisen von Räumen verstanden, z. B. in Form von Karten (vgl. ebd.: 18), sondern vielmehr jede Art von raumbezogener Beschreibung. Ebenso sollen mit Topo-Logie alle raumbezogenen Erklärungen bzw. Erklärungsversuche gemeint sein und nicht nur enggefasst »die Identifizierung einander ähnlicher Strukturen« (ebd.: 21). Computerspiele in diesem Sinne topo-graphisch zu beschreiben und topologisch zu erklären, ist eine ungeheuer komplexe Aufgabe, die bis heute keineswegs allumfassend befriedigend gelöst werden konnte.

T OPOGRAPHIE

UND

T OPOLOGIE

DES

S PIELRAUMS

Große Fortschritte hat man in den letzten 15 Jahren vor allem in der Erforschung des Spielraums im engeren Sinne erzielt, also jenes Raumes, der durch Computertechnik symbolisch, ikonisch oder symbolisch und ikonisch evoziert wird. Rein symbolische Computerspielräume, wie sie etwa in Textadventures vom Typ Zork (1977) oder in Multiplayer-Online-Strategiespielen vom Typ OGame (2002) vorliegen, werden dabei allerdings nur selten und am Rande untersucht (vgl. z. B. Schwingeler 2008: 105-107). Das liegt vielleicht nicht nur an der verhältnismäßig geringen Popularität dieser Spiele, sondern auch an der akademischen Herkunft der daran beteiligten Forscherinnen und Forscher, die mehrheitlich in den bildorientierten Film- und Kunstwissenschaften beheimatet sind. Zunächst haben ikonische Computerspiel-Bildräume einige Eigenschaften, die sie mit anderen medialen Bildräumen teilen. Vergleichbar mit dem Kino- und Fernsehfilm handelt es sich um dynamische, d.h. bewegte Bilder, von denen zu einem gegebenen Zeitpunkt X jeweils nur ein Teil onscreen sichtbar ist, der andere aber offscreen liegt. Diese Differenz machte 1997 der Filmwissenschaftler Mark Wolf zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, wie man Computer- und Videospielräumlichkeiten systematisieren könnte (vgl. Wolf 2001). Frühe Videospiele zeigen lediglich einen unbewegten Spielraum, in den Objekte eindringen, mit denen sich der Spieler auseinandersetzen muss. Bei Space Invaders (1978) ist das z. B. die fest kadrierte Ansicht einer militärischen Abwehrstation, in deren Schussfeld Aliens und Raumschiffe einmarschieren bzw. einfliegen. Was außerhalb des Bildschirmkaders liegt, erfährt der Spieler nicht, ja es muss ihn auch nicht wirklich interessieren. In Anlehnung an Wolf spricht Stephan Schwingeler hier von einem »Bildschirmcontainer« (Schwingeler 2008: 107), eine Bezeichnung, die etwa für das bekannte Puzzlespiel Tetris (1984) besonders anschaulich zutrifft. Aber schon ein ähnlich einfaches Videospiel wie Pac-Man (1980) erzeugt gegenüber dem gezeigten Raum Irritationen: So kann die Spielfigur über zwei ›Tore‹ links oder rechts aus dem Spielfeld hinausgesteuert werden, worauf sie nach kurzer Zeit über das entgegenge-

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setzte Tor wieder in das Spielfeld eintritt. Der vollständige Spielraum ist also offscreen zu einer Art Torus zu ergänzen (vgl. ebd.: 112f. sowie Günzel 2012: 61f. mit Verweis auf Poole 2000: 125-148). Solche mentalen Rekonstruktionen nimmt auch der Film- und Fernsehzuschauer immer wieder vor, wenn onscreen etwas zu sehen ist, was offscreen zur Objektgeschlossenheit vervollständigt werden muss, etwa ein angeschnittenes Gesicht oder ein nur teilweise gezeigtes Gebäude.

Abbildung 1: Pac-Man (1980) als Bildschirmcontainer mit einem transitorischen Raum hinter dem Spielfeld Bei den allermeisten Computerspielen sind aber nicht nur die Spielfigur und die sie umgebenden Objekte bzw. virtuellen Subjekte beweglich, sondern der Spielraum selbst. Im einfachsten Fall zieht eine virtuelle Landschaft hinter dem oder den Protagonisten vorbei, was eine Scheinbewegung derselben erzeugt. Auch das kennt man als Filmtrick: Im frühen Film wurde vom Hilfspersonal hinter einem stehenden Fahrzeug eine bemalte Leinwand abgerollt und bis Anfang der 1970er Jahre war es üblich, Autofahrten im Studio durch eine Rückprojektion zu simulieren. Hier endet aber auch der Vergleich der Raumdarstellung im Film mit der des Videospiels, wie Mark Wolf feststellt: Während der Offscreen-Raum des Films für den Zuschauer nur dann sichtbar wird, wenn ihm dies die Kamera bzw. der Kameramann erlaubt, kann, ja muss der Nutzer eines Videospiels meist selbst die Visualisierung jenes OffscreenRaums veranlassen – der Raum entsteht interaktiv. Dabei kann prinzipiell alles sichtbar werden, was die Programmierung des virtuellen Raumes erlaubt (vgl. Wolf 2001; auch Günzel 2012: 59). Das Vorbeiziehen einer Landschaft etwa kann der Spieler durch das horizontale, vertikale und diagonale Scrolling erzeugen, womit eine zweite Kategorie der Raumdarstellung in Videospielen benannt ist (vgl. Schwingeler 1998: 113-118). Zweidimensional durch Scrolling aufzudeckende Räume bzw. Landschaften findet man bis heute bei zahlreichen Spielen diverser Genres, z. B. bei Fahrzeugsimulationen oder Jump’n Runs. Eine Sonderform gescrollter Raumanordnungen ist jene, bei der die Spielfigur einen Raum verlässt, um einen gänzlich anderen Raum wieder zu betreten, also z. B. durch eine Zimmertüre bewegt wird und anschließend in einem anderen Zimmer zu sehen ist. Die Konstruktionsleistung des Users ist in solchen Fällen dieselbe, wie sie

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der Zuschauer eines Films bei Formen der kontinuierlichen Montage vornimmt. Solche Konstellationen werden von Wolf als »adjacent spaces displayed one at a time« (Wolf 2001: 59) bezeichnet und man findet sie nicht nur, aber geradezu genreprägend bei Adventure-Games und auch bei vielen Rollenspielen. Im Gegensatz zum Hollywood-Film, der dabei räumliche Irritationen stets zu vermeiden versucht, ist die Beherrschung des räumlichen Labyrinths, das im Offscreen liegt, eine der möglichen kognitiven Herausforderungen solcher Spiele. Eine gute Cognitive Map für Raumkonstellationen zu entwickeln, ist überaus nützlich, übersteigt aber schnell die Gedächtniskapazität der meisten Spieler. Sie greifen daher zu Formen des externen Gedächtnisses zurück: Bei älteren Spielen gehörte das händische Zeichnen von Karten zu den üblichen Lösungsstrategien; heute wird das meist durch das sogenannte Automapping erledigt, bei dem das Spielsystem alle bereits entdeckten Räume und Wege automatisch kartographiert (vgl. Günzel 2008; 2012: 269-272). Werden mehrere voneinander unabhängig bewegliche Hintergründe eingesetzt (»multiple scrolling backgrounds«, Wolf 2001: 61), entsteht bereits ein grober Eindruck von Dreidimensionalität. Besser gelingt dies noch, wenn sich die Programmierer der Isometrie bedienen, also mit Hilfe geeigneter Linienführung Parallelprojektionen erzeugen (vgl. Schwingeler 1998: 119-124). Isometrische Darstellungen findet man bei Computerspielen v.a. in den sogenannten Göttersimulationen oder God Games, die den Spieler in die Rolle eines Weltenkonstrukteurs und Weltenlenkers versetzen. So übernimmt man beispielsweise in der bekannten Sim City-Reihe die Rollen eines Städteplaners und Bürgermeisters, um aus dem Nichts der mehr oder weniger öden Pixellandschaft eine blühende Metropole entstehen zu lassen. Die Kontrolle über das Gemeinwesen übernimmt der Spieler dabei in isometrischer Aufsicht: »Hier muss Raum erforscht, angeeignet, beherrscht, diszipliniert und verwaltet werden – und vor allem durch permanentes Scrollen sichtbar bleiben.« (Nohr 2007: 62) Schon in den 1970er Jahren wurde versucht, mit einfacher zentralperspektivischer Vektorgraphik die Illusion zu erzeugen, man könne sich als Spieler relativ frei in einem dreidimensionalen Raum bewegen, z. B. im Rennspiel Night Driver (1976). Aber erst der bis heute indizierte erste Ego-Shooter Wolfenstein 3D (1992) vermittelte dem Spieler wirklich das Gefühl, selbstbestimmt durch eine dreidimensionale virtuelle Welt zu laufen. Im Unterschied zu früheren Computerspielen gab es keine vorgefertigten Raumbilder mehr; vielmehr errechnete der Computer abhängig von den Interaktionen des Spielers in Echtzeit jene Ansichten, die auf dem Bildschirm zu sehen waren. Wolf beschreibt dieses Raumkonzept als »interactive threedimensional environment« (Wolf 2001: 95; vgl. auch Schwingeler 2008: 125). Revolulutionär war »Wolfenstein« aber nicht nur deshalb. Stephan Günzel, der sich in seiner 2012 erschienenen Habilitationsschrift zum Raumbild des Computerspiels fast ausschließlich mit Egoshootern auseinandersetzt, legt ein besonderes Gewicht auf den »Blick aus Sicht der selbst nicht mehr sichtbaren Spielfigur, die damit aus dem Onscreenbereich heraustritt und in den Offscreenraum überwechselt. An diesem Ort vor dem Bild fallen die Position des Spielers mit derjenigen der Spielfigur zusammen – dies ist in der Videospielgeschichte einzigartig.« (Günzel 2012: 69) Jene Verschmelzung erzeugt eine bis dahin nie erreichte Immersion des Spielers mit der Spielwelt.

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Abbildung 2: Sim City 2000 (1993) als God Game mit isometrischer, dreidimensional anmutender Spielfläche Waren bei den ersten Ego-Shootern nur Blickwechsel auf der horizontalen Achse möglich, konnte man ab Mitte der 1990er Jahre in jede beliebige Richtung schauen, also auch nach oben und unten. Wenn selbst der Blick nach hinten ohne Umdrehen der Spielfigur gestattet ist, mag das wenig realistisch sein, weil dann Augen im Hinterkopf anzunehmen wären. Es erleichtert aber die Orientierung und gibt dem Spieler das Gefühl, nicht völlig überraschend von virtuellen Gegnern aus dem Hinterhalt angegriffen werden zu können. Der sogenannte ›Free Mouse Look‹ findet sich heute nicht nur bei First-Person-Shootern, sondern auch bei Spielen, in denen der Avatar als Stellvertreter des Spielers im Bild zu sehen ist (sog. third person perspective). Ist der Blick auf das Spielgeschehen nicht nur personal, sondern in Aufsicht auch auktorial möglich, wird dies als ›Arbiträre Perspektive‹ einer virtuellen Kamera bezeichnet (vgl. Schwingeler 2008: 140-145). Sie ist heute fester Bestandteil des graphical user interface (GUI) von zahlreichen 3D-Computerspielen, z. B. bei modernen Rollenspielen. Das Genre der Rollenspiele ist für Raumuntersuchungen aber noch aus einem anderen Grund interessant: Einige frühe Vertreter des Genres wie etwa die UltimaReihe (ab 1980) können als Vorläufer der sogenannten Open-World-Architektur angesehen werden. Während im klassischen Adventure-Game der Avatar mehr oder minder linear von einem definierten Raum zum nächsten bewegt wird, erweitert sich der Raum bei solchen Spielen mit jeder Bewegung der Spielfigur in prinzipiell jede Richtung. Ist eine geeignete Raummetapher für erstere das Höhlenlabyrinth, so passt für letztere das mehr oder minder offene Feld. Stephan Günzel (2006) spricht hier zutreffend von »Freirauminszenierungen«. Damit wird das Entdecken der Räumlichkeiten zu einem eigenen Spielreiz: So manche Spieler des 2011 erschienenen Rollenspiels Skyrim (2011) haben sich nicht nur stundenlang dort aufgehalten,

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um das Spiel zu gewinnen, sondern weil die dort zu entdeckenden Landschaften einfach atemraubend erhaben waren.

Abbildung 3: Skyrim (2011) mit Ansichten in der Tradition romantischer Erhabenheitstopoi (http://throwingdigitalsheep.com/games/ games-play-made-part-5/) Open world games im engeren Sinne, wie etwa die Gangster-Balladen der Grand Theft Auto-Reihe, kurz GTA (ab 1997), verwenden als Handlungsort meist eine Großstadt, in der sich der Spieler bzw. sein Avatar zu Fuß oder mit diversen Fahrzeugen sehr frei bewegen kann. Freilich ist auch dieser Spielraum begrenzt. Praktisch unbegrenzt wird er in den sogenannten ›Sandbox-Games‹ wie dem IndependentÜberraschungserfolg Minecraft (2011). Der eigentliche Spielreiz besteht hier nicht mehr im Lösen von Rätseln oder Vernichten von Gegnern, obwohl auch das möglich ist. In Minecraft werden die Spieler zu beständigen Konstrukteuren ihrer eigenen 3DSpielwelt, wobei dem Erfindungs- und Gestaltungsraum kaum Grenzen gesetzt sind. Interessanterweise setzt Minecraft auf keine sehr wirklichkeitsgetreue Darstellung. Überhaupt ist festzustellen, dass der Trend zu immer realistischer wirkenden Szenarien in den letzten Jahren erheblich nachgelassen hat, obwohl moderne Graphikkarten dazu durchaus in der Lage sind. So konnten sich auch stereoskopische Darstellungsverfahren in der Welt der Spiele bislang nicht durchsetzen: Weder dem Cyberspace-Helm mit zwei Kleinbildschirmen (vgl. Kepser 2008: 488), noch der vom 3D-Kino her bekannten Shutter-Brille oder dem autostereoskopischen Bildschirm, den die Kleinkonsole Nintendo 3DS verwendet, war und ist großer Erfolg beschieden. Computerspielern scheinen Raumanmutungen vollkommen zu genügen; perfekte Raumillusion oder gar totale Immersion sind offensichtlich nicht ihr eigentliches Bedürfnis. Jenseits der optischen Spielräume gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf. So widmet sich kaum eine Untersuchung dem Klangraum, obwohl Musik von Anfang an zum sinnlichen Erlebnisangebot des Computerspiels dazu gehörte (vgl. z. B. Stingel-Voigt 2012). Heute ist bei zahlreichen Spielen Surround-Sound implementiert, sodass akustische Raumerfahrung keine Seltenheit ist. Vernachlässigt wird weiterhin oft der Kommunikationsraum, obwohl er insbesondere zur Beschreibung

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und Erklärung von Multiplayer-Spielen zentral ist (vgl. Nohr 2007: 62). MultiplayerGames unterscheiden sich von Singleplayer-Spielen dadurch, dass sie erst durch die Anwesenheit von zwei oder mehreren menschlichen Spielern bzw. deren Avatare überhaupt spielbar sind oder ihren Spielreiz entfalten. Der Spielraum ist hier also nicht mehr allein durch die Topographie und Topologie der computergenerierten und interaktiv beeinflussten Spielumgebung angemessen zu definieren, sondern erst durch die in diesem Spielraum vollzogenen kommunikativen Handlungen. Dazu zählt beispielsweise der berühmt-berüchtigte Taktik-Shooter Counterstrike (1999), bei dem sich zwei Teams menschlicher Spieler in einem computererzeugten Spielterrain gegenseitig zu vernichten suchen. Auch massively multiplayer online roleplaying games, kurz MMORPGs, vom Typ World of Warcraft (2004) gehören dazu oder das bereits erwähnte Sandbox-Spiel Minecraft (2011). Zwar treten in diesen Spielen auch programmierte Wesen auf, die sogenannten Non-Player-Charaktere, kurz NPC. Spielerfolg und Spielspaß sind aber an die Anwesenheit von Menschen gesteuerten Figuren gebunden. Als Kommunikation sind schon die durch die Spieler veranlassten Aktionen wie etwa ›Angriff‹ oder ›Verteidigung‹ zu verstehen. All diese Spiele bieten darüber hinaus die Möglichkeit, sich mündlich oder schriftlich miteinander auszutauschen. Ohne mit anderen Spielern sprachlich zu kommunizieren, kann man auch nicht oder nur sehr eingeschränkt erfolgreich sein. So lassen sich etwa die sogenannten End-Gegner oder Boss-Figuren in World of Warcraft nur niederringen, wenn sich dafür zuvor mehrere Spieler gegenseitig absprechen und eine gemeinsame Strategie entwickeln.

T OPOGRAPHIE

UND

T OPOLOGIE

DES

S PIELERRAUMS

Wenig oder gar nicht beachtet worden ist bislang der Spielerraum, also jener Raum, in dem ein oder mehrere Spieler leiblich anwesend sind und mit einem Computerspielgerät interagieren bzw. kommunizieren. Im Folgenden soll skizziert werden, dass Spiel, Spielgerät, Spieler und Spielerraum als Konstellation zusammengedacht werden müssen, um Computerspiele annährend vollständig topographisch zu beschreiben und topologisch zu erklären. Arcade-Spielerräume Wie zu Beginn bereits erwähnt, waren Spielhallen die ersten Orte, an denen Videospiele gespielt werden konnten. Gefragt waren dafür Spielideen, die ohne komplizierte Erklärungen kurzfristige Spielerlebnisse ermöglichten. Zudem waren die Automatenhersteller daran interessiert, dass nach Ablauf der vorgegebenen Spielzeit ein Anreiz zum Weiterspielen besteht, sich die Spieler also bemüßigt fühlen, das nächste Geldstück im Münzschacht zu versenken. Spielhallen sind außerdem prinzipiell gesellige Orte. Das legt wiederum Spiele nahe, bei denen mindestens zwei Spieler interagieren oder sich im Wettbewerb miteinander messen. Typische ArcadeSpiele sind daher bis heute Shooter, Puzzels, Jump´n Runs, Beat´em ups, Sportspiele und Fahrzeugsimulationen. Mit der wachsenden Konkurrenz durch Videokonsolen und PC-Spiele musste man allerdings bald darüber nachdenken, wie man Spielhallen

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weiterhin für Computerspiele attraktiv machen kann. Drei Strategien lassen sich hier in der Geschichte der Arcade-Spiele ausmachen: Zum einen der Versuch, typische Genres für Konsolenspiele und PCs auch in Spielhallen anzubieten, z. B. Adventures oder Rollenspiele. Zum Zweiten mit großformatigen Bildschirmen ein Spielerlebnis zu erzeugen, das zumindest lange Zeit in Privathaushalten technisch nicht realisierbar war. Zum Dritten Computerspiele in Kulissen und Gehäuse mit besonderen ästhetischen Eigenschaften zu integrieren, zum Beispiel eine Rennspielsimulation in ein halbwegs lebensechtes Rennwagenmodell. Arcades waren und sind in den USA ein Treffpunkt für fast alle Generationen, dem prinzipiell nichts Anrüchiges anhaftet. Anders ist dies mit den Spielhallen in Europa und besonders in Deutschland, die nur für Jugendliche ab 16 Jahren oder sogar ausschließlich für Erwachsene zugänglich sind und die mit einem schmuddeligen Halbweltimage zu kämpfen haben. Dass Computerspiele hierzulande nach wie vor weit weniger gesellschaftlich akzeptiert sind als in den USA, hat sicherlich mit diesem ihrem Geburtsort zu tun. Konsolen-Spielerräume Der typische Spielort für Konsolenspiele war zunächst ausschließlich das Wohnzimmer. Das lag hauptsächlich daran, dass als Ausgabemedium ein Fernsehgerät erforderlich ist. Bis etwa Mitte der 1980er Jahre waren Fernseher nur hier aufgestellt, denn es galt zumindest in bürgerlichen Haushalten die Erziehungsmaxime, Kinder und Jugendliche vor unkontrolliertem Fernsehkonsum zu schützen. Mittlerweile hat sich das deutlich geändert: Die aktuellen Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (vgl. 2012 und 2013) stellen fest, dass bereits etwa 35% der Kinder zwischen 6 und 13 einen eigenen Fernseher besitzen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2013: 9), bei den Jugendlichen sind das knapp 60% (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012: 8). Damit korrespondiert ein Besitz von feststehenden Konsolen bei den Kindern mit 26% (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2013: 9) und bei Jugendlichen mit 45% (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012: 8), wobei − wie bei Computerspielen generell − Jungen deutlich mehr Geräte und Spiele besitzen als Mädchen. Trotzdem darf davon ausgegangen werden, dass das Wohnzimmer als Ort für das Konsolenspiel nach wie vor attraktiv ist. Zum einen gibt es dort meistens den größten Fernseher im familiären Medienensemble, wenn nicht sogar ein Heimkino mit Surround-Anlage. Zum anderen benötigen gerade moderne Konsolen wie Nintendos WII, die Microsoft- X-Boxen oder die SonyPlaystations einen großen, auch körperlich zu nutzenden Spielerraum, der im meist kleinen Kinder- oder Jugendzimmer so nicht vorhanden ist. Solche Konsolen werden nicht mit Tastaturen bedient, sondern über − heute zumeist drahtlose – Steuereinheiten sowie mit dem ganzen Körper, dessen Bewegungen durch Sensoren und Kameras erfasst werden. Wie Spielhallen sind auch Wohnzimmer ein geselliger Ort und die meisten Konsolenspiele hatten und haben einen Mehrspielermodus. So erstaunt es nicht, dass Konsolenspiele doppelt so häufig von zwei oder mehr körperlich anwesenden Spielern zusammen gespielt werden als etwa PC-Spiele: 60% der 12- bis 19jährigen Jugendlichen tun dies mindestens einmal im Monat mit Konsolenspielen,

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aber nur 29% mit PC-Spielen (vgl. ebd.: 48). Für alle Konsolen gibt es Spiele, die den Spielerraum zum medial durchdrungenen Erlebnisraum machen. So wird das Wohnzimmer etwa zum Boxring, wenn Spieler mit den Controllern in der Hand die Fäuste schwingen und den Oberkörper abducken, um virtuellen Treffern auszuweichen (WII Sports, 2006). Bei Tanzspielen wie Just Dance (ab 2009) imitieren die Spieler die Tanzbewegungen einer virtuellen Spielfigur in der heimischen Diskothek, während die Sensoren der Konsolen feststellen, wie gut ihnen das gelingt. Mit Band Hero (2009) inszenieren mehrere Spieler gleichzeitig den öffentlichen Auftritt einer ganzen Rockband vor dem Bildschirm. Dabei dienen ihnen recht echt wirkende Attrappen als Musikinstrumente, in denen die Controller für die Konsole stecken. Zur Spielesammlung der WII Party (2010) gehören einige sogenannte Zimmerspiele, bei denen z. B. die Steuereinheiten im Wohnraum versteckt werden. Die Spielgegner müssen sie anhand akustischer Signale orten, die von den Controllern im zeitlichen Abstand gesendet werden. PC-Spielerräume Personal Computer waren bekanntlich ursprünglich Büromaschinen, also zweckrationale Geräte, die in einer zweckrationalen Umgebung aufgestellt und dort zweckrational genutzt worden sind. Auch wenn sie sich sehr schnell über die Büros hinaus in Privaträume verbreitet haben, so ist ihre Herkunft immer noch spürbar: Nach wie vor stecken die meisten PCs in ästhetisch wenig ansprechenden Blechgehäusen. Nach wie vor sind sie Teil des Büromobiliars; selbst mobile Laptops parken überwiegend auf Schreibtischen. So haftet diesen Geräten auch dann noch Arbeitsatmosphäre an, wenn die Schreibtische in Kinder- bzw. Jugendzimmern stehen und die Rechner häufig zum Spielen verwendet werden. 82% aller 12-19jährigen Jugendlichen besitzen heute einen eigenen Computer, Laptop oder beides (vgl. ebd.: 30). Vor allem viele Jungen nutzen diese Geräte zum Spielen (vgl. ebd.: 47-49). Den Schreibtisch als Ort der leiblichen Anwesenheit möchte man beim Spielen nicht unbedingt präsent halten und so verwundert es nicht, dass PC-Spieler häufig mit dem Kopfhörer auf den Ohren ganz in ihre Spielewelt versinken. Ein Schreibtisch ist auch kein guter Ort für die Face-to-Face-Kommunikation und damit auch nicht für das Spielen zu zweit oder mehreren. Der Internetanschluss aber sorgt dafür, dass der Kommunikationsraum potenziell über das Kinder- und Jugendzimmer hinaus in die ganze Welt erweitert werden kann. Obwohl auch Konsolen mittlerweile alle internetfähig sind, ist der PC das meistgenutzte Spielgerät für Multi-User-Onlinespiele (vgl. ebd.: 48). Dazu gehören nicht zuletzt die besonders bei Mädchen und (mehr oder minder jungen) Frauen beliebten Browserspiele vom Typ FarmVille (2009): Die Spielerinnen und Spieler errichten hier virtuelle Bauernhöfe, besuchen gegenseitig ihre Landwirtschaftsbetriebe und helfen sich gegenseitig bei deren Pflege und Ausbau. FarmVille gehört zusammen mit einigen anderen Spielen zum Angebot des sozialen Netzwerks Facebook. Orte der elektronisch organisierten Kommunikation und Spielräume liegen nur ein paar Mausklicks voneinander entfernt, sodass beliebig zwischen ihnen hin- und hergewechselt werden kann.

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Abbildung 4: FarmVille-Spielerin am Schreibtisch (http://vistaiwanathan.files.wordpress.com/2011/08/img_5886.jpg) Herausgerissen aus seiner Arbeitsumgebung wird der PC, wenn er für eine LANParty verwendet wird. LAN-Partys, egal ob sie im Hobby-Keller oder in großen Hallen stattfinden, haben ihren ganz besonderen räumlichen Reiz: Für Stunden oder gar einige Tage versammeln sich an einem Ort PC-Spieler, um mit vernetzten Rechnern bei leiblicher Anwesenheit gegen- und miteinander zu spielen (vgl. z. B. Bausch/Jorissen 2004). Das zwischenzeitliche Schlafen auf dem Boden in Schlafsäcken und die übliche Verköstigung mit Fastfood verstärkt den rituellen Charakter solcher Veranstaltungen: Der Raum der LAN-Party ist ohne Zweifel als technophiler Kultraum zu beschreiben. Handheld-Spielerräume Unter einem ›Handheld‹ versteht man elektronische Kleincomputer, die ohne externe Stromquelle ständig bei sich getragen werden können. Die ersten HandheldComputerspiele waren die sogenannten Card-Games, mit denen man nur eines oder wenige einfache Spiele spielen konnte. Die erste Kleinkonsole mit Wechselmodulen brachte 1989 Nintendo unter dem Namen ›Gameboy‹ heraus. Ein Gameboy stand jahrzehntelang ganz oben auf der Wunschliste fast jedes Kindes und es gab bald kaum ein Kinderzimmer, wo man nicht in irgendeiner Ecke ein solches Gerät finden konnte. Heute ist der Gameboy ersetzt durch die Nintendo DS und das Konkurrenzprodukt von Sony, die Playstation Portable (vgl. Kepser 2008: 493-495). Mobiles Spielen ist darüber hinaus mit Handy-Games möglich und seit ein paar Jahren mit Smartphones, die in puncto Rechenleistung und Graphikqualität mittlerweile den Kleinkonsolen überlegen sind. Unter raumtheoretischer Perspektive unterscheiden sich Handhelds von anderen Spielgeräten, weil sie prinzipiell jeden Raum zum

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Spielerraum werden lassen. Trotz dieser Ubiquität sind es nur bestimmte Genres, die mobile Spieler bevorzugen: Als Casual-Games bezeichnet man all jene Spiele mit kurzen Spielsequenzen, die Leerzeiten beim Warten auf den Bus oder während der Straßenbahnfahrt überbrücken helfen. Dabei ist auch das Spiel mit anderen möglich, weil sich die Geräte vernetzen lassen. Aktuelle Kleinkonsolen wie die Nintendo DSi (2009) und die Playstation Vita (2011), aber auch Smartphones warten zudem mit einer Kamera auf, sodass der Spielerraum mit dem Spielraum visuell überlagert werden kann. Das Konzept der ›augmented reality games‹ ist schon früher für Konsolen- und PC-Spiele umgesetzt worden, entwickelt aber bei Handhelds einen besonderen Reiz, weil hier jedwede Umgebung Teil der Spielwelt werden kann. So wird der heimische Garten zum Spiel- und Spielerraum, in dem virtuelles Ungeziefer zu vertreiben ist (Invizimals, ab 2009) oder Roboter bekämpft werden müssen (D:Com - Mission Alpha, 2012).

Abbildung 5: Augmented reality game D:Com - Mission alpha (2012). (Eigene Aufnahme) Noch interessanter sind aber vielleicht Spiele, die mit Hilfe des GPS-Signals den realen Raum zum Spielraum machen. Vorläufer dieser neuesten Spielegeneration ist das Geocaching, bei dem mit Hilfe eines GPS-Empfängers versteckte kleine Schätze geortet und gehoben werden müssen. Der Computer dient dabei allerdings im Wesentlichen nur der weltweiten Kommunikation der Geocacher, die im Internet die GPS-Daten ihrer Caches bekannt geben. 2008 entwickelten Bremer InformatikStudenten FastFood-Challenge, das aus dem bekannten Brettspiel Scotland Yard (1983) ein Geländespiel macht: Ein Spieler schlüpft in die Rolle des geheimnisvollen Mister X, der im Großstadtdschungel untertaucht und von mehreren anderen Spielern aufgespürt werden muss. Wie beim Brettspiel erhalten sie dazu in bestimmten Abständen Informationen zum gegenwärtigen Aufenthaltsort und zwar in Form von GPS-Koordinaten. Freilich kann sich Mister X zu Fuß oder mit öffentlichen

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Verkehrsmitteln sehr schnell weiterbewegen. Den Flüchtigen einzukreisen ist daher nicht ganz einfach. Die Idee von FastFood Challenge ist inzwischen mehrfach adaptiert und weiterentwickelt worden, so im von der Deutschen Telekom gesponserten Mister X mobile (2010). 2009 erfanden Schweizer Informatiker die Plattform Gbanga für ›mixed reality games‹, für die inzwischen einige Spielideen verwirklicht worden sind: So müssen beim Mafia-Spiel Famiglia reale Orte wie Bars und Kneipen aufgesucht werden, um sie virtuell in Besitz zu nehmen. Das erstaunlichste Spiel dieser Art ist aber derzeit Ingress (2012), dessen Entwicklung von der Firma Google unterstützt wird. Es nutzt praktisch alle technischen Möglichkeiten moderner Smartphones: Spieler schließen sich entweder der Gruppe der ›Erleuchteten‹ oder dem ›Widerstand‹ an, die aufgrund der zugehörigen Farben auch die ›Frösche‹ und die ›Schlümpfe‹ genannt werden. Auf dem Smartphone ist eine schematische Karte der Umgebung des Spielers zu sehen, die virtuelle Aufenthaltsorte sogenannter Exotischer Materie zeigt. Um sie aufzusammeln, muss sich der Spieler körperlich dorthin bewegen. Exotische Materie erlaubt im Folgenden den Aufbau von virtuellen Portalen im realen Raum. Auch dafür muss man körperlich anwesend sein. Ein mit dem Smartphone aufgenommenes und online ins Spielsystem übermitteltes Foto dokumentiert wenig später weltweit sichtbar den neuen Portalort. Portale können miteinander verbunden werden und markieren dann Einflussgebiete der jeweiligen Gruppe, vielleicht vergleichbar mit den Gebieten eines japanischen Go-Spiels. Portale der gegnerischen Gruppe lassen sich angreifen, natürlich nur virtuell und mit virtueller Kraft, aber auch hier nur, wenn man sich in der Nähe des Portalorts befindet. Weil dazu häufig die virtuellen Fähigkeiten eines Einzelspielers nicht ausreichen, bildet man analog zu Online-Rollenspielen kleine Trupps, die sich via OnlineKommunikation zusammenfinden. Ohnehin meldet ein Nachrichtenticker beständig, was in der Ingress-Welt gerade vor sich geht. Noch sind die eroberten Gebiete der Frösche und Schlümpfe relativ überschaubar. Sollte die Fangemeinde des Spiels aber weiterhin so wachsen, wie das gegenwärtig der Fall ist, wird sich das bald ändern: Ingress macht buchstäblich die ganze reale Welt zum Spielbrett eines MassivelyMultiplayer-Online- Strategiespiels. Spielwelt und Spielerwelt verschmelzen zu einem Hybridraum.

F AZIT Damit ist in etwa umrissen, was Computerspiele in topographischer und topologischer Hinsicht zu äußerst vielschichtigen Untersuchungsobjekten macht, aber eben auch nur umrissen. Noch keine Rede war beispielsweise von jenen Räumen, in denen sich Spieler und Spielerinnen jenseits des eigentlichen Spiels über Spiele austauschen: Schulhöfe und Online-Foren könnte man topologisch als Paraspiel-Spielerräume zu fassen suchen. Wenn es um die didaktische Aufarbeitung all jener Raumbeziehungen geht, wird man wohl nicht um eine disziplinäre Aufgabenteilung herumkommen: Die Auseinandersetzung mit Raumbildern liegt bei Kunsterziehern wohl in guten Händen, die der Klangräume bei Musikpädagogen. Die Kommunikationsräume der Computerspiele wären für die Vertreter der Deutschdidaktik ein lohnenswerter Gegenstand der Sprachreflexion. Gleichwohl spielen all diese Räume

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aber zusammen, weshalb fächerübergreifende Projekte die beste, wenn auch aufwändige Organisationsform eines Unterrichts sind, der Computerspielbildung zum Ziel hat (vgl. Kepser 2013). Ein Einstieg in eine Auseinandersetzung mit Spiel- und Spielerräumen ist indes leicht gemacht: Schülerinnen und Schüler fertigen zum einen Screenshots ihrer Spiele an und bringen zum anderen Fotos mit, die zeigen, wo sie selbst oder ihre Freunde dem Computerspiel nachgehen: (K)ein Ort nirgends und doch überall!

L ITERATUR Adamowsky, Natascha (2008): »Multimediale Spiele. Verschränkungen von virtuellen und realen Spielräumen am Beispiel moderner Vergnügungsarrangements«, in: Mitgutsch/Rosenstingl, Faszination Computerspiel, S. 105-115. Bartels, Klaus/Thon, Jan Noel (Hg.) (2007): Computer/Spiel/Räume. Materialien zur Einführung in die Computer Game Studies (= Hamburger Hefte zur Medienkultur H. 5), Hamburg: Universität Hamburg. Auch: http://www.slm.uni-hamburg.de/imk/HamburgerHefte/HamburgerHeft_5.pdf Bausch, Constanze/Jorissen, Benjamin (2004): »Erspielte Rituale. Kampf und Gemeinschaftsbildung auf LAN-Partys«, in: Christoph Wulf (Hg.), Bildung im Ritual. Schule, Familie, Jugend, Medien, Wiesbaden: VS Verlag, S. 303-357. Böhme, Gernot (2004): »Der Raum der leiblichen Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink, S. 129-141. Dittler, Ulrich (1993): Software statt Teddybär. Computerspiele und die pädagogische Auseinandersetzung, München: Reinhardt. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (2008): »Einleitung: Was lesen wir in Räumen? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen«, in: Dies. (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 7-45. Günzel, Stephan (2012): Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels, Frankfurt/ New York: Campus. — (2006): »Bildtheoretische Analysen von Computerspielen in der Perspektive Erste Person«, in: IMAGE 4, S. 31-43. Auch: http://www.gib.uni-tuebingen.de/image/ausgaben-3?function=fnArticle&showArticle=89 — (2007): »Raum – Topographie – Topologie«, in: Ders. (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 13-29. — (2007): »Raum, Karte und Weg im Computerspiel«, in: Jan Distelmeyer/Christine Hanke/Dieter Mersch (Hg.), Game over!? Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld: transcript, S. 113-132. — (2009): »Medienästhetik des Raumes«, in: Melanie Sachs/Sabine Sanders (Hg.), Die Permanenz des Ästhetischen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 217-229.

(K) EIN O RT NIRGENDS UND ÜBERALL

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Pädagogische Raumpraktiken Zur Topographie philanthropischer Anschauungspädagogik N IKOLA VON M ERVELDT

Abbildung 1: Grundriss vom Landgute Schnepfenthal. Johann Carl Ausfeld sculp. In: Der Kinderfreund aus Schnepfenthal 1 (1817) [Anhang]. (Kolorierter Kupferstich © Pictura Paedagogica Online, Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, b0000837berl). »Ich habe ein prächtiges Naturalienkabinett, gegen welches das schönste königliche Kabinett gar nichts sagen will.« (Salzmann 1784: 82) Mit diesen stolzen Worten

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kündigt Christian Gotthilf Salzmann 1784 sein neues philanthropisches Erziehungsinstitut als idealen Lernort an: »[…] Bäume, Sträucher und Pflanzen stehen da, alle recht natürlich, die Vögel, die Säugethiere, die Fische und alles Tier, das auf Erden kreucht, kann da in seinen verschiednen Entwicklungen beobachtet werden.« (Ebd.) Kein Wunder also, dass der Unterricht vor allem dort stattfindet: »Unser Naturalienkabinett«, so Salzmann, »wird uns die Quelle, aus der wir alle unsere ersten Kenntnisse schöpfen, der Gegenstand, an dem wir alle unsere Kräfte üben.« (Ebd.: 83) Dieses Naturalienkabinett speichert nicht nur Wissen, sondern generiert es, vermittelt nicht nur elementare Kenntnis von naturhistorischen Gegenständen, sondern berücksichtigt und schult die Fähigkeiten, die zum Wissenserwerb notwendig sind. Woher, mag man sich beim Lesen dieser Passage gefragt haben, hat der ehemalige Pastor und Lehrer am Basedowschen Philanthropin in Dessau die Geldsummen, um ein solches Naturalienkabinett zu bestücken? »Mein Naturalienkabinett«, gesteht Salzmann, »ist die Natur selbst. Ich habe mein Gebäude sorgfältig so anlegen lassen, daß ich aus demselben den Auf- und Untergang der Sonne und des Mondes und der Sterne, die Annäherung des Frühlings, Sommers, Herbstes und Winters sehr bequem beobachten kann.« (Ebd.) Überhaupt hat Salzmann den Standort seines Neubaus mit Bedacht gewählt. Er berichtet in ganz Deutschland lange nach dem Ort gesucht zu haben, an dem sich pädagogisches Handeln im Sinne der philanthropischen Schulreform ideal entfalten kann. In Schnepfenthal bei Gotha, am Fuße des Thüringischen Waldes, hat er ihn schließlich gefunden und lässt dort Schulgebäude und die gesamte Anlage samt Garten, Reithalle und Gymnastikplatz nach seinen Vorstellungen gestalten. In Schnepfenthal wird das, was sonst pädagogische Reform-Topologie bleibt – Rousseausche Inseln fernab der Gesellschaft, idyllische Landsitze oder bestens ausgestattete Naturalienkabinette – zur Topographie. Während die Reform-Topologie rhetorisch angelegt ist, metaphorisch argumentiert und weitgehend utopisch bleibt, setzt Salzmann mit seiner Musterschule sich zum Ziel, Topologie und Topographie in Einklang zu bringen. Der Standort der Salzmannschule und »ihre bewußte Einordnung in die Landschaft des Thüringer Waldes waren durch pädagogische Überlegungen nachdrücklich bestimmt.« (Schmitt 2007a: 199). Darauf hat schon Hanno Schmitt hingewiesen, der die Salzmannschule als Beispiel einer beeindruckenden »Pädagogisierung des Raumes« anführt (ebd.: 195). Was sonst utopischer Entwurf bleibt, wird hier, in Schnepfenthal, real im Raum umgesetzt. In dieser Landschaft und Anlage sieht Salzmann die topographischen Bedingungen pädagogischer Möglichkeiten erfüllt bzw. ist stets darauf bedacht, sie mit jedem Neubau und jeder Ergänzung weiter zu verbessern. Angesichts einer solchen konsequenten Pädagogisierung des Raumes erweist sich die topographische Dimension als Schlüssel zum Verständnis philanthropischer Reformpädagogik. Liest man die zahlreichen Schriften, die im Umfeld der Salzmannschule entstanden sind, so ist man überrascht von der Menge der Texte, die detaillierte und lange – um nicht zu sagen langatmige – Beschreibungen liefern: von Landschaften und Gebäuden vor allem, aber auch von der Infrastruktur, Gegenständen der Naturgeschichte und Technik und von lokalem Gewerbe und Handwerk rund um Schnepfenthal. (Vgl. dazu den von Friedrich herausgegebenen Band Pädagogische Welt – Salzmanns Schnepfenthal (2008), der die wichtigsten Texte

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über die Salzmannschule und ihren Gründer vereint.) Hinzu kommen zahlreiche Karten, Grundrisse und Veduten, die teilweise wieder von Beschreibungen begleitet sind.1 So ergänzt der hier zu Beginn abgebildete »Grundriss zum Landgute von Schnepfenthal« (Abb. 1) zum Beispiel die ausführliche topographische Beschreibung der Anreise nach Schnepfenthal von Gotha aus, mit der die erste Nummer vom Kinderfreund aus Schnepfenthal seine jungen Leser zu einem virtuellen Besuch der Salzmannschule einlädt, gefolgt von einer detaillierten Schilderung des Schulgebäudes mitsamt allen Räumlichkeiten. Diese topographische Bestandsaufnahme zieht sich über zwölf Seiten und füllt somit die ganze erste Lieferung des wöchentlichen Nachrichtenorgans. Bevor von den Ereignissen in Schnepfenthal berichtet werden kann, erklärt der Herausgeber und Institutslehrer Johann Wilhelm Ausfeld, müssen Leser eine klare Vorstellung davon haben »was für ein Ort Schnepfenthal ist« (Ausfeld 1817: [1]-[2]). Diese topographische Verankerung von Berichten und Erzählungen wird zu einem philanthropischen Textmuster: Der Schilderung pädagogischer Erfahrungen und Prinzipien geht eine genaue Beschreibung der Räume voraus, innerhalb der sie sich entfalten können. Topographie, so scheint es, wird nicht nur zur Grundlage pädagogischen Handelns, sondern ihre genaue Kenntnis auch zum Ausgangspunkt jeder klaren Verständigung darüber. Warum, so stellt sich angesichts dieses Befunds die Frage, diese Dominanz von topographischen Texten im philanthropischen Schrifttum – um die Salzmannschule im speziellen, aber auch allgemein? Man denke nur an die Fülle von Reiseberichten, Erdbeschreibungen, Elementarbüchern. Was motiviert diese weitläufigen und minutiösen Beschreibungen und Abbildungen von Landschaften, Gebäuden und Räumen, und welchen Funktionen dienen sie? Gibt es eine Verbindung zu den pädagogischen Prinzipien des Philanthropismus, und wenn ja, welche? Welche kulturellen Topographien und kognitiven Karten der Selbstorientierung liegen ihnen zugrunde? Und nicht zuletzt die Frage: Wie spiegeln, modellieren oder transformieren diese topographischen Texte Denkräume und Wissensordnungen? Diese Fragen können im Folgenden nur ansatzweise beantwortet werden. Ich beschränke mich hier ganz auf Schriften, die von Salzmann selbst oder von Lehrern der Salzmannschule verfasst wurden. Dabei handelt es sich durchweg um nichtfiktionale Texte, die allesamt von einer »verstärkte[n] Hinwendung zur Welt« zeugen (Schmitt 2007b: 225): Ankündigungen, Berichte, Schul- und Sachbücher.2 Der erste Teil, der sich vor allem auf Salzmanns Ankündigung einer Erziehungsanstalt von 1784 bezieht, soll einer allgemeinen Orientierung dienen und kurz die wichtigsten Prinzipien der philanthropischen Pädagogik vorstellen, die für raumtheoretische Fragestellungen relevant sind. Argumentiert wird, dass die Philanthropen eine den 1

2

So ist zum Beispiel die eingangs zitierte Ankündigung einer Erziehungsanstalt von zwei Kupfertafeln begleitet, von denen die erste architektonisch genau und maßstabgetreu Frontund Rückansicht des Neubau zeigt, die zweite einen detaillierten Grundriss des ersten und zweiten Geschosses bietet. Dass es sich dabei um gattungsspezifische Topographien handelt, wird deutlich, wenn man diese Texte mit moralischen Erzählungen vergleicht, die ihre Textwelten nach anderen Regeln entwerfen. Wie diese konstruiert sind, zeigen Smith 2008 und Grenby 2010 für den englischen Kontext.

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kindlichen Raumpraktiken angemessene Pädagogik der Nähe entwickeln. Der zweite Teil führt mit der philanthropischen Praktik des Spazierganges die Kategorie der Bewegung in den Raum ein. Philanthropismus, so die These hier, lässt sich vor allem auch als eine Dynamisierung des pädagogischen Raumes verstehen. Erst durch Bewegung im Raum wird ein Erfassen des Raumes, eine Erfahrung des Raumes und somit ein Verständnis von der Welt in ihren wahren Beziehungen möglich. Zeigen möchte ich das an den Gemeinnützigen Spaziergängen, einer 1789-1799 von den Schnepfenthaler Lehrern Carl André und Johann Bechstein herausgegebenen Zeitschrift für Eltern und Lehrer, die für jeden Tag des Jahres Anregungen und Informationen zu einem vergnüglichen und vor allem lehrreichen Spaziergang in die Natur liefert. Abschließend soll ausblickhaft auf ein Paradox hingewiesen werden, das dem philanthropischen Projekt von Anfang an innewohnt: Während das Schnepfenthaler Philanthropin eine glückliche Umsetzung pädagogischer Prinzipien in eine Anschauungstopographie darstellt, blieben die meisten Reformversuche Grundrisse, bloße Raumentwürfe, Utopien im eigentlichen Sinn.

R ÄUMLICHE P RAKTIKEN

DER

K INDHEIT

Kindheit wurde seit Locke und vor allem Rousseau als eigenständiger Lebensabschnitt, als autonome Entwicklungsphase wahr- und ernst genommen und gab als solche Anlass zu pädagogischen Diskussionen. Definiert wurden Kindheit und ihre spezifischen Eigenschaften dabei in erster Linie zeitlich. Kindheit ist an das Alter gebunden, erstreckt sich in der Regel vom 4. bis zum 12. Lebensjahr und zeichnet sich durch spezifische Wahrnehmungsformen aus: Kinder leben ganz in der Gegenwart, ohne Sinn für Zukunft oder Vergangenheit; ihre Aufmerksamkeit ist flatterhaft und von kurzer Dauer; mit zunehmendem Alter steigern sich allmählich die kognitiven Fähigkeiten. Die Philanthropen verankern diese wahrnehmungstheoretischen und entwicklungspsychologischen Beobachtungen nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich. Kindsein grenzt sich ihnen zufolge vom Erwachsensein durch ein grundlegend anderes Verhältnis zum Raum aus, durch eigene räumliche Praktiken (vgl. Lefebvre 1974).3 Die Raumvorstellung von Kindern ist noch dunkel, der kindliche Horizont extrem beschränkt, es fehlt ihnen jeglicher Maßstab. Kleinkinder, die ziellos umherkrabbeln und -laufen, springen und hüpfen, orientieren sich zunächst an der unmittelbaren, sich ihren Sinnen darbietenden Umgebung, entwickeln so klare Vorstellungen vom konkreten Raum, tasten sich langsam vorwärts, erweitern schrittweise ihren Aktions-, Wahrnehmungs-, und Vorstellungsraum, bleiben dabei aber stets dem konkreten, physikalischen Raum verhaftet, ohne Zugang zum abstrakten, mathematisch-geometrischen Raum, der sich ihnen erst im reiferen Alter erschließt. So nehmen die Philanthropen eine Korrelation von Alter und Radius vor, 3

Wobei zu beachten ist, dass die Philanthropen keineswegs ein konstruktivistisches Raumkonzept vertraten. Aus ihrer Perspektive handelt es sich um eine entwicklungspsychologische Erkenntnis, dass sich das Raumverständnis von Kindern erst allmählich bildet. Den Raum selbst aber sehen sie als gegeben.

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binden Wissen an den Raum und verstehen die Begriffe ›Fortschritt‹ und ›Horizonterweiterung‹ wortwörtlich. Dieses Verständnis von Kindheit im Sinne von spezifischen räumlichen Vorstellungen und Praktiken ist aufs engste verbunden mit vier theoretischen Grundprinzipien des Philanthropismus: dem Bewusstsein für die Wichtigkeit des Körpers als Ausgangspunkt sinnlicher Wahrnehmung, der daraus folgenden Lehr- und Lernmethode der Anschauung, dem Konzept des Elementarunterrichts und der Überzeugung, dass Kinder zu lebenstüchtigen, tätigen Bürgern erzogen werden sollen. Hatte die herkömmliche Pädagogik »nur an die Bildung des Geistes gedacht«, so erkennen die Philanthropen den Körper als »wichtigen Theil des Menschen« (Villaume 1787: 448). Als Sitz der sinnlichen Wahrnehmung spielt er eine zentrale Rolle im Lernprozess (vgl. Austermann 2010: 119-130). Sehen, Hören, Fühlen, selbst Riechen und Schmecken sind die Tätigkeiten, anhand derer der Mensch sich die Welt erschließt und klare Begriffe von ihr bildet. Die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der Gegenstände ist gemäß philanthropischer Theoriebildung Voraussetzung für die anschauende Erkenntnis, die der menschlichen Natur am gerechtesten wird. Die symbolische Erkenntnis dagegen, die auf Worten und abstrakten Zeichen beruht, lähmt den Selbsttrieb und stumpft die Seelenkräfte (vgl. Schmitt 2007b: 108113). Daraus ergibt sich die »Notwendigkeit Kinder frühzeitig zu anschauender und lebendiger Erkenntnis zu verhelfen«, wie es im Titel der programmatischen Schrift zur Anschauung des Pädagogen Johann Stuve heißt. »Das Kind will immer unmittelbar anschauen, strebt immer nach eigenem sinnlichen Wahrnehmen«, beobachtet er und kritisiert die symbolische Erkenntnis als unangemessen: »Blosse Beschreibungen und wörtliche Darstellungen ziehen es wenig oder gar nicht an, es ermüdet und schläft dabei ein.« Wählt man dagegen die Methode sinnlicher Anschauung, lässt das Kind »die Sache selbst sehen, hören, fühlen, da lebt und webt es, da arbeitet seine ganze Seelenkraft, da hüpft es vor Lust und Freude.« (Stuve 1788: 217f.) Anschauende und symbolische Erkenntnis sind insofern mit konträren räumlichen Praktiken verbunden: Führt die symbolische Erkenntnis zur Immobilisierung des Körpers und fremdbestimmten Erstarrung der Sinne, so regt sinnliche Anschauung zu freier, natürlicher Bewegung im Raum an. Das neue Verständnis von kindlicher Wahrnehmung lenkt den Blick auf das Elementarische: Sach- statt Wortwissen steht im philanthropischen Lehrprogramm für Kinder im Mittelpunkt, beginnend mit der Naturgeschichte, die dem kindlichen Erkenntnistrieb am nächsten ist. Der traditionelle Latein- und Sprachunterricht ist nicht mehr angebracht. Stattdessen gilt es, die kindlichen Augen für das Elementarische zu öffnen und dem Gang der Natur zu folgen. Erdkunde wird zum elementarsten aller Fächer, weil sie das räumliche Raster vorgibt, in das das erworbene Wissen eingefügt werden kann: »Bei allem, was die Geschichte erzählt, was die Naturkunde verkündigt«, schreibt GutsMuths in seinem Versuch einer Methodik des geographischen Unterrichts, »schweigt nie die Frage des Wo?«. Nicht an abstrakten Denkfächern soll das Wissen abgelagert werden, sondern im realen Raum verortet und so in seinen wahren Bezügen erkannt werden. »Dunkler, gleichsam thierischer Art, oder im dunklen Nebel der Phantasterei verhüllt, bleibt jede Vorstellung«, warnt der Schnepfenthaler Erdkunde- und Gymnastiklehrer, »die nicht an den Raum sich knüpft« (GutsMuths 1835: 11). Mathematik und Physik kommen auch diesem räumlichen Denken entgegen. Schließlich statten alle diese

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Realienfächer sowie Handwerke wie Gartenbau oder Tischlerei das heranwachsende Kind mit dem nötigen praktischen Wissen und Geschick aus, das sie »zu dem tätigen Leben, wozu sie bestimmt sind« brauchen (Salzmann 1784: 93). Zu diesem nützlichen, zufriedenen Dasein als zukünftiger Bürger dient ihnen auch eine gute Gesundheit, die durch körperliche Übungen wie Laufen, Springen, Tanzen, Reiten, Spazierengehen und Wandern erhalten bleibt. Die Pädagogisierung des Raumes und topographische Fundierung der Anschauungspädagogik beruhen auf den theoretischen Grundannahmen der Philanthropen (vgl. Schmitt 2007a: 196-198). Das Wesentliche jedoch ist, dass die Philanthropen aus ihren theoretischen Überlegungen und praktischen Beobachtungen zu kindlichen Raumpraktiken Schlüsse für die pädagogische und schriftstellerische Praxis zogen und einen erzieherischen Ansatz entwickelten, der sich als raumpraktische Pädagogik der Nähe bezeichnen lässt.

P ÄDAGOGIK

DER

N ÄHE

Die Kritik Salzmanns am gängigen Bildungssystem bezieht sich vor allem darauf, dass in den meisten Schulen und Erziehungsanstalten »der ganze Unterricht dahin abzielt, die Aufmerksamkeit der Kinder von dem Gegenwärtigen abzuziehen und auf das Abwesende zu lenken.« (Salzmann 1784: 56) »Lehrt man Religion«, so kritisiert er den herkömmlichen Lern- als Entwurzelungsprozess, »reißt man das Kind aus den väterlichen Gefilden heraus, führt es nach Eden, schwimmt mit ihm auf das Gebirge Ararat, wandert nach Ur, Kanaan, Ägypten, durchreist das wüste Arabien, besteigt den Sinai, passiert den Jordan, besucht den Libanon, die Burg Zion und den Berg Golgatha. Und dies vielleicht alles eher, ehe das Kind die Hügel bestiegen und die Haine besucht hat, die zunächst um sein Städtchen liegen.« (Ebd.) An sich wäre an solchen abenteuerlichen Reisen an biblische Schauplätze nichts auszusetzen. Hat das Kind allerdings noch keine klaren Vorstellungen von der eigenen unmittelbaren Umgebung, so kann es diese fernen Orte, ihr Verhältnis zueinander, ihre Lage in Raum und Zeit überhaupt nicht verorten oder einordnen. Entwicklungs- und somit lernpsychologisch führen solche pädagogischen Fernreisen also in die Irre. Das Gleiche gilt für den Sprachunterricht, der nicht nur ins räumlich ferne Latium und Griechenland entführt. Der Geographieunterricht, so Salzmann, »schmeißt die Kinder von Lissabon bis nach Petersburg und von da bis nach Batavia. Macht sie bekannt mit der Größe und Volksmenge, Produkte und Einkünften jedes Landes. Und eben das Kind, das die Quadratmeilen von Rußland angeben kann, weiß noch nicht, wie groß sein Fürstentum sei […]« (ebd.). Ebenso verfahren alle weiteren Fächer an herkömmlichen Schulen, inklusive der Naturgeschichte, die »den Elefanten und die Kokosnuss an[staunt] und […] gegen das Pferd und die Haselnuss gleichgültig [ist].« (Ebd. 57) Zur vornehmsten Aufgabe der philanthropischen Pädagogik – und somit der philanthropischen Literatur – wird es also im Gegenzug, die Aufmerksamkeit der Kinder auf das Gegenwärtige und Anwesende, das Hier und Jetzt zu lenken. Salzmann ist der Überzeugung, »daß der erste Unterricht der Kinder darinne

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bestehen müsse, daß man ihnen die sichtbaren Dinge, die um sie in der Natur sind, zeige, ihnen die Absicht und den Nutzen derselben erkläre.« (Salzmann 1793: 162) Nur mittels der Anschauung können Kinder sich klare Begriffe bilden, ›res‹ und ›verba‹ in ihrem wahren Bezug erkennen, nur so können klare kognitive Karten in ihren jungen Köpfen entstehen. Philanthropische Anschauungspädagogik erweist sich somit als eine Pädagogik der unmittelbaren Anschauung an »Ort und Stelle«, wie es immer wieder fast refrainartig in den Schriften heißt. Das Naheliegende, nicht das Ferne rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung, wird zum Ausgangspunkt für Erkenntnis. Erst auf dieses Fundament klarer Begriffe kann dann aufgebaut werden. Daraus ergibt sich die topographische Ausrichtung philanthropischer Anschauungspädagogik. Diese Umorientierung vom Fernen hin zum Nahen hat eine Umstellung des Kurrikulums zur Folge. »Ehe meine Zöglinge sich um die Produkte von Ost- und Westindien bekümmern«, erklärt Salzmann, »sollen sie erst die Produkte unseres Landgutes und des Thüringer Waldes kennenlernen. Ehe wir vom Karpatischen Gebirge und dem Pindus plaudern, ehe wir uns mit Paris, Lissabon, Rom, Athen und Jerusalem bekannt machen, müssen wir schon mit der Kette von Gebirgen, an deren Fuß wir wohnen, bekannt sein, den Inselsberg besucht, nach Franken, Hessen und Thüringen gesehen, wenigstens einige Dörfer, Städtchen und Städte besehen haben, damit sie sich doch bei den Worten Gebirge, Berg, Dorf, Städtchen, Stadt, Provinz etwas Richtiges denken können.« (Ebd.: 84) Das hat nichts mit Lokalpatriotismus zu tun, sondern mit der Sorge um den rechten Maßstab. So empfiehlt Johann GutsMuths als erste Vorbereitung auf den späteren Geographie-Unterricht Sieben- bis Achtjährigen zunächst die »anschauliche Betrachtung der Umgegend und ihrer Gegenstände, als: Gebirge, Berge, Hügel [usw.]«. Der nächste Schritt besteht dann in der »Verfertigung leichter Grundrisse von dem Zimmer, Hause, Garten etc.,« (GutsMuths 1835: 36). Eine Karte von Europa, eine Weltkarte kann nur jemand verstehen, der zuvor seine nächste Umgebung kartiert und auf diese Weise räumlich erfasst hat – angefangen mit dem eigenen Zimmer, das somit zum eigentlichen Maßstab für die gesamte Welt wird.

G EGENFÜSSLER -L ITERATUR An dieser Stelle lässt sich ein vorläufiges Fazit in Form einer Verortung formulieren. Als Verortung versteht man die Bestimmung eines Platzes in einem Bezugssystem, seine Referenzierung. Durch »ihre bewußt eingeleitete ›realistische Wende‹ der Pädagogik« (Schmitt 2007b: 106), ihre Referenz auf die real-empirische Welt, auf die ›realia‹ statt die ›verba‹, das Immanente statt das Transzendente, das Nahe statt das Ferne setzen sich die Philanthropen mit ihrer Anschauungstopographie ganz dezidiert von den herkömmlichen, scholastisch-topologischen Lehrtraditionen ab. Einerseits – das haben wir gesehen – begründen sie diese Real-Referenz entwicklungspsychologisch. Andererseits aber ist diese Verortung zugleich als Kulturkritik zu verstehen, als ideologische Positionierung im Bezugssystem spätaufklärerischer Geistesströmungen und Identitätsentwürfe.

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Ein Unterricht, der die Aufmerksamkeit auf Abwesendes lenkt, führe nicht nur zur »Abwesenheit der Gedanken«, sondern übe, davon waren die Philanthropen überzeugt, auch einen üblen Einfluss »auf die ganze Lebensart und Glückseligkeit des Menschen« aus (ebd.: 57). So mahnt Salzmann: »Man versetze den, der allenthalben bekannt ist, nur nicht in der Welt, wo er lebt und webt, in eine solche Lage, wo er nun wirklich zugegen sein soll! Es wird ihm beinah alles so fremd sein wie einem Mondbürger, wenn er auf unsern Planeten sollte verschlagen werden.« (Ebd.)

Nichts kann dem Mondbürger gelingen. »Die Schwellen seines Hauses verfaulen, unterdessen daß er im Pantheon wandelt.« (Ebd.) Die Ehe zerbricht, »weil er wohl die Flexion der Wörter, aber nicht der Weiber gelernt hat.« (Ebd.: 58) Und die eigenen Kinder »mißraten […], denn währenddem, daß er in Palästina, Latium oder Ostindien lustwandelt, bilden die Mägde, die Bedienten oder Gassenbuben den Charakter seiner Kinder.« (Ebd.) Nicht nur erkenntnistheoretische Überlegungen liegen somit der Pädagogik der Nähe zugrunde, sondern auch moralischpragmatische: Die Philanthropen wollen Kinder »zu Menschen [erziehen], die in der Welt, so wie sie ist, glücklich und brauchbar sind.« (Ebd.: 97) Neben den herkömmlichen Schulen trägt auch die Literatur dazu bei, die Menschen aus dieser Welt in fremde zu entführen und sie somit nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst zu entfremden. Als »Empfindsamkeitsfieber« verurteilt Campe dieses Symptom der Spätaufklärung, gegen das unbedingt ein Gegengift zu finden sei. So schwebt Campe ein Buch vor, das die Kraft habe, wie er im Vorbericht zu seinem Robinson der Jüngere (EA: 1779) schreibt, »die Kinderseelen aus der fantastischen Schäferwelt, welche nirgends ist […], in diejenige wirkliche Welt, in der wir uns dermalen selbst befinden« zurückzuversetzen. Ein Buch, das zu Selbsttätigkeit führt, den Nachahmungstrieb »unmittelbar auf solche Gegenstände richtete, welche recht eigentlich zu unserer Bestimmung gehören« und die Wahrnehmung auf »die Dinge in der Welt« statt auf die phantastischen. Ein solches Buch wäre, so schreibt er polemisch, »grade der Gegenfüßler der empfindsamen und empfindelnden Bücher unserer Zeit.« (Campe 1981: 7) Als Gegenfüßler-, also Antipoden-Literatur kann man, so scheint mir, treffend die gesamte philanthropische Literatur bezeichnen. Durch ihre emphatische Referenz auf die real-empirische Welt im Hier und Jetzt wird die philanthropische Pädagogik zum Gegenfüßler einer humanistisch geprägten, auf das Wort, das Abstrakte und das Abwesende ausgerichteten Bildung; durch ihren damit verbundenen FiktionsBoykott wird die philanthropische Sachliteratur zudem noch zum Antipoden zeitgenössischer literarischer Strömungen.

P ÄDAGOGISCHE R AUMPRAKTIKEN

D YNAMISIERUNG

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R AUMES

Als ›Gegenfüßler‹ zu den schweren Folianten, die Lateinschüler in die Bänke dunkler Studierstuben drücken, wachsen der philanthropischen Literatur auch Beine. In Buchform wird sie zum Mobilgerät, zum Reisebegleiter, zum Anlass und Ausgangspunkt für Spaziergänge und Exkursionen, die ganz im Sinne der Pädagogik der Nähe dazu einladen, die Dinge der Welt an Ort und Stelle unmittelbar zu betrachten. Damit trägt sie entscheidend zur Dynamisierung des pädagogischen Raumes bei. Besonders deutlich wird das an den Gemeinnützige[n] Spaziergänge[n] auf alle Tage im Jahr für Eltern, Hofmeister, Jugendlehrer und Erzieher, die aus der Schnepfenthaler Praxis hervorgegangen sind und sich an Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren richten.

Abbildung 2: Wanderung der Zöglinge von Schnepfenthal. Heinrich Müller del. & sculp. In: Kleine Wanderungen auch Groeßere Reisen der weiblichen Zöglinge zu Schnepfenthal, um Natur, Kunst und den Menschen immer besser kennen zu lernen / André, Christian Carl. - Leipzig, 1788. (Titelvignette © Pictura Paedagogica Online, Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, b0000667berl) Die Gemeinnützige[n] Spaziergänge gehören zur wichtigen Gattung der philanthropischen Reiseliteratur (vgl. Panzer 1983). Über sechs Bände erstrecken sich die Beschreibungen in den Reisen der Salzmannischen Zöglinge, in denen der Institutsleiter und seine Mitarbeiter – und anderen auch André – von Spaziergängen, Wanderungen, Tagesreisen und längeren Kutschreisen mit ihren Schülern berichten und gründlich und detailgetreu die Route schildern. In den Kleinen Wanderungen (Abb. 2) berichtet André von den Ausflügen »der weiblichen Zöglinge zu

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Schnepfenthal«, deren Radius die engen geschlechtsspezifischen Grenzen der damaligen Mädchenerziehung bei weitem sprengt (vgl. Smith 2008). Der besondere Reiz der Fußreisen, die schon Rousseau als pädagogisches Mittel angepriesen hatte, lag für die Philanthropen darin, dass dabei »die theoretischen Erziehungsmaximen praktisch erprobt werden [können]«: Abhärtung des Körpers, Triebverzicht, Erwerb von Mensch- und Weltkenntnissen (ebd.: 106). Gemäß Rousseaus Prinzip des Lernens durch eigene Anschauung »spielt der eigentliche Reiseweg als sinnlich und kognitiv erlebtes Beobachtungsfeld eine entscheidende Rolle.« (Ebd.: 61) Als räumliche Praktik, die sowohl dem kindlichen Bewegungsund Freiheitsdrang gerecht wird, als auch der Gesundheitspflege und Fortbewegung dient, erweist sich der Spaziergang als optimale Erschließungsform der Natur, die für die Philanthropen als der pädagogische Raum schlechthin gilt: »Und da nach guten physischen Erziehungsgrundsätzen der größte Theil des Zeitraums vom 1ten bis 12ten Jahre überwiegend der Körperbildung gewidmet seyn soll: so werden diese Spaziergänge die schönste Gelegenheit geben, diesem Grundsatze ohne Schaden der für dieses Alter zuträgliche Geistesbildung getreu zu bleiben.« (André/Bechstein 1790: XXVII)

Kulturhistorisch muss der philanthropische Spaziergang unterschieden werden von anderen bürgerlichen Raumpraktiken, die sich in dieser Zeit ausbilden. Weder gesellig, wie der sonntägliche Familienspaziergang auf der Promenade, noch einsam verträumt, wie empfindsame Streifzüge durch die Landschaft, wird der Spaziergang bei den Philanthropen zum »Lehrmittel einer körperbezogenen, ganzheitlichen Erziehung durch Anschauung«, zu einer »sinnvollen, sinnlichen, dialogischen, peripatetischen Form des Erziehungsdiskurses«, wie Gudrun König in ihrer Kulturgeschichte des Spazierganges treffend formuliert (König 1996: 212). »Spaziergänge nennen wir diese Schrift,« heißt es in der Ankündigung von André und Bechstein, »weil wir beabsichtigen, daß die Kenntnisse, zu denen sie Anleitung geben wird, allezeit an Ort und Stelle, mittelst des Anschauens, also größtentheils im Freien oder außerhalb des Zimmer erworben werden sollen.« (André/Bechstein 1789: 112) Die Gegenstände aus Natur und Kunst, Gewerbe, Haus- und Landwirtschaft sind so ausgewählt, dass sie zu einem etwa 30-minütigen Spaziergang veranlassen. Für jeden Tag des Jahres wird auf einer Oktavseite Sachwissen zu einem jahreszeitgemäßen Gegenstand dargeboten, der dem Anschauungspostulat gemäß raus in die Natur führt. Versetzen wir uns zurück ins Jahr 1790: Im ersten Jahrgang führen die Spaziergänge im Monat Juni zur Betrachtung von Regen (1. Juni), zum Kreuzdorn (2. Junius), auch Wegdorn genannt, der »besonders in sandigen, dabei aber frischen Boden, an Hecken, in Feldbüschen, Vorhölzern, auch am Rande der Bäche und Wiesen« zu finden ist (ebd.: 331f.) Am 3. Juni gilt es Erdhummeln zu finden, am 4. junge Füchse, am 5. Schwefelregen »an Ort und Stelle« zu beobachten. Der Eintrag zum 6. Juni regt dazu an, eine Schafherde aufzusuchen, um einer Wollschur beizuwohnen. Wichtig ist dabei, dass die Kinder vom Erwachsenen nicht zielstrebig zum Ort hingeführt werden, sondern ihrem eigenen Antrieb überlassen und nur behutsam gelenkt werden. Denn nur so können sie zur Selbsttätigkeit und zum Selbstdenken erzogen werden. »Die Absicht der Beschreibung der kleinen Reisen«, schreibt

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Salzmann im zweiten Band seiner Reiseberichte, »[…] ist nicht sowohl, der Jugend geographische, historische u.d.gl. Kenntnisse beyzubringen, als vielmehr ihren Verstand, der bisher durch gewisse Bücher […] wie am Gängelband gegängelt, hinund hergezogen, und ausser Stand gesetzt wurde, selbst einen Schritt zu thun, das Gängelband zu zerreissen, selbst fortzuschreiten, und alles was um ihn ist, mit seinen eigenen Augen zu betrachten und zu beurtheilen.« (Salzmann 1786: [iii]) Lernen als und durch Bewegung ist den Gemeinnützige[n] Spaziergänge[n] (1789) programmatisch eingeschrieben. Deutlich wird das im französischen Titel der Spaziergänge: Manuel portatif heißen sie hier – tragbares Lehr- bzw. Handbuch. Unterricht findet nicht mehr in der dunklen Stube statt, nicht mehr aus dem Buch, das der Lehrer nur zum Notfall in der Tasche tragen und dann möglichst unbemerkt konsultieren soll, um frei und möglichst spontan wirkend »daraus eine Unterredung anzuspinnen, in welcher gefragt, geantwortet, Zweifel vorgebracht, und gehoben […], zu welchen wirklich in dem Augenblick der Gegenstand an Ort und Stelle veranlaßt: so ergiebt sich denn daraus natürlich eine Art der vollständigeren Supplirung der Begriffe als nimmermehr im Zimmer beim bloßen Buche, ja auch bei Abbildungen möglich ist.« (André/Bechstein 1789: 118) Nicht nur das »Stubenleben« (ebd.: xxxi), vor allem die damit verbundene »Körperruhe« und »die sitzende Stellung im Zimmer« erachtet André, der allein die umfangreiche Vorrede zum ersten Jahrgang signiert, als schädlich und unnatürlich für Kinder. Bewegung dient nicht nur der körperlichen Ertüchtigung und Abhärtung. Sie wird bei André vielmehr zur Bedingung der Möglichkeit angemessenen kindlichen Lernens, zu einer kognitiven Praktik: »So können fast alle […] elementarische, in diesen Spaziergängen enthaltnen Vorkenntnisse, beiläufig, im freien, während einer körperlichen Bewegung oder doch mittelst derselben, auch durch angestellte eigne Versuche und Experimente, wozu immer einige körperliche Thätigkeit erforderlich ist, beigebracht werden.« (Ebd.: xxviii).

Bewegung, insbesondere die räumliche Praktik des philanthropischen Spaziergangs, ist weit mehr als Körperertüchtigung an der frischen Luft. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung von Welt, die Produktion und Aneignung von Wissen sich angemessen nur im Akt der Bewegung herausbilden kann. Als solche sind Spaziergänge ein angemessenes »Lehrmittel einer körperbezogenen, ganzheitlichen Erziehung durch Anschauung.« (König 1996: 212). Statt abstrakte Stationen der Mnemotechnik im Geiste abzuschreiten, gilt hier freie Bewegung im konkreten, realen, gegenständlichen Raum. Statt im Naturalienkabinett künstlich sortierte Gegenstände zu betrachten, folgt Wissenserwerb bei den Spaziergängen dem »natürlichen Gang« kindlicher Neigungen, dem Selbstantrieb und den topographischen Eigenheiten der zu entdeckenden Räume. Auch hier gilt das Prinzip der Nähe, das den philanthropischen Spaziergang zu einer elementaren, topographischen Raumpraktik macht. Tatsächlich stellt André im Vorwort der Gemeinnützige[n] Spaziergänge den »Reisebeschreiber«, der in der geschlossenen Kutsche durchs Land fährt und flüchtige Beobachtungen sammelt, dem »Topographen« gegenüber, der sich durch »genaueste Bekanntschaft mit dem Lande« auszeichnet (ebd.: VIII). Im Rahmen philanthropischer Bemühungen um sinnliche Anschauung und sensomotorisches Lernen soll das Kind folglich zum

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Topographen seiner nächsten Umgebung ausgebildet werden. Nur der topographische Habitus kann korrekte kognitive Karten entstehen lassen. Bestimmt wird dieser Habitus durch eine Reihe von topographischen Praktiken der Nähe, die während des Spaziergangs und im Anschluss eingeübt werden: genaues Beobachten, Beschreiben und Sammeln an Ort und Stelle von »den so nahe um und an uns befindlichen Gegenständen« (ebd.: LIV); Vergleichen, Systematisieren und Klassifizieren an beliebigem Ort, und schließlich medial gestütztes Beschreiben, Zeichnen und Illuminieren im Schulraum. Hat der kleine Topograph auf diese Weise seine nähere Umgebung einmal vermessen und erfasst, sich in ihr orientiert und die in ihr befindlichen Gegenstände richtig positioniert und kartiert, dann – und nur dann – kann er seinen Horizont ausweiten. Die Gemeinnützigen Spaziergänge dienen sowohl der Orientierung im realen Georaum als auch einer propädeutischen Einführung in Wissensgebiete, die erforscht und vermessen werden. Darüber hinaus bieten die Spaziergänge aber auch moralische und soziale Orientierung: Sie zeigen an, wie tätige Bürger sich angemessen im Raum zu bewegen haben. So werden sie zu einer Einübung in einen topographischen Habitus des neuen, selbsttätigen Bürgers, der ganz in der Welt zu Hause ist. Aus seinen zunächst beschränkten Bewegungen im Raum entwickelt das bürgerliche Kind allmählich Vorstellungen von Relationen, Distanzen, die im Maßstab ihre Visualisierung finden. Der kartographische Maßstab wird innerhalb des Philanthropismus zugleich zum moralischen Maßstab, der Orientierung bietet im Prozess bürgerlicher Subjektkonstitution.

G RUNDRISSE : P HILANTHROPISCHE E NTWÜRFE In den Nachrichten für Kinder aus Schnepfenthal von 1787, die vom Bau eines neuen Schulgebäudes berichten, erklärt Salzmann seinen jungen Lesern, natürlich mithilfe einer Abbildung, was ein Grundriss ist: »Mit dem Grundrisse eines Gebäudes ist es eine gar artige Sache. Man kann ihn auf ein kleines Blatt Papier bringen, und durch denselben ein Gebäude, das blos in Gedanken noch ist, so vorstellen, als wenn es wirklich gegenwärtig wäre. Hat man den Grundriß vor sich, so kann man gleich übersehen, ob jedes Zimmer, jeder Ofen u.s.w. am rechten Orte stehen werde, kann die Zimmer nach Gefallen vergrößern und verkleinern, und mit seinen Freunden sich über die Ausführung des künftigen Gebäudes besprechen.« (Salzmann 1787: 117)

Der Grundriss erweist sich somit als ein topographisches Medium, das dazu dient, Gedankengebäude abzubilden. Er ist der Darstellungsmodus für Entwürfe, Erdachtes, Zukünftiges, Mögliches: »als wenn es wirklich gegenwärtig wäre«. Er kann zum Diskussionsgegenstand werden, zum Experimentieren einladen, bis für alles »der rechte Ort« gefunden ist. Als Trägermedium für Entwürfe dieser Art genügt »ein kleines Blatt Papier«. Ein solches Blatt wurde dem 6. Stück des Kinderfreunds beigelegt mit der freundlichen Aufforderung des Herausgebers, es auf Pappe aufzuziehen, »damit es nicht so bald zu Grunde geht«. Abgebildet war darauf der Grundriss vom Landgut

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Schnepfenthal und seiner Umgebung, die in der ersten Lieferung der Zeitschrift so ausführlich beschrieben worden war (Abb. 1). »Ich rathe euch nun, das erste Stück des Kinderfreunds noch einmahl von der 5ten Seite an durchzulesen«, empfiehlt Ausfeld, »den Grundriß dabey vor euch zu legen, und Alles was dort mit Worten angedeutet ist, auf dem Grundrisse nachzusehn. […]. Diese Erzählung wird euch dann erst recht verständlich werden, und ihr werdet eine deutlichere Vorstellung von der Lage unserer Erziehungsgebäude, und der Schaffenheit ihrer nächsten Umgebung bekommen.« (Ausfeld 1817: 41) Leicht kann man sich vorstellen, wie eifrige Kinderfinger den Weg von Gotha nach Schnepfenthal auf dem Kupferstich entlangfahren, den sprachlichen Anweisungen folgend, wie dadurch ein Gespür für räumliche Relationen entwickelt wird, lebendige Bilder vor den Augen der Kinder und somit eine »deutlichere Vorstellung« in ihren Köpfen entstehen. Die Bewegung des Fingers auf dem papierenen Grundriss simuliert den Spaziergang durch die freie Natur, und es ist, »als wenn [Schnepfenthal] wirklich gegenwärtig wäre.« Statt in der freien Natur spazieren zu gehen, saßen diese Kinder allerdings in ihren Zimmern, lasen und träumten dort von den Ausflügen der Schnepfenthaler Zöglinge, während lediglich ihre Finger auf dem Papier spazierten. Statt unmittelbar das Buch der Natur zu schauen, es sich durch freie Bewegung im Raum zu erschließen, wird den Lesern das Wissen über die Natur im Medium Buch vermittelt. Die Prinzipien topographischer Anschauungspädagogik finden jedoch in dem auf Pappe gezogenen kolorierten Grundriss und der dazugehörigen sprachlichen Beschreibung in Form eines Reiseberichts aus Kinderperspektive ihre angemessene mediale Umsetzung. Die topographische Logik bleibt den Texten und Bildern eingeschrieben. Wenn auch viele Spaziergänge angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert virtuell blieben – bloße Grundrisse und Entwürfe philanthropischer Anschauungstopographien –, so besaßen sie nichtsdestoweniger die Kraft, Abwesendes anschaulich zu vergegenwärtigen, Abstraktes zu versinnlichen und so durchaus in die Zukunft weisen können.

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L ITERATURVERZEICHNIS Primärliteratur André, Carl Christian (1788): Kleine Wanderungen, auch größere Reisen der weiblichen Zöglinge zu Schnepfenthal, um Natur, Kunst und den Menschen immer besser kennen zu lernen, Leipzig: Crusius. André, Carl Christian/Bechstein, Johann Matthäus (1789): »Gemeinnützige Spaziergänge für Eltern, Hofmeister Jugendlehrer und Erzieher. Ankündigung«, in: Braunschweigisches Journal 2, S. 112–119. André, Carl Christian/Bechstein, Johann Matthäus (Hg.) ([1789]1799): Gemeinnützige Spaziergänge auf alle Tage im Jahr für Eltern, Hofmeister Jugendlehrer und Erzieher. Zur Beförderung der anschauenden Erkenntnisse besonders aus dem Gebiete der Natur und Gewerbe, der Haus- und Landwirthschaft, 10 Jahrgänge, Braunschweig: Schulbuchhandlung. Ausfeld, Johann Wilhelm (Hg.) (1817): Der Kinderfreund aus Schnepfenthal. Mit zwey Kupfern, 1. Jahrgang, Schnepfenthal: Buchhandlung der Erziehungsanstalt. Campe, Joachim Heinrich (1981): Robinson der Jüngere. Zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder. Nach dem Erstdruck hg. von Alwein Binder und Heinrich Richartz (= Universalbibliothek, Band 7665), Stuttgart: Reclam. [1779] GutsMuths, Johann Christoph Friedrich (1835): Versuch einer Methodik des geographischen Unterrichts, Weimar: Verlag des geographischen Instituts. Friedrich, Leonhard (Hg.) (2008): Pädagogische Welt. Salzmanns Schnepfenthal. Ausgewählte Texte, 2. überarb. Aufl., Jena: edition Paideia. Salzmann, Christian Gotthilf (1786): Reisen der Salzmannischen Zöglinge, 2. Band, Leipzig: Crusius. Salzmann, Christian Gotthilf (1787): Nachrichten für Kinder aus Schnepfenthal, Leipzig: Crusius. Salzmann, Christian Gotthilf (1793): Reisen der Salzmannischen Zöglinge, 6. Band, Leipzig: Crusius. Salzmann, Christian Gotthilf (2008): »Noch etwas über Erziehung nebst Ankündigung einer Erziehungsanstalt«, in: Friedrich, Pädagogische Welt, S. 39– 112. [1784] Stuve, Johann (1788): »Über die Nothwendigkeit Kinder frühzeitig zu anschauender und lebendiger Erkenntniss zu verhelfen; und über die Art wie man das anzufangen habe«, in: Joachim Heinrich Campe (Hg.), Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, Band 10, Wien/Braunschweig: Wolf Gräffer, S. 163–444. Villaume, Peter (1787): »Von der Bildung des Körpers in Rücksicht auf die Vollkommenheit und Glückseligkeit des Menschen, oder die physische Erziehung insonderheit«, in: Joachim Heinrich Campe (Hg.), Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, Band 8, Wien/Wolfenbüttel: Wolf Gräffer, S. 211–492.

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Sekundärliteratur Austermann, Simone (2010): Die »Allgemeine Revision«. Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert (= Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Band 32), Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Grenby, Matthew O. (2010): »Captivating Enlightenment. Eighteenth-century children’s books and the private life of the child«, in: Andrew Kahn (Hg.), Representing private lives of the Enlightenment (= SVEC, Band 2010, 11), Oxford: Oxford University Press, S. 269–284. König, Gudrun M. (1996): Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780 – 1850, Wien: Böhlau. Lefebvre, Henri (1974): La production de l'espace. Paris: Anthropos. Panzer, Bärbel: Die Reisebeschreibung als Gattung der philanthropischen Jugendliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Europäische Hochschulschriften Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Band 697), Frankfurt am Main/Köln: Peter Lang. Schmitt, Hanno (Hg.) (2007): Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Schmitt, Hanno (2007a): »Zur Pädagogisierung des Raumes im Philanthropismus. Das Beispiel der Salzmannschule Schnepfenthal«, in: Schmitt, Vernunft und Menschlichkeit, S. 194–206. Schmitt, Hanno (2007b): »Vom Naturalienkabinett zum Denklehrzimmer. Anschauende Erkenntnis im Philanthropismus«, in: Schmitt, Vernunft und Menschlichkeit, S. 224–243. Smith, Elise L. (2008): »Centering the Home-Garden. The Arbor, Wall, and Gate in Moral Tales for Children«, in: Children's Literature 36, S. 24–48.

Zwischen pädagogischer Utopie und institutioneller Routine Raumordnungen und raumbezogene Praktiken im Kindergarten R OSWITHA S TAEGE

D ER K INDERGARTEN

ALS

O RT

UND

M ETAPHER

Angesichts von ›Betreuungskrise‹ und kindlichen ›Turbolernern‹, die die gesellschaftlichen Diskurse um öffentliche Kleinkindererziehung dominieren, erscheint es bemerkenswert, dass die altmodisch anmutende Bezeichnung ›Kindergarten‹ sich seit der Entstehung der Institution Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten hat und ungebrochen beliebt ist. Mit der Bezeichnung ›Kindergarten‹ bediente sich dessen Begründer, Friedrich Fröbel, zum einen der romantischen Erziehungsmetaphorik, der zufolge die Kinder »wie die Gewächse in einem Garten unter dem Segen des Himmels und der aufsehenden Pflege des Gärtners gedeihen« (Fröbel 1976a: 96). Zum anderen entwirft er den Kindergarten als »das den Kindern wieder zurückzugebende und gegebene Paradies« (Heiland 1982: 95). Mit der Bestimmung des Kindergartens als »Garten-Paradies« (Fröbel 1912: 32) übernimmt Fröbel die u.a. von Goethe, Hölderlin und Friedrich Schlegel literarisch präfigurierte Vorstellung des Kindes als eines Wesens, das kraft seiner Ursprünglichkeit und Unverdorbenheit sich in einem paradiesischen Zustand nicht bloß befindet, sondern durch dessen Gegenwart das Paradies auch dem Erwachsenen anschaulich und ahnbar wird. Fröbel setzt diese Sichtweise auf das Kind, wie Maike Baader es pointiert formuliert, »in ein pädagogisches Projekt um« (Baader 1996: 229). Dem Kindergarten weist er die Aufgabe zu, die ursprüngliche Reinheit des Kindes zu bewahren: »Auch Gott ließ den ersten Menschen zur Erhaltung seiner ursprünglichen Reinheit in einem Garten leben« (Fröbel 1982: 155). Mit einer Erziehung, welche »die reine Menschheit behütet und pflegt« (Fröbel 1976a: 97), verbindet Fröbel die Vorstellung eines zukünftigen neuen Goldenen Zeitalters, in dem die Menschen mit sich selbst, ihren Mitmenschen, der Natur und Gott in Einklang leben. Der Kindergarten ist damit seiner Idee nach ein Ort, an dem an der Realisierung einer Utopie erzieherisch gearbeitet wird und an dem der paradiesische Nicht-Ort (ou-topos) im »pädagogischen Diesseits« (Bilstein 1997) anschaulich gegenwärtig ist.

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Ich werde im Folgenden zunächst die mit dieser Idee verbundene Raumimagination betrachten und mich von dorther dann raumbezogenen Praktiken in heutigen Kindertageseinrichtungen zuwenden. Die theoretische Hintergrundannahmen sind dabei (1.), dass in bildlichen und metaphorischen Darstellungen des Kindergartens eine »räumliche[ ] Leitphantasie[ ] pädagogischen Denkens, Redens und Handelns« (ebd.: 23) zum Ausdruck kommt, die für die Institution identitätsstiftende Bedeutung hatte und hat, (2.), dass die einzelnen Motive dieser Leitphantasie geschichtliche Veränderungen und Umdeutungen erfahren und (3.), dass sie sich in den Alltagspraktiken der Institution aufweisen lassen – u.a. insofern, als sie über disziplinäre und gesellschaftliche Diskurse sowie normierende Setzungen in die institutionelle Praxis hineinwirken.1 Zwei Motive möchte ich betrachten: Zum einen den Garten als umfriedeten Ort und geschützte Sphäre, zum anderen den Garten als Ort kindlichen Spiels. Dabei werde ich das erste Motiv nur streifen, um zu dem zweiten, dem eine ausführlichere Betrachtung gelten soll, hinzuführen.

D ER G ARTEN

ALS UMFRIEDETER

GESCHÜTZTE

S PHÄRE

O RT

UND

Der durch Zaun oder Mauer umfriedete Garten, in dem die Kinder spielen, gehört zum ikonographischen Bestand von Darstellungen der Orte öffentlicher Kleinkindererziehung in der zweiten Hälfte des 19. Jh., als der Kindergarten größere Verbreitung fand und Gegenstand interessierter öffentlicher Auseinandersetzung innerhalb des Bürgertums wurde. 2 Die Metaphorik des geschützten Gartens der Kindheit, die in die Bezeichnung »Kindergarten« einging, wird hier in bildlichen Darstellungen manifest. Das wohl bekannteste dieser Bilder ist das um 1890 entstandene Gemälde Der Kindergarten von Johann Sperl (Abb. 1). Die Raumkonstruktion des geschlossenen Gartens knüpft an eine Traditionslinie christlicher Ikonographie an, in der der hortus conclusus als Symbol der Reinheit und Jungfräulichkeit Mariens fungierte (vgl. Abb. 2)3.

1

2 3

Im Rückgriff auf Fends Neue Theorie der Schule stellt Honig (2013: 188) heraus, dass institutionelle Praxis »generalisierte externe Erwartungen, bspw. Bildungsaufträge, in Handlungsaufgaben [übersetzt] […]«. »Von Kindertageseinrichtungen als Institutionen zu sprechen, verweist auf das Spannungsfeld zwischen Idee und Verhaltensstrukturierung […]. Entscheidend ist, dass der Wertebezug pädagogischen Organisationen nicht inhärent, dass er keine Gegebenheit ist, sondern praktisch hergestellt, hervorgebracht werden muss« (ebd.). Die »Bilder aus dem Kindergarten«, die Günther Erning zusammengetragen und in seinem gleichnamigen Buch (Erning 1987) publiziert hat, geben davon einen guten Eindruck. Zur Bildungsintention des Paradiesgärtlein und zur Verbindung des monastischen Ideals des hortus conclusus mit der Motivik des ritterlichen Liebesgartens vgl. Siebner (2009).

Z WISCHEN PÄDAGOGISCHER U TOPIE UND INSTITUTIONELLER R OUTINE

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Abbildung 1: Johann Sperl, Im Kindergarten, Öl auf Leinwand, 71,5 x 101,5 cm, um 1885, Neue Pinakothek, München, © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte Während das Bildmotiv des umfriedeten Gartens im aktuellen frühpädagogischen Diskurs nahezu abwesend zu sein scheint, ist die Abschirmungssymbolik höchst lebendig präsent – und damit wechsle ich auf die Ebene der raumbezogenen Praktiken – im Verhältnis von draußen und drinnen, das in der Art und Weise, wie Kinder allmorgendlich den Kindergarten betreten, zum Ausdruck kommt: »Im Eingangsbereich […] des Kindergartens warten die Mädchen und Jungen auf die Türöffnung, betreten dann die Garderobe […], suchen dort ihren Platz und hängen die Straßenkleider an die persönlich gekennzeichneten Haken […]. Die Garderobe erweist sich als eigentlicher Übergangsraum vor dem Eintritt in den Hauptraum. […] Es werden persönliche Objekte, die nicht mit in den Hauptraum genommen werden dürfen, herumgezeigt, verglichen, einander ausgeliehen. Es werden Kinder geneckt, von Kameraden herausgefordert, Geheimnisse ausgetauscht. […] Parallel zu diesen Aktivitäten haben die Kinder die Schuhe gewechselt […] und betreten nun […] den Hauptraum […]. Dass der Eintritt in diesen Raum als explizites Übergangsritual betrachtet werden kann, bestätigt eine Kindergärtnerin lachend wie folgt: ›Genau. Es ist wirklich so. Eine Schleuse, eine Dreckschleuse, wo alles vom Leben draußen hängen bleibt‹« (Jäger 2008: 146f.)

Das Betreten des Kindergartens wird mit dem Zurücklassen der persönlichen Gegenstände in der Garderobe und dem Ausziehen der Straßenschuhe als – wie die Autorin der zitierten ethnographischen Studie zuspitzend formuliert – »säkulare Reinigungszeremonie« (ebd.: 147) inszeniert. Das Kind übernimmt in diesem täglich vollzogenen Übergangsritual eine auf die Institution bezogene Statusposition, es wird zu einem Mitglied der Institution Kindergarten, zum Kindergartenkind (vgl hierzu

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Zeiher 2009: 117f.). Solche Praktiken des morgendlichen Ankommens im bzw. Übergangs in den Kindergarten, tragen dazu bei, den Kindergarten als pädagogischen Ort und die Abgeschirmtheit des Ortes als sein strukturelles Merkmal hervorzubringen.

D ER G ARTEN ALS O RT DES F REISPIELS

KINDLICHEN

S PIELS : R AUMORDNUNG

»Im Spiele«, so schreibt Fröbel über die Kindergartenkinder, »sollen sie freudig und allseitig, alle Kräfte übend und bildend, in schuldloser Heiterkeit, Einträchtigkeit und frommen Kindlichkeit sich darleben […]« ( Fröbel 1976a: 96). Dass Kinder sich im Spiel bilden, dass das Spiel die »kindtypische« Weise des Sich-Bildens sei, war eine für die Pädagogik Fröbels zentrale Annahme. Im Kindergarten sollten die Kinder insbesondere in Gestalt der Spielgaben eine Ordnung der Dinge vorfinden, die – so die Annahme der Fröbelschen Didaktik – im spielenden Umgang mit den Dingen über die Dinge hinausweisend als umfassende sinnhafte Ordnung der Welt erfahren wird. Beim Spiel mit den Spielgaben war das Mittun der Erwachsenen vorausgesetzt; nicht nur, um die Kinder zum rechten, d.i. bildenden Umgang anzuleiten, sondern auch, weil die Teilhabe am Spiel der Kinder als für den Erwachsenen selbst »bildend und fortentwickelnd« (Fröbel 1976b: 89) gedacht wurde. Fröbel spricht in diesem Zusammenhang vom »Band wechselseitiger Erziehung und Erhebung« (ebd.). Da das in sein Spiel vertiefte Kind die paradiesische Seinsweise des Menschen verkörpert und sichtbar macht, war es gewissermaßen Aufgabe der Kindergartenkinder, »in schuldloser Heiterkeit, Einträchtigkeit und frommen Kindlichkeit sich dar[zu]leben«, die paradiesische Existenzweise also durch ihr Verhalten zur Anschauung zu bringen. Entsprechend zeigt Sperls Gemälde (vgl. Abb. 1) ein Gartenidyll mit Kindern, die in kleinen Grüppchen auf einer Obstbaumwiese hinter dem Haus spielen, und einer am Tisch mit einer Näharbeit befassten Kindergärtnerin. Das szenische Arrangement der zwanglos zwischen blühenden Bäumen und Blumen verteilten Figurengruppe ist sehr ähnlich demjenigen des Paradiesgärtlein des Oberrheinischen Meisters (Abb. 2) und zeigt das »Garten-Paradies« (Fröbel 1912: 32) nicht nur als hortus conclusus, sondern zugleich als locus amoenus.4

4

Die räumliche Leitphantasie des Kindergartens schließt damit eng an die Bildtradition des umhegten und kultivierten Gartens an, in dem die Menschen friedlich und in Einklang mit der Natur leben. Vgl. zur Geschichte der Gartendarstellungen in der europäischen Malerei Büttner 2008.

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Abbildung 2: Oberrheinischer Meister, Paradiesgärtlein, Mischtechnik auf Eichenholz, 26,3 x 33,4 cm, 1410, Städel Museum, Frankfurt am Main, © Städel Museum, ARTOTHEK

Das »Sich-Darleben«, das Ansichtigwerden des in das Spiel vertieften Kindes ist für die Institution Kindergarten bis heute so überaus wichtig, weil der Kindergarten aus dem Nexus von Spiel und Bildung seine besondere theoretische Fundierung und pädagogische Legitimation – in Abgrenzung zur Schule – gewinnt. Ausgehend von der spontanen Äußerung einer Erzieherin, »Schauen Sie mal, wie die Kinder heute wieder so schön spielen!« (Jung 2004: 126) weist Petra Jung in ihrer ethnographischen Studie, in der es um den Beitrag der Kinder zu einem guten Kindergarten geht, auf, inwiefern das »schöne Spiel« der Kinder einer Repräsentation pädagogischer Qualität gleichkommt: »Zum einen offenbart ein Szenario spielender Kinder ein kulturelles Selbstverständnis: Spielende Kinder sind lernende Kinder, denn das Spiel gilt als Motor der kindlichen Entwicklung. Das beobachtbare Geschehen zeugt also davon, dass das, was im Kindergarten passiert, pädagogisch relevant ist. Zudem tritt es den […] Beobachtern als Wirkung gezielter Praktiken entgegen: Beobachter können das Spiel der Kinder auf das ›kindgerechte‹ Anregungspotential der professionell hergestellten Spiel-Umgebung zurückführen und Erzieherinnen können daraus Wissen und Gewissheit über ihre berufliche Praxis ableiten.« (Ebd.: 130)

Raumbezogenen Praktiken, durch die das Spiel der Kinder geordnet und inszeniert wird, kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Funktion zu. Ich werde im Folgenden routinierte Handlungsweisen, die den Raum des Freispiels strukturieren, anhand dreier Beispiele aus aktuellen ethnographischen Studien vorstellen (entnom-

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men aus Jung 2004, Schmidt 2004 und Schulz 2011). Dabei gehe ich davon aus, dass sich in solchen Praktiken nicht explizierte funktionale Erwartungen an den Kindergarten als Institution artikulieren. Erstes Beispiel Der Kindergarten St. Johann ist ein dreigruppiger Kindergarten, dessen Praxis die Erzieherinnen der Forscherin gegenüber durch das Konzept der »Teiloffenen Gruppen« (Jung 2004: 126) charakterisieren. In der Darstellung dieses Konzepts beziehen sie sich auf die Organisation der Verteilung der Kinder im Raum: Die Kinder gehören einer Gruppe zu, halten sich während des Freispiels aber nicht nur in ihren jeweiligen Gruppen auf, sondern regulieren unabhängig von den Erwachsenen ihre Aufenthalte in den Räumen der anderen Gruppen (vgl. ebd.: 130f.). Sie tun dies mit Hilfe von Magnettafeln, von denen sich eine in jedem Gruppenraum befindet. An den Magnettafeln haften Buttons mit den Fotos der Kinder der jeweiligen Gruppe. Bevor ein Kind in einen anderen Raum wechselt, schiebt es »seinen« Button in dasjenige Feld der Tafel, das diesen Raum repräsentiert. Jedes Kind ist auf diese Weise dafür verantwortlich, jederzeit seinen Aufenthaltsort im Kindergarten zu markieren. Dabei muss es die Regel einhalten, dass nicht mehr als fünf Kinder seiner Gruppe sich in einem der beiden anderen Räume befinden dürfen (vgl. ebd.: 133f., Fußnote 2). Der Einsatz der Magnettafel folgt dem »betreuungsökonomischen Kalkül« (ebd.: 133), angesichts der Öffnung der Gruppen eine ausgewogene Verteilung der Kinder zu gewährleisten und zugleich den Erzieherinnen jederzeit Informationen über die Aufenthaltsorte der einzelnen Kinder verfügbar zu machen. Auch innerhalb der Gruppenräume gibt es maximale Belegungszahlen für die einzelnen Spielbereiche (vgl. ebd.: 134):

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»Swen steht vor dem Durchgang des Hauptraumes zur Räuberhöhle. Er zeigt nacheinander mit seinem rechten Finger auf die Kinder, die darin spielen. Seine Lippen bewegen sich, er zählt, dann schaut er verwirrt und fängt wieder von vorne an. Als er fertig ist, dreht er sich um, er will gehen, aber er wendet sich noch mal zur Räuberhöhle hin und zählt wieder. Diesmal spricht er lauter: eins, zwei, drei, vier, fünf. Er sieht unzufrieden aus, wendet sich um und verschwindet in der Bauecke.« (Ebd.: 135)

Indem die Kinder sich orientiert an den Belegungsregeln selbst disziplinieren, den Regeln also eigenständig folgen, tragen sie bei zur Herstellung einer räumlichen Ordnung, die »mit der Idee des Freispiels harmoniert« (Schmidt 2004: 192): Kinder spielen in kleinen Gruppen in unterschiedlichen Spielbereichen und bewegen sich ohne instruierende Interventionen der Erzieherinnen von einem Spielbereich in einen anderen. Es wirkt so, als würden sie dabei ausschließlich einem spontanen Spielinteresse folgen (vgl. Jung 2004: 135). Zweites Beispiel Kai Schmidt (vgl. Schmidt 2004) untersucht in seiner Studie die raumbezogenen Ordnungsmuster und Ordnungspraktiken in einem viergruppigen Kindergarten, dessen pädagogisches Team die Gruppenräume durch Funktionsräume ersetzt hat. Es gibt nun einen Theaterraum, einen Bauraum, einen Spieleraum mit Geschicklichkeits-, Karten- und Brettspielen sowie einen Kreativraum. »Folgende Szene ereignet sich im Theaterraum. Vier Kinder sitzen auf dem Boden und beschäftigen sich mit Pokemon-Karten. Erzieherin Christa betritt den Raum und sagt zu ihnen: ›So, sucht euch dann ab neun eine andere Gruppe.‹ Sie wendet sich zu mir und meint: ›Die sind immer hier im Theaterraum, hängen hier rum, müssen mal woanders rein.‹« (Ebd.: 190)

Der impliziten Norm der ausgewogenen Nutzung der Räume durch das einzelne Kind, der die Erzieherin in dieser Szene zur Durchsetzung verhilft, liegen die Annahmen zu Grunde, dass spezifische Spieltätigkeiten mit spezifischen Lernmöglichkeiten verbunden sind, und dass die unterschiedlichen Spiel/ Lerntätigkeiten der Kinder durch je spezifische Lernumgebungen herausgefordert werden. Diese Annahmen werden genutzt, um eine funktionale Differenzierung von Kindergarten-Räumen, die durch die Zuordnung von bestimmten Materialien zu bestimmten Orten vollzogen und markiert wird, zu begründen. Eine optimale Nutzung der ihm gebotenen Lerngelegenheiten durch das Kind wird dann an einer ausgewogenen Nutzung der Räume erkenn- und belegbar. Zudem kann eben diese ausgewogene Nutzung vom Kind eingefordert werden: Es ist Aufgabe des Kindes, gebotene Lernchancen in Lernaktivitäten umzumünzen. »Beschränkt sich ein Kind auf einen Raum, so ist davon auszugehen, dass es sich Lernchancen entzieht.« (Ebd.) Mit Hilfe der Differenzierung in sogenannte Funktionsräume – Bewegungsraum/ Turnhalle, Atelier/Kreativraum, Bauraum, Theater/Rollenspielraum, neuerdings aber auch Forscherraum oder Matheraum – wird das, was Kinder im Kindergarten tun, mit Blick auf den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen, der seit einigen Jahren im Zentrum des fachlichen und gesellschaftlichen Diskurses um institutionelle Kleinkinderbetreuung steht, (mehr oder weniger systematisch) geordnet. Es handelt

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sich gewissermaßen um eine Curricularisierung des Raums. Diese trägt einerseits der gesellschaftlichen Anforderung an Kindertageseinrichtungen, sich als Bildungseinrichtungen zu verstehen und zu formieren, Rechnung, verteidigt andererseits aber auch das Spezifische frühkindlichen Lernens gegenüber den Tendenzen zur Scholarisierung, indem das Curriculum frühkindlicher Bildung nicht durch Unterrichtsfächer und eine den Tagesablauf strukturierende Abfolge von Unterrichtsstunden in eine zeitliche Ordnung gebracht wird. Stattdessen obliegt es dem Kind, »selbstgesteuert lernend« die Möglichkeiten, die die funktional differenzierte Lernumgebung bereithält, im Sinne des Curriculums zu nutzen, um – in der Terminologie des einschlägigen Diskurses formuliert – die »vielfältigen Potentiale«, über die es als »geborener Lerner« verfügt »optimal auszuschöpfen«.5 Schmidt weist in diesem Zusammenhang auf die Entwicklung hin, die die Idee kindlichen Sich-Bildens im freien Spiel genommen hat: War im Fröbelschen Konzept der Spielgaben stets ein Mit-Tun der Erwachsenen vorausgesetzt, so betont der aktuelle Diskurs unter Bezugnahme auf konstruktivistische Bildungstheorien die Selbständigkeit des Kindes, das sich in Auseinandersetzung mit einer material anregend gestalteten Umgebung selbst bilde (vgl. ebd.: 181). Korrespondierend dazu sehen die Erzieherinnen ihre Aufgabe im Rahmen des Freispiels in erster Linie darin, eine anregende Umwelt zu schaffen (vgl. ebd.). Das Selbstverständnis der Erzieherin als derjenigen, die eine Lernumgebung bereitstellt, drückt sich auch darin aus, dass Kinder und Erzieherinnen sich »typischerweise an unterschiedlichen Orten aufhalten« (ebd.: 163): Die Kinder halten sich meist in den Spielbereichen auf und bewegen sich zwischen den Spielbereichen hin und her, während die Erzieherin von einem Platz an einem freien Tisch aus das Geschehen beobachtet. Von dort aus begibt sie sich hin und wieder in einen der Spielbereiche hinein, ist aber an ihrem »Stützpunkt« (ebd.: 164) jederzeit für die Kinder ansprechbar. Drittes Beispiel Auf der Basis des ethnographischen Materials aus dem Forschungsprojekt Professionelle Begleitung von Lern- und Bildungsprozessen in Kindertagesstätten formuliert Marc Schulz pointiert, dass die »[…] jederzeit stattfindende wechselseitige Ansprache zwischen Kindern und Erwachsenen als eine zentrale Handlungsroutine des Feldes bezeichnet werden […]« könne (Schulz 2011: 57). Vor dieser Folie arbeitet Schulz in seiner performativitätstheoretischen Rekonstruktion heraus, wie im Kontext des Beobachtens und Dokumentierens kindlicher Aktivitäten durch die Erzieherinnen eine alternative Handlungsroutine in das frühpädagogische Feld eingeführt wird (vgl. ebd.). Deklariertes Ziel der sogenannten ressourcenorientierten 5

Masschelein und Simons (2007) machen darauf aufmerksam, dass die Rede von »Lernumgebungen« eine bestimmte Organisation der Zeit und des Raumes, in der das Hier-undjetzt zentral ist, impliziert: »Eine Umgebung stellt Anforderungen hier und jetzt, bietet Möglichkeiten und Ressourcen hier und jetzt. Sich selbst verstehen in Bezug auf eine Umgebung bedeutet, dass die Beziehung zu mir und mein Selbstverständnis im Zeichen der Kapazitäten und Möglichkeiten stehen, die hier und jetzt vorhanden sind […].« (Ebd.: 235).

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Beobachtungsverfahren ist es, Kinder als eigenständige Akteure und Subjekte ihrer Bildungsprozesse wahrzunehmen. Fokussiert wird dabei auf die Individualität kindlichen Lernens (vgl. ebd.: 50). »Im Gruppenraum: (…) Ich bemerke, dass die Erzieherin Natascha Weißhaupt den Platz vom Frühstückstisch hin zum Basteltisch wechselt. Nur aus dem Augenwinkel habe ich gesehen, dass sie mit ihrem Klemmbrett Richtung Basteltisch geht. Mit dem Rücken zu uns sitzt dort der Junge Paul. Frau Weißhaupt setzt sich an den Tisch neben dem Basteltisch, keinen Meter weiter, sodass sie Paul wohl gut von der Seite zuschauen kann. Sie schaut ihm zu und macht immer wieder Notizen auf dem Beobachtungsbogen, ohne dass sie spricht.« (Ebd.: 54)

Ein beiläufiges Ereignis wird in ein beobachtungsrelevantes Ereignis transformiert, indem es durch Praktiken professioneller Aufmerksamkeit, die für andere deutlich wahrnehmbar sind, auffällig gemacht wird. Dabei wird eine Differenz zwischen dem Beobachtungsraum der Erzieherin und dem Akteursraum des Kindes hergestellt (vgl. ebd.: 57). Das Sich-Notizen-Machen erfordert und ermöglicht immer wieder eine Abwendung vom Kind und verhindert, dass die Beobachterin zur Ko-Akteurin wird (vgl. ebd.). Während die Erzieherin schweigend schaut und schreibt, wird dem Kind die Akteursposition des »Sich-Zeigenden« zugeteilt (ebd.: 59). Trotz körperlicher Nähe nimmt die Erzieherin eine distanzierte Beobachterposition ein, in der sie sich »als interessierte, aber sich passiv verhaltende Zuschauerin inszeniert« (ebd.: 57). Über die »prinzipielle Differenz zwischen den Tätigkeiten« (ebd.: 57f.) wird eine räumliche Differenz zwischen Aufführungsbühne und Beobachterplatz hergestellt, die nicht durch die Architektur oder Möblierung des Raumes vorgegeben und angezeigt wird, sondern prinzipiell überall innerhalb des Raumes etabliert werden kann (vgl. ebd.: 55). Was auf der so hergestellten Bühne ansichtig werden soll, was die Kinder durch ihr Verhalten zur Anschauung bringen sollen, ist ihr Lernen, sind – um nochmals die Terminologie des aktuellen frühpädagogischen Diskurses zu bemühen – die von »Neugier und Forschergeist« geprägten »Lernwege und Lernstrategien« der Kinder.

F AZIT In der Zusammenschau geben die drei Beispiele einen Einblick in Handlungsroutinen, durch die der Raum des Freispiels strukturiert wird. Scheint es zunächst so, als käme die institutionelle Dimension solcher Praktiken vor allem in deren betreuungsökonomischen Aspekten zum Ausdruck, so zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass das Selbstverständnis des Kindergartens als Bildungsinstitution in den raumbezogenen Routinen höchst präsent ist: An die institutionelle Rolle des Kindergartenkindes ist die Verhaltenserwartung geknüpft, dass es den Raum in bestimmter Weise nutzt und sich dadurch als eigenständig lernendes Kind zu erkennen gibt. Komplementär dazu wird durch professionelle Aufmerksamkeitspraktiken das lernende Kind in Szene gesetzt. Bemerkenswert ist dabei, dass das für die räumliche Leitphantasie des (Kinder-)Gartens von Beginn an zentrale Motiv der zwanglos im Raum verteilten und – allein oder in kleinen Gruppen – in ihr Spiel vertieften

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Kinder beibehalten wird. Die räumliche Ordnung des Freispiels wird im Kontext aktueller gesellschaftlicher Erwartungen allerdings mit neuen Bedeutungen belegt. Die Praktiken, die den Raum des Freispiels als Lernraum strukturieren, übersetzen nicht nur den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen in Handlungsaufgaben (vgl. Honig 2013: 188), sie tragen auch der Stilisierung des Kindes zum Erkenntnisund Lernwesen, die mit dem großen gesellschaftlichen und medialen Interesse an frühkindlicher Bildung einhergeht, Rechnung. Unter den Bedingungen lebenslangen Lernens, die vom Erwachsenen verlangen, sich die (kindliche) Lernfähigkeit zu bewahren (vgl. Drieschner 2007: 82), »wird das Kind wieder zum Ideal menschlichen Lebens emporgehoben« (ebd.): »Bestand der […] romantische Kindheitsmythos in der Vorstellung vom Kind als Erlöser, der das Neue in die Welt hineinträgt und das Modell für ein besseres Leben jenseits gesellschaftlicher Zwänge bildet, so wird das Kind als hochtouriger Lerner zum ›vorbildhaften Modell‹ in der Wissensgesellschaft […]« (ebd.). Die Inszenierungen kindlichen Lernens, zu denen die raumbezogenen Routinen beitragen, lassen sich in den Zusammenhang dieser Idealisierungstendenzen einordnen. Sie führen dann zurück zum Ausgangspunkt bei Fröbel und zu der Frage, ob der Kindergarten in der Wissensgesellschaft sich möglicherweise als ein Ort verstehen lässt, an dem das Ideal einer Gesellschaft lebenslang Lernender im Spiel der Kinder ansichtig werden soll, während zugleich an der Realisierung einer solchen Gesellschaft pädagogisch gearbeitet wird.

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L ITERATUR Baader, Meike Sophia (1996): Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied/Kriftel/Berlin: Luchterhand Verlag. — (1999): »Pädagogische Paradiesentwürfe«, in: Eckart Liebau/Gisela MillerKipp/Christoph Wulf (Hg.): Metamorphosen des Raums. Erziehungswissenschaftliche Forschungen zur Chronotopologie, Weinheim: Deutscher Studienverlag, S. 138-148. Bilstein, Johannes (1997): »Jenseitslandschaften im pädagogischen Diesseits: Garten, Fabrik, Werkstatt«, in: Gerold Becker/Johannes Bilstein/Eckart Liebau (Hg.): Räume bilden. Studien zur pädagogischen Topologie und Topographie, Seelze: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung. Büttner, Nils (2008): Gemalte Gärten. Bilder aus zwei Jahrtausenden, München: Hirmer Verlag. Drieschner, Elmar (2007): »Die Metapher vom Kind als Wissenschaftler. Zum Forschergeist und zur Kompetenz von Säuglingen und Kleinkindern«, in: Dietrich Hoffmann/Detlef Gaus/Reinhard Uhle (Hg.): Mythen und Metaphern, Slogans und Signets. Erziehungswissenschaft zwischen literarischem und journalistischem Jargon, Hamburg: Dr. Kovac, S. 71-89. Erning, Günther (1976) (Hg.): Quellen zur Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung, Kastellaun/Saarbrücken: Aloys Henn Verlag/Universitäts- und Schulbuchverlag. — (1987): Bilder aus dem Kindergarten. Bilddokumente zur geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland, Solingen: Lambertus-Verlag. Fröbel, Friedrich (1912): »Brief an Louise Lewin (1848)«, in: Kurt Schröcke: Louise Fröbel – Fröbels zweite Gattin, Blankenburg: Verlag des Fröbelhauses, S. 32-35. — (1976a): »Nachricht und Rechenschaft von dem deutschen Kindergarten (1834)«, in: Erning, Quellen zur Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung, S. 9597. — (1976b): »Die Bildung der Kinder vor dem schulfähigen Alter und die Ausführung einer Bildungsanstalt zu Erziehern und Pflegern in dem angegebenen Alter, besonders die Bildung zu Lehrern an Kleinkinderschulen betreffend (1839)«, in: Erning, Quellen zur Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung, S. 88-92. — (1982): »Die Kindergärten als um- und erfassende Pflege- und Erziehungsanstalten der Kindheit«, in: Ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 4, herausgegeben von Erika Hoffmann, Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. Heiland, Helmut (1982): Friedrich Fröbel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek: Rowohlt Verlag. Honig, Michael-Sebastian (2013): »Frühpädagogik als institutionelle Praxis. Auf dem Weg zu einer Theorie der Pädagogik der frühen Kindheit«, in: Hans-Rüdiger Müller/Sabine Bohne/Werner Thole (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Grenzgänge. Markierungen und Vermessungen. Beiträge zum 23. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 181-195.

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Honig, Michael-Sebastian/Joos, Magdalena/Schreiber, Norbert (2004): Was ist ein guter Kindergarten. Theoretische und empirische Analysen zum Qualitätsbegriff in der Pädagogik, Weinheim/München: Juventa Verlag. Jäger, Marianna (2008): »Alltagskultur im Kindergarten. Lebensweltliche Ethnographie aus ethnologischer Perspektive«, in: Bettina Hünersdorf/Christoph Maeder/Burkhard Müller (Hg.): Ethnographie und Erziehungswissenschaft. Methodologische Reflexionen und empirische Annäherungen, Weinheim/ München: Juventa Verlag, S. 141-150. Jung, Petra (2004): »Eigenständigkeit – der Beitrag der Kinder zu einem guten Kindergarten«, in: Honig/Joos/Schreiber, Was ist ein guter Kindergarten, S. 119-156. Masschelein, Jan/Simons, Maarten (2007): »Arme Pädagogik. Über ungetaufte Kinder. Ein kleiner Versuch«, in: Alfred Schäfer (Hg.): Kindliche Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 231-244. Schmidt, Kai (2004): »Das Freispiel und der geordnete Raum. Die Praxis eines Programms«, in: Honig/Joos/Schreiber, Was ist ein guter Kindergarten, S. 157-192. Schulz, Marc (2011): »Die Aufführung des Bedeutsamen. Eine performativitätstheoretische Perspektive auf die institutionelle Herstellung von Bildungsrelevanz«, in: Peter Cloos/Marc Schulz (Hg.): Kindliches Tun beobachten und dokumentieren. Perspektiven auf die Bildungsbegleitung in Kindertageseinrichtungen, Weinheim/Basel: Juventa Verlag, S. 49-64. Siebner, Blanka Sophie (2009): »Das Frankfurter Paradiesgärtlein des oberrheinischen Meisters – Akzente mittelalterlicher Kunst«, in: Dagmar-Beatrice GaedkeEckardt et. al. (Hg.): Raum-Bildung: Perspektiven. Beiträge zur sozialen, ästhetischen und praktischen Aneignung von Räumen, München: kopaed, S. 213-254. Zeiher, Helga (2009): »Ambivalenzen und Widersprüche der Institutionalisierung von Kindheit«, in: Michael-Sebastian Honig (Hg.): Ordnungen der Kindheit. Problemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung, Weinheim/ München: Juventa Verlag, S. 103-126.

Der soziale Raum ›Schule‹ in unterschiedlichen Perspektiven: literarisch und linguistisch R ÜDIGER V OGT

Nicht nur bis zum 20. Jahrhundert war die Schule eine Disziplinaranstalt – das ist sie heute noch – , sie war darüber hinaus in einem sehr viel größeren Zusammenhang auch eine Institution, in der eine Selektion der Schüler vollzogen wurde. Und genau diese Aspekte sollen in den folgenden thematischen Schwerpunkten rekonstruiert werden. Bevor jedoch die Bereiche Literatur und Linguistik thematisiert werden, stehen die theoretischen Grundlagen im Mittelpunkt. Dabei geht es vor allem um die Frage, was für eine gesellschaftliche Institution die Schule ist, wie die rechtlichen Rahmenbedingungen einzuschätzen sind und wie die am Unterricht Beteiligten eingebunden sind in den organisatorischen Rahmen (Teil 1). Im nächsten Schritt folgt dann eine Auseinandersetzung mit literarischen Texten, die nach verschiedenen Texttypen gegliedert sind (Teil 2). Und schließlich folgt ein Abschnitt, in dem eine kurze Unterrichtssequenz gesprächsanalytisch rekonstruiert wird (Teil 3). Am Ende steht dann ein Resümee im Mittelpunkt, in dem die Ergebnisse der Analyse 1 zusammengefasst und differenziert analysiert werden.

T HEORETISCHE G RUNDLAGEN In diesem Teil geht es um die theoretischen Grundlagen der Art und Weise, wie Unterricht – nicht nur in Deutschland – organisatorisch und inhaltlich geprägt ist. Dabei stehen vier Gesichtspunkte im Mittelpunkt der Überlegungen. Zunächst wird gezeigt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Unterricht als ein kommunikatives Ereignis eingeschätzt werden kann. Darauf folgt eine Beschreibung der Institution Schule, die insofern wichtig ist, als hier die Rahmenbedingungen des Schulbesuchs thematisiert werden, wie beispielsweise die allgemeine Schulpflicht oder aber der Status der Lehrer als abhängig Beschäftigte. Im Anschluss daran wird gezeigt, dass es sich bei der Schule auch um eine Disziplinaranlage (vgl. Foucault 1977) handelt oder wie man heute sagen könnte, eine Kontrollanlage (Deleuze 1993). 1

Die historische Perspektive, und zwar insofern vor allem anhand von Bildern deutlich gemacht werden kann, wie sich der Unterricht seit dem 14. Jahrhundert verändert hat, kann im Rahmen dieser Veröffentlichung nicht dargelegt werden.

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Und schließlich steht der Aspekt im Vordergrund, dass Unterricht auch immer ein öffentliches Ereignis darstellt, und zwar insofern als alle am Unterricht Beteiligten sich an den fachspezifischen Themen und der jeweiligen didaktischen Umsetzung orientieren müssen. Unterricht ist in der Tat ein kommunikatives Ereignis, und zwar insofern als die soziale Wirklichkeit des Unterrichtsgeschehens im Wesentlichen durch Kommunikation hergestellt wird. Dass dabei die Lehrperson im Fokus der Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler steht, ist selbstverständlich, denn es ist in der Tat ein zentraler Punkt dieses Arrangements, dass der Lehr-Lernprozess angemessen vor allem kommunikativ entwickelt werden kann. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Art und Weise, wie die Lehrperson die von ihm zu vermittelnden Inhalte den Schülerinnen und Schülern nahebringt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sprache. Die Lehrperson muss vor allem immer laut und deutlich reden, damit sie von allen am Unterricht Beteiligten auch verstanden wird. Aber die Schülerinnen müssen dies ebenfalls tun, wenn sie von ihren Mitschülern sowie der Lehrperson auch verstanden werden. Auf diese Weise ist es möglich, bestimmte Lernprozesse zu organisieren. Dabei ist die Frage nicht unerheblich, ob sich die angesprochenen Personen auch wirklich für die Inhalte interessieren. Auch dies ist eine Frage des Faches: Wegen der vielfältigen unterschiedlichen Inhalte gibt es für die einzelnen Fächer spezifische Arrangements, mit denen es möglich ist, die spezifischen Aspekte interaktiv zu gestalten. So steht beispielsweise im Physik- und Chemieunterricht das Experiment im Mittelpunkt, im Geographieunterricht sind es entsprechende Schulbücher sowie Atlanten, während in den fremdsprachlichen Fächern spezifische Lehrwerke eingesetzt werden. Zu ergänzen wäre noch der Hinweis auf den Sportunterricht, in dem es im Wesentlichen um die spezifischen Formen von Bewegung geht, wie beispielsweise Laufen, Springen, Turnen usw. Dieser Aspekt soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Im Deutschunterricht stehen auch verschiedene Aspekte im Mittelpunkt des Interesses: Grammatik, Orthographie, Lektüre von literarischen Texten sowie Sachtexten – diese Liste ließe sich noch weiter verlängern. Insgesamt lässt sich resümierend festhalten, dass Unterricht dazu dient, den Wissenserwerb als einen kognitiven Prozess zu gestalten und entsprechend angemessene Kommunikationsformen zu praktizieren. Dieser Aspekt lässt noch eine weitere Dimension zu, dass nämlich die jeweiligen sozialen Beziehungen eine große Rolle spielen. Ist die Lehrperson beispielsweise sehr an Eigenaktivitäten der Schülerinnen und Schüler interessiert, dann dürften diese motiviert an der Stunde teilnehmen. Versucht die Lehrperson dagegen, die ausgewählten Inhalte gleichsam dominant zu vermitteln, kann es durchaus sein, dass die Schüler sich nicht besonders engagiert am Unterrichtsprozess beteiligen. Insofern eröffnet die gewählte Perspektive sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten, die auch von den spezifischen Inhalten in den einzelnen Fächern abhängig sind. Kommen wir nun zum zweiten Aspekt: Unterricht ist ein institutionelles Ereignis. Diese begriffliche Kennzeichnung markiert sehr deutlich das Problem, dass die Schülerinnen und Schüler wegen der allgemeinen Schulpflicht gezwungen sind, die jeweiligen Schulen wie Grund-, Haupt- und Realschule sowie Gymnasium zu besuchen: Diese Orientierung wird dokumentiert in Paragraph 7 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Insofern muss auch bei der Analyse berücksichtigt werden, dass es durchaus den Zwang zum Schulbesuch gibt – der zwar mit dem Alter

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von 14 oder 15 Jahren endet, aber nichtsdestotrotz auch für die weiterführenden Schulen bis zur mittleren Reife oder bis zum Abitur gültig ist. Auch für die Lehrpersonen gilt eine bestimmte Einbindung in die Institution Schule: Sie arbeiten dort als abhängig Beschäftigte, beziehen ein bestimmtes, vom Staat festgelegtes Gehalt (zwischen A 11 und A 16) und sind verpflichtet, die ihnen übertragenen Aufgaben wahrzunehmen. Auch die Unterrichtsinhalte in den einzelnen Fächern sind vorgegeben: Der Oberbegriff wäre Lehrplan, allerdings hat sich in den letzten Jahren eine deutliche Differenzierung entwickelt. So heißt es in Baden-Württemberg und in Hamburg beispielweise ›Bildungsplan‹, in Bayern dagegen immer noch ›Lehrplan‹, in Berlin beispielsweise ›Rahmenlehrplan‹ und in Nordrhein-Westfalen ›Kernlehrplan‹, während in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen ›Rahmenrichtlinien‹ vorliegen. Dies macht schon deutlich, wie kompliziert es ist, für diesen Bereich eine einheitliche begriffliche Fixierung zu entwickeln. Eine wichtige Aufgabe der Schule ist – neben Qualifizierung und Integration – die Selektion. Diese wird realisiert in Form der Vergabe von Noten, mit denen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler beurteilt werden. Auf diese Art wird nicht nur über Versetzung oder Nichtversetzung, sondern auch über Schulabschlüsse insgesamt entschieden. Daraus ergeben sich spezifische Bedingungen der Abschlüsse, die wiederum wichtig sind beispielsweise für die Berufsausbildung. Und schließlich ist noch auf die Schulordnungen zu verweisen, die in der Regel festlegen, wo sich die Schüler zu bestimmten Zeitpunkten aufhalten dürfen und welche Aktivitäten sie zu tun oder zu unterlassen haben. Im nächsten Teil geht es um die Frage, wie die Schule als Disziplinaranlage im Sinne Foucaults zu beschreiben ist. Foucault definiert diesen Begriff so, dass ein leistungsfähiger Apparat zur Verfügung steht, der die Normalität menschlichen Handelns herstellt. Dieser Aspekt ist dann von ihm weiterentwickelt worden. Zentral ist dabei der Begriff des Tableaus – damit ist die Anordnung der Schüler im Raum gemeint. Es gibt vier verschiedene Tableautypen, nämlich erstens den ›Block‹, damit ist die lehrerzentrierte Anordnung gemeint, und zweitens die ›Gruppentische‹, eine kleingruppenzentrierte Anordnung. Drittens gibt es das sog. ›Hufeisen‹, in dem die Schülerarbeitsplätze rechtwinklig zueinander angeordnet sind, und zwar so, dass jeder Schüler alle anderen sehen kann. Und viertens der ›Stuhlkreis‹, bei dem die am Unterricht Beteiligten sowie der Lehrer einen Kreis ohne Tische bilden. Dieser Aspekt ist besonders wichtig für die Untersuchung von Unterricht, wobei kritisch anzumerken wäre, dass heutzutage auch immer noch der Block das Handeln der am Unterricht Beteiligten hauptsächlich bestimmt. Zudem hat Foucault auch ein Konzept der Techniken der ›guten Abrichtung‹ entwickelt, also die Frage sehr differenziert bearbeitet, wie Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler durch eine hierarchische Überwachung reglementieren können, und wie sie ihre eigenen Interessen durch normierende Sanktionen durchsetzen können. Es wäre jetzt sicher sinnvoll, diesen Aspekt noch zu vertiefen, aber im Laufe des weiteren Textes werden noch einige Dokumente zu sehen sein, in denen genau dies passiert. Deshalb bleibt es an dieser Stelle bei dieser allgemeinen Festlegung. Schließlich ist Unterricht als ein öffentliches Ereignis einzuschätzen, und zwar deshalb, weil es relativ viele Schülerinnen und Schüler gibt, die die Lehrperson beobachten. Insofern ist ihr Handeln auf die jeweiligen Handelnden fixiert. Diese wechselseitige Wahrnehmung macht es den Beteiligten schwer, die jeweiligen Interessen auch tatsächlich durchzusetzen. Insofern kann Unterricht definiert werden

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als die Präsenz einer Lerngruppe in einem Klassenzimmer; diese konstituiert auf eine bestimmte Weise einen zwangsweise hergestellten öffentlichen Raum. Damit schließt die nächste Frage an, nämlich welche Handlungsmöglichkeiten die Beteiligten haben. Der Lehrer muss den Unterricht so gestalten, dass die Aufmerksamkeit aller Schüler gesichert ist. Dies ist mitunter deshalb schwierig, weil es Themen in verschiedenen Fächern geben kann, mit denen die Schüler nicht unbedingt etwas zu tun haben wollen, zumal wenn der Lehrer relativ dominant seine Lehrziele vertritt. Die Schülerinnen und Schüler haben unter diesen Voraussetzungen nun mehrere Möglichkeiten. Sie können ihre Aufmerksamkeit auf den Unterricht selbst richten, indem sie beispielsweise sich melden und – wenn sie aufgerufen werden – den Unterricht aktiv mitgestalten, sie können aber auch Zwischenrufe tätigen, die ernst oder ironisch sein können, oder aber Partnergespräche führen. Sie können ihre Aufmerksamkeit auch auf etwas anderes richten, indem sie beispielsweise mit ihrem Nebensitzer reden, sie können aber auch ›abschalten‹, sich also aus dem Diskussionszusammenhang herausnehmen, und sie können schließlich mit den Nachbarn Nebendiskurse führen, also Themen ansprechen, die den Unterricht nicht betreffen. Schließlich muss noch die kommunikative Ordnung beachtet werden, die je nach Stundenzielen auch variieren kann (Plenum, Gruppen- und Einzelarbeit), wobei vor allem im Plenum die Form der Interaktion als öffentlich zu charakterisieren ist. Und schließlich gibt es eine thematische Ordnung, die jedoch nach den verschiedenen Fächern im Unterricht variiert – vor allem in Teil 3 werden hier wesentliche Aspekte thematisiert. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Grundlagen der unterrichtlichen Kommunikation relativ differenziert sind: Dies liegt vor allem daran, dass die Lehrpersonen im Wesentlichen den Unterrichtsverlauf bestimmen, und dass die Schülerinnen und Schüler sich diesen vorgegebenen Konzepten fügen müssen – wenngleich es da auch Ausnahmen geben kann. Dennoch muss festgestellt werden, dass die Strukturierung des Unterrichts immer auch der Lehrperson überlassen bleibt. Wir werden aber in den folgenden Teilen dieses Beitrags feststellen, dass es durchaus unterschiedliche Perspektiven auf die Gestaltung von Unterricht geben kann, und dass diese bei der Betrachtung mitberücksichtigt werden müssen. Vor allem bei der Untersuchung historischer Bilder zeigt sich, welches negative Potenzial z.T. im Unterricht der frühen Neuzeit oder des 19. Jahrhunderts steckt. Und auch bei den Geschichten über Schule zeigen sich ganz spezifische Formen der Beschreibung von Unterricht.

U NTERRICHT

LITERARISCH



IN

T EXTEN

In diesem Abschnitt wird es darum gehen, wie Unterricht in literarischen Texten gestaltet wird. Bevor die jeweiligen Analysen in literarischer Perspektive durchgeführt werden, müssen noch einige grundsätzliche Fragen geklärt werden. So steht zunächst die Frage im Mittelpunkt, zu welchem Zweck bestimmte Texte geschrieben werden. Es gibt seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Modell, in dem eine satirische Betrachtung des Unterrichts im Mittelpunkt steht. Begründer dieses Ansatzes ist der Autor Ernst Eckstein (1845-1900) aus Gießen, der verschiedene Texte zur Inter-

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aktion zwischen Schülern und Lehrern im 19. Jahrhundert verfasst hat. Später kommen dann Autoren wie Heinrich Spoerl (1887-1955) hinzu, der den bekannten Roman Die Feuerzangenbowle geschrieben hat, oder Alexander Wolf (ein Pseudonym), der das Buch Zur Hölle mit den Paukern 1963 im Pardon-Verlag veröffentlichte. Für dieses Kapitel werde ich mich auf eine Geschichte von Ernst Eckstein mit dem Titel Der Besuch im Karzer beziehen. Es folgt die Auseinandersetzung mit einigen Gedichten zur Frage, wie in diesen die Schule vermittelt wird. Und abschließend wird anhand von fünf ausgewählten kurzen Texten die historische Auseinandersetzung mit diesem Thema von der Klassik bis heute behandelt. Zunächst also die Geschichte Der Besuch im Karzer von Ernst Eckstein. In dieser Geschichte geht der Direktor des städtischen Gymnasiums, Herr Dr. Samuel Heinzerling, gegen zwei Uhr mittags in die Schule. Zunächst trifft er den Hausmeister Quaddler, den er nach einem Schüler namens Rumpf fragt: »Noch eins. Der Prämaner Rompf fehlt seit einigen Tagen, Verfögen Sa säch doch einmal in seine Wohnung und öberzeugen Sä säch, ob er wär´klich krank ist! Ich zweifle fast ...« Der Hausmeister antwortet ihm: »Entschuldigen Sie, Herr Direktor, der Rumpf ist wieder da; ich sah ihn vorhin über den Hof kommen.« Herr Heinzerling antwortet ihm mit »Non, om so bässer.« An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, wie der Direktor in der gegebenen Situation verbal agiert, nämlich mit einer spezifischen Form der vokalischen Intonation, die vom normalen Standard abweicht. Danach geht er an der Klasse vorbei, in der der Schüler Rumpf gerade dabei ist, seine Sprechweise nachzuahmen. Er hört sich dies noch ein paar Minuten an und öffnet dann die Tür. Er sieht den Schüler Rumpf vorne stehen und verdonnert ihn zu einem zweitägigen Karzeraufenthalt. Dieser versucht sich dagegen zu wehren, dies ist allerdings zwecklos. Der Hausmeister führt dann den Schüler Rumpf in den Karzer und spricht mit ihm – und anschließend schließt er ihn ein. Inzwischen ist Dr. Heinzerling wieder in seinem ›Direktorialzimmer‹. Dort stellt er Überlegungen an, wie er seinen begabten Schüler behandelt hat – nämlich schlecht. Er klingelt und die Tochter des Hausmeisters kommt zur Tür herein. Es geht um die Schlüssel zu dem Gebäude – und sie stecken. Herr Dr. Heinzerling geht nun in den Karzer, um noch einmal mit Wilhelm Rumpf zu sprechen. Im Verlaufe des Gesprächs entschließt sich Rumpf dazu, den Vorschlag des Schulleiters, sich an seine Stelle zu versetzen, aufzugreifen. Er steht auf und verlässt den Raum – und schließt anschließend den Direktor ein. Dann geht er durchs Schulgebäude und sieht Quaddler, wie er malt. Er fordert ihn auf, doch den Schüler »Rompf« zu beobachten – und zwar in dem Sprachduktus des Direktors. Der Pedell Quaddler geht also in den Karzer, wo ihm der nun einsitzende Schulleiter versucht deutlich zu machen, dass er falsch im Karzer sitzt. Der Pedell ist aber weiterhin davon überzeugt, dass es der Schüler Rumpf ist, der einsitzt, und deswegen verlässt er den Karzer. Der Schulleiter ist nun völlig erregt und macht sich Sorgen. Dann kommt der Schüler wieder und kündigt an, ihn retten zu wollen. Der Direktor Heinzerling gibt dann nach und verspricht, dass er ihm die Karzerstrafe erlassen werde. Nach einem längeren Aushandlungsprozess öffnet dann der Schüler die Karzertür, um den Direktor zu befreien. Dann gehen sie zusammen durch die Schule, entschuldigen sich beim Pedell und der Direktor bringt den Schüler in das Klassenzimmer zurück. Die Geschichte endet mit dem Satz des Direktors: »Rompf, äch erwarte daß Sä das Gelöbnis der Bässerung in jäder Hänsächt erföllen. Adieu

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Herr Kollege.« Der Schüler Rumpf hielt sein Versprechen und ahmte nur noch andere Lehrer nach. Im Abschluss wurde der Direktor in den Ruhestand versetzt. In dieser Geschichte wird ein satirisches Bild von der Schule im 19. Jahrhundert entwickelt, das durchaus geeignet ist, um die Rahmenbedingungen des Unterrichts zu rekonstruieren. So war es früher durchaus üblich, dass es in der Schule Räumlichkeiten gab, in denen die Schüler dann gezwungen wurden, ihre jeweiligen nichtgemachten Hausaufgaben zu schreiben oder aber aufgrund von Störungen des Unterrichts gewisse Extraaufgaben zu erledigen. Der Karzer spielt auch in anderen Büchern eine wichtige Rolle – wie beispielsweise in der Feuerzangenbowle. Die Geschichte selbst ist von Eckstein in einer Weise verfasst, die den humoristischen Aspekt in den Mittelpunkt stellt, indem er beispielsweise die Gespräche zwischen den Personen sehr genau ausführt, diese auch entsprechend lang sind und immer auch dialektal geprägt. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, ein ironisches Bild von der Schule im ausgehenden 19. Jahrhundert zu entwickeln, das sehr pointiert die Beziehungen zwischen Direktor und Schüler thematisiert, allerdings in einer eher ironischen Perspektive. Insgesamt vier Gedichte werden jetzt im nächsten Abschnitt behandelt – es hätten auch mehr sein können, aber es ging vor allem darum, die ausgewählten vier Texte einzubringen und interpretativ zu bearbeiten. Es handelt sich um die folgenden vier Texte: »Der Schuljunge« von William Blake, »Der Schüler« von Christian Morgenstern, »Der letzte Schultag« von Carl Zuckmayer sowie »Der gütige Lehrer« von Theodor Kramer. Diese vier Texte werden nun im Folgenden analysiert. Nun zum ersten Gedicht: Es handelt sich um ein englisches Gedicht von William Blake (1757-1827) mit dem Titel »Der Schuljunge« (Härtling/Haacker 1998: 36). William Blake Der Schuljunge Ich hab den Sommermorgen gern, wenn überall Vogelsang klingt, der Jäger stößt in sein Hifthorn fern und die Lerche mit mir singt. O welch frohe Gesellschaft mir winkt. Doch am Sommermorgen zur Schule gehen, das macht gewiß keinen Spaß; unter scheelen Augen, die alles erspähn, sitzen im finstern Gelaß und seufzen ohn Unterlaß. Dann bin ich manchmal ganz verzagt, und die Stunden werden mir lang, das dumme Buch mir gar nicht behagt, ich sitze nicht recht in der Bank, und das trockene Zeug macht mich krank.

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Der Vogel, der in den Lüften schwirrt, wird er im Käfig singen? Und soll ein Kind, von Angst verwirrt, nicht hängen lassen die Schwingen, anstatt im Frühling zu springen? O Vater und Mutter, wenn Knospen man bricht und die Blüten der Sturm verheert, wenn zarten Pflanzen man das Licht und die Frühlingsfreude verwehrt und das Herz mit Kummer beschwert, Woher soll der Sommer dann nehmen Kraft, wie können Früchte entstehn, wie sollen wir ernten, was Kummer entrafft, wie festlich das Jahr begehn, wenn Winterstürme wehn?

Dieses Gedicht thematisiert in angemessener Weise die Probleme, die vor allem im 19. Jahrhundert den Unterricht bestimmt haben: Wie kann ich die ›Disziplinaranstalt‹ unterlaufen? Vor allem im Sommer, wenn die Sonne scheint, erscheint es sinnvoller, bestimmte andere Dinge zu tun als in die Schule zu gehen, also beispielsweise den Vögeln zu lauschen, das Horn des Jägers zu hören oder aber die Lerche. Das verspricht eine »frohe Gesellschaft«. Dagegen erscheint die Schule bzw. der Unterricht in einer eher negativen Perspektive. Dort erspähen »scheele Augen« des Lehrers alles, was die Schüler machen, und in finsteren Räumen zu sitzen führt dazu, »ohne Unterlaß zu seufzen«. Der Schüler ist dann ganz verzagt, die Zeit wird lang und es behagt ihm gar nicht, wie er der Disziplinaranstalt Schule ausgeliefert ist: Es gibt ein »dummes Buch«, eine harte Bank sowie einen relativ trockenen Inhalt. In den nächsten drei Abschnitten wird ein Gegenbild entworfen, gleichsam eine positive Perspektive. Zunächst die Frage, ob der Vogel auch im Käfig singen wird – wahrscheinlich eher nicht. Oder das Kind, das statt im Frühling zu springen, die Schwingen hängen lassen wird. Dann wird Bezug genommen auf die Eltern, die gefragt werden, was denn im Frühling alles passieren wird, wenn man zarten Pflanzen das Licht nimmt oder das Herz mit Kummer beschwert. Schließlich wird die Frage gestellt, woher denn der Sommer die Kraft nehmen soll, wie Früchte entstehen, wie diese geerntet werden können und wie kann man im Winter festlich das Jahr begehn, wenn doch die Winterstürme wehen? Hier ist dem Autor ein Gedicht gelungen, in dem der Frust des Schülers sehr deutlich herausgearbeitet wurde, indem die Grenzen der Disziplinaranstalt Schule deutlich gemacht werden – aus einer Schülerperspektive. Der vom Autor William Blake beschriebene Schüler entwickelt ein kontrastreiches Modell des Lebens: hier die Schule mit ihren eher erzwungenen Normen, und auf der anderen Seite das Leben in den Jahreszeiten, wo vor allem der Frühling im Mittelpunkt steht – aber auch der Sommer wird angemessen beachtet. Dem Autor gelingt eine sehr treffende Charakterisierung des Gegensatzes zwischen dem wirklichen Leben und den schulischen Zwängen – allerdings in England.

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Nun zum zweiten Gedicht. Es stammt von Christian Morgenstern (1872-1941) und trägt den Titel »Der Schüler« (Härtling/Haacker 1998: 87). Hier zunächst der Text: Christian Morgenstern Der Schüler Ein Schüler in Paris, gestorben und zur Hölle verdammt, sich eines Abends wies vor seinem Lehrer, der noch im Amt. Ein Hemd war sein Gewand, das war mit lauter Sophismen bestickt. Und nachdem er den Unglücksmann angeblickt … verneigte er sich und verschwand.

Eine absurde Szene: Ein toter Schüler, der zur Hölle verdammt ist, traut sich noch einmal, seinem Lehrer gleichsam aufzulauern und ihn anzusehen. Eines Abends tauchte er vor seinem Lehrer auf, in einem Hemd, das mit »lauter Sophismen« bestickt war, zeigte sich vor ihm und schaute ihn an, um danach sich zu verneigen und endgültig zu verschwinden. Eine durch und durch ironische Konstruktion stellt dieses Gedicht dar, da es fraglich ist, ob ein toter Schüler noch wird lebendig auftreten können. Aber das ist auch die Freiheit von literarischen Texten dieser Gattung, dass sie unterschiedliche Dimensionen beinhalten und deshalb auch eine andere, gleichsam metaphysische Perspektive entwickeln können. Zu fragen ist auch, wieso es dem Schüler gereicht hat, in seinem mit Sophismen bestickten Gewand den Lehrer, nämlich den Unglücksmann, anzublicken, um anschließend zu verschwinden. Dies könnte auch daran liegen, dass der andere möglicherweise überrascht gewesen sein könnte, seinen ehemaligen Schüler wiederzusehen, von dem er wusste, dass er tot war. Und schließlich verschwand der Schüler, allerdings ohne irgendwelche Äußerungen getätigt zu haben. Es handelt sich um ein interessantes Gedicht, das geeignet ist, mehrere Dimensionen der Interpretationen zu bestimmen – zumal nicht gesagt wird, wie und warum der Schüler gestorben war. Im nächsten Schritt wird das Gedicht von Carl Zuckmayer (1896-1977) mit dem Titel »Der letzte Schultag« untersucht (Härtling/Haacker 1998: 179). Carl Zuckmayer Der letzte Schultag Geehrter Redakteur, Sie möchten wissen, Ob ich an meinem letzten Schultag was empfand, Und wenn, dann wie, und wo, in Versgewand, Nicht mehr als zwanzig Zeilen, scharf umrissen. Als aber Zuck vor seinem Rektor stand, Zum letzten Mal, da war ihm recht beschissen Zu Mut, – zwar schlug ihm kein Gewissen, Doch wußt er nur zu gut: Hinausgeschmissen Bedeutet Lehrlingszeit im Bankhaus Hahnesand.

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Nun aber brach in diesem Augenblick Der Weltkrieg aus mit Militärmusik, Und über Nacht ward aus dem Lausejungen Ein junger Held, mit Eichenlaub umschlungen. Das Notmaturum bietet keine Schrecken, Und als Student kann man getrost verrecken. Der letzte Schultag geht im Nu vorbei, Man ist Soldat, und (richt Euch!!) – endlich frei!

In diesem Text geht es um die Frage, wie kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs der letzte Schultag ausgesehen hat. Der Autor wendet sich an einen Redakteur, der ihn offenbar gebeten hat, etwas über den letzten Schultag zu schreiben. Der Autor hat sich für die Form des Gedichts entschieden, dies begründet er auch nachvollziehbar – außer der Tatsache, dass er nicht 20 Zeilen, sondern nur 17 geschrieben hat. Der Sachverhalt wird so entwickelt, dass Herr Zuck am Abschluss seiner Schulzeit zum letzten Mal vor seinem Rektor stand und es ihm schlecht ging, weil er nicht wusste, was der Rektor von ihm wollte. Er befürchtete nur, dass, wenn er hinausgeschmissen würde, er eine Lehrlingszeit in einem Bankhaus verbringen müsste. Allerdings brach genau in diesem Augenblick der Erste Weltkrieg aus, es wurde Militärmusik gespielt, was zur Folge hatte, dass Zuck zu einem jungen Helden wurde – »mit Eichenlaub umschlungen«. Die Schlussfolgerung aus all dem besagt, dass das Notmaturum keinen Schrecken bietet, und dass man als Student auch getrost verrecken kann. Ganz schnell geht der letzte Schultag vorbei – und der angesprochene Schüler ist endlich frei. Wenn man diese inhaltlichen Aspekte ernst nehmen will, muss man allerdings berücksichtigen, dass dieses Gedicht im Jahr 1914 entstanden ist – und zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, welche verheerenden Folgen der Erste Weltkrieg für das deutsche Kaiserreich haben würde. Von daher wird deutlich, welche positiven Seiten die Zugehörigkeit zur Armee aufweisen könnte und wie sich dies auf die anderen Perspektiven der Beteiligten auswirkt. Insgesamt erscheint in dieser Sichtweise die Schulzeit als anstrengend und der betroffene Schüler Zuck entscheidet sich für die Tätigkeit als Soldat im Ersten Weltkrieg – dies hilft ihm über andere Sachen hinweg, wie die negative Aussicht auf eine Tätigkeit in einem Bankhaus. Und mit dem Einzug in die deutsche Armee ist seine Freiheit endlich gesichert. Abschließend noch ein viertes Gedicht. Es stammt von Theodor Kramer (18971958) und hat den Titel »Der gütige Lehrer« (Härtling/Haacker 1998: 181).

220 | R ÜDIGER V OGT Theodor Kramer Der gütige Lehrer Wenn ich ein Lehrer, wie ich sein sollte, wär, so nähm ich meine Schüler her und sagte ihnen: ich bin auch für jeden von euch stets da, will einer mit mir reden, – ich tu's und finde meinen Trost darin, weil ich nichts andres hab und kränklich bin. Würd meine Klasse dann mich nicht verachten, gereinigt fühlt ich mich in meinen Trachten und leichter würd ich abends schlafen gehen; doch das, ich weiß es wohl, wird nie geschehn.

In diesem Gedicht werden aus der Perspektive eines Lehrers die Eigenschaften eines guten Unterrichts beschrieben: Der Lehrer eröffnet seinen Schülern die Möglichkeit, mit ihm ins Gespräch zu kommen, wahrscheinlich auch, um die jeweiligen Probleme der einzelnen Schüler zu erfahren. Dem Lehrer würde dies guttun, er könnte ihnen dann weiterhelfen. Allerdings gibt es auch das Problem, dass er auch kränklich ist. Dennoch ist es ihm möglich, in solchen Gesprächen auch einen Trost zu finden. Und wenn die Klasse ihn deshalb dann nicht verachten würde, dann wäre er in seinen Maßnahmen und Strategien bestätigt, was dazu führen würde, dass er abends leichter schlafen gehen könnte. Und in der letzten Zeile macht er deutlich, dass es sich hier um ein utopisches Konzept handelt, indem er darauf verweist, dass dies in der von ihm beschriebenen Form nie geschehen würde. In diesem Text wird das Problem des Lehrers thematisiert, der einerseits ein eigenes Konzept hat, dies aber nicht wird umsetzen können, weil in der Schule andere grundsätzliche Rahmenbedingungen herrschen – nämlich ein am jeweiligen Lehrplan orientiertes Konzept, das jedoch auch gewisse Probleme bereitet, so dass man eine so offene Haltung Schülern gegenüber nicht wird durchsetzen können. Die Beispiele haben gezeigt, dass die Perspektivierung von individuellen Handlungsräumen in der Schule sehr unterschiedlich sein kann. Bei Christian Morgenstern ist es der tote Schüler, der seinem Lehrer auflauert, bei William Blake der Schuljunge, der mit seiner Schule und den dort gebotenen Rahmenbedingungen nicht einverstanden ist, bei Carl Zuckmayer ein Schüler, der sich schon darauf freut, in den Ersten Weltkrieg zu ziehen und so die Lasten der Schule beiseitezuschieben, um so ein freies Leben führen zu können. Und bei Theodor Kramer stehen die Probleme eines gütigen Lehrers im Mittelpunkt des Interesses. Vier Gedichte, vier verschiedene Perspektiven auf den Unterricht: So zeigt sich, dass auch in der Literatur die unterschiedlichen Konzepte von Unterricht ein wichtiges Kriterium für die Ausdifferenzierung darstellen. Auf diese Weise wird ein reflektierter Zugang zur Unterrichtspraxis ermöglicht, der aber tendenziell fiktional bleibt. Abschließend wird noch auf fünf Geschichten einzugehen sein, in denen in unterschiedlicher Weise das Handeln in der Schule entwickelt wird. Die ersten beiden kurzen Texte stammen von Christian Daniel Friedrich Schubart (1731-1791), in denen er zwei Varianten beschreibt, nämlich zum einen eine »Nachricht« und zum anderen ein »Schuldiktat« (Härtling/Haacker 1998: 27f.). In der »Nachricht« wird

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nach einem Magister gesucht, der Schulmann in einem nicht benannten Ort werden möchte. Vor allem sollte er über die Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch verfügen, möglichst auch noch Französisch und Italienisch. Dann fünf Fächer aufgelistet, die er »meisterhaft« beherrschen sollte. Die Arbeitszeit beträgt 12 Stunden täglich, er könnte aber auch noch Privatstunden geben. Zudem sollte er Orgel spielen können und dem Geistlichen beim »Predigen und Katechisieren« assistieren. Dann werden die Höhe der Bezahlung genannt sowie der Ort, an dem er wohnen wird. Sein sozialer Rang wird als gleich nach dem »Burgerstädtmeister« eingestuft. Zudem sollte er ledig sein und entsprechend mit der Witwe seines Vorgängers umgehen. Im anschließend dokumentierten Text »Schuldiktat« ist von einem Tier mit dem Namen »Plimp-Plamp« in Afrika die Rede, das den ganzen Tag arbeitet, sich von den anderen Tieren ins Gesicht pissen lässt, immer hungrig ist und den ganzen Tag arbeiten muss. Die anderen Tiere halten es für das schlechteste. Und es gibt nur einen guten Tag im Leben dieses Tieres, nämlich den, wenn es sterben muss. Und zum Schluss erfährt der Leser, dass es sich um einen verwandelten Schulmeister handelt, eben die »Moral zu dieser Fabel«. Beide Texte sind sehr interessant, vor allem der zweite eröffnet eine bösartige Perspektive auf die Schule, während der erste sehr ausführlich die Aufgaben eines Schulmeisters in einer lateinisch orientierten Klasse beschreibt – eben der Standard des 18. Jahrhunderts. In der folgenden Geschichte von Gotthelf Wilhelm Christian Starke (1762-1830) geht es um die »Mittagsbetrachtungen eines alten Dorfschulmeisters« (Härtling/Haacker 1998: 37-39). Er sitzt zu Hause am Mittagstisch und macht sich Gedanken über die Schule, die insgesamt sehr kritisch von ihm wahrgenommen wird. Er markiert sehr schön die Dilemmata des Lehrens. So sei gerade er von einem »Kirchenrath« besucht worden, der seinen Unterricht kritisch beobachtet hätte und für den eine positive Entwicklung im Vordergrund stehe. Zudem beschwert er sich über Herren, die den Lehrern immer Befehle erteilen müssten, obwohl sie von der Praxis in der Schule nur wenig Ahnung hätten. Dann geht er auf die Klasse ein, die er unterrichtet, und das nicht nur in einzelnen Fächern, sondern in allen. Aktuell stehen die Planeten im All auf der Tagesordnung: Da hat er einen Fehler gemacht, weil er behauptet hat, der Planet Mars sei vor dem Merkur. Dies sei falsch und deswegen müsste man dieses Problem in gemeinsamer Auseinandersetzung beheben. Dazu entwickelt er dann mehrere Varianten, wie dies gelingen könnte. Dann berichtet er von einem Schüler, dem es gelungen sei, am ersten Schultag acht Buchstaben zu lernen. Das überträgt er dann auf andere Taten, die von anderen getan werden. Allerdings möchte er still seinen Weg gehen, möchte allerdings mehr verdienen, weil er doch arm sei – bis schließlich seine Frau ihm das Essen bringt. In dieser Geschichte wird deutlich, wie schwierig die Tätigkeit eines Dorfschulmeisters zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewesen sein muss: Es gibt viele Probleme, die gelöst werden müssen – und es erscheint für ihn relativ anstrengend, dies auch umsetzen zu können. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass zu dieser Zeit die Verhältnisse durchaus komplizierter waren als sie es heute sind. Immerhin erweist sich dieser ältere Lehrer in seinen Überlegungen als reflektiert, seine Ausführungen sind durchaus nachvollziehbar und reflektieren die schwierigen Verhältnisse. In der folgenden Geschichte von Stefan Zweig (1881-1942) mit dem Titel »Ein Verbummelter« (Härtling/Haacker 1998: 102-107) geht es um einen Schüler mit dem

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Namen Liebmann, der zu spät in den Unterricht kommt. Dieser Schüler sitzt noch mit 21 Jahren in der Schule, er ist zuvor zweimal sitzengeblieben und der Lehrer, der ihn in Mathematik unterrichtet, hat ihn im Visier. Aber zunächst denkt er an vergangene Zeiten, wie sich die ganze Sache in der Schule entwickelt hat, wie er unter den autoritären Lehrern gelitten hat – vor allem unter seinem Mathematiklehrer. Dieser fordert ihn im Anschluss auf, die Dinge zu wiederholen, die er vorher eingebracht hatte. Der Schüler antwortet nicht, was dazu führt, dass der Professor zu ihm sagt: »Sie wissen also nichts und haben vorhin gelogen.« In der Reaktion darauf verweist er den Professor darauf, dass er es wiederholen kann, es ihn aber nicht interessiert, weil es »eine haltlose Schwätzerei war«. Daraufhin bezeichnet der Professor ihn als »Frechling«, woraufhin Liebmann antwortet: »Selber Frechling!«. Dann sind alle erregt, Liebmann stößt den Lehrer und verschwindet aus der Klasse. Im Anschluss daran geht er durch die Gegend, kommt schließlich zu einer Brücke, bleibt dort kurz stehen – und steigt dann über das Geländer und springt in den Fluss. In dieser Geschichte wird eine Situation dargestellt, in der ein Schüler unter den Folgen mehrerer Misserfolge im Unterricht zu leiden hat: In längeren Reflexionen wird dieser Hintergrund rekonstruiert. Und an einem bestimmten Punkt entscheidet sich der Schüler, den Konflikt mit dem Lehrer offensiv auszutragen, indem er ihm widerspricht. Aus dieser Situation ergibt sich eine Zuspitzung, die dann in einer Tätlichkeit endet. Der Schüler verlässt den Klassenraum, um sich eine Stunde später selbst umzubringen. Der Text ist nachvollziehbar geschrieben, seine Inhalte sind sprachlich elaboriert formuliert und es gibt einen gut nachvollziehbaren Handlungsverlauf. Insgesamt thematisiert die Geschichte angemessen einen länger währenden Konflikt zwischen einem Lehrer und einem Schüler – allerdings mit einem unglücklichen Ende. In dem Text von Lion Feuchtwanger (1884-1958) mit dem Titel »Was bedeutet uns Heutigen Hermann der Deutsche« (Härtling/Haacker 1998: 127-136) geht es um die Praktiken eines neuen Schulleiters an einer Schule in Berlin – wahrscheinlich zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Der vorherige Schulleiter war gerade gestorben, allerdings ist noch ein französischstämmiger Herr mit dem Namen Francois tätig. Der Nachfolger des verstorbenen Schulleiters trägt den Namen Dr. Vogelsang, er ist eindeutig als konservativ und nationalistisch ausgewiesen. Dies wird auch in einem Eingangsgespräch mit dem noch amtierenden Schulleiter deutlich. Dann gehen die beiden in eine Klasse, in der über das Theaterstück Die Hermannsschlacht von Grabbe gesprochen wird. Dr. Vogelsang trägt in der Klasse ein Gedicht von Grabbe vor mit dem Titel »Germania an ihre Kinder«. Dann ist die Stunde beendet, Dr. Vogelsang ist stolz auf sich, dass er die Stunde erfolgreich gehalten hat. Dann nimmt er Kontakt mit zwei Schülern auf, die demnächst Referate halten sollen. Der eine schlägt ein Referat zum Thema ›Die Nibelungen‹ vor, während der andere, nämlich Berthold, etwas über den ›Humanismus und das zwanzigste Jahrhundert‹ machen will. Damit ist aber der Lehrer nicht einverstanden, er schlägt ihm stattdessen das Thema ›Was bedeutet uns Heutigen Hermann der Deutsche?‹ vor. Nach längeren Überlegungen akzeptiert er diese Umstellung. Auf dem Weg nach Hause unterhält er sich mit Heinrich und beschwert sich, dass der neue Direktor ihm seinen Vortrag umgeschmissen habe. Sie reden dann noch kurz über Hermann den Cherusker und trennen sich dann. Dann sitzt Berthold abschließend an seinem Schreibtisch und überlegt, wie er diesen Vortrag gestalten kann. In diesem Text werden die

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Verhältnisse zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts angemessen beschrieben, vor allem auch deshalb, um deutlich zu machen, in welcher Zwickmühle die Beteiligten stecken. Den Schülern der Klasse war es beispielsweise zuvor gelungen, einem Lehrer mit nationalistischer Ausrichtung das Leben schwer zu machen, indem sie in seinem Unterricht immer summten. Von daher ist auch diese Geschichte ein interessantes Dokument über die Vorgeschichte des Dritten Reichs, zumal Lion Feuchtwanger in dieser Zeit wichtige Romane verfasst hat, wie z.B. Die Geschwister Oppenheimer. In der Geschichte von Karl Kusenberg (1904-1983) mit dem Titel »Eine Schulstunde« (Härtling/Haacker 1998: 205-209) wird ein Bär in eine Schulklasse geführt – zentrales Thema im Bereich des Biologieunterrichts. Der Bär legt sich hin und blinzelt die Klasse listig an. Der Lehrer eröffnet nun den Unterricht, indem er den Schüler Artur fragt, was er denn über Bären wüsste. Artur antwortet ihm, es gebe vielerlei Bären, nämlich Himbeeren, Blaubeeren und weitere. Daraufhin reagiert der Lehrer empört und weist den Schüler zurecht, er möchte die Abschweifung in die Botanik verhindern – und Artur wird auch nicht bestraft. Stattdessen ruft er nun Paul auf, indem er ihn fragt, wie sich denn Bären von anderen Tieren unterscheiden. Paul antwortet darauf, dass der Bär essbar sei. Die Schüler lachen, auch der Lehrer ist erheitert und antwortet ihm, dass auch er essbar sei. Auch die nächsten Schüler beantworten seine Aufforderungen eher spielerisch, dann ruft er den Schüler Kurt auf, der antwortet, dass der Bär »Bärenkräfte« habe. Der Lehrer lobt die Antwort, woraufhin der Bär mit einem einzigen Tatzenhieb das neben ihm stehende Stühlchen zerschlägt. So geht es weiter, bis ein Schüler sagt: »Der Bär ist ein Leckermaul. Am liebsten frißt er Honig.« Artur sagt daraufhin: »Aber nicht meinen!« Der Bär erhebt sich im Anschluss und steigt über einen Waschtisch hoch, so dass er an den Honig kommt und ihn isst. Große Aufregung in der Klasse, dann öffnet sich die Tür und der Schulleiter betritt den Raum. »Was geht hier vor?« fragt er, woraufhin der Lehrer ihm ausführlich erläutert, was bislang passiert ist. Der Schulleiter lobt ihn dafür, und im Anschluss wird der Bär vom Schrank gelockt und an einer Kette herausgeführt. In diesem Text wird eine Biologiestunde beschrieben, in deren Verlauf das mitgebrachte Tier bestimmte Sachen macht – sich hinlegen, dann den Honig auf dem Schrank verspeisen – und dies auch angemessen realisiert. Der Lehrer agiert ebenfalls sehr interessant, indem er beispielsweise versucht, die Schüler aktiv miteinzubeziehen, was ihm nicht immer gelingt – wie oben schon gezeigt, da die Schüler sich an anderen Aspekten orientieren und ihn möglicherweise auch ärgern wollen. Die Geschichte selbst lässt sich als Erzählung mit einer ironischen Orientierung lesen, insofern die jeweiligen Handlungen der Beteiligten relativ klar bestimmt werden. Kommen wir nun zu einem abschließenden Resümee. Bei den literarischen Texten steht die Entwicklung einer gewissen Handlung im Mittelpunkt. Allerdings zeigt sich auch, dass die frühen Texte noch ganz andere Perspektiven aufweisen als die späteren. So zeigt sich beispielsweise bei den beiden Kurztexten von Schubart, dass es ihm vor allem darum ging, die Schwierigkeiten des Lehrerberufs herauszuarbeiten. In einer anderen Sichtweise hat das auch Starke getan, indem er aus der Perspektive eines Lehrers die damaligen Probleme dargestellt hat. Ganz anders dagegen der Beitrag von Stefan Zweig, dem es gelungen ist, ein individuelles Schulproblem in den Mittelpunkt zu stellen, indem er die Geschichte des von ihm beschriebenen Schülers berücksichtigt und ihn – nach einer relativ deutlichen Disziplinierung durch

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den Mathematiklehrer – aus der Schule führt, mit dem Ergebnis, dass er am Ende der Geschichte ins Wasser springt, also einen Selbstmord verübt. Bei Lion Feuchtwanger dagegen wird das negative Potenzial von völkisch orientierten Lehrern dargestellt, hier in Person des Dr. Vogelsang, der einem Schüler das von ihm gewählte Referatsthema ausredet und ihn dazu zwingt, sich mit Hermann dem Deutschen auseinanderzusetzen, und zwar kurz nach Beginn der Zeit vor knapp 2000 Jahren. Ganz anders schließlich wird im letzten Text von Kurt Kusenberg agiert, in dem die ironische Perspektive überwiegt, und der in die Klasse mitgenommene Bär im Mittelpunkt steht, da er sich schließlich dazu entschließt, den auf dem Schrank stehenden Honig zu essen. Am Ende der Stunde wird er dann wieder aus der Klasse herausgeführt. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass hier in relativ konzentrierter Form verschiedene Aspekte des unterrichtlichen Handelns aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt werden. Insgesamt weist dieses Kapitel die größten Variationen auf, die in Hinblick auf die literarische Darstellung der unterrichtlichen Formen der Interaktion ausdifferenziert werden können. Die abschließend untersuchten Geschichten zeigen, wie sich die Reflexion über die Art und Weise des Unterrichts in den letzten zwei Jahrhunderten verändert hat. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass es sehr unterschiedliche Perspektiven für die literarische Darstellung von Unterricht geben kann – und dass es sinnvoll ist, sie an einzelnen Texten exemplarisch herauszuarbeiten.

U NTERRICHT

LINGUISTISCH



EIN

D OKUMENT

Gegenstand dieses Abschnitts ist eine Unterrichtsstunde in der 7. Klasse eines Gymnasiums, in der es um Sprichwörter und ihre möglichen Bedeutungen gegangen ist. Um die Dimensionen der linguistischen Perspektive auf Unterricht vertiefend zu behandeln, ist es notwendig, zunächst vor allem die Rahmenbedingungen herauszuarbeiten. Sodann werden die einzelnen Schritte der gesamten Stunde dargestellt. Daran schließt sich die Betrachtung einer kurzen Szene an, in der es um die Frage geht, welche die Bedeutung des Sprichworts ›Mein Name ist Hase‹ geht. Dazu wird zunächst das Transkript gezeigt und anschließend in mehreren Schritten rekonstruiert. Es beginnt mit einer Handlungsbeschreibung, im Anschluss folgt ein Blick auf die strukturellen Eigenschaften der Stunde und schließlich werden andere Möglichkeiten der Beschäftigung mit dem Thema diskutiert. Ein abschließendes Resümee eröffnet eine differenzierte Einschätzung der gesamten Stunde. Zunächst stehen die unterrichtlichen Rahmenbedingungen im Zentrum des Interesses. Es handelt sich um eine 7. Klasse in einem Gymnasium, in der die dort agierende Deutschlehrerin das Thema ›Sprichwörter und Redensarten‹ behandelt. Die Schüler sitzen in einem lehrerzentrierten Tableau, das heißt, dass ihre Aufmerksamkeit auf die Aktivitäten der Lehrerin konzentriert ist. Diese Form des Tableaus ist immer noch üblich, vor allem an Gymnasien, aber auch in Realschulen und Hauptschulen. Der nächste zu thematisierende Aspekt ist die Struktur der Stunde. Nach der Begrüßung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrerin erfolgt eine Orientierung auf den thematischen Schwerpunkt. Im Anschluss daran werden zwölf ausgewählte Sprichwörter und Redensarten an die Schüler verteilt. Sie

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erhalten im Anschluss den Arbeitsauftrag, die jeweiligen Bedeutungen in Stillarbeit herauszuarbeiten. Dies erfolgt im nächsten Schritt: In einer längeren Stillarbeitsphase überlegen die Schüler, wie denn die jeweiligen kurzen Sätze interpretiert werden können. Nach Abschluss dieser Phase erfolgt eine Auswertung der jeweiligen Schülernotizen, indem die Ergebnisse auf eine Overheadfolie geschrieben werden. Es folgt eine nochmalige Stillarbeitsphase, die im Anschluss daran auch noch ausgewertet wird. Auch hier werden wieder die Tafel und der Overheadprojektor benutzt. Nach dieser Phase wird die Stunde durch die Lehrerin beendet. Für die weitere Untersuchung steht die Bearbeitung des Sprichworts ›Mein Name ist Hase‹ im Mittelpunkt des Interesses. Mit dieser Deutung beginnt die Auswertungsphase der Stunde nach der ersten Stillarbeitsphase. Im folgenden Transkript ist diese Phase dokumentiert. (1) Transkription Gymnasium Klasse 7 »Mein Name ist Hase« 01 L okay schild nummer 1 02 SS ((murmeln)) 03 L da gibt’s ja mehrere möglichkeiten (5 sec) wer hat sich an das erste rangetraut … kann das irgendjemand erklärn 04 S ((murmeln)) 05 L wie keiner 06 S ((murmeln)) 07 L EIJeiijei also 08 SS ((reden)) 09 L ((richtet OH-Projektor ein – 20 sec)) 10 L ja wer verSUCHTs denn mal, weiß/weiß es denn überhaupt keiner vielleicht ist auch einmal so FREI .. ohne dass ihr es aufgeschrieben habt ja elsbeth 11 El vielleicht die Rollenspiele die man so macht 12 SS ((lachen)) 13 S is ja cool 14 L psssst 15 Sj mein name ist HAse ich kaufe dem mann die ZÄHne und dann eh man einen und fertig 16 L AH:: .. oKAY … nicht gAnz richtig na wenns keiner wEI:ß … benni 17 B vielleicht ist das ja ne idee 18 SS ((murmeln)) 19 L pscht 20 B wenn man irgendwas damit sagen will dann 21 L ja hm dass man sozusagen einfach sagt . em … ja (is so ähnlich 22 S ((murmeln)) 23 L is so ähnlich .. is so ÄHNlich nich ganz hat nicht ganz was mitm Namen zu tun aber

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In einem ersten Schritt soll das hier von der Lehrerin genutzte Handlungsmuster rekonstruiert werden. Mit der Äußerung »okay Schild Nummer eins« versucht sie, die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen. Diese murmeln stattdessen, keiner meldet sich. Danach orientiert sie die Schüler darauf, dass es mehrere Möglichkeiten gebe, dies zu erläutern (3). Aber es meldet sich immer noch kein Schüler, stattdessen murmeln sie. Die Lehrerin fragt noch einmal nach (5), wieder murmeln die Schüler. Sodann kommentiert sie dies mit der Äußerung (7). Die Schüler reden weiter, während dessen die Lehrerin den Overheadprojektor einrichtet. Dies dauert 20 Sekunden. Danach greift sie das Thema wieder auf, indem sie in der folgenden Äußerung noch einmal anschließt: Die Schüler sollen jetzt versuchen, eine angemessene Deutung dieses Sprichworts zu entwickeln (10). Dann meldet sich Elsbeth, die im Anschluss auch aufgerufen wird. Sie hat die Idee, dass es sich vielleicht um »Rollenspiele, die man so macht« handelt (11). Daraufhin lachen einige Schüler, ein anderer kommentiert dies mit einem »is ja cool« (13). Die Lehrerin interveniert mit einem »pssst«, um die Schülerinnen und Schüler zur Ruhe zu bringen. Dann entwickelt ein Schüler die Idee, es handele sich um eine bestimmte Idee, die man tun könne, nämlich die Zähne zu kaufen und dann sei es eben fertig (15). Die Lehrerin kommentiert dies, vermutet im Anschluss daran, dass es vielleicht keiner wissen könne und ruft dann Benni auf, der sich gemeldet hat (16). Dieser schlägt die folgende Lösung vor: Es handle sich um eine Idee, mit der man etwas sagen möchte (17, 20). Allerdings wird er unterbrochen, weil verschiedene Schüler reden und diese von der Lehrerin zur Ruhe aufgefordert werden (18, 19). Die Lehrerin kommentiert dies zunächst positiv, arbeitet dann aber in der letzten Äußerung heraus, dass es zwar ähnlich ist, aber nicht unbedingt etwas mit dem Namen zu tun hat (21, 23). Damit ist diese Sequenz beendet, und sie schreibt auf den Overheadprojektor: »...« Zunächst einige Anmerkungen zum Sprichwort ›Mein Name ist Hase‹. Dieses ist insofern unvollständig, als die Redensart vollständig lautet: ›Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts‹. Dieses stammt von dem Heidelberger Studenten Viktor Hase, der einem Kommilitonen, der einen anderen im Duell erschossen hatte, durch absichtliches Verlieren seines Studentenausweises die Flucht nach Frankreich ermöglichte. Seine Antwort auf die Generalfragen des Universitätsgerichts (1854/55) wurde zunächst in den Universitäten von Studenten benutzt und ging dann im Anschluss in den allgemeinen Sprachgebrauch über (vgl. Röhrich 2001: 671). Kritisch wäre an dieser Stelle anzumerken, dass die Lehrperson diese Redensart vollständig hätte angeben müssen, denn in der von ihr gewählten Konstruktion entspricht es nicht dem tatsächlichen Material. Zum Zweiten muss die unterrichtliche Strategie eingeschätzt werden. Es handelt sich um die Realisierung eines Handlungsmusters, das nach der funktionalen Pragmatik als ›Aufgabe stellen – Aufgabe lösen‹ eingestuft werden kann. Dieses Muster eröffnet Lehrpersonen die Möglichkeit, Schüler in die Erarbeitung eines fachlichen Gegenstandes miteinzubeziehen. Es beginnt damit – allgemein gesagt –, dass die Lehrperson eine Frage stellt. Die Schülerinnen und Schüler können darauf möglicherweise keine Antwort geben, oder aber sie versuchen es trotzdem, und zwar aufgrund einer Vermutung unternehmen sie einen entsprechenden Versuch. Diesen kann der Lehrer positiv oder negativ bewerten. Wenn er ihn negativ bewertet, wiederholt er noch einmal die Aufgabe und fordert so die anderen Schüler auf, eine andere Lösung zu nutzen. Dazu gibt es auch die Möglichkeit, dass er mithilfe eines

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Winks die anderen Schüler dazu veranlasst, ebenfalls Gedanken einzubringen. Der Wink ist insofern wichtig, als er eine Orientierung auf die zu beantwortende Frage vertieft. Ist die Einschätzung allerdings positiv, kann der Lehrer durch eine entsprechende Rückmeldung seine Zustimmung kundtun. Damit wäre dann das Handlungsmuster abgeschlossen. Bezogen auf die oben dokumentierte Unterrichtssequenz lässt sich konstatieren, dass es den Schülern nur im Ansatz gelungen ist, mögliche Interpretationen des Sprichworts zu entwickeln. Dies wird auch in den kommentierenden Äußerungen der Lehrerin deutlich. Schließlich wird es nicht entsprechend genutzt, um die thematische Orientierung des Sprichworts zu kennzeichnen. Wie ist nun die ausgewählte Unterrichtssequenz in Hinblick auf ihre Potenziale einzuschätzen? Zunächst ist festzustellen, dass das Thema nicht angemessen bearbeitet wurde. Dies liegt u.a. auch daran, dass die Lehrerin vergessen hat, den zweiten Teil der Redewendung auch miteinzubeziehen. Den Schülern ist nicht besonders viel eingefallen: Sie thematisieren bestimmte Vermutungen, die sie mehr oder weniger angemessen einbringen, bleiben aber von der tatsächlichen Bedeutung des Sprichwortes weit entfernt. Insofern zeigt sich an diesem Beispiel auch, dass eine Reduktion des Sprichwortes auf einen Teil – hier den ersten – nicht besonders hilfreich ist, denn eine differenzierte Analyse ermöglicht eben auch, die historischen Hintergründe solcher Sprichwörter und Redewendungen zu erschließen. Und die Lehrerin hat einige Schwierigkeiten, die Schülerinnen und Schüler zu einer differenzierten Analyse zu bringen, denn diese sind nicht besonders interessiert an dem vorgegebenen Thema. Insofern lässt sich resümierend feststellen, dass sie nicht besonders effektiv agiert. Bei einer stärkeren inhaltlichen Konzentration auf die jeweiligen Schwerpunkte wäre es um einiges interessanter geworden. Und schließlich noch ein Blick auf alternative Möglichkeiten. Man könnte für ein solches Thema auch Wörterbücher heranziehen, mit denen die jeweiligen Schwerpunkte auch konkret untersucht werden könnten. Und auch die Nutzung eines Unterrichtswerkes für die Jahrgangsstufe 7 könnte eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Abschließend kann festgehalten werden, dass die Lehrerin offenbar das Thema nicht unbedingt angemessen vorbereitet und durchgeführt hat. Stattdessen hat sie lediglich eine kurze Variante des Ganzen genommen, um so die Schülerinnen und Schüler darauf zu orientieren.

R ESÜMEE Die Vorteile einer differenzierten Betrachtung von Unterricht zeigen sich vor allem daran, dass die Formen der sozialen Interaktion in unterschiedlichen Perspektiven dargestellt werden können. Und zwar kann es auf diese Weise gelingen, einzelne relevante Aspekte in den Mittelpunkt zu stellen. Welcher nun von Bedeutung für die Rezipienten sein kann, muss in Hinblick auf die jeweilige Art des Mediums betrachtet werden. So thematisieren Bilder ganz andere Schwerpunkte als etwa literarische Texte oder aber auch Transkriptionen. Insofern wird auf diese Weise eine differenzierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ebenen und medialen Besonderheiten möglich.

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Im ersten Teil ging es vor allem darum, wie sich das Lehren und Lernen in Geschichten entwickelt hat. Dabei zeigt sich, dass je nach Interesse der Autoren eine sehr unterschiedliche Sichtweise zu beobachten ist. So zeigt beispielsweise der Text von Ernst Eckstein durchaus Aspekte und Dimensionen, die den anderen ein wenig abgehen, vor allem deshalb, weil es ihm darum geht, die Besonderheiten der unterrichtlichen Kommunikation in einer ironischen Perspektive heraus zu präparieren. Damit hat er die Grundlagen geschaffen, auf deren Basis viele andere Autoren dann ihre Texte über die Schule verfasst haben – man denke an Heinrich Spoerl und an Alexander Wolf. Bei den Gedichten wiederum hat sich gezeigt, dass die verschiedenen Autoren den sozialen Raum Schule in unterschiedlicher Art und Weise beschreiben: Der englische Autor Blake stellt die Problematik der Teilnahme am Unterricht in den Mittelpunkt, während Christian Morgenstern einen toten Schüler gegen den Lehrer agieren lässt – gleichsam in einer metaphysischen Perspektive. In dem Gedicht von Carl Zuckmayer wird das Verlassen der Schule kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs thematisiert, durchaus interessant, weil die Zugehörigkeit zur deutschen Wehrmacht eine gewisse Freiheit verspricht, auch wenn diese Einrichtungen doch durchaus autoritäre Züge tragen. Und in dem letzten Gedicht von Wilhelm Kramer geht es um einen gütigen Lehrer, der aber auch seine Probleme thematisiert. In den ausgewählten Erzählungen stehen unterschiedliche Perspektiven im Zentrum, entweder steht der Lehrer im Mittelpunkt (bei Schubart oder bei Starke), oder aber die Schüler (bei Zweig und bei Feuchtwanger), die sich mit den zwanghaften Vorschriften beschäftigen müssen. Und in der letzten Geschichte von Kusenberg geht es um die Anwesenheit eines Bären in einer Klasse, allerdings bleibt die Perspektive ironisch. Bei der linguistischen Analyse von Unterricht geht es vor allem darum, mithilfe eines mikroskopischen Blicks auf eine Unterrichtsszene die Potenziale und Grenzen von Unterricht herauszuarbeiten. An diesem Beispiel lässt sich auch deutlich machen, wie thematisch begrenzt eine Auseinandersetzung mit Sprichwörtern sein kann, wenn man bestimmte Teile einer festgelegten Redewendung nicht berücksichtigt. Und auf diese Weise lässt sich auch eine Einschätzung von der Qualität des Unterrichts erarbeiten, indem die Vor- und Nachteile der jeweiligen Aktivitäten in den Blick genommen werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Unterricht ein komplexes System ist, das in drei verschiedenen Perspektiven variationsreich erscheint. Von daher sollte der mehrdimensionale Blick auf den Unterricht auch für die jeweiligen Fächer genutzt werden, um ein differenziertes Ergebnis zu erreichen.

D ER SOZIALE R AUM ›S CHULE ‹

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L ITERATUR Deleuze, Gilles (1993): »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: Ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt: Suhrkamp, S. 254-262. Eckstein, Ernst (2001): Der Besuch im Karzer. Humoreske, Nordstrand: Schmitz. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen, Frankfurt/M: Suhrkamp. Härtling, Peter/Haacker, Christoph (Hg.) (1998): Hörst du's schlagen halber acht. Die Welt der Schule in Gedichten und Prosa, Stuttgart: Radius. Röhrich, Lutz (2001): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Band 2: Easy – Holzweg, Freiburg: Herder.

Das englischsprachige Kind im Raum Repräsentation und Rezeption von kindlicher Welterfahrung im interkulturellen Vergleich J AN H OLLM

Englischsprachige Kinder- und Jugendliteratur besitzt heute im weltweiten Vergleich die größte Verbreitung (vgl. Kullmann 2008: 10). In jüngster Zeit wurde diese zentrale Position besonders eindrücklich durch die Harry-Potter-Romane1 (EA: 19972007) von Joanne K. Rowling unterstrichen. Zweifellos weisen britische und nordamerikanische Texte der Kinder- und Jugendliteratur den sprachlichen Vorteil auf, dass sie in der globalen Lingua franca der Gegenwart verfasst sind. Hierdurch wird eine zahlenmäßig unvergleichlich hohe Rezeption durch eine Leserschaft ermöglicht, die Englisch als Erst- oder Fremdsprache direkt und nicht nur in Übersetzung lesen kann. Darüber hinaus fällt aber die Tatsache auf, dass ursprünglich auf Englisch verfasste Kinder- und Jugendliteratur auch die weltweit höchste Zahl an Übersetzungen in andere Sprachen – und hier ist insbesondere das Deutsche zu nennen – bietet (vgl. Jobe 1996: 519-529, Störiko-Blume 2011: 65, Börsenverein 2013: 94-101). Es stellt sich nun die Frage, worin diese besondere globale Bedeutung der englischen und nordamerikanischen Kinder- und Jugendliteratur begründet ist. Als eine zentrale Ursache ist gewiss der zunehmende Einfluss zu sehen, den Großbritannien seit dem 18. Jahrhundert und die USA seit dem 20. Jahrhundert als internationale Leitkulturen ausüben. Die ökonomische und weltpolitische Bedeutung dieser beiden Nationen ging einher mit einer kulturellen Ausstrahlung vor allem auch im Bereich der internationalen Populärkultur. Der hier gegebene Erklärungsansatz für diese außergewöhnliche Rezeptionsmacht soll im Folgenden aber insofern erweitert werden, dass die Attraktivität der speziellen Topographie englischsprachiger Kinder- und Jugendliteratur als weiterer zentraler Grund für deren unvergleichbar starke Verbreitung in der Welt anzusehen ist. Es wird hierbei von der Hypothese ausgegangen, dass englischsprachige Kinderund Jugendliteratur mit der ihr eigenen Topographie von deutschsprachigen Rezipienten bis in die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland – bewusst oder unbewusst – als gegenkulturelle Kontrastfolie zur Heimatkultur gelesen wurde, um die (mehr oder minder stark empfundene) Enge des deutschen Kinderzimmers zu 1

Kinderliterarische Texte, die nicht im Literaturverzeichnis aufgelistet sind, werden nur im Text mit dem Jahr der Erstausgabe aufgenommen.

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überwinden. Englischsprachige Kinder- und Jugendliteratur öffnete gleichsam ein Fenster in eine andere Welt. So wird im Folgenden argumentiert, dass die in englischsprachiger Kinder- und Jugendliteratur gewählten Schauplätze und die dort vorgestellten anderen Lebensweisen einen besonderen exotischen Reiz, aber auch eskapistische Möglichkeiten für eine junge deutsche Leserschaft besaßen, um sich von der Realität einer deutschen Kindheit gedanklich zu distanzieren. Der Schwerpunkt der hier vorgestellten Überlegungen befindet sich auf deutscher bzw. (nach dem Zweiten Weltkrieg) auf bundesdeutscher Kinder- und Jugendliteratur, da eine genauere Untersuchung der Situation in Österreich und in der Schweiz den vorgegebenen Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. Gleiches gilt für die entsprechende Literatur in der DDR, wobei gerade exotische oder phantastische Topographie als literarischer Sehnsuchtsort für Kinder und Jugendliche im »real existierenden Sozialismus« mit seinen extremen Reiseeinschränkungen eine eigene Untersuchung wert wäre (zum Überblick vgl. Dolle-Weinkauff 1990 und 1996).

S YNOPSE

DER

A RGUMENTATION

Die im Folgenden vorgenommene Analyse gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten Teil wird es das Ziel sein, die historischen Besonderheiten britischer und nordamerikanischer Topographieerfahrung seit der Frühen Neuzeit zu identifizieren. Im Anschluss hieran wird diskutiert, inwiefern sich literarische Topik im angloamerikanischen Sprachraum in den hier relevanten Bereichen grundsätzlich von deutschen literarischen Formen unterscheidet und inwiefern gerade diese topische Differenz zu einer Steigerung der literarischen Attraktivität englischsprachiger Kinderund Jugendliteratur für ein (junges) deutsches Lesepublikum geführt haben mag. In exemplarischer Weise werden zur Unterstützung dieser Argumentation detailliertere topographische Analysen der unterschiedlichen literarischen Behandlung der Robinsonthematik in England und Deutschland, aber auch von Klassikern der englischsprachigen Kinder- und Jugendliteratur wie Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (EA: 1865), Mark Twains Adventures of Huckleberry Finn (EA: 1884) und Beatrix Potters The Tale of Peter Rabbit (EA: 1902) vorgenommen. Abschließend werden die literatur- und kulturwissenschaftlichen Befunde in Bezug gesetzt zum narrativen Inventar heutiger Kinder- und Jugendliteratur im Zeitalter fortschreitender Globalisierung, da offenbar ein topographischer, aber auch topischer Angleichungsprozess von Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland insbesondere an englischsprachige Vorbilder stattgefunden hat.

E XOTISCHE T OPOGRAPHIE

IN

K INDHEIT

UND

J UGEND

Einführend soll hervorgehoben werden, dass eine exotische Überwindung des eigenen Alltags im literarischen Tagtraum nicht nur auf deutsche Kinder beschränkt ist, sondern als ein Teil jeder kindlichen Sozialisation identifiziert werden kann. Dies verdeutlicht beispielhaft der rückblickende Bericht der Protagonistin und Ich-Erzählerin in Nadine Gordimers Roman The Lying Days (EA: 1953). In diesem Text der

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südafrikanischen Nobelpreisträgerin wird ausgeführt, dass für Kinder sogar realistische Berichte über das Alltagsleben in fremden Ländern phantastisch anmuten können, obwohl in den von Gordimer beschriebenen Referenzkulturen Südafrika und England ja sogar große Schnittmengen in Sprache und Kultur bestehen: »Even when I was smaller, fairy tales had never interested me much. To me, brought up into the life of a South African mine, stories of children living the ordinary domestic adventures of the upper-middle-class English family – which was the only one that existed for children’s books published in England in the thirties – were weird and exotic enough. Nannies in uniform, governesses and ponies, nurseries and playrooms and snow fights – all these commonplaces of European childhood were as unknown and therefore as immediately enviable as the life of princesses in legendary castles to the English children for whom the books were written.« (Gordimer 1994: 20)

Bereits Maria Edgeworth attestierte mit Bezug auf Dr. Johnson im Vorwort zu ihrem weit verbreiteten Werk The Parent’s Assistant (EA: 1796) jugendlichen Rezipienten von Fiktion, dass sie eine besondere Affinität zu exotischen Schauplätzen besitzen: »Babies do not like to hear stories of babies like themselves; […] they require to have their imaginations raised by tales of giants and fairies, and castles and enchantments.« (Edgeworth 1854: V) Eine Begründung für diese Präferenz bei Kindern, die Maria Edgeworth im Übrigen nicht für förderungswürdig hielt, mag in Anlehnung an Thomas Kullmann darin gesehen werden, dass in phantastischen oder exotischen Welten, die als Metaphern unserer eigenen Welt fungieren, abstrakte Konzepte wie Freundschaft und Feindschaft, Hass und Liebe gleichsam in Reinform in Erscheinung treten und von den jungen Lesern entsprechend rezipiert werden können. In Anlehnung an Roman Jakobson führt Kullmann zu dieser topographischen Eigenheit von Kinder- und Jugendliteratur aus: »Die Wahl exotischer Schauplätze führt zur Vermeidung metonymischer Bezüge zur Lebenswelt der Leserinnen und Leser. Die dargestellte Welt ist der erlebten Wirklichkeit in mancher Hinsicht ähnlich, aber in keinem Fall benachbart. Der Bezug zwischen Erzählung und Lebenswirklichkeit ist ein metaphorischer.« (Kullmann 2008: 46).

Verwandt mit dieser Einsicht ist die zentrale Position, die das narrative Grundschema der Queste innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur einnimmt. In diesem Literaturtyp durchläuft eine fiktive Stellvertreterfigur als Identifikationsreferenz für die jugendlichen Leserinnen und Leser eine fiktive Initiation bzw. erlebt eine transformierende Charakterentwicklung in Form eines Abenteuers in einer fremden und herausfordernden Welt. Thomas Kullmann zufolge ist hierbei eine »einfache ›Identifikation‹ der Leserinnen und Leser mit den jugendlichen Protagonisten« nicht möglich. Vielmehr setze die »Notwendigkeit, die geschilderte Welt aus der Perspektive fremdartiger Figuren wahrzunehmen, […] bei der Leserschaft ein hohes Abstraktions- und Reflexionsvermögen voraus.« (Kullmann 2008: 45) Als Beispiele solcher jugendlichen bzw. adoleszenten Sozialisationstopographie können eine Vielzahl kanonischer Romanklassiker der englischsprachigen Literatur benannt werden, wie z. B. Daniel Defoes Robinson Crusoe (EA: 1719), Robert Louis Stevensons Treasure

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Island (EA: 1883), Mark Twains Huckleberry Finn, Rudyard Kiplings Jungle Book (EA: 1894) oder William Goldings Lord of the Flies (EA: 1954). Aus einer Genderperspektive heraus betrachtet fällt bei diesen prominenten Beispielen auf, dass in allen Werken eine Abwesenheit des Weiblichen zu konstatieren ist, die Erlebnisse von Jungen bzw. die Initiation von männlichen Pubertierenden im Zentrum des narrativen Interesses stehen. Allerdings trifft diese Präferenz von Autorinnen und Autoren für männliche Helden zunehmend in der viktorianischen Literatur und erst recht im 20. Jahrhundert weniger zu und der Erfahrungshorizont von Mädchen als literarischen Protagonistinnen weist in wachsendem Maße über das häusliche Umfeld hinaus. Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland in England oder Frank L. Baums The Wonderful Wizard of Oz (EA: 1900) in den USA können hier als wichtigste Belege angeführt werden.

D IE

HISTORISCHE E NTWICKLUNG BRITISCHER S OZIALISATIONS - TOPOGRAPHIE In der englischsprachigen Kinder- und Jugendliteratur fällt im interkulturellen Vergleich mit Literatur im deutschsprachigen Raum auf, dass eine große Zahl der bedeutendsten englischsprachigen fiktionalen Texte an exotischen Schauplätzen spielt. Eine geradezu mimetische Begründung für diesen Umstand kann in der ganz andersartig global ausgerichteten englischsprachigen Kultur seit dem Zeitalter der Entdeckungen ab dem 16. Jahrhundert gesehen werden. Das Verlassen der Britischen Inseln in der Jugend und die spätere Heimkehr nach oftmals langjährigen Aufenthalten in Übersee entwickelten sich seit der frühen Neuzeit zunehmend zu einem britischem Erfahrungskontinuum. In gewisser Weise kann dieser Umstand als eine identitätsstiftende Variante eines Phänomens verstanden werden, das der Historiker Lewis Namier als »amphibische« Kultur der englischen Oberschicht bezeichnet (vgl. Gelfert 2002: 120). Während Namier hiermit den Umstand terminologisch subsumiert, dass die englische Oberschicht im Jahresverlauf traditionell zwischen London als urbanem Zentrum und dem Landsitz als ländlicher Peripherie pendelte, könnte diese Analyse ab dem 16. Jahrhundert zunehmend auch auf einen globalen Maßstab übertragen werden. Seit der Frühen Neuzeit enthielten kontinuierlich immer mehr britische Biographien von Männern – und in deutlich geringerem Umfang von Frauen – Lebensabschnitte, die an unterschiedlichsten, oft sehr exotischen Orten außerhalb der Britischen Inseln verbracht worden waren. Durch Dienstzeiten in der Marine oder dem Militär im Britischen Weltreich, aber auch durch die Wahrnehmung unterschiedlichster Funktionen in Handel, Verwaltung und Bildungswesen, medizinischer Versorgung oder durch Tätigkeit in christlichen Missionsstationen in Übersee beschränkte sich das Erleben exotischer Topographie nicht nur auf den engen Personenkreis britischer Funktionseliten. Vielmehr kann man durch einen Jahrhunderte umfassenden Prozess eine kontinuierliche Erweiterung der topographischen Perspektive bei immer größeren Teilen der britischen Bevölkerung voraussetzen. Seit dem 16. Jahrhundert besaß somit eine wachsende Anzahl von Briten, um Lewis Namiers Begriff aufzugreifen, solch weltweite »amphibische« Lebensläufe.

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Das historische Phänomen der Strafkolonie – und hier wäre Australien als prominentestes Beispiel zu nennen – führte dazu, dass auch Menschen aus ärmlichen bzw. subproletarischen Gesellschaftsschichten gezwungen wurden, einen außerbritischen Erfahrungsraum kennen zu lernen. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass so mancher Sträfling nach Verbüßung der Strafe, wie auch die Mehrzahl der Kolonialsoldaten, Marineangehörigen oder Seeleute nach Ableistung ihres Dienstes, ins britische Mutterland heimkehrte. Solche Rückwanderungsströme sorgten dafür, dass eine Vielzahl der Menschen auf den Britischen Inseln eine exotische Topographie als Alteritätsfolie zur Relativierung des heimatlichen Lebensraums verinnerlichten.

K ULTURELLE A LTERITÄTSERFAHRUNG UND G ROSSBRITANNIEN

IN DEN

USA

Auch für das Leben in Nordamerika kann eine kulturelle, aber auch topographische Dialektik identifiziert werden, die sich in der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht durchdrungenen Weite des amerikanischen Raums als literarischem Schauplatz in mannigfaltiger Weise entwickelte. – In Anlehnung an die kulturanalytische Argumentation von D. H. Lawrence erörterte Winfried Fluck in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung im Jahre 1987 überblicksartig amerikanische Literatur als doppelkodierte interkulturelle Auseinandersetzung einer europäischen Perspektive mit dem Anderen, dem »Unzivilisierten«. Beispielhaft könnten hierfür die Darstellung der Urweinwohner Amerikas in Coopers Lederstrumpf-Erzählungen (EA: 182341), die Figur des Polynesiers Queequeq in Melvilles Moby Dick (EA: 1851) oder aber auch der entflohene Sklave Jim in Mark Twains Adventures of Huckleberry Finn angeführt werden, um diesen Analyseansatz zu stützen. Das genuin Amerikanische zeigt sich Fluck zufolge gerade in einer solchen Hybridität, die auch dazu geführt hat, dass im 19. Jahrhundert in unüblicher Weise bestimmte literarische Genres sowohl in Produktion als auch Rezeption in den kulturellen Vordergrund traten. Hierbei handelte es sich um Textsorten, deren Status als »wirkliche« Literatur in Europa bestenfalls als zweifelhaft angesehen wurde: »Coopers Indianergeschichten, Poes und Hawthornes ›gothic stories‹, Melvilles Seefahrergeschichten und Twains Kinder- und Jugendbücher entsprachen allesamt nicht den herrschenden Vorstellungen von Literatur, boten offensichtliche Probleme, welcher Genre- und Textkategorie sie eigentlich zuzurechnen wären. Die amerikanische Literatur bietet in der Tat eine Vielzahl solcher Abenteuer- und Kinderbücher, See- und Trappergeschichten, Schauerromanzen und Plantagenmelodramen, aus denen sich im Verlauf der kritischen Rezeption erst allmählich weitere Erzähl- und Bedeutungsebenen herausgeschält haben. John Carlos Rowe spricht in diesem Zusammenhang von ›multigeneric … mixed and bastard forms.‹ Die amerikanische Literatur wäre dann eine Literatur, die sich ihre eigenen (hybriden) Genres geschaffen hat, ja deren Besonderheit vielleicht gerade in der Dominanz jenes hybriden doppelkodierten Texttypus bestehen könnte […].« (Fluck 1987: 9-10)

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Für das hier zentral interessierende Thema der Topographie lässt sich diese amerikaorientierte Argumentation auch auf die Erfahrungsrepräsentation in britischer Kinder- und Jugendliteratur erweitern. Den jugendlichen Leserinnen und Lesern wird nicht nur eine Welt auf exotischen Schauplätzen vorgeführt, sie sind zugleich herausgefordert, sich mit fremden, oft deutlich verschiedenen Parallelkulturen zur eigenen auseinanderzusetzen. Der Bogen reicht in diesem Zusammenhang von KasperHauser-verwandten Protagonisten wie Rudyard Kiplings Mowgli in The Jungle Book oder der von dem Amerikaner Edgar Rice Burroughs erfundenen Figur des aus englischem Adel abstammenden Tarzans, die beide topische Elemente des Edlen Wilden aufweisen, bis hin zu Protagonisten, die ihre europäische Identität abstreifen und das tun, was in der britischen Kolonialgeschichte als ›going native‹ bezeichnet wird. Reale autobiographische Reiseberichte wie die eines Richard Francis Burton im Viktorianischen Zeitalter stehen hier in der gleichen Tradition eines Metamorphosediskurses wie Natty Bumppo in den Lederstrumpf-Erzählungen oder von Kurtz in Joseph Conrads Heart of Darkness (EA: 1899). Dass die Grenzen zwischen historischer Dokumentation und fiktionaler Gestaltung hierbei fließend sind, lässt sich insbesondere durch den vielfach preisgekrönten Film Lawrence of Arabia (1962) von David Lean dokumentieren, in dessen Zentrum die – auch jugendliche Leserinnen und Leser interessierende – Identitätssuche des ›abendländisch‹ sozialisierten Individuums in der Auseinandersetzung mit der als ›orientalisch‹ markierten Weltwahrnehmung abgebildet wird. Welche Komplexität solche auto- und heterostereotype künstlerische Repräsentation von kultureller Alterität beinhaltet, ist spätestens seit Edward Saids rezeptionsmächtiger klassischer Untersuchung Orientalism (1978) innerhalb des postkolonialen Diskurses präsent. In diesem Zusammenhang ist es nötig, noch auf einen weiteren Unterschied zwischen deutsch- und englischsprachigen Kulturen hinzuweisen. So ist der britischen, aber auch der US-amerikanischen Literatur eigen, dass die Übergänge zwischen Höhenkamm- und Populärliteratur fließender sind als in Deutschland, ja eine deutliche Trennungsmarkierung nicht in vergleichbarer Weise existiert. Auch ist die Rezeption von ursprünglich für eine erwachsene Leserschaft geschriebenen Texten durch Kinder und Jugendliche – ggf. in vereinfachter Form – verbreitet und üblich (so Kullmann 2008: 9-10). Daniel Defoes Robinson Crusoe kann in diesem Zusammenhang als prominentestes Beispiel genannt werden. Defoe verbindet in diesem oft als erster Roman der englischen Literatur bezeichneten Werk moralphilosophische Überlegungen des Ich-Erzählers mit einer spannenden Abenteuer- und Überlebensgeschichte in einer maskulin dominierten Welt in einer solchen Weise, dass sich auch eine junge Leserschaft – und hier vor allem Jungen – angesprochen fühlt. Allerdings muss in diesem Kontext ergänzend darauf hingewiesen werden, dass Defoes Text erst durch spezielle Adaptationen für Jugendliche zum Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur wurde (vgl. O’Sullivan 2005: 132).

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T OPOI ENGLISCHSPRACHIGER K INDER - UND J UGENDLITERATUR Neben der oben beschriebenen deutlich anderen, exotischen Topographie der Schauplätze, an denen englischsprachige Kinder- und Jugendliteratur angesiedelt ist, kann des Weiteren die sehr eigene Topik als fundamental unterschiedlich identifiziert werden. Hier treten insbesondere drei Bereiche von spezieller Bildlichkeit in das Sichtfeld. Zum einen fällt auf, dass präskriptive Pädagogik in englischsprachiger Kinder- und Jugendliteratur im Gegensatz zu vergleichbaren Literaturformen in Deutschland bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine deutlich weniger zentrale Rolle einnimmt. Kullmann spricht in diesem Zusammenhang bei Edward Lears Gedichtsammlung Book of Nonsense (EA: 1846) und bei Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland sogar von den »radikalsten Beispiele[n] eines entpädagogisierten kinderliterarischen Diskurses