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German Pages 538 Year 2014
Oliver Krüger Die mediale Religion
Religion und Medien | Band 1
Editorial Die Gegenwart der Religionen wird heute in starkem Maße durch die Formen ihrer medialen Repräsentationen geprägt. Aber auch Religionsgeschichte war immer schon Mediengeschichte. Medien sind zentral für die Vermittlung religiöser Ideen und ritueller Praktiken. Zudem sind Religionen in modernen Gesellschaften auch Gegenstand der dokumentarischen Berichterstattung und der Unterhaltung. Die Reihe Religion und Medien soll ein Forum für die kulturwissenschaftliche Erforschung der religionsspezifischen Nutzung von Medien und für die medienspezifische Analyse der Darstellung religiöser Sujets bieten. Ebenso sind theoretische und methodologische Abhandlungen willkommen, die zum Verständnis rezenter und historischer Medienphänomene im Feld der Religionen beitragen und die Vielschichtigkeit des Medienbegriffes diskutieren. Der offene Begriff der »Medien« bezieht sich in diesem Zusammenhang sowohl auf die klassischen Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften), auf die populäre Publizistik, Belletristik und Literatur, auf technische Bildmedien (Fotografie), auf Kommunikationsmedien wie dem Telefon und seinen Weiterentwicklungen, als auch auf neue Medien wie Radio, Film, Fernsehen und schließlich Internet und computergestützte Medienanwendungen. Die außerordentliche Dynamik des Feldes – man denke an die bereits einsetzende Konvergenz traditioneller Textmedien und audiovisueller Medien im Internet – spricht im Sinne einer »Archäologie der medialen Kommunikation« für die Berücksichtigung einer medienhistorischen Perspektive. Die Reihe wird herausgegeben von Oliver Krüger in Verbindung mit Gregor Ahn, Peter Bräunlein, Christiane Brosius, Anne Koch, Jürgen Mohn, Hubert Mohr, Michael Schetsche und Joachim Trebbe.
Oliver Krüger (Prof. Dr.) lehrt Religionswissenschaft an der Universität Freiburg (Schweiz). Seine Forschungsinteressen beziehen sich neben dem Feld von Religion und Medien auf die Religionssoziologie und Thanatosoziologie.
Oliver Krüger
Die mediale Religion Probleme und Perspektiven der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Medienforschung
in memoriam Karl Hoheisel
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorbemerkung | 9
1 R ELIGION UND M EDIEN : EINE E INFÜHRUNG | 11 1.1 Das Problem der medialen Religion | 11 1.2 Wissenssoziologische Hermeneutik | 21 1.2.1 Religionswissenschaft und Wissenssoziologie | 24 1.2.2 Zur Analyse von Deutungsmustern | 27
1.3 Neue Medien in der Religionswissenschaft | 32
2 R ELIGION IN DER W ISSENSSOZIOLOGIE | 43 2.1 Die klassische Wissenssoziologie | 44 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6
Vorspiel: Marx und Comte | 44 Die Anfänge: Ludwig Gumplovicz und Wilhelm Jerusalem | 50 Max Scheler | 56 Karl Mannheim | 75 Werner Stark | 96 Theodor Geiger | 104
2.2 Die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie | 107 2.2.1 Alfred Schütz | 107 2.2.2 Peter Berger und Thomas Luckmann | 115
2.3 Die wissenssoziologische Hermeneutik | 134 2.3.1 Religion in der wissenssoziologischen Hermeneutik | 134 2.3.2 Medien in der wissenssoziologischen Hermeneutik | 136
2.4 Religion in der Wissenssoziologie: Probleme und Perspektiven | 140 2.4.1 Religion, Gesellschaft und Erkenntnis | 140 2.4.2 Religion und Medien | 156
3 M EDIENGESCHICHTE ALS R ELIGIONSGESCHICHTE | 163 3.1 Vorüberlegungen | 163 3.2 Die »Heiligen Schriften« und die »Buchreligion« | 166 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5
Schrift, Text und Buch: eine Medienskizze | 170 Der Ursprung von Sprache und Schrift | 175 Die Wirkmächtigkeit von Sprache und Schrift | 185 Die »Heiligkeit« des Buches | 188 Die Konstruktion der »Heiligen Schriften« und der »Buchreligion« | 191 3.2.6 Perspektiven | 203
4 R ELIGION UND NEUE M EDIEN | 215 4.1 Die Vielfalt religiöser Medien | 215 4.2 Printmedien | 222 4.2.1 Von der Flugschrift zur Zeitschrift | 222 4.2.2 Forschungsperspektiven | 231 4.3 Fotografie | 233 4.4 Film | 237 4.4.1 Von Solaris zum Jesus Film Project: Religion im Film | 237 4.4.2 Zwischen Theologie und Filmanalyse: ein Forschungsüberblick | 260
4.5 Das Telefon | 294 4.5.1 Von der Telefonseelsorge zum Twittern | 294 4.5.2 Perspektiven der religionswissenschaftlichen Kommunikationsforschung | 303
4.6 Hörfunk | 304 4.6.1 Von Radio Vatikan zu Big Spirit | 304 4.6.2 Instrumentelle Transkommunikation | 316 4.6.3 Unerhört: die Erforschung religiöser Radioprogramme | 320
4.7 Fernsehen | 328 4.7.1 Vom »Wort zum Sonntag« zum »Schwert des Islam« | 329 4.7.2 Ausgeblendet: Fernsehforschung im Spannungsfeld theologischer Paradigmen | 354
4.8 Internet | 373 4.8.1 Was ist das Internet? | 374 4.8.2 Religionen und das Internet: eine Feld- und Forschungsskizze | 377 4.8.3 Die Mythen des Internet | 387 4.8.4 Religionswissenschaftliche Internetforschung | 418
5 S CHLUSSFOLGERUNGEN | 445 5.1 Religionswissenschaftliche Medienforschung | 445 5.2 Religion, Gemeinschaft und das Mediale | 456 Abkürzungsverzeichnis | 467 Quellenverzeichnis | 469 1 Literatur | 469 2 Tonträger | 525 3 Filmografie | 525
Danksagung | 531 Index | 533
Vorbemerkung
Die vorliegende Untersuchung hatte ihren Ausgangspunkt in einem Projekt des Sonderforschungsbereiches Ritualdynamik an der Universität Heidelberg. Es ging um die Frage, wie im Medium des Internet Rituale aus dem Bereich des Neopaganismus »verhandelt« werden und welchen Einfluss dies auf die tatsächliche rituelle Praxis haben könnte. Im Laufe der Studie zeigte sich, dass nicht nur die religiösen Akteure selbst, sondern auch eine Reihe von Wissenschaftlern, die sich mit dieser Thematik befassten, dezidierte Vorstellungen über die Bedeutung des Internets für die Entwicklung der Religionen und darüber hinaus hatten. Ideale von persönlicher Freiheit, Gleichheit und einer universalen Weltgemeinschaft bilden den Rahmen dieser religiösen und auch wissenschaftlichen Deutungsmuster. Die Offenlegung dieses dominierenden Vorverständnisses des Internet erschien mir eine Vorbedingung für alle weiteren religionswissenschaftlichen Internetstudien zu sein. Bei der Vertiefung in die aktuelle und historische Forschungsliteratur zum gesamten Feld von Religion und Medien, die für die disziplingeschichtliche Verortung der Internetthematik notwendig war, stellte sich jedoch heraus, dass auch die Erforschung anderer Medien stark von solchen sozialen und religiösen Deutungsmustern beherrscht wurde. Das betrifft sowohl herkömmliche Medien wie die Konstruktion der sogenannten »Heiligen Schriften« als auch neue Medien wie den Film und das Fernsehen. Dieser Befund drängte zu einer vollkommenen Neuausrichtung des Projektes. An die Stelle der Analyse eines konkreten und theoretisch durchaus reizvollen Problems, nämlich der neopaganen Internetritualistik, ist die systematische Aufarbeitung der religionswissenschaftlich relevanten Medienforschung vor allem im deutschsprachigen Raum getreten. Damit reiht sich die Studie in die religionswissenschaftlichen Vorarbeiten ein und will die Voraussetzungen klären, unter denen eine reflektierte religionswissenschaftliche Medienforschung überhaupt erst möglich wird. Die methodologische Fundierung in der wissenssoziologischen Hermeneutik hat sich bei diesem Unterfangen als äußerst hilfreich erwiesen.
1 Religion und Medien: eine Einführung Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium. Das Wort sagt es schon: zwischen okkulten und technischen Medien besteht kein Unterschied.1 F RIEDRICH K IT TLER
1.1 D AS P ROBLEM DER MEDIALEN R ELIGION Der Ursprung des modernen Medienbegriffes liegt im Dunkeln – oder besser gesagt: in der Dunkelkammer.2 Eine Etymologie in herkömmlicher Form als Laufbahn des Medienbegriffes durch verschiedene Epochen und lateinische Sprachfamilien hindurch ist wenig erhellend. Vielmehr muss der Komplexität der Ausblendungen und Selektionen gegenüber den beiden Medienbegriffen, nämlich dem spiritistischen Medium und dem technischen Medium, Rechnung getragen werden.3 So selbstverständlich wir uns gemäß postmoderner Exegeten im Medienzeitalter bewegen, so vielschichtig sind die sozialen Bedingungen und kulturellen Voraussetzungen, unter denen die Medien in der Philosophie, in der christlichen Theologie, in anderen Religionen und schließlich in der Medientheorie und empirischen Medienforschung verhandelt werden. Medien berühren die Fundamente der Kultur, der Religion und der gesellschaftlichen Ordnung, da sie epistemologische Fragen nach der Gültigkeit und Wahrheit der sinnlichen Erfahrung, des Gehörten und Gesehenen, aufwerfen. Medien stehen damit grundsätzlich in der Spannung zwischen einerseits der Möglichkeit, Dinge erfahrbar zu machen, die dem menschlichen Ohr und Auge entzogen oder verborgen sind. Andererseits säen sie Zweifel, ob diese medial vermittelten Erfahrungen echt und authentisch sind, so als wenn man es selbst »erlebt« hat. Im 1 | Kittler 1995, 288. 2 | Andreas Fischer redet an dieser Stelle treffend vom »Nachtgebiet« der Fotografie. Vgl. Fischer 1995, S. 502; Fischer 2007, S. 137; auch Barthes 1989, S. 18-24. 3 | Von »Medien« als dem Land der Meder wird in unserem Zusammenhang natürlich gänzlich abgesehen.
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Christentum und der abendländischen Kultur erlangt diese Problematik eine besondere Relevanz. Medien sind daher keine neutrale Größe. Sie sind kein objektives Beobachtungs- oder Kommunikationsinstrument in den souveränen Händen von menschlichen Medienakteuren, sondern beinhalten selbst die Bedingungen einer bestimmten Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung wie auch deren Konstruktion. Mit diesen Worten könnte man die Kernthese der Toronto School of Communication zusammenfassen, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts um Medientheoretiker wie Marshall McLuhan, Harold Innis und Joshua Meyrowitz herausgebildet hat. Hier steht – teils noch unter dem Eindruck der Totalitarismusforschung – die Frage nach der Wirkung von Medien im Vordergrund, nach der Manipulation der Konsumenten durch die Medien, gemäß Meyrowitz dem Impact of Electronical Media on Social Behavior.4 Es geht hier also, kurz gesagt, um die grundlegende Frage, was die Medien mit den Menschen machen.5 In a culture like ours, long accustomed to splitting and dividing all things as a means of control, it is sometimes a bit of a shock to be reminded that, in operational and practical fact, the medium is the message … Many people would be disposed to say that it was not the machine, but what one did with the machine, that was its meaning or message. In terms of the ways in which the machine altered our relations to one another and to ourselves, it mattered not in the least whether it turned our cornflakes or Cadillacs.6
Unbestritten ist, dass der Ansatz der Toronto School of Communication und der Medienwirkungsforschung im Allgemeinen viele wertvolle Erkenntnisse hervorgebracht hat. Marshall McLuhans berühmtes Diktum the medium is the message hat durchaus seine Berechtigung, solange wir die allgemeinen Bedingungen menschlicher Kommunikationsstrukturen erörtern.7 Problematisch wird dieser Ansatz, wenn bestimmten Medien definierte Wirkungen getreu fest stehender Gesetzmäßigkeiten zugeschrieben werden. Die Medienrezeptionsforschung legt nun den Fokus auf die zweite Seite der Medaille. Schon zeitgleich mit McLuhan plädierten die Soziologen Elihu Katz und David Foulkes für eine Neuorientierung der dominierenden, behavioristischen Medienforschung: »… [T]he question [is] not ›what do the media do to people?‹ but, rather, ›What do people do with the media?‹«8 Im Rahmen dieser Leitfrage haben der Kommunikationswissenschaftler Siegfried J. Schmidt und – unter wissenssoziologischen Vorzeichen – Ruth Ayaß, Angela Keppler 4 | Vgl. Ayaß 2006, 42f. 5 | Vgl. Innis 1951; Meyrowitz 1985; McLuhan 1994. 6 | McLuhan 1994, 7f. 7 | Vgl. McLuhan 1994, 7-21. 8 | Katz & Foulkes 1962, 378. Vgl. Ayaß 2007, 270f.
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u.a. dieser zentralen Frage neue Impulse in der aktuellen medienwissenschaftlichen Debatte verliehen: »Was machen die Menschen mit den Medien?«9 Analog dem vielzitierten Buchtitel von MacLuhan geht es nicht mehr nur um ein understanding media, sondern um ein understanding men/women using media. Neben den konkreten Nutzungspraktiken einzelner Medien im engeren Sinne fallen auch die Alltagstheorien und wissenschaftlichen Theorien über Medien in diesen Bereich der Rezeptionsforschung. Denn Medien werden stets im Rahmen von sozialen, kulturellen und religiösen Deutungsmustern rezipiert. Sie sind in der Menschheitsgeschichte offenbar nie unproblematisch wahrgenommen worden. Die frühesten schriftlichen Zeugnisse aus Sumer, Babylon und Ägypten zeugen bereits davon, dass eine »praktische Medientheorie« oder zumindest eine Reflexion über den Status der Medien bestanden haben muss: Botschaften und Inventarlisten wurden mit Rollsiegeln oder Stempeln beglaubigt.10 Für die Mediengeschichte und die Geschichte des Medienbegriffes bedeutet dies, dass dem Gegenstand mit einer Aufzählung technischer Entwicklungen und Daten nicht Genüge getan werden kann,11 sondern dass auch die kulturellen Interpretationen von Medien Berücksichtigung finden müssen. Auf diese Weise werden viel weitere soziale, kulturelle und religiöse Dimensionen des Medienbegriffes erfasst. Bekanntermaßen wurde die heutige Rede von den Medien als Mittel zur Übertragung und Speicherung von bildlichen, textlichen und akustischen Nachrichten, als Universalbegriff für Bücher wie für das Fernsehen und Internet erst in allerjüngster Zeit geformt. Die Enzyklopädien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts führen den Begriff des Mediums entweder gar nicht auf oder verweisen lediglich auf die lateinische Wortbedeutung als »Mittel« oder »Mitte«. Pierer’s Universal-Lexikon (1857-1865) gibt immerhin noch die media gratiae und die media salutis, die Gnaden- oder Heilsmittel an und führt die spiritistische Wortbedeutung der »vermittelnden Person beim Geisterklopfen und Tischerücken« ein. Dieser Umstand erklärt sich aus der Tatsache, dass der moderne Spiritismus als Praxis der Kontaktaufnahme mit den Geistern Verstorbener Mitte des 19. Jahrhunderts bereits einen hohen Verbreitungsgrad in den Vereinigten Staaten, Südamerika und Europa erfahren hatte. Die Geisterfotografien als Beweismittel der medialen Erfahrungen verliehen der Entwicklung des Spiritismus eine eigene Dynamik. Dieses Lexem des spiritistischen Mediums wird zwar Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Meyers Großem Konversations-Lexikon und im Brockhaus aufgeführt – einen Hinweis auf Bücher, 9 | Vgl. Schmidt 2000, 76-84. 10 | Vgl. dazu die Beiträge in Keel & Uehlinger 1996. 11 | Darauf beschränken sich meist die entsprechenden Artikel gängiger theologischer und religionswissenschaftlicher Fachlexika. Vgl. Hahn 1998; Grethlein 2002b; Janowski & Schmidt 1992.
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Zeitungen, Telegrafen, Telefone und Radio wird man bis in die 1950er Jahre jedoch vergebens suchen.12 Im Englischen erscheint der Begriff media nur vereinzelt in den 1920er Jahren in Bezug auf die Werbemedien (advertising media) der Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. In der Folgezeit wird er als umfassender Begriff aller Medien von Marshall McLuhan in der Gutenberg Galaxy (1962) entwickelt. Die elektronischen Medien stehen in diesem Werk allerdings unter deutlich kulturpessimistischen Vorzeichen: »Is not the essence of education civil defence against media fall-out?«13 Über die neu entstehenden Medien- und Kommunikationswissenschaften geht der Medienbegriff als Sammelbegriff für alle Formen von Übertragungsund Speichermedien ab den 1980er Jahren in den deutschen Wortschatz ein. Jedoch beginnt mit der Einführung des Medienbegriffes auch seine schier unbegrenzte Ausweitung. Für McLuhan sind Medien alle Erweiterungen unseres Körpers und unserer körperlichen Fähigkeiten: die Schrift, Zahlen, Kleidung, Häuser, Geld, Uhren, Bücher, Fahrräder, Flugzeuge, Fotografien, Zeitungen, Autos, Spiele, Schreibmaschinen, Telefone, Filme, Fernsehen, Radios, Waffen und Computer.14 Für postmoderne Philosophen wie Jean Baudrillard, Paul Virilio und Vilém Flusser zählen ein Fußball, ein Wartezimmer, ein Pferd und die Straße ebenso zu den Medien, während die Soziologen Talcott Parsons und Niklas Luhmann Geld, Macht und Einfluss bzw. Kunst, Glaube und Liebe als soziale Medien betrachten.15 Diese schon von McLuhan angestoßene Extension des Medienbegriffes, die nicht ganz uneigennützig die Medienforschung als den Schlüssel zum Verständnis der modernen Kultur und Gesellschaft etablieren würde, verdeckt allerdings die Vor- und Parallelgeschichte des Medienbegriffes, dessen epistemologische Implikationen gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Religion und 12 | In einzelnen Lexika um 1900 ist das Lexem des Mediums als spiritistischer Mittler so dominant, dass keine anderen Bedeutungen mehr aufgeführt werden. Vgl. Münker & Roesler 2008b, 8f.; Hoffmann 2002, S. 25-28. Dass der Artikel zu »Medien« als dem Land der Meder in der 21. Auflage des Brockhaus (2006) noch dreimal so lang wie der Artikel zu technischen Medien ist, spricht für sich. Vgl. Brockhaus 2006. 13 | Vgl. McLuhan 2002, 246; Oxford 1989a, 542. Der damals allseits geläufige Begriff des fall-out spielt auf den radioaktiven Niederschlag während eines Atomkrieges an. Die gesamte medienkritische Diskussion, wie sie vor allem Neil Postman unter pädagogischer Perspektive weitergeführt hat, spiegelt sich schon in dieser ersten, pejorativen Erwähnung des Medienbegriffes im Werk McLuhans wider. Vgl. Postman 1992, 1995, 1997a, 1997b. Im Französischen wird der Terminus »les médias« vereinzelt ab Mitte der 1960er Jahre, systematisch erst in den 1970er Jahren als universaler Medienbegriff verwendet. Vgl. Trésor 1985, 563. 14 | Vgl. McLuhan 1994, 77-359. 15 | Vgl. Münker & Roesler 2008b, 11; Parsons 1969, 250.
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Medien von besonderer Bedeutung sind. Bemerkenswert an der lexikalischen Erfassung des Medienbegriffes im 20. Jahrhundert ist gerade die konsequente Trennung des spiritistischen Begriffes des »Mediums« von dem stets im Plural gehaltenen Stichwort der »Medien« im technischen Sinne, als wolle man hier die dunkle, also okkulte Verbindung der beiden Lexeme möglichst ausblenden. In der gängigen Fotografiegeschichte wird übrigens auch der gesamte Bereich der sogenannten Geisterfotografie im Dunkeln gelassen – erst jüngst hat Natascha Adamowsky dazu beigetragen, das Themenfeld als Sozialgeschichte zu erschließen und die bisherige kulturwissenschaftliche Beschränkung auf eine Betrugsgeschichte der Geisterfotografie zu überwinden.16 Wolfgang Hagen und Stefan Hoffmann ist die detaillierte Aufarbeitung der philosophischen Vorgeschichte des modernen Medienbegriffes zu verdanken. Nach Ansicht Hagens beginnt diese Geschichte mit einer übersetzerischen Fehlleistung des Scholastikers Thomas von Aquin. In der Übertragung von Aristoteles’ Werk ƗƤƯƨ ƞƳƵпư ins Lateinische (De anima) steht Thomas vor dem Problem, ein schwierig zu fassendes und inkonsistent formuliertes Konzept innerhalb der aristotelischen Sinnesphysiologie begrifflich einzufangen. Während sich die Sache beim »Hören« einfach verhält – hier ist es die Luft, die den Ton überträgt, tauchen große terminologische Probleme auf, wenn es um den »Sehsinn« geht. Das Sichtbare werde durch etwas »Unbenennbares« ƠƬцƬƳƫƮƬ) geleitet, später mit Gigon tautologisch als etwas »Durchsichtiges« (ƣƨƠƴƠƬƤư) bezeichnet. Thomas setzt an diesen und an anderen Stellen des Textes nun den lateinischen Begriff medium ein, der weit über hundert Mal im gesamten Traktat erscheinen wird. Folgenschwer wurde diese Übersetzungsleistung, die entgegen der aristotelischen Lehre nun ein ontologisches Medium der Wahrnehmung postuliert, da bis ins 19. Jahrhundert dieser lateinische Text zur Pflichtlektüre aller akademischen Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftler gehörte. Bei Aquin hingegen werden Luft, Wasser, das Feuchte, das Durchsichtige in Bausch und Bogen konnotativ zu diesem einen, allumfassenden Medium, das Aristoteles tunlichst zu benennen vermeidet und mit dem Begriff des Anonymon zu schützen versucht … Erst mit Thomas von Aquin und seiner kanonischen Übersetzung von De anima wird Wahrnehmung mit »einem« Medium überlagert, verpackt im Schmuggelgut eines kanonischen Textes … Lange bevor die technischen Medien des 20. Jahrhunderts herauf-
16 | Vgl. Adamowsky 2008, 44-64. Weder DuMont’s Lexikon der Fotografie noch Petr Tausks Geschichte der Fotografie im 20. Jahrhundert erinnern auch nur mit einer Zeile an die okkulte Frühgeschichte der Fotografie. Vgl. Tausk 1977; Freier 1992. Schon die erste Ausgabe der Enzyklopädie Die Religion in Geschichte und Gegenwart (1913) behandelt den Spiritismus nur pejorativ als Ersatzreligion. Vgl. Steinmann 1913, Sp. 840.
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D IE MEDIALE R ELIGION dämmern, hat das Medium als Begriff bereits seine message. Er ist überladen mit allen impacts der christlich abendländischen Ontologie …17
In der Folge wird der Medienbegriff in der aufgeklärten und idealistischen Philosophie durch Kant, G.C. Lichtenberg und Schelling vielfach rezipiert und weiter entwickelt, am deutlichsten wohl bei Herder, für den das Medium als unfassbarer Stoff und Träger die Basis für eine wahre Äthermetaphysik bildet: Es mögen viel Medien in der Schöpfung sein, von denen wir nicht das mindeste wissen, weil wir kein Organ zu ihnen haben, ja es müssen derselben viel sein, da wir fast bei jedem Geschöpf Wirkungen sehen, die wir uns aus unsrer Organisation nicht zu erklären vermögen.18
Bei Friedrich Schleiermacher, einem wichtigen Vorläufer der späteren Religionswissenschaft, wird schließlich die in Romantik und Idealismus bereits verhandelte Spannung zwischen dem Medium und der wahren Mensch-, Naturund Gotteserkenntnis deutlich. Schleiermacher hat in diesem Zusammenhang eine Hierarchie der Gotteserfahrung und ihres (medialen) Ausdruckes entwickelt: Im Zentrum steht die Unmittelbarkeit Gottes, die im Diesseits unerreichbar bleibt. Es folgt die dem Mystiker eigene Sprache des Schweigens: »… [S]o wie eine solche Rede Musik ist und auch ohne Gesang und Ton, so ist auch eine Musik unter den Heiligen, die zur Rede wird ohne Worte, zum bestimmtesten, verständlichsten Ausdruck des Innersten.«19 Dem gewöhnlichen, vom religiösen Gefühl erfassten Menschen bleibt die mündliche Rede in ihrer höchsten sprachlichen Form vor der Gemeinde seiner religiösen Mitmenschen. Am Ende dieser Hierarchie Schleiermachers steht das geschriebene Wort.20 Aber religiöse Mitteilung ist nicht in Büchern zu suchen, wie etwa andere Begriffe und Erkenntnisse. Zu viel geht verloren von dem ursprünglichen Eindruck in diesem Medium … nur wenn sie [die Wirkung: d. Verf.] verjagt ist aus der Gesellschaft der Lebendigen, muß sie ihr vielfaches Leben verbergen im toten Buchstaben. 21
Abseits von der viel späteren lexikalischen Erfassung des modernen Medienbegriffes firmieren schon 1799 bei Schleiermacher – durch und durch religiös konnotiert – Bücher als »Medien«. Schleiermacher ist für die nachfolgende Erörterung deshalb von so großer Bedeutung, da sich aus seinem erfahrungs17 | Hagen 2008, 26-28. Vgl. a.a.O., 17-26. 18 | Herder 1965, 85. Vgl. auch Hagen 2008, 26-29; auch Hoffmann 2002, S. 30-56. 19 | Schleiermacher 1993, 123. 20 | Vgl. Hoffmann 2002, 104ff. 21 | Schleiermacher 1993, 120.
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orientierten Religionsbegriff sowohl das Religionsverständnis der religionswissenschaftlichen Phänomenologen (Rudolf Otto, Gerardus van der Leeuw, Friedrich Heiler, Mircea Eliade) als auch sekundär der wichtigsten Vertreter der Wissenssoziologie ableitet (Karl Mannheim, Max Scheler, Peter Berger). Die Spannung zwischen religiöser Erfahrung und medial vermittelter Erfahrung blickt damit bereits auf eine 200-jährige Geschichte zurück, die sichtbare Spuren in der theologischen und weiteren Diskussion um Film, Fernsehen und das Internet hinterlassen hat. Diese frühen philosophischen und theologischen Diskurse des Medienbegriffes verlaufen parallel zur Entwicklung der Fotografie, die 1719 mit der Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbernitrat durch den Mediziner, Historiker und Altphilologen Johann Heinrich Schulze einsetzt. Durch eine Schablone mit ausgeschnittenen Buchstaben ließ Schulze Sonnenlicht auf eine Wanne mit Salzsediment scheinen, das sich an den bezeichneten Stellen dunkel verfärbte. Andere Möglichkeiten zur Abbildung natürlicher Motive mittels der schon aus antiken und arabischen Quellen bekannten camera obscura und Verfahren zur chemischen Fixierung der Lichtbilder folgten,22 so dass Joséph Nicéphore Nièpce in den 1820er Jahren erste »Heliografien« mit Bildern seiner unmittelbaren Umgebung auffangen und fixieren konnte. Im Austausch mit Nièpce verbesserte und vereinfachte Louis Daguerre das Fixierverfahren und konnte ab 1839 die Erfindung der Daguerrotypie auch kommerziell verwerten. Der englische Erfinder William Talbot fügte mit dem Negativ-Positiv-Verfahren die Möglichkeit der Vervielfältigung von Bildern hinzu, sein Freund John Herschel formte im März 1839 den Begriff der photography für alle lichtempfindlichen Bildverfahren.23 Bemerkenswert ist nun, dass die Fotografie nicht wie andere technische Entwicklungen »erfunden« wurde, sondern dass im Englischen, im Deutschen und Französischen von der »discovery«, »Entdeckung« und »découverte« gesprochen wird. Aus Sicht von Nièpce, Daguerre und Talbot war die Fotografie kein technisches Verfahren, sondern es war die »Autografie des Lichtes«, ein automatisches Schreiben der Natur selbst auf einer präparierten Folie – der erste gedruckte Fotoband von Talbot trug denn auch den Namen The Pencil of Nature (1844). Fotografie war auf diese Weise von Beginn an mit dem empiristischen Wahrheitsanspruch verbunden, die Wirklichkeit unverfälscht und unabhängig von menschlichen Gefühlen, Meinungen und Launen wiederzugeben.24
22 | Die camera obscura ist eine Lochkamera, die die Projektion eines beliebigen natürlichen Bildes auf eine Folie erlaubt und das Abzeichnen erleichtert. Vgl. Hick 1999, 47-80. 23 | Vgl. Eder 1972, 60-63, 258. 24 | Vgl. Warner Marien 2002, 23; Hick 1999, 264-275.
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Zeitgleich mit der Entwicklung der Fotografie verbreitete sich von den Vereinigten Staaten ausgehend der moderne Spiritismus in der ganzen westlichen Welt und faszinierte knapp ein Jahrhundert lang die geistigen und künstlerischen Eliten und breite Schichten des Bürgertums. Der zeitgenössische Spiritismus ist dabei selbst erst eine Folge der Entwicklung neuzeitlicher »Jenseitsvorstellungen«, die nach der Überwindung des mittelalterlichen Weltbildes eine neue Geografie des »Himmels« entwarfen. Diese Konstruktion des »Jenseits« verläuft zeitgleich mit der Entdeckung der neuen Wahrnehmungsfähigkeiten mittels technischer Medien, vom Fernrohr bis zur Fotografie.25 In den 1850er Jahren zählte die weitverzweigte Bewegung des Spiritismus in den USA bereits um die zwei Millionen Anhänger, die regelmäßig an Séancen teilnahmen. Im Oktober 1861 nahm dann im Staat New York die Geisterfotografie ihren Anfang. Der Amateurfotograf William H. Mumler nahm ein Selbstportrait aus dem Entwicklerbad und auf dem Abzug entdeckte er eine zweite Gestalt, die er später als eine jung verstorbene Verwandte identifizierte. Er präsentierte die Fotoplatte einem bekannten Spiritisten, der das Ereignis sofort publik machte: Hier lag nun der objektive Beweis vor, dass es eine Geisterwelt und ein Fortleben im Jenseits gab. Mumler selbst war von seinen Fähigkeiten als »medialer Fotograf« überzeugt und eröffnete 1886 in New York ein Atelier, das sich auf die Geisterfotografien spezialisiert hatte. Trotz zahlreicher offensichtlicher Betrugsfälle und einiger gerichtlicher Verurteilungen blieb die Geisterfotografie, die in der Kontinuität der Totenfotografie stand, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts populär. Allerdings war der Status des Wahrheitsmediums der Fotografie in Bezug auf die Geisterfotografie erodiert, denn Fotojournale für Amateurfotografen listeten in dieser Zeit bereits über 200 technische Möglichkeiten auf, wie man diese Erscheinungen auf die Fotoplatten projizieren konnte. Das Genre entwickelte sich zum Amüsement.26 Neuen Auftrieb erhielt die spiritistische Fotografie durch den angesehenen Pariser Facharzt für Nervenleiden, Hippolyte Baraduc, der auf einem selbst angefertigten Portrait seines Sohnes unerklärliche Schlieren und Linien um dessen Kopf herum bemerkte. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte dabei die Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895, die sofort zur Unterhaltung der feinen Gesellschaft eingesetzt wurde: Man veranstaltete Séancen in Salons, die mit einem Röntgenstrahler beleuchtet wurden, der Gläser, Schmuck, Lüster, präparierte Skelette und Geisterdarsteller in ein bläuliches Licht tauchte. Die Röntgenstrahlen waren für Baraduc und viele andere nun der Beleg, dass es neben den sichtbaren Kräften und Stoffen noch eine Unzahl unsichtbarer Wirkmäch25 | Vgl. Zander 2009, 17-22, 36-49. 26 | Vgl. Dieckmann 2003, 149-160; Fischer & Loers 1997, Abb. 46-51, 89f.; Fischer 1995, 506f.; Adamowsky 2008, 56-64; Roberts 1993, 374; Oepen et al. 1999, 107; Hoffmann 2002, S. 129-136; Hochgeschwender 2009.
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te geben müsse. Man zog die Parallele zum ein Jahrhundert zuvor in Paris wirkenden Arzt Franz Anton Mesmer und seiner Vorstellung des feinstofflichen Fluidums, der »Allfluth«. In diesem Sinne zeigte sich auch schon die Begründerin der Theosophie, Helena P. Blavatsky, unter dem Eindruck der Erfindung des Telefons von den künftigen Entdeckungen der unsichtbaren Welten und Energien durch die naturwissenschaftliche Forschung begeistert.27 Analog der Röntgenstrahlen würden begabte Medien demnach über ein astrales Licht verfügen, das es ihnen ermöglichte, in Briefumschlägen verborgene Botschaften zu lesen, Bodenschätze im Erdinneren aufzuspüren und in die Zukunft zu sehen. Baraduc erkannte in seinen »aureatischen Ikonografien«, in den Anordnungen und Formen der Lichtschlieren, den Ausdruck von Seelenkrankheiten oder seelischen Regungen. William Crooke und Louis Darget entwickelten diese »Gedankenfotografie« schließlich zur Skotografie weiter, bei der eine Fotoplatte gar nicht mehr belichtet wird, sondern dem Medium direkt auf der Stirn befestigt wird. Die Faszination an der Gedankenfotografie hielt sich noch bis in die 1920er Jahre, obwohl längst klar war, dass die Wärmestrahlung des menschlichen Körpers die Spuren auf dem hochempfindlichen Fotomaterial hinterließ.28 Eine dritte Welle der spiritistischen Fotografie läutete der Münchner Hypnosearzt Albert von Schrenck-Notzing mit seinem Buch Materialisationsphänomene (1913) ein, das zahlreiche Bilder von spiritistischen Medien präsentierte, die allem Anschein nach aus sich selbst heraus Formen und Phantomgestalten aus Ektoplasma produzieren konnten. Ergänzt wurden die fotografischen Zeugnisse angesichts des allgegenwärtigen Betrugsverdachtes durch plastische Abdrücke von Händen oder Füßen der anwesenden Geister.29 So sehr die Bewegungen des Okkultismus in der Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts marginalisiert wurden, darf man sich jedoch nicht darüber hinweg täuschen, wie verbreitet diese Praktiken auch noch nach der Jahrhundertwende waren: Psychologische Gesellschaften in Paris, Rom und München oder die in London ansässige Society for the Study of Supernormal Pictures widmeten sich oft in enger Verbindung zu theosophischen Gruppen spiritistischen Praktiken. Schriftsteller wie Arthur Conan Doyle, Thomas Mann und Künstler
27 | Vgl. Blavatsky 1907, 127. 28 | Vgl. Chéroux 1997, 11-18; Dieckmann 2003, 149-160; Fischer & Loers 1997, Abb. 38-45, 88f.; Fischer 1995, 513-518; Oepen et al. 1999, 181f., 246f. Fortgesetzt wurden diese fotografischen Praktiken bis heute in der Kirlianfotografie, die elektrische Ströme mithilfe von Koronarkameras bildlich festhält. Vgl. Oepen et al. 1999, 152f. 29 | Vgl. Fischer & Loers 1997, Abb. 78-80, 94f.; Fischer 2007, 137-142; Tissandier 1973, 224-230; Dieckmann 2003, 154f.; Werner 1991, 139, 598.
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von Wassily Kandinsky bis August Strindberg beteiligten sich fasziniert an den Séancen.30 Vor diesem Hintergrund muss auch die wohl folgenschwerste »Fotografie des Unsichtbaren« eingeordnet werden, die der Fotograf Secondo Pia 1898 vom Turiner Grabtuch anfertigen durfte. Im Fotonegativ zeichnete sich deutlich das Körperbildnis eines bärtigen Mannes ab. Trotz der mittelalterlichen Belege, die das Tuch als zeitgenössische Fälschung ausweisen, konnte der objektive Status der Fotografie eine eigene Wissenschaft um die Echtheitsfrage des Grabtuches, die Sindonologie, inspirieren und einen modernen Reliquienkult beflügeln, der in der jüngst vorgenommenen dreidimensionalen Rekonstruktion des angeblichen Gesichtes Jesu auf der Grundlage des Turiner Grabtuches gipfelt.31 Mit den einführenden Bemerkungen zur Vorgeschichte des Medienbegriffes ist offensichtlich geworden, dass bereits der Begriff des Mediums kulturell und religiös aufgeladen ist und auf tiefe Spannungen verweist, die im Kern auch religiöse Fragen berühren. Medien werden genutzt, um den Mitmenschen über Räume und Zeiten hinweg individuelle oder auch kollektive Erfahrungen mitzuteilen. Die Vermittlung religiöser Erfahrungen von Einzelnen oder Gruppen wirft damit stets das Problem der Authentizität der Botschaften oder des Geschauten auf: Ist ein Offenbarungserlebnis echt? Sind die Botschaften der Gottheiten an die Menschen glaubhaft? Wie kann Unsichtbares sichtbar gemacht werden, ja darf es überhaupt sichtbar gemacht werden? Die »mediale Religion« ist aus der Perspektive eines erfahrungsorientierten Religionsverständnisses damit immer ein Problem, wie dies Schleiermacher so eindrücklich dargelegt hat. Diese Spannung zwischen der (angenommenen) Authentizität unmittelbarer Erfahrung einer »transzendenten« oder »heiligen« Wirklichkeit und ihren medialen Repräsentationen war (und ist) nicht nur für die theologische, sondern auch für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Religion und Medien prägend. Auch aus wissenschaftlicher Sicht ist das Verhältnis zwischen Religion und Medien problematisch, wenn unter Religion die Erfahrung einer außeralltäglichen, transzendenten Wirklichkeit verstanden wird, wenn also Religion als das »ganz Andere« konzipiert wird, das der Profanität der Alltagserfahrung gegenübergestellt wird. Vor diesem Hintergrund ist die »mediale 30 | Vgl. Fischer & Loers 1997, Abb. 56f./90f., 91; Loers & Witzmann 1995, 238-241. Zum Verhältnis von Medien und Spiritismus zur Frühgeschichte der Theosophie vgl. Hödl 2003, 498f.; Zander 2009, 41-45. 31 | Vgl. Belting 2005, 63-67; Dieckmann 2003, 160-164. Die Bild-Zeitung bezeichnet die 3D-Rekonstruktion als gewaltigen Fortschritt, der jegliche Zweifel an der Echtheit des Grabtuches »für den Moment vergessen lasse«. Vgl. www.bild.de/BILD/ news/2010/04/01/sensation-turiner-grabtuch-3d/computer-experten-erstellen-erstmals-abbildung-von-jesus-christuhtml (02.04.2010).
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Religion« ein Problem, denn es dürfte sie gar nicht geben. Religion kann nach diesem Verständnis nicht medial sein, sondern wäre per definitionem unmittelbare Erfahrung oder bestenfalls deren schwacher Abglanz.
1.2 W ISSENSSOZIOLOGISCHE H ERMENEUTIK Die Wissenssoziologie bildet den methodologischen Rahmen der vorliegenden Untersuchung.32 Die Wissenssoziologie ist eine neuerdings entstandene soziologische Disziplin, die als Theorie eine Lehre von der sogenannten ›Seinsverbundenheit‹ des Wissens aufzustellen und auszubauen und als historisch-soziologische Forschung diese ›Seinsverbundenheit‹ an den verschiedenen Wissensgehalten der Gegenwart herauszustellen bestrebt ist. 33
Aus dieser einleitenden Bemerkung Karl Mannheims, einem der Begründer der Wissenssoziologie, geht klar hervor, dass im Zentrum die These von der Sozialität von Wissen und Erkennen steht. »Sie sieht den erkennenden Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs, der selbst in den Prozess des Erkennens und den Inhalt des Erkannten bzw. Gewussten eingeht.«34 Im Gegensatz zur spekulativen Philosophie, die das Denken nur in seiner Immanenz betrachtet, berücksichtigt die Wissenssoziologie die historisch-soziologische Gesamtkonstellation und die Wandelbarkeit und Zeitgebundenheit bestimmter Denk- und Erkenntnismuster. Aufgabe ist also die Analyse des gesellschaftlichen Zusammenhangs bestimmter Denkweisen und Haltungen.35
32 | Das Interesse an wissenssoziologischen Fragestellungen ist heute so groß wie seit vier Jahrzehnten nicht mehr. Noch auf dem Panel zur Wissenssoziologie auf dem XIII. World Congress of Sociology im Jahr 2002 waren weniger als zehn Personen anwesend, die Hälfte davon waren deutsche Kongressteilnehmer (von mehr als 5000 Teilnehmern insgesamt). Inzwischen jedoch ist die Wissenssoziologie aus ihrem Winterschlaf erwacht: Neue Perspektiven der Wissenssoziologie werden ebenso präsentiert wie Standpunkte einer hermeneutischen Wissenssoziologie. Während Hubert Knoblauch ein erstes umfassendes Einführungswerk in die Wissenssoziologie vorlegt, hat Bernt Schnettler kürzlich die Buchreihe Klassiker der Wissenssoziologie begründet. Vgl. Tänzler & Knoblauch & Soeffner 2006; Hitzler & Reichertz & Schröer 2003; Knoblauch 2005; Schnettler 2006. 33 | Mannheim 1995, 227; vgl. auch Mannheim 1984, 47. 34 | Knoblauch 2005, 14. 35 | Vgl. Mannheim 1984, 47ff.; Mannheim 1995, 3ff.; Knoblauch 2005, 14f.
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Seit den ersten wissenssoziologischen Programmatiken, die an späterer Stelle noch eingehend diskutiert werden, hat sich die Wissenssoziologie natürlich weiterentwickelt und insbesondere seit den 1970er Jahren Aufgaben und Verfahren der sogenannten wissenssoziologischen Hermeneutik entworfen. Im Rahmen von Theologie und Philosophie befasste sich die Hermeneutik zunächst mit Prozessen des Verstehens, Auslegens und Interpretierens von Texten. Aber schon Max Weber definierte in seinen soziologischen Grundbegriffen die Soziologie, als … eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. »Handeln« soll dabei ein menschliches Verhalten … heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. »Soziales« Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist. 36
Das Verstehen und Erklären von menschlichem Handeln rückt ins Zentrum des soziologischen Interesses. Nach diesem Verständnis konstituiert sich der Sinn von sozialem Handeln erst im Austausch, in der Interaktion und Kommunikation mit unseren Mitmenschen. Im Modell der wissenssoziologischen Hermeneutik bedeutet dies, dass Subjekte nicht zwanghaft aufgrund äußerer Bedingungen handeln und denken. Das Handeln des einzelnen Menschen wird nicht durch die Natur, durch soziale Strukturen, Systeme oder Diskurse determiniert, »sondern jedes Außen wird von der Deutung des Handelnden gebrochen. Dieses ›Äußere‹ besitzt nur dann Kraft und manchmal auch Macht über den Handelnden, wenn es durch ihn und damit auch für ihn Bedeutung hat.«37 Sinn entsteht für den Einzelnen durch die Auslegung der Alltagserfahrungen der sozialen Lebenswelt. Dies ist der Kerngedanke der wissenssoziologischen Hermeneutik, wie sie im Anschluss an die Arbeiten von Alfred Schütz und Thomas Luckmann von Hans-Georg Soeffner, Ronald Hitzler, Hubert Knoblauch, Jo Reichertz u.a. gezeichnet wurde. Der von Weber angesprochene »soziale Sinn« sei laut Hans-Georg Soeffner nun nicht etwas, das sich »einfach auszählen lässt«. Die sozialen Deutungsprozesse des Alltags sind zwar keine terrae incognitae, da wir ebenfalls der sozialen Lebenswelt angehören und diese routinemäßig deuten. Doch dies heißt gleichzeitig, dass die wissenschaftlichen Rekonstruktionen »zweiter Ordnung« (Alfred Schütz) nicht nur die Weltdeutungen der »ersten Ordnung« erklärend nachzeichnen, sondern wir bewegen uns in derselben Welt und bauen unsere Interpretationen zweiter Ordnung darauf auf. Hermeneutik setzt voraus, dass 36 | Weber 1980, 1. 37 | Reichertz 2003, 332.
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diese wissenschaftlichen Auslegungsprozeduren selbst ins Bewusstsein des interpretierenden Sozialforschers gelangen.38 Genau dies ist das Anliegen meiner Studie über die religionsbezogenen Probleme und Perspektiven religionswissenschaftlicher und wissenssoziologischer Medienforschung. Die wissenssoziologische Hermeneutik wird damit auf die Wissenssoziologie selbst und die Religionswissenschaft angewendet. Dies ist in der wissenssoziologischen Programmatik von Beginn an vorgesehen, selbst wenn frühe Vertreter wie Karl Mannheim und Max Scheler dazu neigten, dem soziologischen Exegeten der Gesellschaft einen Standpunkt »über den Dingen« zuzugestehen. Gemäß der jüngeren Auffassung der hermeneutischen Wissenssoziologie kann die wissenschaftliche Betrachtung nicht den Anspruch erheben, nun »die objektive Sicht der Dinge« zu produzieren. Von den nichtwissenschaftlichen Alltagstheorien unterscheidet sich das wissenschaftliche Vorgehen jedoch durch die systematische Offenlegung und Kritisierbarkeit der Erkenntniswege. Konkurrierende wissenschaftliche Deutungen bilden die Kontrollinstanz des gewonnenen Befundes. Die Erkenntnisse können damit einem systematischen Zweifel unterworfen werden.39 Jede wissenschaftliche Aktivität ist allerdings wie jede andere Form der Auslegung des Alltags historisch und kulturell situiert.40 Anders als die Naturwissenschaften bilden diese kulturellen Rahmenbedingungen auch den Untersuchungsgegenstand von Geistes- und Sozialwissenschaften: »Blicken die Naturwissenschaften, metaphorisch gesprochen, von innen nach außen, auf das, was außen ist, dann blicken die Geistes- und Sozialwissenschaften von innen auf ein Außen, das ein Innen ist.«41 Die historische Bindung, die Historizität, von wissenschaftlicher Weltsicht und Deutung darzustellen, gehört daher zu den Aufgaben der wissenssoziologischen Hermeneutik.42 Soeffner zeigt auf, dass sich Sozialwissenschaftler zwar gerne mit den Ideologien und »Mythen des Alltags« ihrer Probanden befassen, aber nur selten der Frage nachgehen, inwieweit denn ihre eigenen »Mythen« aus jenen hervorgehen und hergeleitet werden.43 Sichtbar werden diese »Mythen« vor allem dann, wenn neuartige gesellschaftliche Ereignisse oder Strukturen erscheinen 38 | Vgl. Soeffner 1989, 7-9. 39 | Hier setzt auch die Kritik der hermeneutischen Wissenssoziologie an den Verfahren der objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns an, die die Objektivität ihrer Resultate gemäß eines strengen Interpretationsverfahrens behauptet. Vgl. Soeffner 1989, 96; Knoblauch 2005, 177-180; Reichertz 2003, 331ff. 40 | Vgl. Luckmann 2006, 15f.; Knoblauch 2005, 181; Gadamer 1993, 281; Stark 1980, 306; Hitzler 2003, 302-304. 41 | Luckmann 2006, 15f. Vgl. ebd.; Luckmann 2003, 309ff. 42 | Vgl. Soeffner 1989, 74-77. 43 | Vgl. Soeffner 2006, 51f.
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und geradezu nach wissenschaftlicher wie sonstiger Deutung schreien. Ganz plastisch können wir diesen Vorgang, nun aus einiger zeitlicher Distanz, bei der Durchdringung der philosophischen, soziologischen und religiösen Deutungen des Internet zu einer universalen Sozialutopie der Freiheit, Harmonie und Demokratie der »Netzwerkgesellschaft« beobachten.44 Wissenschaft ist damit ein Akteur unter vielen, der Sinn produziert. Dies trifft insbesondere das Feld von empirischer Religionsforschung und Religionstheorie, das in großem Maße von theologischen Akteuren geprägt ist. Film und Fernsehen als Medien und deren Inhalte sind hier Gegenstände, mit denen sich Theologie auseinandersetzen muss; sie muss deren Standort in der Spannung zwischen der Sakralität und Profanität der Welt klären. Dieses besondere theologische Erkenntnisinteresse hat allerdings auch für die akademische Religionswissenschaft und sonstige Medien- und Kommunikationswissenschaft spürbare Konsequenzen, wenn sie sich mit religiösen Sujets und Formaten befassen will. Der Großteil der entsprechenden Forschungsliteratur wird von Theologen geschrieben, die die Themen und Forschungsfragen »setzen«, wie bspw. der ausufernde Diskurs zur »Fernsehreligion«.45 Was will die hermeneutische Wissenssoziologie mit ihrer kritischen Aufarbeitung der historischen, philosophischen und religiösen Kontexte nun erreichen? »Hermeneutische Kritik ist weder Strafgericht noch Besserwisserei. Sie will vielmehr etwas über das in den Dokumenten und in der Deutung enthaltene Wissen wissen, über seine Herkunft, Konstitution, Wirksamkeit und über seine Alternativen.«46 Diese »Alternativen« für die religionsbezogene Medienforschung aufzuzeigen, ist nach der Problematisierung der bisherigen wissenschaftlichen Zugänge das zweite Interesse der vorliegenden Studie.
1.2.1 Religionswissenschaft und Wissenssoziologie Seit Begründung der Wissenssoziologie in den 1920er Jahren gab es bereits eine Reihe von Berührungspunkten mit der Religionswissenschaft. Frühe Wissenssoziologen wie Karl Mannheim und Max Scheler beziehen sich auf das Werk Joachim Wachs; in dessen wissenschaftstheoretischer Grundlegung der Religionswissenschaft (1924) ist Scheler wiederum einer der am häufigsten referierten Autoren.47 Spätere Wissenssoziologen wie Peter Berger berufen sich explizit auf den erfahrungsorientierten Religionsbegriff des religionswissen44 | Marshall McLuhan und Teilhard de Chardin standen hier Pate, als Manuel Castells, Pierre Lévy und viele andere um die Jahrtausendwende diese große Sozialutopie des Internet entwarfen. Vgl. Abschnitt 4.8.3 Gaia, Gott und die Noosphäre. 45 | Vgl. Abschnitt 4.7.2 Medienkritik und die Konstruktion der »Medienreligion«. 46 | Soeffner 1989, 93. 47 | Vgl. Wach 2001, 24f., 32, 42, 70, 99, 104-110, 120, 126, 166, 172ff., 193, 201.
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schaftlichen Phänomenologen Rudolf Otto. In der jüngeren Religionswissenschaft haben sich Ninian Smart und Fritz Stolz für den wissenssoziologischen Ansatz stark gemacht. Smart sieht in der Wissenssoziologie die Chance für eine neue methodologische Fundierung der Religionswissenschaft in Abgrenzung zur Theologie und zur klassischen Religionsphänomenologie. Mithilfe der Wissenssoziologie kann laut Smart das Verhältnis der inneren Dynamik einer Religion zu den sozialen Kräften ihrer gesellschaftlichen Umwelt untersucht werden.48 Aus der Sicht von Fritz Stolz, der sich vor allem auf den Ansatz Peter Bergers bezieht, eröffnet die Wissenssoziologie den Blick auf die grundlegenden Strukturen gesellschaftlicher Legitimation, die in der sinnstiftenden Funktion von Religion ihren Ausdruck finden.49 Vor Kurzem hat auch der Bochumer Religionswissenschaftler Volkhard Krech in seiner Schrift »Wohin mit der Religionswissenschaft?« ein eindringliches Plädoyer für den wissenssoziologischen Ansatz als Vorbedingung einer integralen Religionswissenschaft geführt. Aus dieser Perspektive wäre es möglich, so Krech, die Wechselwirkungen zwischen religiösen Semantiken einerseits und sozial- sowie gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen andererseits in den Blick zu nehmen.50 Eine systematische und vertiefte Auseinandersetzung mit der Wissenssoziologie und ihrem spezifischen Religionsbegriff hat bisher nicht stattgefunden. Die Klärung dieses Vorverständnisses ist jedoch – ganz im Sinne der wissenssoziologischen Hermeneutik –Voraussetzung für die Erörterung der Probleme und Perspektiven der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Medienforschung. Die Verbindung beider Disziplinen birgt ein immenses erkenntnistheoretisches Potenzial, sowohl im Hinblick auf die kritische Diskussion des Religionsbegriffes in der Wissenssoziologie als auch für die wissenssoziologische Kontextualisierung des Umgangs mit neuen Medien in der Religionswissenschaft. Die Religionswissenschaft und die Wissenssoziologie selbst müssen hier als Teil der europäischen Religions- und Geistesgeschichte verstanden werden. Der vorderhand erläuterte, selbstreflexive Prozess schließt damit die Erörterung über das Verhältnis der Wissenssoziologie zu Religion und Medien mit ein. Wie sich zeigen wird, ist dieses Verhältnis nicht unproblematisch, da die Wissenssoziologie vorwiegend mit einem erfahrungsorientierten Religionsbegriff arbeitet, der gewisse Schwierigkeiten für die Thematik von Religion und Medien aufwirft. Auch die analytischen Kategorien, sowie die Wertungen und Selektionen gegenüber dem engeren Forschungsgegenstand von Religion und Medien unterliegen meist noch einem theologisch oder philo48 | »The sociology of knowledge when it is taking cognizance of the sociology of some type of ideology is liable to show the significance of forces outside the inner dynamics of the given religion.« Smart 1973, 153. Vgl. dazu Smart 1973, 4, 149-160. 49 | Vgl. Stolz 2001, 57-63. 50 | Vgl. Krech 2006, 105ff.
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sophisch geprägten Vorverständnis. Dieses gilt es hier offenzulegen, um dem gesamten Forschungsfeld von Religion und Medien die Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, die seiner Rolle bei der Vermittlung von religiösen Wissensbeständen im historischen wie gegenwärtigen religiösen Leben gerecht wird. Die nachfolgenden Ausführungen befassen sich just mit diesem gemeinsamen Problem der Religionswissenschaft und der Wissenssoziologie. Dies betrifft sowohl religionsgeschichtliche Phänomene wie die Konstruktion »Heiliger Schriften« als auch neue Medien wie Radio, Film, Fernsehen und Internet, mit denen sich die vorliegende Abhandlung schwerpunktmäßig beschäftigen wird. In all diesen Fällen sind spezifische Deutungsmuster, Selektionen und Ausblendungen gegenüber den entsprechenden Medien und bestimmten Medieninhalten zu beobachten, die zum Teil durch das jeweilige Religionsverständnis, zum Teil durch theologische Prämissen gelenkt werden. Es geht im Folgenden also nicht darum, verschiedene Methoden zur Analyse konkreter Medieninhalte vorzustellen und zu diskutieren, sondern es geht um die epistemologischen Rahmenbedingungen, mit denen Religionswissenschaft und Wissenssoziologie religiöse Phänomene im Feld der Medien erfassen. Um welche »Medien« geht es? Für die religionswissenschaftliche Forschung scheint mir wichtig zu sein, die Schwierigkeiten der Universalisierung des technischen Medienbegriffes auf andere Zeiten und Kulturen stets zu berücksichtigen. So wie der hiesige Medienbegriff, wie wir gerade gesehen haben, eine ganz spezifische, doppelte Vorgeschichte mit besonderen Konnotationen und Wechselwirkungen mit theologischen und philosophischen Diskursen hat, so muss dieser Tatsache in einer späteren Medienforschung, die sich verstärkt auch mit außereuropäischen Phänomenen befassen wird, Rechnung getragen werden. Um nur einen Eindruck von den Herausforderungen zu vermitteln, die der Definitionsversuch eines interkulturell anwendbaren Medienbegriffes mit sich bringen würde, sei an dieser Stelle auf das antike Orakelwesen verwiesen. Spezifische Sternenkonstellationen wurden bei den Babyloniern und im alttestamentlichen Judentum bis in das christliche Mittelalter und die Romantik als ernst zu nehmende Botschaften der Gottheiten an die Menschen betrachtet. Der Himmel und die Schrift aus den explizit so beschriebenen »Buchstaben« der Sterne fungierten gleichsam als »Medium« der Götter.51 Vergleicht man diese Einsichten mit der chinesischen Astrologie, so käme man in Versuchung, hier ein vollkommen analoges Phänomen zu erkennen. Nur leider würde diese Vorstellung ignorieren, dass der Himmel (tiān) im chinesischen Glauben der westlichen Zhou-Zeit selbst als höchste Gottheit angesehen wurde: Himmel, Wolken und Sterne waren Teile dieser Gottheit, ein Begriff des Mediums wäre hier gänzlich unangebracht.52 51 | Vgl. Tiemann 1987, Sp. 300. 52 | Vgl. Seiwert 1979, 123-128.
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Auf welche Arten von religiös genutzten Medien bezieht sich die vorliegende Untersuchung? Gerade die Religionsgeschichte ist voll von Zeugnissen sogenannter »natürlicher Schriften« der göttlichen oder wie auch immer übernatürlichen Hand, die vom Eingeweihten in der Natur gelesen werden können: Als z.B. das Vogtland im Jahre 1693 von einer Heuschreckenplage heimgesucht wurde, verbreitete sich das Gerücht, man könne im Geäder der Insektenflügel die Botschaft nos sumus exercitus Dei lesen.53 So interessant diese Fälle »natürlicher Schriften« sind und so vielfältig und schier unbegrenzt sich das Feld der für religiöse Zwecke verwendeten Medien darstellt, so notwendig ist hier eine pragmatische Beschränkung, die sich mit denjenigen weitverbreiteten Medien der Gegenwart auseinandersetzt, denen in der bisherigen Religionsforschung nur wenig Beachtung geschenkt wurde. In der vorliegenden Studie wird nicht der Versuch unternommen, in die schon umfangreiche Debatte eine weitere Definition der Medien einzubringen; dies soll der medienwissenschaftlichen Theoriebildung überlassen bleiben.54 Stattdessen soll mit dem Verständnis von Medien als Speicher- oder Übertragungsmedien von Texten, Bildern, Tönen und audiovisuellen Aufzeichnungen sowie deren Übertragungen lediglich das Forschungsfeld abgegrenzt werden. Der Hauptteil dieser Studie befasst sich daher mit Zeitschriften, der Fotografie, dem Telefon, dem Film, dem Radio, dem Fernsehen und dem Internet.55
1.2.2 Zur Analyse von Deutungsmustern In einem anderen Sinn als dies McLuhan intendierte, folgen wir dem Diktum the medium is the message. Dort, wo McLuhan die technischen Bedingungen 53 | Dt.: »wir führen den Willen Gottes aus«. Vgl. Tiemann 1987, Sp. 300f. 54 | Einen guten Überblick über die anhaltende philosophische und medienwissenschaftliche Debatte liefert der Sammelband Was ist ein Medium? Vgl. Münker & Rösler 2008. 55 | Es wäre ebenfalls plausibel, den menschlichen Körper oder die Kleidung als Medium zu verstehen, die schon seit der Antike religiöse Akteure (Priester, Pilger, Neophyten etc.) von anderen Rollenträgern nach außen sichtbar unterscheidbar macht. Aus methodischen Gründen soll die Analyse von Kleidung jedoch der Semiotik vorbehalten bleiben, Kleidung wie auch Körper sollen als Zeichen verstanden werden. Die Studie der Produktionsmechanismen und Rezeptionsprozesse von Texten, Bildern und audiovisuellen Aufzeichnungen unter der Berücksichtigung des Medienapparates kann mithilfe medienwissenschaftlicher Methoden bewältigt werden, während sich in Bezug auf die Verwendung und Deutung von Kleidungsstücken oder Körpern semiotische Verfahren eher anbieten. Höpflinger (2008) hat bspw. Kleidung als Medium der Geschlechterkonstruktion betrachtet. Zu semiotischen Verfahren der Deutung von Kleidung vgl. Yan 2008, 11-21.
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im Blick hatte, die ein bestimmtes Medium innehat, und damit je ganz spezifische Folgen für die gesellschaftlichen Formen der Kommunikation und des menschlichen Denkens impliziert, dort soll nun eine hermeneutische Perspektive eingenommen werden. Das heißt, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass den Medien unabhängig von ihren rein technischen Aspekten kulturell und religiös begründete Bedeutungen zugeschrieben werden, die ihrerseits für die Wahrnehmung der jeweiligen Medieninhalte prägend sein können. Man müsste also hermeneutisch statt deterministisch formulieren: The medium is a message. Diese übergeordneten, interpretativen Deutungsmuster von Medien sind keine überzeitlichen Konstanten, sondern unterliegen einer Dynamik, die sich zwischen pragmatischen Nutzenerwägungen, situativen und habitualisierten Nutzungsbedingungen und kulturellen wie auch religiösen Ideen entfaltet. Der Begriff des Deutungsmusters wird hier in einem sehr weiten Sinne für bestimmte kulturelle und religiöse Interpretationen von Medien verwandt, die spezifische thematische Bezüge und argumentative Muster verfolgen und einen gewissen Verbreitungs- und Abstraktionsgrad erlangt haben.56 Das Medium Fernsehen mit Bezug auf das Alte Testament als »Baalsreligion« in Konkurrenz zum Christentum zu verstehen, ist bspw. ein solches Deutungsmuster. Angela Keppler bindet die Analyse von Deutungsmustern in die Medienrezeptionsforschung ein. Medienhandeln im weitesten Sinn – und dies betrifft nun sowohl den Bereich der Produktion wie den der Rezeption – ist als sinnverstehendes und sinnkonstituierendes, kurz: sinnhaftes Handeln zu begreifen und zu analysieren. Individuelle und gesellschaftliche Deutungsmuster werden von Individuen im Rahmen spezifischer struktureller Bedingungen produziert, konsumiert und reproduziert. 57
Diese Deutungsmuster können helfen, die Komplexität der sozialen Lebenswelt zu reduzieren und damit verstehbar zu machen. Michael Schetsche verweist in seiner vertiefenden Diskussion des Konzeptes darauf, dass sich Deutungsmuster in der ursprünglich von Ulrich Oevermann intendierten Form auf Alltagswissen und nicht auf wissenschaftliche Wissenssphären beziehen. Die wissenschaftstheoretische Terminologie halte, so Schetsche, bereits genügend Begriffe parat, um die verschiedenen Geltungsbereiche wissenschaftlicher Theorien prä56 | Seit seiner Einführung durch Ulrich Oevermann hat das Konzept der »sozialen Deutungsmuster« ein vielfältiges und unübersichtliches Eigenleben entwickelt. Das erlaubt es allerdings auch, den Begriff mit anderen Gewichtungen in der Religionswissenschaft einzusetzen. Vgl. zur kritischen Diskussion des Begriffes Schetsche 2000, 109-130; Knoblauch 2005, 178ff. 57 | Keppler 1998, 183f.
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zise zu beschreiben. Den »Deutungsmustern« des Alltagswissens würden die »gegenstandsbezogenen Theorien« in der Wissenschaft entsprechen.58 Den Begriff der Deutungsmuster dennoch auch für interpretative Leistungen der Wissenschaft, für Theorien mit beschränkter Reichweite, anzuwenden, erscheint im speziellen Verhältnis von Religion und Medien legitim. Denn erstens gehören Medienerfahrungen auch zu den Alltagserfahrungen jedes Wissenschaftlers (selbst wenn man bekennender Medienverweigerer oder Verächter ist, wie viele prominente Soziologen) und verlangen nach Interpretation. Zweitens jedoch sind wissenschaftliche Theoriebildung und die populär verbreiteten Mediendeutungen dermaßen ineinander verwoben, dass es im Einzelfall nur schwerlich zu beurteilen wäre, ob ein bestimmter Gedanke nun »gegenstandsbezogene Theorie« oder alltägliches »Deutungsmuster« wäre. Von Hans Magnus Enzensbergers essayistischer Medienverdammung im Baukasten zu einer Theorie der Medien (1970) über die theologische Konsum- und Fernsehkritik Dorothee Sölles bis hin zur rezenten Konstruktion einer »Medienreligion« werden die gleichen Deutungsmuster aktiviert. Vielleicht ist es gerade eine Eigenart der Interpretationen des Verhältnisses von Religion und Medien, dass hier wissenschaftliche und populär-essayistische Deutungen derart unscharf voneinander zu differenzieren sind. Die Stärke des hermeneutischen Ansatzes liegt nun gerade darin, auch die Wissenschaft als Teil größerer sozialer, kultureller und religiöser Weltdeutungen zu verstehen, denen sie sich nicht entziehen kann. »Deutungsmuster« als Brückenbegriff zwischen wissenschaftlicher Sphäre und Alltagswissen zu verstehen, bietet sich für dieses Problem besonders an. Worum geht es also im Konkreten? Die amerikanische Theologin und Medienwissenschaftlerin Heidi Campbell hat in Bezug auf die praktische Nutzung in ihrem Buch When Religion meets New Media das soziologische Modell des social shaping of technology fruchtbar angewandt. Unter einer pragmatischen Perspektive werden Fragen behandelt, wie bspw. die Amischen oder ultraorthodoxe Juden das Telefon für sich nutzbar machen können, obwohl der Einsatz dieser Technologien ihren traditionellen religiösen Doktrinen widerspricht. Der Ansatz des social shaping of technology ist problemorientiert und beschreibt treffend die Domestifikationen neuer Medien in ausgewählten religiösen Gemeinschaften.59 Noch vor diesen pragmatischen Erwägungen steht die Diskussion von dominanten Deutungsmustern bestimmter Medien, die uns insoweit interessieren soll, als wie sie eine gewisse Relevanz für die Ausrichtung religionswissenschaftlicher und wissenssoziologischer Forschung selbst erlangt haben. Welche 58 | Vgl. Schetsche 2000, 124; Knoblauch 2005, 178ff. 59 | Vgl. Campbell 2010a, 41-63. Heidi Campbell ist darüber hinaus die Vernetzung aktueller Medienstudien im Religionsbereich zu verdanken: http://religionmeetsnewmedia.blogspot.com (01.11.2010).
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Gründe haben bspw. dazu geführt, dass religiöse Fernsehinhalte nahezu völlig unerforscht sind? Wieso ist dagegen der Spielfilm von Beginn an von den christlichen Kirchen mit Wohlwollen aufgenommen worden und wie hat diese Haltung die religionswissenschaftliche Filmforschung beeinflusst? Dieses Vorgehen beruht auf der Beobachtung, dass in religiösen Traditionen selbst bereits »Medientheorien« entwickelt werden, die vor allem aus dem angesprochenen Problem der Authentizität der nur vermittelten Offenbarungen, Lehren und Erfahrungen hervorgehen. Das heißt, dass wir bereits Reflexionen über den Status und die Wirkung von Text- und Bildmedien aber auch von elektronischen Medien wie dem Fernsehen in religiösen Gemeinschaften vorfinden. In der Geschichte ließe sich als wohl deutlichstes Beispiel der Religionsstifter Mani (216-276?) anführen, der ganz bewusst anders als Zarathustra und Jesus seine Lehren schon zu Lebzeiten in Büchern festhalten wollte und seinen Jüngern als Gebot mitgab: »Achtet auf meine Bücher!«60 Mit dem leicht modifizierten Diktum the medium is a message soll also nichts weniger angenommen werden, als dass religiöse und wissenschaftliche Akteure gegenüber Medien gewisse Haltungen entwickeln, die einerseits Konsequenzen für die praktische Mediennutzung, andererseits jedoch auch für die erkenntnisleitenden Deutungsmuster ihrer Erforschung haben. In der Vergangenheit hat sich die Medienwissenschaft bereits eingehend mit der kulturpessimistischen Medienkritik auseinandergesetzt, die unter dem Einfluss der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule über lange Strecken zu einer soziologischen Ignoranz gegenüber den neuen Medien geführt hat.61 Das Fernsehen wurde in der soziologischen Debatte für lange Zeit nicht als Teil der Kultur betrachtet, sondern als Symptom des Untergangs von abendländischer Kultur. Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen, 1956), Arnold Gehlen (Die Seele im technischen Zeitalter, 1957) und Max Horkheimer sowie Theodor W. Adorno (Dialektik der Aufklärung, 1944) bewerteten die neue mediale Massenkultur als Bedrohung der althergebrachten, kulturellen Identität. Die Kultur als massentaugliche Ware der Kulturindustrie würde das Publikum nur dazu motivieren, sich mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu arrangieren und Kritik daran »auszublenden«.62 Siegfried J. Schmidt und Angela Keppler haben sich darüber hinaus mit der empirisch fragwürdigen, theoretischen Konstruktion einer »Medienreligion« beschäftigt und diese aus medienwissenschaftlicher Perspektive kritisiert.63 Ruth Ayaß macht ferner darauf aufmerksam, dass Medien meist begleitend zu ihrer Einführung in der Gesellschaft mit starken normativen Vor60 | Nicht zu unrecht hat ihn Jürgen Tubach als »bibliophilen Religionsstifter« bezeichnet. Vgl. Lehmann 1910, Sp. 547; Lanczkowski 1980, 270f.; Tubach 1997. 61 | Vgl. Ayaß 2006; Wehner 2006. 62 | Vgl. Wehner 2006, 33-43; Keppler 2010, 101f. 63 | Vgl. Schmidt 2000, 195f.; Keppler 2000, 223-228.
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stellungen verbunden werden. Sie erinnert an die als verderblich verurteilte Romanlektüre durch Frauen im 19. Jahrhundert.64 Diese Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen und teils popularisierten Medienbewertungen gehört essenziell zur medienwissenschaftlichen Theoriearbeit. Eine vertiefte und systematische Analyse der religionsrelevanten Deutungsmuster insbesondere in Bezug auf den Film, das Fernsehen und das Internet aus dem Blick der Religionswissenschaft steht allerdings noch aus und soll an dieser Stelle in Angriff genommen werden. Die Feldzugänge der Religionswissenschaft und der Wissenssoziologie sind unterschiedlich gelagert. Die Erörterung wird daher nach einem kurzen Überblick über die bestehenden Ansätze der religionswissenschaftlichen Medienforschung mit einem ausführlichen Kapitel über das Religionsverständnis der Wissenssoziologie einsetzen. Es wird sich dabei als notwendig erweisen, auch die Anfänge der wissenssoziologischen Theoriebildung insbesondere bei Karl Mannheim und Max Scheler aufzuarbeiten, die für spätere Generationen den Religionsbegriff entscheidend prägten. Die religionswissenschaftlichen Zugangsweisen zum großen Feld von Religion und Medien werden systematisch in Bezug auf die Publizistik, die Fotografie, das Telefon, den Film, den Hörfunk, das Fernsehen und das Internet beleuchtet. Die Konstruktion des religionswissenschaftlichen Konzeptes der »Heiligen Schriften« bietet darüber hinaus einen hervorragenden Einstieg, um darzulegen, wie Mediengeschichte als Religionsgeschichte betrieben werden kann, wie also bestimmte religiöse Vorstellungen über das Medium des Buches nicht nur bestimmend für die Deutungsmuster der entsprechenden Medieninhalte im religiösen Feld waren, sondern auch das Erkenntnisinteresse der Religionswissenschaft gelenkt haben. Die systematischen Einzelstudien der Medien beginnen je mit einer breit angelegten Sondierung des Feldes, die keineswegs das Vorgehen der religionsphänomenologischen Schule imitieren will. Jedoch werden nur vor der um Vollständigkeit bemühten Folie der entsprechenden inhaltlichen Medienformate (und Institutionen) die Selektionen, Ausblendungen und Schwerpunktsetzungen der bisherigen religionswissenschaftlichen und theologischen Forschungen sichtbar. Eine Analyse von wissenschaftlichen Deutungsmustern dieser Medien ist nur vor diesem Hintergrund möglich. Am Ende der Einzelstudien steht der Versuch, die gegenstandsbezogenen Deutungsmuster in den Rahmen einer gemeinsamen Meistererzählung einzuordnen.
64 | Vgl. Ayaß 2010, 297-299.
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1.3 N EUE M EDIEN IN DER R ELIGIONSWISSENSCHAF T Es scheint, als ob im vergangenen Jahrzehnt das Eis gebrochen wurde und das Thema der Medien auch in der deutschsprachigen Religionswissenschaft seinen Weg auf die Tagesordnung des akademischen Forschungsprogramms gefunden hat – wenn auch bisher nur in der Peripherie. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung, die die Medien für die Vermittlung von Weltwissen gegenüber der unmittelbaren Erfahrung unserer Umwelt erlangt haben, war diese Entwicklung mehr als überfällig. Seit 1964 hat sich das Zeitbudget der täglichen Mediennutzung in Deutschland von 3.14 Stunden auf 9.43 Stunden erhöht. Davon entfallen heute 220 Minuten auf den TV-Konsum, 187 Minuten auf das Radio, 83 Minuten auf die Internetnutzung und 23 bzw. 22 Minuten auf die Lektüre von Zeitungen und Büchern.65 Während es in den Vereinigten Staaten vor allem dem Kommunikationsforscher Stewart M. Hoover zu verdanken ist, dass sich das Forschungsfeld etablieren konnte,66 ist hierzulande erst in allerjüngster Zeit ein grundlegendes Interesse an der Thematik zu registrieren. Diese Tatsache ist vor allem der sehr spezifischen Bewertung der neuen Medien durch die deutschsprachige Theologie geschuldet, in der Medien nicht nur als missionarisches Verkündigungsinstrument, sondern auch stets als Bedrohung bewährter Strukturen wahrgenommen wurden.67 Für eine lange Periode stand daher das 1990 von Hubert Mohr u.a. initiierte »Medienprojekt Religionswissenschaft« an der Universität Tübingen völlig allein.68 Dass das Feld von Religion und Medien inzwischen innerhalb der religionswissenschaftlichen Disziplin eine gewisse Beachtung erfahren hat, dafür spricht die Tatsache, dass im Juni 2008 das Institut für Reli65 | Die Daten basieren auf der im September 2010 vorgestellten Medienanalyse Massenkommunikation 2010, die seit 1964 als repräsentative Intermediastudie im Abstand von jeweils fünf Jahren in Deutschland durchgeführt wird. Vgl. Engel & Ridder 2010, 11. Genauere Daten zur Nutzung religiöser Medien durch deutsche Katholiken wurden jüngst im repräsentativen MDG-Monitor »Religöse Kommunikation« veröffentlicht und werden hier in den Einzeldarstellungen der Medien berücksichtigt. Vgl. MDG 2010a; 2010b. 66 | Vgl. Hoover 1988, 1998, 2004, 2005. 67 | Luckmann verweist auf die Beharrlichkeit nationaler Wissenschaftskulturen. Vgl. Luckmann 2006, 15. 68 | Das Projekt wurde auf Initiative von Nachwuchswissenschaftlern angeregt, archivierte von 1990 bis 2002 religionsbezogene Sendungen der deutschen Fernsehsender, um auch den Studentinnen und Studenten einen Weg in das Praxisfeld des Journalismus zu öffnen. Eine Folge war die stark medienbezogene Ausrichtung des Metzler Lexikon Religion (1999-2002). 2002 wurden das Projekt und Archiv an die Universität Bremen überführt. Vgl. Mohr 2006, 271-275; Kurre 1995, 14-18.
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gionswissenschaft an der Freien Universität Berlin auf der Konferenz Religion und Medien eine große Bandbreite von Beiträgen – vom Karikaturenstreit bis hin zu Fernsehpredigern – versammeln konnte69 und im Oktober 2009 die Schweizer Gesellschaft für Religionswissenschaft in Basel ihre Jahrestagung dem Sujet von Religion und Massenmedien widmete. Bilder, Spielfilme, das Internet, Karikaturen, Geld und Tempel wurden hier unter einer medialen Perspektive verhandelt.70 Ein starker Impuls für die religionswissenschaftliche Medienforschung ging von 2002 bis 2010 von dem Projekt Zwischen Online-Religion und ReligionOnline: Konstellationen für Ritualtransfer im Medium Internet als Teil des Sonderforschungsbereiches Ritualdynamik an der Universität Heidelberg aus. In dieser Projektgruppe entstanden bisher die zwei Dissertationen von Kerstin Radde-Antweiler über Ritual-Design im rezenten Hexendiskurs (2008) und von Nadja Miczek über Identitätskonstruktionen und Mediennutzung im Bereich christlicher Esoterik (2009).71 Darüber hinaus wurden eine Reihe von Aufsätzen vor allem zu methodischen Fragen der religionswissenschaftlichen Internetforschung72 und speziell zur Generierung von Ritualen und Religionen in der Online-Spielewelt Second-Life publiziert,73 die auch durch eigens generierte Internetauftritte der Mitarbeiterinnen weitergeführt wurden.74 Im Jahr 2005 wurde vom dortigen Projektleiter, Gregor Ahn, und seinen Mitarbeitern die Zeitschrift Online. Heidelberg Journal of Religions on the Internet begründet, die in ihren vier bisherigen Ausgaben 38 Aufsätze vereint.75 Insgesamt vier größere Tagungen und Workshops wurden seit Bestehen der Projektgruppe zur engeren Thematik von Religionen im Internet durchgeführt: Wicca, Neo-Paganism and the Use of the Internet (Juni 2003), Online-Religions and Rituals-Online (Oktober 2004), Individualreligiosität und Ritualistik (November 2006); Discussing Christian Online Rituals (Dezember 2006). Eine weitere Forschungsgruppe unter dem expliziten Titel Religion und Medien leitet seit 2004 die Theologin und Religionswissenschaftlerin Daria Pezzoli-Olgiati zunächst als SNF-Förderprofessorin an der theologischen Fakultät der 69 | Die Beiträge der Berliner Tagung sind publiziert in Sieprath 2009a. 70 | Vgl. Mohn & Mohr 2012. 71 | Der Autor der vorliegenden Studie war hier in der ersten Projektphase als Mitarbeiter beteiligt. Vgl. Radde-Antweiler 2008a; Miczek 2009b. 72 | Vgl. Ahn 2006; Ahn 2007; Heidbrink 2007; Krüger 2004c; Krüger 2005b; Meier 2005. 73 | Vgl. Miczek 2009a; Radde-Antweiler 2007; Radde-Antweiler 2008b; 74 | Die Projektgruppe findet sich unter: http://rituals-online.uni-hd.de, der Blog von Radde-Antweiler und Heidbrink unter: http://webreligion.wordprescom/about (01.06.2010). 75 | Vgl. www.online.uni-hd.de (01.07.2009).
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Universität Zürich, die auf der Grundlage eines weit gefassten Medienbegriffes ein breites Spektrum von laufenden Qualifikationsprojekten umfasst.76 Aus dieser Projektgruppe sind bisher ein Sammelband Outer Space. Reisen in Gegenwelten in der Reihe Film und Theologie77 und einige Aufsätze zum Verhältnis von Religion, Film78 und Kleidung79 erschienen. Im März 2008 organisierte die Forschungsgruppe die Tagung Religiöse Blicke – Blicke auf das Religiöse. Visualität und Religion. Zwei weitere Qualifikationsarbeiten entstehen seit Kurzem an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Hartmut Zinser. In der Forschungsgruppe Die »Rückkehr der Religionen« und die Rückkehr der Religionskritik – Der »Neue Atheismus« in der deutschen und US-amerikanischen Gegenwartskultur wird die aktuelle Diskussion um Richard Dawkins u.a. unter Einbezug der medialen Repräsentation dieses Diskurses von Thomas Zenk und Ulf Plessentin analysiert.80 An der Universität Bern führt Oliver Steffen derweil ein vom Schweizer Nationalfonds gefördertes Projekt über Religion in Computerspielen und die Religiösität von Computerspielern durch.81 Aus diesem Überblick über die aktuellen religionswissenschaftlichen Forschungsprojekte und Tagungen – selbst wenn dieser keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben darf – geht sehr klar hervor, dass das Themenfeld Religion und Medien zumindest in den vergangenen fünf Jahren auf ein breiteres Interesse beim wissenschaftlichen Nachwuchs und auf eine größere Akzeptanz bei den etablierten Wissenschaftlern und Betreuern und den Forschungsförderungsinstitutionen (Deutsche Forschungsgemeinschaft/Schweizer Nationalfonds) stößt. Ein systematischer Überblick wird im Folgenden Enzyklopädien, Zeitschriften, Monografien und Sammelwerke berücksichtigen, die über die aktuellen Projekte hinausgehen, um eine wissenschaftsgeschichtliche Standortbestimmung des jungen Forschungszweiges vorzunehmen. 76 | Vgl. www.religionswissenschaft.uzh.ch/medien/mr.htm (01.07.2009). Es werden mit einem Fokus vor allem auf die griechische und altorientalische Antike behandelt: Reisen von Göttern und Heroen in die Unterwelt in Bild und Text (Pezzoli-Olgiati); Kleidung als Medium religiöser Symbolsysteme (Höpflinger); Schlangenkampf (Höpflinger); ferner: Karikaturen in der Europäischen Religionsgeschichte (Glavac); die Reise im Spielfilm (Mäder); Fußpilger- und Backpackerreisen (Mendel). 77 | Vgl. Pezzoli-Olgiati & Martig 2009; Pezzoli-Olgiati 2009a. 78 | Vgl. Pezzoli-Olgiati 2008a; Pezzoli-Olgiati 2007. 79 | Vgl. Höpflinger 2008; Mäder 2008; Mäder 2009. 80 | Vgl. www.geschkult.fu-berlin.de/e/relwiss/forschung/DFG-Projekt_Neo-Atheis mus/index.html (01.07.2009). 81 | Vgl. www.god-mode.ch (01.06.2010). Dieses Feld ist vollkommenes Neuland für die Religionswissenschaft. Eine knappe Skizze vor allem christlicher Computerspiele geben Rehatschek & Marczinczik & Koch 2010, 223-227.
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Es ist das Verdienst der praktischen Theologie, dass Stichwörter zu neuen Medien – also von der Zeitschrift bis zum Internet – in den gängigen theologischreligionswissenschaftlichen Enzyklopädien aufgenommen wurden. Das Fachlexikon Religion in Geschichte und Gegenwart konnte bereits in der 3. Auflage (1957-1965) mit Artikeln zu Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen aufwarten,82 die in der vierten Auflage (1998-2007) ausdifferenziert und um weitere Sujets (Telefonseelsorge, Internet) ergänzt wurden und in den systematischen Artikeln zu »Journalismus«, »Kommunikation«, »Medien« und »Massenmedien« vertieft diskutiert wurden.83 Die Theologische Realenzyklopädie (1976-2007) weist ein ähnliches Spektrum auf, ergänzt zwar um einen Artikel zum Hörspiel, aus Gründen der frühen Redaktion der ersten Bände findet dagegen das Internet nur noch als Problemfall im Artikel »Zensur« Erwähnung.84 Diese Artikel sind vorwiegend unter praktisch-theologischen Gesichtspunkten verfasst, zeichnen die Stationen der kirchlichen Medienarbeit in Deutschland nach und präsentieren in den längeren Artikeln auch die theologischen Stellungnahmen gegenüber den verhandelten Medien. Auch das von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Karl-Heinz Kohl herausgegebene Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (1988-2001) verharrt noch in diesem theologischen Fragehorizont, wenn Ingo Mörth im Artikel »Kommunikation«, der übrigens der einzige Artikel dieses Handbuches mit Medienbezug ist, festhält, dass Massenmedien für die Religionswissenschaft vor allem als »Prozesse der Verkündigung« relevant seien.85 Das Handbuch Religionswissenschaft (2003), herausgegeben von Johann Figl, verzichtet gänzlich auf Beiträge mit Bezug zu neuen Medien. Das Oxford Lexikon der Weltreligionen (1999) und Kröners Wörterbuch der Weltreligionen (2006) beschränken sich offenbar bewusst darauf, vor allem emische Begriffe aus den religiösen Traditionen zu erklären und nur wenige systematische Probleme aufzuarbeiten. Eine konsequente Berücksichtigung erfuhren Medienaspekte jedoch im Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, das von Christoph Auf82 | Vgl. Auhofer 1961 (Presse); Schultz 1961 (Rundfunk); Ludwig 1958 (Film); Schwitze 1958 (Fernsehen). 83 | Vgl. Biener 2004a (Rundfunk); Bobert-Stützel 2001 (Internet); Eurich 2000 (Fernsehen); Grethlein 2002a/2002b (Medien/Massenmedien); Haberer 2000 (Fernsehen); Haberer 2004 (Radiopredigt/Fernsehpredigt); Hasenberg 2000 (Film); Schmoll 2001 (Journalismus); Krüger 2005a (Medienutopien der Technikgeschichte); Wieners 2005 (Telefonseelsorge). 84 | Vgl. Dörger 1983 (Fernsehen); Albrecht 1983 (Film); Janowski & Schmidt 1992 (Medien); Würffel 1986 (Hörspiel); Schmidt 1986 (Hörfunk); Bäumler 1990 (Kommunikation); Dietel 2002 (Telefonseelsorge); Achtelstetter 2000, Meier-Reutti 2000, Schmolke 2000, Ulrich 2000 (Publizistik/Presse); Bräuer & Lück 2004 (Zensur). 85 | Vgl. Mörth 1993, 400.
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farth und Hubert Mohr von 1999-2002 ediert wurde. Ziel der Herausgeber war es, »Religion weg von ihren idealtypischen Entwürfen und hin zur gelebten Religion und ihren Rezeptionsformen zu beschreiben«, in ihrer Alltäglichkeit und Erfahrungswirklichkeit.86 Das Lexikon zeichnet sich allerdings nicht dadurch aus, nun mehr und umfangreichere Artikel zu Medienthemen als die etablierten Fachlexika aufzunehmen – Einträge zu Hörfunk, Internet und Telefonseelsorge sucht man sogar vergeblich.87 Jedoch wird erstens die primär praktischtheologische Perspektive durch einen kulturwissenschaftlichen Ansatz ersetzt und zweitens enthalten viele Artikel einen expliziten Bezug auf relevante Medienaspekte. So kann bspw. Edmund Hermsen in seinem religionsgeschichtlichen Artikel »Ägypten« auch die Rezeptionsgestaltungen ägyptischer Gottheiten in Enki Bilals Comic-Trilogie Nikopol in Betracht ziehen.88 Auch verfügt das Lexikon über eine umfassende Aufstellung von Medieninformationsdiensten, Medienarchiven sowie Internetressourcen und verweist in den Artikeln zu religiösen Traditionen auf entsprechende Musik- und Filmquellen.89 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch noch das theologisch ausgerichtete Handbuch Religion und Populäre Kultur (2005), dessen Artikel zwar eher essayistisch denn historisch-analytisch aufgebaut sind, denen aber in vielen Fällen wertvolle Hinweise zu verdanken sind. Es ist übrigens die einzige Religionsenzyklopädie, die der Fotografie einen eigenen Artikel widmet.90 Angesichts der Vielfalt des möglichen Materials ist die Zahl der medienrelevanten Artikel in den religionswissenschaftlichen Fachlexika nur als äußerst gering zu bewerten. Im internationalen Vergleich sind die Theologische Realenzyklopädie, Religion in Geschichte und Gegenwart und das Metzler Lexikon Religion allerdings gut aufgestellt. Die Encyclopedia of Religion (1987/2005) behandelt die Medienthematik in zwei systematischen Artikeln zu »Media« und »Journalism« und in zwei gehaltvollen religions-mediengeschichtlichen Beiträgen zu »Religious Broadcasting« und »Film«.91 Die unter Leitung von Frédéric Lenoir und Ysé Tardan-Masquelier erstellte Encyclopédie des religions (1997) versagt dem Medienthema jeglichen analytischen Raum und versteigt sich in einer an der Mediatisierung ablesbaren Verfallsthese der Religion: 86 | Vgl. Auffarth & Mohr 2002, Vf.; Auffarth & Mohr 2003, 161f. 87 | Näher werden eigentlich nur »Film« (Harwazinski 1999; Hasenberg 1999; Reichert 1999), »Fernsehen« (Bernard 1999a) und »Medien« (Bernard 1999b) betrachtet. 88 | Vgl. Hermsen 1999, 37-39. 89 | Vgl. Bernard & Auffarth 2002, 42-49; Behr 2002. 90 | Vgl. Pirner 2005 (Fernsehen); Herrmann 2005 (Film); Engelschalk 2005 (Fotografie); Haese 2005 (Internet/Neue Medien); Fechtner 2005 (Lesen); Friedrichs 2005 (Printmedien); Uden 2005 (Radio); Fermor 2005 (Video); Gottwald 2005 (Werbung). 91 | Vgl. Hoover 2005 (Media); Tyson 2005 (Journalism); Goethals & Lucas 2005 (Religious Broadcasting); Pate 2005 (Film).
R ELIGION UND M EDIEN : EINE E INFÜHRUNG L’analogie avec la société de consommation et des supermarchés s’impose aussi: aujourd’hui il y a mondialisation du marché des biens religieux, et les individus sont sollicités par des ›produits‹ nouveaux, inédits et tentants, ne serait-ce que pour ›essayer‹. Billy Graham (ce produit typiquement américain) il y a quelques années, les très médiatique dalaï-lama actuellement en sont illustration saisissante, mais aussi d’innombrables ›sous-produits‹ proposés dans l’édition ou dans les médias. 92
Auch die wichtigen Artikel zu »Radio«, »Fernsehen« und »Film« in der ambitionierten, aber im Endeffekt enttäuschenden Encyclopedia of Religion, Communication, and Media (2006) von Daniel A. Stout sind nicht annähernd so gehaltvoll wie die entsprechenden Beiträge in der Encyclopedia of Religion, dazu exklusiv zentriert auf die Vereinigten Staaten. Dass die Thematik von Religion und Medien bislang in den Fachlexika eine marginale Stellung und eine meist praktisch-theologische Ausrichtung einnimmt, spiegelt sich auch auf der Ebene der religionswissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten wider. Von 178 Dissertationen und 28 Habilitationsschriften, die seit 1991 an deutschen Universitäten im Fach Religionswissenschaft bzw. Religionsgeschichte oder Religions- und Missionswissenschaft eingereicht wurden,93 befassten sich außer den zwei bereits genannten Arbeiten von RaddeAntweiler und Miczek nur vier weitere Studien mit neuen Medien: • Detlef Thofern: Darstellungen des Islams in DER SPIEGEL. Inhaltsanalytische Betrachtungen über Themen und Bilder der Berichterstattung von 1950-1989 (1998) • Rita Panesar: Medien religiöser Sinnstiftung: der »Volkserzieher«, die Zeitschriften des »Deutschen Monistenbundes« und die »Neue metaphysische Rundschau« 1897-1936 (2004) • Oliver Krüger: Virtualität und Unsterblichkeit. Die Visionen des Posthumanismus (2004) 92 | Schlegel 1997, 2364. 93 | Dazu zählen auch die Religionsgeschichte in Göttingen und Bochum und die Religions- und Missionswissenschaft in Mainz und Bochum. Aus Frankfurt und Würzburg lagen keine Titelangaben zu den Qualifikationsarbeiten vor. In der Schweiz werden die Qualifikationsarbeiten erst seit Kurzem systematisch in den Berichten der Schweizer Gesellschaft für Religionswissenschaft erfasst. Die Österreichische Gesellschaft für Religionswissenschaft konnte keine Angaben zu den abgeschlossenen Arbeiten machen. Die Daten basieren daher auf der 2001 erschienenen Dokumentation der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte (DVRG 2001) und der fortlaufenden Online-Dokumentation der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (www.dvrw. de/dokumentation/frame-promo.html (01.07.2010)) und meiner Umfrage auf der religionswissenschaftlichen Diskussionsliste Yggdrasil vom Juni 2009. Vgl. DVRG 2001.
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• Kristin Futterlieb: Neopaganismus Online – Das World Wide Web als Kommunikationsplattform zur Konstruktion spiritueller Identität (2009) 94 Neben den schon aufgeführten Tagungsbänden Religion und Massenmedien von Maud E. Sieprath und Massenmedien und Religion von Jürgen Mohn und Hubert Mohr liegen lediglich zwei weitere Anthologien mit primär religionswissenschaftlicher Ausrichtung vor: zum einen Religion und Medien. Vom Kultbild zum Internetritual (2007) und zum anderen Religiöse Blicke – Blicke auf das Religiöse. Visualität und Religion (2010). Beide Bände vereinen ein höchst interessantes, jedoch auch sehr weites Spektrum an Beiträgen, die inhaltlich vom Fernsehen bis zum Internet bzw. von griechischer Antike bis zu indischem Yoga reichen. Ein fokussierter methodischer Zugang zu spezifischen Medien auf einer kulturwissenschaftlichen Basis, der mehr sein will als phänomenologische Schau, ist hier nur ansatzweise erkennbar.95 Die Marginalisierung von Mediensujets setzt sich in den führenden deutschen Fachzeitschriften der Religionswissenschaft fort: Unter den 159 Artikeln, die seit Gründung 1993 in der Zeitschrift für Religionswissenschaft bis 2009 erschienen sind, befassten sich gerade zwei Artikel mit populärer Literatur sowie einer mit Todesanzeigen und Hubert Knoblauch sind einige Bemerkungen zur electronic church (vor allem Fernsehen) zu verdanken.96 In den 52 Jahrgängen der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte wurden zwar eine Reihe von Artikeln zur allgemeinen Literatur- und Kunstgeschichte und zur Geschichte politischer Zeitungen veröffentlicht, die entsprechenden Beiträge mit Religionsbezug können jedoch leider an einer Hand abgezählt werden.97 Hier wie auch in der Zeitschrift für Religionswissenschaft thematisiert kein einziger religionsbezogener Beitrag die elektronischen Medien. Auch die 94 | Vgl. Prada Ramirez 1994; Tobben 1997; Meyer 1999; Thofern 1998; Dunse 2003; Panesar 2004; Krüger 2004a; Radde-Antweiler 2008a; Futterlieb 2009. 95 | Vgl. Malik & Rüpke & Wobbe 2007; Beinhauer-Köhler & Pezzoli-Olgiati & Valentin 2010. Mit wenigen Ausnahmen verbleibt auch der jüngst erschienene Sammelband Religion und Mediengesellschaft innerhalb rein theologischer Fragehorizonte (ebenfalls von Homer bis zum Internet). Innovativ sind hier die Analysen zur Funktionalisierung der Scharia und der jüngeren Skandale um Mormonen in den USA in ihren jeweiligen medialen Darstellungen (Prenner 2010; Koch 2010). Vgl. Wessely & Ornella 2010. 96 | Vgl. Knoblauch 2000, 149-152. Alexandra Grieser diskutiert schöne Literatur als Medium von Religionskritik, Anne Koch erörtert das Harry-Potter-Phänomen und Claudia Gronauer analysiert Tübinger Todesanzeigen. Vgl. Grieser 2006; Gronauer 1996; Koch 2006. 97 | Friedrich Kantzenbach bespricht die deutsche Gegenwartsliteratur in Hinblick auf die Jesus-Figur, Gunther Stephenson stellt das Werk Graf Keyserlings vor und Anne Koch thematisiert Krimis und Kochbücher aus religionswissenschaftlicher Perspektive. Vgl. Kantzenbach 1980; Stephenson 1981; Koch 2005, 2007a.
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Durchsicht des 1996 von Michael Pye begründeten Marburg Journal of Religion, in dem vor allem mittel- und nordeuropäische Religionswissenschaftler publizieren, ergab, dass sich von 63 erschienenen Artikeln gerade einmal drei mit dem expliziten Themenbereich von Religion und Medien befassten: Florence Pasche präsentierte methodologische Reflexionen über Internetseiten mit Videoinhalten, Nadja Miczek stellte Ritualistik in virtuellen Welten vor und der Autor der vorliegenden Arbeit analysierte die Rolle von Ritualen in populären indischen Spielfilmen.98 Einen Schwerpunkt mit einigen kurzen Artikeln zur Religion in den Medien wies eine Ausgabe der Zeitschrift Spirita (1995) auf.99 Ist die Ausbeute medienbezogener Artikel in religionswissenschaftlichen Zeitschriften als äußerst karg zu beurteilen, so sind neue Medien in den meisten jüngeren Einführungswerken der Religionswissenschaft schlicht nicht vorhanden: Dies gilt für Jacques Waardenburgs Religionen und Religion (1986),100 Fritz Stolz’ Grundzüge der Religionswissenschaft (1988)101 ebenso wie für die zeitgleichen Werke von Harmut Zinser (Religionswissenschaft. Eine Einführung) und von Hans-Jürgen Greschat (Was ist Religionswissenschaft?).102 Hans G. Kippenbergs und Kocku von Stuckrads Einführung in die Religionswissenschaft (2003), Klaus Hocks Einführung in die Religionswissenschaft (2006)103 und der von Anne Koch edierte Watchtower Religionswissenschaft (2007) verzichten gänzlich auf Bezüge zu neuen Medien.104 Volkhard Krech kennt in seinem aktuellen Versuch einer Standortbestimmung der Religionswissenschaft bloß eine philologische und eine sozialwissenschaftliche Richtung der Disziplin.105 Und auch die jüngsten programmatischen Schriften von Rainer Flasche (ReligionswissenschaftTreiben, 2008) und von Hartmut Zinser (Grundfragen der Religionswissenschaft, 2010) schweigen zur Rolle neuer Medien für die zeitgenössische Religionsent-
98 | Vgl. Pache 2008; Krüger 2004b; Miczek 2010. 99 | Vgl. Saborowski 1995; Hottinger 1995; Kurre 1995; Thofern 1995. 100 | Waardenburg erwähnt in seinem eigentlich vielversprechenden Kapitel Wie begegnet uns Religion? lediglich am Rande, dass Religion »uns in Form eines Zeugnisses dazu anregt, den Sinn, die Wahrheit oder die Wirklichkeit dieses Zeugnisses« näher kennen zu lernen. Vgl. Waardenburg 1986, 26f. 101 | Die Beispiele für die Ebene des Visuellen reichen bei Stolz nicht über das Alte Ägypten hinaus. Vgl. Stolz 2001, 106-110. 102 | Vgl. Stolz 1988; Zinser 1988; Greschat 1988. 103 | Kippenberg, von Stuckrad und Hock ziehen selbst bei der Diskussion von Religion und Öffentlichkeit nicht die nahe liegende Verbindung zur Medienthematik. Vgl. Kippenberg & Stuckrad 2003, 94-135; Hock 2006, 184f. 104 | Vgl. Koch 2007b. 105 | Dies ist umso erstaunlicher, als dass Krech die Wissenssoziologie als Bindeglied beider Richtungen etablieren will. Vgl. Krech 2006, 107.
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wicklung. Einzig Jörg Rüpke bricht in seiner Einführung in die Historische Religionswissenschaft (2007) eine Lanze für die Medienforschung: Die gegenwärtige ›Medialisierung‹ von Religion ist nicht neu, ›Medienreligion‹ keine Folge erst der ›neuen Medien‹. Die intensive Bemächtigung wechselnder medialer Formen durch Religionen scheint der religionshistorische Normalfall zu sein … Religionsgeschichte und Mediengeschichte stehen in Wechselwirkung.106
Ein größerer Raum scheint der Medienthematik offenbar nur in der praktischen Religionswissenschaft gewährt, die sich um die lebens- und berufsnahe Umsetzung religionswissenschaftlicher Kenntnisse bemüht. In der gleichnamigen Anthologie von Udo Tworuschka und Michael Klöcker widmen sich gleich sieben von 22 Beiträgen den elektronischen Medien.107 Insgesamt ist der Befund zum Stand der religionswissenschaftlichen Forschung im Bereich von Religion und Medien mehr als ernüchternd – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Marginalisierung dieses Forschungsfeldes in einem krassen Missverhältnis zu den medienorientierten Berufswünschen der heutigen Studentinnen und Studenten der Religionswissenschaft stehen.108 Als der Historiker und Philologe Friedrich Max Müller 1870 die Grundlagen der Religionswissenschaft formulierte, sorgte die Erfindung und Verbesserung der Rotationspresse erstmals für die massenhafte Verbreitung von Tageszeitungen, die kostengünstig und mit einer täglichen hohen Auflagenzahl hergestellt werden konnten. Als im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die ersten Lehrstühle für Religionswissenschaft außerhalb von theologischen Fakultäten eingerichtet wurden,109 konnten Alexander Graham Bell, Thomas A. Edison und andere begabte Erfinder der Welt das Telefon, den Phonografen und das Grammophon präsentieren. In der Zeit der großen phänomenologischen Werke der Religionswissenschaft von Chantepie de la Saussaye über Gerardus van der Leeuw bis 106 | Rüpke 2007, 42. Rüpke widmet an dieser Stelle ein kleines Einführungskapitel eigens der Thematik von Religion und Medien, vgl. Rüpke 2007, 35-43. 107 | Vgl. Klöcker und Tworuschka 2008. Außerhalb der Religionswissenschaft ist die einzige größer angelegte Studie zur Thematik kürzlich von dem Zeitgeschichtler Nicolai Hannig zu Kirche und Medien in der Bundesrepublik 1945-1980 veröffentlicht worden. Vgl. Hannig 2010. 108 | Vgl. Führding 2009, 109. 109 | Max Müller erhielt 1868 einen Lehrstuhl für vergleichende Mythologie in Oxford, Théophile Droz 1873 den Lehrstuhl für Histoire des religions et étude des systèmes sociaux in Genf und Edmund Hardy 1894 den Lehrstuhl für indische Literaturgeschichte und vergleichende Religionswissenschaft in Freiburg (Schweiz). Vgl. Klimkeit 2004, 30; Uehlinger 2010, 5-7.
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zu Friedrich Heiler eroberten der Hörfunk und das Fernsehen den Äther. Wir blicken auf über ein Jahrhundert zurück, in dem Druckerzeugnisse in kurzen Zeiträumen millionenfach verbreitet werden konnten und in dem elektronische Medien einen immer größeren Anteil an unserer Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung gewonnen haben. Dass diese Medien von Beginn an auch eine Relevanz für das religiöse Leben hatten, daran kann kein Zweifel bestehen. Der Fokus der vorliegenden Erörterung liegt daher – abgesehen von einer Diskussion der Konstruktion »Heiliger Schriften« – auf den sogenannten »neuen Medien«. Der Begriff ist allerdings selbst in der medienwissenschaftlichen Debatte nur sehr vage umrissen, man weiß um seine Schwächen. The term new media has achieved the kind of widespread cultural dissemination that seems to strip away all specificity. »New« media is everywhere around us, in the gadgets and devices we used to keep organized, to do our work, to play, to access information, and to communicate with friends and acquaintances.110
Das Problem der Konzeption besteht vor allem in der Bestimmung des »Neuen«. Im medienwissenschaftlichen Diskurs wird teils schon auf Hilfskonstruktionen wie die »alten neuen Medien« zurückgegriffen, um die Telegrafie und Fotografie bspw. vom Internet zu unterscheiden. Der Rückgriff auf die Bezeichnung »elektronische Medien« (Fernsehen, Hörfunk, Internet) würde eine ganze Reihe anderer Medien ausschließen, die hier genauer betrachtet werden sollen.111 Der Ausweg scheint mir für unsere Zwecke, »neue Medien« als einen relationalen Begriff zu verstehen. Er drückt eine bestimmte Beziehung zu denjenigen Medien aus, die als »neu« wahrgenommen werden. Damit sind für die religionswissenschaftliche Forschung alle Medien außer den »Heiligen Schriften« und religiösen Bildwerken (Plastik, Malerei, Mosaik etc.) »neu«, denn entweder wurden sie als Forschungsgegenstände bisher kaum thematisiert oder die systematische Analyse hat erst in der jüngsten Vergangenheit eingesetzt. Der bereits langen und äußerst vielfältigen Geschichte der neuen Medien steht nämlich die weitgehende Marginalisierung dieses Themenfeldes in der religionswissenschaftlichen Forschung gegenüber. Noch großzügig berechnet und unter Einbezug der Literaturstudien befassen sich vielleicht drei Prozent der deutschsprachigen Journalpublikationen und Qualifikationsarbeiten mit diesem Bereich. Selbst Zeitgenossen der neuen Medien wie Friedrich Heiler, Gustav Mensching und Mircea Eliade verlieren – soweit dies zu überschauen ist – keine einzige Zeile über die Medienthematik. Erst in allerjüngster Zeit und vor allem mit Bezug auf das Internet ist überhaupt ein ernsthaftes Interesse 110 | Hansen 2010, 172. 111 | Vgl. Hansen 2010, 175-184; McLuhan 1994, 7-21.
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bemerkbar. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, dieses offensichtliche Versäumnis vergangener Forschergenerationen kritisch zu verurteilen, vielmehr eröffnet die Wissenssoziologie den Blick auf die erkenntnistheoretischen Bedingungen dieser Ausblendungen und Selektionen. Diese Erkenntnisprozesse und Gewichtungen religionswissenschaftlicher Forschungen werden jeweils medienspezifisch im Detail untersucht. Der ernüchternde Befund gilt im Übrigen in ähnlichem Maße für die wissenssoziologische Religionsforschung, denn bis auf wenige Untersuchungen von Jo Reichertz, Ruth Ayaß und Hubert Knoblauch wurde auch hier bisher das Feld von Religion und Medien weitgehend marginalisiert. In der neueren Theoriedebatte wird jedoch die außerordentliche Relevanz der Medienthematik für wissenssoziologische Fragestellungen stärker betont.112
112 | Vgl. Schetsche 2000, 65-107; Knoblauch 2005, 325-334.
2 Religion in der Wissenssoziologie Wenn man erkenntnistheoretische Erwägungen über den Wert soziologischer Erkenntnisse in die Wissenssoziologie miteinbezieht, so ist das, als wenn man einen Bus schieben will, in dem man fährt.1 P ETER B ERGER & THOMAS L UCKMANN
Um nun die vorangegangenen Bemerkungen zur wissenssoziologischen Hermeneutik noch einmal metaphorisch zusammenzufassen: Es liegt allerdings im Rahmen der wissenssoziologischen Möglichkeiten, dass manche fahren und andere schieben. Jo Reichertz plädierte mit Hans-Georg Soeffner bereits dafür, den Platz im Bus bisweilen zu verlassen und den Bus selbst ein wenig zu schieben, also »wissenssoziologische Erkenntnisse auf die Wissenssoziologie selbst anzuwenden«.2 Die Busmetapher von Berger und Luckmann hinkt jedoch, denn der wissenschaftliche Betrieb ist keine Ich-AG, sondern gewinnt seinen Wert erst im Austausch von Perspektiven, Fakten und Thesen. Und manchmal kann auch die zeitliche Distanz oder der Blick über Fächergrenzen hinweg gewinnbringend sein.3 Die Wissenssoziologie ist, wie bereits dargelegt wurde, höchst selbstreflexiv angelegt, muss also stets die Frage nach ihren eigenen Erkenntnisbedingungen stellen. Dadurch kann sie immer wieder aufs Neue an Fahrt gewinnen. Wenn die Wissenssoziologie sich auf die Fahne geschrieben hat, die Sozialformen des Wissens, die Aneignungsprozesse des gesellschaftlichen Wissens und die institutionelle Organisation und soziale Verteilung von Wissen zu untersuchen,4 dann besteht ein großes Rätsel: Warum wurde die Auseinander1 | Berger & Luckmann 1994, 14. Diese wichtige methodologische Frage wollen Berger und Luckmann grundsätzlich von ihren methodischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit ausschließen. Vgl. a.a.O., 14ff. 2 | Vgl. Reichertz 2006, 295. 3 | Vgl. Soeffner 1989, 91-97. 4 | Vgl. Berger & Luckmann 1963, 423.
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setzung mit medialen Prozessen der Wissensvermittlung und dem institutionalisierten Medienapparat innerhalb der wissenssoziologischen Forschung so lange marginalisiert? Angesichts der zentralen Rolle, die Medien während der zwei wichtigsten Formierungsphasen der Wissenssoziologie einerseits in den 1920er Jahren in den totalitären Regimes Europas und andererseits während der Expansion der Unterhaltungsmedien in den 1960er Jahren gespielt haben, muss dieser Sachverhalt schon einer stark ausgeprägten Resistenz gegenüber Phänomenen mittelbarer Kommunikation zugeschrieben werden. Dass das Feld von Religion und Medien ein besonderes Problem darstellt, das aufs Engste mit den erkenntnistheoretischen Grundlegungen der Wissenssoziologie seit Karl Mannheim und Max Scheler verbunden ist, wird sich in der nachfolgenden Erörterung zeigen. Um diese klassischen Ansätze der Wissenssoziologie zu verstehen, also die Prozesse des Verstehens zu verstehen,5 ist es notwendig, hier und da eine Vorgeschichte einzuflechten oder einen ferneren Erzählstrang zu verfolgen. Im Falle der Wissenssoziologie sind dies vor allem philosophische Seitenblicke, die gewagt werden. Da an dieser Stelle ein spezifisches Problem der deutsch- und englischsprachigen Wissenssoziologie in der Nachfolge der Ansätze von Mannheim und Scheler betrachtet werden soll, die in einer gewissen Beziehung zur Religionswissenschaft steht, beschränkt sich die Analyse auf die hier relevanten theoretischen Entwürfe.
2.1 D IE KL ASSISCHE W ISSENSSOZIOLOGIE 2.1.1 Vorspiel: Marx und Comte Die Ahnenreihe der Wissenssoziologie ist lang und selbst die Beschränkung auf eine religionsspezifische Fragestellung müsste mit antiken Philosophen wie Xenophanes beginnen, sich über die Religionskritik der neuzeitlichen Aufklärer und der Enzyklopädisten wie Voltaire, Diderot und Holbach fortsetzen und nicht versäumen, im 19. Jahrhundert Hegel, Feuerbach und Marx zu erwähnen. Hubert Knoblauch und andere haben sich eingehend mit diesen Vorläufern der expliziten und damit eigentlichen Wissenssoziologie befasst.6 Für die Analyse der Hauptvertreter der deutschsprachigen Wissenssoziologie spielen vor allem Auguste Comte (1798-1857) und Karl Marx (1818-1883), deren Ansätze nachfolgend skizziert werden sollen, eine besondere Rolle; die soziologischen Gründerväter Emile Durkheim und Max Weber standen hier nicht im Zentrum der Dis-
5 | Vgl. Soeffner 1989, 53. 6 | Vgl. Knoblauch 2005, 23-63; Maasen 1999, 8-13.
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kussion.7 Die Auseinandersetzung mit dem Positivismus und dem historischen Materialismus waren für die eigentlichen Gründerväter in den 1920er Jahren, Max Scheler und Karl Mannheim, von fundamentaler Bedeutung und sind für das Verständnis der frühen Wissenssoziologie unerlässlich.
Karl Marx Das Problem der Religion ist mit den Kernfragen des historischen Materialismus verbunden, denn Karl Marx formuliert seine Gesellschaftstheorie als »Kritik« der bestehenden Verhältnisse mit dem Ziel, eine »Revolutionierung« der Wissenschaft herbeizuführen »und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«.8 Er ist sich selbst darüber im Klaren, dass er mit seiner Kritik »so viel Altes umgestoßen« habe.9 Erst die kritische Diskussion einer Sache ermöglicht laut Marx das »Begreifen« und das rechte Verstehen der wahren Verhältnisse – die philosophische Kritik weise »nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit. Sie faßt sie in ihrer eigentümlichen Bedeutung.«10 Auch wenn viele religionsrelevante Ideen und Konzeptionen fragmentarisch blieben und Marx selbst kein zusammenhängendes Werk zur Religionsfrage hinterlassen hat, so ergibt sich doch eine recht einheitliche theoretische Verortung der Religion im entwicklungsgeschichtlichen Modell des historischen Materialismus.11 Schon in seiner Studienzeit in Bonn und Berlin entwirft Marx 7 | Abgesehen davon, dass Durkheim und Weber in den 1920er Jahren noch weit davon entfernt waren, den Mittelpunkt des soziologischen »Sonnensystems« zu bilden, auf den hin alle späteren soziologischen Versuche interpretiert werden, hat keiner eine geschlossene soziologische Erkenntnistheorie vorgelegt und beide Denker erscheinen aus verschiedenen Gründen nur an der Peripherie der wissenssoziologischen Diskussion der 1920er Jahre. Der kollektivorientierte Ansatz Durkheims, der in der Année Sociologique von 1910 auch die Subdisziplin der Sociologie de la connaissance etablierte, wurde im deutschsprachigen Raum zunächst nur von Wilhelm Jerusalem (1854-1923) wissenssoziologisch rezipiert, dann aber nicht weitergeführt. Max Weber wiederum erachtete sich ausdrücklich als nicht zuständig für erkenntnistheoretische Grundfragen. Vgl. Jerusalem 1924, 184; Durkheim & Bouglé 1910; Gephart 1998, 70f.; Knoblauch 2005, 65-90. 8 | Vgl. Marx 1964a, 490; Marx 1964b, 640; Marx 1964e, 378. 9 | Marx 1964d, 280. 10 | Marx 1964c, 296. 11 | Grundlage für die Rekonstruktion einer marxistischen Religionstheorie sind daher die verstreuten Abhandlungen und Briefe aus den 43 Bänden der Ausgabe der MarxEngels-Werke (MEW, 1956-1990), und der auf 113 Bände angelegten Marx-EngelsGesamtausgabe (MEGA, ab 1975). Vgl. Kadenbach 1970, 10. Die wichtigsten Quellen zur Religionsfrage sind bereits von Brakelmann & Peters (1975a) werkgeschichtlich er-
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die Grundzüge seiner fundamentalen Religionskritik in Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Gottesbegriff und zunächst in großer Nähe zur anthropologischen Deutung der Religion durch Ludwig Feuerbach.12 In seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) stellt Marx den illusorischen und anästhesierenden Charakter der Religion heraus: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät, produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.13
Der Vergleich von Religion mit Opium ist seit Holbachs Le Christianisme dévoilé (1761) vielfach in der europäischen Religionskritik nachgewiesen. Auch Hegel spricht in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte abwertend von der indischen Religion, die das Leben und den Menschen verachten würde. Er vergleicht sie »mit einem an Körper und Geist ganz heruntergekommenen Menschen«, der seine »Existenz verdumpft« und sich nur durch Opium eine »träumende Welt und ein Glück des Wahnsinns« schaffe.14 Ernst Benz hat klar herausgearbeitet, dass die Linkshegelianer diese Kritik Hegels an den außer-
schlossen und ediert worden. Trevor Ling unternahm entgegen dem vorherrschenden Bild von Marx’ Religionsverständnis zwar den Versuch, eine gewisse Affinität von Marx gegenüber der Mystik nachzuweisen, dieses Unternehmen ist aufgrund der Quellenlage jedoch nicht überzeugend. Vgl. Ling 1980, 20-33. 12 | In dem für Marx maßgeblichen Werk Das Wesen des Christentums (1841) hatte Ludwig Feuerbach (1804-1872) Gott als das ideale Spiegelbild des Menschen beschrieben, in das er »seine Seele, seinen Geist, sein Herz« hineindeute: »Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen.« Feuerbach 1960, 26; vgl. Klimkeit 1965, 68-73; Post 1969, 91-115. Zu Marx’ Auseinandersetzung mit Hegel vgl. Brakelmann & Peters 1975, 77-172; Post 1969, 73-78. 13 | Marx 1964e, 378. 14 | Vgl. Hegel 1978, 208; Schoeps 1955, 10; Post 1975, 165-170.
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europäischen Religionen nun auf die Religion im Allgemeinen und speziell auf das Christentum anwenden.15 Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung des wirklichen Glücks … Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.16
Diese praktische Religionskritik wird nun in Marx’ und Engels historische Analyse der Stände- und Klassengesellschaften eingebettet. Die Aufgabe der Geschichte sei es schließlich, die »unheiligen Gestalten zu entlarven« und die »Wahrheiten des Jenseits« zu überwinden; das deutsche Volk müsse endlich aus seiner »Traumgeschichte« erwachen: Die Religionskritik wird zur Staatskritik.17 Damit wenden sich in den 1840er Jahren Karl Marx und Friedrich Engels gegen den philosophischen Idealismus der Linkshegelianer um Marx’ langjährigen Mentor, den Bonner Theologen Bruno Bauer (1809-1882): »Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen.«18 Für die Religionskritik bedeutet dies laut Marx, dass nicht nur – wie dies Feuerbach tue – der Scheincharakter der Religion benannt werde, sondern dass auch die Ursachen erklärt, kritisiert und letztlich auch behoben werden müssen.19 Auf der Basis des gesellschaftlichen Seins der aufeinanderfolgenden historischen Epochen spiegeln die Religionen verschiedene Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes wider, es gelte nun diese Formen des menschlichen Bewusstseins als Schlangenhäute zu verstehen, in denen sich die historische Menschheit gehäutet habe.20 Religion ist für Marx und Engels somit Teil des ideologischen Überbaus einer Gesellschaft:21
15 | Vgl. Benz 1955, 248ff. Zur Bedeutung Hegels für die Religionswissenschaft vgl. Schlieter 2006, 148-154. 16 | Marx 1964e, 378f. 17 | Vgl. Marx 1964, 378-384; Post 1969, 136ff. 18 | Marx & Engels 1969, 20. Die deutsche Ideologie wurde jedoch erst posthum veröffentlicht. 19 | Er hält Feuerbach vor: »Er begreift daher nicht die Bedeutung der ›revolutionären‹, der praktisch-kritischen Tätigkeit.« Marx 1969, 533. 20 | Vgl. Marx 1964f, 348f. 21 | Vgl. Knoblauch 2005, 42-54.
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D IE MEDIALE R ELIGION Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. 22
Im Modell des historischen Materialismus wird die Ausbeutung der Klasse der Besitzlosen, der Proletarier, durch Adel und Bourgeoisie, die über die Produktionsmittel verfügen, und das aus dieser Ungleichverteilung hervorgehende soziale Elend als Ursprung des religiösen Bedürfnisses identifiziert. Marx und Engels gehen davon aus, dass die herrschende Klasse in einer Gesellschaft auch die Mittel der geistigen Produktion, die Bildungseinrichtungen und den Klerus, für ihre Zwecke einsetzen kann – die vorherrschenden Ideologien sind damit bloß der ideelle Ausdruck der Ansichten und Interessen der herrschenden sozialen Klassen. Die Ideologie dieser reaktionären Klassen verzögert laut Marx den gesellschaftlichen Fortschritt, weil ihre Interessen im Gegensatz zu den gesetzmäßigen Entwicklungstendenzen des historischen Materialismus stehen. Die etablierten Kirchen sind aus marxistischer Perspektive daher nicht mehr als geistige und organisatorische Instrumente der herrschenden Ausbeuterklassen. Innerhalb dieser Logik werde Religion zwangsläufig überwunden, wenn die Bedingungen der Ausbeutung in einer freien sozialistischen Gesellschaft abgeschafft seien, in der die Menschen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse ihr Leben selbst planen und lenken.23
Auguste Comte Hatten bereits französische Fortschrittsphilosophen wie Condorcet und SaintSimon Theorien über die geschichtliche Entwicklung der Wissensbestände entworfen,24 so war es Auguste Comte, der diese Ideen in einem umfassenden 22 | Marx 1964g, 8f. 23 | Vgl. Marx 1960, 152; Klohr 1971, 386. 24 | Der Marquis de Condorcet (1743-1794) formulierte auf der Grundlage seiner umfassenden Analyse der Menschheitsgeschichte in den Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1793) eine gesetzmäßige Fortschrittsdoktrin, die die Entwicklung der Menschheit als kontinuierlichen Prozess der Vervollkommnung betrachtete. Der Bonner Soziologe Martinus Emge weist zu Recht darauf hin, dass der Comte de Saint-Simon (1760-1825), dessen Sekretär Auguste Comte war, bereits eine Reihe beständiger wissenssoziologischer Grundannahmen formuliert hatte. So hatte er ein Drei-Stadien-Schema des gesamten Kulturverlaufs entwickelt, das auf der Abfolge eines »theologischen« (fetischistisch-polytheistisch-monotheistischen) Stadiums, eines »negativen« und eines »positiven« Stadiums beruhte. Auch der Anspruch der Intel-
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Gesellschafts- und Geschichtsmodell systematisch erfasste und weiterführte. Dabei wollte er – ganz ähnlich wie Condorcet – nach dem Vorbild der Naturwissenschaften die sozialen Gesetze entdecken, nach denen das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben geordnet ist. Grundlegend ist für Comte die Annahme eines universellen Fortschrittes der menschlichen Gesellschaft von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Für Comte sind es jedoch anders als für Marx und Saint-Simon nicht die Veränderungen der Arbeit und der Produktionsweisen oder die Vermehrung von allgemeinem Wohlstand, die den gesellschaftlichen Fortschritt indizieren, sondern es ist die Entfaltung des menschlichen Denkens. Demnach identifiziert Comte gemäß seinen von 1830-1842 entstandenen Cours de philosophie positive in der Menschheitsgeschichte drei größere Phasen der Denk- und Wissensformen, die er in seinem Dreistadiengesetz (loi des trois états) schematisiert. Im ersten theologisch-fiktiven Stadium (âge théologique/fictif) ist das menschliche Denken weitgehend von anthropomorphen Vorstellungen geprägt. Dieses Zeitalter beginnt mit einer Phase des Fetischismus, in der die Eigenschaften und das Verhalten aller belebten und unbelebten Dinge mit menschenähnlichen Wesenheiten und Kräften erklärt werden. In dieser reinsten und ursprünglichsten Phase (dans sa plus pure naïveté élémentaire) des theologischen Denkens sind für den Menschen alle Erscheinungen seiner Umwelt göttlich.25 Im darauffolgenden Polytheismus werden die Eigenschaften der fetischistischen Wesenheiten analog der realen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung auf verschiedene und rivalisierende, personale Gottheiten übertragen. Der Monotheismus bildet den Gipfelpunkt des theologischen Zeitalters, alle Phänomene werden ursächlich auf das Wirken einer einzigen Gottheit zurückgeführt. Der Zeitpunkt, an dem der alleinige Gott nicht mehr als phantastisches und willkürliches Wesen betrachtet wird, sondern als vernünftiger Urheber der rationalen Gesetzmäßigkeiten der Welt, kennzeichnet den Übergang zum metaphysischabstrakten Stadium (âge métaphysique/abstrait): »… dans le catholicisme, c’était la doctrine, et non l’organisation, qui n’a été passagèrement ruinée que par suite de son inévitable adhérence élémentaire à la philosophie théologique, destinée à succomber graduellement sous l’irrésistible émancipation de la raison humaine …«26 Die bewegenden Ursachen werden nun nicht mehr transzendenten Mächten, sondern abstrakten Prinzipien wie der »Vernunft« oder der »Substanz« zugeschrieben. Konstituierend für die Gesellschaft ist der juristische Vertrag und nicht ein göttlich/kirchlich legitimierter Herrscher. Während die Naturlektuellen, die gesellschaftliche Elite zu konstituieren, findet schon durch Saint-Simon ihre Prägung. Vgl. Emge 1980, 317-328; Korte 1993, 28-30. 25 | Vgl. Comte 1975, 246f. 26 | Comte 1975, 379. Vgl. a.a.O., 235-379.
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wissenschaften bereits positiv geworden sind, d.h., dass ihre Erkenntnisse auf empirisch überprüfbaren Beobachtungen basieren, herrscht bei der Betrachtung der Sozialwelt immer noch das Primat der Phantasie und philosophischen Spekulation vor.27 Erst im letzten Stadium des wissenschaftlichen-positiven Zeitalters (âge positif) sind alle Wissenschaften positiv geworden. Die von Comte begründete »Soziologie«28 als komplexeste aller Wissenschaften bildet den Höhepunkt dieser historischen Entwicklung. Die menschliche Gesellschaft wie auch die Erscheinungen der Natur werden als Resultat von Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten angesehen, die auf der Grundlage von intersubjektiv nachvollziehbaren Beobachtungen entdeckt und verfeinert werden können. Alle menschlichen Verhaltensweisen wie auch alle Vorgänge in der Natur werden auf unwandelbare Natur- und Sozialgesetze zurückgeführt. Mit dem positiven Zeitalter verbindet Comte eine pazifistische und menschheitsvereinende Sozialutopie.29 Wie auch immer die nachfolgende Rezeption des Dreistadiengesetzes im Einzelnen ausgesehen haben mag, so ist es unbestreitbar das Verdienst von Auguste Comte, die Entwicklung des Wissens als einen Aspekt der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung anzuerkennen. Einflussreich war sicherlich auch seine Beobachtung, dass es eine Entwicklung von vorwissenschaftlichen zu wissenschaftlichen Denkformen gab: »Le type fondamental de l’évolution humaine, aussi bien individuelle que collective, y est, en effet, scientifiquement représenté comme consistant toujours dans l’ascendant croissant de notre humanité sur notre animalité …«30 Diese Wissensformen waren für Comte nicht einfach falsche Einsichten oder Ideologien (wie dies die französisch-aufklärerischen Theorien vom »Priesterbetrug« suggerierten),31 sondern sie waren einerseits Ausdruck des zu diesem gesellschaftlichen Entwicklungsstadium möglichen Wissens und andererseits waren sie Vorbedingungen für die späteren Wissensformen: Das theologische Denken war in diesem Rahmen eine Voraussetzung der vernunftorientierten Aufklärung.32
2.1.2 Die Anfänge: Ludwig Gumplovicz und Wilhelm Jerusalem Wie wir sehen konnten, sind die grundlegenden Fragen der Wissenssoziologie seit Marx präsent im gesellschaftstheoretischen Diskurs des ausgehenden 19. 27 | Vgl. Comte 1975, 380-464. 28 | Comte kreiert den Begriff »sociologie« 1839. 29 | Vgl. Comte 1975, 567-582. 30 | Comte 1975, 769. 31 | Vgl. Knoblauch 2005, 25-30. 32 | Zu Comte insgesamt vgl. Knoblauch 2005, 39-42; Korte 1993, 28-40; Kempski 1974, XXVII-XXXVII.
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Jahrhunderts. Der historische Materialismus jedoch bot den in universitären Institutionen tätigen Gesellschaftsforschern keine »werturteilsfreie« Perspektive, der Marxismus war um die Jahrhundertwende vollkommen politisch konnotiert. Dies wird bspw. deutlich an Max Webers Kritik der Politisierung von Lehrstühlen oder an Max Schelers elitärer Verachtung gegenüber der »proletarischen Wissenschaft«.33 Für Helmuth Plessner ist die frühe deutsche Wissenssoziologie gar eine Theorie des schlechten Gewissens gegenüber Marx, denn sie bearbeitet das von Marx aufgeworfene und grundlegende, erkenntnistheoretische Problem der im Entstehen begriffenen Soziologie: Wie schützt sich das Erkennen, nicht nur das religiöse und philosophische, das nach Ewigkeit dürstet, sondern auch das um Aufklärung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse bemühte Erkennen vor dem schier unabwendbaren Vorwurf seiner Interessengebundenheit und damit seiner genuin ideologischen Verfälschung? 34
Neben dem Problem der politischen und klassenspezifischen Gebundenheit der Erkenntnisinteressen wurden im Kontext der frühen deutschsprachigen Gesellschaftstheorie die soziologischen Entwürfe von Marx und Engels, Herbert Spencer, Auguste Comte, aber auch von Emile Durkheim als reduktionistisch im Sinne eines Materialismus, Positivismus oder Soziologismus wahrgenommen, der unvereinbar war mit den idealistischen Traditionen der Erkenntnistheorie und der neu aufkommenden Lebensphilosophie. Die ersten Schritte einer vom historischen Materialismus unabhängigen Wissenssoziologie im deutschsprachigen Raum formuliert der polnisch-österreichische Jurist und Gesellschaftstheoretiker Ludwig Gumplovicz (1838-1909). Im Allgemeinen verfolgt er eine soziologische Programmatik, die sich einerseits spürbar an Auguste Comtes physique sociale orientiert und die sich andererseits explizit als soziale Ausrichtung des Monismus versteht.35 Beiden ist zu 33 | Scheler 1960c, 404. So erteilt Scheler auch der Demokratisierung der Universität eine klare Absage, wenn dies heißen sollte, die ohnehin feindschaftlich gesinnte »proletarische Wissenschaft« des Marxismus in die Hochschule zu integrieren. Die Führer der Arbeiter müssten zunächst jeder Klassenideologie, jeder Idee einer klassenmäßig bedingten Kultur und Wissenschaft abschwören. Vgl. ebd.; Deininger-Meyn 1986, 170f. 34 | Plessner 1994, XI. 35 | Der vor allem von dem Jenaer Zoologen und Philosophen Ernst Haeckel (18341919) entwickelte Monismus begreift sich als eine universale, materialistische Wissenschaft, die alle Dualismen der Vergangenheit (Natur vs. Geist/Seele, Wissenschaft vs. Philosophie/Religion etc.) überwinden will. Sie ist eng mit der Universalisierung von Darwins Evolutionstheorie verbunden und war von den 1870er Jahren bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts sicherlich die neben dem Marxismus bedeutsamste, materialistische Weltanschauung. Gumplovicz sieht es nun als seine Aufgabe an, die Gültigkeit des Mo-
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eigen, das soziale Leben mithilfe von in Analogie zu den Naturwissenschaften stehenden, allgemeingütigen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Gumplovicz thematisiert explizit die Frage der »Bildung« des Menschen im weiteren Sinne durch seine soziale Umwelt, wobei die Gruppe und das soziale Kollektiv stets den fixen Bezugspunkt von Gumploviczs gesellschaftstheoretischen Analysen bilden: Der größte Irrtum der individualistischen Psychologie ist die Annahme: der Mensch denke. Aus diesem Irrtum ergibt sich dann das ewige Suchen der Quelle des Denkens im Individuum … Es ist eine Kette von Irrtümern. Denn erstens, was im Menschen denkt, das ist gar nicht er – sondern seine soziale Gemeinschaft, die Quelle seines Denkens liegt gar nicht in ihm, sondern in der sozialen Umwelt, in der er lebt, in der sozialen Atmosphäre, in der er atmet und er kann nicht anders denken als so, wie es aus den in seinem Hirn sich konzentrierenden Einflüssen der ihn umgebenen sozialen Umwelt sich mit Notwendigkeit ergibt. 36
Gumplovicz denkt streng kollektivistisch: Das moralische und wirtschaftliche Verhalten eines Menschen wie auch seine Geschmäcker und Neigungen seien das Ergebnis des Bildungsprozesses eines Individuums in seiner Bezugsgruppe, so dass der »Modus des Fühlens, Denkens und Schaffens der Menschen« stets das Resultat der jeweiligen sozialen und politischen Entwicklungsstufe einer Gesellschaft oder Gruppe sei.37 Während seines Deutschlandaufenthaltes 1885/86 lernte Emile Durkheim das Werk von Gumplovicz kennen und verband diese kollektivistische Perspektive mit der positivistischen Tradition Comtes zum Kerngedanken seiner Gesellschaftstheorie: Das individuelle Denken wird damit zum Spiegel sozial etablierter Wissensvorräte und Denkprozesse.38 Anknüpfend an diese stets auf die soziale Gemeinschaft fokussierte Tradition entwickelte dann der österreichische Pädagoge, Philosoph und Soziologe Wilhelm Jerusalem (1854-1923) die eigentliche »Soziologie des Erkennens«,39 nismus auch für den Bereich des sozialen Lebens zu belegen. Vgl. Gumplovicz 1926, 15f.; Haeckel 1899. 36 | Gumplovicz 1926, 172. Diese Passage ist so eindrücklich, dass sie nicht nur von Wilhelm Jerusalem mehrfach, sondern auch von Werner Stark und Hubert Knoblauch in ihren wissenssoziologischen Abhandlungen referiert wird. Vgl. Jerusalem 1924, 182; Jerusalem 1926, 4; Stark 1960a, 204; Knoblauch 2005, 66. 37 | Vgl. Gumplovicz 1926, 172-188, 244-247. 38 | Vgl. Knoblauch 2005, 66. 39 | Vgl. Jerusalem 1925 (ursprünglich veröffentlicht in: Zukunft 33, 15. Mai 1909, 236-246). Jerusalem war zunächst Gymnasiallehrer und ab 1919 Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien. Er gründete mit Max Adler u.a. 1907 die
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wobei er die Soziologie als die jüngste der philosophischen Wissenschaften bezeichnet. Ihr Gegenstand sei die zur Einheit zusammengeschlossene Menschengruppe: »Durch die Gemeinschaft der Individuen entsteht etwas Neues, Überpersönliches, das dem Einzelnen sich gegenüberstellt und das doch wieder durch die Arbeit der Individuen vermehrt und modifiziert wird.«40 Die Struktur und Entwicklung der Gemeinschaft solle nun durch die drei Disziplinen der Soziologie des Erkennens (Sprache, Wissenschaft), der Soziologie des Fühlens (Sozialpsychologie, Ästhetik) und der Soziologie des Wollens (Gesamtwille, Recht, Sitte, Mode, Wirtschaft, Staat) betrachtet werden.41 Methodologisch weist Jerusalem zunächst jede introspektive, psychologische Schau des eigenen Denkens zurück und schlägt vor, die soziologische Erkenntnislehre als eine Analyse zwischen der Erkenntnisentwicklung und der historischen Menschheitsentwicklung zu verstehen. In diesem Sinne entwickelt Jerusalem ein deutlich an Durkheim angelehntes, evolutionistisches Modell der Gesellschafts- und Wissensentwicklung: Während »der primitive Mensch im Zustande völliger sozialer Gebundenheit« dahinlebe und zum theoretischen Denken »noch ganz unfähig« sei, erlange der Mensch nun schrittweise im Zuge der sozialen Ausdifferenzierung diese Fähigkeit des objektivierenden Denkens. Diese Frühphase des menschlichen Denkens übertrage dann Willenseigenschaften auf lebende und gegenständliche »Kraftzentren«, die unsichtbaren Mächten, Geistern oder Dämonen zugeschrieben werden.42 Ebenso lehnt Jerusalem mit Bezug auf die Resultate der Völkerkunde die in der Tradition Kants stehenden Versuche der Etablierung einer unveränderlichen, zeitlosen, logischen Struktur der Vernunft ab. Auch der von Husserl begründeten Phänomenologie, der Metaphysik und den »Wesenswissenschaften« (und damit auch Scheler) erteilt Jerusalem eine deutliche Absage. »In all diesen Theorien wird eben der so überaus wichtige soziale Faktor in der Erkenntnisentwicklung entweder ganz übersehen oder mit Bewußtsein ignoriert.«43 Seit Aristoteles sind laut Jerusalem immer wieder Begriffe philosophischer und neuerdings wissenschaftlicher Natur mit dem Anspruch einer zeit- und kulturübergreifenden Allgemeingültigkeit etabliert worden – selbst den zeitgenössischen Historikern der Philosophie sei dies so selbstverständlich, »daß es ihnen gar nicht einfiel, nach dem psychologischen oder dem soziologischen Ursprung dieser Geistestat zu fragen.«44 Jerusalem fordert an dieser Stelle nun eine konsoziologische Gesellschaft in Wien. Zur Rezeption der Durkheimschen Soziologie vgl. Jerusalem 1926, 75-95. 40 | Jerusalem 1925, 140. 41 | Vgl. Jerusalem 1926, 18-29. 42 | Vgl. Jerusalem 1924, 187-191; Jerusalem 1926, 3-15. 43 | Jerusalem 1924, 199. Vgl. a.a.O., 206. 44 | Jerusalem 1924, 206.
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sequente Analyse der »soziologischen Bedingtheit des Denkens«. Wie viele Anteile des Denkens sind Produkt des menschlichen Zusammenlebens und seiner Wechselbeziehungen? »Die Bedeutung der Sprache, die doch zweifellos ein Erzeugnis des Gemeinschaftslebens ist, für die Ordnung, für die Aufspeicherung und für die Gestaltung der menschlichen Erkenntnis wird dabei gründlich untersucht werden müssen.«45 Sprache bildet für Jerusalem den »Kristallisationspunkt« gesellschaftlicher Erfahrungen, die über das Individuum hinausgehen und die Welt objektivieren. Eine künftige »Soziologie der Sprache und des Erkennens« werde den sich im gesellschaftlichen Fortschritt herausbildenden Wandel von Wortbedeutungen und Wortbegriffen erfassen können.46 Interessanterweise warnt Jerusalem ausdrücklich davor, den beobachtbaren Prozess der sozialen Ausdifferenzierung und Individualisierung des Denkens – der oftmals in der These gipfelt, dass Erkenntnisfortschritte nur je von herausragenden Individuen und Genies gemacht würden – mit einer strukturellen Isolierung der Individuen gleichzusetzen. Das Gegenteil sei der Fall: »Die Wechselbeziehungen zwischen den zur Selbständigkeit und Eigenkraft gelangten Individuen und den immer größeren Umfang gewinnenden und immer fester organisierten Gemeinwesen gestalten sich immer reicher, immer inniger, zugleich aber auch immer verwickelter.«47 In Bezug auf die Ideen und Vorstellungen versteht Jerusalem diesen Prozess der parallel zur gesellschaftlichen Ausdifferenzierung zunehmenden Wechselbeziehungen der Teile einer Gesellschaft als Vorgang der »sozialen Verdichtung«. Dieser Prozess, den Jerusalem in allen Phasen menschlicher Geistesentwicklung zu beobachten meint, diene sowohl der Aufrechterhaltung von Irrtümern als auch der Verfestigung objektiver Wahrheiten und trete im Feld der religiösen Ideen am deutlichsten hervor: Die sozialen Verdichtungen erhalten ihre Wirksamkeit keineswegs bloß darin, daß sie den Gebilden der Phantasie, des Traumlebens oder den Visionen der Religionsgründer Festigkeit verleihen. Auch die konkreten und objektiven Beobachtungen, die der einzelne bei seiner Arbeit macht, bedürfen der Bestätigung durch die Beobachtungen anderer. Erst dann werden sie zum Gemeingut und gelangen zu ihrer praktischen Auswertung. 48
Der Unterschied zwischen den primitiven und modernen Gesellschaften sei nun, dass in ersteren nur das wahr sei, was alle glauben, was »intersubjekti45 | Jerusalem 1924, 183. 46 | Vgl. Jerusalem 1924, 202f.; Jerusalem 1926, 8f. 47 | Jerusalem 1924, 190. Diese zunehmende Vernetzung der Menschen untereinander stellt auch den Kern im gesellschaftstheoretischen Evolutionsmodell von Herbert Spencer dar. 48 | Jerusalem 1924, 192.
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ven Wahrheitsgehalt« besitzt. In der modernen Gesellschaft habe sich im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung auch die objektive Betrachtung und Beurteilung von Ideen und Sachverhalten herausgebildet, die funktional orientiert ist und von Experten vorgenommen werden könne. Anders als viele seiner Zeitgenossen ist Jerusalem jedoch der Auffassung, dass die objektivierende und rationale Denkart nicht die älteren Wissensformen ersetzt habe. Auch der eigenkräftig gewordene Einzelmensch steht unter dem Bann sozialer Verdichtungen, und das gilt auch heute noch für den wissenschaftlich geschulten Kulturmenschen der Gegenwart. Es ist daher begreiflich, daß das intersubjektive Wahrheitskriterium neben dem objektiven seine Kraft behält … 49
Jerusalem unterstreicht in der engen Anknüpfung an Durkheims Religionsdefinition auch den sozialen Charakter der Religionen: »Ich verstehe unter Religion eine Summe oder ein System von Glaubensvorstellungen und Kultgebräuchen, die einer organisierten Menschengruppe gemeinsam sind und für die Mitglieder dieser Gruppe autoritativen, bindenden Charakter an sich tragen.«50 Auch der mystischen Orientierung und der damit verbundenen individualistischen Entwicklungstendenz schreibt Jerusalem einen letztlich kollektiven Ursprung zu.51 Allerdings hebt Jerusalem hervor, dass Religion ein »geistiges Gebilde« ist, das »nur in seelischen Erlebnissen wirklich und wirksam wird«, jedoch nur durch das Gemeinschaftsleben hervorgebracht werden könne.52 Mit großer Bewunderung gesteht Jerusalem seinem französischen Kollegen Emile Durkheim und seinem Schüler Lucien Lévy Bruhl, dessen Werke er im Deutschen herausgibt, zu, den Weg für die Frage bereitet zu haben, wie die Eingebundenheit des einzelnen Menschen in den ihm gegebenen gesellschaftlichen Rahmen dessen Denken und Handeln determiniert. In diesem Zusammenhang entwickelt er die Idee, dass die menschheitsgeschichtliche Individualisierung stets mit einer Universalisierung einhergehe: Den Individualisierungsprozess versteht er als die Entwicklung einer intellektuellen Selbstständigkeit, die im Vertrauen auf die eigenen Beobachtungen und die eigene Vernunft Kritik an den bestehenden Glaubenssätzen und Rechtsordnungen übt. In seinem lokalen Kontext entdeckt das Individuum nun Gleichgesinnte, die seine Sicht der Dinge bestätigen und ihn über den lokalen Verband hinaus mit neuen Einsichten bereichern.53
49 | Jerusalem 1924, 194. 50 | Jerusalem 1926, 10. 51 | Vgl. Jerusalem 1926, 10f. 52 | Vgl. Jerusalem 1926, 11. 53 | Vgl. Jerusalem 1926, 96f.
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Viele diskussionswürdige Ansätze, die Wilhelm Jerusalem aufgezeigt hatte, blieben in der nachfolgenden Ausbildung der Wissenssoziologie leider unbeachtet, sei dies nun seinem frühen Tod 1923, der Ablehnung einer kollektivorientierten Perspektive durch insbesondere Max Scheler oder der Tabuisierung jüdischer Autoren54 während und nach der NS-Zeit geschuldet. Durch diese weitestgehende Marginalisierung von Jerusalems Werk55 ist völlig in Vergessenheit geraten, dass Emile Durkheim in der Année Sociologique die neue Sektion Les conditions sociologiques de la connaissance mit einer großen Teils wohlwollenden Besprechung von Jerusalems Aufsatz »Soziologie des Erkennens« (1909) eingeleitet hat.56
2.1.3 Max Scheler Eine im Verhältnis zu Jerusalem und Durkheim geradezu gegenläufige Ausrichtung der Wissenssoziologie entwickelt nun der Philosoph und Soziologe Max Scheler (1874-1928) in seiner Schaffensperiode nach dem 1. Weltkrieg.57 Schelers wissenschaftliches Werk zu verstehen, wird nicht gelingen, ohne dass der biografische Kontext seines geistigen Schaffens wenigstens skizzenhaft Berücksichtigung findet – im Sinne der von Scheler stark rezipierten und auf eigene Weise weitergeführten Lebensphilosophie bilden Geist und Leben eine Einheit im menschlichen Handeln, Fühlen und Denken. Es war ja schließlich Scheler, der 1913 den Begriff der »Lebensphilosophie« mit Blick auf das philosophische Erbe von Friedrich Nietzsche, Henri Bergson und seinem eigenen Lehrer Wilhelm Dilthey eingeführt hatte. Alle drei hatten sich gegen die Domi54 | Jerusalems Tochter Irene (1882-1941) wurde im KZ Litzmannstadt ermordet, seine Werke wurden vollkommen marginalisiert, während andere jüdischstämmige Soziologen wie Norbert Elias und Karl Mannheim zur Emigration gezwungen wurden. Vgl. Klingemann 1996, 103. 55 | In Sabine Maasens Wissenssoziologie findet Jerusalem gar keine Erwähnung mehr. Vgl. Maasen 1999. Die zeitgenössische Stellung Jerusalems veranschaulicht ein gemeinsames Preisausschreiben der Soziologischen Gesellschaft und der Philosophischen Gesellschaft in Wien aus dem Jahr 1931. Hier wird zu einer Arbeit über die »Entwicklung der Soziologie des Erkennens und Wissens« aufgerufen, in den Erläuterungen wird ausschließlich auf Jerusalem Bezug genommen. Vgl. Erkenntnis 1931, 85. 56 | Jerusalem 1924, 184; Durkheim & Bouglé 1910. 57 | Unverständlich bleibt, warum Frank Schiefer und Gertraude Mikl-Horke hier Scheler in Abhängigkeit von Jerusalem sehen bzw. umgekehrt Jerusalem als einen Rezipienten des Schelerschen Ansatzes darstellen. Man kann nicht sagen, dass Jerusalem Scheler positiv rezipiert – Jerusalems Ansatz, der Durkheim sehr nahe steht, muss man ja geradezu als eine deutliche Absage an die subjektbezogene Metaphysik Schelers verstehen. Vgl. Schiefer 2007, 21; Mikl-Horke 2001, 92.
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nanz des zeitgenössischen Historismus gewandt und wollten das »Leben« und »Erleben« wieder ins Zentrum der philosophischen Welterkenntnis setzen.58 Ich befinde mich in einer unermeßlichen Welt sinnlicher und geistiger Objekte, die mein Herz und meine Leidenschaft in eine unaufhörliche Bewegung setzen. Ich weiß, daß ebensosehr die Gegenstände, die mir zu wahrnehmender und zu denkender Erkenntnis kommen, als all das, was ich will, wähle, tue, handle, leiste, vom Spiel dieser Bewegungen meines Herzens abhängig ist. 59
Max Scheler wird 1874 als Sohn des protestantischen Rittergutsbesitzers Gottlieb Scheler und seiner jüdischen Ehefrau Sophie in München geboren. Obwohl die Mutter orthodox orientiert war und der Vater – um die Heirat zu ermöglichen – zum Judentum konvertiert war, ist die Erziehung des Sohnes nicht von der jüdischen Religion geprägt. Scheler gibt an, dass er in »christlichen Gebeten« erzogen wurde. Er verlässt als Erwachsener die jüdische Gemeinde, zu der er nie eine Bindung aufbauen wollte. Hatte er sich bereits als Jugendlicher dem Katholizismus zugewandt, so konvertiert er schließlich im September 1899 in München zum katholischen Glauben. Verwöhnt von der Mutter, »die ihr kleines Prinzchen nach Belieben gewähren ließ,«60 schafft er mit Schwierigkeiten das Abitur und lernt nach Abschluss der Prüfungen auf einer Reise nach Südtirol die sieben Jahre ältere, getrennt von ihrem Mann lebende Amélie von Dewitz-Krebs kennen, die er 1899 heiraten wird. Sie verhalf ihm, seinen bohemehaften Lebenswandel in die geordneten Bahnen eines Universitätsstudiums zu überführen, zunächst ein Jahr Medizin in München, dann besuchte er in Berlin Vorlesungen über Sozialpsychologie bei Georg Simmel und Geschichte der Philosophie bei Wilhelm Dilthey. Er setzt sein Studium 1896 in Jena bei dem Evolutionstheoretiker und monistischen Philosophen Ernst Haeckel fort und findet hier seinen Doktorvater, den Neoidealisten Rudolf Eucken. Dieser betreut sowohl seine Dissertation über Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien (1899) als auch seine Habilitationsschrift über Die transzendentale und die psychologische Methode (1900). Als Privatdozent in Jena liest er in den Folgejahren über Erkenntnistheorie und die neuere Geschichte der Philosophie. Die Ehe mit Amélie gestaltet sich jedoch zunehmend belastend und führt dazu, dass Scheler eine Reihe akademischer und philosophischer Projekte absagen muss. Schließlich gipfelt die ins Krankhafte gesteigerte Hysterie und Eifersucht seiner Ehefrau und seine eigene Eitelkeit, »die ihn in allerlei Amou58 | Den Zusammenhang mit der Schleiermacherrezeption bei Dilthey, Scheler und Rudolf Otto beleuchtet: Kippenberg 1994, 80ff. 59 | Scheler 1957a, 347. Vgl. Nota 1995, 13. 60 | Henckmann 1998, 17.
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ren verwickelte,«61 in einem öffentlichen Skandal, so dass sich Scheler bemüht, Jena zu verlassen und sich umhabilitieren zu lassen, was ihm 1906 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gelingt.62 Interessant ist in diesem Zusammenhang sein Vorstellungsschreiben, in dem er seine philosophischen Positionen darlegt: Er betont, dass er stark von der französischen Philosophie der Gegenwart, vor allem von Henri Bergson, beeinflusst sei und fasst seine religiöse Position wie folgt zusammen: »Ich bin Theist und Realist, suche aber den großen Wahrheiten der christlichen Mystik nach Möglichkeit gerecht zu werden.«63 Entscheidend für Schelers weitere philosophische Entwicklung ist 1902 die Begegnung mit Edmund Husserl und die phänomenologische Neuorientierung seines Werkes; 1913 wird er von Husserl sogar zum Mitherausgeber des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung ernannt.64 Bis zu seiner Berufung 1919 zusammen mit Leopold von Wiese und Hugo Lindemann als Direktoren des neu gegründeten Kölner Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften lebt Scheler mit seiner zweiten Frau Märit Furtwängler in München als freier Schriftsteller und Redner. Nach Ansicht von Wolfhart Henckmann wurde auch eine weitere Idee in Schelers Werk signifikant von seinen persönlichen mitmenschlichen Erfahrungen geprägt. Schon kurz nach seiner Berufung nach Köln beginnt er ein Verhältnis mit der jungen Studentin Maria Scheu (1892-1969): In dem Konflikt zwischen vitaler Leidenschaft und geistiger Liebe faßte Scheler die Idee einer Liebe zu dritt, sah sich aber im katholischen Köln innerlich gezwungen, hierfür eine andere Rechtfertigung zu suchen, als katholischer Glaube und bürgerliche Moral ermöglichten. Lebensdrang und Geist machte er zu gleichsam gleichberechtigten meta61 | Henckmann 1998, 18. 62 | Die persönlichen Erfahrungen der Auseinandersetzung mit Amélie schlugen sich in Schriften nieder, die sich bezeichnenderweise mit »Selbsttäuschung«, »Ressentiments und moralischem Werturteil« und mit der »Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und Liebe und Haß« befassten. Vgl. Henckmann 1998, 22-24. 63 | Zitiert nach Henckmann 1998, 20. 64 | Die Verbindung mit dem Göttinger Phänomenologenkreis war insofern für Scheler überlebenswichtig, als dass seine Frau Amélie, die sich betrogen und hintergangen fühlte, inzwischen einen offenen Vernichtungskrieg gegen ihn führte und seinen »unsittlichen Lebenswandel« in der Münchner Presse publikumswirksam anprangerte. Ein Beleidigungsprozess, den Scheler daraufhin gegen die Münchner Post angestrebt hatte, zeichnete ein unschmeichelhaftes Bild des »Professors für Ethik« und hatte zur Folge, dass Scheler als Privatdozent seines Amtes enthoben wurde, seine venia legendi verlor und in den Folgejahren trotz intensiver Bemühungen zunächst auch keine Universitätsanstellung mehr erhielt. Vgl. Henckmann 1998, 16-39.
R ELIGION IN DER W ISSENSSOZIOLOGIE physischen Mächten, die danach streben, sich miteinander zu versöhnen, wodurch sich in und mit ihnen eine jenseitige, überpersönliche, schlechthin absolute Gottheit mehr und mehr zur Wirklichkeit bringe. 65
Märit ließ sich von Scheler scheiden, dieser heiratete Maria 1924 und bemühte sich erfolgreich um einen Ortswechsel. Seine neue Stelle als Professor für Philosophie und Soziologie an der jungen Universität Frankfurt konnte er jedoch nicht mehr antreten, er verstarb überraschend am 19. Mai 1928 an Herzversagen.66
Die Krise der Metaphysik Mit der Herausgabe des Sammelbandes Versuche einer Soziologie des Wissens (1924) am Kölner Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften etablierte sich Max Scheler als einer der Wortführer in der soziologischen erkenntnistheoretischen Debatte. Zwei Jahre später erscheint eine Sammlung seiner eigenen wissenssoziologischen Arbeiten unter dem Titel Die Wissensformen und die Gesellschaft,67 die nun eine 190 Seiten umfassende Erweiterung seines Beitrages von 1924 enthält. In dieser umfangreichen Abhandlung, Probleme einer Soziologie des Wissens, nehmen philosophische Überlegungen und Setzungen einen in den Augen heutiger soziologischer Leser bisweilen befremdlich wirkenden, großen Raum ein, während die Fragen der sozialstrukturell bedingten Verteilung und Produktion von Wissen in der Gesellschaft offenbar nur an der Peripherie erscheinen. Um Schelers Anliegen im Kontext seiner Zeit zu verstehen, müssen an dieser Stelle verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Weder in Deutschland und Österreich noch in Europa insgesamt gab es in der Periode nach dem Ersten Weltkrieg eine einheitliche Vorstellung davon, was Gegenstand, Methoden und erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Soziologie seien. Auguste Comte und Herbert Spencer hatten naturwissenschaftliche Idealvorstellungen verinnerlicht: Ersterer wollte eine physique sociale begründen, Letzterer wollte mit dem universalen Anspruch seines Systems der synthetic philosophy alle Gebiete des Lebens – Biologie, Soziologie, Psychologie und Ethik – auf das eine Gesetz der Evolution zurückführen. Emile Durkheim und Ferdinand Tönnies waren bemüht, das Verhältnis des Einzelnen zum gesellschaftlichen Ganzen zu bestimmen, also der Frage nachzugehen, wie Gesellschaft überhaupt möglich sei, während Max Weber das soziale Handeln und die Lebensführung ins Zentrum seiner Betrachtungen stellte. Erst 1909 wurde in Berlin die Deutsche Gesellschaft für Soziologie gegründet und die erste 65 | Henckmann 1998, 32. 66 | Zur Biografie Schelers vgl. Henckmann 1998, 16-39; Good 1998, 9-37; Sander 2001, 13-22 und vor allem die Werkbiografie Jan Notas (1995). 67 | Vgl. Scheler 1926.
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ordentliche Professur für Soziologie erhielt 1919 der Arzt und Nationalökonom Franz Oppenheimer an der Universität Frankfurt. Die Soziologen dieser Generation hatten ihre akademische Ausbildung bei Nationalökonomen, Juristen, Völkerkundlern, Psychologen, Historikern und Philosophen absolviert, so dass die Ansprüche und Entwürfe der neu zu definierenden Disziplin entsprechend vielfältig und weit gefasst waren. Die Soziologie im deutschsprachigen Raum umfasste bis 1933 ganz selbstverständlich auch Ansätze einer historisch orientierten Kultursoziologie und Universalgeschichte wie auch philosophische Erörterungen zur Erkenntnistheorie, aber auch Studien zu beliebigen Feldern des menschlichen (Zusammen-)Lebens. Das zeigen nicht nur die ausgiebigen philosophischen Studien ausgewiesener Soziologen wie Georg Simmels Hauptprobleme der Philosophie (1910), sondern auch die Berufungen der beiden dezidiert philosophisch arbeitenden Denker Max Scheler und Karl Mannheim auf die soziologischen Lehrstühle in Köln bzw. Frankfurt. Im Werk Max Schelers mündet diese Idee einer lebensphilosophisch begründeten Neuorientierung der Geisteswissenschaften als Reaktion auf die fundamentale Krise des Abendlandes in dem Versuch, eine neue Metaphysik ins Leben zu rufen. Hatte ihn der Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch in eine nationalistische Euphorie versetzt, den er als weit über politisch-ökonomische Interessen stehenden Kampf zwischen den großen historisch bewährten Kulturideen verstand,68 so setzte mit dem Kriegsverlauf eine zunehmende Ernüchterung ein, die Scheler in der Hochphase seiner katholischen Glaubensorientierung jedoch positiv umdeutet.69 Den aus seiner Sicht letztlich gottgewollten Weltkrieg versteht er als »erstes wirkliches Gesamterlebnis der Menschheit«, das als bisher tiefste Krise des Abendlandes zur Umkehr mahne und ein neues »Weltalter des Ausgleichs« einläute: Der Weltkrieg sei ein solch erschütterndes Ereignis, dass der »Ruf nach religiöser Erneuerung mit einer Macht und einer Stärke durch die Welt hallen werde, wie es seit Jahrhunderten nicht mehr der Fall gewesen.«70 Die tiefer liegende Ursache der abendländischen Krise lokalisiert Scheler in dem nun dominierend gewordenen, technischen Weltbeherrschungsdrang der neuzeitlichen Europäer, »… daß mithin ein neuer Wille zur Beherrschung der Natur und ein neuer Glaube an die restlose Durchführbarkeit dieses Herrschaftswillens am Anfang des Ursprungs jenes Denkschemas steht.«71 Dieses 68 | Aus gesundheitlichen Gründen war Scheler vom Militärdienst befreit und war lediglich 1917/18 im Dienste des Auswärtigen Amtes als Vortragender für die Betreuung von Kriegsinternierten in Holland und der Schweiz tätig. 69 | Sichtbar wird dieser Wandel im Vergleich von seinen Aufsätzen in Der Genius des Krieges und der deutsche Geist (1915) und Krieg und Aufbau (1916). Vgl. Henckmann 1998, 26ff. 70 | Scheler 1968, 103. Vgl. Good 1998, 33f.; 135-152. 71 | Scheler 1960b, 257.
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neuzeitliche Denken habe die kontemplativen geistigen Traditionen des Mittelalters fast vollständig zugunsten rein vernunftgeleiteter Maximen (Kant) verdrängt, die den vitalen Machttrieb des Menschen anstatt auf die Beherrschung von Menschen nun im demokratischen Zeitalter auf die Beherrschung der Welt und Natur lenkten. Damit aber würden nur die niederen Werte des Lebens verwirklicht, während Religion und Metaphysik praktisch aufgegeben wurden und dem Menschen somit die eigentlichen Sinnstrukturen seines »Daseins« verschlossen blieben. Eine wichtige Ursache für diese historische Entwicklungstendenz des Denkens sieht Scheler im positiven Arbeitsethos der Massen, der durch die Idee des jüdisch-christlichen Schöpfergottes befördert wurde. Denn dieser Gott stelle sich mit dem Sechstagewerk der Weltschöpfung als ein tätiger Gott, als ein Vorbild des homo faber, dar, der nun seinerseits die Welt nach seinem Bilde gestalten wolle. Die Aufgabe des noch in der griechischen Antike und teils im europäischen Mittelalter gelebten kontemplativen Ideals, diesen Umsturz der Werte, bezeichnet Scheler als ein »Gespinst von Irrtümern«.72 Die geistige Krise Deutschlands nach der Reichsgründung 1871 führt er denn auch auf eine völlige »materielle Überarbeitung« des deutschen Volkes zurück, das sich nicht mehr den moralisch-geistigen Herausforderungen seiner Zeit stellte, sondern ausschließlich dem neudeutsch-preußischen Arbeitsideal huldigte.73 Diese generelle Krisenbeschreibung seiner Zeit verbindet Scheler mit einer fundamentalen Kritik an den »positiven Wissenschaften«, wie sie vor allem von Auguste Comte, Herbert Spencer und Emile Durkheim formuliert wurden. Ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen seien nur ein Spiegel des ausschließlich auf Macht und Naturbeherrschung ausgerichteten, neuzeitlichen Denkens, das keine metaphysischen »Wesenseinsichten« mehr zulassen würde.74 Scheler rezipiert aus Comtes Dreistadiengesetz die Aufteilung der Wissensformen in religiös-theologisches, metaphysisch-philosophisches und wissenschaftlich-positives Wissen, weist jedoch – wie bereits Ludwig Gumplovicz – die entwicklungsgeschichtliche Hierarchisierung der drei Wissensformen aufs Schärfste zurück:75 »Das religiös-theologische Erkennen und Denken sind nicht historische Phasen der Wissensentwicklung, sondern essentielle, dauernde, mit dem Wesen des menschlichen Geistes selbst gegebene Geisteshaltungen und ›Erkenntnisformen‹.«76 Diese idealtypischen Wissensformen sind Scheler zufolge nicht ableitbar aus den sich fortschreitend verändernden, gesellschaft72 | Vgl. Scheler 1960a, 124, 162-185; Scheler 1960b, 257. 73 | Vgl. Scheler 1963b, 275f. 74 | Vgl. Scheler 1960b, 193-211. 75 | Vgl. Gumplovicz 1926, 62, 249ff. 76 | Scheler 1963a, 19. »Comte nahm also für zeitliche Entwicklungsstufen, was de facto nur ein Differenzierungsprozeß des Geistes ist.« Scheler 1960a, 29. Vgl. Bracht 1974, 8ff.
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lichen Gegebenheiten, sondern sie beschreiben verschiedene Zugangsweisen zur überzeitlichen »Geistsphäre« des Menschen und ihrer praktischen Umsetzung in der gesellschaftlichen Realität. Folglich sind Religion und Metaphysik keine überlebten Stufen des menschlichen Geistes; sie sind und waren stets Teil des menschlichen Denkens und Erkennens. Die Zurückdrängung von Metaphysik und Religion in materialistischen und »soziologistischen« Geschichtsund Gesellschaftsmodellen des Abendlandes ist im Gegensatz zu Asien für Scheler Ursache und Symptom der Krise seiner Zeit und nicht das Ergebnis einer ideologiefreien, historischen Analyse.77 Entgegen der von Condorcet begründeten, eurozentrischen Fortschrittsdoktrin, die auf der kumulierbaren Weiterentwicklung von empirisch-technischen Wissensbeständen beruht, unterliegt das metaphysisch oder religiös erkannte »Wesenwissen« aus der Sicht Schelers keinen linearen Verlaufsgesetzen. Dieses Wissen kann im geschichtlichen Prozess mal stärker, mal weniger stark zunehmen und sichtbar sein, es kann sogar in Vergessenheit geraten und erst durch eine Neuentdeckung revitalisiert werden (wie auch Schelers eigene Neubegründung der Metaphysik). Auf dem Gebiete der Kultur, die von den Seelenerfahrungen abhängig sei, könne daher nicht von einem Fortschrittsprozess, sondern lediglich von einer Kulturbewegung die Rede sein. Metaphysische Systeme veralten daher nie wirklich, sie können nie »überholt« werden und sind in diesem Sinne streng apriori.78 Eine wichtige Rolle in Schelers Kritik der materialistischen und positivistischen Geschichtsphilosophie spielt die sicherlich stark orientalistisch gefärbte Idealisierung »Asiens«, d.h. vor allem des Buddhismus und der chinesischen Philosophie. Die Dominanz der Religion und Metaphysik in heutigen asiatischen Kulturen relativiere einerseits die europäische Fortschrittsdoktrin, biete andererseits jedoch die Chance einer Ergänzung von okzidentalem und asiatischen Denk- und Erkenntnisformen. Denn Europa und Asien hätten die dem Menschen mögliche Wissensaufgabe in grundsätzlich verschiedener Grundrichtung begonnen: »Europa in der vorwiegenden Richtung von der Materie auf die Seele, Asien von der Seele auf die Materie.«79 Aus dieser unterschiedlichen Entwicklung der Denkformen folgert Scheler, dass … die großen menschlichen Kulturen und Erkenntniszusammenhänge – schon auf dem Niveau des apriorischen Wissens – gegenseitig unvertretbar und unersetzlich sind, und daß es mithin nicht im historischen Inhalt oder im Inhalt des Blutes und der Rassenanlagen … sondern im Wesen von Vernunft und Erkenntnis selbst gelegen ist, daß nur ein 77 | Vgl. Scheler 1960a, 58-68; Scheler 1963a; Deininger-Meyn 1986, II; Kiss 1997, 129-133. 78 | Vgl. Scheler 1963d, 20ff.; Scheler 1960a, 35-40. 79 | Scheler 1960a, 146.
R ELIGION IN DER W ISSENSSOZIOLOGIE Miteinander des Erkennens, eine Kooperation der Teile der Menschheit in allen höchsten Geistestätigkeiten (auch bei idealer Rechtheit ihrer Anwendung) eine vollständige Erkenntnis der Wesenswelt zu leisten vermag. 80
Diese Wesenseinsichten entstehen laut Scheler als Teilhabe, als platonische Methexis (ƫоƧƤƭƨư), des Menschen an der Welt der Ideen und des Geistes, die das eigentliche und wahrhafte »Sosein« der Welt verkörpert. So wie der einzelne Mensch nur den Bedeutungsgehalt der Wesenseinsicht realisiert, auf den er durch seine standortgebundene, subjektive Erkenntnis- und Wertstruktur gerichtet ist, so wie er aus der möglichen Fülle der Sinngestaltungen einige hervorhebt und andere unterdrückt und so wie jedes Denken und Werten nur partiell im Blick auf das Ganze sei, so haben laut Scheler die Weltkulturen eine verschiedene Teilhabe am ewigen Logos. Da Geist nicht als Einheit der Menschennatur existiere, sondern von vornherein nur in einer unendlichen, konkreten Vielheit von Gruppen und Kulturen, sieht Scheler hier die zentrale Aufgabe der Kultursoziologie: »Eine gemeinsame Struktur- und Stilgesetzlichkeit durchwaltet nur die je lebendigen Kulturelemente einer Gruppe, durchwaltet Religion und Kunst, Wissenschaft und Recht eines Kultur-Konkretums. Diese für jede Gruppe in den Hauptphasen ihrer Entfaltung herauszuarbeiten, ist eines der höchsten Ziele, das sich die Geistesgeschichte setzen kann.«81 Eine vollständige Erkenntnis der Wesenswelt bedarf aller Nationen, Kulturkreise und Zeitalter – die europäisch-amerikanische Wissenschaftskultur müsse sich heute mit den metaphysischen »Seelentechniken« der Asiaten verbinden, um die offenbaren Defizite des inneren Lebens zu kompensieren.82 Vor diesem Hintergrund entwirft Scheler die weitreichende Vision des »Weltalters des Ausgleichs« als einen neuartigen Kosmopolitismus der Kulturkreise, der alle politischen, kulturellen, sozialen und rassischen Gegensätze bei stetiger Differenzierung des geistigen Individuums Mensch überwinden werde: »Er ist unentrinnbares Schicksal. Wer sich dagegen stemmt, wer irgendein sogenanntes ›charakteristisches‹, ›spezifisches‹ Ideal des Menschen kultivieren will, ein historisch schon plastisch geformtes – er wird in die Luft stoßen.«83 Die sichtbaren Katastrophen und Konflikte zwischen den Klassen und Nationen seien letztlich eine Folge des niederen, machtorientierten Widerstrebens, das sich dieser allumfassenden Kraft und Tendenz des Ausgleichs noch entgegenstelle.84
80 | Scheler 1963c, 330. 81 | Scheler 1960a, 25. 82 | Vgl. Scheler 1960a, 26f., 135-140; Scheler 1976b. 83 | Scheler 1976b, 152. 84 | Vgl. Scheler 1976b, 150-156.
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Geist und vitaler Drang Wie aber sind Metaphysik, die Erkenntnis von Wesenseinsichten und die Generierung von Wissen im Allgemeinen überhaupt möglich? Noch vor der Diskussion der sozialen Wissensformen ist es in diesem Zusammenhang notwendig, Schelers lebensphilosophisch geprägten Dualismus von Geist und Vitalkräften zu verstehen. In der alltäglichen menschlichen Erfahrung verbinden sich der realitätssetzende »Drang« und der sinnstiftende Geist, womit Scheler grundlegend eine Unterscheidung zwischen der Erfahrung des Realseins der Welt und der Erfahrung ihres Sinnes, ihrer Bedeutung, einführt: Das pure Realsein ist das »Dasein«, von diesem zu trennen ist sein Sinn, das »Sosein«. Jedes gedankliche Erfahren, jede intellektuelle Teilhabe an der Welt ist für Scheler Teilhabe am »Sosein«. Die Realität, das »Dasein« der Welt, wird im Widerstand des Seins erfahren, als Widerstand gegen unser Strebens- und Triebleben. An dieser Stelle rezipiert und transformiert Scheler eine durch Nietzsche, Schopenhauer und Oswald Spengler geprägte voluntative Trieblehre des Menschen, die voraussetzt, dass Erfahrung der Welt gleichwie menschliches Handeln stets auch durch eine im Vitalzentrum gelagerte »Drangkraft« gesteuert seien: »Es gibt keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Vorstellung, hinter der nicht der dunkle Drang stünde.«85 Dieser schöpferische Drang, der sich als Fortpflanzungstrieb, Nahrungstrieb und Machttrieb artikuliert, erzeugt, indem er den Menschen auf die Realität des »Daseins« stößt, laut Scheler die grundlegende Spannung zwischen Trieb und Begehren, die das ganze menschliche Leben prägt. Dass und wie wir die Welt als Gegenstand bewusstseinsmäßig erfahren, sei auf diese Weise direkt abhängig von der Eigenart unseres vitalen Strebens. Sinn werde daher nur ausschnitthaft, selektiv in Hinblick auf das von unserem Seinssinn Erstrebte konstruiert, denn die Alltagserfahrung als ein wertgeleiteter Selektionsmechanismus ist nach Auffassung Schelers bestimmt durch dieses praktisch-triebhafte Interesse des Vitalwesens Mensch. Er ist damit kein völlig freies Wesen sondern weitgehend festgelegt durch seine vitale Vorherbestimmung.86 Verfügen Mensch und Tier gleichermaßen über eine Vitalseele und praktische Intelligenz, so wird jedoch nur für den Menschen die Umwelt im Akt der Reflexion zur Welt, zum Gegenstand – ihm allein gelingt laut Scheler die Umwandlung der affekt- und triebumgrenzten Widerstandszentren zu Gegen85 | Scheler 1976a, 16. 86 | Vitalistisch ist auch Schelers Auffassung der sozialen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die sich zunächst nach angeborenen Begabungen und Befähigungen der Gruppen (nach Rassen, Erbwerten usw.) gestalte. Erst innerhalb dieser Gruppen wirke die Arbeitsteilung differenzierend. Vgl. Scheler 1963c, 328; Scheler 1960b, 360; Scheler 1976a, 16ff. Deininger-Meyn 1986, 96, 118-134; Nota 1995, 165-173.
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ständen. Vergegenständlichung ist aber Teilhabe am geistigen Prinzip der Welt, am »Sosein« der Welt. Als reines Triebwesen hätten wir nur Bildeindrücke der Welt, nicht aber Bedeutungen. »Tiere haben Umwelten und leben ekstatisch in sie hinein. Der Mensch hat Weltwissen und Göttlichkeitsbewußtsein zugleich.«87 Die aktuelle Krise der abendländischen Neuzeit ist für Scheler der End- und Wendepunkt eines gewaltigen Ernüchterungsprozesses, da unsere Drangphantasien, unser Begehren, überall dort durch das reale »Dasein« einer komplexen und hochdifferenzierten Welt eine immer stärkere Zurückweisung erfahren, wo sie nicht erfüllt werden können.88 Diese fortwährende Ernüchterung habe in der langen Kulturgeschichte Europas dazu geführt, dass sich das menschliche Begehren und die schöpferische Phantasie nur noch auf den sinnlichen Wahrnehmungsraum beschränken und auf die Erforschung der Naturgesetze konzentrieren, um schließlich Natur und Welt zu beherrschen.89
Soziologie und Wissenssoziologie Wie überführt Scheler nun dieses durch den Dualismus von Geist und vitalem Drang fundierte Verständnis von Welterfahrung in eine gesellschaftswissenschaftliche Konzeption? In seinem grundlegenden Aufsatz Probleme einer Soziologie des Wissens (1925) ist unverkennbar, dass er hier eine totale Erfassung der sozialen Natur allen Wissens anstrebt: Die Beziehungen einer Soziologie des Wissens zur Ursprungs- und Geltungslehre des Wissens (Erkenntnistheorie und Logik), zur entwicklungsgeschichtlichen und -psychologischen Betrachtung des Wissens von Tier zu Mensch, vom Kind zum Erwachsenen, vom Primitiven zum Zivilisierten, von Stadium zu Stadium innerhalb reifer Kulturen, d.h. zur Entwicklungspsychologie, zur positiven Geschichte des Wissens jeder Art, zur Metaphysik des Wissens, zu den übrigen Teilen der Kultursoziologie (Religions-, Kunst-, Rechtssoziologie usw.) und zur Realsoziologie (Soziologie der Bluts-, Macht- und Wirtschaftsgruppen und ihrer wechselnden »Einrichtungen«) müssen dabei notwendig berührt werden. 90
Scheler führt hier grundlegend zwei Gebiete der Soziologie ein: zum einen die Wesensbetrachtung der »reinen Soziologie«, zum anderen die empirisch-induktive Soziologie, die den historischen Stoff mithilfe eines definierten Metho87 | Scheler 1979, 107. Vgl. Scheler 1960a, 27f.; Scheler 1976a, 34f. 88 | Mit der Thematisierung der Triebstruktur und der irrationalen Natur des Menschen greift Scheler bereits vorhandene Tendenzen der frühen Sozialpsychologie auf wie sie Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Vilfredo Pareto und Georges Sorel entwickelt hatten. Vgl. Knoblauch 2005, 54-63. 89 | Vgl. Scheler 1960b, 344-359. 90 | Scheler 1960a, 17.
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denapparates erforsche. Es gehe hier zum einen darum, das »vorwiegend geistig bedingte und auf geistige, d.h. ›ideale‹ Ziele,« gerichtete Sein und Handeln, Werten und Verhalten des Menschen zu untersuchen, und zum anderen darum, das intentional gerichtete Handeln, Werten und Verhalten zu analysieren, das durch die vitalen Triebe (Fortpflanzung, Nahrung, Macht) die reale Veränderung von Wirklichkeiten intendiere.91 Diese beiden Bereiche werden der Kultursoziologie und der Realsoziologie zugeordnet, das menschliche Handeln wird entsprechend zu den geistigen Idealfaktoren und den triebbedingten Realfaktoren in Beziehung gesetzt. Scheler unterscheidet stets von der Intention des Handelns her, das entweder auf ein ideales, geistiges Ziel, wie das wahre Wissen über die Natur (Physiker) oder auf den Genuss künstlerischer Anschauung (Maler) ausgerichtet sei, oder aber letztlich nur auf die praktische Umsetzung und Befriedigung der Triebe abziele, wie das technische Wissen des Arbeiters und Wirtschaftsführers in der Industrieproduktion oder das strategische Wissen des Politikers im öffentlichen Machtgefüge: »Und darum ist für die Kultursoziologie eine Geistlehre des Menschen, und für die Realsoziologie eine Trieblehre des Menschen eine notwendige Voraussetzung.«92 Diese Scheidung des gesamten menschlichen Lebensinhaltes versteht Scheler als Soziologie des Über- und Unterbaus im vitalistischen Sinne von Geist und Lebensdrang. Während sich im Überbau die geistigen Gehalte als Verzeitlichung des ewigen Geistes, als Resultate von Wesenseinsichten, zeigen, spiegelt der Unterbau die Triebe des Menschen wider. Ökonomische, politische und soziale Verhältnisse gehören der Triebseite, dem Unterbau an, während Religion und Metaphysik dem Geist zugeordnet werden. Nur naturwissenschaftliche Grundaxiome werden dem Geist zugeordnet, während laut Scheler alles Praktische dem Unterbau angehört.93 Ziel dieser ontologischen Scheidung sei gerade das Verständnis des Zusammenwirkens dieser geistigen Idealfaktoren und der triebhaften Realfaktoren. An dieser Stelle formuliert Scheler das Gesetz des möglichen dynamischen Werdens, das besagt, dass der Geist zwar die Soseinsbeschaffenheit der Kulturinhalte, die werden können, bestimme, dass er jedoch als solcher keine eigene positive Kraft oder Wirksamkeit habe. Vielmehr würden die realen, triebhaft bedingten Lebensverhältnisse determinieren, welche Aspekte des Geistes selektiert und ins Dasein gesetzt werden: »Erst da, wo sich ›Ideen‹ irgendwelcher Art mit Interessen, Trieben, Kollektivtrieben oder, wie wir letztere nennen, ›Tendenzen‹ vereinen, gewinnen sie indirekt Macht und Wirksamkeitsmöglichkeit.«94 Die Idealfaktoren können damit den Geschichtsverlauf nicht positiv verändern oder beherrschen, aber in Verbindung mit der 91 | Vgl. Scheler 1960a, 18. 92 | Scheler 1960a, 19. Vgl. a.a.O., 17-34. 93 | Vgl. Scheler 1960a, 49. 94 | Scheler 1960a, 21.
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triebbedingten Selektion und Wahrnehmung durch den Menschen kann Geist wirksam werden. Auf diese Weise entwirft Scheler ein Bild der Geschichte, demzufolge sie nichts weiter ist als eine stets sich wandelnde Vergegenwärtigung geistiger Inhalte unter dem Druck eines sich verändernden naturalen Untergrundes.95 Es ist evident, dass diese letztlich metaphysische Auffassung der Kultursoziologie eine klare Zurückweisung der soziologischen Gesellschaftsanalysen von Durkheim, Marx und Max Weber impliziert. Erstere bezeichnet Scheler als »grundirriges Unterfangen« und formuliert mit spitzer Feder gegen Marx: »Ja in letzter Linie gilt für uns durchaus der Satz von Karl Marx, daß es das Sein der Menschen sei (freilich nicht nur ihr ökonomisches, ›materielles‹ Sein, wie Marx gleich mitsetzt), nach dem sich auch all ihr mögliches ›Bewußtsein‹, ›Wissen‹, ihre Verstehens- und Erlebnisgrenzen richten.«96 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Scheler die Analyse des historischen Wissens – also auch Theorien wie den historischen Materialismus – als abhängig vom wandelbaren Standort des historischen Beobachters sieht. Mit Verweis auf Karl Mannheim und William Stern betont er, dass die Selektion und Erkenntnis relevanter historischer Tatbestände und deren Bewertung und Sinnverwertung von dem Bewusstsein und den Erkenntniswegen des Betrachters abhängen: »Es gibt nur ein metaphysisches, kein historisches ›Ding an sich‹.«97 Trotz dieser aus heutiger soziologischer Sicht schwer nachvollziehbaren Verbindung zwischen metaphysischen Annahmen und gesellschaftlichen Aspekten betont Scheler den sozialen Charakter allen Wissens, da ja die Auswahl der Gegenstände und Inhalte des Wissens den sozial und vital bedingten Interessen entsprechen. Die soziologische Natur allen Wissens zeige sich daher nicht an ihren Inhalten oder ihrer Sachgültigkeit, sondern in der »Auswahl der Gegenstände des Wissens nach der herrschenden sozialen Interessenperspektive«, die Formen der geistigen Akte, in denen Wissen gewonnen wird, sei stets und notwendig soziologisch, also durch die Struktur der Gesellschaft mitbedingt.98 In seinen Axiomen der Wissenssoziologie postuliert Scheler nun, dass Wissen durch ein in allen Kulturen und Epochen konstantes Ordnungsgesetz gegliedert sei. Die Wissenssphären betreffen a) zunächst die Absolutsphäre des Wirklichen und Werthaften, des Heiligen; b) die Sphäre der Mitwelt, Gesellschaft und Geschichte; c) die Sphäre der Außenwelt, Innenwelt und des Leibes und seiner Um-
95 | Vgl. Deininger-Meyn 1986, 168. 96 | Scheler 1960a, 17f. FN 1. Vgl. a.a.O., 22. Webers soziologischen Ansatz stellt er als reduktionistisch dar, vgl. 17f. FN 1. 97 | Scheler 1960a, 152. Vgl. a.a.O., 150-153. 98 | Vgl. Scheler 1960a, 58; Bracht 1974, 5ff.
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welt; die Sphäre des als »lebendig« Vermeinten und e) die Sphäre der toten und als »tot« erscheinenden Körperwelt.99 Sozialstrukturell sei Wissen in den sozialen Formen geistiger Kooperation organisiert, so wie das Heilswissen in Kirchen, Sekten, Gemeinden, theologischen Schulen etc., oder die positive Wissenschaft in Lehr- und Forschungsorganisationen (Universitäten) und Berufsverbänden (der Ärzte, Juristen…) vorhanden sei. Das soziale Wissen, das durch die Standes-, Berufs-, Klassen- und Parteizugehörigkeit bestimmt werde, sei eine Mischform von »(vermeintlichen) Wissensinhalten« und kollektiven Interessen, die letztlich nur Vorurteile und Scheinwissen darstellten. Die kollektive Interessengebundenheit bleibt Scheler zufolge den Trägern unbewusst und werde zur weiteren Legitimation mit religiösem, metaphysischem und positiv-wissenschaftlichem Denken verbunden, woraus Ideologien wie der Marxismus entstehen könnten.100 Das Klassenproblem und das damit verbundene Erkenntnisproblem von gesellschaftlichen Fakten, das so zentral für Karl Mannheim wurde, ist in der totalen und universalgeschichtlichen Perspektive Schelers bloß ein marginales Problem seiner Gegenwart, in der die klassengegliederte Gesellschaft entsprechende Ideologien bildet. »Diese Idole werden in den Klassen traditional – sozusagen mit der Muttermilch eingesogen.«101 Diese Ideologien des gesellschaftlichen Unterbaus dürften nicht verwechselt werden mit der Perspektivenvielfalt der Kulturen, die auf die Wesensschau zurückgehen und je eine Kultur oder Epoche prägen würden. Ideologien sind nur Variation eines beide Klassen umgreifenden Weltbildes, denn Bürgertum und Proletariat teilen nach Ansicht Schelers dieselbe Grundeinstellung des Erkennens und Wertens und einen gemeinsamen Wissenschaftsbegriff. Beide sozialen Klassen seien auf Naturbeherrschung ausgerichtet und kultivieren dasselbe Arbeitswissen. Was man proletarische Wissenschaft nennt, sind laut Scheler »nur Abfälle und Brocken der sogenannten ›bürgerlichen Wissenschaft‹«.102 Ein Gegensatz bestehe nur im Weltbild der Neuzeit und des Mittelalters, nicht aber zwischen den Klassen. Politische Ideologien artikulieren, so schließt Scheler, daher stets ein falsches Bewusstsein, da ihre Träger sich nicht über die nur partielle Sichtweise und ihre eigenen, stets interessenbedingten Perspektiven bewusst seien.103
Werthierarchien, Wissenshierarchien und Sozialhierarchien Die verschiedenen Formen sozialen Wissens sind für Scheler jedoch nicht wertneutrale, idealtypische Konstruktionen, sondern korrespondieren mit einer 99 | Vgl. Scheler 1960a, 56. 100 | Vgl. Scheler 1960a, 31f. 101 | Scheler 1960a, 175. 102 | Scheler 1960c, 404; Deininger-Meyn 1986, 170f. 103 | Vgl. Scheler 1960a, 172f.
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metaphysisch begründeten ewigen Rangordnung der Werte, die stark vom aristotelischen Denken beeinflusst ist.104 Demnach sei das vollkommenste Leben das des Philosophen, das Leben des tätigen homo faber dagegen gehöre nicht zu den eines freien Menschen würdigen Lebensweisen. Ebenso stehen für Scheler die Werte, die durch Arbeit verwirklicht werden, ganz unten in seiner Wertskala: »Zwischen einem klugen Schimpansen und Edison, dieser nur als Techniker genommen, besteht nur ein – allerdings sehr großer – gradueller Unterschied.«105 Dem entsprechend gestaltet Scheler eine hierarchische Erkenntnis- und Wissenspyramide, in der diese ewige Rangordnung der Werte verwirklicht wird: Wissen erstrecke sich auf die Bereiche des Herrschafts- und Leistungswissens, des geistigen Bildungswissens und des Erlösungswissens. Die unterste Stufe des Wissens sei durch den Trieb zur Macht, den Willen zur Herrschaft über die Natur, die Menschen und Gesellschaft, gekennzeichnet und sei dem Naturwissenschaftler wie dem Politiker zu eigen. Im geistigen Wissen trete an die Stelle der Machtintention das Gefühl der Verwunderung über die göttliche Schöpfung. An höchster Stelle jedoch steht für Scheler das religiöse Wissen, das auf Heil der Person und Erlösung ausgerichtet ist. Die Tugend der Arbeit, die das aufklärerische Bürgertum gegen die Aristokratie etablierte, verurteilt Scheler als eine »Désordre des Geistes und des Herzens, welche die Seele des bürgerlichkapitalistischen Zeitalters ausmacht.«106 Durch die unterschiedliche Teilhabe an der ewigen Rangordnung der Werte entspringt Schelers Auffassung gemäß die natürliche Wertdifferenz der Menschen, denn durch sein Vitalzentrum sei jeder Mensch strebensmäßig auf bestimmte Werte ausgerichtet und könne bedingt durch seine je besondere Triebstruktur nur eine begrenzte Anzahl von möglichen Erkenntnis- und Handlungsformen realisieren.107 Ganz explizit hatte Scheler beabsichtigt, diese Hierarchie der Werte und Wissensformen mit einer »Rangordnung reiner Wertpersonentypen« zu verknüpfen.108 Die an der Teilhabe am ewigen Logos gemessene Verteilung sozialen Wissens impliziere folglich auch stets eine Hierarchie in der menschlichen
104 | Zu beachten ist hierbei jedoch, dass Scheler im Spätwerk (nach 1925) die Idee einer absoluten Rangordnung der Werte in einem ethischen Absolutismus zugunsten eines dynamischen Absoluten zunehmend aufgibt. Es gebe keine ewigen Formen des Seins, keine absoluten Ideenkonstanten. In seinen wissenssoziologischen Arbeiten wurden diese späten Änderungen (noch) nicht berücksichtigt. Vgl. Cusinato 1997, 62-64. 105 | Scheler 1976a, 31. 106 | Scheler 1968, 73. 107 | Vgl. Scheler 1960a, 60-69; Scheler 1960b, 193-211; Deininger-Meyn 1986, 117. 108 | Vgl. Scheler 1957c, 514.
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Sozialstruktur, die letztlich wieder im Einklang mit Schelers fortlaufender Zivilisationskritik aus dem Verhältnis zur produktiven Arbeit abgeleitet wird: Die Metaphysik ist unter den übrigen Wissensformen, soziologisch gesehen, stets diejenige geistiger Eliten, die losgelöst von den religiösen und sonstigen Traditionen ihrer Lebensgemeinschaft und frei von wirtschaftlicher Arbeit, Muße haben, die Welt nach ihren ideellen Wesensstrukturen in rein theoretischer Einstellung zu betrachten und in Verbindung mit dem Wissensstande der Zeit in positiv wissenschaftlicher Hinsicht, wahrscheinliche Hypothesen über die letzten Gründe der Dinge auszubilden.109
Entsprechend ordnet Scheler den sozialen Schichten der »Ober- und Unterklasse« die klassenmäßig bestimmten formalen Denkarten zu: Seinsbetrachtung, Idealismus und Aprioriwissen der Oberklasse – Werdensbetrachtung, Realismus und Empirismus der Unterklasse.110 Es ist offensichtlich, dass Scheler der geistigen Elite die wichtigste Rolle im geschichtlichen Werden einer Gesellschaft einräumt – nur ihnen ist durch die weitestgehende Befreiung von materiellen Zwängen die Erkenntnismethode der »Reduktion« möglich.111 Darunter versteht Scheler die Befreiung des Menschen von den ihn bestimmenden Vitalkräften als eine »Bloßlegung des Geistes«. Diese höchste Form der philosophischen Wesenserkenntnis sei unter einer geistigen Askese möglich, als Ausschaltung der dynamisch-triebhaften Aufmerksamkeit, wie sie Buddha, Platon, Augustinus und Henri Bergson verwirklichen konnten. In dieser geistigen Reduktion reinigt sich laut Scheler das Subjekt von seiner praktisch-begehrlichen Haltung.112 Diese Wesenseinsichten, die von der Geistaristokratie der »Genies, Weisen und Heiligen« durch ihren (fast) exklusiven Kontakt mit der Geistsphäre gewonnen werden, verbreiten sich Scheler gemäß nachfolgend über diese »Führer, Vorbilder und Pioniere« in die Masse und »Kultur« eines Volkes. Ihnen entspricht die Lebensweise der Kontemplation.113 Er legt Wert darauf, diese Führerfiguren als Teil des geistigen Überbaus der Gesellschaft zu betrachten: »Von der bereits von Jakob Burckhardt gebührender Lächerlichkeit anheimgegebenen Sitte unseres Zeitalters, auch von genialen Bankgründern, Kartoffelbauern und Handelsleuten zu reden, schämen wir uns, hier etwas Weiteres zu erwäh-
109 | Scheler 1924, 72. 110 | Vgl. Scheler 1960a, 171. 111 | Scheler rezipiert an dieser Stelle Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion, deutet diese jedoch im Kontext seiner dualistischen Metaphysik als asketische Ausschaltung des Vitalzentrums. Vgl. Deininger-Meyn 1986, 193-217. 112 | Vgl. Scheler 1960a, 138. 113 | Vgl. Scheler 1957b; Scheler 1960a, 21; auch ebd. FN 2.
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nen.«114 Das von Scheler prophezeite »Weltalter des Ausgleichs« wird in diesem Sinne zunächst auch kein Ereignis massenhafter menschlicher Verbrüderung sein, sondern ein Gespräch der Eliten der verschiedenen Kulturkreise, insbesondere der Dialog mit dem Buddhismus erscheint ihm vielversprechend.115
Gott, Religion und der religiöse Akt Nach den bisherigen Ausführungen ist offensichtlich, dass sich für Scheler die Frage gar nicht stellt, ob die Religion als Ganzes weiter bestehen werde – selbst wenn einzelne Kirchen oder Konfessionen des Christentums in eine Krise geraten würden, insgesamt erwartet Scheler ein religiös äußerst lebendiges Zeitalter.116 Auch in seiner Abhandlung Probleme einer Soziologie des Wissens geht Scheler grundsätzlich von einer autonomen und fortwährenden Evolution des religiösen Wissens aus, denn Religion wurde seiner Ansicht nach niemals durch die positiven Wissenschaften überwunden, ja ihnen gelang es noch nicht einmal, den »Religionen auch nur ein Haar zu krümmen«. Die sich in diesem Aufsatz anschließende Skizze der Aufgaben der Religionssoziologie spiegelt eigentlich eher Schelers Auseinandersetzung um die Krise der Religion, der »zeitgenössischen Massenheilanstalt«, und sein philosophisches Bemühen um die Etablierung einer neuen Metaphysik wider als ein wissenssoziologisches Forschungsprogramm.117 In seiner Skizze der Religionssoziologie referiert Scheler explizit die damals gerade erschienene Habilitationsschrift von Joachim Wach Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung (1924) und Rudolf Ottos Das Heilige (1917) – Letzterer versteht sich ausdrücklich in der Nachfolge und Fortführung des Werkes Schleiermachers.118 Scheler beginnt seine Ausführungen mit einem sozialgeschichtlichen, abstrakten Abriss der Religionen: der Entwicklung von Volksreligionen zu personengebundenen Stifterreligionen, von matriarchalen zu patriarchalen Religionen. Die höchsten Religionen, die Stifterreligionen, seien durch einen von einer Gruppe »angenommenen und 114 | Scheler 1957b, 288. 115 | Vgl. Scheler 1960a, 162. Auch in seinem politischen Weltbild vertritt Scheler das Ideal einer liberalen Demokratie, die durch kleine Eliten geführt wird. Vgl. Scheler 1960a, 84. 116 | Vgl. Scheler 1968, 116ff. 117 | Vgl. Scheler 1960a, 75-84. Ebenso fokussiert die Erörterung über das wissenschaftlich-positive Wissen vor allem den Konflikt zwischen Metaphysik, Religion und Naturwissenschaft als abendländisches Krisenphänomen. Vgl. a.a.O., 92-134. 118 | Vgl. Scheler 1960a, 69 FN 1, 75 FN 1. Zur Komplexität des Schelerschen Heiligkeitsbegriffes und zum Verhältnis zu Ottos Idee des Heiligen vgl. Gabel 1997, 119-121; Martin-Izquierdo 1964, 170-183. Zur Schleiermacherrezeption bei Otto vgl. Otto 1929, 324-341; Otto 1991, 8-37, 172-179.
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geglaubten Erfahrungskontakt ausgezeichneter Personen mit dem übermächtig Heiligen selbst« gekennzeichnet; Dogmen und Lehrsätze seien erst nötig, wenn Religionen zu »Heilsmassenanstalten« werden.119 Die Krise aber auch die neuen Perspektiven der Religion ergeben sich für Scheler aus der schon zuvor geschilderten Spannung zwischen der abendländischen und den mystisch orientierten asiatischen Religionen, deren Ausprägungen soziologisch auf den Charakter ihrer Völker zurückzuführen seien. Das Abendland würde demnach auf die Ausdehnung politischer, ökonomischer und technischer Macht abzielen, die eine »harte und unbedingte Massenbindung des denkenden Geistes betreffs der letzten Daseinsfragen« erfordere: Völker, die dauernd eigenmächtig über den metaphysischen Sinn des Lebens nachdenken und das, was sie für Heil oder als Göttliches erachten, selbst aktiv aufsuchen, können ihre Geist- und Willenskraft nicht so restlos der Arbeit an irdischen Dingen schenken wie Völker, bei denen diese Fragen durch Offenbarung, Autorität, Dogma und eine allumfassende Massenheilanstalt endgültig und absolut gelöst erscheinen.120
Aus diesem für das Abendland gültigen Richtungsgesetz der Betonung von Offenbarung und Autorität der Kirche bei einer gleichzeitigen Weltorientierung des Lebens, leitet Scheler die okzidentale Krise der »gegenwärtigen Erstarrtheit des religiösen Bewusstseins« ab, die durch die »doppelseitige Erstickung des metaphysischen Wissensstrebens und der freien religiösen Spekulation« verursacht wurde (und im Gegensatz zu Schelers absoluter Wertehierarchie steht).121 Als Feind der erneuerten Metaphysik identifiziert er denn auch vor allem die katholische Kirche mit ihren Dogmen.122 Religion kann vor dem Hintergrund von Schelers metaphysischem Weltbild auch deshalb nicht »überwunden« werden, weil sie konstitutiv für das Menschsein ist. Mensch Sein und Person Sein sind für Scheler nur durch das Vollziehen von sogenannten religiösen Akten möglich: »Die Person ist nur in ihren Akten und durch sie.«123 Er versteht den Menschen als Tendenz und Übergang zum Göttlichen – der Wert der Welt werde so erst in diesen religiösen Akten erkenn119 | Vgl. Scheler 1960a, 70. 120 | Scheler 1960a, 71. Es ist vollkommen klar, dass Scheler den Begriff »Massenheilanstalt« pejorativ einsetzt. Die zeitgenössische Konnotation als Heilanstalt für psychisch Kranke oder Suchtkranke scheint beabsichtigt. 121 | Vgl. Scheler 1960a, 72f. 122 | Nur wenige Gegenströmungen konnten sich nach Ansicht Schelers in der Moderne überhaupt etablieren, wie der George-Kreis – nur trete hier die Verehrung des Meisters gegenüber der freien metaphysischen Spekulation zurück. Vgl. Scheler 1960a, 155-158. 123 | Scheler 1976a, 39.
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bar – als »Durchbruchspunkt« des Reiches Gottes.124 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Religion für Scheler keine dem Menschen anthropologisch konstant angeborene Qualität sei – die Idee Gottes und das Wissen um Gott müsse erst im religiösen Akt der Gotteserkenntnis erworben werden. »Nur weil es keine eingeborene Idee Gottes gibt, gibt es prinzipiell unbegrenztes Wachstum der natürlichen Gotteserkenntnis in den immer neuen Erwerbungsakten der Geschichte des menschlichen Geistes.«125 Die Verbindung des Menschen zum Göttlichen unterliege einer gewissen Dynamik, die niemals eindeutig bestimmbar ist: Es »… ruht zutiefst in uns jene wundersame Spannfeder, die stetig, unter gewohnten regelhaften Umständen meist nur unbemerkt und ungeachtet, zum Göttlichen über uns selbst und über alles Endliche hinaus uns emporzuleiten immerdar tätig ist.«126 Die Existenz Gottes sei gerade dadurch erwiesen, dass Scheler von dem Bestehen der empirisch nie erfüllbaren, »artbesonderen« religiösen Aktklasse des Glaubens, Hoffens und Betens auf die Existenz des diese Akte allein erfüllenden Gottes schließt: »Der Gegenstand der religiösen Akte ist zugleich die Ursache ihres Daseins. Oder: Alles Wissen über Gott ist notwendig zugleich ein Wissen von Gott.«127 Dies sei nur für denjenigen keine Tautologie, der im Vollzug des Glaubensaktes selbst keinen Zweifel habe an der Existenz Gottes – der Zweifel gehöre einer anderen Aktklasse an.128 Jedem Urgegebenen des menschlichen Bewusstseins sei nun zu eigen, dass der Mensch durch den religiösen Akt das Göttliche in zwei Wesensbestimmungen erlebe: »Es ist absolut seiend und es ist heilig.«129 Der Mensch sei ihm gegenüber abhängig und spüre die Allüberlegenheit des Seienden.130 Entscheidend für Scheler ist die Feststellung der eigenen und besonderen Natur religiöser Akte, die stets eine Selbstbeziehung auf Gott seien. Religiöses 124 | Vgl. Bracht 1974, 24f. 125 | Vgl. Scheler 1968, 195. Die Frage des Bruches und der Kontinuität in Schelers Gottesverständnis (die in unserem wissenssoziologischen Kontext keine Rolle spielt) – also dem von 1922 bis 1924 zu beobachtenden Wandel eines theistisch-absoluten Gottesbildes (Vom Ewigen im Menschen) hin zu einem dynamischen Gottesverständnis hat zu anhaltenden Diskussionen in der akademischen Forschung geführt, ob denn Schelers dritte (?) Schaffensphase als »heidnisch-metaphysisch«, atheistisch oder prokatholisch interpretiert werden könne. Vgl. Cardiel 1980, 53-75; Deininger-Meyn 1986, 95-99; Sander 1996, 92-105. 126 | Scheler 1968, 103. 127 | Scheler 1968, 255. Vgl. Wolf 1957, 55-59. 128 | Vgl. Good 1998, 36. 129 | Vgl. Scheler 1968, 159. 130 | Vgl. Scheler 1968, 159-169. Zur religiösen Aktklasse vgl. Martin-Izquierdo 1964, 184-201.
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Handeln als ein subjektiv enthusiastisches Erfassen irgendwelcher Inhalte – wie Gott, Vaterland, die Menschheit – zu begreifen, wie das seiner Ansicht nach Georg Simmel tut, hält Scheler für »vollendet widersinning«. Gott ist für Scheler absolute Realität. Der religiöse Akt gehöre zur Konstitution des menschlichen Bewusstseins als essenzielle Aktklasse wie das Denken, Wahrnehmen, Urteilen und Erinnern. Der religiöse Akt jedoch ziele auf ein anderes »Wesensreich« ab, nicht auf weltliche Wünsche und Bedürfnisse. Er ist laut Scheler zweckfrei und zielt auf eine übernatürliche, von der empirisch-natürlichen Wirklichkeit wesensverschiedenen Realität ab. Er gehorcht keiner psychologischen Gesetzmäßigkeit, sondern ist autonom und verläuft nach eigenen Gesetzen. Scheler unterscheidet hier ferner zwischen religiösen Eigenakten (Selbstversenkung) und religiös-sozialen Akten (Bitten, Lobpreis, Verehrung).131 Der religiöse Akt manifestiert sich dabei auf zweierlei Weise nach außen: zum einen durch seine Ethosform, zum anderen durch »eine irgendwie geregelte Selbstdarstellung im Kulte«. Die beiden Aspekte lassen sich laut Scheler daher nicht aus dem Sozialen ableiten oder stehen an der Peripherie religiösen Handelns, sondern beziehen sich direkt auf die absolute Gotteserkenntnis und der damit verbundenen absoluten Wertehierarchie (nach dem Vorbild des guten Wollens und Handelns Gottes). Der religiöse Akt ist jedoch für Scheler stets gleichzeitig ein individueller wie auch sozialer Akt, da die Erfahrungen keines Menschen oder keiner Gruppe durch die einer anderen ersetzbar seien: Eben weil der religiöse Akt der persönlichste und individuellste Akt des Menschen ist, ist er notwendig ein Akt, der erst in der Form des gemeinsamen ›Miteinander‹ vollständig zu seinem Gegenstande führt. Die Form der Liebes- und Heilsgemeinschaft ist also für die religiöse Erkenntnis im Gegensatz zu jeder anderen Erkenntnis konstitutiv.132
Gotteserkenntnis muss daher laut Scheler eine menschlich kooperative sein.133 Jeder Mensch vollzieht notwendigerweise den religiösen Akt wie auch andere Geistakte. Ziel sowohl des metaphysischen Erkennens als auch des religiösen Aktes ist das intentionale Korrelat des Ewigen und Absoluten. Scheler versteht sie als zwei Wege eines »Konformitätssystems« von Glauben und Wissen, die sich nicht in einem »bewusst-bezweckten« Abhängigkeitsverhältnis, sondern in einer »freien Handreichung« gegenseitig befruchten.134
131 | Vgl. Scheler 1968, 240-244. 132 | Scheler 1968, 261. Vgl. a.a.O., 240-264. 133 | Vgl. Scheler 1968, 200-207. 134 | Vgl. Good 1993, 36.
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2.1.4 Karl Mannheim Es steht außer Frage, dass neben Max Scheler vor allem Karl Mannheim (18931947) den wohl einflussreichsten Beitrag zur programmatischen Ausgestaltung der frühen Wissenssoziologie geleistet hat, der sowohl in der deutschsprachigen als auch englischsprachigen Soziologie mit großer Anerkennung – wenn auch nicht unkritisch – rezipiert wurde.135 Die Religion spielt in Mannheims wissenschaftlichem Werk eine besondere Rolle,136 auch wenn sie in seinen wissenssoziologischen Schriften zunächst nicht an prominenter Stelle in Erscheinung tritt. Religion bildet 1910 den Ausgangspunkt der frühen philosophischen Überlegungen des jungen Mannheim und Religion markiert 1943 den Endpunkt seines soziologischen und pädagogischen Schaffens, als er mit der Wissenssoziologie den rettenden Anker einer orientierungslosen Gesellschaft etablieren wollte. Zwischen diesen beiden biografischen Polen liegt ein weitgehend vereinfachtes Verständnis von Religion, das peripher an verschiedenen Stellen seiner wissenssoziologischen Schriften zu Tage tritt. Andererseits umfasst diese Lebensperiode für Mannheim die zweifache Erfahrung von Diktatur und Vertreibung als – aus seiner diagnostischen Perspektive – Symptome einer krisenhaften, von unverstandenen Irrationalismen erschütterten Moderne. Die »Seinsgebundenheit« der Mannheimschen Sicht auf die Religion soll uns daher im Folgenden interessieren. Károly Mannheim entstammt einer Budapester Familie des bürgerlichen Mittelstandes; der Vater, ein Textilhändler, hatte ungarisch-jüdische Wurzeln, die Mutter hatte deutsch-jüdische Ursprünge. Der zweisprachig erzogene Sohn begann nach dem Abschluss des Gymnasiums (1911) sein Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft (Germanistik, Romanistik) an der Geisteswissenschaftlichen Universität in Budapest und beendete dort seine Studien 1918 mit Staatsexamen und Doktortitel. Die Dissertation Strukturanalyse der Erkenntnistheorie,137 die er bei seinem neukantianischen Lehrer Alexander Bernát schrieb, befasst sich rein philosophisch mit der von Kant aufgeworfenen Problematik der Bedingungen der Selbsterkenntnis. Hinter diesem äußeren akademischen Bildungsweg formierte sich jedoch schon beim jungen Mannheim ein weitaus vielfältigerer Zugang zur Frage von Wissen und Erkenntnis. Im Alter von 18 Jahren wandte er sich voller Bewunderung brieflich an György Lukács, dessen frühe Schriften, vor allem die Seele und 135 | Vgl. Knoblauch 2005, 110f.; Maasen 1999, 20f.; Simonds 1978, 133-159. 136 | Dagegen sieht Knoblauch die Religionsthematik bei Mannheim insgesamt sehr stark in den Hintergrund getreten, David Kettler erkennt in der Marginalisierung der Religion gar den großen Schwachpunkt von Mannheims eigenen Studien. Vgl. Knoblauch 2005, 90; Kettler 2007, 162f. 137 | Vgl. Mannheim 1978.
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die Formen (1910), Mannheim offenbar begeistert aufgenommen hatte. Er sandte dem bekannten ungarischen Intellektuellen mit der Bitte um eine Beurteilung seine »Abhandlung über Mystiker«,138 die jener auch bereitwillig aufnimmt und Mannheim zu einem persönlichen Gespräch einlädt. Der Text erörtert die Frage der Einheit und Möglichkeit von Erkenntnis vor dem Hintergrund des mystischen Erkennens, wie es vor allem im Werk Meister Eckharts zum Vorschein tritt.139 Nach Mannheim praktizierte die ursprüngliche christliche Mystik eine ideale Einheitserfahrung, die durch die immanente Gotteserfahrung die Spannung zwischen Erfahrung des Selbst und Betrachtung der Welt überwinden konnte. Mannheim entwickelt daraus die idealistische Vision, dass in der Mystik der Einzelne zwar in der ihm verfügbaren Einheit versinke, daraus aber an der »Großeinheit« partizipiere. Aus den begrifflosen Gefühlen dieser primären, persönlichen Einheitserfahrung könne so eine tiefe, innere Verbundenheit zwischen den Menschen entstehen.140 Die Möglichkeit dieses Einheitsgefühls ging laut Mannheim in dem Moment verloren, als in der Scholastik versucht wurde, die mystische Erfahrung in Begriffe und logische Formen zu übersetzen. Das persönliche Element, das »Wesentliche« der Erfahrung werde damit objektiviert und eliminiert.141 Das hier noch nicht weiter entfaltete und ausdifferenzierte Motiv der grundlegenden Spannung zwischen lebendiger Erfahrung und Begriff bzw. gesellschaftlicher Objektivierung wird sich wie ein roter Faden durch das gesamte soziologische Werk Mannheims ziehen. Während seiner Studienzeit vertieft Mannheim diese schon früh ausgeprägte, lebensphilosophische Orientierung bei seinen Studienaufenthalten 1913/14 in Berlin bei Georg Simmel, dessen Lehrveranstaltungen sein Mentor Lukács bereits drei Jahre zuvor besuchte.142 In Paris hört er im Frühjahr 1914 Vorlesungen des wohl bedeutendsten Vertreters der Lebensphilosophie, Henri Bergson. Schon in der »Abhandlung über Mystiker« und in seinen damaligen Briefen wird die wohl zunächst durch Lukács’ frühe Schriften geförderte, lebensphilosophische Orientierung von Mannheims gesamter Erkenntnistheorie deutlich, 138 | Die Abhandlung selbst ist leider nicht erhalten, aus Mannheims Notizen zu dieser Schrift gelingt es Reinhard Laube jedoch, den Inhalt in Grundlagen zu skizzieren. Vgl. Laube 2004, 304-314. 139 | Mannheim verwendet hier die seinerzeit sehr populäre Eckhart-Ausgabe des Eugen Diederichs-Verlages. Vgl. Laube 2004, 310, FN 40. 140 | Vgl. Laube 2004, 308-311. 141 | Vgl. Laube 2004, 308f. 142 | Mannheim besucht auch Vorlesungen des erkenntnistheoretisch versierten Philosophen Ernst Cassirer und des protestantischen Theologen Ernst Troeltsch, die sicherlich sein späteres Interesse an den Utopien des Chiliasmus und den Wiedertäufern beeinflussten.
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der in der späteren Rezeption seines Werkes kaum Beachtung geschenkt wurde bzw. die mit Mannheims Idealismus-Konzeption gleichgesetzt wurde. Hier ist bereits die Rede von den »Lebensströmen unserer Innenwelt«, ihren »Wellen«, dem »Mitschwingen« anderer und der »Lebensvereinigung« als »Verheißung der Alleinheit«.143 Im Nachruf auf den 1918 verstorbenen Georg Simmel betont Mannheim seine Wertschätzung für die Vielseitigkeit und das Gespür für die Totalität des Lebens und die eigentliche Lebensnähe des philosophischen Werkes seines Lehrers: Er lebt vollkommen in der Gegenwart, und jede ihrer tiefen Strömungen ist ihm in der Kunst, Literatur, Ästhetik und Politik verwandt, mit den Gärungen der Gegenwart lebt er zusammen, und durch diese hindurch wird die Vergangenheit für ihn sinnvoll … Seine Kultur ist nicht ausschließlich historisch wie bei den meisten heutigen deutschen Philosophen, bei denen, wenn wir nur ihre neuen Gedanken betrachten, sich von jedem einzelnen herausstellt, daß er blutlos und epigonal ist.144
Ein dritter Aspekt, der neben den akademischen Lehrern und seinem Mentor Lukács schon früh Mannheims lebensphilosophisches Interesse weckte, war von 1915 bis 1926 ein Zirkel von jungen Budapester Intellektuellen und Künstlern um Lukács und den Dichter Béla Balázs, der sogenannte »Sonntagskreis«. In diesem informellen Rahmen einer »Philosophengesellschaft« wurde in den Jahren des politischen Umbruchs über grundlegende Fragen der Rolle der Philosophie in der Gesellschaft, über eine Erneuerung des Idealismus in der Kulturphilosophie und die Verteidigung der universalen Geisteswissenschaften gegenüber naturwissenschaftlichen, materialistischen oder psychologischen Reduktionismen debattiert. Die Diskussionen umspannten Themenfelder von Platons Staat und dem Bolschewismus über die Mystik Dostojewskis und des Mittelalters bis zur Philosophie Bergsons, Simmels und der deutschen Romantiker.145 Die programmatische Umsetzung der abstrakten philosophischen Debatten war die Freie Schule der Geisteswissenschaften, die in großem Maße von den Mitgliedern des Sonntagskreises – allen voran auch Karl Mannheim – getragen wurde. In dieser modernen »Gegen-Universität« zur etablierten akademischen Welt konnten die Beteiligten ihre Ansichten zur Metaphysik, Erkenntnislehre,
143 | Vgl. Laube 2004, 311. 144 | Mannheim 1918a, 152. Allerdings wirft er Simmel auch vor, in der Skepsis seiner Generationen gefangen zu sein und daher keine Entscheidung für einen vollkommenen idealistischen Neuanfang getroffen zu haben. 145 | Vgl. Karádi 1985, 6-18; Hofmann 1996, 15-20.
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Ethik und Kulturphilosophie vortragen und – nun ohne Rücksicht auf universitäre Hierarchien – zur offenen Diskussion stellen.146 Der Zusammenbruch der ungarischen Monarchie im November 1918 hatte jedoch auch für die Kontinuität des Sonntagskreises und insbesondere für Karl Mannheim weitreichende Konsequenzen. Als Béla Kuhn im Sinne einer kommunistischen Umgestaltung der ungarischen Gesellschaft im März 1919 die Räterepublik ausrief, wurde György Lukács, der 1918 der KP beigetreten war, Volkskommissar für Bildung und der 26-jährige Mannheim hielt von Mai bis Juni 1919 als neu ernannter Professor für Philosophie an der Universität Budapest die Vorlesung Die Grundprobleme der Kulturphilosophie.147 Im August wurde die Räterepublik gestürzt und Ungarn erlebte den »weißen Terror« gegen Sozialisten, Kommunisten und Juden unter der Regierung des »Reichsverwesers« Miklós Horky. Mannheim flieht über Wien und Freiburg i.Br. nach Heidelberg, wo er sich dank der Unterstützung des Soziologen Emil Lederer schnell etablieren konnte und sogar Zugang zum von Marianne Weber weitergeführten Weber-Kreis erhält, dem regelmäßigen Treffpunkt der führenden sozialwissenschaftlichen Gelehrten dieser Periode. In seinen frühen Briefen aus Heidelberg ist seine Skepsis gegenüber dem allgegenwärtigen deutschen Sektierertum, der Sehnsucht nach den großen und kleinen Propheten zu spüren, seien dies nun Rudolf Steiner, Stefan George oder die Wandervögel.148 1926 schloss Mannheim unter der Betreuung von Alfred Weber und Emil Lederer seine Habilitation über den Altkonservatismus für das Fach Soziologie an der Universität Heidelberg ab.149 1930 erhält er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie und Nationalökonomie an der Universität Frankfurt, wo ihm und seinem aus Heidelberg engagierten Assistenten, dem Alfred-Weber-Schüler Norbert Elias, allerdings keine Zeit blieb, ihr wissenssoziologisches Lehr- und Forschungsprogramm nachhaltig umzusetzen. 1933 musste Mannheim wie auch die gesamte soziologische Elite Frankfurts ihre wissenschaftlichen Stellen aufgrund des nationalsozialistischen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das die Entfernung aller jüdischstämmigen Deutschen aus dem Staatsdienst vorsah, aufgeben. Zusammen mit seiner Frau Julia Láng, die er noch im Budapester Sonntagskreis kennengelernt hatte, floh Mannheim über die Niederlande nach Großbritannien, wo er von Lehraufträgen an der London School of Economics and Political Science lebte. Erst wenige Monate vor seinem Tod im Januar 1947 erhielt er einen Ruf an das Institute of Education der Universität London.150 146 | Vgl. Karádi 1985, 11-18. 147 | Vgl. Mannheim 1919a. 148 | Vgl. Mannheim 1921, 80ff.; Hofmann 1996, 24-28. 149 | Vgl. Mannheim 1984. 150 | Vgl. Hofmann 1996, 28-35.
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Religion, Kultur und das Mittelalter Das dokumentierte wissenschaftliche und philosophische Schaffen Mannheims beginnt mit seinem Eröffnungsvortrag der Freien Schule der Geisteswissenschaften für das Herbstsemester 1917. Unter dem Titel Seele und Kultur verbindet er die beiden Thematiken, die ihn bisher beschäftigt haben: Kant und die Frage der (auch mystischen) Erkenntnis des Selbst und der Welt: »Wie subjektiviert die Seele die für sie fremde objektive Kultur, anders formuliert, wie ist das Verhältnis der Seele zu der sie umgebenden, geerbten, schon objektivierten Kultur?«151 Damit war der Grundstein zu Mannheims späterer wissenssoziologischer Fragestellung schon gelegt. »Kulturobjektivationen« sind für Mannheim all jene Bereiche des geistigen Lebens, die sich in der historischen Entwicklung formiert haben: Das sind die Religion, die Wissenschaft, die Kunst, der Staat und die Lebensformen.152 Diesen äußerlichen Kulturobjektivationen der Seele stellt Mannheim nun die »Seelenerfüllung jenseits der Kulturaneignung« gegenüber: »Es ist dieser zweite Weg der Innerlichkeit, den die indischen Asketen wählten, und der Glaube an den weltabgewandten christlichen Heiligen beruhte gleichfalls auf dem introspektiven Weg zur Gegenwärtigkeit der Seele.«153 In der deutschen Mystik des Mittelalters meint Mannheim jedoch auch schon den ersten Schritt zu den Kulturobjektivationen aufgespürt zu haben und bezieht sich auf den Werkbegriff des Meister Eckhart. »Werk« bezeichne demnach das religiöse Handeln und später auch jede weltliche Lebensäußerung: »Für uns bedeutet das Werk die Tat, den Gedanken, die Darstellung, den Kult, kurz das Verlangen der Seele, durch eine fremde Materie zu sich selbst zu gelangen.«154 Das »Werk« kann nun einerseits Menschen über Zeiten und Räume hinweg miteinander verbinden, eine »zwischenmenschliche Brücke« bilden: Es objektiviert in gewissem Sinne die sozialen Beziehungen. Andererseits folgt das »Werk« auch der Eigengesetzlichkeit ihrer Formen und Stoffe (wie die Sprache im Gedicht, der Marmor einer Plastik etc.).155 Skizziert Mannheim in seinen frühen Budapester Vorlesungen bereits diesen Antagonismus zwischen dem ursprünglich immanent ausgerichteten Denken der mittelalterlichen Mystiker und den modernen Kulturobjektivationen, so arbeitet er diese Grundannahmen in seinen nachfolgenden kultur- und wissenssoziologischen Schriften zu einer entwicklungsgeschichtlichen Konzeption
151 | Vgl. Láng 1918, 160f. 152 | Vgl. Mannheim 1918b, 68f. 153 | Vgl. Mannheim 1918b, 69. In diesem Sinne vergleicht Mannheim auch in seinen Budapester Universitätsvorlesungen von 1919 die drei Lebensformen des Heiligen, des Politikers und des Pädagogen. Vgl. Mannheim 1919a, 230f. 154 | Mannheim 1918b, 70. 155 | Vgl. Mannheim 1918b, 66-67; Mannheim 1919a, 227-231.
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aus, die schließlich zum Erklärungsmodell der Entstehung der Wissenssoziologie selbst wird. Für Karl Mannheim ist die Entstehung von Kultur als eigener Sphäre an den »Prozess der Kulturbewegung« gebunden, der es erst ermöglichte, »diese neuartigen Beziehungen des Subjektes zu geistigen Gebilden« als Kulturphänomene identifizieren zu können. Im Mittelalter waren Mannheim zufolge alle Lebenssphären auf ein im Gemeinschaftsbewusstsein verankertes Höchstes, Transzendentes, auf Gott, ausgerichtet und alle Erscheinungen des Lebens waren diesem letzten Bezugspunkt sinnhaft untergeordnet.156 In der Gegenwart jedoch löse sich dieser hierarchische, absolute Bezugspunkt des Gemeinschaftsbewusstseins als Folge des gesellschaftlichen Wandels auf und es setzte ein Kampf der kulturellen Sphären (Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft etc.) um die jeweilige Autonomie ein. Diese Prozesse der Autonomisierung sind nach Mannheim von einer Selbstbehauptung gegenüber der Theologie bzw. Religion geprägt, wie bspw. die »Befreiung der Wissenschaft und Philosophie aus der Magdstellung gegenüber der Theologie«,157 die der Autonomie der Vernunft voraus schritt. Der kontinuierliche Wettbewerb dieser autonomen Sphären um das Primat der vorherrschenden Weltanschauung bildete nun die Dynamik des Kulturprozesses in der Neuzeit.158 Diese Bewegtheit der konkurrierenden Kultursphären und die Unmöglichkeit der Hegemonie oder Integration einer Weltanschauung/Welterklärung über alle anderen – wie dies einst dem theologischen Denken gelang – hat laut Mannheim nun zunächst das Interesse an Geschichte und Kultur(-bewegungen) im Allgemeinen geweckt und auf diese Weise das Phänomen der Kultur als überzeitliche Macht oder aber das geschichtliche Werden und Wandeln selbst als höchsten Sinn etabliert. Die verschiedenen Kultursphären seien nun zueinander relativ, wobei der Wertakzent auf die Gesamtheit der Kultur falle. Eine zweite Relativität ergebe sich aus dem prozessualen Charakter der historischen Ausgestaltungen in der sich stets im Wandel befindlichen Kultursphäre.159 Mannheim hebt insbesondere hervor, dass Objekt und Subjekt der Kulturwissenschaften in gewisser Weise nun zusammenfallen würden, da die Untersuchung der Kulturwissenschaft ja selbst auch ihr Gegenstand sei. Zum anderen ständen Wissenschaft und Kultur selbst – also Beobachter und Beobachtetes – 156 | Vgl. Mannheim 1980b, 41. Dieser Aufsatz Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis, der Mannheims Wende von seiner anfänglichen erkenntnisphilosophischen Fragestellung (Kantstudien) hin zu kultur- und wissenssoziologischen Fragestellungen markiert, wurde erst posthum 1980 veröffentlicht. Zu den eventuellen Gründen für die unterbliebene Veröffentlichung vgl. Kettler & Meja & Stehr 1980, 9-17. 157 | Mannheim 1980b, 41. 158 | Vgl. hierzu auch Lichtblau 1996, 473ff. 159 | Vgl. Mannheim 1980b, 39-50.
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in einem kontinuierlichen und dynamischen Kulturprozess, der immer neuartige Realitäten hervorbringe und durch die Beobachtung und den selbstreflexiven Prozess auch neue Theoriegebilde generiere.160 Denn alle geistigen Realitäten, wie auch die Religion, seien in der Neuzeit nun doppelt erfahrbar, zum einen aus immanenter Perspektive im Verhältnis des Einzelnen zu Gott und der Kultgemeinschaft: »… [E]r hat diese Gehalte in einer völlig konkreten, nur konjunktiv mitteilbaren perspektivischen Weise der existentiellen Gemeinschaft.«161 Zum zweiten aber ist Religion eine Kultursphäre unter vielen anderen und kann von demselben Gläubigen in anderen Handlungs- und Erlebniszusammenhängen hier als Phänomen »Religion« in einer überkonjunktiven Einstellung wahrgenommen werden.162 Mannheim weist jedoch darauf hin, dass eine bestimmte Religion nicht einfach gleichzusetzen wäre mit einer bestimmten Denkart, sondern wie vielmehr »die gleiche Religion von Bauern, Handwerkern, Händlern, Adligen und Intellektuellen verschieden erlebt wurde.«163 Das religiöse Weltbild werde dann entsprechend der verschiedenen Lebenszusammenhänge der sozialen Gruppen in verschiedener Weise verstanden. Ein dynamisches Verhältnis dieser verschiedenen Weltinterpretationen ergab sich erst im Ausgang des Mittelalters mit der zunehmenden sozialen Mobilität der einzelnen Gesellschaftsmitglieder: Die Weltanschauungen und Erkenntnismethoden gerieten miteinander in Konkurrenz und Konflikt.164 Es war für Mannheim geradezu Vorbedingung für die Entstehung der rein soziologischen Forschung, dass die religiösen Sinngebungen, die im Mittelalter mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit völlig verwachsen waren, sich nun ausdifferenzierten und das Soziale außerhalb des Religiösen sichtbar werden konnte. »Solange man die religiösen Einheiten nur durch die religiöse Sinngebung hindurch erfassen konnte und sie nur soweit sichtbar waren, als sie mit dem mystischen Körper Christi in Zusammenhang gebracht werden konnten, konnte keine Gesellschaftslehre im heutigen Sinn entstehen.«165 Der Zusammenbruch des kirchlichen Monopols der Weltinterpretation, das durch eine kasten160 | Vgl. Mannheim 1980b, 54f. 161 | Mannheim 1980c, 296. 162 | Vgl. Mannheim 1980c, 296f. 163 | Mannheim 1995, 8. 164 | Mannheim 1995, 13. 165 | Mannheim 1980b, 51. So wie dieser allgemeine Prozess der Kulturobjektivation die Vorbedingung für das soziologische Denken bildete, setzte der Protestantismus aus Sicht Mannheims an die Stelle eines durch die objektive Institution der Kirche garantierten Heils nun die Idee der subjektiven Heilsgewissheit: Der Einzelne musste sein Handeln mit seinem Gewissen gegenüber Gott in Einklang bringen. Aus dieser Subjektivierung des immanenten Seelenlebens entwickelte sich in der Folge dann die psychologische Betrachtung des Denkens. Vgl. Mannheim 1995, 31.
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artig abgeschlossene Priesterschicht getragen wurde, kennzeichnet daher für Mannheim den Übergang vom Mittelalter zur Moderne. »Mit der Befreiung der Intellektuellen aus der strengen Organisation der Kirche werden in steigendem Maße auch andere Möglichkeiten der Weltdeutung anerkannt.«166 Während das außeralltägliche Erleben im mittelalterlichen Denken noch vollkommen in religiösen Interpretationen eingebettet war, in ein »gottgewolltes, wesenhaftes Sosein« gesteigert wurde, könne die Wissenssoziologie heute methodisch fundiert die Sinnzusammenhänge dieser Zuschreibungen sichtbar machen, die vormals als esoterisches Wissen galten.167 Im Gegensatz zur soziologischen Erklärung von Wirklichkeit bemühe sich das theologisch-metaphysische Denken lediglich um Deutungen, die einem Phänomen den richtigen Ort im gesamten Sinngefüge zuweisen: »Und Deutung besteht stets darin, daß man aus einem Sinn einen anderen verständlich macht.«168 Jede Deutung der Wirklichkeit werde unter diesen theologischen Bedingungen stets auf göttliche Wirklichkeit und göttlichen Willen sinnhaft zurückgeführt. In seiner 1928 in Teilen veröffentlichten Habilitationsschrift Das konservative Denken charakterisiert Mannheim diesen Wandlungsprozess der Denkformen vom Mittelalter bis in die Moderne noch präziser als Rationalisierungsprozess. In seiner Untersuchung des konservativen Denkens tritt die Religion lediglich am Rande der Analyse in Erscheinung, als »religiöses Gehäuse«, aus dem heraus sich die politischen und sozialen Intentionen und Kultursphären in der Neuzeit emanzipierten. Theologisch-mystische Transzendenzen der Vergangenheit wurden nach Mannheim im Konservatismus auf die Idee der Transzendenz der Geschichte übertragen.169 Die Entwicklung des Rationalismus seit dem Mittelalter sei dadurch geprägt, dass das rationale Denken nicht nur auf partielle Erfahrungsbereiche angewendet werde (die letztlich immer in Irrationalismen enden), sondern auch dadurch, dass der neuzeitliche, bürgerlich-kapitalistische Rationalismus prinzipiell keine Grenzen kenne, womit Mannheim in diesem Punkt der Einschätzung Georg Lukács folgt.170 Es handelt sich also um ein Bestreben nach vergesellschaftbarer Erkenntnis, im Gegensatz zu Einsichten, die nur besonderen engeren Erfahrungsgemeinschaften zugänglich gemacht werden können. Nur jene Gewißheiten sollen also aufgesucht werden, die
166 | Mannheim 1995, 13. 167 | Vgl. Mannheim 1995, 80f. 168 | Mannheim 1980b, 52. 169 | Vgl. Mannheim 1984, 70, 74f. 170 | Vgl. Mannheim 1984, 79ff.
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An dieser Stelle nun setzt für Mannheim die Problematik der Moderne ein. Denn was geschah in diesem Rationalisierungsprozess von Kultur mit den Denkformen der Vergangenheit? Diese wurden laut Mannheim vorerst weiter von den Gegenströmungen der zunächst noch vom kapitalistischen Rationalisierungsprozess ausgeschlossenen Schichten wie dem Adel, den Bauern und den mit dem Handwerk in Verbindung stehenden kleinbürgerlichen Schichten getragen. Ebenso konnten ungebrochene Traditionen religiöser Sekten (Pietismus) die vergangenen Lebenshaltungen und Erfahrungsmethoden noch lange bewahren. Selbst für die Arbeiterschaft und die Bourgeoisie gingen die ursprünglichen Lebenshaltungen nicht ganz verloren, sondern verschwanden lediglich aus dem öffentlichen und offiziellen Leben in die Peripherie.172 Die soziologische Bedeutung der Romantik sei es, diese nun an der Peripherie liegenden Lebenshaltungen und Inhalte als Antithese zur Aufklärung aufzugreifen und bewusst dem rationalistischen Denkstil entgegenzusetzen. Dadurch jedoch, dass sich die Romantik jetzt bewusst in einem reflexiven Prozess auf diese verdrängten, irrationalen Lebensmächte richtete, vollzog sie selbst eine Rationalisierungsleistung, … die die bürgerlich-rationalistische Aufklärung nie vollbracht hätte, weil nicht nur ihre Methoden dazu unzulänglich gewesen wären, sondern auch die Gehalte für sie nicht genügend lebendig waren, um sie festhalten zu können … Die Romantik ist also ein Auffangen, Sammeln jener letzten aus dem ›religiösen Bewußtsein‹ stammenden Lebenselemente und Lebenshaltungen, die durch den kapitalistisch-rationalen Zug verdrängt wurden, aber sie ist ein Aufraffen und Sammeln und Erfahren dieser Elemente auf der Ebene der Reflexion.173
Durch diesen reflexiven Prozess jedoch habe die Romantik – ganz entgegen ihren Zielsetzungen – Methoden, Erkenntnisweisen, Begriffsmöglichkeiten und eine Sprache geschaffen, »… die zur Theoretisierung all jener Lebensmächte, die der Aufklärung immer wieder entgleisen mußten, fähig waren.«174 Auf
171 | Mannheim 1984, 80. In diesem Punkt bezieht sich Mannheim explizit auch auf Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft. Vgl. Tönnies 1922. 172 | Vgl. Mannheim 1984, 83ff. 173 | Mannheim 1984, 85f. 174 | Mannheim 1984, 86. Vgl. auch a.a.O., 159f. Die Religionswissenschaft wäre somit ein zwangsläufiges Produkt dieser von Mannheim beschriebenen Rationalisierungsleistung.
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dieser historischen Entwicklungsfolie arbeitet Mannheim im Anschluss den Denkstil des Konservatismus heraus.175 Dem heutigen Leser ist wahrscheinlich nicht unbedingt präsent, welch gravierende Neuorientierung die Mannheimsche Wissenssoziologie im Vergleich mit den bisherigen gesellschaftlichen Entwicklungsmodellen bedeutete. Die Gesellschaftstheorien, gegen die man sich abgrenzen oder die man weiterentwickeln wollte, waren vor allem der teleologisch positivistische Reduktionismus Auguste Comtes und der historische Materialismus von Marx und Engels. Spürbar wird dies im Werk von Mannheim (und noch viel stärker bei Scheler) einerseits durch die Rezeption der Lebensphilosophie und damit der »Vitalkräfte« und »irrationalen Lebensmächte«, die das menschliche Erfahren und Handeln beeinflussen oder gar bestimmen können, und andererseits durch die Neubewertung der Kultur und Religion. Mannheim vertrat an dieser Stelle ursprünglich eine von György Lukács geprägte, marxistische Position – die »Seinsgebundenheit« aller kulturellen, geistigen und religiösen Schöpfungen des Menschen wird vorausgesetzt: Kultur leite sich als Überbau lediglich aus den jeweiligen Produktionsverhältnissen und den damit verbundenen Klasseninteressen ab. Mannheims intensive Auseinandersetzung mit dieser Frage der »Seinsgebundenheit« von Kultur (und damit auch wissenschaftlicher Erkenntnis) von den gesellschaftlichen Verhältnissen wurde spätestens auf dem Zürcher Soziologentag von 1928 sichtbar, wenn nicht gar provoziert. Mannheim hielt einen Vortrag über Die Konkurrenz auf dem Gebiete des Geistigen und wurde von keinem Geringeren als seinem Heidelberger Mentor Alfred Weber scharf angegriffen.176 In der Diskussion, die ausführlich von Norbert Elias dokumentiert wurde,177 warf Weber dem von ihm habilitierten Privatdozenten vor, Positionen des historischen Materialismus zu vertreten, die der Eigenständigkeit der Kultursphäre nicht gerecht würden: »Sie haben von sozialen Machtpositionen gesprochen, von Wollungen, die daraus hervorgehen, von einer öffentlichen Auslegung des Seins, die sich mit diesen Wollungen kombiniert … – : Was ist das anderes als eine mit außerordentlicher Feinheit glänzend wieder vorgetragene materialistische Geschichtsauffassung?«178
175 | Er berücksichtigt in seiner historischen Analyse vor allem die Schriften der drei Juristen, Philosophen und Staatsmänner Justus Möser (1720-1794), Julius Stahl (18021861) und Adam Heinrich Müller (1779-1829). 176 | Die Auseinandersetzung zwischen Alfred Weber und Karl Mannheim und der dahinter liegende Konflikt um die Ausrichtung der Kultursoziologie wurde im Detail beleuchtet von Reinhard Blomert. Vgl. Blomert 1995. 177 | Elias war einerseits Habilitand bei Alfred Weber, andererseits gehörte er zum engeren Schülerkreis des Privatdozenten Karl Mannheim. Vgl. Elias 1984, 38-45. 178 | Vgl. Elias 1984, 44f.
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Die tiefer liegenden Erkenntnisprobleme, die sich in dieser Konfrontation offenbarten, diskutierten Weber und Mannheim kurz nach dem Soziologentag in zwei vereinigten Seminaren in Heidelberg. Weber vertrat hier die aus seinen universalgeschichtlichen Analysen gewonnene Position, dass sich in ausdifferenzierten, modernen Gesellschaften die »kulturproduzierenden Schichten« relativ frei entfalten könnten, da sie in ökonomisch abgesicherten Verhältnissen, wie die des Universitätsgelehrten,179 für geistige Interessen frei werden.180 Kultur – das ist für Weber Religion, Kunst und Philosophie – bildet in der Entwicklung von morphologisch gedachten »Geschichtskörpern« eine eigene Sphäre, die er von dem Gesellschaftsprozess und dem Zivilisationsprozess scheidet. Der Gesellschaftsprozess umfasst die sozialstrukturellen Entwicklungen mit ihren wirtschaftlichen, (macht-)politischen und sozialpsychologischen Aspekten, während der Zivilisationsprozess den rational-technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt mit seinen praktisch-zweckmäßigen Umsetzungen beschreibt.181 Die Kulturbewegung kontrastiert Weber nun mit diesem Zivilisationsprozess, wobei der Begriff der Bewegung im Gegensatz zum Prozess hier die lebensphilosophische Kreativität der Kultursphäre widerspiegelt, die nicht auf eine aus dem Gesellschafts- und Zivilisationsprozess gesetzmäßig ableitbare Fortschrittsdoktrin zu reduzieren sei: Die kulturelle Formung des Daseins dagegen hat mit Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit gar nichts zu tun. Das was in Religionen und Ideensystemen auf das Dasein einwirkt und was in Kunstwerken und »Gestalten« sich widerspiegelt, quillt aus einem Bezirk ganz anderer Kategorien und Anschauungen, aus dem Seelischen. Es ist im Gegensatz zur zivilisatorischen, d.h. intellektuellen Verarbeitung des Daseinsstoffes seine seelische Verarbeitung und Formung … Daraus folgt der Begriff der Kultur als der jeweiligen Ausdrucks- und Erlösungsform des Seelischen in der materiell und geistig gebotenen Daseinssubstanz.182
Reinhard Blomert gelingt es in seiner Analyse überzeugend, die erkenntnistheoretischen Spannungen zwischen Webers und Mannheims Kulturbegriff und seinen Implikationen für die Rolle der Intellektuellen, der Wissenschaftler, darzulegen. Vertritt Mannheim in den Diskussionen des gemeinsamen Seminars mit Weber noch eine marxistische Position, die wissenschaftliche Erkennt179 | Ausdrücklich betont Weber in diesem Zusammenhang die Rolle des staatlich subventionierten Professorentums als Motor und Ursprung wissenschaftlicher »Großtaten«, sicherlich nicht ohne die Rolle der Intellektuellen in der Weimarer Zeit und der deutschen Nachkriegszeit im Blick zu haben. Vgl. Weber 1951a, 376f. 180 | Vgl. Blomert 1995, 174f. 181 | Vgl. dazu Weber 1951b, 44-92. Neuabdruck aus dem Jahr 1921. 182 | Weber 1951b, 72-74. Vgl. hierzu auch Moebius 2009, 33f.
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nis letztlich klassengebunden betrachtet, so rezipiert er in Ideologie und Utopie (1929) explizit seinen Heidelberger Mentor: Jene nicht eindeutig festgelegte, relativ klassenlose Schicht ist (in Alfred Webers Terminologie) die sozial freischwebende Intelligenz … Nicht als ob sie gleichsam im luftleeren Raume über diesen Klassen schweben würde, ganz im Gegenteil vereinigt sie in sich alle jene Impulse, die den sozialen Raum durchdringen. Aus je mehr Klassen und Schichten sich die einzelnen Gruppen der Intelligenzschicht rekrutieren, um so vielgestaltiger und polarer wird in ihren Tendenzen die Bildungsebene, die sie verbindet.183
Neben diesen erkenntnistheoretischen Konsequenzen, auf die Blomert sein Augenmerk richtet, sind im Kontext unserer Fragestellung jedoch die Folgen für Mannheims Kultur- und Religionsverständnis von größerer Bedeutung. Seine frühen Arbeiten und insbesondere die bereits vorgestellte Habilitationsschrift über das (alt-)konservative Denken stehen noch im Rahmen einer marxistischen Deutung, wenn auch Mannheim unter dem Einfluss von Lukács einerseits und Weber andererseits bereits in dieser Analyse ein für marxistische Ansätze ungewöhnlich starkes Gewicht auf die auch historische Eigendynamik dieser Denkformen der klassenmäßig definierten Erfahrungsgemeinschaften legt. Wenn Mannheim, der an sich sparsam mit Widmungen seines wissenschaftlichen Werkes verfährt, nun explizit das Kapitel Das utopische Bewußtsein aus Ideologie und Utopie (1929) seinem akademischen Lehrer und Kollegen Alfred Weber zum 60. Geburtstag zueignet, so liegt es nahe, hier mindestens die Diskussion gemeinsamer Problemfelder anzunehmen. Mannheim erörtert an dieser Stelle die Bedeutung des utopischen Bewusstseins in seinen vier neuzeitlichen Gestaltungen, die er idealtypisch im Weberschen Sinne versteht. Das sind der »orgiastische Chiliasmus der Wiedertäufer«, die liberal-humanitäre Idee, die konservative Idee und die sozialistisch-kommunistische Utopie. Für Mannheim ist das utopische Bewusstsein eine Gesamtheit von »Erlebnisform«, »Aktionsform« und »Betrachtungsweise (Sicht)«, die sich aus diesem je spezifischen Bewusstsein heraus organisieren und als Phänomene einer gesellschaftlichen Gesamtkonstellation erfasst werden können. Das Konzept der »Konstellation« mit ihrer besonderen Fokussierung auf historische Zusammenhänge rezipiert Mannheim von Alfred Weber.184 Die marxistische Grundausrichtung spiegelt sich in Mannheims Analyse noch in der Verbun183 | Mannheim 1995, 135-137. Blomert weist darauf hin, dass der Begriff der »freischwebenden Intelligenz« nicht in Webers Schriften belegt werden kann und vermutet daher eine mündliche Übertragung oder eine Mannheimsche Reformulierung von Webers Gedanken einer für »geistige Interessen frei werdenden Schicht«. Vgl. Blomert 1995, 192f. 184 | Vgl. Mannheim 1995, 182 FN 5, 213-225.
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denheit der Gestaltungen des jeweilig Utopischen mit bestimmten sozialen Schichten und Klassen wider: Der Chiliasmus wird mit »dem aktiven Wollen unterdrückter Schichten« (im Gegensatz zur etablierten Kirche) gesehen, die liberal-humanitäre Idee werde zunächst vom absoluten Königtum dann alleinig vom aufgeklärten Bürgertum getragen; die konservative Idee werde mit restaurativen, romantischen und nationalen Kräften verbunden, während schließlich neu entstehende, unterdrückte Schichten die sozialistisch-kommunistische Utopie befördern würden.185 In diesem Zusammenhang gibt Mannheim ausdrücklich zu bedenken, dass das idealtypisch konstruierte Bewusstsein niemals in der historischen Konkretheit in voller Reinheit bestand und nicht in einer bestimmten Epoche als einzig dominierend vorhanden war, sondern im einzelnen Menschen oft mit anderen Bewusstseinslagerungen Vermischungen einging.186 In Mannheims Entwicklungsmodell dieser historisch wandelbaren Typen des utopischen Bewusstseins gewinnt nun die geschichtliche Perspektive eine denkwürdige Eigendynamik, die seinen Ansatz schließlich vom marxistischen Modell des ausschließlich von den Produktionsverhältnissen ableitbaren, kulturellen Überbaus unterscheidet.187 Mannheim beschreibt, dass sich das utopische Bewusstsein einer bestimmten Schicht nicht einfach aus der Erkenntnis ihrer ökonomischen und politischen Lage ableiten ließe, sondern wie sich »das aktive Wollen« unterdrückter Schichten mit kulturell vorhandenen Ideen zu einem neuen Selbstbewusstsein ihrer sozialen und politischen Bedeutung verbindet. Im Falle des »orgiastischen Chiliasmus« der Wiedertäufer, den Mannheim als erste neuzeitliche Gestaltung des utopischen Bewusstseins betrachtet, stellt er fest: Daß es sich hierbei [bei Thomas Münzer: d. Verf.] natürlich noch nicht um klassenbewußte Proletarier handelt, ist allzu selbstverständlich; auch die Tatsache ist ohne weiteres zuzugeben, daß Münzer aus religiösen Motiven sozial umwälzend wurde. Der Soziologe muß aber gerade diese Bewegung besonders hervorheben, weil in ihr Chiliasmus und soziale Revolution strukturell verbunden sind.188
Dass Mannheim sich am Beginn seiner Studie des utopischen Bewusstseins so intensiv mit dem Chiliasmus befasst, ist sicherlich auch der schon damals sehr bekannten Arbeit Ernst Blochs über Thomas Münzer als Theologe der Revolution (1921) und seiner Schrift Geist der Utopie (1918) zu verdanken, die Mannheim 185 | Vgl. Mannheim 1995, 184f., 192, 199-203. 186 | Vgl. Mannheim 1995, 183f. 187 | Mannheim weist selbst darauf hin, dass nur aus sozialistischer Sichtweise die ökonomisch-soziale Struktur der Gesellschaft »verabsolutiert« werde. Vgl. Mannheim 1995, 209. 188 | Mannheim 1995, 184.
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explizit rezipiert.189 Ähnlich betont auch Mannheim, dass nicht die Ideen der eigentliche Motor der Umwälzungen waren, sondern die »ekstatisch-orgiastischen Energien«.190 In seiner weiteren Analyse auch der anderen utopischen Bewusstseinsgestaltungen (Liberalismus, Konservatismus und Kommunismus) gelangt Mannheim schließlich zu der Einsicht, dass sich diese verschiedenen Ausprägungen durch ihr kulturell und sozial bedingtes Verständnis von Zeit, vom jeweiligen Verhältnis von Geschichte und Zukunft, aus bestimmen ließen. So deutet er das chiliastische Erleben als außerhalb der Zeit stehend, nur auf die gegenwärtige Erfüllung ausgerichtet, das liberale Erleben als fortschrittsorientierte Verbindung zwischen Sein und Utopie, das konservative Denken als »virtuelles Präsentsein des Vergangenen« und die sozialistische Utopie als zukunfts- und seinsbejahende Zielstrebigkeit.191 Neben diesen auf das Zeit- und Geschichtsbewusstsein basierenden Aspekten kultureller Eigendynamik, die Mannheim unter einer wissenssoziologischen Perspektive identifiziert, spielt jedoch noch ein weiterer Gesichtspunkt eine gewichtige Rolle, der Mannheims Konzeption deutlich von einer streng marxistischen, »materialistischen Geschichtsauffassung« unterscheidet. Die von Mannheim untersuchten Beispiele des utopischen Bewusstseins greifen nicht nur auf kulturell und religiös vorhandene Ideenbestände zurück, die zur »historischen« Interpretation der jeweiligen Seins- und Entwicklungslage herangezogen werden (und teils aus diesen hervorgehen), sondern diese verschiedenen Deutungsmuster sozialer Realität beziehen sich aufeinander. Sehr klar zeigt Mannheim, wie der Konservatismus als politische Gesinnung und als Erkenntnisidee nur als Reaktion auf die progressiv liberal-humanitäre Idee zu verstehen sei. Gleiches gelte für die sozialistische Utopie, die ihrerseits auf das liberale Freiheits- und Gleichheitsideal und die »unmittelbare Seinsbejahung« des Konservatismus reagiert.192 Diese beiden Aspekte also, die historische Dimension einerseits und die Interdependenz utopischer Bewusstseinsgestaltungen andererseits, konstituieren in der Mannheimschen Wissenssoziologie eine gewisse Eigendynamik der Kultursphäre. Offensichtlich rezipiert Mannheim in diesem Zusammen189 | Zum anderen wurde 1923 ein Landsmann Mannheims und Mitglied des früheren Budapester Sonntagskreises, Lázló Radványi, bei Alfred Weber mit einer Arbeit über den Chiliasmus promoviert. Vgl. Mannheim 1995, 185 FN 7, 189 FN 16; Mannheim 1919b; Blomert 1995, 177f. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass auch Bloch eine rein materialistische (vulgär-marxistische) Deutung der Geschichte ablehnte und hier unter den Vorzeichen der Lebensphilosophie die »Triebkräfte« des Utopischen einbrachte. Vgl. Bloch 1918; Bloch 1921; Münster 1982. 190 | Vgl. Mannheim 1995, 186. 191 | Vgl. Mannheim 1995, 203-208. 192 | Vgl. Mannheim 1995, 199-213.
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hang den Grundgedanken von Alfred Webers Konzept der Kulturbewegung, die ebenfalls als Bewegung nicht prozessual gedacht ist, sondern als eigenständige kulturelle Sphäre historischer Wechselbeziehungen und lebensphilosophisch begründeter, dynamischer Vitalkräfte aufgefasst wird.193 Mannheim selbst hat diese historisch-analytische Dimension der Kultursphäre in der Wissenssoziologie nicht weiter ausgebaut, sondern hat sich in den 1930er Jahren – ähnlich wie Alfred Weber während und nach der Katastrophe des Nationalsozialismus194 – pragmatischen Fragen der Möglichkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung gewidmet, wie wir im Anschluss sehen werden. Weder Alfred Webers noch Karl Mannheims historisch orientierte Kultursoziologie fiel in der Nachkriegszeit auf fruchtbaren Boden. Sowohl die von René König dominierte, empirische Sozialforschung in Westdeutschland als auch die strukturfunktionalistische Theorie wollte sich von den sozialhistorisch-philosophischen Ansätzen der Kultursoziologie abheben. Paradigmatisch ist hier die Begegnung Alfred Webers mit seinem ehemaligen Doktoranden Talcott Parsons auf einem Kolloquium über Max Weber im Jahr 1954: Parsons hatte Weber scharf wegen dessen Methodologie angegriffen. Schließlich sagte Weber ganz verzweifelt zu ihm: »Wollen Sie denn mein ganzes Lebenswerk in Zweifel ziehen?« Und Parsons entgegnete höflich: »Durchaus nicht, Herr Kollege, ich würde es nur nicht als Soziologie bezeichnen.« 195
Wissenssoziologie, Lebensphilosophie und die Religion Noch in Ideologie und Utopie (1929), das als sein wissenssoziologisches Hauptwerk gilt, und in dem bereits von der deutschen Krise gezeichneten Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (1935) betrachtet Mannheim das Religiöse, 193 | Gisela Deininger-Meyn führt die historische Orientierung von Mannheims Wissenssoziologie allerdings gänzlich auf die Rezeption von Dilthey und Troeltsch zurück, das Werk Alfred Webers wird nicht zur Kenntnis genommen. Vgl. Deininger-Meyn 1986, 23-40. 194 | Vgl. Alfred Webers Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus? (1946) und Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins (1953). 195 | Interview mit Klaus von Beyme. Vgl. Demm 2000, 219f. Komplementär dazu passt Alfred Webers Kommentar über den Kölner Empiriker Leopold von Wiese (1876-1969): »Leopold von Wiese ist zu individualistisch, er behandelt nur die sozialen Beziehungen und nicht die historische Totalität. Ich respektiere ihn, aber ich glaube nicht, daß er zur Soziologie etwas Wesentliches beiträgt.« Vgl. Demm 2000, 160. Die Fokussierung auf eine historische Perspektive hat Dietrich Rüschemeyer als Hauptgrund für die mangelnde Rezeption von Mannheims Werk in der angelsächsischen Soziologie identifiziert. Vgl. Rüschemeyer 1981, 414f.
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»das Göttliche, das Mystische, die Offenbarung« in gewohnter Weise als eine der vielen Erscheinungsweisen des (mittelalterlichen) Irrationalismus,196 der sich nun neue Ausdrucksformen suche.197 Eine qualitative Neubewertung des Religiösen kündigt sich jedoch ab den 1930er Jahren schrittweise an – nämlich eine Hinwendung von der rein analytischen Betrachtung der Religion zu einer pragmatischen Haltung dem Feld des Religiösen gegenüber. Die Erfahrung des aufkommenden Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, die für Mannheim persönlich in der Entlassung aus der Universität und in der Flucht nach England gipfelte, hat ihn spürbar dazu bewegt, die Wissenssoziologie nicht nur als analytisches Instrument zu konzipieren, sondern ausdrücklich auf dieser wissenschaftlichen Grundlage auch pragmatische Lösungen als Antwort auf die krisenhafte Moderne zu entwerfen. Bereits in Ideologie und Utopie (1928) sieht er die Notwendigkeit einer deutlichen Hinwendung zum »Leben«: »Dieses Buch befaßt sich mit dem Problem, wie Menschen wirklich denken. Es will untersuchen, nicht wie Denken in den Lehrbüchern der Logik erscheint, sondern wie es wirklich im öffentlichen Leben und in der Politik als ein Instrument kollektiven Handelns funktioniert.«198 Den Intellektuellen, der »freischwebenden Intelligenz«, die im Bewusstsein über die soziale Bedingtheit auch ihres eigenen Wissens unabhängig von politischer oder klassenspezifischer Parteinahme über die nötige Klarheit einer gesamtgesellschaftlichen Erkenntnis verfügten, fiel bereits in Mannheims frühen wissenssoziologischen Schriften eine gewisse Führungs- und Planungsrolle zu. Denn die Wissenssoziologie »… versucht also die Einseitigkeit des jeweiligen Aspektes aller Standorte und aller Parteien mit wissenschaftlichen Methoden genau zu bestimmen.«199 Ausführlich diskutiert er die gesellschaftliche Funktion der Eliten und die Möglichkeiten einer »geplanten«, demokratischen Gesellschaft in seinem ersten, überwiegend sozialvisionären Werk Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus.200 Dass der Religion in diesem Zusammenhang noch eine größere Rolle zuteilwerden könne, zeichnete sich schon in der lebensphilosophischen Anlage der Wissenssoziologie ab: Die Betonung des Lebens gegenüber dem Begriff,201 die Mannheim als Kennzeichen des konservativen Denkens betrachtet, ist nämlich 196 | Mannheim kündigt zwar an, zu einem späteren Zeitpunkt die Religionsthematik eingehend zu behandeln. Dieses Versprechen wird jedoch nicht mehr eingelöst, der Text bleibt hier fragmentarisch. Vgl. Mannheim 1984, 200 und 267 FN 275. 197 | Vgl. Mannheim 1935, 40. 198 | Mannheim 1995, 3. Es ist natürlich fraglich, ob die mitunter doch sehr abstrakte Analyseebene in Ideologie und Utopie dem Leser ebenso lebensnah erschienen ist. 199 | Mannheim 1929a, 619. 200 | Vgl. Mannheim 1935, 59-85, 197-207. 201 | Vgl. Mannheim 1984, 167.
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auch prägend für sein soziologisches Programm, zunächst auf analytischer, später auch auf der pragmatischen Ebene. Über Henri Bergson und die Lebensphilosophie erkennt Mannheim eine Kontinuität des romantischen Denkens bis hin zum Historismus Wilhelm Diltheys und der phänomenologischen Schule, die sich stets als Opposition zum Kantianismus wie auch zum Positivismus sahen.202 Sie positionieren sich gegen die Spielarten des bürgerlich-rationalistischen Denkens, die bestrebt seien, den Allgemeinbegriff und die naturwissenschaftliche Denkweise zum alleinigen Vorbild des Denkens zu machen. Mannheim drückt explizit seine Wertschätzung für die Lebensphilosophie aus.203 Als Standort für die erkenntnismäßige Durchdringung der Welt ist sie, als Gegenspieler gegen die im Banne der verabsolutierten Rationalität stehenden Denkströmungen, fruchtbar, indem sie uns immer wieder lehrt, die alles verdeckenden, rationalisierenden Bezüge abzubauen und das Bewußtsein nicht allein an dem Vorbilde der theoretischen Einstellung zu orientieren. Sie relativiert und partialisiert immer wieder das ›Vernunftmäßige‹, das ›Objektivierte‹. 204
Ein zweiter Grund für das spätere pragmatische Interesse an Religion mag das utopische Potenzial religiöser Denk- und Erlebnisformen gewesen sein, das er in der Begegnung mit dem protestantischen Chiliasmus und den Wiedertäufern erkannte.205 Das religiöse Denken steht für Mannheim am Ausgangspunkt – historisch wie systematisch – seiner Untersuchung des utopischen Bewusstseins: »Im Laufe der Geschichte orientierte der Mensch sich viel öfter an seinstranszendenten als an seinsimmanenten Faktoren und verwirklichte dennoch auf Grund eines solchen seinsinkongruenten ›ideologischen‹ Bewußtseins ganz konkrete Lebensordnungen.«206 Der »orgiastische Chiliasmus« der Vorreformation bei Jan Hus und Thomas Münzer und der nachfolgenden Protestanten bildet für Mannheim den ersten Ausdruck dieses utopischen Bewusstseins, das sich über die liberal-humanitäre Idee, über die konservative Idee und die sozialistisch-kommunistische Utopie fortsetzte. Entscheidend für Mannheim war, dass sich das aktive Wollen unter202 | Daniel Šuber ist die detaillierte Analyse der Beziehungen zwischen Mannheims Erkenntnistheorie und Diltheys Lebensphilosophie zu verdanken. Vgl. Šuber 2006, 246-259. 203 | Auch Šuber geht von einer Kontinuität der lebensphilosophischen Grundausrichtung in Mannheims Gesamtwerk aus. Vgl. Šuber 2006, 259ff. 204 | Mannheim 1984, 183. 205 | Schon 1919 lobt Mannheim in seiner Besprechung von Ernst Blochs Geist der Utopie (1918) trotz vielseitiger Kritik dessen Potential für die neue Metaphysik der künftigen Philosophie. Vgl. Mannheim 1919b. 206 | Mannheim 1995, 169.
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drückter sozialer Schichten nun mit der Idee des anbrechenden tausendjährigen Reiches verband, das nun im Hier und Jetzt realisiert werden müsse. Deutlich wird auch hier Mannheims lebensphilosophische Interpretation: »Nicht ›Ideen‹ waren es, die die Menschen der Bauernkriege zur seinssprengenden Tat bewegten. Viel vitaler gelagerte, viel dumpfere Seelentiefe bewirkte hier die Eruption.«207 Denn die Ideengeschichte sei ja selbst erst Kind eines viel späteren Zeitalters und der historistischen Perspektive. Statt die Analyse auf die religiösen Ausdrucksformen, Bilder und Symbole zu lenken, stellt Mannheim die fundamentale Denk- und Erlebnisform des »absoluten Gegenwärtigseins« ins Zentrum, das die momentane Umwälzung seiner Zeit kennzeichnet: »Das tausendjährige Reich ist von ihm nicht eigentlich gemeint, das Wichtige für ihn ist, daß es hier sei und jetzt sei und aus dem Irdischen entstehe als ein hier sich vollziehender Umschwung in ein andersartiges Sein …«208 Hauptsächlich diese zwei in seinen bisherigen Werken angelegten Aspekte, einerseits der lebensphilosophisch-pragmatischen Orientierung und andererseits der Bedeutung der teils religiösen Utopien für den sozialen Wandel, markieren die Ausgangsposition für Mannheims Neubewertung des Religiösen in seinem englischen Exil. Darüber hinaus spielen die Diskussionen mit christlichen Theologen in dieser Frage sicherlich eine entscheidende Rolle: Während seiner Frankfurter Zeit gab es Gesprächsrunden über Kultur und Gesellschaft mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und dem sozialistisch gesinnten, protestantischen Theologen Paul Tillich; in London nahm Mannheim, obzwar jüdischer Herkunft und ohne religiöse Ambitionen, ab 1938 an den regelmäßigen Treffen christlich-progressiver Intellektueller, des sogenannten Moot-Kreises, teil, denen auch der Schriftsteller T.S. Eliot angehörte. Das Grundproblem der Moderne, insbesondere der modernen »Massengesellschaft«, ist für Mannheim das in der gesellschaftlichen (und damit weltanschaulichen) Ausdifferenzierung begründete Fehlen von gemeinsamen »Erlebniszusammenhängen« und dem »gemeinschaftlichen Erlebnisstrom« von Individuen, die durch das Gruppenerlebnis selbst Identität, Sozialität und eine gewisse Objektivierung ihrer individuellen Erlebnisse erfahren.209 Mannheim rezipiert an dieser Stelle das diagnostische Urteil des Soziologen Ferdinand Tönnies. In seiner 1887 erschienen Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft polarisiert er zwischen der organischen und ganzheitlich orientierten Gemeinschaft, die durch affektive Nähe, enge soziale Verbundenheit durch Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen, also die »Gemeinschaft des Blutes«, des »Ortes« und des »Geistes«, gekennzeichnet sei und demgegenüber den von äußeren Einflüssen bestimmten Sozialbeziehungen in der mechanisch 207 | Mannheim 1995, 186. 208 | Mannheim 1995, 189. 209 | Vgl. Mannheim 1980b, 79-82.
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orientierten Gesellschaft seiner Gegenwart. Der Wandel des sogenannten Wesenwillens zum Kürwillen charakterisiere die Entwicklung von der ursprünglichen Gemeinschaft der Menschen im organischen und religiös determinierten Verband zur zweckrational organisierten Gesellschaft, für die ein kalkulierender Tauschhandel bezeichnend sei.210 Die Idee der primordialen Bindungen der Gemeinschaft überführt Mannheim in sein übergreifendes wissenssoziologisches und lebensphilosophisches Konzept der »Weltanschauung«, die als gemeinsamer Nenner das Soziale und das Geistige miteinander verbindet: Weltanschauung (eines Zeitalters, einer Gruppe usw.) ist eine strukturell verbundene Reihe von Erlebniszusammenhängen, die zugleich für eine Vielfalt von Individuen die gemeinsame Basis ihrer Lebenserfahrung und Lebensdurchdringung bildet. Die Weltanschauung ist also weder die Totalität der in einem Zeitalter vorhandenen geistigen Gebilde noch die Gesamtheit der in einem Zeitalter vorhandenen Individuen, sondern die Gesamtheit jener strukturell zusammenhängenden Erlebnisreihen, die sowohl von Seiten der Gebilde wie auch von Seiten der sozialen Gruppenbildungen bestimmt werden können. 211
Eine Weltanschauung ist nach Mannheim jedoch keine für sich fassbare Größe, sondern kann nur in bestimmten Aspekten sichtbar gemacht werden. So könne ein und dieselbe Weltanschauung eines Zeitalters oder einer Gruppe durch ihre Kunst, Religion, Gesittung, Politik, Wirtschaft usw. erfasst werden.212 Als Reaktion auf die sichtbar existentielle Krise der Moderne schlägt Mannheim in Diagnosis of our Time (1943) schließlich den Einbezug christlicher Werterziehung in sein weiterentwickeltes Programm des democratic planning vor. Das Problem des allgemeinen Werteverlustes bzw. der Wertrelativierung konkurrierender Kultursphären ergab sich laut Mannheim im liberalen Zeitalter überall dort, wo sich die christlichen Kirchen aus dem sozialen Alltagsleben zurückzogen und Religiösität nur noch an der Teilnahme am Sonntagsgottesdienst maßen.213 Bei einer Erneuerung der Demokratie müsse die Religion nun unterstützend bei der Wertevermittlung mitwirken: »It is obvious that such a 210 | Vgl. Tönnies 1922, 8-26, 237ff. 211 | Mannheim 1980b, 101. Vgl. hierzu auch Mannheims Ausführungen über die einheitsstiftenden Faktoren der Generationen: Mannheim 1928, 544-555. 212 | Als gelungenes Beispiel einer kultursoziologischen Analyse verweist Mannheim auf Max Webers Analyse der protestantischen Ethik. Aus dem Gebilde der Religion bzw. deren Ethik kristallisiere Weber ein bestimmtes Moment und den entsprechenden Erlebniszusammenhang heraus: die »innerweltliche Askese«. Dieses Motiv wiederum stelle er nun in einen wirtschaftlichen Erlebniszusammenhang. Vgl. Mannheim 1980b, 101-105. 213 | Vgl. Mannheim 1954, 100f.
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new morality can only be achieved if the deepest sources of human regeneration assist the rebirth of society.«214 Nur eine Generation, die religiös erzogen werde, könne den Unterschied zwischen kurzfristigen, egoistischen Zielen einzelner Gruppen und der Notwendigkeit des Opfers für das Wohl einer geplanten Gesellschaft der Zukunft verstehen: »Planned society needs a unifying purpose.«215 Eine Gesellschaft könne sich nur gegen totalitäre Systeme wie den Kommunismus oder den Faschismus wehren, wenn Werte auf breiter Basis und nicht nur in einer Intellektuellenschicht verankert wären. Die Massengesellschaft habe bisher versagt, die Methoden der Wertefindung, -aushandlung und -vermittlung der traditionalen Gemeinschaft erfolgreich neu zu etablieren. In einer Massengesellschaft müssten diese – ansonsten natürlichen und spontanen – Prozesse nun bewusst gesteuert werden, alles andere wäre education for chaos.216 Nur wenn das Christentum jenseits der rituellen und institutionellen, äußeren Formen zu den Quellen der religiösen Erfahrung zurückfinden würde, könne man den totalitär-politischen Systemen etwas entgegenstellen und die Veränderungen in der Gesellschaft positiv auffangen. Der Katholizismus habe in diesem Zusammenhang den Vorteil, die Notwendigkeiten der Gemeinschaft besser verstehen zu können als der auf das Individuum ausgerichtete Protestantismus.217 Ziel müsse ein überparteilicher und überkonfessioneller Wertekonsens sein, der sich im Fortschreiten der geplanten demokratischen Gesellschaft der systematischen Konsistenz einer summa theologiae von Thomas von Aquin annähere. Auf diese Weise könne der liberale Wertepluralismus überwunden werden.218 Erforderlich sei es dabei, die Wirkung christlicher Normen und Werte nicht vom theologischen Katheder aus zu beurteilen, sondern ihre Auswirkungen direkt an Ort und Stelle in der Welt der Arbeiter, Lehrer, Arbeitslosen etc. zu überprüfen. Der auch historisch geschulte Soziologe könne hier eine vermittelnde Funktion einnehmen, die auf empirischer Basis das Verhältnis zwischen christlichen Wertorientierungen und deren tatsächlicher Umsetzung evaluiere. Grundsätzlich würde dies jedoch voraussetzen, dass die christlichen Religionen nicht an der Vorstellung von einmal festgeschriebenen, überzeitlichen moralischen Regeln festhalten würden, sondern diese der jeweiligen historischen und sozialen Situation anpassen.219 Die Vision der demokratischen Planung, die auf einer Vermittlung religiöser Werte beruhe, könne nur insoweit zum Erfolg geführt werden, als wie die Gesellschaft der freien religiösen Erfahrung genügend Entfaltungsraum biete. 214 | Mannheim 1954, 102. 215 | Mannheim 1954, 102f. 216 | Vgl. Mannheim 1954, 103-105. 217 | Vgl. Mannheim, 1954, 105-109. 218 | Vgl. Mannheim 1954, 110f. 219 | Vgl. Mannheim 1954, 114-122.
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Denn die vermittelten Werte müssten ihre Grundlage in der Lebenserfahrung und -wirklichkeit des Einzelnen und der sozialen Gruppen finden: »Planning for those deeper religious experiences may simply mean that, while we plan for everything else, free scope is left for religion so that it can arise spontaneously.«220 Diese religiösen Erfahrungen würden jedoch nicht im kulturellen Vakuum entstehen können, sondern müssten in religiösen Traditionen wurzeln. Mannheim identifiziert daher vier mögliche Erfahrungsräume, die das religiöse Erleben begünstigen würden: erstens das monastische Leben als kontemplative Rückzugsmöglichkeit für religiöse Orden und temporär für säkulare Funktionsträger; zweitens das Erleben des sozialen Miteinanders in der religiösen Gemeinde; drittens das Leben in der sozialen Gemeinschaft und schließlich die Teilnahme an traditionellen religiösen Ritualen der kirchlichen Institutionen und das strikte Befolgen dogmatischer Regeln. Mannheim selbst befürwortet ein plurales Religionsverständnis, das all diese Zugänge zu religiöser Erfahrung nebeneinander zulässt, die sich zu einer dynamischen Einheit ergänzen.221 Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint es legitim, zwei Phasen von Mannheims Beschäftigung mit Religion zu kontrastieren: zum einen die Periode seiner kultursoziologischen und wissenssoziologischen Schriften bis ca. 1935, in denen Religion bloß als historisch-analytische Hintergrundfolie der Entstehung des Rationalismus diente; zum anderen im Kontext seiner späten Gesellschaftsvision des democratic planning, in der dem Christentum eine zentrale Rolle der Etablierung von Werten zukommen sollte. Allerdings müssen hier zwei Kontinuitäten Berücksichtigung finden: Mannheims frühe Idealisierung der Mystik und die lebensphilosophische Grundausrichtung seiner Kultur- und Wissenssoziologie, die die religiösen Phänomene vor der psychologisch-reduktionistischen und der marxistisch-materialistischen Kritik bewahrten. Religion ist für Mannheim ein Ausdruck irrationaler Denkformen, die je nach sozialem und historischem Kontext in anderen Erlebniszusammenhängen in Erscheinung treten und sich in neuen Weltanschauungen wie bspw. dem Konservatismus manifestieren können. Mannheim führt zwar an, dass diese Erlebniszusammenhänge klassenspezifischer Natur seien, vertieft diese Annahme jedoch abgesehen von den kurzen Ausführungen zum protestantischen Chiliasmus der frühneuzeitlichen Bauern an keiner Stelle seines Werkes, weder theoretisch, noch empirisch oder historisch. Religion wird auch insgesamt nicht zum Gegenstand von Mannheims wissenssoziologischen
220 | Mannheim 1954, 124. 221 | Vgl. Mannheim 1954, 125-130.
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Untersuchungen gemacht.222 Sein Religionsverständnis verbleibt daher weitgehend auf einer unspezifischen Ebene als Synonym für eine vergangene, einheitlich-irrationale Weltauffassung, die vor der gesellschaftlichen und kulturellweltanschaulichen Ausdifferenzierung der Neuzeit das Denken beherrschte. Im Kontext der pragmatischen Wende während seines Londoner Exils jedoch und in Verbindung mit der Annahme, dass gemeinsame Erlebniszusammenhänge konstituierend für eine stabile Gemeinschaft und Gesellschaft seien, reaktiviert Mannheim offenbar das schon in seinen frühesten Schriften präsente, idealistische Verständnis von religiöser Erfahrung als einheitsstiftendem Faktor.
2.1.5 Werner Stark Der frühe Tod Max Schelers im Jahre 1928 und das 1933 beginnende Exil Karl Mannheims in England und sein plötzliches Lebensende im Alter von nur 53 Jahren (1947) hinterließen einen nicht mehr zu schließenden Bruch in der Diskussion und Weiterführung der »klassischen« deutschen Wissenssoziologie.223 Das 1934 in Wien erschienene Problem der Soziologie des Wissens von Ernst Grünwald ist ein vorläufiges Resümee dieser ersten wissenssoziologischen Periode.224 Zu den wenigen deutschen Soziologen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit – wenigstens punktuell – an die klassischen Positionen der Wissenssoziologie anknüpften, gehörte der Heidelberger Ökonom und Sozialwissenschaftler Alexander Rüstow.225 In seiner kulturkritischen Ortsbestimmung der Gegenwart (1950) führt er in Anlehnung an Scheler die Unterscheidung zwischen Erkenntniswissen, Nutzwissen und Heilswissen ein, die in der weiteren wissenssoziologischen Diskussion jedoch völlig unbeachtet blieb.226 Während und nach der NS-Diktatur wurde die wissenssoziologische Diskussion nun in mehrfacher Hinsicht außerhalb der deutschen Soziologie, im Exil, 222 | Selbst in seiner grundlegenden Programmatik der Wissenssoziologie wird das »mittelalterliche religiöse Bewußtsein« nur flüchtig als Vorläufer des Rationalismus erwähnt. Vgl. Mannheim 1925, 314. 223 | Eine Beschäftigung mit jüdischstämmigen Autoren wie Karl Mannheim, Wilhelm Jerusalem und Max Scheler war in der Soziologie der NS-Zeit insgesamt unerwünscht, auch wenn sich nur Mannheims Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (1935) explizit auf den seit 1935 erstellten »Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« befand. Vgl. Klingemann 1996, 103. 224 | Vgl. Gründwald 1934. 225 | Rüstow (1885-1963) verbrachte aufgrund politischer Verfolgung im NS-Staat das Exil als Ökonom an der Universität Istanbul, leitete nach Kriegsende bis 1955 als Ordinarius für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften das Alfred-Weber-Institut in Heidelberg. 226 | Vgl. Rüstow 1950, 353f.
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fortgeführt. Einen ganz eigenen Versuch einer Wissenssoziologie legt 1940 Florian Znaniecki227 in The Social Role of the Man of Knowledge vor. Seiner Ansicht nach könne es gar keine Soziologie des Wissens geben, sondern nur eine Soziologie der Wissensträger, die je nach Art ihres Wissens eine bestimmte Rolle in der ausdifferenzierten Gesellschaft einnehmen.228 Kultur- und zeitübergreifend identifiziert Znaniecki in der Folge einige Typen von spezifischen Wissensträgern wie den moralischen Führer, den Priester, den Weisen, den Philosophen, den Gelehrten, den Wissenschaftler und ihre jeweiligen Schulen.229 Einen bedeutsameren Versuch der Revitalisierung »klassischer« Wissenssoziologie, der über Einzelstudien hinausging, unternahm von seinem amerikanischen Exil aus der Soziologe und Wirtschaftshistoriker Werner Stark (19091985).230 Von grundsätzlich besonderem Interesse für unsere Fragestellung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Stark seine wissenssoziologischen Arbeiten mit der Weiterentwicklung der klassischen Fragen der Religionssoziologie nach Weber, Troeltsch und Durkheim verbindet. Explizit will Stark mit seinem wissenssoziologischen und religionssoziologischen Programm den »Bruch« der deutschen Nachkriegssoziologie mit »der großen Tradition« überwinden.231 Bestimmend für seine Wissenssoziologie ist dabei die kontrastierende Gegenüberstellung der Position Max Schelers, als dessen soziologischer Erbe er sich ganz offensichtlich empfindet, mit denen des »soziologistischen Reduktionismus«, wie ihn seiner Ansicht nach vor allem Karl Mannheim, aber auch Emile Durkheim und Max Weber, betrieben haben. Eine vereinfachte – nämlich wiederum kontrastierende – Rezeption der von Ferdinand Tönnies etablierten Sozialformen der Gemeinschaft und der Gesellschaft muss man als übergeordneten Bezugsrahmen der Starkschen Soziologie berücksichtigen.232 Ebenfalls zu beachten ist, dass Stark die Wissenssoziologie methodisch vor allem als Ideengeschichte verankert, denn sie »befaßt sich in erster Linie mit dem Ursprung der Ideen und nicht mit ihrer Geltung. Sie versucht zu verstehen, warum die 227 | Znaniecki (1882-1958) gilt als Begründer der polnischen Soziologie und hatte von 1920-1939 den ersten soziologischen Lehrstuhl Polens in Poznan inne, bevor er ins amerikanische Exil flüchtete und bis zu seiner Emiritierung an der University of Illinois tätig war. 228 | Vgl. Znaniecki 1975, 1-22. 229 | Vgl. Znaniecki 1975, 91-199. 230 | Auch Werner Stark (1909-1965) entstammt wie Scheler einer jüdischen Familie und konvertierte später zum Katholizismus. Er absolvierte in Hamburg ein rechts- und sozialwissenschaftliches Studium, das er je mit einem Doktortitel abschloss, und erhielt über viele Umwege der erzwungenen Migration über Prag und London schließlich 1963 eine Professur für Soziologie an der jesuitischen Fordham University in New York. 231 | Vgl. Stark 1960a, Vf. 232 | Vgl. Johnston 1993.
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Menschen so gedacht haben, wie sie gedacht haben, und nicht nachzuprüfen, ob ihre Gedanken auch wahr gewesen sind.«233 Vor diesem Hintergrund wendet Werner Stark die wissenssoziologische Fragestellung nun selbst auf die Entstehungsbedingungen und Epistemologien der soziologischen »Klassiker« an. Er sieht diese in Relation mit dem im zeitgenössischen Leben verbreiteten Wunsch nach mehr Einheit oder mehr Freiheit, oder weil eben die Naturwissenschaft in der untersuchten Epoche ein besonderes Prestige besessen hätte.234 Max Weber macht er zum Vorwurf, seine Opposition zur Autokratie des deutschen Kaisertums, die sich politisch in seiner liberalen Gesinnung ausdrückte, in eine handlungstheoretische Soziologie überführt zu haben. Auf diese Weise sei die Fixierung von Webers Soziologie auf das Individuum erklärbar, was sich insbesondere in seinen religionssoziologischen Studien als Schwäche erweise, wenn er bspw. den Charismabegriff nur individualistisch deute und den Katholizismus grundlegend negativ konnotiere.235 Im direkten Vergleich von Scheler und Mannheim resümiert Stark: »Die Anschauungen dieser Männer entstammen ganz anderen geschichtlichen Konstellationen; denn zwischen ihnen liegen zwei im wahrsten Sinne des Wortes epochemachende Ereignisse: der erste Weltkrieg und die deutsche Revolution, d.h. der Zusammenbruch politischer Strukturen, die als unerschütterlich gegolten haben.«236 Aus diesem Grunde beziehe sich Schelers Soziologie auf eine ewige und unabdingbare objektive Wertordnung, während Mannheim das dynamische Weltbild eines konsequenten Werterelativismus erstelle.237 Im Zusammenhang mit der Frage nach den Ursprüngen der Wissenssoziologie selbst hält es Werner Stark Anfang der 1960er Jahre für angebracht, das Fehlurteil zu korrigieren, dass die heutige Wissenssoziologie ausschließlich auf die Revolutionstheorien von Marx und vormals Voltaire zurückzuführen sei – er will nun auch die »konservative« Richtung der Wissenssoziologie zur Geltung zu bringen.238 Als Ursprung dieser konservativen Schule, zu der er sich selbst und Max Scheler zählt, identifiziert Stark die Schrift Herders Die Älteste Urkunde des Menschengeschlechtes (1774-76) und Herder selbst als den einflussreichsten frühen Vertreter dieser Spezialdisziplin. Nämlich dort, wo Herder gegen das aufklärerisch-rationalistische Bestreben Voltaires das biblische Buch Genesis im Sinne seines sozialen Entstehungskontextes verstehen will – und eben nicht nach dem Maßstab des Rationalismus des 18. Jahrhunderts, dort beweise Hegel die Über233 | Stark 1960a, 126. 234 | Vgl. Stark 1980, 306. 235 | Vgl. Stark 1980, 310. 236 | Stark 1980, 313. 237 | Vgl. Stark 1980, 313-315. 238 | Vgl. Stark 1960b, 90f.
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legenheit der am Ursprung des Wissens orientierten Hermeneutik. Herder sei dem religiösen Phänomen gegenüber positiv eingestellt, er wolle erklären und verstehen und nicht – wie Voltaire und seine späteren marxistischen »Aufklärer« – den vermeintlichen Priesterbetrug aufdecken. Darüber hinaus verkenne Voltaire gänzlich, dass es unabhängig vom Individuum einen kontinuierlichen Wissensbestand gäbe, der in verschiedenem Maße von der ganzen Gesellschaft geteilt werde. »Esoteric and exoteric religion were always essentially variants of a common underlying metaphysic or style of thought …«239 Auch habe Voltaire kein Verständnis für die Eigenart religiöser und metaphysischer Erkenntnis, sondern bewerte alle Weisheiten vergangener Zeitalter aus der Perspektive eines allumfassenden Fortschrittsparadigmas als irrational, primitiv und kindlich. Herder dagegen sehe in den geschichtlichen Zeitaltern lediglich eine andere, keineswegs jedoch minderwertige Denkart walten.240 Der Mensch der Vergangenheit war Stark zufolge dem modernen Menschen sogar in der Unmittelbarkeit seiner Welterfahrung und seiner Intuition überlegen.241 Die Soziologie des »Genies Max Scheler« verkörpert für Stark den Höhepunkt dieser auf Hegel zurückgeführten, konservativen Tradition der Wissenssoziologie.242 Eine Neuformulierung der Wissenssoziologie ist aus Sicht Werner Starks nötig, um den individualistischen Tendenzen der in der Folge von Max Weber entstandenen Handlungstheorie entgegenzuwirken, denn er begreift die Gesellschaft nicht nur als Interaktionssystem, sondern auch als System gemeinsamer Werte, Bedeutungen und Symbole. Die Aufgabe der Wissenssoziologie sei es, das Verhältnis zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt zu klären. Grundsätzlich sei das Erkenntnissubjekt durch das Kategoriensystem des Geistes (Raum, Zeit, Kausalität), die Sinnesapparatur der Wahrnehmung und das axiologische System (die allgemeine Wertordnung einer Gesellschaft) geprägt; das Erkenntnisobjekt durch die Gegenstände des Wissens (die bewusste Auswahl aus dem Rohmaterial des Wissens) und durch das Rohmaterial des Wissens (die »Dinge« außerhalb unseres Bewusstseins).243 Was versteht Stark nun im Einzelnen unter diesen Erkenntnisqualitäten? Für Stark ist unbestreitbar, dass das Wissen des einzelnen Menschen sozial bedingt ist; d.h. für ihn, dass schon alle primären Selektionsmechanismen, um bedeutungsvolles von bedeutungslosem Wissen zu scheiden auf soziale Wertordnungen, das »Ordinatensystem«, zurückzuführen sind und insofern 239 | Stark 1960b, 94. 240 | Das Konzept der Eigengesetzlichkeit der Kulturbewegung, die sich mit zeitübergreifenden Sinnproblemen befasst, diskutiert Stark in wohlwollender Anknüpfung Alfred Webers Kultursoziologie. Vgl. Stark 1960a, 136ff. 241 | Vgl. Stark 1960b, 95; Stark 1960b, 93-95. 242 | Vgl. Stark 1960b, 99. 243 | Vgl. Stark 1960a, 89-92.
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ein »Soziales a priori« darstellen. Dieses sogenannte »axiologische System der Werte« liegt vor der menschlichen Relativierung und vor der Möglichkeit einer Infragestellung – als ein »System sozialer Wertungen und Vorentscheidungen, welches uns ermöglicht, aus der Unendlichkeit des Wißbaren das endliche und darum verstandesgemäß erfaßbare Universum des Wissens herauszuheben.«244 An dieser Stelle rezipiert Stark natürlich Schelers Konzept einer ewigen »Wertpyramide«, das seiner Ansicht nach auch das Problem der Relativität von Wahrheiten löst. Dadurch, dass in jeder Gesellschaft, jeder Epoche und jeder Klasse das Individuum aus dieser ewigen Wertordnung nun spezifische Selektionen vornimmt und die ganze Wertpyramide nur aus der Zusammenschau aller Gesellschaften sichtbar werde, sei die Relativierung bestimmter gesellschaftlicher (und wissenschaftlicher) Perspektiven gewährleistet: »Auch für Scheler ist darum die geistige Entwicklung der Menschheit ein Summierungsprozeß und eine noch zu erfüllende Aufgabe, aber diese These wurzelt bei ihm in einem viel tieferen und darum auch viel sichereren Fundament als bei Mannheim.«245 Dieses a priori gegebene, axiologische System bestimmt laut Stark jedoch nicht, wie diese Auswahl an möglichen Wissensobjekten durchzuführen ist, sie kann allerdings selbst auch die abstrakten Methoden zur Erfassung konkreter Tatsachen durchaus beeinflussen (wie bspw. das Ideal wissenschaftlicher Methoden). Der durch den einzelnen Menschen zu vollziehende Akt des Auswählens und der Anordnung von Wissensobjekten ist Stark zufolge – trotz der vorgegebenen Natur des axiologischen Systems – ein aktives und freies Handeln des Menschen. Der Mensch als »lebendige Kraft« sei ein Zwischenglied zwischen den sozialen Kräften und der objektiven Kultur seines Zeitalters, der die hinter ihm liegenden sozialen Kräfte in Richtung der Kulturschöpfung im Konkreten fortsetze. Das axiologische System trete dem Einzelnen zwar in Normen, Geboten und Verboten sowie in kollektiven Vorstellungen, dem geistigen Universum, entgegen, sie beherrschen oder »versklaven« ihn jedoch nicht vollkommen. Diese Freiheit besteht allerdings nur zu einem bestimmten Grade, denn sonst würde sich der Mensch außerhalb seiner Gesellschaft stellen und als verrückt gelten: »Der Mensch kann in vielen verschiedenen Gesellschaften leben, aber wenn er Mensch sein und bleiben will, dann muß er in einer Gesellschaft leben, denn Mensch sein heißt Gesellschaftswesen sein. Gott (oder die Natur, oder wer immer uns geschaffen hat) hat uns dazu gemacht.«246 Es ergeben sich insbesondere in modernen, komplexen Gesellschaften höhere Freiheitsgrade des Handelns, wenn mehrere Wertsysteme nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren. Für die Wissenssoziologie ergibt sich daraus die 244 | Stark 1960a, 93. 245 | Stark 1980, 315. Vgl. Strasser 1986, 142f. 246 | Stark 1960a, 231.
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Aufgabe, die Intensität der Bestimmtheit des Bewusstseins durch die sozialen Verhältnisse zu definieren.247 Mit diesem Modell des axiologischen Systems einer Gesellschaft und des prinzipiellen wissensgenerierenden Handlungsmusters einer Auswahl aus einer sozial vorhandenen Ideenwelt rezipiert Stark, so weit es ihm möglich schien, die Schelersche Erkenntnistheorie. Während Ernst Grünwald eine rationale Entscheidung für eine der verschiedenen Richtungen der Wissenssoziologie für unmöglich hält, ob nämlich der Mensch als Körperwesen, als Triebwesen, als Geistwesen oder als Gesellschaftsprodukt aufgefasst werden könne,248 betont Stark die Überlegenheit der philosophischen Anthropologie.249 Ohne sich offen zu distanzieren, gibt er an entsprechender Stelle zwar zu bedenken, dass Schelers ontologische Setzung eines (platonisch) gedachten Ideenreiches eine Extremposition darstellt, die einige epistemologische Schwächen impliziere. Trotz dieser Schwierigkeiten, die Stark auch bewusst sind, sei dieser Ansatz dem System Mannheims letztlich jedoch überlegen, weil er eine viel weitere und tiefere Sicht der Dinge einschließe, die weit über den in der europäischen Gesellschaft verankerten Marxismus hinausgehen würde.250 In seinen wissenssoziologischen, d.h. ideengeschichtlichen Einzelstudien greift Stark auch das kulturpessimistische Paradigma Schelers wieder auf. In demokratischen also weitgehend individualisierten Gesellschaften habe zwar die Konzentration auf das allgemein zugängliche, praktisch-technische Wissen wie die Mathematik zu großen Verbesserungen im ökonomischen Leben und der Technologie geführt. Aber sie hat nicht nur zu Gewinn geführt, sondern auch zu Verlust. Alle die Wege des Erkennens und der Einsicht in die Wirklichkeit, welche eine besondere Eignung oder Eigenschaft voraussetzen, sind verlassen worden und versandet: zum Beispiel die mystische Schau, ebenso wie die anderen Sonderformen der Offenbarung, ob triebhaft, künstlerisch, ekstatisch oder auf Sympathie und Empathie gebaut, aber auch die viel nüchterne philosophische Intuition, die Plato und Platonismus so teuer war. 251
247 | Vgl. Stark 1960a, 103, 114, 120-122, 229-257. Weil der Mensch diese Freiheit des Handelns besäße, sind für Stark die Versuche sozialwissenschaftlicher Prognostik sinnlos: »Wie alle Kulturphänomene sind auch die Ideen Kinder der Freiheit und Spontaneität.« Stark 1960a, 214. Das fundamentale Problem, wie denn in komplexen Gesellschaften mehrere axiologische Systeme a priori nebeneinander bestehen sollen, diskutiert Stark nicht. 248 | Grünwald 1934, 245, FN 54. 249 | Vgl. Stark 1960a, 196-202. 250 | Vgl. Stark 1960a, 202-229, 257-291. 251 | Stark 1960a, 37.
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Seit der Renaissance und der Reformation nun wurde die machtgetriebene Weltbeherrschung zum entscheidenden axiologischen Moment, das zwar einen technisch-praktischen Fortschritt bedeutet habe, jedoch zu einem völligen Verlust metaphysischer Erkenntnisse geführt habe – diese historische Einsicht sei dem »Genie Max Schelers« zu verdanken.252 Eine Skizzierung der Religionssoziologie von Werner Stark wird das Bild seines sozialtheoretischen Ansatzes abrunden und auch die Schwierigkeiten der Werkrezeption bloßlegen. In seiner fünfbändigen Sociology of Religion253 greift Stark die Themen der klassischen Religionssoziologie von Durkheim, Weber und Troeltsch auf und diskutiert kritisch die bisherigen Typisierungen von Kirchen und Sekten und von »religiösen Menschen« (Stifter, Heilige, Priester etc.). Die Analyse des Typus Sekte bspw. wirkt streckenweise höchst oberflächlich, wenn Stark nämlich Sekten grundsätzlich als (sozial und politisch) oppositionelle Religionen definiert und hier über Jahrhunderte und Länder hinweg einige passende Extremtypen – statt Idealtypen – herausstellt (wie die Quäker und die Heilsarmee), jedoch andere Phänomene völlig außer Acht lässt (z.B. die Christian Science).254 Innovativ sind dagegen seine Anmerkungen zur sozial bedingten Sprache von Sekten und dem Problem des Verfalls von Sekten.255 Die gesamte Religionssoziologie ist allerdings wiederum dem durch Scheler begründeten kulturpessimistischen Paradigma untergeordnet, nur dass an der Stelle, wo Scheler die religionenübergreifende256 Metaphysik positionierte, Werner Stark den Katholizismus platziert. So teilt Stark mit Scheler die Einschätzung, dass die Urreligionen den Menschen noch Kraft zum entwickeln gegeben habe und in der vorindustriellen Gesellschaft das Universum für den Menschen noch ein Mysterium, eine geheimnisvolle Gegebenheit war.257 Die Krise der Moderne, die nur noch auf praktische Weltbeherrschung aus sei, sei durch die Reformation ausgelöst worden, die die Verherrlichung des Individuums propagiere und damit die allumfassende Gemeinschaft der Kirche aufgekündigt hätte. Diese Entwicklung sei soziologisch an dem enormen wirtschaftlichen Erfolg protestantischer Länder wie den USA und der Armut des katholischen Lateinamerika ablesbar. Mit Blick auf die religionssoziologische 252 | Vgl. Stark 1960a, 93-99, 130ff. Vor diesem Hintergrund sei auch Schelers Abneigung gegenüber den »roten Massen« zu verstehen, die dieses System der privilegierten Wesensschau ja fundamental bedrohen würden. Vgl. Stark 1960b, 99. 253 | The Sociology of Religion. A Study of Christendom. London 1966-72. Auf deutsch erschien der zusammenfassende Grundriß der Religionssoziologie. Vgl. Stark 1974. 254 | Vgl. Stark 1974, 36-45. 255 | Vgl. Stark 1974, 45-72. 256 | Bezeichnenderweise spricht Stark im Falle von außerchristlichen Religionen (in den 1970er Jahren!) noch durchweg von »heidnischen Religionen«. 257 | Vgl. Stark 1974, 11, 132.
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Analyse konstatiert Stark daher: »Nicht Max Weber, sondern Ferdinand Tönnies kann uns zu einem gesunden Verständnis der gesellschaftlichen Formen christlicher Religiösität führen.«258 Während die katholische Kirche nämlich eine solidarische Gemeinschaft darstelle, seien die protestantischen Kirchen nur eine funktionale Gesellschaft, ohne tiefere, gemeinschaftsstiftende Bedeutung,259 oder zugespitzt: »Durchleuchte den Katholizismus mit Röntgenaugen, und du siehst den Klan; mache es ebenso mit dem Kalvinismus und du erkennst den Markt.«260 In seiner ideengeschichtlichen Analyse von Religion in der Moderne gelangt Stark schließlich sogar zu der Überzeugung, dass die Bewegung der Reformation dem Agnostizismus und Atheismus »Tür und Tor öffnete«.261 Stark fragt am Schluss seiner Religionssoziologie, als er die durch den Protestantismus verursachte Krise der Moderne diskutiert, wer heute noch die Freude und Lust am Sein empfinden könne, die die großen klassischen Komponisten in ihre Werke legten: »Diese Werke aber waren die Früchte einer Zeit, in der der Glaube noch die Kultur erfüllte und erwärmte und die Herzen reicher und freier machte, als sie es heute sind. Es kann nicht leicht sein, ihre Inspiration wiederzuerobern, aber unmöglich ist es auch nicht. Die Frohbotschaft ist an alle Menschen gerichtet, und alle können sie hören, die guten Willens sind.«262 Die Rezeptionsschwierigkeiten einer derart mit katholisch-normativen Implikationen besetzten Religions- und Wissenssoziologie sind offensichtlich. Die Hoffnung seines Schülers Hermann Strasser, dass der Name Werner Stark dereinst eine wichtige Rolle spielen werde, wenn man die Geschichte der Soziologie im 20. Jahrhundert schriebe, erfüllte sich nicht.263 Die von seinem Schüler vorgenommene Zusammenschau seines Werkes unter den Stichworten einer »Religionssoziologie auf katholischem Erfahrungshintergrund« und einer »Wissenssoziologie in der Tradition Max Schelers« mag den soziologischen Leser bereits die damit verbundenen Rezeptionsprobleme, insbesondere in Starks Umfeld der protestantischen US-Kultur, ahnen lassen.264 Trotz dieser schwie258 | Stark 1974, 128. Max Weber und Emile Durkheim wirft er vor, aufgrund ihrer religionskritischen Haltung das religiöse Phänomen, im Falle Webers insbesondere den Katholizismus, gar nicht verstehen zu wollen und können. Vgl. Stark 1974, 7. 259 | Vgl. Stark 1974, 197-220; Johnston 1993, 32-34. 260 | Werner Stark: The Sociology of Religion, Bd. 5 (1972), 265, zitiert nach Strasser 1986, 143. 261 | Vgl. Stark 1974, 220f. 262 | Stark 1974, 230. 263 | In der umfassenden Anthologie und Quellensammlung Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bde. (1982) von Nico Stehr und Volker Meja wird Stark nur noch an einer einzigen Stelle erwähnt, und dann lediglich als Weiterführung des Ansatzes von Max Scheler. Vgl. Stehr & Meja 1982c, 908. 264 | Vgl. Strasser 1986, 141-144.
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rigen Ausgangslage für die Rezeption seines Werkes sollte jedoch nicht unterschätzt werden, dass einige von Starks Schriften in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen verbreitet wurden265 und er für die nachfolgende Genereation der phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie von Thomas Luckmann und Peter L. Berger ohne Zweifel eine Brückenfunktion übernommen hat.266
2.1.6 Theodor Geiger Eine radikale Opposition zu Stark und Scheler nimmt Theodor Geiger (18911952) ein,267 der letzte maßgebliche Soziologe, der wesentliche Beiträge zur Wissenssoziologie in der Nachkriegsperiode geleistet hat – für Werner Stark bildet er den wissenssoziologischen Gegenpol, dessen Ideen er sich »zu bekämpfen« gezwungen fühlt.268 Geiger befasst sich wissenssoziologisch mit dem klassischen Problem von Ideologie und Wahrheit (1953), mit Fragen der sozialen Schichtung und Mentalitäten in seiner bahnbrechenden Studie Die soziale Schichtung des deutschen Volkes (1932) und den Beziehungen von Masse, Elite und Demokratie in Die Masse und ihre Aktion (1926) und in Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft (1949). Diese Untersuchungen werden stets in einen politischen Problemhorizont eingebettet.269 Die Zielsetzung seines soziologischen und politischen Programms wird bereits an dem für unsere Fragestellung zentralen Topos der Religion deutlich. Schon früh ist Geigers Abneigung gegenüber der Vermischung religiös-norma265 | Starks History of Economics in Relation to Social Development (1944) erschien in vier englischen und japanischen Auflagen sowie in spanischer, italienischer und deutscher Übersetzung, die Sociology of Knowledge (1958) in deutscher und japanischer Übersetzung. 266 | Vgl. Knoblauch 2005, 113. Es ist daher auch kein Zufall, dass mich auf einer Tagung des Heidelberger Graduiertenkollegs Religion und Normativität im Jahr 2000 Thomas Luckmann in einem Gespräch über die Religionssoziologie der Nachkriegszeit explizit auf Werner Stark verwies. 267 | Theodor Geiger studiert Rechts- und Staatswissenschaften in München (Promotion in Jura 1918). Er engagiert sich politisch in der SPD, leitet die Berliner Volkshochschule und arbeitet im statistischen Reichsamt. Er wird 1928 auf das Ordinariat für Soziologie in Braunschweig berufen. 1933 muss er nach Dänemark fliehen, wo er 1938 in Aarhus einen Lehrstuhl für Soziologie erhält; nach dem Exil in Schweden 1943-45 kehrt er auf diesen Lehrstuhl zurück, den er bis zu seinem frühen Tod 1952 innehatte. 268 | Vgl. Stark 1960a, 105. Knoblauch sieht Stark und Geiger allerdings über eine positivistische Wissensvorstellung eng miteinander verbunden. Vgl. Knoblauch 2005, 112f. 269 | Vgl. Geiger 1953, 1967a, 1967b, 1949.
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tiver Positionen mit soziologischer Faktizität erkennbar, wenn er etwa scharfzüngig über die Perspektiven der »angewandten Soziologie« des Soziologen und Theologen Karl Dunckmann270 urteilt: »Er hat nicht Wissen erfahren, ihm ist Heilsoffenbarung widerfahren. Er bindet sie in wissenschaftliche Formen – ein Gnostiker religiöser Soziologie.«271 In seinen historischen und gegenwartsbezogenen Analysen erscheint Religion lediglich an der Peripherie; so spricht er in seiner Revolutionstheorie kurz von dem »Unirdischen, Mystisch-Religiösen der absoluten Ideale« der religiösen Utopien während der Deutschen Bauernkriege.272 In seiner Sozialstratigrafie entwickelt Geiger zwar das Konzept der Mentalität als »geistig-seelischer Haltung«, die die »Lebensrichtung« vorgibt.273 In der Analyse erscheinen religiöse Aspekte dann jedoch nur vereinzelt.274 Zwei Jahrzehnte später führt Geiger diesen Ansatz fort und unternimmt eine »kulturelle Schichtung der Gesellschaft«. Abgesehen jedoch von der einfachen Feststellung, dass die anonyme Volkskultur Trägerin von Bräuchen, Sitten und Mythen sei,275 widmet Geiger der Rolle der Religion in dieser umfangreichen Monografie nur die auf einer halben Seite gedrängte, pejorative Feststellung, dass in der Vergangenheit eine »Clique« von Medizinmännern, Priesterkasten und später katholischen Klerikern ihre kulturellen Wissensbestände als Macht konstituierendes Geheimnis hüteten und diese Klasse kaum mit dem Begriff »die Intelligenz« zu verbinden sei.276 Anfang der 1940er Jahre avanciert Geiger, der 1922 aus der katholischen Kirche austrat, dann zum expliziten Religionskritiker. Er schreibt sich nun das von Auguste Comte etablierte Ziel einer Gesellschaft ohne Metaphysik auf die Fahne, das als positive Wirklichkeit nur das anerkennt, was der sinnlichen Erfahrung zugänglich ist. Das Christentum wie auch jede andere Religion basieren 270 | Karl Dunckmann (1868-1932) erhielt 1919 einen Lehrauftrag für Religionswissenschaft und Soziologie an der TH Charlottenburg und wurde später Professor für systematische Theologie in Greifswald. 1924 gründete er das Institut für angewandte Soziologie in Berlin. 271 | Vgl. Geiger 1929, 225. 272 | Vgl. Geiger 1967b, 104, 153. »Übrigens ist es sehr fraglich, ob es eine religiöse Revolution überhaupt gibt, d.h., ob die religiösen Gehalte überhaupt jähen Umbildungen unterliegen, ob dies nicht vielmehr nur hinsichtlich der kirchlichen Gestalt religiöser Wertsysteme der Fall ist.« A. a. O., 59. 273 | Vgl. Geiger 1967a, 77ff. 274 | Nur an einer Stelle konstatiert Geiger, dass Religiösität als Haltung und Kirchlichkeit als Attribut für das kleine und mittlere Unternehmertum noch immer einen zentralen Ort einnehmen. Vgl. Geiger 1967a, 85. 275 | Vgl. Geiger 1949, 3. 276 | Vgl. Geiger 1949, 25.
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laut Geiger daher nicht auf einem intellektuell begründbaren Wissensbestand, sondern lediglich auf Glaubenssätzen, die auf intersubjektiv nicht nachprüfbaren religiösen Erfahrungen beruhen.277 Es ist kaum möglich, Theodor Geigers religionskritische Position pointierter zusammenzufassen, als er dies selbst in gewohnt zugespitzter, teils polemischer Art und Weise in Ideologie und Wahrheit tut:278 Das religiöse Gefühl kann offenbar keine Ideologie sein. Es ist ja keine Aussage. Alle Gefühle der Bewunderung, der Ehrfurcht, frommen Hingabe, des »von Welt ErfülltSeins« stehen von vorneherein gänzlich außerhalb unserer Erörterungen. Der Kern der Sache könnte kurz und vereinfachend dahin ausgedrückt werden, daß nicht die Religion eine Ideologie sei, wohl aber die Theologie. Und die dogmatische Theologie allerdings ist Ideologie, und sonst nichts. Sie hat nicht den geringsten Wirklichkeitsgehalt. Ihre Aussagegegenstände selbst, und natürlich auch das, was über diese Gegenstände ausgesagt wird, sind reine Hirngespinste … Ein solches Ding »Gott« ist in der Erkenntniswirklichkeit nicht vorfindbar … Die Annahme z.B., es gebe einen Gott, der die Welt erschaffen habe, empfiehlt sich durch nichts vor irgendwelcher anderen mirakulösen »Erklärung« für die Existenz einer Welt. 279
Ähnlich deutlich ist Geigers Absage an jegliche Form von Metaphysik, erst recht wenn sie – wie im Falle Schelers – Teil einer wissenssoziologischen Ontologie sein soll.280 In diesem Sinne bezweifelt Geiger auch die Notwendigkeit religiöser Sinnleistungen und proklamiert »Glaubenslosigkeit als Bildungsziel«. Anstelle der empirisch-fragwürdigen Transzendenzbezüge sieht Geiger Möglichkeiten der Sinnstiftung in den strikt diesseitsbezogenen Glückschancen des tatsächlichen Lebens. Die Wissenschaft selbst, die auf objektiver Erkenntnis und gesicherten Tatsachen gründet, soll hier als Instanz der verlässlichen Lebensorientierung fungieren.281
277 | Vgl. Meyer 2001, 141ff. 278 | In diesem Zusammenhang muss berücksichtigt werden, dass Geiger Ideologien als erkenntniskritische Denkerzeugnisse (Aussagen, Handlungen), die an der Möglichkeit einer objektiv gegebenen Wirklichkeit gemessen werden, bestimmt. Vgl. Geiger 1953, 5ff.; Arens 1992, 14-23. 279 | Geiger 1953, 75-78. 280 | Vgl. Geiger 1953, 78-87. 281 | Vgl. Meyer 2001, 142ff.; Berger & Luckmann 1994, 13f.
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2.2 D IE PHÄNOMENOLOGISCH ORIENTIERTE W ISSENSSOZIOLOGIE 282 Angeregt durch die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls entwickelt der Ökonom und Soziologe Alfred Schütz (1899-1959) eine soziale Handlungstheorie, die die Voraussetzungen von sozialen Erfahrungen und die Genese kollektiven und individuellen Wissens analysiert. Wie wird also subjektive Erfahrung zu intersubjektivem Wissen? Schütz verband nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten die Fragen der philosophischen Phänomenologie mit dem amerikanischen Pragmatismus und der Weberschen Handlungstheorie. Peter L. Berger (*1929) und Thomas Luckmann (*1927), die beide an der New School of Social Research in New York in den 1950er Jahren bei Alfred Schütz studieren und später dort selbst lehren und forschen, führen den Ansatz von Schütz weiter aus. Hubert Knoblauch bewertet das Verhältnis der beiden Schüler zu ihrem Lehrer sogar als so eng, »dass praktisch alles, was über Schütz gesagt wurde, auch auf Berger und Luckmann zutrifft.«283 Für die Frage der Religion sind Berger und Luckmann weit über die Grenzen ihrer soziologischen Schule von Bedeutung und zählen unbestritten zu den wichtigsten Religionstheoretikern der Gegenwart, die in der Soziologie, der Theologie und der Religionswissenschaft ihre Spuren hinterlassen haben.284
2.2.1 Alfred Schütz Es wäre für eine wissenschaftshistorische Fragestellung sicherlich vielversprechend zu erörtern, inwiefern Karl Mannheim und der Soziologe Alfred Schütz vor dem Hintergrund ihrer gemeinsamen »Erlebniszusammenhänge« eine »Generation« im mannheimschen Sinne bilden. Schütz wuchs im politisch bewegten Wien des Untergangs der K&K-Monarchie in einer Familie des bürgerlichen Mittelstands auf – sein Stiefvater war Prokurist einer Bank. Seine von der Mutter geförderten, breit angelegten Bildungs- und Kulturinteressen, von der deutschen Literatur bis zur klassischen Musik, ließen ihn in seiner jugendlichen Sturm und Drang-Phase an den intellektuellen Diskussionen und künstlerischen Versammlungen der Wiener Jugendbewegung teilhaben, die die progressive Idee einer kulturellen und politischen Erneuerung des Landes verfolgte. Nach der Not-Matura 1917 folgten über ein Jahr Militärdienst und nach 282 | Um sich als empirisch arbeitende Soziologie von der philosophischen Phänomenologie abzugrenzen, besteht Thomas Luckmann auf der Bezeichnung einer phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie. Vgl. Knoblauch 2005, 141. 283 | Vgl. Knoblauch 2005, 153. 284 | Zur Tätigkeit an der New School for Social Research und dem Verhältnis von Berger und Luckmann vgl. Schnettler 2006, 26-30.
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dem plötzlichen Ende des Krieges die für seine Generation typische Suche nach neuen Wertorientierungen und Weltanschauungen. Aus pragmatischen Gründen absolvierte Schütz ein durch seinen Veteranenstatus ermöglichtes, beschleunigtes Jura-Studium, das er 1921 mit Doktortitel abschloss. Spezialisiert auf internationales Banken- und Handelsrecht trat Schütz bereits 1919 in die Bankwirtschaft ein, der er hauptberuflich bis in die 1950er Jahre treu blieb. 1938 emigrierte er in die USA und lehrte ab 1943 an der New School of Social Research, wo er 1952 eine ordentliche Professur erhielt.285 Beruflich und privat etabliert – er heiratete 1926 – vertiefte Schütz in den Folgejahren sein bereits in der Studienzeit gewecktes Interesse an der Nationalökonomie und Soziologie: Schütz war in die zwei Diskussionskreise des Seminars von Ludwig von Mises, einem der bedeutendsten österreichischen Wirtschaftswissenschaftler,286 und des sogenannten Geistkreises eingebunden, in dem sich vor allem junge Sozialwissenschaftler zur Diskussion kultureller und sozialtheoretischer Themen zusammenfanden. Diese Treffen eröffneten ihm die Möglichkeit, trotz seiner akademischen Außenseiterposition an der zeitgenössischen soziologischen Debatte teilzuhaben und sich auch aktiv einzubringen. Zunächst beschäftigte ihn das vertiefte und kritische Studium der Schriften Max Webers,287 insbesondere das für die Fundierung der Soziologie maßgebliche erste Kapitel aus Wirtschaft und Gesellschaft.288 Schütz bewegte die grundlegende Frage, wie sozialer Sinn in menschlichen Handlungen entsteht. Nicht die Verknüpfung der zwei eigenständigen Größen von Wissen und Gesellschaft bildet das Zentrum von Schütz’ Erkenntnisinteresse, sondern die grundlegende Verbindung von Sinn und Handeln. Beide bilden für ihn nämlich eine untrennbare Einheit, die die Basis für den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt legt:289 »Sinn ist, was Handeln leitet, orientiert und ein Verhalten erst als Handeln auszeichnet. Wissen ist also nichts der Handlung Äußerliches, sondern konstitutiv für Handeln.«290 Webers sehr klare, jedoch auch sehr undifferenzierte Definition konnte Schütz trotz der großen Wertschätzung für die von Weber eingeführte »radikale« Orientierung am Individuum nicht befriedigen. Die von Weber postulierte 285 | Vgl. Koschel 1995; Wagner 1983, 5-9; Barber 2004, 1-24. 286 | Zu diesem Kreis gehörten auch Eric Voegelin und Friedrich August von Hayek. Vgl. Barber 2004, 41-62. 287 | Seine akademischen Lehrer waren allerdings ausgesprochene Kritiker Max Webers. Vgl. Wagner 1983, 13f. 288 | Des Weiteren interessierten Schütz die Schriften zur Wissenschaftslehre; ob er die religionssoziologischen Arbeiten Webers wahrnahm, ist nicht bekannt. Vgl. Wagner 1983, 14. 289 | Vgl. Knoblauch 2005, 142. 290 | Knoblauch 2005, 142.
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Idee des »subjektiv gemeinten Sinns einer Handlung«291 ignoriere grundsätzlich die Probleme der Mehrdeutigkeit von Handlungen und der sie deutenden Perspektiven.292 An dieser Definition würden sich nun auch die Grenzen von Webers theoretischer Leistung zeigen: Weber macht zwischen Handlung als Ablauf und vollzogener Handlung, zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem Sinn des Erzeugnisses, zwischen dem Sinn eigenen und fremden Handelns bzw. eigener und fremder Erlebnisse, zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen keinen Unterschied. Er fragt nicht nach der besonderen Konstitutionsweise des Sinnes für den Handelnden, nicht nach den Modifikationen, die dieser Sinn für den Partner in der Sozialwelt oder für den außenstehenden Beobachter erfährt … 293
Das Programm der verstehenden Soziologie bleibe somit nur eine Skizze, die Weber selbst zwar entworfen, jedoch nicht ausgeführt habe. Weber begnüge sich damit, die Welt und die sinnhaften Phänomene der Welt naiv als intersubjektiv konform vorauszusetzen und anzunehmen, dass jeder sein eigenes Handeln und das fremde Handeln als sinnvoll erlebt »und zwar in eben der Weise, in welcher wir im täglichen Leben naiv mit der Vorgegebenheit einer homogenen und unserer Auffassung konformen Außenwelt rechnen.«294 Die Frage des intersubjektiven Verstehens führt Schütz zunächst zu Henri Bergson, dessen Konzept des Bewusstseins ihm eine Antwort auf die vorhandenen Probleme zu bieten scheint.295 Bergson nun zeigt Schütz die Möglichkeit, zu den Quellen der Sinnsetzung im Erleben Einzelner herabzusteigen und den Sinnsetzungsprozess in allen seinen Phasen zu durchleuchten. Denn für Bergson waren alle Kategorien des Verstandes sowie alle sozial entstehenden Instrumente der Welterfassung (wie die Sprache und die Wissenschaft) schon immer eine Rekonstruktion der ursprünglich im Erleben gegebenen Realität. Diese Konstruktion bedeute bereits eine verzerrende Reduktion, da sie aus der kontinuierlichen, heterogenen Abfolge qualitativer Erlebnisse einzelne Momente herausgreife und sie außerhalb ihres Erlebniskontextes fixiere und so objektivierend in die quantifizierbare, zeiträumliche Welt des Intellekts und des rationalen Handelns versetze.296
291 | Vgl. Weber 1980, 1f. 292 | Vgl. Schütz 1993, 33-42. 293 | Schütz 1993, 15. 294 | Schütz 1993, 16. Vgl. auch Barber 2004, 25-31. 295 | Schütz rezipiert hier insbesondere den Essai sur les données immédiates de la conscience (1889) und Matière et mémoire (1896). 296 | Vgl. Srubar 1981, 25, 30-35.
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D IE MEDIALE R ELIGION Denn wie von manchen Träumen dem Erwachenden zuerst nur der dumpfe Eindruck des Durcherlebten zurückbleibt, und sich erst bei einiger Selbstbesinnung dem Reflektierenden die Situation enthüllt, die das Traumerlebnis veranlasst, vorsichtiger noch: begleitet hat, so bleibt dem Erlebnisse des Sommerabends allerdings nur für die Dauer dieses Erlebnisses alles Beobachtete, Gefühlte, Genossene gleichermaßen und als ein Unteilbares verhaftet. Erst dem zurückgewandten Bewußtsein scheidet sich die Erinnerung an Berg und See, Sonne und Baum, Glockengeläut und Gespräch … in scharf begrenzte Bilder, deren gleichzeitiges Nebeneinander nachträglich festgestellt zwar das Erlebnis »Sommerabend« begreiflich und einprägsam macht, es aber noch immer nicht herbeizuführen, zum Erlebnis zu bringen im Stande ist. 297
Schütz greift nun diese von Bergson eingeführte Unterscheidung zwischen Erlebnis und der Erinnerung des Erlebnisses, die Idee also der zeitgebundenen Konstitution des Bewusstseins, auf: »Denn unsere ›Erlebnisse‹ sind verfälscht, materialisiert, sozial bedingt – kurz: sind Begriffe. Wir denken: d.h. wir leben in unserer Umwelt ein ganz anderes Leben als das unserer reinen Dauer.«298 Er entwickelt ein heuristisches Modell von genauer bezeichneten Bewusstseinsschichten – den sogenannten Lebensformen, in denen die Formen zeitlichen und symbolischen Erlebens ihren Niederschlag finden.299 Diese Lebensformen entsprechen den Einstellungen des Bewusstseins des Ich zur Welt.300 Diese stark von Bergson geprägten Vorüberlegungen zur zeitlich bedingten Konstitution des subjektiven sich selbst und die Umwelt wahrnehmenden Bewusstseins führt Schütz 1932 in seinem einzigen zu Lebzeiten veröffentlichen Buch Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie mit Webers Handlungstheorie und der Phänomenologie Edmund Husserls zusammen.301 Denn das Problem des intersubjektiven Verstehens (und Konstruierens) von Sinn, das für Schütz ohne Zweifel als ein Zeitproblem betrachtet werden muss, ist noch nicht gelöst. Von Husserl übernimmt er den Gedanken, dass Sinngebung stets eine Leistung der Intentionalität sei, als eine spezifische Zuwendung unseres Bewusstseins gegenüber idealen und realen Gegenständlichkeiten unserer Umwelt. Die bloß sensuellen Erlebnisse werden auf diese Weise erst »beseelt«. 297 | Schütz 1981, 79f. 298 | Schütz 1981, 89. 299 | Das sind die Lebensformen der reinen Dauer des Ich, der gedächtnisbegabten Dauer des Ich, des handelnden Ich, des Du-bezogenen Ich, des redenden Ich, des begrifflich denkenden Ich. Schütz entwickelt diese Idealtypen in seinem erst posthum veröffentlichen Manuskript Theorie der Lebensformen von 1925. Vgl. Schütz 1981, 79-108. 300 | Vgl. Srubar 1981, 36-40; auch Wagner 1983, 21-33. 301 | Vgl. Barber 2004, 31-40.
R ELIGION IN DER W ISSENSSOZIOLOGIE Was sich also bei flüchtigem Überblick als sinnhaft präsentiert, hat sich erst durch eine vorangegangene intentionale Leistung unseres Bewußtseins zu einem Sinnhaften konstituiert … Und als sich konstituierende, niemals fertige, sondern immer sich aufbauende Welt weist sie zurück auf die ursprünglichste Tatsache meines Bewußtseinslebens; auf mein Bewußtsein vom Ablauf meines Lebens, auf meine Dauer, meine durée, wie Bergson sagt, oder um einen Ausdruck Husserls zu gebrauchen, auf mein inneres Zeitbewußtsein.« 302
Sinn bedeutet daher laut Schütz »… die Bezeichnung einer bestimmten Blickrichtung auf ein eigenes Erlebnis, welches wir, im Dauerablauf schlicht dahinlebend, als wohlumgrenztes nur in einem reflexiven Akt aus allen anderen Erlebnissen ›herausheben‹ können. Sinn bezeichnet also eine besondere Attitüde des Ich zum Ablauf seiner Dauer.«303 Grundlegend für die Möglichkeit der Beziehung zu Anderen, also für die Konstitution von Gesellschaft, ist für Schütz schon in seinem Frühwerk die Rolle der Sprache, die das individuelle Bewusstsein mit den Erlebnissen und Erfahrungen des Kollektivs verbindet:304 Das Wort regiert nunmehr die Welt, indem es sie schematisiert und auf eine allen anderen Lebensformen unzugängliche Weise neu gestaltet … Da es unmittelbar der Dusphäre angehört, vermag es nur zu bezeichnen, was mir und dir gemeinsam ist … Denn ich lebe fortan nicht mehr in einer Welt meiner Erlebnisse, sondern in der Sprachwelt, die erfüllt ist mit Erlebnissen schlechtweg, mit jedermanns Erlebnissen. 305
Diese fundamentalen Annahmen über die Bedeutung der Sprache für die Möglichkeit von Gesellschaft vertieft Schütz in seinem erst posthum erschienenen Werk Strukturen der Lebenswelt (1973), als er die gesellschaftliche Bedingtheit des subjektiven Wissensvorrats und die Frage der Verständigung in der Lebenswelt diskutiert. Das Ausgangsmaterial dieser Schrift wurde von seinem Schüler Thomas Luckmann für die Publikation intensiv bearbeitet und geordnet.306 302 | Schütz 1993, 46f. 303 | Schütz 1993, 54. 304 | Auch in seiner Lehrtätigkeit spiegelt sich diese sozialtheoretische Trias wider: Schütz hält über die Jahre an der New School of Social Research vor allem Lehrveranstaltungen über Theory of Social Action, Problems of a Sociology of Language, Theory of the Social Group. Vgl. Barber 2004, 231f. 305 | Schütz 1981, 214. 306 | Einen Eindruck von dem Ausmaß der »Überarbeitung« des Manuskriptentwurfes vermittelt die Kenntnis von den Grundlagen des Buches: Der Entwurf bestand aus Karteikarten, Referenzen und Exzerpten, die Schütz zu Lebzeiten angefertigt hatte. Ein ursprünglich geplantes, methodisches Kapitel hat Luckmann ausgelassen und das 4.
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Für Schütz ist es erforderlich, dass die Wissenschaften, sofern sie menschliches Handeln und Denken erklären wollen, mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen, für den Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit der Lebenswelt beginnen müssen. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, in der er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt … Ferner kann sich der Mensch nur innerhalb dieses Bereichs mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken. Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. 307
Sprache versteht Schütz nun als ein gesellschaftlich objektivierendes Zeichensystem, das als ein sozial-historisches Apriori die subjektiven Erfahrungen der Gesellschaftsmitglieder strukturiert: »Kurzum, die Sinnstrukturen der alltäglichen Lebenswelt, sowohl der ›Natur‹ wie der ›Sozialwelt‹ wie auch der – von einer relativ-natürlichen Weltanschauung zur anderen verschiebbaren – Demarkationslinie zwischen diesen zwei Bereichen sind in der Sprache vorgezeichnet und vorausgelegt.«308 Dies soll jedoch nicht heißen, dass in einer gegebenen Gesellschaft nur ein sozialer Wissensvorrat und nur eine Sinnstruktur bestünde – nur in einer Gesellschaft ohne Sozialstruktur, d.h., ohne Arbeitsteilung und Rollendifferenzierung wäre der soziale Wissensvorrat vollkommen homogen. Jede historische Gesellschaft ist dagegen durch eine (wenn auch bisweilen nur geringe) soziale Ausdifferenzierung und eine Heterogenität der Wissensverteilung gekennzeichnet. Die verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln sich dann in der Sprachstruktur und Sprachschichtung wider: »So wird innerhalb einer gewissen Situationsbreite von individuellen Möglichkeiten schon der Zugang sozial vortypisierter Mitglieder der Gesellschaft zum gesellschaftlichen Bestandteil an Kommunikationsmitteln bestimmt.«309 Das Erlernen einer Sprache bedeutet daher, dass der Mensch in eine historische Lebenswelt hineingeboren wird, denn Sprache ist laut Schütz eine apräsentative Struktur, die sich intersubjektiv aufbaut, die geschichtlich abgelagert ist und die gesellschaftlich vermittelt wird. Damit dient die Sprache – wie auch andere Zeichensysteme – der »Überwindung« lebensweltlicher Grenzen der Zeit, des Raumes und der Intersubjektivität.310 Kapitel, Wissen und Gesellschaft, vollkommen neu gestaltet. Vgl. Schütz & Luckmann 1994, S. 18f. 307 | Schütz & Luckmann 1994, 25. 308 | Schütz & Luckmann 1994, 298. 309 | Schütz & Luckmann 1990, 210. Vgl. auch a.a.O., 207-212; Schütz & Luckmann 1994, 297-302. 310 | Vgl. Schütz & Luckmann 1994, 201-209.
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Grenzen der Lebenswelt: die Transzendenzen Hinter allen konkreten Erfahrungen der Lebenswelt steht Schütz zufolge das Wissen um die vielfältige Begrenztheit der eigenen Lage in der Welt. Damit sind zunächst unsere Grenzen der Mobilität in Raum und Zeit gemeint, dann die Begegnung des Ich mit anderen Menschen sowie das Wissen um die Bedrohtheit der normalen Ordnung der Dinge: »Wir leben in einer Welt, von der wir wissen, daß wir in ihr sterben werden.«311 Das aus den Erschütterungen des täglichen Lebens hervorgehende Wissen gibt nach Schütz nun Anlass, diese »Grenzerfahrungen« theoretisch zu fassen und »Transzendenz« begrifflich einzufangen. Dies sei eine Wurzel der »religiösen Weltansichten« und der Philosophie.312 In der Folge wird in Schütz’ Werk zwischen den »kleinen«, »mittleren« und »großen« Transzendenzen unterschieden – diese Stufung der Transzendenzerfahrungen jedoch geht auf Luckmann zurück.313 Die erste Gruppe umfasst solche Erfahrungen, in denen der Mensch an die räumlichen und zeitlichen Grenzen seiner Erfahrung stößt und diese im Normalfall auch überschreiten kann: wie z.B. sich erinnern, wo man den Schlüssel versteckt hat. Erst wenn sich jene kleinen, technischen Schwierigkeiten wie Erinnerungslücken u.a. einstellen, würden wir Schütz zufolge merken, welch beachtliche Leistungen die Bewältigung der »kleinen« Transzendenzen schon bedeutet.314 Die »mittleren« Transzendenzen umfassen laut Schütz die Erfahrung des sozialen »Anderen«. Während die »kleinen« Transzendenzen des täglichen Lebens dadurch gekennzeichnet seien, dass Menschen die Grenzen der Erfahrung und des Handelns unter normalen Umständen überschreiten können, kann er diese Grenze nicht übertreten. Allerdings könne er im Unterschied zu den »großen« Transzendenzen über diese Grenze hinüberblicken und die »dahinter liegende Landschaft« in deutlichen Umrissen erkennen. Wenn ich einen Anderen in meiner Reichweite sehe, muß ich feststellen, daß umgekehrt auch ich in seiner Reichweite bin: er sieht mich. Aber es ist klar, daß ich nur sehen kann, daß er mich sieht, nicht wie er mich sieht. Ich kann allerdings auch versuchen, ausfindig zu machen, wie er mich sieht, indem ich es an verschiedenen Hinweisen ablese … unmittelbar erfahren kann ich das natürlich nie, sonst wäre ich ja der Andere. 315
311 | Schütz & Luckmann 1990, 140. 312 | Vgl. Schütz & Luckmann 1990, 140. 313 | Gemäß Luckmann im Gespräch mit dem Autor. 314 | Vgl. Schütz & Luckmann 1990, 146-151. 315 | Vgl. Schütz & Luckmann 1990, 152f.
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Der Andere wird in seiner Körperlichkeit wahrgenommen und wird als meinesgleichen empfunden: Der äußeren Wahrnehmung des Anderen wird auch ein Innenleben zugesprochen, gemäß der Erfahrung des Selbst-Erlebens.316 Die »großen« Transzendenzen bezeichnen Schütz zufolge nun diejenigen Erfahrungen, die sich auf andere Wirklichkeiten als die des täglichen Lebens beziehen. Dies betrifft zunächst das Bewusstsein im Schlaf, im Traum, im Tagtraum und in der Ekstase – die Überschreitungen des Alltäglichen werden im Falle der Ekstase nun bewusst begangen und sind oftmals mit bestimmten Wirklichkeitstheorien gekoppelt. Die außergewöhnliche Erfahrung werde dann in Religionen oder in rationalistischen Weltanschauungen wie der Psychologie vergesellschaftet. In den Religionen können diese außeralltäglichen Erfahrungen auch zu einer Umstrukturierung der Relevanzsysteme führen.317 Eine besondere Rolle spielen für die Generierung von »großen« Transzendenzen Lebenskrisen und der Tod: »Daß der Tod eine Grenze ist, wird gewiss niemand bezweifeln, und kaum jemand wird bestreiten, daß er eine letzte Grenze ist.«318 Das eigene Altern und der Tod der Anderen seien die Quellen der Erfahrung mit dem Tod. Allerdings ist das Wissen, was hinter der Grenze des Todes liegt, spekulativ und nährt sich aus anderen Erfahrungen der »großen« Transzendenzen wie dem Schlaf.319 Die Geltungsansprüche der Alltagswirklichkeit können durch das Wissen um den eigenen Tod außer Kraft gesetzt werden. Obwohl der Mensch in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten »mitten im Tode stehe«, so unterscheiden sich nach Schütz die Erscheinungs- und Verlaufsformen dieser krisenhaften Konfrontation je nach Gesellschaft. Das Wissen um die schweren Krisen im Alltag kann die Wahrnehmung der Alltagswelt nachhaltig verändern: Schütz spricht hier von der Wandlung einer natürlichen Einstellung gegenüber der Welt in eine theoretische Einstellung. Das Wissen bspw. um den Tod wird so in objektive Deutungszusammenhänge wie Religion und Wissenschaft übersetzt, während die natürliche Alltagswelt aus dieser Perspektive grundsätzlich hinterfragt werden könne. Dieses theoretische Sonderwissen könne sich über die Spannweite der Personalisierung der Transzendenzen in den Religionen bis hin zur Anonymisierung der Alltagswirklichkeit in den modernen Wissenschaften erstrecken.320 316 | Vgl. Schütz & Luckmann 1990, 151-157. 317 | Vgl. Schütz & Luckmann 1990, 168-171; Schütz & Luckmann 1994, 59-61. 318 | Schütz & Luckmann 1990, 172. 319 | Hier rezipiert Schütz offenbar Max Webers resp. Edward B. Tylors Theorie von der Entstehung der Religionen aus dem Träumen. Vgl. Weber 1980, 246. 320 | Vgl. Schütz & Luckmann 1990, 171-177. Schütz kündigt zwar eine vertiefte Erörterung für das Gebiet der Religions-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte an, jedoch bleiben die Strukturen der Lebenswelt in diesem Punkte fragmentarisch. Schütz konnte diese Ankündigung nicht mehr einlösen. Vgl. Schütz & Luckmann 1990, 177.
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Die medial vermittelte Erfahrung des Anderen ist für Schütz stets sekundär. Gesellschaft beruht auf der Du- und Wir-Beziehung, die letztlich immer die unmittelbare Erfahrung des Anderen voraussetzt bzw. als Maßstab nimmt. Phänomenen wie den »intellektuellen brieflichen Freundschaften der Renaissance und den Schwärmereien für Filmstars« gesteht Schütz lediglich zu, dass hier eine gesonderte Untersuchung erforderlich wäre.321
2.2.2 Peter Berger und Thomas Luckmann Nachdem Thomas Luckmann in den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit bereits in Innsbruck und Wien Altkirchenslawisch, Ägyptologie, französische Philologie, Psychologie, Vergleichende Sprachwissenschaft, Philosophie und Geschichte studiert hat, verlagert sich ab 1951 sein Studienschwerpunkt an der New School of Social Research in New York zur Soziologie. Seiner Ansicht nach waren die interessanten Probleme der Philosophie in die Gesellschaftswissenschaften übergegangen. Im dortigen Seminar von Karl Löwith begegnet er Peter L. Berger, dessen Familie kurz nach Kriegsende aus Wien in die Vereinigten Staaten emigrierte und der bereits 1952 sein philosophisches und soziologisches Studium mit einem Doktortitel abschloss.322 Gefördert von ihren Mentoren, dem Religionssoziologen Carl Mayer und dem Politikwissenschaftler Arnold Bergstraesser (beide sind Schüler von Alfred Weber und vertraut mit dem religionssoziologischen Werk Max Webers), entdecken Berger und Luckmann das Feld der empirischen Religionsforschung. Es ist vermutlich dem Einfluss dieser beiden Lehrer zuzuschreiben, dass ihr religionssoziologischer Forschungsansatz auch um die Einbindung einer historischen und starken theoretischen Perspektive bemüht ist. Fasziniert sind sie jedoch vor allem von Alfred Schütz, dessen phänomenologische Reflexion der Handlungstheorie Max Webers sie aufnehmen und weiterentwickeln wollen. Thomas Luckmann überarbeitet und
321 | Vgl. Schütz & Luckmann 1994, 102. 322 | Thomas Luckmann absolvierte 1953 einen Magisterabschluss in Philosophie und 1956 den soziologischen Doktortitel mit einer Studie über protestantische Gemeinden im Nachkriegsdeutschland. Nach verschiedenen Lehrpositionen wird er 1960 assistant professor und 1962 associate professor an der New School of Social Research; 1965 erhält er einen Ruf an die Universität Frankfurt, 1970 an die Universität Konstanz, wo er bis zu seiner Emeritierung lehren wird. Peter L. Berger arbeitete von 1956-58 als assistant professor an der University of North Carolina, danach bis 1963 als associate professor am Hartford Seminary, ab 1963 abgesehen von einer kurzen Unterbrechung wieder an der Graduate Faculty der New School of Social Research in New York, ab 1970 als Professor an der Rutgers University (New Jersey) und schließlich ab 1981 als Professor für Soziologie und Theologie an der Boston University.
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ediert bis 1973 die von Schütz hinterlassenen Manuskripte der Strukturen der Lebenswelt.323 Parallel zu ihren ersten religionssoziologischen Monografien324 arbeiten Berger und Luckmann gemeinsam an ihrem sicherlich bis heute wichtigsten soziologischen Werk, der Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, das 1966 erscheint. Die deutsche Ausgabe folgt 1969 unter dem Titel Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Wenn sich die religionssoziologischen Ansätze der beiden Autoren auch merklich unterscheiden und sie in dieser Hinsicht ihre eigenen Wege gehen, so hängen beide jedoch stark von der anthropologischen Fundierung der Soziologie ab, die in der Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit entfaltet wird. Bereits in ihrer ersten gemeinsamen Publikation von 1963 plädieren Berger und Luckmann für die enge Verknüpfung von Religions- und Wissenssoziologie und zeichnen damit die gesamte sozialwissenschaftliche Problematik von Religion und Gesellschaft ihres späteren Werkes vor. Sie kritisieren die Marginalisierung von Religion in der gegenwärtigen Sozialtheorie, die der Dringlichkeit des Problems der sogenannten Säkularisierung entgegenstehe. Denn genau in dieser Debatte stellt sich die Frage nach dem Wandel der sozialen Legitimationsprozesse von gesellschaftlicher Ordnung: »What are the characteristics of the legitimating processes actually operative in contemporary society?«325 Der Sozialisationsprozess des Individuums durch Sprache und Riten, deren ständige Wiederholung der Vermittlung eines kohärenten Universums der Anschauungen und Werte dient, steht für Berger und Luckmann im Zentrum der allgemeinen Religionssoziologie.326 Die Religionssoziologie müsse daher als ein integraler Bestandteil der Wissenssoziologie verstanden werden.327 In diesem Aufsatz gelangen die beiden Autoren auch zu einer sehr eingängigen und später viel zitierten Definition der wissenssoziologischen Aufgabe: »The task of the sociology of knowledge is the analysis of the social forms of knowledge, of the processes by which individuals acquire this knowledge and, finally, of the institutional organization and social distribution of knowledge.«328
323 | Vgl. Luckmann 2001, 18-23. 324 | 1963 erscheint Luckmanns Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, 1967 die englische Übersetzung als Invisible Religion und 1967 wird auch Peter L. Bergers Sacred Canopy (dt., Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 1973) gedruckt. 325 | Vgl. Berger & Luckmann 1963, 423. 326 | Vgl. Berger & Luckmann 1963, 421f. 327 | Vgl. Berger & Luckmann 1963, 424. 328 | Berger & Luckmann 1963, 423.
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Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit An dieses Verständnis knüpfen Berger und Luckmann nun drei Jahre später nahtlos an, wenn sie programmatisch formulieren: »Die Wissenssoziologie hat die Aufgabe, die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu analysieren.«329 Damit wollen sie sich zunächst gegen die bisherigen wissenssoziologischen Ansätze von Marx, Mannheim, Scheler und Geiger abgrenzen, denen es letztlich um die epistemologische Frage der »wahren« Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse gegangen sei. Berger und Luckmann schließen diese methodologischen Fragen kategorisch aus und verstehen ihre Theorie ausdrücklich als Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Methodik (und eben nicht zur Methodologie).330 Sie führen mit Verweis auf Alfred Schütz an: »Die Wissenssoziologie muß sich mit allem beschäftigen, was in der Gesellschaft als ›Wissen‹ gilt.«331 Im Fokus ihrer Betrachtungen stehen nicht so sehr die Ideen und theoretischen Interpretationen der Welt, sondern das Alltags- und Allerweltswissen, das die Bedeutungs- und Sinnstrukturen der menschlichen Gesellschaft abbildet.332 Berger und Luckmann betonen in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass »der Mensch als Mensch« im Zentrum aller wissenssoziologischen Überlegungen stehen müsse. Um die ontologische und historische Dimension des Menschen erfassen zu können, müsse die humanistische Soziologie daher einen permanenten Austausch mit der Philosophie und der Geschichtswissenschaft fördern.333 Als Soziologen, die die Ergebnisse der zeitgenössischen Philosophie mit einbeziehen, wollen Berger und Luckmann die Frage beantworten, was den Menschen zum Menschen macht. Sie konstatieren, dass die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt durch »Weltoffenheit« gekennzeichnet sei, durch eine besondere Notwendigkeit seit den frühesten Tagen der Menschheit, sich mit der sozialen und natürlichen Umgebung auseinanderzusetzen, um zu überleben. Erst durch diese Entfaltung von Möglichkeiten in der sozialen Welt wird der Mensch zum Menschen: »Die Selbstproduktion des Menschen ist notwendig immer eine gesellschaftliche Tat.«334 Durch Habitualisierung, Institutionalisierung und die Sedimentierung von Wissensbeständen und Rollenwissen entstehe schließlich aus den menschli-
329 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 3. 330 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 6-17. 331 | Berger & Luckmann 1994, 16. 332 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 15-18, 20-48. Hier wird vor allem der sozialpsychologische Ansatz von George Herbert Mead rezipiert. 333 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 201. 334 | Berger & Luckmann 1994, 54. Vgl. a.a.O., 53ff.
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chen Handlungsabläufen eine gesellschaftliche Ordnung.335 Eine einheitliche und verbindliche, sinnhafte Legitimierung des sozialen Lebens und des eigenen Lebenslaufs wird dem Einzelnen durch die Vis-à-Vis Interaktion mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft und daher vor allem durch die gemeinsame Sprache vermittelt. Im Gespräch werden die rein subjektiven Erfahrungen des Einzelnen durch die gemeinsame Sprache objektiviert und konstituieren auf diese Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit. Durch diese Prozesse der Sedimentierung gesellschaftlicher Wissensbestände wird der bestehenden institutionellen Ordnung die Würde des Normativen verliehen. Berger und Luckmann führen an dieser Stelle Beispiele aus archaischen und traditionalen Gesellschaften an (Inzesttabu, Heiratsverbote).336 Einzelpersonen oder Gruppen mit spezifischen Interessen können die Gültigkeit bestimmter Sinnwelten durchsetzen – soziale Interaktion wird also stets als kommunikativer Austausch lebendiger Menschen konzipiert, die als Träger spezifischer sozialer Wissensbestände fungieren.337 Die Rolle der Vermittler von Wissen oder gar ein Medienapparat mit ökonomischen Produktionsbedingungen von Information wird in diesen Überlegungen nicht berücksichtigt. Für die vormodernen Sozialformen nehmen die beiden Autoren an, dass es aufgrund mangelnder gesellschaftlicher Ausdifferenzierung einen Grundzustand mit einer für die ganze Gesellschaft verbindlichen, einheitlichen symbolischen Sinnwelt gegeben habe, jede mögliche alternative Weltsicht wurde als Bedrohung wahrgenommen, da die eigene Sinnwelt relativiert und sich nicht als einzige und zwingende Weltsicht erweisen würde.338 Eine zentrale Aufgabe der symbolischen Sinnwelten ist die Bewältigung des Todesproblems, da die Erfahrung des Todes anderer Menschen und die daraus folgende Antizipation des eigenen Todes immer eine Grenzsituation darstelle: »Die Integration des Todes in die oberste Wirklichkeit des gesellschaftlichen Daseins ist deshalb für jede institutionale Ordnung von größter Wichtigkeit.« Dies geschieht durch religiöse, mythologische oder metaphysische Interpretationen.339 Diese anthropologische Fundierung der Sozialtheorie ist natürlich maßgeblich von den wissenssoziologischen Vorläufern und vor allem von der zeitgenössischen philosophischen Anthropologie Max Schelers, Helmuth Plessners und 335 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 49-84. An dieser Stelle wird der Einfluss von Arnold Gehlens Institutionenlehre deutlich, der in Urmensch und Spätkultur (1955) eine philosophische Handlungstheorie formuliert. Zentral ist für Gehlen die Rolle der Institutionen, denn »jede Dauer und Kontinuität des Höheren im Menschen hängt zuletzt von ihnen ab.« Gehlen 1977, 8. 336 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 98-103, 160-166. 337 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 124-138. 338 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 112-124. 339 | Berger & Luckmann 1994, 108. Vgl. a.a.O., 108f.
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Arnold Gehlens beeinflusst worden.340 Das vorschnelle Urteil von Heine von Alemann, dass Scheler in der Soziologie nach 1945 praktisch keine Rolle mehr spielte, muss daher sicherlich relativiert werden.341 In ihrem wissenssoziologischen Aufsatz von 1963 berufen sich Berger und Luckmann ausdrücklich auf Karl Mannheim, Max Scheler, Werner Stark und Arnold Gehlen als wichtige Ideengeber für ihren Ansatz342 und auch in der Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit wird die Frage der »Seinsgebundenheit« des Denkens überhaupt als zentrales Problem der Wissenssoziologie identifiziert.343 Abgesehen von der metaphysischen Lösung, die Scheler eine Generation zuvor ausgearbeitet hat, lassen sich viele Parallelen zu Berger und Luckmann ausmachen: In beiden Ansätzen wird das Problem des Menschen als natürlichem, biologischem Wesen und als Teil der Kultur und Gesellschaft behandelt; die Frage nach der besonderen Stellung des Menschen in der Welt, der erst durch die soziale Erfahrung des Austausches mit anderen Menschen zum Sozialwesen Mensch werden kann, wird diskutiert; das Problem des Todes spielt in diesen Überlegungen eine bedeutende Rolle; schließlich ist auch die Entscheidung, den Menschen und sein Handeln (und nicht etwa Ideen oder soziale Systeme) als Ausgangspunkt zu wählen, in beiden Fällen lebensphilosophisch beeinflusst. Dass die Rolle Schelers hier seit der Veröffentlichung der Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit weitestgehend heruntergespielt wird, ist vermutlich auch Helmuth Plessner zu verdanken, der 1969 das Vorwort zur deutschen Ausgabe verfasste. Luckmann betonte noch 1960, dass er Weber, Durkheim und eben Scheler für wertvolle Ideengeber einer erneuerten Religionssoziologie hält.344 Der in dieser Zeit bereits hochangesehene Soziologe – Plessner war in den Nachkriegsjahren Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und (!) der Deutschen Gesellschaft für Philosophie – nutzt die Gelegenheit, um sich und die beiden jungen Soziologen deutlich von Scheler abzugrenzen. Er urteilt über Berger und Luckmann (die schließlich spürbar seine eigene philosophische Anthropologie rezipieren), dass die Autoren gegen die »Prävalenz philosophischer Interessen in der bisherigen Wissenssoziologie«, nämlich Schelers und Mannheims, eine »von philosophischen Interessen unbelastete Theorie des Wissens« einsetzen.345 Diese Marginalisierung Schelers und der spürbare Einfluss Plessners auf Berger und Luckmann verdient eine genauere 340 | Berger und Luckmann möchten zwar weitgehend darauf verzichten, explizite Verweise auf ihre Ideengeber zu unterbreiten, jedoch: »Daß auch wir nicht ex nihilo argumentieren, wird auf jeder Seite offenbar.« Vgl. Berger & Luckmann 1994, XVIII. 341 | Vgl. Alemann 1994, 14ff. 342 | Vgl. Berger & Luckmann 1963, 426, FN 5, FN 6, 426, FN 7, 427, FN 13. 343 | Luckmann hat Gehlen und Stark persönlich kennengelernt. 344 | Vgl. Luckmann 1960, 326. 345 | Vgl. Plessner 1994, XII.
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Betrachtung, insbesondere auch um die damit verbundenen Implikationen für das Religionsverständnis im Werk der beiden Soziologen zu erhellen. 1962/63 lehrt Helmuth Plessner (1892-1985), der in Göttingen bereits als Professor für Soziologie emeritiert wurde, als Theodor-Heuss-Professor an der New School of Social Research in New York. Er zeigt sich begeistert von der neuen Zusammenarbeit mit der empirischen Soziologie und seine Frau Monika übersetzt The Social Construction of Reality ins Deutsche wie auch Peter L. Bergers späteres The Sacred Canopy.346 Das Gefühl lässt sich nicht leugnen, dass sich die (wissenssoziologischen) Kreise schließen, wenn man auch nur einen flüchtigen Blick auf Plessners eigenen akademischen und philosophischen Werdegang wirft. Plessner studiert von 1910 bis 1913 Zoologie in Heidelberg; nachhaltig geprägt hat ihn in dieser Zeit der Biologe und Naturphilosoph Hans Driesch, der um eine grundlegende Verständigung zwischen seinen beiden Arbeitsfeldern bemüht ist. 1907/08 wird Driesch sogar auf die Gifford Lectures in Aberdeen berufen und liest über die Philosophie des Organischen, in denen er als Vertreter des Neovitalismus die Eigenständigkeit des Lebendigen gegenüber der reinen Materie begründet und mit diesem Ansatz auch stark in der zeitgenössischen Lebensphilosophie rezipiert wurde. Hans Driesch war es auch, der Plessner den Zugang zum sonntäglichen Weber-Kreis eröffnete, wo er auf Ernst Bloch, György Lukács und Ernst Troeltsch treffen konnte.347 Nach dem Wechsel in die Philosophie folgt Plessner seinem Lehrer nach Köln, der dort 1920 zum Ordinarius für Philosophie berufen wurde. Nach seiner Habilitation im selben Jahr wird Plessner zum Privatdozenten für Philosophie und erhält 1926 eine außerordentliche Professur, die er allerdings 1933 aufgeben muss. Zu seinen Kollegen in Köln zählt natürlich auch Max Scheler, der seit 1919 als Kodirektor des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften wirkt.348 1928 veröffentlicht Plessner sein philosophisches Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch als Einleitung in die philosophische Anthropologie. Unter den »Stufen« versteht Plessner die drei Entwicklungsformen des Lebens, die die Evolution bisher hervorgebracht hat, nämlich die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Ihre phänomenologische Wesensbestimmung erfolgt über die 346 | Vgl. Ströker 1986, 48; Dejung 2003, 436, 495. Im Gespräch betont Luckmann, dass die Ideen Plessners erst nachträglich in das Manuskript der Social Construction of Reality von den beiden Autoren eingebaut wurden. Zu dem Zeitpunkt als Berger und Luckmann 1963 Plessner in New York kennenlernten, war die erste Fassung bereits abgeschlossen und das Werk Plessners war ihnen bis dato unbekannt. Gehlens Bedeutung für die Kerngedanken des Werkes schätzt Luckmann eindeutig höher ein als die (späte) Rolle Plessners und verweist ferner noch auf Maurice Halbwachs. 347 | Vgl. Plessner 1985, 304f.; Pietrowicz 1992, 92-95; Ströker 1986, 26f. 348 | Vgl. Pietrowicz 1992, 159f.
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Klärung ihrer Positionalität im Verhältnis zu ihrer räumlich-erfahrbaren Umwelt. So beschreibt Plessner die Pflanzen als offen organisierte Wesen, da sie keine zentralen Organe hätten. Die Daseinsform der Tiere wiederum sei zentrisch angelegt, denn sie würden aus einem Mittelpunkt heraus leben und ihr Verhältnis zur Umwelt sei durch Frontalität geprägt. Der Mensch schließlich ist Plessner zufolge durch seine »exzentrische Positionalität« gekennzeichnet – das bedeutet, dass er stets ein reflexives Verhältnis zu sich selbst ausbilden kann: Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld … Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben. 349
Mit Bezug auf die Philosophie Diltheys und Bergsons bestimmt Plessner an anderer Stelle »das Leben« als Zentrum aller philosophischen Spekulation über die Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins. So wie er insgesamt die phylogenetische Entwicklung des Menschen im Verhältnis zu den anderen Lebensformen betrachtet, richtet er den Blick ebenso auf die ontogenetische Entwicklung des Menschen. Die sinnbasierte Erfahrung der Um- und Mitwelt eröffne dem Einzelnen erst die nachgeburtliche Formung des überlebensfähigen Individuums, was den Menschen vom Tier unterscheide. Der Mensch – geprägt durch die aufrechte Haltung, die Dominanz des Auge-Hand-Feldes und die menschliche Sprache – sei aufgrund seiner biologischen Konstitution schon notwendigerweise ein Sozialwesen.350 Auch wenn Plessner zugestanden werden muss, dass er eigene Antworten gefunden hat, so sind es dieselben Probleme um die Einheit von Körper und Geist und des Verhältnisses des Menschen zur sinnhaft erfahrbaren Welt, die auch Scheler bewegt haben. Zudem verweist Plessner mehrfach auf Scheler, dessen Werk Die Stellung des Menschen im Kosmos 1927 erschien.351 Und tatsächlich gab es in der Kölner Zeit erhebliche Spannungen zwischen Scheler und Plessner, Letzterer musste stets um die Anerkennung der Eigenständigkeit und Originalität seines Ansatzes im Schatten des bereits etablierten Scheler kämp-
349 | Plessner 1965, 292. 350 | Vgl. Plessner 1976, 17-61. 351 | Vgl. Plessner 1965, 37, 74, 345; Ströker 1986, 31-36. Scheler diskutiert darin ebenfalls die Frage nach dem Wesen des Menschen im Verhältnis zu Pflanze und Tier und entwirft ein Stufenmodell der psychischen Kräfte des Lebens, das letztlich die Sonderstellung des Menschen begründet. Vgl. Scheler 1976a, 7-15.
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fen. Auf Drängen Schelers änderte Plessner sogar den Untertitel seines Werkes von der »Grundlegung« zur »Einführung« in die philosophische Anthropologie.352 Vor diesem Hintergrund ist es natürlich mehr als verständlich, wenn Plessner in den späten 1960ern im Vorwort zur Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit die Rolle Schelers für Berger und Luckmann marginalisiert und damit seine eigene Grundlegung der philosophischen Anthropologie als maßgeblich positioniert. Bei genauerer Betrachtung finden sich wahrscheinlich ebenso viele Anklänge an das Werk Schelers wie an die Arbeiten Plessners. Gemeinsam – und dies ist unabhängig von den Streitigkeiten über die gegenseitige Abhängigkeit beider Werke das Entscheidende – ist beiden die lebensphilosophische Fundierung der Anthropologie, die bei Berger und Luckmann mit Webers Handlungstheorie und Durkheims Strukturtheorie verbunden wird.353
Das Religionsverständnis von Thomas Luckmann Das Interesse an religionssoziologischen Fragestellungen ging für Thomas Luckmann, der 1953 mit einer philosophischen Arbeit über Camus den Magistergrad erreichte, eigentlich erst aus einer Forschungsstelle in einem Projekt von Carl Mayer über protestantische Kirchengemeinden in Nachkriegsdeutschland hervor. Auf der Grundlage dieser Forschungsdaten entstand auch Luckmanns Doktorarbeit A comparative study of four Protestant parishes in Germany (1956).354 In einer viel beachteten Sammelrezension zur neueren Religionssoziologie355 formuliert Luckmann dann erstmals seine scharfe Kritik an der
352 | Noch in den 1980er Jahren musste Plessner sich gegen den von Helmut Schelsky geäußerten Vorwurf wehren, bloß die von Scheler vorgezeichneten Linien weiter ausgeführt zu haben, die später dann von Arnold Gehlen vollendet wurden. Heine von Alemann schildert detailliert das spannungsvolle Verhältnis zwischen Plessner und Scheler. Vgl. Alemann 1994, 22-31. 353 | Plessners Interessen konvergierten bei der Begegnung mit Berger und Luckmann jedoch nicht nur mit den soziologischen Perspektiven, sondern auch im Hinblick auf die Religionsfrage. Insbesondere Berger bezieht sich wie Plessner selbst auf einen Religionsbegriff der Religionsphänomenologie. Niemand anderes als Gerardus van der Leeuw war ein geschätzter Kollege von Plessner während dessen Exil an der Universität Groningen (1934-1940), auf den er sich in seinen Werken explizit bezog und an dessen Festschrift er mitwirkte. Vgl. Plessner 1950; Dejung 2003, 540. 354 | Vgl. Luckmann 1958; Schnettler 2006, 26-30. 355 | Im Detail besprach Luckmann hier: F. Boulard et al. Paroisses urbaines. Tournai 1958; E. Collard et al.: Vocation de la Sociologie religieuse. Tournai 1958; R. Köster: Die Kirchentreuen. Stuttgart 1959; Dietrich Goldschmidt et al. (Hg.): Soziologie der Kirchengemeinde. Stuttgart 1960; Hans-Otto Woelber: Religion ohne Entscheidung. Göttingen 1959; Michael Argyle: Religious Behaviour. Glencoe 1959. Vgl. Luckmann
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Forschung seiner Zeit und gibt damit bereits die Stoßrichtung seiner künftigen allgemein soziologischen und spezifisch religionssoziologischen Arbeiten vor: Allerdings ist im Vergleich mit der Problemstellung der klassischen religionssoziologischen Periode Emile Durkheims und Max Webers eine geradezu radikale Verengung des Ansatzes zu bemerken. Die Mehrzahl der neueren Arbeiten ist kirchensoziologisch, sogar kirchengemeindesoziologisch im engeren Sinne des Wortes. Die Gründe für die an sich erfreuliche Renaissance der Religionssoziologie findet man nicht in einem sozialtheoretisch relevanten Problemansatz, sondern gerade in dessen Abwesenheit … Die Folgen sind theoretische Desorientierung, eine eng positivistische Methodik und soziologisch unzureichende Auswertung des eifrig gesammelten soziographischen Materials … Dabei entwickelt sich zusehends eine implizite Axiomatik, die Religiösität mit Kirchlichkeit und Kirchlichkeit mit kirchlicher »Praxis« gleichsetzt. 356
Neben der methodischen Naivität, mit der hier vorgegangen werde, kritisiert Luckmann auch die zunehmende Konfessionalisierung der religionssoziologischen Forschung, die sich gar zu oft als Hilfswissenschaft der praktischen Theologie verstehe und damit Aspekte von Religiösität immer stärker in Bezug auf katholische oder protestantische Kirchlichkeit hin operationalisiere.357 Auf Anraten seines Lehrers Arnold Bergstraesser arbeitet Luckmann diese Sammelrezension zu der kleinen Monografie Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung aus, die 1963 im Rombach Verlag erschien.358 Als Hauptproblem der Gegenwart identifiziert Luckmann die Frage der Eigenständigkeit der »Daseinsführung«: »Wie wirkt die ›Massengesellschaft‹ auf die Formung und Entfaltung des Einzeldaseins?«359 Luckmann vermutet, dass die Strukturen der Einbettung des Einzelnen in das Gemeinwesen sich in der modernen Gesellschaft verschieben würden, was die Frage nach dem Verhältnis vom Einzeldasein, der Gesellschaftsstruktur und der Geschichte provoziere. Mit Bezug auf Durkheim und Weber will Luckmann die Religion wieder ins Zentrum der Sozialtheorie rücken, denn seiner Ansicht nach wählten beide großen Klassiker die Religion als Schlüssel zum Verständnis der radikalen Umbrüche, die die Moderne und die mit ihr einhergehende Säkularisierung bedeute.360 1960, 315. Diese Kritik wiederholen Berger und Luckmann in ihrer ersten gemeinsamen Publikation. Vgl. Berger & Luckmann 1963, 418ff. 356 | Luckmann 1960, 316. 357 | Vgl. Luckmann 1960, 316f. 358 | Der ursprüngliche, englische Manuskripttitel des Buches lautete Notes on the Case of the missing Religion. Vgl. Luckmann 1963, 7. 359 | Vgl. Luckmann 1963, 10. 360 | Vgl. Luckmann 1963, 9-13.
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Luckmann wiederholt hier die Kritik an dem verengten Religionsverständnis der neueren Religionssoziologie,361 die Religiösität mit Kirchlichkeit gleichsetzt und die an der »Schrumpfung der Kirchen« abzulesende Säkularisierung als Vorgang einer sozialreligiösen Pathologie wahrnehmen: »Die Kirchen bleiben dann sozusagen als Inseln des Religiösen im Meer des Unglaubens.«362 Auch kritisiert Luckmann, dass es der neueren Religionssoziologie an einer vertieften geschichtlichen Perspektive mangelt.363 Luckmann lässt es mit dieser umfassenden Kritik allerdings nicht bewenden, sondern entwirft nun seinerseits eine anthropologisch fundierte Theorie der menschlichen Sozialisation, in dessen Zentrum ein neues und sehr weit gefasstes Verständnis der Religion steht. Mit Rückgriff auf Jean-Paul Sartres Idee von der Transzendenz des Ego364 und mit spürbaren Anklängen an die philosophische Anthropologie beschreibt Luckmann den individuellen Prozess der Menschwerdung: Der einzelne wird zur Person, indem er seine biologische Natur transzendiert. Seine geistige Individualität ist in seiner organischen Individualität nur angelegt. Ihre Entfaltung setzt die Gesellschaft voraus; die Ausprägung des Bewußtseins ist ein sozialer Vorgang. Personwerdung fundiert auf Ausprägung des Bewußtseins. 365
Dieser Prozess ist allerdings nicht als eine einfache Übernahme oder Einpassung in die vorhandene und vorgefundene Kultur und Geschichtlichkeit der Gesellschaft zu verstehen, sondern die Entwicklung des Einzelnen beruht, interaktionistisch gedacht, auf »dem Erfahrungsakt, der den anderen und die Gesellschaft als unmittelbare Wirklichkeiten transzendiert.«366 Gesellschaftliche Wirklichkeit stellt aus dieser Perspektive eine transzendente Ordnung dar, die die Situation des Individuums sozial und privat in eine 361 | Subjektive Aspekte der Religiösität hätte diese neuere Religionsforschung gänzlich an die Meinungsforschung delegiert, die Religionssoziologie anhand von Zustimmungsskalen zur Trinitätslehre u. ä. betreibe. Vgl. Luckmann 1963, 18f. 362 | Luckmann 1963, 15. 363 | Vgl. Luckmann 1963, 15; auch Luckmann 2010, 75. Die Nachkriegssoziologie in Westdeutschland wollte die bisherige Dominanz historischer und universaler Orientierung in der Soziologie überwinden, was in René Königs Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie (1937) wohl ihren deutlichsten Ausdruck fand. Vgl. dazu Krüger 2003b, 98-101; König 1975. 364 | Sartre, wiederum mit Bezug auf Husserl, entwickelte die Idee, dass dem Einzelnen die von ihm betrachteten Objekte außerhalb der Gegenwart und außerhalb des eigenen denkenden Bewusstseins transzendent seien. Vgl. Sartre 1994, 43ff. 365 | Luckmann 1963, 45. 366 | Luckmann 1963, 46.
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gesellschaftlich-historische Transzendenz einbettet. Sie transzendiert den Einzelnen im Rahmen des überhaupt Denkbaren, als objektivierte Kulturgegebenheit, als Handlungsschranke und Zwang. Mehr als diese subjektiv-situationsmäßige Transzendenz ist die Erfahrung der Verweis dieser Ordnung auf eine »geistige Ordnung, die verstehbar ist als universale Sinnhaftigkeit des menschlich-gesellschaftlichen Daseins. So mag sich, umgekehrt, die gesellschaftliche Ordnung als Verwirklichung der universalen Ordnung geben, als Kosmion, das dem Kosmos nachgebildet ist.«367 Auf diese Weise konzipiert Luckmann ein anthropologisch fundiertes Religionsverständnis, das viel weiter angelegt ist als die jeweiligen geschichtlichen Ausprägungen der Religionen: »Diese Grundform ist durch die religiöse Urfunktion bestimmt: Als Bindung und Transzendenz ist sie das Schlechthin Sinngebende des menschlich-gesellschaftlichen Daseins.«368 Religion ist aus Sicht Luckmanns damit »… dem Einzelnen als soziale Wirklichkeit übergeordnet und ist in ihm, insofern er Person ist, insofern er sich als Organismus transzendiert und als Mensch verwirklicht.«369 1967 erscheint Luckmanns erste englische Monografie The Invisible Religion. The Problem of Religion in Modern Society bei MacMillan in New York als Übersetzung seines vorhergehenden deutschsprachigen Werkes. Der Haupttitel wird im Buch selbst nicht erläutert und hat inzwischen allerlei Blüten getrieben, die wohl an jedem beliebigen größeren Religionssoziologiekongress unserer Tage mit Staunen registriert werden können. Und zugegeben, der Titel lädt dazu ein, alles bisher nicht Wahrgenommene in der Religionsforschung nun als »unsichtbare Religion« zu identifizieren, von Fußball über Pampers bis zum I-Phone-Kult. Luckmann schreibt selbst zu der ungewöhnlichen Titelfindung des Buches, das eigentlich nur als Übersetzung seiner ersten Monografie geplant war: Ich schrieb also sozusagen von vorn, im wesentlichen aber das gleiche Buch. Irgendeinmal hat der editor, bei Macmillan …, der mich »betreute«, gemeint, der Titel sei doch recht schwerfällig. Das leuchtete mir ein, nur fiel mir nichts ein. Da schlug er (Mr. Alex367 | Luckmann 1963, 35. Bemerkenswert ist, dass auch Alfred Weber eine philosophisch-anthropologische Transzendenzkonzeption entwickelt hatte. Beide Mentoren Luckmanns, sowohl Bergstraesser als auch Mayer, waren Webers Schüler. Weber skizzierte in seinen späteren Werken die Idee von (lebensphilosophisch angelegten) transzendenten Mächten, die sich dem Einzelnen in seiner geschichtlichen Daseinserfahrung erschließen würden. Direkt hat Luckmann jedoch keine Kenntnis von diesem Modell. Vgl. Weber 1951a, 488-494; Weber 1959, 500-509. 368 | Luckmann 1963, 36. 369 | Vgl. Luckmann 1963, 36. Vgl. hierzu auch die analoge Vorstellung bei Scheler, der das Person-Sein ebenfalls an die Verwirklichung von Religion im Menschen bindet. Vgl. Scheler 1976a, 39.
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D IE MEDIALE R ELIGION ander…) The Invisible Religion vor. Ich habe den Titel akzeptiert, obwohl ich das später wegen der häufigen, ja überwiegenden Fehlrezeption (falls man bei halben Lesern und solchen, die nur den Titel gelesen haben, von Rezeption sprechen kann) manchmal bereut habe. 370
Inhaltlich sind beide Werke weitgehend deckungsgleich, wenn auch einzelne Ausführungen und der wissenschaftliche Apparat nun etwas ausführlicher gestaltet wurden. 1991 publiziert Suhrkamp die deutsche (Rück-)Übersetzung unter dem Titel Die unsichtbare Religion, nachdem bereits eine italienische, spanische und japanische Übertragung erschienen waren. Neu ist an der deutschen Ausgabe das ausführliche Nachwort mit einigen Ergänzungen zu den bereits zusammen mit Schütz etablierten drei Stufen der Transzendenzerfahrungen und zum symbolischen, zeichenhaften und rituellen Ausdruck religiöser Erfahrungen. In einem späteren Aufsatz präzisiert er, dass die Behandlung der kleineren Transzendenzen das Anliegen der Magie sei. Dagegen falle der Umgang mit den sozialen Transzendenzen in den Bereich der politischen Religion. Kollektive Repräsentationen, mit denen die großen Transzendenzen bewältigt werden, werden gemeinhin im eigentlichen Sinne als religiös angesehen.371 Die subjektiven Erfahrungen anderer Wirklichkeiten werden dabei gemäß Luckmann im kommunikativen Prozess durch einen sprachlichen Rahmen objektiviert, in der Form des Mythos oder des Rituals werden sie zur Wiedererzählung aufbereitet. Die außeralltäglichen Transzendenzerfahrungen werden auf diese Weise domestiziert und auf der Basis einer eigenen Logik dieser Ereignisse mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung in Einklang gebracht. Dort, wo dies nicht oder nur teilweise gelingt, entstehe ein großes Potenzial gesellschaftlicher Spannungen und des Wandels. Jedoch wird laut Luckmann jede subjektiv-menschliche Erfahrung zunächst an objektivierenden Mustern solcher Erfahrungen ausgerichtet. Die substantielle Ausgestaltung religiöser Sujets und Themen bezeichnet Luckmann als »Merkzeichen für das Numinose«.372 Dieses umfassende Verständnis religiöser Phänomene bildet den Ausgangspunkt für Luckmanns entwicklungsgeschichtliches Modell der drei bisherigen und der künftigen Sozialformen der Religion. In den sozial kaum ausdifferen370 | Brief von Thomas Luckmann an den Autor, 17.08.2002. 371 | Vgl. Luckmann 2002, 287. 372 | Vgl. Luckmann 1991, 166-173; Luckmann 1963, 40. Auch Arnold Gehlen entwickelte zuvor ein abgestuftes Transzendenzmodell, in dem er handlungstheoretisch zwischen Transzendenzen des Diesseits und des Jenseits unterscheidet: Erstere bezeichnen vom Gegenstand (den Lebensnotwendigkeiten) bestimmtes Verhalten, das an der Wirklichkeit desselben gemessen wird, Letztere sind als »Transzendenzen ins Jenseits« auf etwas Göttliches, etwas Absolutes bezogen, das einen Wert an sich darstellt. Vgl. Gehlen 1977, 14-19.
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zierten Gesellschaften der Archaik sei die Gesellschaftsstruktur als Ganzes noch in einem einheitlichen »Heiligen Kosmos« verankert, auch wenn bereits erste Spezialisierungen religiöser Rollen für Ahnenkontakte oder aber ekstatische Erfahrungen einsetzen. Die zweite Sozialform der Religion könne seit den frühen Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten ausgemacht werden. Es bestehe zwar immer noch ein kohärenter »Heiliger Kosmos«, dessen Logik die Lebensführung aller Gesellschaftsmitglieder bestimmt, aber die Religion erhalte schon einen eigenen und abgesonderten Wirkungsbereich in der Gesellschaft. Dieser könne enge und komplexe Beziehungen zu den Institutionen politischer Macht unterhalten. Bis zu Beginn der Neuzeit decke sich also die kirchengebundene Religiösität weitgehend mit den subjektiven Formen von Religiösität. In der dritten Sozialform der Religion ist die Gesellschaft laut Luckmann in hohem Maße ausdifferenziert und die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft ist unabhängig von der Zugehörigkeit zum allgemeinen Sozialverband möglich. Diese Form der Institutionalisierung von Doktrin und Ritus in den christlichen Kirchen sei eine spezifische Form der Religion im Abendland, die auf der klaren Trennung von religiösen Organen und anderen Teilbereichen der Gesellschaft beruhe.373 Der Begriff des »Heiligen Kosmos« bzw. des sacred cosmos374 geht sicherlich zum Teil auf Max Weber zurück, der in seiner systematischen Religionssoziologie mehrfach vom »sinnvollen Kosmos« und von der »unpersönlichen, übergöttlich ethischen Ordnung des Kosmos« redet.375 Berger, der den »Heiligen Kosmos« zeitgleich in The Sacred Canopy einführt, beruft sich an dieser Stelle auf Mircea Eliade als Ideengeber.376 Auch die Parallelen Luckmanns zu den 373 | Vgl. Luckmann 1963, 42-45, 55f.; Luckmann 2002, 287-289. 374 | Eingeführt wurde der Begriff des »Heiligen Kosmos« offenbar 1967 in The Invisible Religion (107), während Luckmann im Problem der Religion in der modernen Gesellschaft (1963, 35) noch vom sinnvollen Kosmos nach weberscher Prägung spricht. 375 | »Immer enthält er [der Sinn: d. Verf.] ferner die wichtige religiöse Konzeption der ›Welt‹ als eines ›Kosmos‹, an welchem nun die Anforderung gestellt wird, daß er ein irgendwie ›sinnvoll‹ geordnetes Ganzes bilden müsse, und dessen Einzelerscheinungen an diesem Postulat gemessen und gewertet werden.« Weber 1980, 275. Vgl. auch Weber 1980, 297, 304, 307, 348. Auch Scheler griff diesen Terminus (allerdings ohne weitere Explikation) schon im Haupttitel seines Werkes Der Mensch im Kosmos (1928) auf. Im Gespräch nennt Luckmann auch van der Leeuw oder Wach als mögliche Urheber des Begriffes. Wach verweist in seiner Religionssoziologie jedoch nur peripher auf den platonischen bzw. neuplatonischen Kosmos-Begriff, van der Leeuw gar nicht. Vgl. Wach 1951, S. 52. 376 | Vgl. Berger 1973, 25ff., FN 32, FN 34. Eliade hatte in Kosmos und Geschichte (1949) und in Das Heilige und das Profane (1957) in seiner Rekonstruktion der Religion archaischer Gesellschaften demonstriert, wie die damalige Welt durch die Wiederho-
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religionshistorischen Entwicklungsmodellen von Karl Mannheim und Werner Stark sind offensichtlich, denn Mannheim zufolge war das Mittelalter geprägt durch ein alle Lebenssphären durchdringendes Gemeinschaftsbewusstsein, das im Höchsten, in der Transzendenz Gottes, verankert war.377 Stark spricht davon, dass das Universum für den Menschen der vorindustriellen Gesellschaft noch ein Mysterium war.378 Das, was gemeinhin in der Sozialtheorie und der empirischen Religionsforschung als Säkularisierungsprozess interpretiert wird, versteht Luckmann in scharfer Abgrenzung zu den Deutungen der damaligen Kirchensoziologie als eine grundsätzliche Veränderung in den Bewusstseinsstrukturen des modernen Menschen. Die soziale Ausdifferenzierung in den hochkomplex organisierten, modernen Gesellschaften, die einherging mit der Emanzipation des absolutistischen Staates aus der Umarmung der Kirchen, ermöglichte erst eine allgemeine Neuorientierung an nicht religiösen Werten und politischen wie ökonomischen Ideologien: »Gesellschaften, die sich über ein gewisses Niveau der Komplexität hinaus entwickelt und einen größeren Grad funktioneller Differenzierung erreicht haben, können die gesellschaftliche Universalität einer essentiell religiösen Weltansicht, die von dem Vorrang der Erlösungsreligiösität ausgeht, schwerlich aufrechterhalten.«379 Die Sozialform der Religion in der Moderne »… zeichnet sich durch das Fehlen allgemein glaubwürdiger und verbindlicher gesellschaftlicher Modelle für dauerhafte, allgemein menschliche Erfahrungen der Transzendenz aus.«380 Die doktrinale Dimension heutiger kirchengebundener Religiösität ist nach Ansicht Luckmanns nur noch »seicht« zu nennen, da sie keine Gültigkeit mehr als Ordnungsprinzip in allen sozialen Lagen habe. Sie stehe in Konkurrenz zu den meist autonomen Normen anderer Teilbereiche der Gesellschaft. Die Geltung religiöser Normen werde auf eine begrenzte Bewusstseinsschicht beschränkt, verliere aber damit die eigentliche soziale Funktion der Religion. Seit mehreren Generationen könne diese Auflösung des »traditionellen christlichen Heiligen Kosmos« beobachtet werden, denn der Charakter der traditionellen Kirchlichkeit stehe im Widerspruch zu der vorherrschenden »Massenkultur« der industrialisierten und verstädterten Gesellschaft. Das Problem der soziolung von Ritualen und die Erzählung von Mythen zu einem dem Chaos trotzenden »Kosmos« gemacht wurde, in dem sich das »Heilige« manifestiert hatte. Vgl. Eliade 1998, 30ff.; Eliade 2007, 33-37. 377 | Mannheim 1995, 8. 378 | Vgl. Stark 1974, 11, 132. 379 | Luckmann 2003a, 146. Dieses Problem des Auseinanderdriftens sozialer Kohäsionskräfte hatte schon Durkheim für die modernen Gesellschaften konstatiert. Vgl. Durkheim 1992, 360-364; auch Gehlen 1977, 7-10. 380 | Luckmann 1991, 182.
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logischen Theorie sei damit nicht das empirisch beobachtbare Schrumpfen der christlichen Kirchen, sondern ihr Fortbestand, also die veränderte Funktion der Religion im Sozialgefüge, die heute nur noch als partieller Sinnzusammenhang fortbestehen könne, als »Halbtags- und Sonntagswerte«. Soziologisch noch bedeutender ist gemäß Luckmann allerdings die Frage, welche »Neureligion« denn nun auf dieser geschichtlichen Basis emporwächst, die schließlich die zentralen symbolischen Sinnzusammenhänge der modernen Gesellschaft abbildet. Was also ist die innere Form der bewusstseinsstrukturierenden Weltanschauung unserer Zeit?381 In der Diagnose Luckmanns ist die Fragmentierung symbolischer Sinnwelten eine Folge der starken Gewichtung subjektiver Erfahrungsmomente und privater Erfahrungszusammenhänge, die allesamt auf das Ideal des freien Individuums ausgerichtet sind. In diesem »modernen Solipsismus« werde die Subjektivität sakralisiert.382 Religion sei nun vorwiegend diesseitig und todesverdrängend.383 Auch wenn die traditionellen Religionen noch einen »täuschenden Aufschwung« erleben sollten, prophezeit Luckmann den Niedergang der großen religiösen Institutionen in allen modernen Gesellschaften, in denen Religion aus sozialstrukturellen Gründen zur Privatsache werden muss. Durch die Relativierung der verschiedenen Religionsangebote sei die absolute Gültigkeit einer Religion nicht mehr gegeben, wohl aber – wenn auch unwahrscheinlich – die Gültigkeit einer Lehre für das ganze Leben des Einzelnen, der sich dann aber bewusst und als Einzelner gegen die säkular-gesellschaftliche Mehrheit dafür entscheiden müsse.384 Es ist nach den bisherigen Ausführungen offensichtlich, dass den Medien in der interaktionistisch und auf face-to-face-Kommunikation angelegten Handlungs- und Sozialisationstheorie Luckmanns keine besondere Rolle zugedacht wird. Luckmann präzisiert in diesem Zusammenhang: »Soziales Handeln ist alles Handeln, dessen Entwurf auf andere gerichtet ist.«385 Dieses Handeln könne sich gleichermaßen auf anwesende oder abwesende Mitmenschen beziehen, wobei die Abwesenheit sowohl räumliche, zeitliche oder soziale Distanz bedeuten kann. Dieses Handeln kann also auch auf zukünftige Ereignisse ausgerichtet sein und sich an unbekannte Akteure wenden. Luckmann legt jedoch wert darauf, nicht alles soziale Handeln als Kommunikation zu verstehen, da 381 | Vgl. Luckmann 1963, 28-31, 53f., 60-63; Luckmann 1991, 180f.; Luckmann 2003a, 139f. 382 | Vgl. Luckmann 2003a, 146-152. 383 | Vgl. Luckmann 1963, 73. 384 | Vgl. Luckmann 1963, 57-60. 385 | Luckmann 1981, 518.
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hiermit der Unterschied zwischen der Sinnkonstitution im sozialen Handeln im Allgemeinen und in spezifischen kommunikativen Akten verwischt würde. Sinn werde nur in kommunikativen Akten explizit entworfen, vollzogen und gedeutet und unterliege zudem besonderen Regeln der kommunikativen Formen (eines Zeichensystems).386 In einem kurzen Beitrag, in dem sich Luckmann gezielt mit Medien auseinandersetzt, gelangt er zu der Einsicht, dass die elektronischen Massenmedien im Vergleich zur unmittelbaren Kommunikation zu einer weitgehenden Anonymisierung führen. Die Kommunikation im Radio und Fernsehen beruhe nämlich auf einer starken Einseitigkeit. Dort, wo Gesprächsformen erscheinen (wie in der Beratungssendung) handele es sich nur um massenmediale Ersatzformen von Gesprächen: »Jedenfalls haben diese Entwicklungen erst die Bedingungen dafür geschaffen, daß in weiten Bereichen gesellschaftlichen Lebens einseitig mittelbare Kommunikation an große Mengen von Nur-Empfängern gerichtet werden können.«387 Das, was das normale Gespräch leisten könne, nämlich wechselseitig Fragen zu stellen und Antworten zu geben (und somit Sinn zu produzieren), werde in der Kommunikation der Massenmedien von vornherein ausgeschlossen.388 Die »Massenmedien« spielen für Luckmann insofern eine Rolle in der neuen Religionslandschaft moderner Gesellschaften, als dass sie nicht nur als Vermittler, sondern auch als »unabhängige Produzenten« die verbreitete hedonistische Einstellung einer modernen Mentalität auf dem nun pluralistischen Markt der Religionen und Sinnangebote platzieren. Das autonome Individuum könne aus diesem Sortiment von Büchern, Medienangeboten und Selbstverwirklichungs-Workshops nun frei wählen. Ein kohärenter, sinnvoller Kosmos werde von den Medien und den anderen Anbietern jedoch weder bereitgestellt, noch sei er verbindlich.389 Auch besteht für Luckmann ein Widerspruch zwischen der heutigen Mediatisierung der Religionen und den traditionellen Formen von Religion, wenn er annimmt, dass die Nutzung der Medien durch die Religionen selbst erst eine Folge der Bemühungen sei, die Religion in den Prozess der modernen Konstruktion von Transzendenz anzupassen.390 Mit dieser Einschätzung entgeht Luckmann allerdings, welch wichtige Rolle herkömmliche wie auch elektronische Medien für die traditionellen religiösen Institutionen spielen. Luckmann geht bspw. von einer (abgesehen von den 386 | Allerdings spricht Luckmann selbst auch von »einer relativen Irrelevanz« der Natur des Zeichenträgers in Kommunikationsprozessen. Vgl. Luckmann 1981, 518f.; Luckmann 1991, 177; Keppler 1998, 184. 387 | Luckmann 1984, 76. 388 | Vgl. Luckmann 1984, 81ff. 389 | Vgl. Luckmann 2003a, 146-152; Luckmann 2002, 290. 390 | Vgl. Luckmann 1991, 181f.
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USA) vernachlässigbaren Rolle der traditionellen Kirchenpredigt aus und verkennt dabei, dass es neben dem amerikanischen televangelism auch in Europa mindestens seit den 1980er Jahren vermehrt etablierte religiöse Radio- und Fernsehprogramme gibt (ganz zu schweigen von der umfangreichen religiösen Publizistik), in denen die Predigten einen festen Platz haben und auch breit rezipiert werden.391 Interesse zeigt Luckmann in diesem Zusammenhang jedoch an der öffentlichen Kommunikation von Moral und hat die Fernseh-Weihnachtsansprache eines Bundespräsidenten analysiert, die er als Fortsetzung der moralischen Kirchenpredigten versteht.392 Luckmann wählt hier keinen spezifisch medienwissenschaftlichen Zugang – die Untersuchung beruht auf einer reinen Textanalyse. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem weiteren DFG-Forschungsprojekt, in dem diese Studie entstand, haben jedoch wie Angela Keppler, Ruth Ayaß und Hubert Knoblauch in der Folgezeit entscheidende Beiträge für die Entwicklung einer wissenssoziologisch fundierten Medienforschung geleistet.
Das Religionsverständnis von Peter L. Berger »Definitionen sind ihrem Wesen nach weder ›richtig‹ noch ›falsch‹, sondern nur mehr oder weniger brauchbar.«393 Damit erteilt Peter L. Berger eindeutigen und auf Verallgemeinerung angelegten Religionsdefinitionen eine Absage. Gegenüber Luckmanns sehr weit gefasstem, funktionalem Religionsverständnis hält Berger an einem substantiellen Religionsbegriff fest, so wie ihn die Religionswissenschaft (Otto) in ihrer frühen Schaffensperiode geprägt hat.394 Das soziologische Problem, das auch Berger lösen will, ist die Frage nach der Bedeutung der Religion in der Moderne. Mit ausdrücklichem Bezug auf Schütz und Scheler teilt Peter L. Berger die Einschätzung seines soziologischen Weggefährten Thomas Luckmann, dass die Religion eine besondere Rolle bei der Welterrichtung spielt. Er betont dabei den dialektischen Charakter im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft, denn so wie die Gesellschaft ein Produkt des Menschen ist, sei auch der Mensch ein Produkt der Gesellschaft. Menschwerdung wird von Berger als Austausch mit der Welt verstanden, denn der Mensch hat kein festes Welt-Verhältnis, sondern
391 | Vgl. Luckmann 1998, 395f. 392 | Vgl. Luckmann 1999, 45f. 393 | Berger 1973, 165. 394 | Die von Luckmann vorgenommene Gleichsetzung des Religiösen mit dem Menschlichen schlechthin würde Berger zufolge zu einer Ununterscheidbarkeit zu anderen Formen der Kosmisierung und Transzendierung führen, die gemeinhin nicht als Religion verstanden werden. Vgl. Berger 1973, 167f.
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muss dieses fortwährend neu herstellen.395 Religion ist für Berger der Versuch des Menschen, die Welt als ein sinnvolles Ganzes wahrzunehmen. Religion ist das Unterfangen des Menschen, einen heiligen Kosmos zu errichten. Anders ausgedrückt: Religion ist Kosmisierung auf heilige Weise. Als heilig bezeichnen wir hier eine numinose, furchterregende Mächtigkeit, die der Mensch anders als sich selbst und doch mit ihm verbunden erlebt und von der er glaubt, sie hause in bestimmten Objekten der Erfahrung. 396
Dem gegenübergestellt wird das Profane als »Nichtvorhandensein des Status der Heiligkeit« im Alltagsleben: »Die Dichotomisierung, die Zweiteilung der Wirklichkeit in heilige und profane Sphären, wie benachbart sie auch sein mögen, gehört zum Wesen aller Religion und muß bei jeder Analyse des Phänomens Religion berücksichtigt werden.«397 Der heilige Kosmos schließt den Menschen in eine übergreifende Wirklichkeitsordnung ein, »bietet ihm so den Schutz des Absoluten vor dem Grauen der Anomie.«398 Der Verlust der Verbindung zum Heiligen ist für Berger mit der Gefahr verbunden, dass die sinnhafte, gesellschaftliche Ordnung erodiert.399 Das Problem der Moderne ist laut Berger nun ein umfassender Prozess der Säkularisierung in den hochentwickelten Gesellschaften – in älteren Publikationen gehen Berger wie Luckmann von einem globalen Phänomen aus, in jüngeren von einem (west-)europäischen Sonderfall.400 Säkularisierung macht Berger in dem Rückzug der christlichen Kirchen und im Verschwinden des Religiösen aus den Künsten, der Philosophie und Literatur aus. Diesen Erscheinungen liege ein Bewusstseinswandel zugrunde in der Art, als dass Menschen
395 | Vgl. Berger 1973, 3-8. An dieser Stelle wird auch Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität rezipiert. Die Menschwerdung erfolge über Rollenlernen und die Objektivierung der Welt vor allem durch die Sprache. Vgl. Berger 1973, 8-25. 396 | Berger 1973, 26. Berger bezieht sich hier und an anderer Stelle explizit auf den Religionsbegriff des Phänomenologen Rudolf Otto. Vgl. Berger 1995, 136ff. 397 | Berger 1973, 27. 398 | Berger 1973, 27. 399 | Vgl. Berger 1973, 27f. 400 | In einem Ländervergleich zwischen (West-)Europa und den Vereinigten Staaten beschreibt Luckmann Kirchlichkeit als ein »Randphänomen« moderner Gesellschaften. Die höhere kirchliche Bindung in den USA, die Berger und Luckmann nicht entgeht, wurde von beiden Autoren in der Vergangenheit damit begründet, dass die amerikanischen Kirchen bereits einen inneren Säkularisierungsprozess hinter sich gebracht hätten und nun weitgehend »kulturreligiöse« Funktionen übernommen hätten. Vgl. Luckmann 1963, 28f.; Berger 1973, 162; Berger & Luckmann 1996, 30-44; Luckmann 2002, 291.
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ihr Dasein und ihre Welt auch ohne religiösen Segen erklären könnten.401 Der Verlust eines allumfassenden »Heiligen Kosmos« sei die Ursache der Nomisierung sozialer Institutionen wie auch der Sinnkrise in individuellen Biografien – die christliche Theodizee des Leidens verliert laut Berger ihre Glaubwürdigkeit und »eine Fülle innerweltlicher Erlösungslehren« treten an ihre Stelle.402 Die Folge sei ein religiöser und weltanschaulicher Pluralismus, in dem die verschiedenen Wertordnungen und Weltansichten aufeinanderprallen und subjektive wie auch kollektive Sinnkrisen erzeugt würden. Daraus ergibt sich gemäß Berger ein Zwang zur Häresie: Der Imperativ der Wahl wird zur Notwendigkeit des Aussuchens und Auswählens. Mit der Vervielfältigung des Angebots, das die Massenmedien wirksam vorführen, gehe eine unvermeidbare Relativierung der einzelnen Wert- und Deutungssysteme einher, die zu gesellschaftlicher Entfremdung und Sinnkrise führen:403 In hochentwickelten Industriegesellschaften mit ihrem enormen wirtschaftlichen Überschuß, der es unzähligen Personen gestattet, ihre gesamte Zeit noch den obskuresten Interessen zu widmen, ist die pluralistische Konkurrenz von Subsinnwelten jeder vorstellbaren Art der Normalzustand. 404
Ausblick Die Stärken der soziologischen Phänomenologie, wie sie Alfred Schütz entworfen hat und wie sie insbesondere Thomas Luckmann weiterentwickelt hat, liegen zweifelsohne in der Fokussierung auf das handelnde Subjekt und der Analyse der sozialen Konstruktion einer sinnhaften Welt durch eben diese sinnhaft handelnden Akteure. Große Bedeutung hat dieser Ansatz für die gesamte qualitative Sozialforschung. Die Schwächen liegen in der letztlich lebensphilosophisch und phänomenologisch geprägten Handlungstheorie begründet, die die Erfahrung der Welt durch das Subjekt ins Zentrum der soziologischen Überlegungen stellt. Die Vermittlung von Wissen durch Medien erscheint in 401 | Den theologischen Ursprung der Säkularisierung lokalisiert Berger ähnlich wie Stark im Protestantismus. Vgl. Berger 1973, 107f. 402 | Vgl. Berger 1973, 101-121. Die Ursache der heutigen Säkularisierung ist laut Berger allerdings schon im alten Israel angelegt, das ein Gottesbild zeichnete, das der Schöpfung gegenübersteht (im Gegensatz zu den Gottheiten der alttestamentlichen Umwelt, in denen die Gottheiten Teil der Schöpfung sind). Vgl. a.a.O., 109-116. 403 | Vgl. Berger 1973, 130-135; Berger 1980, 39-45; Berger & Luckmann 1996, 3044. Die Zeitung gilt den beiden Soziologen im Gegensatz zu den Massenmedien noch als Garantie der »ganzen großen Welt der Wirklichkeit«, sie vermittele Gewissheit über den höheren Wirklichkeitsstatus der Arbeitswelt gegenüber den subjektiven Nachtträumen und Phantasien. Vgl. Berger & Luckmann 1994, 160. 404 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 91.
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dieser Konzeption nur an der Peripherie soziologischer Theoriebildung – in der von Luckmann vorgenommenen Bestimmung des kommunikativen Haushaltes einer Gesellschaft und der Diskussion kommunikativer Gattungen kommt medial vermittelte Kommunikation kaum vor.405
2.3 D IE WISSENSSOZIOLOGISCHE H ERMENEUTIK 2.3.1 Religion in der wissenssoziologischen Hermeneutik Die Ansätze der wissenssoziologischen Hermeneutik knüpfen in Bezug auf den Religionsbegriff nahtlos an die Ausführungen der phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns an. Allerdings haben abgesehen von Luckmann selbst nur Hans-Georg Soeffner und Hubert Knoblauch, soweit dies zu überblicken ist, die religiöse Frage vertieft behandelt.406 Soeffner versteht die Veränderungen von Religion in der jüngeren Vergangenheit als einen Prozess zunehmender Individualisierung. Ganz ähnlich der Diagnose Werner Starks betrachtet er diese Entwicklung als Spätfolge der Reformation und als sozialstrukturellen Spiegel der modernen, arbeitsteiligen Industriegesellschaften. Das Ideal des autonomen, selbstbestimmten Individuums sei die »Hintergrundreligion« sowohl der heutigen Gesellschaftsstruktur als auch des religiösen Lebens. Das gedruckte Wort Gottes habe nach der historisch-kritischen Forschung des 19. Jahrhunderts seinen Wert als kollektiver Halt und Garant einer Glaubensgemeinschaft verloren. Zugunsten der weitgehend privatisierten »Selbstüberhöhung« des Individuums hat sich Soeffner zufolge der Bezug zu außerindividuellen Sinndeutungen in der Religion wie auch in der Kunst heute weitgehend aufgelöst: »Letztlich kennen individualisierte Religionen und individualisierte Kunst nur einen zentralen Gegenstand: das Individuum selbst.«407 Während die Religion auf das Jenseits ausgerichtet sei, strebe die »Weltfrömmigkeit« der kulturellen »Diesseitsreligion« die Erfüllung selbstentworfener Verheißungen im Hier und Jetzt an.408 Soeffner differenziert
405 | Vgl. Luckmann 2007. 406 | Jo Reichertz operiert zwar ebenso mit der wissenssoziologischen Hermeneutik als Methode, befasst sich jedoch nur punktuell mit den innerweltlichen Sinndeutungsprozessen der »Diesseitsreligion«. Vgl. Abschnitt 4.7.2 Medienkritik und die Konstruktion der »Medienreligion«. 407 | Soeffner 1998, 249. Vgl. Soeffner 1994, 292-297, 309-317. Soeffner bezieht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich und mehrfach auf die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners. 408 | Vgl. Soeffner 1998, 246. In diesem Punkt folgt ihm Angela Keppler (1999, 193f.).
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in diesem Rahmen nun zwischen kollektiver Religion und individueller Religiosität: Ich verstehe ›Religiosität‹ also nicht als Ausdruck von Religion, sondern als Disposition: als die im einzelnen angelegte und von ihm erlebte Differenz zwischen ihm als einzelnen und anderen einzelnen oder Gemeinschaften. Diese Disposition konstituiert die potenzielle Abweichung von – und Nichtvereinbarkeit individueller religiöser Erfahrung mit – kollektiv konstruierten, symbolisch ausgeformten Glaubensvorstellungen und Welt(an) sichten. 409
Religiosität sei damit Voraussetzung von Religion, sie stehe im Spannungsfeld zwischen dem Solitarismus der individuellen religiösen Erfahrung des »Numinosen« und »Unausdrückbaren« (Otto) und der Gemeinschaft. »Und sie markiert die Grenze, vor der wissens- und religionssoziologische Analysen, Repräsentationen der Intersubjektivität und Rationalität, mit guten Gründen und gern haltmachen.«410 Anders nun, so Soeffner, als die unmittelbare religiöse Erfahrung jedes einzelnen Menschen bedarf die Religion als kollektive Weltanschauung einer ästhetischen Formen- und Symbolsprache, die sich in »heiligen Büchern«, Dogmen, Kirchen usw. manifestiere.411 Der massenmedialen Präsentation und Verarbeitung von religiösen Thematiken wie auch der Kunst bescheinigt Soeffner jedoch eine »nivellierende Vervielfältigung des Singulären«, die durch die ereignisförmige Wiedergabe in den heutigen »Medienbühnen« gekennzeichnet sei: Hier existiert kein Zusammenhang mehr zwischen dem Erleben des ›Heiligen‹ als des Dauernden und der in der endlichen Zeit stattfindenden kultischen Handlung. Das ›Religiöse‹ auch das innerweltlich orientierte Religiöse, verschwindet in der Beziehungslosigkeit des Events … 412
Wie Soeffner so führt auch Hubert Knoblauch den Ansatz Luckmanns fort und fordert nachdrücklich eine stärkere Berücksichtigung des Momentes der religiösen Erfahrung in der soziologischen Forschung, der bisher nur »stiefmütterlich« behandelt worden sei.413 Knobauch verweist dann zwar auf die lange theoretische Tradition der substantiellen Auslegung von Transzendenzerfah409 | Soeffner 1994, 307. 410 | Soeffner 1994, 317. Vgl. a.a.O., 309-317, insbesondere 313 FN 59. 411 | Vgl. Soeffner 1998, 244. 412 | Soeffner 1998, 253. Vgl. a.a.O., 251ff. Diese Einschätzung gleicht der kulturpessimistischen und weitgehend theologischen Konstruktion einer »Medien- bzw. Fernsehreligion«. Vgl. Abschnitt 4.7.2 Medienkritik und die Konstruktion der »Medienreligion«. 413 | Vgl. Knoblauch 2004, 69.
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rungen bei Schleiermacher, Otto, Wach und Heiler. Er warnt jedoch vor diesem Versuch, einen universell gültigen, substantiellen Religionsbegriff etablieren zu wollen und setzt an dessen Stelle den inhaltlich unbestimmten Transzendenzbegriff von Schütz.414 Anders als Soeffner zieht Knoblauch nun eine Trennlinie zwischen Religion und Glauben (mit jedoch sehr ähnlichen Konturen wie dessen »Religion« und »Religiosität«) und gelangt zu folgender Verhältnisbestimmung: Die hier vertretene These lautet, daß große Transzendenzerfahrung jeder Form von Religion zugrunde liegt. Wie jedoch betont wurde, müssen Erfahrungen großer Transzendenzen aber nicht unbedingt im religiösen Rahmen gedeutet werden … Glaube und Religion setzen … gleichmit eine Unterscheidung zwischen Virtuosi, die die Erfahrungen machen, und Laien, die sie nicht gemacht haben, aber eben daran glauben, voraus. Glaube beruht auf einem vermittelten Wissen über Transzendenzerfahrungen. 415
Präziser als Luckmann und Soeffner fasst Knoblauch den Individualisierungsprozess von Religion in spätmodernen Gesellschaften. Zwar sei es richtig, dass diese heutigen Formen von populärer Spiritualität auf der individuellen Erfahrung großer Transzendenzen und deren subjektiver Deutung beruhen. Diese Subjektivierung ist laut Knoblauch jedoch nicht zwangsläufig mit einer strukturellen Individualisierung gleichzusetzen, sondern könne sich durchaus auf populäre und gemeinschaftliche Praktiken und Erfahrungen beziehen, wie etwa in charismatischen Gottesdiensten oder auf Pilgerreisen. Das Subjekt jedoch bilde den Ausgangspunkt und Maßstab für die Deutung dieser Erfahrungen.416
2.3.2 Medien in der wissenssoziologischen Hermeneutik In der Weiterentwicklung des phänomenologischen Ansatzes von Schütz und Luckmann hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer deutlicher die Programmatik der hermeneutischen Wissenssoziologie herausgebildet.417 Im Anschluss an Weber und Schütz rückt Luckmann selbst schon den Begriff des kommunikativen Handelns ins analytische Zentrum der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Soziales Handeln, das meist aus Kommunikation mit unserer Mitwelt besteht, sei konstitutiv für die Etablierung unserer Lebenswelt des Alltags. Nur durch Kommunikation können demnach die rein subjektiven Erfahrungswelten des Traums, Phantasierens und Theoretisierens 414 | Vgl. Knoblauch 2004, 69, 75; Knoblauch 2009, 56-65. 415 | Knoblauch 2004, 78f. Vgl. auch Knoblauch 2007, 156. 416 | Vgl. Knoblauch 2007, 170-172; Knoblauch 2004, 79; Knoblauch 2009, 166-181. 417 | Vgl. die Beiträge in Tänzler & Knoblauch & Soeffner 2003; Hitzler & Reichertz & Schröer 2003.
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Teil der sozialen Lebenswelt werden. Umgekehrt gilt das Gleiche für die Wahrnehmung sozialer Ordnungen und Weltdeutungen durch das Subjekt.418 Die einseitige Fokussierung auf die face-to-face Kommunikation, die auf Schütz’ Verständnis der alltäglichen Lebenswelt als sozialem Begegnungsraum unmittelbarer akustischer und visueller Wahrnehmung fußt, ist in jüngster Zeit aufgrund der offensichtlichen Grenzen dieses Ansatzes kritisch diskutiert worden. Im Bemühen um die Ausgestaltung einer wissenssoziologischen Medienforschung plädieren vor allem Ruth Ayaß und Angela Keppler für die Ausweitung des Alltagsbegriffes auf die Medienerfahrungen: »Denn eine Begegnung mit Situationen, in denen sie nie waren und nie sein werden, ist für die heutigen Menschen vor allem Dank der ›Massenmedien‹ Radio und Fernsehen zu einem höchst alltäglichen Ereignis geworden.«419 Gerade die von Schütz, Luckmann und Soeffner entwickelte Soziologie der Alltagswelt könne ihr Potenzial erst voll entfalten, wenn die Rolle der modernen und historischen Medien für die Vermittlung von Wissensbeständen gewürdigt wird. Die Welt des Alltags, so Ayaß, sei wegen (und nicht trotz) der räumlichen und zeitlichen Begrenzung seiner Lebenswelt von Medien durchwirkt. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt des Alltags sei so elementar von der Existenz und der Verwendung von Medien geprägt, dass es sogar statthaft und notwendig sei, von den »medialen Strukturen der Lebenswelt« zu sprechen.420 Medien erscheinen damit nicht als zu vernachlässigendes Epiphänomen oder Surrogat von unmittelbarer Kommunikation, sondern sie existieren als Überbrückung zeitlicher und räumlicher Distanzen von Beginn der menschlichen Kultur an. Ayaß verweist auf die historischen Entwicklungslinien (Höhlenmalerei, Schrift, Buchdruck) und knüpft mit Blick auf die technischen Medien (Radio, Fernsehen) dabei an Schütz’ Überlegungen zur aktuellen Reichweite von sozialen Begegnungen an. Die technischen Medien seien ihrer Ansicht nach zwar nicht unmittelbar reziprok, aber sie erhöhten die örtliche und zeitliche Reichweite des Menschen enorm: »Medien vermitteln uns Wissen von Zeitgenossen, denen wir nie begegnen (werden oder wollen), darüber hinaus spielen sie eine enorme Rolle für das Wissen von unseren Vorfahren.«421 Angela Keppler wie auch der Medienpsychologe Michael Charlton diskutieren ein weiteres wichtiges Argument der soziologischen Phänomenologie für die prioritäre Behandlung unmittelbarer Kommunikation. Für Luckmann ist, wie wir gesehen haben, die Etablierung von Sinn an die Reziprozität kommunikativer Akte gebunden, die der medial vermittelten Kommunikation ab418 | Vgl. Luckmann 1981, 515f.; Luckmann 2003a, 23-25; Keppler 2001, 128-131; Knoblauch 2007, 167-176; 419 | Keppler 2010, 107. 420 | Ayaß 2010, 287. Vgl. a.a.O., 285-287. 421 | Ayaß 2010, 296.
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gesprochen wird. Keppler und Charlton zeigen auf, dass auch die klassischen »Massenmedien« wie Radio und Fernsehen nicht monologisch als Modell vom Sender und Empfänger funktionieren. In seinen Vorschlägen zu einer soziologischen Handlungstheorie der Massenkommunikation geht Charlton davon aus, dass zwar einzelne Sendungen in der Tat monologisch konzipiert sind: Der Zuschauer oder Zuhörer kann sich nicht direkt an einer Konversation mit den Schauspielern, Moderatoren oder Journalisten beteiligen. Allerdings müssten Sendungen und die Reaktionen der Zuschauer als größere kommunikative Handlungsketten verstanden werden. Der Eindruck mangelnder Wechselseitigkeit entstehe lediglich aus der enormen zeitlichen Streckung einzelner Handlungszüge (turns). Denn wenn diese über lange Zeiträume hin verteilt sind, ist die sequentielle Struktur laut Charlton nicht mehr ohne Weiteres ersichtlich, selbst wenn ohne sie die Kommunikation gar nicht zustande gekommen wäre. Alle Produkte der Massenmedien sind ökonomische Produkte, die mit technischem und finanziellem Aufwand und entsprechendem wirtschaftlichen Risiko hergestellt werden. Diese Produkte (Filme, Nachrichtenmeldungen, Bücher etc.) werden daher immer mit erfolgsorientiertem Blick auf ein potenzielles Publikum konzipiert: Der »implizite«, also vom Produzenten mitgedachte Zuschauer ist als kommunikatives Gegenüber stets einbezogen, auch wenn seine tatsächliche Reaktion erst in der Einschaltquote oder im Leserkommentar sichtbar wird. Konsumenten stimmen mit ihrem Geldbeutel ab und im Internetzeitalter wird jeder einzelne Mausklick erfasst und statistisch ausgewertet. Die mediale Kommunikation vollzieht sich vor diesem Hintergrund als ein Wechselspiel zwischen medialer Herstellung, medialem Produkt und rezeptiver Aneignung, bei dem laut Keppler niemals ein Faktor die anderen vollständig zu determinieren vermag.422 Die Produktion, das Produkt, seine Distribution und Rezeption bilden den Gegenstand der wissenssoziologisch fundierten Medienforschung. Die durch Schütz eingebrachte, enge Verbindung zwischen aktuellem Handeln und der Konstruktion von Sinn macht nun die Besonderheit der hermeneutischen Medienforschung aus.423 Anders als unter den behavioristischen Annahmen der klassischen Medienwirkungsforschung (McLuhan u.a.) kann laut Keppler nicht von einer kausal-nomologischen Wirkung bestimmter Medien auf die »Masse« passiver und unaufgeklärter Medienkonsumenten ausgegangen werden. Die Aufmerksamkeit gilt den faktischen Rezeptionsverläufen von Medien und Medieninhalten, also »… welche Spielräume der Rezeption in welchen Kontexten wie genutzt werden oder ungenutzt bleiben«.424
422 | Vgl. Charlton 2001, 54-62; Keppler 2001, 125. 423 | Vgl. Knoblauch 2007, 142. 424 | Keppler 2001, 132. Vgl. a.a.O., 125-127; auch Luckmann 1981, 523.
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Die Analyse der Medienprodukte schärft den Blick für die wahrscheinliche Intention und beabsichtigte Wahrnehmung – Nachrichtensendungen eröffnen andere Spielräume der sozialen Praxis und Kommunikation als Soaps. Das hermeneutische Einfangen von Rezeptions- und Nutzungsprozessen bedeutet jedoch, dass nicht eine einzige richtige »Lesart« von Medienprodukten postuliert werden kann, sondern dass grundsätzlich von einer Vielfalt faktischer Rezeptionsweisen ausgegangen werden muss. Diese kann auch spürbar von der (vom Produzenten) intendierten Rezeptionsweise abweichen.425 Die Funktion von Medien in der sozialen Lebenswelt des Alltags muss daher stets die Frage nach der medialen Praxis, nach dem sozialen Gebrauch, einschließen.426 Nur wenn wir diesen Zusammenhang berücksichtigen, können wir Aufschluss darüber erlangen, welche Medien was für eine soziale Rolle spielen (und warum sie sie spielen), weshalb bestimmte Medienprodukte Erfolg haben und andere nicht, welche Folgen dies für kulturelle Zusammenhänge hat und welche Veränderungen es im Hinblick auf Tradierung und Erneuerung symbolischen und praktischen Wissens in unserer Gesellschaft provoziert. 427
Die medialen Alltagserfahrungen bedürfen nach diesen hermeneutischen Prämissen der Medienforschung stets einer Interpretation durch die jeweiligen Mediennutzer. Wie also werden die wahrgenommenen Medienprodukte kommunikativ verarbeitet? Die Ethnografie, die cultural studies und die interpretative Sozialforschung stellen Methoden bereit, um die vielfältigen Rezeptionsformen empirisch zu erfassen. Konversationsanalyse, teilnehmende Beobachtung und Interviews können Aufschluss darüber geben, wie in alltäglichen Gesprächen im Freundeskreis, im Beruf und in der Familie Medieninhalte (Nachrichten, Geschichten, Figuren) und die Machart der Produkte thematisiert und mit Bezug zur eigenen Situation bewertet werden. Medienpraxis ist damit deutende Alltagserfahrung, die Sinn konstituieren kann.428 So konnte bspw. die von Keppler u.a. durchgeführte Analyse von alltäglichen Tischgesprächen zeigen, dass Fernsehen mitnichten ein Kommunikationsverhinderungsapparat ist, sondern zahlreiche Themen und generelle Fragen der Lebensgestaltung in den familiären Raum einführt.429 Diese neuen Ansätze der interaktionistischen und
425 | Man denke bspw. an das beliebte Kinderspiel bei Fernsehwerbung oder -nachrichten, den Ton abzuschalten und abwechselnd selber einen spontan entwickelten Text zu sprechen. 426 | Vgl. Keppler 1998, 183-187; Keppler 2010, 104-110. 427 | Keppler 1998, 183. 428 | Vgl. Keppler 1998, 183f., 187-194; Keppler 2001, 138-142. 429 | Vgl. Keppler 2010, 119-123.
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hermeneutisch fundierten Medienrezeptionsforschung versprechen auch für das Feld von Religion und Medien ertragreiche Perspektiven.
2.4 R ELIGION IN DER W ISSENSSOZIOLOGIE : P ROBLEME UND P ERSPEK TIVEN 2.4.1 Religion, Gesellschaft und Erkenntnis Nach diesem Überblick über die Situation der Wissenssoziologie von ihren Anfängen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt es nun, die Zusammenhänge der dominierenden Deutungsmuster von Religion, Erkenntnis und Gesellschaft und den entscheidenden Akteuren des Erkenntnisprozesses zu qualifizieren. Es geht um nichts weniger, als die Problemlage zu skizzieren, mit der die heutige, wissenssoziologisch orientierte Religionsforschung konfrontiert ist.
Kultur und Wissenssoziologie Nicht die primäre Frage nach Objektivität und Wertfreiheit, die noch Max Weber bewegte, steht im Zentrum der betrachteten wissenssoziologischen Arbeiten, sondern die Legitimierung besonderer Erkenntniswege, die überhaupt erst gesellschaftliche Erkenntnis ermöglichen. Die Soziologie ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Krisenwissenschaft gefordert, um Antworten auf das barbarische und zugleich höchst rational-technisierte Töten des Ersten Weltkrieges und die gewaltsamen gesellschaftlichen Umbrüche in Ungarn, Österreich, Russland und Deutschland zu finden. Im Ausgang des 20. Jahrhunderts ist die Wissenssoziologie wiederum als Krisenwissenschaft gefordert, die zumindest die Diagnose für die moderne, pluralistische Gesellschaft erstellt, die ohne verbindliche Sinnorientierung bestehen muss. Die Wissenssoziologie erscheint ihren klassischen Vertretern als Schlüssel zum Verständnis und zur Überwindung der verschiedenen gesellschaftlichen Wissensbestände und Partikularinteressen, die sich zu Ideologien verfestigt haben. Ludwig Gumplovicz und später Theodor Geiger und mit ihm die gesamte jüngere, empirisch orientierte Soziologie sahen die Antwort in einem positivistischen bzw. faktengestützten soziologischen Empirismus, der jede Form universalgeschichtlicher Deutungen ausschloss.430 Die maßgeblichen wissenssoziologischen Arbeiten dieser Periode jedoch – von Jerusalem bis Stark – sehen die Krise des Abendlandes in dem Alleingeltungsanspruch eines von Comte und Marx etablierten Positivismus und Materialismus begründet. Rationale Erkenntnisformen sind für Wilhelm Jerusalem das Ergebnis der sozial- und kulturgeschichtlichen Entwicklung. Ein 430 | Vgl. König 1975; Goldschmidt 1962, 1.
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überzeitlicher und kulturübergreifender Vernunftbegriff oder ein metaphysisch begründeter Wahrheitsbegriff wird daher abgelehnt. Überdauernde objektive Wahrheiten wie auch Irrtümer seien das Ergebnis »sozialer Verdichtung«, eines intensivierten Kommunikationsprozesses der einzelnen Gesellschaftsmitglieder miteinander. In der Auseinandersetzung mit Alfred Weber führt Karl Mannheim diese Selbstreflexion des wissenssoziologischen Ansatzes weiter und vollzieht 1929 in Ideologie und Utopie eine kultursoziologische Wendung: Das utopische Bewusstsein – und damit auch die Religion – werden nicht mehr marxistisch in direkter Abhängigkeit vom sozialen Sein gesehen, sondern der Kultursphäre wird eine historische und soziale Eigendynamik zugesprochen. Den bereits im Frühwerk Mannheims bestehenden Antagonismus zwischen dem immanent ausgerichteten Denken der mittelalterlichen Mystiker und den modernen Kulturobjektivationen arbeitet er zu einer entwicklungsgeschichtlichen Konzeption aus, die auch die Entstehung der Wissenssoziologie selbst erklärt. Denn während im Mittelalter alle Lebenssphären im Gemeinschaftsbewusstsein auf ein Höchstes und Transzendentes ausgerichtet waren, bilden sich laut Mannheim im Ausdifferenzierungsprozess der modernen Gesellschaft konkurrierende kulturelle Sphären wie Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft heraus, die um Selbstbehauptung gegenüber der Theologie und Religion ringen. Auf diese Weise erst wurde gemäß Mannheim das Soziale sichtbar und andere als die theologischen Weltdeutungen wurden denkbar – dieser Rationalisierungsprozess mache im Gegensatz zu den Einsichten besonderer Erfahrungsgemeinschaften vergesellschaftbare Erkenntnis überhaupt erst möglich. Für Scheler ist die gesamte Frage der Wissenssoziologie und der soziologischen Erkenntnistheorie aufs Engste mit der lebensphilosophischen Neuorientierung der Geisteswissenschaften verbunden. Diese sei notwendig, um die Krise des Abendlandes zu überwinden, die in der Neuzeit durch eine vernunftorientierte Beherrschung der Natur und des Menschen verursacht wurde. Die sinnkonstituierenden »Wesenseinsichten« der Religion und der Metaphysik wurden Scheler zufolge den zweckrationalen Maximen der »positiven Wissenschaften« geopfert. Schelers grundlegende Aufteilung der Soziologie in die Wesensbetrachtung der reinen Soziologie (Kultursoziologie) und der empirisch-induktiven Soziologie (Realsoziologie) ist die Konsequenz aus seiner metaphysisch angelegten Anthropologie: Erstere soll ja das geistig bedingte und auf geistige, ideale Ziele gerichtete Sein, Handeln, Werten und Verhalten des Menschen untersuchen.431 Die kulturpessimistische Kritik Europas durch Scheler geht mit der Idealisierung asiatischer Denk- und Erkenntnisformen des Buddhismus und der chinesischen Philosophie einher. Diese kontrastierende Einschätzung teilt unter wertneutralen Vorzeichen auch Karl Mannheim, 431 | Vgl. Scheler 1960a, 18.
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wenn er konstatiert, dass das Abendland der vergangenen Jahrhunderte durch die »Kulturobjektivationen« geprägt sei, während die »indischen Asketen« und die christlichen Heiligen eine »Seelenerfüllung jenseits der Kulturaneignung« verwirklicht hätten.432 Diese wissenssoziologische Positionierung, die Scheler, Mannheim, Stark und mit Einschränkung auch Jerusalem vornehmen, ist Teil einer umfassenden Neubegründung der Gesellschaftswissenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts: »Kultur« wird als Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften, expressis verbis der Kultursoziologie, etabliert. Die Wissenssoziologie ist damit selbst eine Folge der methodologischen und lebensphilosophischen Erneuerung der Wissenschaften vom Menschen als gesellschaftlichem und kulturellem Wesen, wie sie vor allem von Wilhelm Dilthey, Georg Simmel und Heinrich Rickert philosophisch vorbereitet wurde. Dilthey und Simmel sind auf der Suche nach der einheitlichen methodologischen Grundlage und dem verbindenden Gegenstand der »Geisteswissenschaften«. Ersterer setzt an die Stelle des Volkes den Einzelmenschen als Objekt der Gesellschaftsgeschichte: »Die Analysis findet in den Lebenseinheiten, den psycho-physischen Individuis die Elemente, aus welchen Gesellschaft und Geschichte sich aufbauen, und das Studium dieser Lebenseinheiten bildet die am meisten fundamentale Gruppe von Wissenschaften des Geistes.«433 Indem Dilthey die »Generalisierungswuth« der positivistischen Gesellschaftswissenschaften in England (Mill) und Frankreich (Comte) zurückweist, bestimmt er den Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften und den naturalistischen Gesellschaftstheorien seiner Zeit. Aus Sicht Diltheys kann der Mensch zwar Naturphänomene rational erklären, die Natursphäre ist dem Menschen jedoch prinzipiell unverstehbar, da sie außerhalb seines eignen Erfahrungsbereiches liege. Die »Thatbestände der Gesellschaft« dagegen seien dem Menschen von innen her verständlich, die soziale Welt sei uns im »natürlichen Auffassen« gegeben, während uns die Natur fremd bleibe. Der Mensch in der Totalität seines Lebenszusammenhanges sei daher nicht naturalistisch in seinem Handeln und Denken verstehbar, sondern nur in seinem Geschichts- und Kulturzusammenhang. Das Verstehen der Kultur- und Geschichtssphäre sei dabei ein explizit irrationales Verfahren, da das Leben selbst irrational sei.434 Entsprechend ist auch für Georg Simmel die Einzigartigkeit des Individuums die Voraussetzung für sein Vergesellschaftetsein; sie ist ebenso die Vorbedingung der Möglichkeit von Geschichtsforschung, denn der einzelne 432 | Vgl. Scheler 1960a, 124, 162-185; Scheler 1960b, 193-211, 257; Scheler 1968, 103. Vgl. Good 1998, 33f.; 135-152. 433 | Dilthey 1883, 35. Vgl. hierzu auch Gephart 1998, 72. 434 | Vgl. Dilthey 1883, 29-52; Gephart 1998, 72ff.
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Historiker müsse die Einzigartigkeit geschichtlicher Ereignisse und Personen psychologisch erst durchdringen können: »Denn jedes Nachbilden und jedes Verstehen eines psychologischen Objektes bedeutet, daß der Verstehende eben den seelischen Vorgang in sich zum Ablauf bringt, in dessen Erkenntnis er sich versenkt…»435 Als universalgeschichtliche Betrachtung folgt aus diesen lebensphilosophischen Voraussetzungen die 1912 erstmals von Alfred Weber vorgenommene Scheidung zwischen dem Zivilisationsprozess und der Kulturbewegung. Denn nur wenn man den Bereich der Kultur als ein gegenüber den »naturalen Tatsachen des Lebens« verselbstständigten Bereich der »Gefühlsentladungen« betrachte, kann man laut Weber Kultur überhaupt erst als etwas Besonderes in eine soziale Beziehung zu diesen realen Zwängen setzen und damit die Berechtigung einer eigenen Kultursoziologie legitimieren.436 Die Konsequenzen dieses stark individualistischen und lebensphilosophischen Wissenschaftsverständnisses für die soziologische Analyse von Kultur und Religion werden noch deutlicher, wenn nun im Anschluss die Akteure des kultur- und wissenssoziologischen Erkenntnisprozesses betrachtet werden.
Erkenntnis, freischwebende Intelligenz und Masse Vor dem Hintergrund dieser den individuellen, verstehenden Beobachter voraussetzenden Erkenntnistheorie, ist es schlüssig, dass in der Wissenssoziologie Schelers und Mannheims den soziologischen Erkenntnisträgern eine besondere Rolle zukommt.437 Scheler verbindet seine Idee von der unveränderlichen Rangordnung der Werte, die selbst Ausdruck des ewigen Logos ist, mit dem Konzept des Lebensdranges, um auf der Basis einer Werte- und Wissenshierarchie eine Sozialhierarchie zu entwickeln. Das rein machtorientierte Herrschafts- und Leistungswissen des Politikers wie des Naturwissenschaftlers stehen an unterster Stelle, während im geistigen Wissen der Machttrieb dem Gefühl der Verwunderung über die göttliche Schöpfung weicht. Die höchste Wissensform des religiösen Heils- und Erlösungswissens zeichnet sich jedoch vor allen anderen durch die Überwindung aller weltlicher Bedingtheiten aus. Diese metaphysische Wesenserkenntnis ist laut 435 | Simmel 1905, 56. Vgl. hierzu auch Simmels »Exkurs über das Problem: ›Wie ist Gesellschaft möglich?‹« in Simmel 1908, 21-30; Gephart 1998, 79f. 436 | Zu Recht wurde Alfred Weber bspw. von Lukács vorgeworfen, dass diese lebensphilosophische Kultursoziologie empirisch weder realisierbar noch überprüfbar sei. Vgl. Lichtblau 1996, 473-479. Zur Auseinandersetzung zwischen Max Weber und Max Scheler vgl. a.a.O., 458-473. 437 | Anders der in Durkheimscher Tradition stehende Jerusalem: Sprache sei der »Kristallisationspunkt« sozialen Wissens und Erkennens und der normative Rahmen für individuelles und kollektives Handeln. Daher ist für Jerusalem nicht der Einzelne, sondern die Gesellschaft als Kollektiv das Erkenntnissubjekt.
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Scheler nur unter Ausschaltung des Dynamisch-Triebhaften, als eine geistige Askese, möglich. Die Ordnung sozialer Schichten der »Ober- und Unterklasse« entspricht Schelers Wissenshierarchie; Erstere ist durch die ungebundene Seinsbetrachtung charakterisiert, Letztere durch Realismus, Empirismus und die zweckorientierte Bewältigung der alltäglichen Lebenslagen.438 Jedoch ist nicht alles, was von außen betrachtet als religiös erscheint, gleichwertig: Scheler polarisiert hier stark zwischen der »zeitgenössischen Massenheilanstalt« der großen christlichen Kirchen und dem kontemplativ-mystischen Ideal des Mittelalters, das durch einen »Erfahrungskontakt ausgezeichneter Personen mit dem Heiligen selbst« geprägt sei. Dogmen und Lehrsätze seien hingegen erst das Ergebnis der Vermassung zur universalen Kirche, die zu einer Erstarrtheit des religiösen Bewusstseins geführt habe. Dieser elitären Logik ist daher auch Schelers Entwurf des »Weltalters des Ausgleichs« verpflichtet, in dem ein neuartiger Kosmopolitismus alle kulturellen, rassischen und sozialen Gegensätze überwinden werde. Dies sei nämlich zunächst ein Gespräch der geistigen Eliten, der Geistaristokratie der »Genies, Weisen und Heiligen«. Trotz vieler Unterschiede in der wissenssoziologischen Ausrichtung nimmt auch bei Karl Mannheim die christliche Mystik eine wichtige Stelle innerhalb seiner philosophischen und wissenssoziologischen Reflexionen ein. Die Mystik ist Ausgangspunkt seiner frühen philosophischen Schriften und der mystischkontemplativen Erfahrung wird auch in seinem demokratisch-geplanten Gesellschaftsentwurf des Spätwerkes Raum gegeben. Mystik sei die persönliche Einheitserfahrung des Menschen mit Gott und seinen Mitmenschen. Das »Wesentliche« dieser lebendigen Erfahrung gehe jedoch historisch in dem Prozess der abendländischen Rationalisierung und Objektivierung verloren. Die Gruppe der maßgeblichen, soziologischen Erkenntnisträger konstruiert Mannheim als eine von materiellen Interessen unberührte, »freischwebende Intelligenz«. Sie solle eine Führungs- und Planungsrolle in der Gesellschaft einnehmen, die die Partikularinteressen und -sichtweisen überwindet. Der Soziologe nimmt in diesem Zusammenhang die zentrale Stelle des Gesellschaftsanalytikers und des Planers ein, um laut Mannheims Spätwerk die Umsetzung christlicher Wertorientierungen in der sozialen Realität zu kontrollieren.439 Selbst bei Berger und Luckmann schimmert dieses Erkenntnisprivileg noch durch, wenn sie davon ausgehen, dass die Sinnwelt einer Wissenschaft sich von ihrer gesellschaftlichen Grundlage »ziemlich unabhängig« machen könne.440
438 | Werner Stark knüpft in diesem Punkt insofern an Scheler an, als dass er die religiöse Veranlagung des soziologischen Betrachters als Voraussetzung für eine verstehende Religionssoziologie erachtet. 439 | Vgl. Lichtblau 1996, 492-539. 440 | Berger & Luckmann 1994, 92.
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Berger und Luckmann – für Letzteren stellt sich heute das Problem des Einzeldaseins in der »Massengesellschaft« – kontrastieren schließlich die »Massenmedien« der Gegenwart als Botschafter des Hedonismus und Pluralismus mit den traditionellen, einheitsstiftenden Institutionen der Religion. Dieses Motiv, das die Medien in Konkurrenz zur Religion stellt, wird in der theologischen Kritik des »Massenmediums« Fernsehen fortgeführt.441 Interessanterweise ist der Antagonismus zwischen geistiger Elite und Masse, zwischen mystischer Erkenntnis und Massenreligion, nicht nur in den religionsbezogenen Überlegungen Max Schelers präsent, sondern auch die systematische Religionssoziologie Max Webers scheint durchgängig von diesen auch normativ folgenreichen Merkmalen geprägt zu sein, wenn er den »Massenerlösungsglauben« der »Intellektuellenreligion« gegenüberstellt. In seiner Analyse der sozialen Trägerschichten der Religionen nimmt Weber generell eine Entwicklung von mystischer und asketischer Originalität hin zu einer massentauglichen und dogmenorientierten Gemeindereligiösität an.442 Dieses religiöse Interesse der ökonomisch privilegierten (Bildungs-)Schichten verbindet Weber kausal mit der außerweltlich orientierten Erlösungssehnsucht: »… den Intellektualismus rein als solchen, speziell die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische und religiöse Fragen nicht durch materielle Not gedrängt wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können.«443 Es liegt nahe, zu vermuten, dass auch Webers Ausführungen – ähnlich dem Schelerschen Konzept einer Geistaristokratie – ein hierarchisch wertender Religionsbegriff zu Grunde liegt, was hier nur angedeutet werden kann. Zugespitzt könnte man formulieren, dass Weber kontrastierend zwischen einer diesseitigen, kult- und dogmenorientierten Massenreligiösität der kirchlichen »Gnadenanstalt« und einer metaphysisch oder mystischen Erlösungsreligiösität der privilegierten Intellektuellenschichten (»Virtuosen-Religiosität«) unterscheidet, die sich mit den Sinnfragen des Lebens befasst.444 Dass sich hinter diesen Ausführungen ein normativ wertendes Religionsverständnis verbirgt, machen Webers abfällige Bemerkungen über seine intellektuellen Zeitgenossen deutlich: »Und das etwas geschwätzige sogenannte ›religiöse‹ Interesse unserer deutschen Intellektuellenschichten in der Gegenwart hängt intim mit politischen Enttäuschungen und dadurch bedingter politischer Desinteressiertheit zusammen.«445 Und schärfer noch:
441 | Vgl. Abschnitt 4.7.2 Medienkritik und die Konstruktion der »Medienreligion«. 442 | Vgl. Weber 1980, 258f., 377f. 443 | Weber 1980, 304. 444 | Vgl. Weber 1980, 304-314; Weber 1988, 259f. 445 | Weber 1980, 307.
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D IE MEDIALE R ELIGION Das Bedürfnis des literarischen, akademisch-vornehmen oder auch Kaffeehausintellektualismus aber, in dem Inventar seiner Sensationsquellen und Diskussionsobjekte die »religiösen« Gefühle nicht zu vermissen, das Bedürfnis von Schriftstellern, Bücher über diese interessanten Problematiken zu schreiben, und das noch weit wirksamere von findigen Verlegern, solche Bücher zu verkaufen, vermögen zwar den Schein vorzutäuschen, ändern aber nichts daran, daß aus derartigen Bedürfnissen von Intellektuellen und ihrem Geplauder noch niemals eine neue Religion entstanden ist und daß die Mode diesen Gegenstand der Konversation und Publizistik, den sie aufgebracht hat, auch wieder beseitigen wird.446
Weber anerkennt das religiöse Interesse seiner Zeitgenossen nicht als solches, sondern hält es für einen vorgetäuschten Schein. Die vermeintlich »echte« Intellektuellenreligiösität findet sich jedenfalls in Webers zahllosen historischen Beispielen seiner Ausführungen zu Stände, Klassen und Religion – die Gegenwart wird im Angesicht der Religionsgeschichte devaluiert. Offenbar wehrt sich Weber gegen den Gedanken, dass echte Religiösität in seiner Gegenwart etwa durch die Vermittlung »findiger Verleger« und Schriftsteller verwirklicht und initiiert werden könne – und eben nicht nur durch das Wirken eines persönlich berufenen Charismaträgers, eines »Propheten«, wie dies sein weitgehend verallgemeinertes Entwicklungsmodell von Religionen vorsieht. Seine Gegenwart beschreibt er entsprechend als »gottferne prophetenlose Zeit«.447 Gemeinsam ist diesen Entwürfen eine privilegierte Stellung der Intelligenz im gesellschaftlichen Erkenntnisprozess, die unter den frühen Wissenssoziologen mehr oder weniger deutlich mit der Idealisierung mystischer Erkenntnis und der Herabsetzung der »Massenreligiösität« korreliert. Es gilt also im Folgenden die spezielle Verbindung von gesellschaftlicher Elite, Religion und Erkenntnis in ihrem Verhältnis zur »Masse« zu problematisieren. Bereits 1931 unternahm ein Schüler Max Schelers, der Bonner Privatdozent Paul Landsberg, den Versuch, diese elitäre Erkenntnistheorie philosophiegeschichtlich zu entschlüsseln.448 Er betrachtet insbesondere Schelers Wissenssoziologie als Kontinuität der platonischen Philosophie, die Erkenntnis nicht demokratisch als einen egalitär möglichen Akt des rationalen Erkennens auffasst, sondern eine Aristokratie ausgewählter Erkenntnissubjekte voraussetzt: Die platonische Erkenntnistheorie ist eine prinzipiell aristokratische Erkenntnistheorie, da sie, ausgehend von der Empedokleischen Lehre von der Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche, eine Seinsgebundenheit aller Erkenntnis annimmt. Alle Erkenntnis 446 | Weber 1980, 314. Mit den »findigen Verlegern« hat Max Weber vor allem Eugen Diederichs im Visier. Vgl. Radkau 2005, 740ff. 447 | Vgl. Weber 1980, 268-279; Weber 1973, 610. 448 | Vgl. Landsberg 1931; Stark 1960a, 35.
R ELIGION IN DER W ISSENSSOZIOLOGIE ist hier bedingt dadurch, daß im Erkennenden eine Zugeborenheit zum Erkenntnisgegenstand liegen muß, eine Seinsgleichheit, die für Aristoteles in der Erkenntnis selbst von der Potenz in den Akt übergeht. 449
Die Entstehung dieser privilegierten Erkenntnistheorie der platonischen Akademie führt Landsberg wissenssoziologisch auf die politische Entmachtung der Oberschicht im demokratischen Athen zurück, die um die Etablierung einer neuen Grundlage ihres Aristokratismus bemüht war. Philosophie könne aus dieser Sicht nur von dem von erwerbsmäßiger Arbeit befreiten Stadtadel betrieben werden, der über ausreichende Renten und Sklaven verfüge. Das demokratisch legitimierte »Stimmvolk« war demnach auch von der grundlegenden Staatsphilosophie ausgeschlossen: »Es ist unmöglich, daß die Menge philosophiert. Ihr fehlt die Gottes- und Ideenverwandtschaft.«450 Die Erkenntnis höherer Wahrheiten, das ist nach diesem Diktum klar, kann nur von den besonders begabten Menschen erfasst werden, die neben den normalen Sinnes- und Verstandesgaben noch ein – im religiösen Sinne – besonderes Charisma besitzen, wie die Philosophen. Die aristokratische Erkenntnistheorie macht sich nämlich gerade das … Postulat zu eigen, daß gerade die höchsten und wichtigsten Erkenntnisse die Schwersten seien und den höchsten Adel des Blutes oder des Geistes forderten, also ihrem Wesen nach nur ganz wenigen zugänglich sein könnten. Die Seltenheit des höheren Wertes bestimmt für Platon die Seltenheit derer, die ihn erkennen können. Nur wer des Gottes fähig ist, kann das Göttliche erkennen. 451
Landsberg sieht diese elitäre Erkenntnistheorie als Kontinuität von Wissensstrukturen der »primitiven« Gesellschaften, in denen der Schamane, Seher und später der Priester über geheimes, nur ihm zugängliches magisches Wissen verfügte.452 Dass die abwertende Haltung gegenüber der »Masse« neben diesem wichtigen philosophie- und religionsgeschichtlichen Aspekt für unsere soziologi449 | Landsberg 1931, 790. 450 | Landsberg 1931, 791. 451 | Landsberg 1931, 795. 452 | Vgl. Landsberg 1931, 791, 799f. Die aus einer spürbar konservativen Perspektive vorgenommene Aufarbeitung der Rolle der soziologischen Intellektuellen und ihrer sozialen Heilsentwürfe, die der Gehlen-Schüler Helmut Schelsky 1975 mit Die Arbeit tun die anderen vorlegte, kritisiert leider nur die Gesellschaftstheorie linker und (neo-) marxistischer Soziologen. Die Problematik der erkenntnistheoretischen Positionen Schelers, Mannheims, Alfred Webers etc. wird nicht thematisiert, diese Ansätze werden sogar wohlwollend gewürdigt. Vgl. Schelsky 1975, 103f., 122f.
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schen Denker noch eine nicht zu unterschätzende, politische Dimension innehat, wird spätestens deutlich, wenn wir Theodor Geigers Überlegungen zur »historischen Sendung der Masse« von 1926 einbeziehen. Aus sozialdemokratischer (und sozialistischer) Sicht ist die mit den Arbeitern gleichgesetzte Masse der Unterprivilegierten nämlich durchweg positiv konnotiert: »Der historische Wert der Masse ist abhängig vom historischen Wert der Revolution … Danach stellt die Revolution sich dar als eine historisch notwendige Erscheinung, deren Wesen die relativ unvermittelte Wiederherstellung des Gleichgewichtes von Wert und Gestalt ist.«453 Beide Aspekte – den philosophischen wie den politischen – führt schließlich der spanische Lebensphilosoph José Ortega y Gasset in seinem 1929 erschienenen Aufstand der Massen (La rebelión de las masas) zusammen.454 Ausgehend von vereinzelten Beobachtungen der »Überfüllung« von Straßenbahnen und Kinosälen entwickelt Ortega eine Beschreibung des nun vorherrschenden Menschentypus, dem modernen Massenmenschen. Die »Masse« hätte im Laufe des 19. Jahrhunderts alle Privilegien der geistigen Elite erobert, die von der Gleichheit vor dem Gesetz bis zum Anspruch auf ein eigenes Badezimmer reichen würden. Die Bequemlichkeit und »Natürlichkeit« der äußeren Lebensumstände hätte laut Ortega y Gasset jedoch dazu geführt, dass die Mittelmäßigkeit des Massenmenschen, der sich um nichts mehr in seinem Leben bemühen müsse, zum Ideal der Gesellschaft erhoben wurde: »Ein Wind allgemeiner, alles ergreifender Hanswursterei weht in Europa … Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist.«455 Der durchschnittliche Mensch sei auch nicht fähig, zu denken – er versuche lediglich, seine Triebe in »logischer Verkleidung« zu präsentieren. Ortega y Gassets Gesellschaftsanalyse gipfelt schließlich in der Annahme eines fundamentalen Konfliktes zwischen dem »edlen Menschen« der Elite und dem »Barbaren« der Masse:456 Bedeutet es nicht einen gewaltigen Fortschritt, wenn die Massen »Ideen« haben, das heißt gebildet sind? Ganz und gar nicht. Die »Ideen« dieses durchschnittlichen Menschen sind keine echten Ideen, noch ist ihr geistiger Besitz Bildung. Wer Ideen haben will, muß zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt … Es gibt keine Kultur, wenn es keine Prinzipien des bürgerlichen Rechts gibt … Wo dies 453 | Geiger 1967b, 163. Auch Heesch verweist auf die Ambivalenz des Massenbegriffes, einerseits als Auflösungsindiz der Gemeinschaft, andererseits als Übergangsstadium zur klassenlosen Gesellschaft. Vgl. Heesch 2002, Sp. 896. 454 | Die Lebensphilosophie von José Ortega y Gasset (1883-1955) ist stark von Husserl, Dilthey und Nietzsche beeinflusst. 455 | Ortega y Gasset 1932, 114, 15. 456 | Vgl. Ortega y Gasset 1932, 7-47, 72-81.
R ELIGION IN DER W ISSENSSOZIOLOGIE alles fehlt, gibt es keine Kultur; es herrscht im genauesten Sinn des Wortes Barbarei. Und Barbarei ist es, geben wir uns keinen Täuschungen hin, die dank der zunehmenden Aufsässigkeit der Massen in Europa anzubrechen droht. 457
Es ist evident, dass Ortega y Gasset in sehr zugespitzter Form eine Gesellschaftshierarchie von triebhaft gesteuerten Barbaren einerseits und einer geistig-asketischen Elite andererseits entwirft, Letztere fühle sich durch den Alleingeltungsanspruch der Massen und ihrer Durchschnittlichkeit dazu genötigt, ihren Macht- und Führungsanspruch neu zu formulieren.458 Stärker philosophisch als politisch folgt auch Schelers Werte- und Wissenshierarchie derselben Logik eines Privilegs höherer Erkenntnis für die geistige Elite. Wird sie bei Scheler metaphysisch-platonisch begründet, so führt Mannheim die besondere Erkenntnisqualität und den politischen Planungsanspruch der »freischwebenden Intelligenz« soziologisch auf die vermeintlich über allen Klasseninteressen stehende Perspektive ihrer Träger zurück. In seiner unverblümten Art kritisiert Theodor Geiger diesen erkenntnis- und gesellschaftstheoretischen Elitarismus: Sie [die Intelligenz: d. Verf.] ist geneigt, ihren eigenen Spiritualismus für eine höhere Form des Menschentums zu halten und einen geistesaristokratischen Standpunkt einzunehmen. Im Namen einer vermeintlichen historischen Mission der menschlichen Gesellschaft verlangt sie von der Allgemeinheit eine gewisse Ehrfurcht vor dem Geistigen, das ihr selbst heilig ist. 459
Das Ende der Gemeinschaft Ortega y Gasset wie auch alle weiteren lebensphilosophisch geprägten Wissenssoziologen verorten die Ursache der gegenwärtigen Notlage in einer Krise und Pluralisierung der Wertorientierungen. Diese Feststellung basiert auf der Annahme, dass vor der Reformation mit der Einheit der katholischen Kirche auch die Einheit eines alles umfassenden, sinnvollen Kosmos gegeben war, der die Welt noch nicht objektiviert und rationalisiert habe: The primitive for his part had a much simpler, a much more unsophisticated image of reality, but what he lacked in rationality, he gained in immediacy: he saw the world as it
457 | Ortega y Gasset 1932, 76f. 458 | Für Ortega y Gasset bedeutet dies, die von den faschistischen und bolschewistischen Massen getragenen Nationalismen der Gegenwart zu überwinden und in die Utopie eines geeinten europäischen Nationalstaates zu überführen. Vgl. Ortega y Gasset 1932, 136-205. 459 | Geiger 1949, 121.
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Wie wir bereits gesehen haben, verbindet Werner Stark seine historische Analyse mit einer unverhohlenen Kritik am Protestantismus und den von ihm verursachten Individualismus, denn Menschsein ist für ihn gleichgesetzt mit Gesellschaftswesensein: Das sei die ihm von Gott (»oder wem auch immer«) gegebene Daseinsaufgabe. Auch Scheler steht dieser Auffassung nahe. Berger vermisst im Protestantismus die Präsenz des Heiligen im Ritual. Mannheim fürchtet in diesem Zusammenhang, dass die moderne Gesellschaft an ihrer sozialen Ausdifferenzierung und dem Verlust »gemeinsamer Erlebniszusammenhänge« scheitern werde. Diese kritische Gegenwartsdiagnose setzt sich bei Berger und Luckmann in der Gegenüberstellung des »Heiligen Kosmos« vergangener Zeiten und der kollektiven Sinnkrise der Moderne fort. Der bloß flüchtige Verweis auf die Inquisition, den Investiturstreit, das Jahrhundert der Gegenpäpste, die Plünderung des christlichen Konstantinopel im vierten Kreuzzug, die Pluralität von Glaubensüberzeugungen im Mittelalter und die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit wird die faktische Unhaltbarkeit der These von einem ganzheitlichen, »sinnvollen Kosmos« zu Zeiten der Einheit der katholischen Kirche vor Beginn der Reformation belegen. Die jüngere religionswissenschaftliche Forschung, die sich bewusst von der Kirchengeschichte abgrenzt, hat geradezu als Merkmal der sogenannten europäischen Religionsgeschichte die Pluralität der religiösen Anschauungen herausgearbeitet, die seit dem Hellenismus in Konkurrenz zueinander stehen und die sich gleichzeitig auch gegenseitig befruchten.461 In den vorangegangenen Bemerkungen wurde bereits auf die einschlägige Rezeption von Ferdinand Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) verwiesen, die ohne Frage für Mannheim und Stark maßgeblich war. Für Tönnies sind ja nicht nur die wirtschaftlichen Sozialbeziehungen kennzeichnend für den Wandel von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, sondern die Gemeinschaft ist auch Gesinnungsgemeinschaft: »Gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung, als eigener Wille einer Gemeinschaft, ist das, was hier als Verständnis (consensus) begriffen werden soll.«462 In diesem von Tönnies geschaffenen und inzwischen zum Gemeingut avancierten, populären Interpretationsmuster der abendländischen Krise gilt Religion als sinnstiftende und die Menschen zu einer organischen Einheit zusammenschließende Instanz. Die Transformation zur modernen Gesellschaft hinterließ dann eine individualisierte, desintegrierte 460 | Stark 1960b, 95. Vgl. Stark 1960b, 93-95. 461 | Vgl. Waardenburg 1986, 189-198; Gladigow 2005d, 290-293; Broek & Hanegraaff 1998; Stuckrad 2007. Wegweisend insbesondere die Beiträge in Auffarth 2007. 462 | Tönnies 1922, 19. Vgl. auch a.a.O., 39-80, 123-143.
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und chaotische Sozialordnung. Was an ihrer Stelle in der säkularisierten Gesellschaft die sinnstiftende und integrierende Funktion erfüllen soll, war die große Frage der sozialwissenschaftlichen Religionstheorie der Jahrhundertwende.463 Das religiöse Moment dieses kulturpessimistischen Entwicklungsmodells jedoch ist spürbar auf Ernst Troeltsch zurückzuführen.464 Der Soziologe und evangelische Theologe zeichnet ein zunächst harmonisches Bild der mittelalterlichen Kirche: Die moderne Kultur ist, wenn wir auf ihren nächsten Zusammenhang sehen, hervorgegangen aus dem großen Zeitalter der kirchlichen Kultur, die auf dem Glauben an eine absolute und unmittelbare göttliche Offenbarung in der Erlösungs- und Erziehungsanstalt der Kirche beruhte. Nichts ist mit der Macht eines solchen Glaubens zu vergleichen, wenn der Glaube wirklich naturwüchsig und selbstverständlich ist. 465
Folgte in unmittelbarer Nähe zur Reformation noch eine Phase der altprotestantischen, universalen Kirchlichkeit des Luthertums und des Calvinismus, so dominierte gemäß Troeltsch gegen Ende des 17. Jahrhunderts der moderne Protestantismus, der auf der Anerkennung der Möglichkeit verschiedener religiöser Glaubensüberzeugungen nebeneinander beruhte. An die Stelle der allumfassenden göttlichen Offenbarung und dem Heilsanspruch der Kirche für alle Menschen trat nun der religiöse Individualismus mit seinen innerweltlich ausgerichteten Lebensordnungen – die religiöse Askese als Weltverneinung und Selbsterziehung sei damit aus der modernen Welt verschwunden.466 Die
463 | Vgl. Gebhardt 1994, 522. Nach Ansicht Winfried Gebhardts waren jedoch alle Gründerväter der Soziologie – Weber, Tönnies und Simmel – von dieser resignativen Rückwärtsgerichtetheit im Denken geprägt und das auch über die Religionsthematik hinaus. Vgl. Gebhardt 1994, 526f. 464 | Scheler setzt sich kontinuierlich mit Troeltschs Religionssoziologie auseinander, Mannheim studierte bei Troeltsch in Berlin und Stark benutzt die bewusst und plakativ vereinfachte, religiöse Individualisierungsthese Troeltschs, um seine Theorie vom Zerfall der (katholischen) Gemeinschaft aller Christen zu untermauern. Allerdings bewegen sich auch Tönnies Überlegungen zur Religionsproblematik stets in dem dynamischen Bezugsrahmen von Gemeinschaft und Gesellschaft, in dem dem Protestantismus eine zentrale Rolle zukommt. Vgl. Gebhardt 1994, 532. 465 | Troeltsch 2001, 208f. 466 | Winfried Gebhardt ist an dieser Stelle sogar der Ansicht, von einer latent vorhandenen Wertschätzung des sozial integrativen Katholizismus bei Tönnies und Weber sprechen zu können. Vgl. Gebhardt 1994, 526.
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moderne Kultur sei vernunftgeleitet und durch rationalistisch-wissenschaftliche Ideale bestimmt.467
Mystik und Erkenntnis Die Eigenständigkeit der Kultursphäre, die Stellung der privilegierten Erkenntnisträger und die religiöse Idealisierung des Mittelalters als Eigenarten der wissenssoziologischen Erkenntnis- und Kulturtheorie wird vervollständigt durch die besondere Rolle, die der Mystik und Kontemplation zugeschrieben wird. Mystik bildet gleichsam den Schlussstein der lebensphilosophisch ausgerichteten Wissenssoziologie.468 Die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie spricht an dieser Stelle auf einer breiteren, anthropologischen Basis von der Erfahrung der großen Transzendenzen.469 Für Scheler und Stark offenbart sich die Krise des Abendlandes im Verlust der mystischen Wesensschau, die dem vorindustriellen Menschen noch die Welterfahrung als ein Mysterium, als eine geheimnisvolle Gegebenheit ermöglichte. Diese Sichtweise sei durch die Innerweltlichkeit des zweckorientierten Weltbeherrschungsstrebens der Neuzeit verloren gegangen. Der religiöse Akt als Erkenntnis der absoluten Realität Gottes selbst ist für Scheler konstitutiv für das Mensch Sein und Person Sein – diese Gottesbeziehung ist dem Menschen jedoch nicht anthropologisch konstant gegeben, sondern muss durch den reli467 | Vgl. Troeltsch 2001, 208-232. In der jüngeren Forschung wird verstärkt darauf hingewiesen, dass Troeltsch mitnichten eine einfache Verknüpfung der Reformation mit dem Prozess der religiösen Individualisierung und Rationalisierung vertrat. Vielmehr war ihm die Vielschichtigkeit der Entwicklung bewusst und er hat sehr darum gerungen, hier überhaupt dominierende Strukturen zu identifizieren. Diese Ausdifferenzierung hatte jedoch keine spürbare Auswirkung auf die vereinfachende Troeltsch-Rezeption unter den hier behandelten Wissenssoziologen. Vgl. Graf 1984, 207-220; Fischer 1984, 57-69. 468 | Anders versteht Jerusalem in Anlehnung und Auseinandersetzung mit Comte und Durkheim unter Religion »eine Summe oder ein System von Glaubensvorstellungen und Kultgebräuchen, die einer organisierten Menschengruppe gemeinsam sind und für die Mitglieder dieser Gruppe autoritativen, bindenden Charakter an sich tragen.« (Jerusalem 1926, 10). Religiöses Wissen zeichne sich daher – ähnlich wie für Ludwig Gumplovicz – vor allem durch seinen moralisch-normativen Charakter aus. Daneben hat Religion laut Jerusalem auch eine erklärende Funktion für natürliche und soziale Phänomene, sie stellt sogar selbst den ersten Schritt einer Objektivierung der Umwelt dar, indem sie Ereignisse und Erfahrungen ursächlich bestimmten unsichtbaren Mächten zuschreibe! Vgl. Jerusalem 1924, 187-191; Jerusalem 1926, 3-15. 469 | Damit sind nicht unbedingt mystische oder genuin religiöse Erfahrungen gemeint, sondern auch Rausch, Tanz, Musik, Todesnähe können eine große Transzendenzerfahrung bedeuten. Vgl. Knoblauch 2009, 56-65.
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giösen Akt erst verwirklicht werden. Im Zentrum stehen für Scheler die religiösen Eigenakte der Versenkung. Die religiös-sozialen Akte, die sich im Kult und in den Ethosformen manifestieren, gehen aus dieser Gotteserkenntnis hervor und werden im liebenden Miteinander der Heilsgemeinschaft realisiert. Berger betrachtet ganz im Sinne der religionswissenschaftlichen Phänomenologie das Erleben des Heiligen als Ursprung der Religion. Auch für Luckmann wird – nun von einer anthropologischen statt metaphysischen Warte aus – das Person Sein an einen Erfahrungsakt gebunden, der den Anderen und die Gesellschaft als unmittelbare Wirklichkeiten transzendiert. Ein ähnliches Modell verfolgt auch Mannheim, wenn er in seiner Vision einer demokratischen Gesellschaft der monastischen Kontemplation einen geschützten Bereich einräumen will: Eine verbindliche christliche Werterziehung, die auf den Quellen religiöser Erfahrung in der monastisch-mystischen Askese wie in der religiösen und sozialen Gemeinschaft beruhe, ist seiner Ansicht nach das geeignete Mittel, um den schädlichen Wertepluralismus des Liberalismus zu überwinden. Selbst Wilhelm Jerusalem, der stets den kollektiven Charakter von Religion betont, rezipiert ein mystisches Ideal gelebter Religion, wenn er feststellt, dass Religion ein »geistiges Gebilde« sei, das »nur in seelischen Erlebnissen wirklich und wirksam wird«.470 Es ist Max Scheler, der die mystische Wesensschau ins Zentrum einer Ordnung der Wissenssphären stellt. Auf der Grundlage des vitalistischen Modells von Über- und Unterbau als Geist und Lebensdrang postuliert er eine kulturund zeitübergreifende, hierarchische Ordnung des Wissens: a) zunächst die Absolutsphäre des Wirklichen und Werthaften, des Heiligen; b) die Sphäre der Mitwelt, Gesellschaft und Geschichte; c) die Sphäre der Außenwelt, Innenwelt und des Leibes und seiner Umwelt; d) die Sphäre des als »lebendig« Vermeinten und e) die Sphäre der toten und als »tot« erscheinenden Körperwelt.471 Es kann hier nicht geklärt werden, inwieweit die Erfahrungsebenen von Transzendenz bei Schütz und Luckmann in Abhängigkeit zu den Schelerschen Wissenshierarchien stehen. Diese Aufgabe muss den soziologischen Wissenschaftshistorikern überlassen werden. Die Analogien zwischen erstens den großen Transzendenzen bei Schütz und Luckmann und Schelers Absolutheitssphäre, zweitens den mittleren Transzendenzen und Schelers Sphäre der Mitwelt und drittens den kleinen Transzendenzen der Sphäre der Selbsterfahrung sind jedoch augenfällig. Diese Erfahrungsebenen werden bei Schütz und Luckmann nicht in eine metaphysisch begründete Hierarchie eingeordnet, jedoch ist die Erfahrung der großen Transzendenzen sinnstiftend und maßgeblich für die Generierung 470 | Vgl. Jerusalem 1926, 11. Für Theodor Geiger allerdings entbehren die religiösen Gefühle wie auch die dogmatischen Aussagen der Theologie jeglicher empirisch nachprüfbarer Grundlage. 471 | Vgl. Scheler 1960a, 56.
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eines »Heiligen Kosmos«. Diese Parallelen der Schelerschen Wissenshierarchien mit den Ebenen von Transzendenzerfahrung bei Schütz und Luckmann sind vermutlich deshalb nicht zufällig, da beide stark von Husserls Phänomenologie beeinflusst sind. Luckmann beobachtet jedenfalls, dass sich die Inhalte der Religion in der Moderne von der Bewältigung der großen Transzendenzen zu den mittleren und vor allem kleinen Transzendenzen verlagert haben.472 Scheler und mit ihm die lebensphilosophische Wissenssoziologie rezipiert in unterschiedlichem Ausmaß eine bereits von Aristoteles skizzierte Idee der kontinuierlichen Seinsordnung aller Lebewesen in einer scala naturae, die mit der hierarchischen Ordnung des Wissens und der Erkenntnis korrespondiert.473 Unter Plotin wurde diese Hierarchie der Lebensformen konsequent systematisiert und auf den Maßstab ihrer Perfektion hin angeordnet. Das Absolute, das Göttliche, ist dabei in sich vollkommen und kann aus dieser Fülle heraus Neues erschaffen. Es bildet den Ursprung und den Gipfelpunkt dieser ebenfalls vollkommenen Seinsordnung der Lebewesen: Das Erste nämlich muss ein Einfaches, vor allen Dingen Liegendes sein, verschieden von allem, was nach ihm ist, für sich selbst seiend, nicht vermischt mit dem was von ihm stammt, und dabei doch in anderer Weise wieder fähig den andern Dingen beizuwohnen … Es muss aber nun das Zeugende im höchsten Range stehen, und das Gezeugte, welches nach ihm das zweite ist, besser sein als die übrigen Dinge. Wäre das Zeugende der Geist selber, so müßte es (das Gezeugte) mangelhafter als der Geist sein, immerhin aber ihm zunächst und ganz ähnlich … 474
Über spätantike Denker wie Macrobius (4. Jhd.) wurde die Idee der mit dem Göttlichen verbundenen Seinsordnung aller Lebewesen auch im Christentum rezipiert und bildete bis in die moderne Fortschrittsphilosophie und die Diskussion um die Evolutionstheorie hinein einen Referenzpunkt für die Frage nach der Stellung des Menschen in der Schöpfung.475 472 | Vgl. Luckmann 2002, 292. 473 | In seinen William James Lectures von 1933 in Harvard hatte der amerikanische Philosoph Arthur O. Lovejoy (1873-1964) die Ideengeschichte dieser Seinsordnung der Lebewesen/Great Chain of Being dargelegt. Vgl. hierzu Lovejoy 1964, 24-66. 474 | Plotin, Enneaden V 4, 2 u. 8 (Plotin 1930, 80-81). 475 | Im katholischen Verständnis thront Gott hier mit Jesus, Maria, den Erzengeln, den Cherubim und Seraphim in unwandelbarer geistiger Form über der Sphäre der Heiligen, auf die die Sphäre der Menschen, dann der Vögel, der Fische und der Landtiere folgt, zu unterst ist das Reich der Pflanzen und der unbelebten Materie; im Mittelalter schließt sich hier noch als Gegenpol zur göttlichen Sphäre das Höllenreich des Luzifer an. So bspw. in der Rhetorica Christiana (1579) von Didacus Valedes. Vgl. Lovejoy 1964, 67-98.
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Diese bis in die Neuzeit statische Idee der Seinsordnung war ein Spiegelbild der mittelalterlichen Ständegesellschaft, die als gottgegebene Ordnung des Menschen keine soziale Mobilität zuließ. Die augenfällige Analogie zwischen dem Absoluten des Neuplatonismus und der Selbststilisierung zur – von Geiger kritisch so genannten – »Geistesaristokratie« der soziologischen Zunft lässt in dem Konzept der »freischwebenden Intelligenz« noch eine weitere, metaphysische Nuance aufscheinen. In seiner »wissenssoziologischen Selbstkritik« der großen sozialtheoretischen Entwürfe hatte bereits Werner Stark auf das Bemühen Schelers verwiesen, in Zeiten des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs eine auf einer ewigen und unabdingbaren Wertordnung basierende Erkenntnistheorie zu etablieren.476 Freilich verteidigt Stark Scheler in diesem Zusammenhang: Dem phänomenologischen Ansatz gemäß versuchte Scheler lediglich, das Zufällige, d.h. das Lokale und Momentane, »auszuklammern« und das »Wesen« der Gesellschaft zu »schauen«. Zum Wesen der Gesellschaft als solchem, also zum Wesen jeder Gesellschaft, gehört es aber, daß die einenden Werte den trennenden Werten vorgezogen werden … Die Werte der sozialen Wohlfahrt, der Kultur und der Religion einen … die Liebe Gottes können alle genießen … 477
Entsprechend formuliert Karl Mannheim selbst das Verhältnis seines eigenen zum Schelerschen Ansatz: »Sie sind schlagwortmäßig folgendermaßen gegenüberstellbar: hier eine aus den Traditionen der Geschichtsphilosophie, dort eine aus den Traditionen einer statischen Metaphysik denkende Verarbeitung der Gegenwartsprobleme.«478 Für Max Scheler und Werner Stark bilden die Mystik und die Metaphysik die Grundlage für die höchste Wesens- und Wirklichkeitserkenntnis; sie sind gleichzeitig der Ursprung der ewigen Werteordnung, die der Einzelne im religiösen Akt erfahren kann – Metaphysik ist Wirklichkeitserkenntnis und Theorie absoluter Werte zugleich.479 Viele Aspekte dieser Schelerschen Wissenssoziologie basieren weitgehend auf platonischen und neuplatonischen Voraussetzungen und ihren Verbindungen mit der zeitgenössischen Lebensphilosophie. Insbesondere die platonische Methexis, die Teilhabe am Göttlichen, ist zentral für die Erkenntnistheorie Schelers und ihre Konsequenzen für die Wissenshierarchien, die sozialen Hierarchien einschließlich der besonderen Stellung der »Genies, Weisen und Heiligen« und der kulturpessimistischen Geschichtsdeutung. 476 | Vgl. Stark 1980, 314ff. 477 | Stark 1980, 314. 478 | Mannheim 1925, 364f. 479 | Vgl. Scheler 1960a, 87.
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Wenn auch Karl Mannheims Religionsverständnis insgesamt recht unspezifisch bleibt, so teilt er mit Scheler, Luckmann und Berger – so viel kann mit Sicherheit gesagt werden – die Annahme einer vergangenen (mittelalterlichen) Weltauffassung, die integrativ und irrational war und universale Gültigkeit hatte und die durch die kulturell-weltanschauliche Ausdifferenzierung und Rationalisierung der Neuzeit verloren ging. Zudem bewertet er in seinem Spätwerk die persönliche und die gemeinschaftliche religiöse Erfahrung hoffnungsvoll als Quelle gemeinsamer Erlebniszusammenhänge, die Gemeinschaft stiften könne.
2.4.2 Religion und Medien Das Verhältnis von Religion und Erkenntnis ist in den Entwürfen der deutschsprachigen Wissenssoziologie durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet, die spezifische epistemologische Konsequenzen implizieren. In der Wissenssoziologie – die in engem Verhältnis zur Kultursoziologie steht – wird unter lebensphilosophischen Vorzeichen der Bereich der Kulturphänomene als ein eigener Gegenstandsbereich der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften definiert. Dabei tritt die Wissenssoziologie resp. die Kultursoziologie mit dem Anspruch auf, die Totalität der Lebenszusammenhänge zu erfassen. Das intuitiv geleitete Verstehen erscheint zumindest Scheler und Stark als ein angemessenes Mittel, um die Kulturphänomene als unmittelbaren Ausdruck des Seelenlebens begreifen zu können. Die akademisch »freischwebende Intelligenz« bzw. die Geistaristokratie der metaphysisch oder religiös begabten Elite behält sich in diesem System gegenüber der »Masse« ein qualitatives Erkenntnisprivileg vor, das im Falle Schelers letztlich (neu-)platonisch begründet wird. Bei Schütz, Berger und Luckmann tritt diese für die klassische Wissenssoziologie zentrale Frage der wahren Welterkenntnis hinter der Analyse der Konstruktionen vom sinnhaften Aufbau der sozialen Welt zurück. Das handelnde Subjekt und seine Welterfahrung stehen im Zentrum der Betrachtung. Entwicklungsgeschichtlich wird die Wissenssoziologie als Krisenwissenschaft in den von Tönnies und Troeltsch geschaffenen Bezugsrahmen einer Transformation von Gemeinschaft zu Gesellschaft und der Auflösung einer einheitlichen, religiösen Sinnwelt eingeordnet – die Wissenssoziologie selbst dient der »Verarbeitung der Gegenwartsprobleme«. Mystik und Kontemplation als Erkenntnisakte nehmen für die klassischen Wissenssoziologen hierbei eine besondere Stellung ein. Für die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie ist die Erfahrung der großen Transzendenzen durch das Subjekt maßgeblich für die Konstitution von Sinn. Aus dieser fokussierten Darstellung der Wissenssoziologie, die sowohl bei Scheler als auch bei Mannheim, der mit Begeisterung ja bei Simmel und Bergson studierte, durch lebensphilosophische Grundannahmen geprägt ist, wird deutlich, dass sich Erkenntnis in dem hier skizzierten Rahmen stets auf unmittelbare Erfahrung bezieht. Gleiches gilt für die phänomenologisch orientierte
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Wissenssoziologie, denn sowohl Schütz in starker Anlehnung an Bergson als auch Berger und Luckmann (über Plessner) rezipieren lebensphilosophische Grundannahmen. Wahrheit ist demnach entweder das erkenntnismäßige Resultat einer gesellschaftlichen Transzendenz der Beobachter (Mannheim) oder sie ist das Ergebnis eines Erkenntnisaktes der übergesellschaftlichen, metaphysischen Transzendenz selbst mittels besonders begabter Erkenntnisträger (Scheler) oder sie ist das nur für den Einzelnen gültige Ergebnis subjektiver Erfahrungsakte des Selbst und seiner Umwelt (Schütz/Berger/Luckmann). Mannheim, Scheler und Stark und auch die späteren Wissenssoziologen problematisieren – soweit ich sehe – an keiner Stelle die Frage der indirekten Vermittlung von Wissensbeständen durch die Medien ihrer Zeit: »Das zentrale Problem jeder Wissenssoziologie und Ideologieforschung ist die Seinsgebundenheit allen Denkens und Erkennens.«480 Nicht also der sich aus heutiger Sicht natürlich aufdrängende, soziologische Blick auf den Zugang zu und die Gestaltung und Verbreitung von Medien und Medieninhalten ist im Visier der Wissenssoziologie, sondern der Zugang zur Wahrheit, zu den »Lebensströmen unserer Innenwelt«. Dieser aus der Lebensphilosophie in die Gesellschaftstheorie überführte Begriff des »Lebens« ist im Kern auf die Unmittelbarkeit und Totalität des Lebens und der Lebenserfahrungen hin angelegt, die Mannheim durch den Relationismus der Perspektiven, Scheler durch die Verbindung einer Trieb- und Geistlehre und Berger/Luckmann durch eine Anthropologie der Erfahrung einzufangen suchen. Die dem Gegenstand des Lebens angemessene Betrachtungsweise ist für die klassischen Wissenssoziologen denn auch eine intuitive Erfahrungshermeneutik, für die späteren Wissenssoziologen die gesprächsbasierte, qualitative Sozialforschung. Deutlich werden die Konsequenzen dieser lebensphilosophischen Epistemologie am Beispiel der Sprache. Mannheim und später Berger/Luckmann betonen die fundamentale Rolle der Sprache bei der Objektivierung und gemeinschaftlichen Welterkenntnis, denn die Sprache sei es, »die allein eine Dauervereinigung und Erweiterung des Erfahrungsraumes zuläßt«.481 Die Rolle von Medien marginalisiert Mannheim jedoch aus seiner lebensphilosophisch geprägten Perspektive: Mannheim möchte am Beispiel von Revolutionsreden zeigen, dass nur der konjunktive Erfahrungsraum des direkten Erlebens der gehaltenen Rede ein adäquates Verstehen ermöglichen würde. Eine bloße Lektüre der nachgedruckten Rede würde diese oftmals nur noch als »nichtssagend« und »unbedeutend« erscheinen lassen.482 480 | Mannheim 1984, 47. 481 | Mannheim 1980c, 216. 482 | Vgl. Mannheim 1980c, 218f. Die Fälschungen der bewussten Propaganda hält Mannheim für stets entlarvbar und vermeidbar. Vgl. Mannheim 1980c, 306.
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Von einem metaphysischen Standpunkt aus geht Schelers Kritik an der Sprache als Vermittlerin von Erfahrung noch weiter: Scheler konstatiert, dass jede Wissensart ihre eigene Sprache produziert, abgesehen jedoch von der Mystik, die eine geborene Gegnerin der Sprache und des formulierten Ausdrucks überhaupt sei. Von Plotin bis Bergson sei die Sprache nicht nur ein unzureichendes Darstellungsmittel des mystischen Gedankens, sondern sie sei darüber hinaus auch generell eine Täuschungs- und Irrtumsquelle, Schweigen verkörpere hier das Ideal des sanctum silentium.483 Die Klassiker der Wissenssoziologie wie auch die nachfolgende Generation marginalisieren oder ignorieren die Thematik der Medien vollkommen. Karl Mannheim ist in Heidelberg 1926 mit der Eingliederung des Instituts für Zeitungswissenschaft in die Heidelberger Universität konfrontiert und deutet diesen Prozess als eine Chance, die Wissenschaft näher an das Leben heranzuführen. Hier könnten sich die Ziele der Lebensphilosophie und der Soziologie der öffentlichen Meinung umsetzen lassen. Erkenntnistheoretische Fragen über die Darstellung und Rezeption von medialen Wirklichkeiten spricht Mannheim jedoch nicht an.484 Weder bei den Vordenkern der Wissenssoziologie wie Jerusalem und Gumplovicz noch bei Scheler oder späteren Denkern wie Stark, Berger und Luckmann finden sich reflektierte Ausführungen oder Stellungnahmen zur Medienfrage. Michael Schetsche und Hubert Knoblauch drängen allerdings in jüngster Zeit auf den theoretischen Einbezug der Medienfrage in die wissenssoziologische Gesellschaftsanalyse.485 Die Frage war also mehr als berechtigt, warum die Wissenssoziologie sich bislang nicht oder nur marginal 483 | Auch noch Soeffner problematisiert diesen Topos. Vgl. Scheler 1960a, 64; Soeffner 1994, 313. 484 | Vgl. Mannheim 1929b. Nur vereinzelt finden sich im Werk Mannheims noch Aussagen zu den neuen Massenmedien. So bemerkt er kritisch, dass Medien den Lügen und Verhüllungen politischer Parteien dienen und dass die so genannten »freien« Medien wie Hollywood, das private Radio und die Presse oft nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der demokratischen Kultur widerspiegeln würden, ansonsten jedoch ausschließlich ihrer kapitalistischen Interessenlage nachkämen. Vgl. Mannheim 1995, 228; Mannheim 1954, 105. 485 | Vgl. Schetsche 2000, 99-105; Knoblauch 2005, 325-334. Nur in vereinzelten Bemerkungen, die nicht in den größeren wissenssoziologischen Entwurf eingebunden werden, beziehen die hier vorgestellten Theoretiker sich überhaupt auf die Rolle von Medien. Mannheim verweist auf die Brückenfunktion des kulturell geschaffenen »Werkes«. Auch Berger und Luckmann betonen, dass die Analyse der Krisenhaftigkeit von Sinnproduktion unbedingt die Untersuchung von Massenkommunikation einschließen müsse, die in Nachrichtensendungen, in der Werbung, im Kriminalfilm wie auch im politischen Kommentar durchweg moralisch besetzt sei. Vgl. Mannheim 1918b, 66-67; Mannheim 1919a, 227-231; Berger & Luckmann 1996, 74f.
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mit der Vermittlung, Verteilung und Rezeption von sozialen Wissensbeständen durch Medien befasst hat. Die Antwort liegt – wie die detaillierte Diskussion der wissenssoziologischen Ansätze gezeigt haben mag – in der lebensphilosophischen Grundlegung der Wissenssoziologie im 20. Jahrhundert. Wissen über die Welt und die Konstruktion von sozialer Wirklichkeit basiert demnach auf der unmittelbaren Erfahrung der natürlichen und sozialen Umwelt des Einzelnen. Welterfahrung und soziale Erfahrung des Anderen werden in diesem Rahmen als unmittelbare Erfahrung konzipiert. Der Sprache wird zwar eine objektivierende Funktion zugestanden, die die Erfahrungen des Einzelnen im Sinne der intersubjektiven Ordnung der Wirklichkeit strukturiert. Die Rolle der nur medial verfügbaren Erfahrungen Dritter bleibt jedoch unbeantwortet. In Hinblick auf den Religionsbegriff verschärft sich diese erkenntnistheoretische Problematik. Scheler (und mit ihm Stark) wie auch Mannheim und Berger positionieren im Zentrum und als Ursprung von Religion das Teilhaben bzw. das Erleben an »absoluter« bzw. »numinoser Wirklichkeit« – Scheler und Berger beziehen sich in diesem Zusammenhang explizit auf Rudolf Ottos, an Schleiermacher angelehnten, erfahrungsorientierten Begriff des »Heiligen« und Scheler nimmt auch Joachim Wach wahr. In dem funktionalistischen Ansatz von Schütz und Luckmann hat die Religion die Aufgabe, die Erfahrung großer Transzendenzen zu bewältigen und zu vergesellschaften. Das, was Religion (und Metaphysik) im Kern ausmacht, könne also nicht medial vermittelt werden, sondern beruhe auf unmittelbarer Erfahrung. Das Problem der Wissenssoziologie mit der Thematik von Religion und Medien besteht in der erkenntnistheoretisch angelegten Spannung zwischen unmittelbarer Erfahrung des »Heiligen« bzw. großer Transzendenzen und der Unmöglichkeit der Vermittlung dieser Erfahrungen. Wenn sich Definitionen Peter L. Berger zufolge dadurch auszeichnen, dass sie mehr oder weniger brauchbar seien, so muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich das Religionsverständnis der klassischen und phänomenologischen Wissenssoziologie und auch noch Soeffners Religionsbegriff nicht besonders gut dazu eignen, diejenigen Aspekte von Religion »einzufangen«, die nicht mit dem Erleben »heiliger Wirklichkeit« in Verbindung stehen. Das gesamte Feld der medialen Vermittlung von religiösem Wissen und der Nutzung von Medien durch die institutionalisierten, historischen wie gegenwärtigen Sozialformen der Religion wird an den Rand gedrängt. Der pejorative Gebrauch der Kategorie der »Masse« bzw. der »Massenmedien« erschwert zudem den Zugang zu medialen Aspekten der heutigen Religionen.486 486 | Dieser erfahrungsorientierte Religionsbegriff hat natürlich abgesehen von der Medienproblematik auch noch weitere Konsequenzen für die wissenssoziologische Religionsforschung. Die wirtschaftlichen Aspekte religiöser Gemeinschaftsbildung und re-
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Was durch diesen erfahrungsbasierten Religionsbegriff verloren geht, ist schlicht die systematische Erforschung eines Großteils der Produktion, Verteilung und Rezeption von sozialen Wissensbeständen über Religionen. Ein weiterer Definitionsversuch von Religion würde die Gefahr bergen, wiederum ein Zentrum und eine Peripherie von Merkmalen zu konstituieren. Wenn jedoch davon ausgegangen werden kann, dass religiöses Wissen nicht nur auf der eigenen Erfahrung des Individuums und den vis-à-vis vermittelten Wissensbeständen beruht, sondern hier traditionelle und technische Text- und Bildmedien sowie auch Akteure in audiovisuellen Medien als Vermittler von religiösem Wissen auftreten, so können diese komplexen Prozesse auch erfasst werden. Die Medien gehören zur institutionellen Organisation einer Gesellschaft und müssen daher Untersuchungsgegenstand der Wissenssoziologie sein. So hat die Produktion von traditionellen Text- und Bildmedien genauso eine ökonomische Dimension wie religiöse Fernsehprogramme: Erstere bilden seit dem ägyptischen Altertum eine wichtige Einnahmequelle in den Pilgerzentren, Letztere richten ihre Programme bspw. in den Vereinigten Staaten mit Blick auf eine große Publikumswirksamkeit (und damit Spendenbereitschaft) aus. Unter dieser Perspektive hängt auch die Verteilung von religiösem Wissen von der Verfügbarkeit einer medialen und pädagogischen Infrastruktur ab. Gibt es einen funktionierenden Buchmarkt und öffentliche Bibliotheken? Wie sehen die Mediengewohnheiten in einer ausgewählten historischen oder gegenwärtigen Gesellschaft aus? Ist überhaupt die Voraussetzung für die Nutzung von textbasierten Medien gegeben, also wie groß ist die Alphabetisierungsrate? Welche sozialstrukturellen Effekte sind in Bezug auf die Mediennutzung zu berücksichtigen: In welchem Ausmaß ist die Nutzung von Medien mit Kosten verbunden und schließt damit Teile der Bevölkerung aus (wie z.B. Kino in manchen Entwicklungsländern ein reines Oberklassenphänomen ist)? Welche Effekte hat die sozialstrukturell bedingte Verteilung von Bildungschancen wiederum für die Mediennutzung? Zum dritten stellt sich die Frage der Rezeption von religiösem Wissen, bei der durchaus die Methoden der qualitativen Sozialforschung, insbesondere das biografische Interview, zur Geltung kommen können. Auf welche Weise werden medial vermittelte Wissensbestände von den Rezipienten wahrgenommen und in eigenem Handeln umgesetzt? Gibt es vortheoretische Haltungen und Einstellungen gegenüber bestimmten Medien, die die Rezeption der Inhalte bedingen? Mit den religionsbezogenen, wissenschaftlich-theoretischen Einstellungen setzt sich die vorliegende Studie auseinander. Werden religiöse Wisligiösen Handelns werden damit in die Peripherie abgedrängt, obwohl schon Max Weber eindrücklich gezeigt hat, dass jeder religiöse Institutionalisierungsprozess die Frage nach der Finanzierung der religiösen Spezialisten und des Kultbetriebes aufwirft. Vgl. Weber 1980, 144f.
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sensbestände von den Rezipienten überhaupt als solche wahrgenommen? Und umgekehrt: Werden profane Wissensbestände – etwa Elemente von fiktionalen Unterhaltungsprogrammen in Fernsehserien – neu in einen religiösen Kontext gesetzt? Haben die rezipierten Wissensbestände wiederum einen Einfluss auf die aktive Gestaltung von öffentlichen Medienangeboten? Auch politische und juristische Dimensionen können einen starken Einfluss auf die Produktion, Verteilung und Rezeption von religiösem Wissen haben, man denke an religiöse und sittliche Zensurbestimmungen, die rechtliche Verfolgung der entsprechenden Verstöße und ggf. die Vernichtung der verbotenen Medienträger. All diese Fragen sind zu berücksichtigen, wenn man die Produktion, Verteilung und Rezeption religiöser Wissensbestände soziologisch beurteilen will. Menschen in modernen Gesellschaften haben mitnichten die »freie Wahl« aus einem unbegrenzten Sortiment mehr oder weniger religiöser Sinnangebote, wie dies Berger und Luckmann mitunter annehmen. Die Produktion von religiösem Wissen und der Zugang zu religiösem Wissen sind weitgehend durch komplexe Strukturen der Medieninstitutionen bestimmt. Die Verfügbarkeit dieser spezifischen Wissensbestände ist nicht »frei«, sondern durch diese ökonomischen, politischen, juristischen und natürlich auch religiösen Bedingungen strukturiert.487 Für Knoblauch stellen marktkonforme Medien in seinem neuesten Theorieentwurf den Motor für die Verbreitung der spätmodernen, populären Religion dar und verändern die Formen ihrer Präsentation und ihre inneren Strukturen.488 Neuere Ansätze der wissenssoziologischen Medienforschung, vor allem von Ruth Ayaß und Angela Keppler, gelingt es, »Medienerfahrungen« in das phänomenologische Programm einzugliedern. Medienerfahrungen sind Alltagserfahrungen, die eine bestimmte Form der Aneignung medialer Präsentationen erfordern. Sie ermöglichen eine Teilhabe an kulturellen, sozialen oder religiösen Orientierungen, die jedoch erst Kontext des individuellen Lebensvollzuges eine eigene Bedeutung erlangen (oder auch nicht): Denn nur als Teil eines allgemeineren, mittelbares wie unmittelbares Erleben einschließenden, an vergangene wie künftige Situationen der unmittelbaren wie der mittelbaren Erfahrung anschließenden Erfahrungsprozesses ist die mediale Erfahrung sinnvoll – und nur so ist sie möglich. 489
Unter diesen Vorzeichen kann die seit Schleiermacher etablierte Hierarchie religiöser Erfahrungen, die ihre Spuren über Wach, Berger, Luckmann bis hin 487 | Vgl. Knoblauch 2007, 163f. 488 | Vgl. Knoblauch 2007, 164-168. 489 | Keppler 1999, 188. Vgl. a.a.O., 187ff.
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zu Soeffner und Knoblauch in der religionssoziologischen Theorie hinterlassen hat, gebrochen werden. Sogar gerade dank der Ansätze der soziologischen Phänomenologie von Schütz und Luckmann und der jüngeren wissenssoziologischen Hermeneutik ist das Argument plausibel, dass Religion nicht nur außeralltägliche Erfahrung ist oder nur auf dieser basiert, sondern dass Religion in vielfacher Form einen Teil der sozialen Lebenswelt darstellt.
3 Mediengeschichte als Religionsgeschichte 3.1 V ORÜBERLEGUNGEN Alles, was wir über historische Religionen wissen, haben wir über Medien erfahren. Anders als noch Gustav Mensching in Anklang an die media salutis von Jesus, dem »heiligen Wort« und der »heiligen Schrift« in einem quasi-soteriologischen Sinne redete,1 sind hiermit Text- und Bildmedien gemeint. Peter Bräunlein und Jörg Rüpke ist die eingängige Formel von der »Religionsgeschichte als Mediengeschichte« zu verdanken und sie verspricht in der Tat, dass die Erforschung historischer Religionen durch den Einbezug medienwissenschaftlicher Fragestellungen, Theorien, Methoden und Erkenntnisse jetzt neue Perspektiven entwickeln kann.2 Dass natürlich auch die gegenwartsorientierte Erforschung der Religionen deren mediale Vermittlung und Präsentation berücksichtigen muss, bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Will man jedoch neben der bloßen Aneinanderreihung von geschichtlichen Fakten über die religiöse Nutzung von Medien das Feld wissenssoziologisch erschließen, so muss das Motto lauten, Mediengeschichte als Religionsgeschichte zu betrachten. Neben und vor dem praktischen Gebrauch einzelner Medien stehen emische Deutungsmuster über den Status des Mediums im Verhältnis zur menschlichen und göttlichen oder wie auch immer transzendenten Wirklichkeit. Dies soll das modifizierte Diktum McLuhans the medium is a message ausdrücken. Ein bestimmtes Medium hat also keine konstante und überzeitliche Bedeutung, sondern je nach religiöser und sozialer Konstellation können diese Annahmen sehr unterschiedlich ausfallen – man denke bspw. an die Zentralität der Bibel bei den englischen Puritanern des 17. Jahrhunderts und an die radikale Kritik dieser Schriftverehrung durch George Fox, dem Begründer der Quäker, in demselben sozialhistorischen Gefüge.3 Diese jeweilige message gilt es zu erfassen.
1 | Vgl. Mensching 1962, 207-221. 2 | Vgl. Bräunlein 2004, 325; Rüpke 2007, 36. 3 | Vgl. Krüger 2007b, 110f.
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Wenn man den Satz ernst nimmt, Mediengeschichte als Religionsgeschichte zu betreiben, dann bedeutet dies zweitens aber auch, dass diese Ideen über Medien auch Einfluss auf die (religions-)wissenschaftliche Erforschung der Medien haben. Die Religionswissenschaft – so wie sie sich in Mitteleuropa und Skandinavien herausgebildet hat – ist Teil der europäischen Religionsgeschichte. Nicht nur das große Konzept der »Religion« ist das Ergebnis eines langen Prozesses, der von genuin christlichen Deutungsmustern geformt wurde (so sehr sich auch die Philosophie der Aufklärung und die modernen Wissenschaften um Emanzipation bemüht haben),4 sondern auch typologische Entwürfe mit kleinerer Reichweite, wie etwa »Priester«, »Mystik« oder »Sekte«, sind in ihren epistemologischen und ferner methodischen Folgeentscheidungen nicht unproblematisch. Es wäre naiv anzunehmen, dieses würde nicht auch für traditionelle Medien wie Bücher und Bildwerke oder aber elektronische Medien wie Fernsehen und Internet gelten. Der anfängliche Verweis auf Gustav Menschings Universalisierung eines heilsgeschichtlichen Medienverständnisses auf textliche Phänomene zeigt eindrücklich, wie nah beieinander theologische Deutungsmuster und analytische Kategorien der religionswissenschaftlichen Forschung liegen können. Der Schnittpunkt zwischen diesen religiösen, meist christlich-theologischen und seltener philosophischen Theorien über Medien und ihren Konsequenzen für den wissenschaftlichen Umgang mit eben diesen Medien soll Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung sein. Die Spannung zwischen bildlicher und textlicher Überlieferung von Religionen wurde seit den 1980er Jahren als epistemologisches Problem der Religionswissenschaft erkannt. Geprägt durch ein lutherisches Ideal der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung durch die deutende Arbeit an Texten gerieten andere Medien in den Hintergrund: Das verbindet Theologen, Phänomenologen und eine bestimmte Gruppe von Philologen zu einer merkwürdigen Allianz: Eine Abneigung, Religion im Blick auf die unterschiedlichen Träger der Religion und ihren Kultus zu interpretieren. Statt dessen wird das religiöse Erlebnis im Text oder am Text gesucht, für die großen Götter zumindest muß man ›warm empfinden‹ (Wilamowitz), muß man den Glauben an sie in seinem Herzen nachschaffen (Frickenhaus), wobei immer die Sprache den ›vermittelnden Zugang zu dem zentralen Ereignis der Religionen‹ (Ratschow) geben soll. 5
Mit einer Reihe von Tagungen, Publikationen und dem Jahrbuch Visible Religion (1982-1990) wollten Hans G. Kippenberg und seine Mitstreiter der Dominanz der Philologien in der Religionswissenschaft entgegenwirken. Entscheidende 4 | Vgl. im Überblick dazu: Ahn 1997c (Bibl.); kritisch zur Anwendbarkeit eines universalen Religionsbegriffes: Cantwell Smith 1962. 5 | Gladigow 2005c, 282.
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Impulse sind hier der Kunstgeschichte zu verdanken, namentlich hat Hans Belting die Wende von einer Wirkungsästhetik, die in der herkömmlichen Kunstgeschichte nach den vom Bild ausgehenden Wirkungsprozessen fragte, hin zu einer Rezeptionsästhetik oder Bild-Anthropologie eingeleitet, die nach Bildpraxis und Rezeption fragt.6 Nach den bereits etablierten Forschungsfeldern antiker Bildwerke (Plastik, Relief, Malerei, Mosaik, Numismatik, Miniaturkunst)7 wird nun auch den populären Verbreitungsmedien wie Postern, Plakaten, Postkarten, Werbefotografien für religiöse Gemeinschaften, Illustrationen von Erbauungsliteratur etc. verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt.8 Jedoch fragt angesichts der oft nur punktuellen Erkundungen des Feldes und ohne, dass bisher weder ein adäquater methodischer Apparat noch ein elaborierter theoretischer Zugang für die Religionswissenschaft entwickelt wurde, Christoph Uehlinger in seinem wissenschaftsgeschichtlichen Resümee kritisch, ob die programmatische Revolution der visible religion nicht bloß ein »Strohfeuer« gewesen sei.9
6 | Wegweisend sind hier Beltings Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst (1990), Bild-Anthropologie (2001) und Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen (2005). Bemerkenswerte religionswissenschaftliche Beiträge finden sich in der von Richard Faber und Volkhard Krech edierten Anthologie Kunst und Religion (1999). 7 | Die Vielfalt europäisch-antiker und teils vorderasiatischer Bildwerke ist bereits detailliert enzyklopädisch aufbereitet im Lexicon iconographicum mythologiae classicae (1981-2009). Und die Freiburger Schule um Othmar Keel hat in den vergangenen Jahren sehr darauf gedrängt, auch die antiken Bildwerke und ihre tausendfachen Verbreitungsmittel (Siegel, Gemmen, Amulette) als Medien der Massenkommunikation zu begreifen (vgl. Uehlinger 2000, S. XV-XXI; Dokumentation in Keel & Uehlinger 1996). Weitgehend ignoriert wurde in der Religionswissenschaft bisher die Bedeutung von Münzen mit religiösen Motiven, die einerseits Dokument für längst zerstörte Großplastiken wie das Zeus-Bildnis von Olympia sind und andererseits auch zur Popularisierung antiker Heiligtümer und Gottheiten beigetragen haben. Die religionspolitische Dimension der vergöttlichten Herrscherportraits seit dem Hellenismus bildet wieder ein besonderes Feld. Eindrücklich sind hierbei auch die ikonografischen Austauschprozesse zwischen griechischen, ägyptischen, hinduistischen und buddhistischen Münzmotiven der indogriechischen Königreiche des Hellenismus. Zur religionspolitischen Numismatik vgl. Bergmann 1998; Smith 1988; Wick 2008, 34-49. 8 | Die Vielfalt populärer religiöser Bilder zeigen Morgan 1999, 2005, Beinhauer-Köhler et al. 2010; zum Schweizer Wallfahrtsort Einsiedeln: Senti 2003, 122-153; zu populären indischen Götterbildern: Beckerlegge 2001b, 64-105. 9 | Uehlinger plädiert nachdrücklich für eine Wiederaufnahme des Programmes der visible religion, die als religionsästhetische Fragestellung den verschiedenen »Blickkul-
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Die Problematik des Bildes in der christlichen Religionsgeschichte und der religionswissenschaftlichen Forschung wird uns noch im Zusammenhang mit Spielfilmen beschäftigen. An dieser Stelle soll am religionshistorisch orientierten Beispiel der Konzepte von »Heiligen Schriften« und der »Buchreligion« demonstriert werden, was eine wissenssoziologische Spiegelung medientheoretischer Ansätze leisten kann. In der Folge wird dieser Vorgang auf die religionswissenschaftliche Diskussion über neue Medien von der Zeitschrift bis zum Internet angewendet, wobei den spezifischen historischen und theologischen Rahmenbedingungen der Medien Rechnung getragen wird.
3.2 D IE »H EILIGEN S CHRIF TEN « UND DIE »B UCHRELIGION « Die religionsgeschichtliche Forschung hat von Beginn an mit Text- und Bildmedien gearbeitet. Eine medienwissenschaftliche Perspektive, die nicht primär und rein pragmatisch an der Wiederherstellung einer religionshistorischen Faktenlage mithilfe möglichst vieler archäologischer und textlicher Quellen interessiert ist, ermöglicht nun eine systematische und epistemologische Reflexion über die offenbar vorhandenen, impliziten »Medientheorien« der bisherigen Religionsforschung – oder präziser: über die sehr eigenen »Medienpräferenzen« der Religionswissenschaft. Seit über 60 Jahren gibt es das Fernsehen, seit beinahe 90 Jahren die ersten Radioprogramme – wir reden also bereits über drei Forschergenerationen, und die religionswissenschaftliche Disziplin hat insbesondere im deutschsprachigen Raum bis dato nicht mehr als eine Handvoll Arbeiten zu diesen Erscheinungen hervorgebracht. Im Detail ist der zweite Teil dieser Abhandlung den elektronischen Medien gewidmet und hier wird sich zeigen, wie sehr die Zugänge zur Erforschung religiöser Aspekte des Fernsehens, des Films, des Radios und des Internet von religiösen und philosophischen Deutungsmustern geprägt sind. Mit Blick auf die jüngere wie ältere Religionsgeschichte stellt sich jedoch zunächst die systematische Frage, warum einige Medien derart im Zentrum der Religionswissenschaft stehen und andere wiederum marginalisiert oder ausgeblendet wurden oder unerhört blieben. Tatsächlich hat die Religionswissenschaft in ihrer 140-jährigen Geschichte aus der Vielzahl religiös genutzter Medien nur eines besonders hervorgehoben, zu einem universal anwendbaren Topos ausdefiniert und zum bestimmenden Kennzeichen eines eigenen Typus von Religion entwickelt: Die Rede ist vom Konzept der »Heiligen Schriften« und dem damit korrelierenden Typus der »Buchreligion«. Mit diesem Befund drängt sich die Frage auf, warum nur Büchern bzw. »Schriften« dieser besondere Status zugesprochen wurde und turen« religiöser und sozialer Milieus Rechnung tragen soll. Vgl. Uehlinger 2006, 165, 180ff.
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entsprechende Analogien wie etwa das »Heilige Bild« nur von vereinzelten Religionsphänomenologen aufgegriffen wurden. Überdies gilt es zu fragen, warum neben der »Buchreligion« nicht andere – auf den ersten Blick plausibel erscheinende und auf den zweiten Blick stets problematische – »Medientypen« von Religionen generiert wurden, wie etwa eine »Bildreligion«, eine »Münzreligion« oder ferner eine »Musikreligion« oder »Speisefestreligion«. Ohne Schwierigkeit ließen sich in allen religiösen Traditionen gute Argumente für oder gegen die Zuordnung zu dem einen oder anderen möglichen Typus von Religion finden. Warum also konnte die Konzeption der »Heiligen Schrift« und die Idee der »Buchreligion« in der Religionswissenschaft ein dermaßen großes Gewicht erlangen? In der Geschichtsschreibung der Disziplin wird die Fokussierung auf schriftliche Überlieferungen gemeinhin mit dem »philologischen Enthusiasmus« des 19. Jahrhunderts erklärt. Dieser war als Folge der Aufklärung und des Kolonialismus an einer möglichst vollständigen Erfassung des gesamten Wissens der Menschheit interessiert, teils um fremde Kulturen auch diskursiv und nicht nur politisch und ökonomisch zu beherrschen, teils um kritisch auch die Bedeutung des Christentums zu relativieren. Beginnend mit der Übersetzung des Zend-Avesta (1771) und der Upanishaden (1786) durch Abraham Anquetil-Duperron und über die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen (1822) durch Jean-François Champollion wird die akademische Religionswissenschaft gleichsam auf dem Fundament des Steins von Rosetta10 begründet und gipfelt in der monumentalen Edition der fünfzigbändigen Sacred Books of the East (1879-1910), die der vergleichende Sprachwissenschaftler Friedrich Max Müller initiiert und herausgegeben hatte.11 Die Fixierung auf schriftliche Zeugnisse der Religionen sei, so Bernhard Lang, eine Konsequenz der historisch geschulten Philologen, die maßgeblich am Entwurf der Vergleichenden Religionswissenschaft beteiligt waren.12 Aus wissenssoziologischer Perspektive fordert Thomas Luckmann eine vertiefte Reflektion über diesen Prozess der Konstruktion wissenschaftlicher Wirklichkeiten auf der ausschließlichen Grundlage von Texten
10 | Der Stein von Rosetta (196 v. Chr.) ist eine Trilingue in altgriechisch, demotisch und ägyptischen Hieroglyphen, die es Champollion ermöglichte, die Hieroglyphenschrift zu entziffern. 11 | Vgl. Klimkeit 2004, 31; Kippenberg 1997, 45-50, 60ff.; Rüpke 2005, 192-194; hierzu autobiografisch Müller 1902, 145-179. 12 | Vgl. Lang 1990, 144f. Natürlich haben sich Archäologen, Althistoriker, Ägyptologen und Ethnologen mit einer Vielfalt von historischen und ethnografischen Zeugnissen des religiösen Lebens auseinandergesetzt. An dieser Stelle jedoch gilt das Interesse den Problemen der akademischen Disziplin der (Vergleichenden) Religionswissenschaft und ihrer Vertreter.
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ein.13 Mit Blick auf das Werk Mircea Eliades spricht Burkhard Gladigow sogar von einer »Schreibtisch-Soteriologie«, denn der rumänische Religionswissenschaftler verfolgte eine auf der Divinationsgabe beruhende, »kreative Hermeneutik«, die es dem Leser ermöglichen sollte, die »Botschaften« der religiösen und religionswissenschaftlichen Texte zu »entziffern« und zu einer inneren Läuterung zu gelangen.14 Man könnte zugespitzt von einer »Selbstheiligung« der philologischen Wissenschaftler sprechen, indem »Heilige Schriften« zum Topos und »Buchreligion« zum Typus von Religion gemacht wurden.15 Ein weiterer, ebenso offensichtlicher Grund für die religionsgeschichtliche Fokussierung auf Texte mag in der protestantischen Sozialisation der meisten Religionswissenschaftler liegen, die dem lutherischen Diktum sola scriptura folgend dem Studium der (religiösen) Schrift(en) naturgemäß eine weitaus größere Wichtigkeit beimaßen als der Erforschung kultischer Handlungen oder der kunstgeschichtlichen Analyse von Bildwerken. Ulrich Vollmer weist auf den an sich erstaunlichen Umstand hin, dass sich unter den 23 Klassikern der Religionswissenschaft, die Axel Michaels in dem gleichnamigen Sammelband portraitieren ließ, nur ein Wissenschaftler (Wilhelm Schmidt) mit unzweifelhaft katholischem Hintergrund identifizieren lässt.16 Diese beiden Erklärungen der Dominanz philologisch begründeter Perspektiven in der religionswissenschaftlichen Analyse sind einleuchtend und an sich auch nicht in Zweifel zu ziehen. Wenn man jedoch Mediengeschichte als Religionsgeschichte ernsthaft betreiben möchte, wenn man also die Schichten religiöser Bedeutungsgehalte und ideologischer Implikationen der Konzepte von »Heiligen Schriften« und »Buchreligion« erschließen will, so muss man im Sinne der von Aleida und Jan Assmann initiierten Archäologie der literarischen Kommunikation Folgendes tun: tiefer graben. Viele der theologischen und historischen Diskurse des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die für die damaligen Religionsforscher von zentraler und grundlegender Bedeutung waren,
13 | Vgl. Luckmann 1981, 513-515. 14 | Vgl. Gladigow 2005c, 282. In seinem literarischen Werk spielt Eliade auch das Motiv der Suche nach der Ursprache durch und lässt in seinem Roman Jugend ohne Jugend (1976) die Geliebte des Helden in ekstatischen Anfällen in stets ältere Sprachschichten vordringen. Vgl. Eliade 2008, 126f. 15 | Diese forschungspragmatische Interpretation würde Max Müller sogar stützen, denn aus seiner Sicht gäbe es für den Religionsgeschichtler außerhalb der Buchreligionen »keine zuverlässigen und anerkannten Autoritäten«. Vgl. Müller 1876, 106-112. 16 | Zwei weitere Klassiker, Friedrich Heiler und Victor Turner, haben aufgrund besonderer biografischer Umstände ein sehr komplexes Verhältnis zum Katholizismus. Vgl. Michaels 2004; Vollmer 2009, 647.
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sind heute nur noch als Fußnote der Disziplingeschichte wahrnehmbar.17 Die Generierung des religionswissenschaftlichen Topos der »Heiligen Schriften« und des Typus der »Buchreligion« ist selbst schon das Ergebnis eines komplexen Diskurses innerhalb der europäischen Religions- und Geistesgeschichte, der die Frage nach dem Ursprung der Sprache und der Schrift thematisierte. Diese Fragen sind nicht innocent,18 sondern stellen in der Auseinandersetzung mit den neuzeitlich entdeckten, historischen und zeitgenössischen Kulturen der Welt Legitimationsstrategien der imperialen und christlichen Hegemonie und später auch der Autonomie kolonisierter Kulturen dar. Die Entscheidung über den Ursprung der Zivilisation – nichts anderes verbirgt sich hinter den Diskussionen über den Ursprung von Sprache und Schrift – hat daher weitreichende Implikationen für koloniale, nationale, rassische und religiöse Überlegenheitsansprüche und deren Durchsetzung.19 Das Ziel, einen Einblick in die tiefer liegenden kulturellen und religiösen Deutungsmuster zu gewinnen, die zur Generierung der wissenschaftlichen Konzepte von »Heiligen Schriften« und »Buchreligion« führten, soll in mehreren Schritten erreicht werden. Zur Orientierung ist es zunächst nötig, einige historische Aspekte zur Frage der Entstehung der Schrift und zur geschichtlichen Rolle von geschriebenen Texten, Büchern etc. zu skizzieren – dies ist in engerem Sinne Religionsgeschichte als Mediengeschichte, also die Erörterung der praktischen Rolle der Medien für die Religions- und Kulturgeschichte. Der zweite Schritt der Analyse ist hermeneutischer Natur und behandelt die religiösen bzw. (geschichts-)philosophischen Deutungsmuster, mit denen Sprache, Schrift, Bücher und schließlich »Heilige Schriften« ideologisch rezipiert werden. Hier wird die Rolle bestimmter Medienaspekte als Teil der Religionsgeschichte betrachtet, also Mediengeschichte als Religionsgeschichte betrieben. Eine besondere religiöse Relevanz besitzt in diesem Kontext die Frage einerseits nach dem Ursprung und andererseits nach der Wirkmächtigkeit von Sprache und Schrift, aus der sich letztlich die religiöse Vorstellung von der »Heiligkeit« des »Buches« oder einer umgrenzten Sammlung von Texten ableitet. Vor diesem historischen und ideologischen Hintergrund werden schließlich die religionswissenschaftlichen Konzepte der »Heiligen Schriften« und der »Buchreligion« kritisch reflektiert. Die Ausführungen werden dabei strikt auf die epistemologische Problematik hingeführt, wie sie sich für die religionswis17 | Vgl. Kippenberg & Stuckrad 2003, 28f.; Stolz 2001, 83. Hock bspw. thematisiert sogar eigens das Verhältnis von »Religionsgeschichte und Sprache«, unterlässt jedoch gänzlich eine epistemologische oder wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung dieser Beziehung, vgl. Hock 2006, 28-30. 18 | Mehr als das deutsche »unschuldig«, verfügt hier das englische innocent über die treffenden Konnotationen »arglos«, »gutartig«, »harmlos«, »naiv«, »ahnungslos«. 19 | Vgl. Said 2003, 4-9.
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senschaftliche Forschung im Rahmen eines christlich geprägten Begriffsapparates ergibt.20
3.2.1 Schrift, Text und Buch: eine Medienskizze Die Entwicklung der Schrift in der menschlichen Kultur stellt sich als ein langwieriger Prozess dar, der sich über mehrere Jahrtausende spannt und von ersten bildlichen und symbolischen Darstellungen (Höhlenmalerei, Steinritzungen) des Jungpaläolithikums über Protoschriften (Siegel, Besitzmarken)21 zur Ausbildung der frühesten Schriftsysteme im eigentlichen Sinne führte, nämlich der Hieroglyphenschrift im Alten Ägypten und der Keilschrift in Sumer als Silbenschriften mit jeweils mehreren Hundert Zeichen. Unterschieden wird hierbei zwischen den frühesten Ideogrammen (Wortzeichen) zu Beginn des 3. Jahrtausends, bei der die bildliche Darstellung der Wortbedeutung entspricht und deren Aussprache als bekannt vorausgesetzt wird. Aus diesen ursprünglichen Bildzeichen entwickelten sich die Phonogramme (Lautzeichen) und Determinative (Deutezeichen): Erstere stehen für die Kombination mehrerer Laute und Letztere sind stumme Zeichen, die zur eindeutigen Festlegung einer Wortbedeutung ergänzt werden. Das erste Alphabet entstand offenbar in Gebrauch von semitischen Arbeitern in Ägypten (1800 v. Chr.), aus dem sich in der Folge das 20 | Eine Gesamtdarstellung bspw. des Feldes von Religion, Schrift und Sprache ist hier weder beabsichtigt, noch kann sie an dieser Stelle bewältigt werden – schon vor über drei Jahrzehnten listete Gordon Hewes in seiner umfassenden Bibliografie über 11.000 Titel auf, die sich allein der Frage nach dem Ursprung der Sprache widmeten. Vgl. Hewes 1975. 21 | Völlig ungelöst ist bis heute die Frage nach der Schrift der Industalkultur (um 3000 v. Chr.?): Weder ist geklärt, ob es sich hierbei um Ideogramme oder Phonogramme handelt, noch welche Sprache ihr zugrunde liegt. Zur aktuellen Debatte vgl. Farmer et al. 2004, 19-26. Lebhaft ist auch die Kontroverse um die Vinča-Zeichen der südosteuropäischen Vinča-Kultur, die auf einen Zeitraum von 6000-4000 v. Chr. datiert werden. Zwar zeugen die über 1000 Funde von einem vielfältigen Satz an unterschiedlichen Zeichen, jedoch stehen die Zeichen meist alleine – die These einer »alteuropäischen Schrift«, wie sie prominent die Archäologin Marija Gimbutas formulierte, gilt als nicht überzeugend (vgl. Gimbutas 1974, 16-18; Winn 1981, 14-16). Haarmann hat diese These aufgegriffen und versucht nun Kontinuitäten zu Schriftfunden auf Kreta und Zypern zu belegen (vgl. Haarmann 1999, 49-86). Ähnlich problematisch ist die Annahme chinesischer Archäologen, dass die elf bekannten, auf Schildkrötenpanzern geritzten Zeichen der so genannten Jiagu-Schrift, die in den Zusammenhang der neolithischen Peilignang-Kultur (Henan) gestellt und auf 6600-6000 v. Chr. datiert werden, einen Vorläufer der 5000 Jahre jüngeren Orakelknochenschrift darstellen (vgl. Seiwert 1979, 25-28; Rincon 2003).
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proto-semitische Alphabet (1400 v. Chr.) und die altsüdarabische Konsonantenschrift (ca. 1200 v. Chr.) bildete. Über Abstrahierungen des proto-semitischen Alphabets entstand die phönizische Schrift, die bis ins 5. vorchristliche Jahrhundert für die Verschriftlichung des Aramäischen, Hebräischen und semitischer Sprachen im östlichen Mittelmeerraum und der arabischen Halbinsel verwendet wurde und aus der in der Folge ein Großteil aller heutigen alphabetischen Schriften hervorgingen (Runenschrift, Griechisch, Latein, Kyrillisch). In der Begeisterung des biblischen Archäologen Volkmar Fritz für die Durchsetzung des Alphabets in den semitischen Sprachen schimmert noch das Verlangen durch, den Ursprung des abendländischen Denkens identifizieren zu wollen: »In der genialen Vereinfachung der Schrift auf eine begrenzte Zahl von Lautzeichen liegt eine der großen Errungenschaften des menschlichen Geistes vor, die zur Grundlage der gesamten westlichen Kultur geworden ist.«22 Wohl unabhängig davon entstanden der indische Schriftenkreis als Weiterführungen der BrahmiSchrift (ab 3. Jhd. v. Chr.) in Devanagari, Bengali, Tibetisch usw.,23 in Altamerika die Schriften der Olmeken (ab 950 v. Chr.), Zapoteken (ab 500 v. Chr.) und Maya (ab 1. Jhd. v. Chr.)24 und die chinesische Schrift ab der Shang-Dynastie (ab 1200 v. Chr.).25 Die Verwendung der Schrift ist in allen Kulturen äußerst vielseitig, wenn auch der archäologische Befund nur sichere Schlüsse über beständige Materialien zulässt: Schrift, auch mit religiösem oder magischem Bezug, wird auf umfangreichen Textmedien wie Papyri (schon seit dem 4. Jahrtausend v. Chr.), Palmblattsammlungen oder Schriftrollen aus Leder oder Pergament aufgebracht; als Notizen auf Schreibtafeln in Holz und Wachs geritzt; als beständige Inschriften oder im Vorderen Orient auch als Textsammlungen in Stein gemeißelt; oder als Ausdruck einer hervorgehobenen Bedeutung bspw. von Verträgen und Urkunden auf Gold- und Silberblechen gestanzt. Meist nur kurze Inschriften als Verweis auf den Münzherren finden sich seit der Antike auf dem Münzgeld, diese Texte konnten im Falle der neuzeitlichen Sterbemünzen oder Begräbnismünzen jedoch auch mehrzeilige Kurzbiografien umfassen.26 22 | Fritz 1999, 437. 23 | Zur Geschichte der indischen Schriften vgl. Masika 1991. 24 | Auf der Grundlage des archäologischen Befunds wurde jüngst angezweifelt, ob nicht doch die Schrift der Maya älter wäre als die der Zapoteken und sich damit eine vollkommen neue Genealogie ergeben müsste. Vgl. Saturno & Stuart & Beltran 2006, 1281-1283. 25 | Diese ersten deutbaren Schriftzeichen aus der Shang-Zeit finden sich auf Orakelknochen, die zu Divinationszwecken eingesetzt wurden, vgl. Norman 1988, 64f.; allgemein zur Geschichte der Schrift vgl. Fritz 1999, 434-439; Robinson 1996, 68-113. 26 | Sterbemünzen wurden als Gedenk- oder Kurantmünzen in den deutschen Fürstentümern des 16-18. Jahrhundert geprägt. Vgl. Arnold 2001.
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Das Medium des Buches, wie es bis heute in gedruckter Form benutzt wird, ist eine Weiterentwicklung des Kodex, der als mit zwei Holzbrettchen umschlossener Stapel von Papyrus-, Pergament- und später Papierlagen die ältere Schriftrolle seit dem 4. Jahrhundert in Europa weitgehend verdrängte. Die revolutionäre Anordnungstechnik der Kodize konnte größere Textmengen auf weniger Raum und Gewicht verteilen, sie waren daher während der Verfolgungszeit der Frühchristen besser zu verstecken und platzsparender zu lagern. Als Referenzwerke in theologischen Kontroversen waren sie handhabbarer als die sperrigen Buchrollen. Beflügelt wurde die Produktion von Büchern und Texten seit dem 11. Jahrhundert vor allem durch die aus China importierte Erfindung des vergleichsweise günstig herzustellenden Papiers. Die dadurch mögliche Vergrößerung der Auflagenzahlen und der freie Zugang zu Büchern waren eine Vorbedingung für den Humanismus der Renaissance.27 Über die Verbreitung der Schreibkunst, über die Ausbildung eines Spezialistenapparates von Schreibern und über den Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung lassen sich kulturübergreifend und entwicklungsgeschichtlich keine allgemeingültigen Aussagen machen. In der ägyptischen und europäischen Antike bestanden bereits funktionsfähige Bildungseinrichtungen zumindest für privilegierte soziale Schichten und ein kommerzieller Buchmarkt. In den antiken Bildungszentren wurden biblische Schriften zunächst nur in privatem Rahmen kopiert oder verliehen, ab dem 4. Jahrhundert konnten Abschriften zu recht hohen Produktionskosten auch in kommerziellen Betrieben bestellt werden. Im europäischen Mittelalter sind das Bildungswesen und die Buchproduktion fast ausschließlich in kirchlicher Hand.28 Starke Impulse gingen hier seit dem 6. Jahrhundert von der insularen Buchkultur der Iren aus, nach deren Vorbild auf dem Festland zahlreiche Klöster mit Skriptorien gegründet wurden, wie in St. Gallen, in Freising und in Fulda. Unter Karl d. Gr. wurde die karolingische Minuskel als Einheitsschrift eingesetzt und die Arbeit der Skriptorien wurden unter den Karolingern direkt vom Kaiserhof gefördert. Die Reformorden der Zisterzienser und Kartäuser verliehen dem klösterlichen Buchwesen um 1100 eine Blütezeit,29 bevor sich mit der vor allem von Franziskanern und Dominikanern getragenen Scholastik des Hochmittelalters die Zahl wissenschaftlichtheologischer Schriften vervielfältigte. Neben die Klosterskriptorien und parallel 27 | Vgl. Reichert 1999a, 179-181; Fouquet-Plümacher 1980, 275-278, 282f. 28 | Christoph Markschies ist die präzise Darstellung des frühchristlichen Buchhandels und Bibliothekswesens auch unter Berücksichtigung ökonomischer Aspekte zu verdanken. Vgl. Fritz 1999, 435-440; Markschies 2007, 298-331. 29 | Das absolute Schweigegebot der Kartäuser verlieh dem Abschreiben von Büchern eine besondere Geltung, nach dem Wahlspruch ut quia ore non possumus Dei verbum manibus praedicemus (da wir es mit dem Mund nicht vermögen, predigen wir Gottes Wort mit den Händen). Vgl. Fouquet-Plümacher 1980, 279.
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zur wachsenden Zahl gebildeter Adliger und Bürger trat später auch die Buchproduktion an den Universitäten durch beauftragte Lohnschreiber.30 Nach der antiken Einführung des Kodex setzte die zweite Medienrevolution des Buches mit der Erfindung des Buchdruckes mittels beweglicher Metalllettern durch Johannes Gensfleisch, gen. Gutenberg (1400-1468), ein. Auf diese Weise entstanden um 1553 in seiner Mainzer Werkstatt neben Wörterbüchern, Kalendern und Ablassbriefen ca. 180 Exemplare der Vulgata. Auch bereits 1475 wurde als erster hebräischer Druck der Pentateuch-Kommentar des Salomo ben Isaak in Reggio di Calabria gedruckt.31 Ohne die rasche Verbreitung des mechanisierten Buchdrucks wäre der Erfolg der Reformation nicht denkbar gewesen. Das schnellere und kostengünstigere Herstellungsverfahren kam nicht allein der großen Nachfrage nach Luthers deutscher Bibelübersetzung entgegen – schon vor Luther wurden bis 1522 insgesamt 14 deutsche und vier niederdeutsche Bibeln bzw. Bibelauszüge mit zahlreichen Illustrationen veröffentlicht. Der Buchdruck trug die theologische Auseinandersetzung nun auch durch die in Tausenderauflagen publizierten Streitschriften in den öffentlichen Raum jenseits der theologischen Fakultäten. Luthers erste große Schrift mit Breitenwirkung, das Sermon von Ablaß und Gnade (1518), wurde rasch in über 20 Drucken und Nachdrucken im ganzen Reich verbreitet, noch bevor im September 1522 das Newe Testament Deutzsch mit Illustrationen der Cranach-Schule mit 3000 Exemplaren, die sofort vergriffen waren, in den Markt eingeführt wurden. Katholische Theologen dieser Zeit dagegen hatten große Mühe, überhaupt Druckereien zu finden, die angesichts mangelnder Absatzerwartungen bereit waren, das Risiko einer Veröffentlichung in Kauf zu nehmen.32 Der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan hatte 1962 in seiner von der Religionswissenschaft gänzlich unbeachteten Schrift The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man33 diesen Prozess der schnellen Verbreitung mechanisch vervielfältigter Werke in ihrer Bedeutung für die Reformation, den Humanismus und die einsetzende Aufklärung hin analysiert. Die verschiedenen Medien bedingen laut McLuhan auch die Durchsetzung einer jeweils dominierenden Form von Kommunikation und Weltwahrnehmung, die ihrerseits einen Einfluss auf die Ausbildung eines bestimmten Menschentypus hat.34 30 | Vgl. Schmitz 1998, Sp. 1813f.; Fouquet-Plümacher 1980, 278-284. 31 | Vgl. Fouquet-Plümacher 1980, 284f. 32 | Vgl. Fouquet-Plümacher 1980, 286f. 33 | Weder Fritz (1999) noch Schmitz (1999), Reichert (1999a), Fouquet-Plümacher (1980), Cantwell Smith (1993) und Graham (2005) scheint McLuhan erwähnenswert zu sein. 34 | In der Tat entwickelt McLuhan eine philosophische Kultur- und Mediengeschichte der Menschheit, die er an der Erfindung der Schrift als Übergang von der magischen zur
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D IE MEDIALE R ELIGION Print is the extreme phase of alphabetic culture that detribalizes and decollectivizes man in the first instance. Print raises the visual features of alphabet to highest intensity of definition. Thus print carries the individuating power of the phonetic alphabet much further than manuscript culture could ever do. Print is the technology of individualism. 35
In der neueren Verbreitung der visuell orientierten, elektronischen Medien erkennt McLuhan das Ende dieser Gutenberg-Galaxie, denn die Dominanz der Bilder impliziere den Untergang der schriftlich geführten, rationalen Diskurse, die seit dem Humanismus die intellektuelle und politische Kultur des Abendlandes geprägt hatten.36 Wurde dieses neue Reproduktionsverfahren von der städtischen Bevölkerung, den Humanisten und weiten Teilen der Kirche begrüßt, so fürchtete die kirchliche und weltliche Obrigkeit schon bald die unkontrollierte Verbreitung theologischer und politischer Meinungen. Ein erstes päpstliches Zensuredikt wurde daher schon 1479 für die Stadt Köln als eines der Zentren des Buchwesens erlassen, die Einführung des index librorum prohibitorum folgte 1559. Wenn auch im 16. Jahrhundert bereits eine halbe Million Exemplare von Martin Luthers Bibelübersetzung vertrieben wurden und schätzungsweise 30 Prozent der Stadtbevölkerung lesefähig waren, darf nicht vergessen werden, dass gedruckte Bücher, abgesehen von sehr populären Werken, für die meisten Menschen unerschwinglich blieben.37 Die Dynamik des Buchmarktes war in den nachfolgenden Jahrhunderten weitgehend durch die kirchliche und politische Zensur bestimmt, so dass sich in den liberaleren, protestantischen Herrschaftsgebieten nicht nur das Buchdruckergewerbe und das Verlagswesen, sondern auch darüber hinaus eine bessere wissenschaftliche Infrastruktur als in katholischen Domänen herausbilden konnte. Eine besondere Rolle spielte seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert die massenhaft verbreitete Erbauungsliteratur des Pietismus, die über spezielle Vertriebe wie den Franckeschen Stiftungen oder der Cansteinschen Bibelgesellschaft Schriften in Millionenauflagen in Umlauf brachten. Fortschritte in der industriellen Papierherstellung und die Erfindung der Druckerschnellpresse zu Beginn des 19. Jahrhunderts sorgten für eine deutliche Senkung der Herstellungskosten von Druckerzeugnissen, was nicht nur zu einer Vervielfachung von rationalen Weltdeutung festmacht. Er diskutiert, wie die »Kulturen Afrikas« im Gegensatz zu den Zivilisationen der Schriftlichkeit auf einer oralen Kulturstufe verblieben sind und schließlich diagnostiziert er der Gegenwart einen Rückfall in die visuelle Kultur der Archaik. Vgl. McLuhan 2002. Stärker mediengeschichtlich ist die Analyse The Printing Press as an Agent of Change von Elisabeth Eisenstein (1979) ausgerichtet. 35 | McLuhan 2002, 158. 36 | Vgl. McLuhan 2002, 241-259. 37 | Vgl. Schmitz 1999, Sp. 1813-1815.
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Buchtiteln und der Ausbildung von spezialisierten Verlagen und Vereinsbuchhandlungen (Basler Missionsgesellschaft 1806, Bertelsmann 1835) führte, sondern auch eine immense Bedeutung für die Verbreitung von periodischer religiöser, politischer und tagesaktueller Literatur wie Volkskalender, Sonntagsblätter etc. hatte.38 In der jüngeren Vergangenheit ist neben und an die Stelle des regelmäßigen Bibelstudiums die Lektüre von Belletristik, Biografien und Sachbüchern getreten, die von den Lesern ebenfalls als religiös bedeutsam wahrgenommen werden.39 Seit die ersten Schriftsysteme in Ägypten und Sumer vor ca. 5000 Jahren in Gebrauch kamen, kann ein Prozess der zunehmenden Verbreitung von geschriebenen Texten beobachtet werden. Diese Entwicklung ist einerseits auf eine steigende Alphabetisierung von Bevölkerungen zurückzuführen, denn das Lese- und Schreibvermögen wurde von einer oft in religiösen Kontexten angesiedelten Spezialistenfertigkeit zu einem allgemeinen Bildungsgut in den entwickelten Industriegesellschaften. Zum anderen begünstigten die ökonomischen Rahmenbedingungen und die praktischen Bedürfnisse der Leser seit der Antike die Durchsetzung von effizienteren und kostengünstigeren Herstellungs- und Reproduktionsverfahren von Texten. Diese skizzenhafte Mediengeschichte von Schrift, Text und Buch fungiert als notwendige Folie für die nun folgende Darstellung der religiösen Deutungsmuster aus emischer Perspektive.
3.2.2 Der Ursprung von Sprache und Schrift Schon in der Antike wird die Besonderheit der menschlichen Sprache erkannt und gibt Rätsel über ihre Entstehung auf. Herodot berichtet vom ägyptischen Pharao Psammetich I. (664-610 v. Chr.), der ergründen wollte, welches die älteste Sprache und welches das älteste Volk der Menschen seien. Er ließ zwei Neugeborene in einer Hütte mit einem Ziegenhirten, der nicht mit ihnen reden durfte, aufwachsen und erkannte nach zwei Jahren in dem ersten ausgesprochenen Wort das phrygische bekos (Brot). Dies sah er als Beweis an, dass die Phrygier das älteste Volk unter den Menschen seien.40 Ausgangspunkt aller Spekulationen über den Ursprung der menschlichen Sprache sind in der christlichen Theologie die Erzählungen von der Erschaffung des Menschen (Gen 2,19-23), die Schilderung der Ausbreitung der Menschen nach der Sintflut (Gen 10) und schließlich die Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11). Bis ins 19. Jahrhundert galt diese biblische Urgeschichte vielen Denkern noch als die älteste und historisch zuverlässigste Quelle über die 38 | Vgl. Schmitz 1999, Sp. 1814-1816; Fouquet-Plümacher 1980, 287f. 39 | Vgl. Noelle-Neumann & Schmidtchen 1969, 59, 77f.; MDG 2010a, S. 86f. 40 | Vgl. Herodot 1973, 121f. Dasselbe Experiment wird später dem Staufferkaiser Friedrich II. und Jakob IV. von Schottland zugeschrieben.
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Frühgeschichte des Menschen. In dem Schöpfungsbericht des Jahwisten erschafft Gott Himmel und Erde, den ersten Menschen und den Garten Eden als seinen Lebensraum (Gen 2,1-17). Damit der Mensch nicht allein bleibe, wollte Gott ihm Gefährten erschaffen (Gen 2,18): Gott, der Herr formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. (Gen 2,19f.)
Für den biblischen Erzähler wird dem ersten Menschen die Sprechfähigkeit mit der Schöpfung mitgegeben, ohne dass klar wird, ob Gott sie Adam »gelehrt« habe oder ob sie sich stückweise entwickelt habe oder auch welcher Natur diese Sprache sei.41 Wird nun in der Genealogie der ersten Menschengeschlechter seit Noah schon von verschiedenen Sprachen und Völkern geredet (Gen 10,20), so untermauert die Turmbauerzählung die These einer seit dem ersten Menschenpaar gepflegten, einheitlichen Ursprache, denn: »Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte« (Gen 11,1). Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist unverkennbar eine ätiologische Erzählung, die die Sprachenvielfalt des biblischen Altertums verbunden mit dem Handlungsmuster des alleinigen, allmächtigen und zornig-rächenden Gottes erklären soll. Denn um sich »einen Namen zu machen«, beschließen die Menschen, die noch ein Volk sind und eine gemeinsame Sprache haben, eine Stadt mit einem Turm bis zum Himmel zu bauen (Gen 11,4). Gott sieht sich das Vorhaben der »Menschenkinder« an und geht davon aus, dass ihnen nach der Vollendung des Turms nichts mehr unerreichbar sein werde, was sie sich auch vornehmen würden. »Auf, steigen wir hinab, und verwirren wir dort ihre Sprache, so daß keiner mehr die Sprache des anderen versteht« (Gen 11,7). Daraufhin zerstreuen sich die Menschen und geben ihren Plan auf (Gen 11, 8f.).42 Das übergeordnete Paradigma der feststellbaren Sprachenvielfalt der Menschen ist auf der Grundlage dieser alttestamentarischen Quellen eine Geschichte des Verlustes der gemeinsamen, göttlich an Adam vermittelten Ursprache und der Urgemeinschaft aller Menschen. Dieser Verlust hat seine Ursache in der menschlichen Hybris, die von Gott bestraft wurde. Der Ursprung der Schrift wiederum wird mit der Offenbarung der zehn Gebote an Moses auf den von Gott geschriebenen und dann zerborstenen Stein-
41 | Vgl. Albertz 1989, 4-7. 42 | Vgl. Albertz 1989, 12-16.
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tafeln in Verbindung gebracht.43 Auch das Urexemplar der Thora ist nach jüdischer Überlieferung von Gott selbst mit Feuer auf Feuer geschrieben.44 Bleibt die Frage bei Platon unentschieden, ob die Sprache vom Menschen oder von der Natur geschaffen sei,45 so wird die Situation in der mittelalterlichen Scholastik ungleich komplexer. Dominierend ist zwar die These, dass der Ursprung der Sprache Gottes Werk sei, jedoch bestehen daneben auch die Annahmen, dass die Sprache das Werk der Natur (durch Nachahmung oder Onomatopoesie) oder des Menschen sei (zufällig, aufgrund seiner ratio, geschaffen durch den Urweisen Adam oder gar an verschiedenen Orten). Und falls der Ursprung der Sprache in Gott liege, so sei noch offen, ob Gott die Sprache mit der Menschenschöpfung geschaffen habe oder er sie dem Menschen später als Geschenk übergeben habe oder sie dem Menschen eingeflößt (inditum-Theorien), eingegossen (infusio-Theorien), eingehaucht (inspiratio-Theorien), rational gelehrt (instructio-Theorien) oder geoffenbart wurde (revelatio-Theorien). Davon müssen noch die Ansätze unterschieden werden, nach denen Gott dem Menschen eine rudimentäre Sprache gegeben hat, die dieser erst weiterentwickelte, oder nach denen Gott die Sprache unter seiner Anleitung von den Menschen oder im Besonderen durch den Urweisen Adam hat erfinden lassen (inventioTheorien) oder aber nach denen Gott dem Menschen nur die Sprechfähigkeit mitgegeben habe und sich die einzelnen Sprachen dann in den verschiedenen Völkern entwickelten.46 Auch in den arabischen Sprachursprungstheorien dominierte neben wenigen (naturalistischen und konventionalistischen) Gegen43 | »Der Herr sprach zu Mose: Komm herauf zu mir auf den Berg, und bleib hier! Ich will Dir die Steintafeln übergeben, die Weisung und die Gebote, die ich aufgeschrieben habe.« »Als Mose dem Lager näher kam und das Kalb und den Tanz sah, entbrannte sein Zorn. Er schleuderte die Tafeln fort und zerschmetterte sie am Fuße des Berges.« Ex 24,12; Ex 32,19. Diese Szene ist laut Siegfried Morenz, Johannes Leipoldt und Gustav Mensching eine Gegenüberstellung zwischen dem Gott Israels, der der Sprache und Schrift mächtig sei, und den Göttern der »Heiden« und Griechen, die nur mit Gold überzogene Säulen und Bilder seien. Vgl. Mensching 1937, 7ff.; Morenz 1950, Sp. 711-716; Leipoldt & Morenz 1953, 17f. 44 | Vgl. Tiemann 1987, Sp. 301. Aber nicht nur Gott verfügt demnach über die Fähigkeit des Schreibens. Im europäischen Volksglauben sind seit dem Mittelalter Legenden verbreitet, nach denen auch der Teufel die Schrift benutzt: Zum einen für Verträge, zum anderen aber jagt der Teufel den Menschen hinterher und notiert die bösen Taten auf einer großen Kuhhaut (daher stammt die Redewendung »das geht auf keine Kuhhaut«). Auch sitzt er während des Gottesdienstes in einem Winkel der Kirche und notiert die Namen aller unaufmerksamen Gläubigen. Vgl. Tiemann 1987, Sp. 309f. 45 | Vgl. Schrastetter 1989, 44ff. 46 | Vgl. Kaczmarek 1989, 69-71; erschöpfend und wegweisend ist hier Arno Borsts Turmbau von Babel, vgl. Borst 1963, 1886-1896.
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positionen die revelationistische These, dass die Sprache dem Menschen von Gott direkt offenbart wurde. Einflussreich war seit dem 10. Jahrhundert vor allem die Position von Ahmad ibn Fāris Abūl’Husayn, der die Ungeschaffenheit des Koran, der arabischen Sprache und der Schriften postulierte.47 Einen gänzlich neuen Aspekt brachte der Mediziner, Theologe und Bevölkerungsstatistiker Johann Peter Süßmilch (1707-1767) in die philosophische und theologische Debatte der Aufklärung ein. In seinem Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe (1766) bewertet Süßmilch das Vorhandensein der menschlichen Sprache(n) als Beweis für die Existenz eines von Vernunftdenken geleiteten Schöpfergottes. Unter deutlich deistischen Vorzeichen und unter dem Eindruck der beginnenden historischen und orientalischen Sprachforschung erkennt Süßmilch in der Grammatik und den allgemeinen Regeln der Sprachen die Vollkommenheit, Ordnung und Schönheit des Schöpfers. Diese Erkenntnis impliziert, dass der Mensch nicht durch Nachahmung der Tiere oder der Natur die Sprache entwickeln habe können, sondern … daß nemlich die Sprache ohnmöglich von Menschen entstehen können, ehe und bevor sie eine ordentliche Sprache gehabt haben, und daß sie nothwendig von Gott, als dem ersten Lehrmeister ihren Ursprung bey der Schöpfung habe müssen erhalten haben. 48
Biblische Schöpfungsgeschichte wurde somit mit dem philosophischen Rationalismus der Aufklärer in Einklang gebracht.49 Während die französischen Sprachforscher im Umfeld der Enzyklopädisten im Zuge eines seit Francis Bacon und Condorcet etablierten Vertrauens auf den wissenschaftlichen Fortschritt um eine möglichst umfassende Dokumentation des Wissens der Menschheit bemüht waren, entwickelte sich insbesondere in der deutschen Romantik eine teils christlich geprägte Programmatik zunächst des Sprachvergleiches und später auch des Religionsvergleiches. Einen markanten Punkt dieser frühen Verbundenheit der vergleichenden Sprach- und Religionswissenschaft stellt daher Friedrich Schlegels umfangrei47 | Religionsgeschichtlich wird allgemein die Zentralität des Buches im Islam mit dem Einfluss des Manichäismus auf Mohammed erklärt. Vgl. Roggenhofer 1989, 21-26; Graham 2005, 8196; Lanczkowski 1980, 271. 48 | Johann Peter Süßmilch: Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe. Berlin 1766, 124, zitiert nach Gessinger & Rahden 1989b, 14. 49 | Die Position blieb natürlich nicht unerwidert und beschäftigte im 18. Jahrhundert vor allem Moses Mendelssohn und Jean-Jacques Rousseau. Vgl. Gessinger & Rahden 1989b, 12-18.
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che Abhandlung Über die Sprache und Weisheit der Indier dar, die 1808 in Köln veröffentlicht wurde. Friedrich Schlegel (1772-1829) und sein Bruder August Wilhelm gehörten zum Kern der romantischen Bewegung in Deutschland und unterhielten enge Kontakte zu Tieck, Novalis wie auch zu Schelling, Schleiermacher und Fichte. Diese Frühromantiker verfolgten die Utopie einer Urwelt und einer Ursprache, in der zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur ein poetisch begründetes Erkennen und Leben möglich war. Bereits hier wurde eine Synthese zwischen abendländischem und morgenländischem Denken als Weg entworfen, der das ursprüngliche Paradies und den Zustand vor Babel wiederherstellen sollte.50 Diesen Romantikern galt die Natur als echte und unverfälschte Urschrift Gottes. Es sei eine Chiffrenschrift der Natur, ohne Alphabet, E.T.A. Hoffmann gemäß das Werk von »Bhogovotgitas Meistern«; dieses »echte Sanskrit« verwende optische Zeichen als Bilder des Realen, in denen keine Differenz zwischen Signifikant und Signifikat bestehe.51 In diesem Zusammenhang ist sicherlich von Bedeutung, dass Schlegel im selben Jahr der Publikation seines Buches nach einer längeren Phase zunehmender religiöser Begeisterung mit seiner Frau Dorothea vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierte. Schlegel hatte in Paris ab 1803 Sanskrit studiert und legte mit Über die Sprachen und Weisheit der Indier nun einige theoretische Reflexionen über die Grammatik und Eigenschaften des Sanskrit vor, mehrere Kapitel über die indische Philosophie (Seelenwanderung), einige Bemerkungen zum Studium der Indologie überhaupt und einige Übersetzungen (Ramayana/Bhagavadgita). Angesichts der damals noch geringen Kenntnisse des Sanskrit und der schon seinerzeit fraglichen These, das Sanskrit als Ursprache der Menschheit zu postulieren, bewertet Klaus Grotsch den Versuch Schlegels skeptisch eher als von frühromantischen Sehnsüchten beflügelten »Ahnungen« denn als wissenschaftliche Einsichten.52 Aber was will Schlegel durch das Studium der alten Sanskrit-Schriften erreichen? Es geht darum, so proklamiert er, »das Verhältnis des indischen Alterthums zur mosaischen Urkunde und überhaupt zur Offenbarung« zu berühren.53 Schlegel führt dazu aus:
50 | Vgl. Hausdörfer 1989, 468-476. 51 | Vgl. Kittler 1995, 107-111; Gladigow 1997, 116f. 52 | Zu dieser folgenreichen und noch lange tradierten These der Ursprache Sanskrit vgl. Grotsch 1989, 86ff. Schlegel selbst hat im Spätwerk die Frage der Ursprache weiter ausdifferenziert, indem er zwischen einer göttlich inspirierten, vollkommenen und einer von Menschen gemachten, beschränkten Sprache unterschied. Vgl. Hausdörfer 1989, 478-489. 53 | Vgl. Schlegel 1995, 197.
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D IE MEDIALE R ELIGION Wenn die mosaische Urkunde in dem Erfolg ihres ältesten geschichtlichen Theils zwar nicht immer ausführlich erzählt … dennoch durch göttliche Fügung sei gerettet und erhalten worden; so zeigen uns die indischen Urkunden die Entstehung des Irrthums, die ersten Ausgeburten, deren der Geist immer mehrere ergrübelte und erdichtete, nachdem er einmal die Einfalt der göttlichen Erkenntnis verlassen und verloren hatte, von der aber mitten in Aberglauben und Nacht noch so herrliche Lichtspuren übrig geblieben waren. 54
Als Ursprache der Menschheit habe das Sanskrit zwar diese mit romantischer Lichtmetaphorik bezeichneten Weisheiten bewahrt, Schlegel wirft den Orientalen jedoch vor, die ursprüngliche göttliche Weisheit im Aberglauben der Wiedergeburtslehre missdeutet zu haben. Dort, wo noch die Spuren des göttlichen Lichtes vorhanden waren, seien sie nun »entstellt und entartet«.55 Der »Gegensatz des Irrthums« aber dient Schlegel nun als Kommentar und Erhellung der christlichen Offenbarung, wobei die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen dem Christentum und den indischen Weisheiten keinesfalls als wirkliche Entsprechungen verstanden werden dürften. Diese Parallelen seien fehlleitend, denn alles habe ein anderes Verhältnis und einen anderen Sinn, »es ist die Aehnlichkeit des Affen mit dem Menschen«.56 Schlegel schlägt daher eine christliche Lesart der indischen Schriften vor: »Denn wie läßt sich wohl ein Werk verstehen und erklären, als nach der Denkart, die ihm zum Grunde liegt?«57 Mit der »Denkart« meint der Romantiker mitnichten eine hermeneutische Annäherung an das Werk, sondern ein Verständnis aus dem Lichte des eigentlich Gemeinten, des Wahrhaftigen: So könne man das Alte Testament nur aus der Sicht des Neuen Testamentes richtig verstehen, da es schließlich die Erfüllung des vorhergehenden sei.58 Dies ist aus Schlegels Verständnis heraus keine Abwertung der morgenländischen Weisheiten, sondern im Gegenteil eine Wertschätzung, denn die Quellen der indischen Religionen könnten ja zum besseren Verstehen des Christentums einiges beitragen: Und wenn eine zu einseitige und bloß spielende Beschäftigung mit den Griechen den Geist in den letzten Jahrhunderten zu sehr von dem alten Ernst oder gar von der Quelle aller höheren Wahrheit entfernt hat, so dürfte diese ganz neue Kenntniß und Anschauung des orientalischen Alterthums, je tiefer wir darin eindringen, um so mehr zu der Er-
54 | Schlegel 1995, 198. 55 | Vgl. Schlegel 1995, 199f. 56 | Vgl. Schlegel 1995, 201. 57 | Schlegel 1995, 203. 58 | Vgl. Schlegel 1995, 202f.
M EDIENGESCHICHTE ALS R ELIGIONSGESCHICHTE kenntnis des Göttlichen und zu jener Kraft der Gesinnung wieder zurückführen, die aller Kunst und allem Wissen erst Licht und Leben geben. 59
Auch der Philologe und Altertumswissenschaftler Jacob Grimm (1785-1863) stellt eine Generation später in seiner Schrift Über den Ursprung der Sprache (1851) noch eine Beziehung zwischen der Sprachwissenschaft und der Theologie her. Die Sprachforschung sieht er zunächst in Analogie zu den Naturwissenschaften und weist unter anderem aus physiologischen Gründen die Existenz einer göttlichen Ursprache zurück.60 Das noch romantisch gefärbte Verstehen einerseits der Natur und andererseits der Sprachen stehe jedoch in einem engen Zusammenhang miteinander, als Teile der göttlichen Offenbarung und der menschlichen Erkenntnis dieser Offenbarung. Niemand kann bezweifeln, dasz eine schaffende urkraft unablässig auch ihr werk fortdurchdringe und forterhalte; das wunder der weltdauer kommt dem ihrer schöpfung vollkommen gleich. diese sich unausgesetzt kundthuende göttliche kraft ist keinem als dem vestehenden eine kennbare offenbarung. da sie die gesamte natur durchdringt und in allen dingen enthalten ist, liegt sie zugleich offen und verborgen da und mag blosz durch das mittel der dinge selbst erforscht werden. denn sie ist in allen dingen, eben darum nicht auszer ihnen. unverstanden redet die natur, so lange der suchende nicht auf ihre spur kommt und sie ihm verständlich wird. 61
Für Grimm führt die Sprachwissenschaft insbesondere auch mit Bezug auf die vermeintlich ältesten Quellen einer indogermanischen Sprache im Sanskrit zur menschlichen Selbsterkenntnis, dank der göttlichen Gabe der Sprechfähigkeit und mittels der Erkenntnisse der vergleichenden Philologie. Das, was wir sind, wodurch wir uns von allen thieren unterscheiden, führt im Sanskrit den bedeutsamen, ehrwürdigen namen manudscha, welcher auch vorzugsweise in unserer deutschen sprache bis auf heute sich erhalten hat, goht. manniska, ahd. manisco, nhd. mensch und so durch alle mundarten; dieses wort darf zwar mit gutem grund auf einen mythischen ahnen Manna, Mannus, den schon Tacitus bezeugt, auf einen indischen könig Manas zurückgeführt werden, dessen wurzel man d.h. denken ist und wozu 59 | Schlegel 1995, S 219. 60 | Grimm gibt zu denken, dass wenn Gott zu den Menschen in menschlicher Sprache sprechen würde, er auch über dieselben Stimmorgane des Menschen verfügen müsse. Diese Vorstellung würde aber nicht der Idee göttlicher Vollkommenheit entsprechen. Gott habe dem Menschen vielmehr die Anlage zum Sprechen und Denken im Schöpfungsakt mitgegeben, die Sprachen selbst seien jedoch geschichtlich gewachsen. Vgl. Grimm 1866, 8-18, 27f. 61 | Grimm 1866, 24f.
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D IE MEDIALE R ELIGION unmittelbar auch manas, ƫоƬƮư, mensch fallen. Der mensch heißt nicht nur so, weil er denkt, sondern ist auch mensch, weil er denkt, und spricht, weil er denkt, dieser engste zusammenhang zwischen seinem vermögen zu denken und zu reden bezeichnet und verbürgt uns seiner sprache grund und ursprung. 62
Die romantische Indienbegeisterung hatte auch den eigentlichen Begründer der Vergleichenden Religionswissenschaft, Friedrich Max Müller (1823-1900), während seiner Studienzeit in Leipzig, Berlin und Paris erfasst. Er distanziert sich zwar später von den inhaltlichen Thesen insbesondere Schlegels, die Schwärmerei über seinen jugendlichen Aufbruch in der Philologie zeugt jedoch auch von dem großen Stellenwert, den diese Ideen Mitte des 19. Jahrhunderts hatten. Probleme wie der Ursprung der Sprachen, des Denkens, der Mythologie und Religion wurden angeregt in der jugendlichen Hoffnung, daß der Veda für alle die Lösung enthalte, als ob die vedantischen Seher beim ersten Ausschlagen der Wurzeln und Begriffe dabei gewesen wären … 63
Allerdings finden sich auch noch vereinzelt in der Einführung in die Vergleichende Religionswissenschaft (1870) Anklänge an eben diese romantische Suche nach der ursprünglichen Wahrheit, wenn Müller bemüht ist, die »most original intention« der religiösen Weisheiten im Gegensatz zu ihren »modern misinterpretations« aufzuspüren.64 In seinem späteren wissenschaftlichen Werk wird Max Müller jedoch die genealogische Sprachforschung heftig kritisieren; sowohl die im 17. und 18. Jahrhundert vertretene Tendenz, alle neu entdeckten Sprachen Amerikas und Asiens auf das Hebräische zurückzuführen, als auch die jüngeren Versuche, das Sanskrit als Ursprache zu identifizieren, hält Müller aus philologisch-historischer Sicht schlichtweg für unsinnig. Auch die These eines Urmonotheismus und einer göttlich offenbarten Ursprache bleiben für den Philologen ohne Überzeugungskraft.65 Mit dem Studium der schriftlichen religiösen Überlieferungen ist allerdings auch für Müller mehr als nur die reine Philologie verbunden, er steht mit seinem Projekt einer Sammlung aller »heiligen Bücher« der Menschheit in der humanistischen Tradition von Francis Bacons Advancement of Learning (1605), der durch ein akkumuliertes Wissen um Gott einen höheren Erkenntnisgrad erreichen wollte. Müller dachte global und betrachtete die Schriften der Religionen als einen göttlich gegebenen Zusammenhang, dessen einzelne Elemente nur durch die Sicht des Ganzen entschlüs62 | Grimm 1866, 29f. 63 | Müller 1902, 122. Vgl. a.a.O., 119-124; Klimkeit 2004, 29-31. 64 | Vgl. Müller 1870, 120. 65 | Vgl. Müller 1876, 262-300; Müller 1880, 291-296; Müller 1876, 123f.; Müller 1902, 119f.
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selt werden könnten. Aus diesem Grund setzt Müller seine Anstrengungen darauf, die Vergleichende Religionswissenschaft als Schlüsselwissenschaft mit hoher gesellschaftlicher Relevanz zu etablieren. An die Stelle der Ursprungsfrage der Religion und Sprache tritt das Bemühen einer Weiterentwicklung und Verständigung der Religionen:66 Wie eine alte Münze, so wird die alte Religion, nachdem man den Jahrhunderte alten Rost entfernt hat, in aller Reinheit in ihrem alten Glanze erscheinen; und das Bild, das sich zeigen wird, wird das Bild des Allvaters sein, des Vaters aller Menschen; und die Inschrift, wenn wir sie wieder lesen können, wird nicht nur in Judaea, sondern in allen Sprachen der Welt eine und dieselbe sein, – das Wort Gottes, das sich offenbart, wo allein es sich offenbaren kann, in den Herzen aller Menschen.67
Aber nicht nur die Vergleichende Religionswissenschaft ist ein Kind der Vergleichenden Sprachwissenschaft, sondern auch die parallel entstandene Völkerpsychologie, die vor allem auf den Berliner Philosophen und Philologen Heymann Steinthal (1823-1899) und den Berner Psychologen und Philosophen Moritz Lazarus (1824-1903) zurückgeht. Gemeinsam initiierten sie die Zeitschrift für Sprachwissenschaft und Völkerpsychologie und verbanden die Frage nach dem Ursprung der Sprache mit Spekulationen über die Verschiedenartigkeit der Völker und Religionen. Angelehnt an Wilhelm von Humboldts Idee der Bedingtheit des Denkens durch die Sprache und seine Annahme, dass jede Sprache eine bestimmte Weltsicht enthalte, entwickeln Steinthal und Lazarus eine Sprachpsychologie der Völker, Lazarus redet an dieser Stelle von »Sprachdenken«. Für Humboldt sind Sprache und Nation eng miteinander verbunden, denn in der Sprache zeige sich die Höhe der »nationellen Geisteskraft«, der Charakter und das innere Sein eines Volkes und die Denk- und Charakterbildung des Einzelnen. Humboldt schließt seine Untersuchung mit einer Hierarchisierung der weniger vollkommenen (semitischen und chinesischen) Sprachen gegenüber den glücklicheren (sanskritischen) Sprachen.68 Auch für Steinthal gilt das Sanskrit als Maßstab der Verarmung oder der Bereicherung der späteren Sprachen und jede Sprache müsse natürlich als ein gegebenes Denkorgan mit festen Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen in jeder Sprachfamilie verstanden werden. Nur vor diesem Hintergrund und durch ein Zusammenwirken von
66 | Vgl. Müller 1867, 70-79; Gladigow 1997, 117-119; Gladigow 2005b, 44-46; Klimkeit 2004, 35-37. 67 | Müller 1876, 61. Vgl. auch Klimkeit 2004, 37ff. 68 | Vgl. Humboldt 1836, 1ff.; 297-373.
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Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft lasse sich die drängende Frage nach dem Ursprung des Monotheismus lösen.69 Im 20. Jahrhundert gab es noch zwei umfangreichere Versuche, religiöse Fragen mit dem Ursprung der Sprache und der Religion zu verknüpfen. Die Rede ist zum einen von dem katholischen Theologen und Ethnologen Wilhelm Schmidt (1868-1954) und zum anderen von dem Privatgelehrten Herman Wirth (1885-1981). Bereits in seiner kleinen Schrift Die Uroffenbarung als Anfang der Offenbarungen Gottes (1921) vertrat Pater Schmidt die These, dass Gott sich in der Frühzeit dem Menschen direkt und unmittelbar offenbart habe und dass dieser frühe Mensch, der homo erectus, das Gotteswort weiter tradiert habe.70 In seinem monumentalen Hauptwerk Der Ursprung der Gottesidee (1912-1955) ist Schmidt nun bemüht, diese These der Uroffenbarung mit ethnologischem Material zu untermauern. Er trägt in zwölf umfangreichen Bänden Mythen und Kultbeschreibungen aus möglichst alten und wenig veränderten Kulturen aller Erdteile zusammen, um dann in seiner Kulturkreistheorie eine Ordnung der Abhängigkeiten und Verwandtschaftsbeziehungen dieser Kulturen zu erstellen. Nach einer umfassenden Auswertung und Diskussion aller zeitgenössischen Theorien, religionshistorischer und religionswissenschaftlicher Einschätzungen über den Ursprung der Religion bei den »primitiven Völkern« sieht Schmidt seine These zweifelsfrei bestätigt, dass hier überall der Glaube und die Verehrung eines höchsten Wesens vorhanden seien.71 Schmidt konstruiert aus diesem Befund eine alte gemeinsame Religion der pygmäischen und der arktisch-amerikanischen Urkulturen, die durch den Glauben an ein höchstes Wesen, die sittliche Unterwerfung unter dasselbe und dessen kultische Verehrung gekennzeichnet ist.72 Außerhalb theologischer Kreise wurde Schmidts Theorie scharf kritisiert.73 Wissenschaftlich einhellig abgelehnt, aber nicht folgenlos, blieb der Versuch von Herman Wirth, in Die Heilige Urschrift der Menschheit (1931-1936) die vorgeschichtlichen symbolischen Darstellungen und Symbole späterer Kulturen mithilfe der von ihm begründeten Paläo-Epigrafik als eine Urschrift der Menschheit zu deuten. Auf dieser Basis versuchte der überzeugte Nationalsozialist eine gemeinsame Urreligion der »nordischen, weißen Rasse« zu rekonstruieren, die 69 | Ähnlich schreibt Lazarus’ Idee des »Sprachdenkens«, jedem »Volksgeist« eine bestimmte Form der Wahrnehmung und Vermittlung der Wirklichkeit zu. Vgl. Steinthal 1858, 120-142; Steinthal 1895, 28f. Lazarus 1865, 11-21. 70 | Vgl. Schmidt 1921. 71 | Vgl. Schmidt 1926, 483-488, 696-700. 72 | Vgl. Schmidt 1935, 296-308. 73 | Eine Ausnahme bildet hier Ina Wunn, die zu einer Wiederentdeckung von Schmidts Werk anregen will. Vgl. Wunn 2010; zur Rezeption vgl. Waldenfels 2004, 194-197.
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erst später durch die »nicht artgemäße« Religion des Christentums verdrängt worden sei.74 Die Frage nach dem Ursprung ist zumindest im abendländischen Denken der wohl wichtigste Aspekt der religiösen Deutungsmuster von Sprache und Schrift. Die Spurensuche nach der Ursprache der Menschheit im Hebräischen oder im Sanskrit verkörpert die Sehnsucht nach der Einheit aller Menschen und der Einheit mit Gott, insoweit die von Adam gesprochenen Worte gemäß vieler christlich-theologischer Sprachursprungstheorien identisch mit der Sprache Gottes seien. Die Religionswissenschaft und die Völkerpsychologie sind beiderseits auf Basis des Vergleichens von Sprachen um ein Verstehen der Verschiedenartigkeit der Religionen und des Denkens bemüht. Der Vergleich und die phänomenologische Suche nach dem »Wesen« der Religion treten damit an die Stelle der Suche nach dem Ursprung. Das Vergleichen kann sich jedoch nicht gänzlich von den romantischen Impulsen der Suche nach der (ursprünglichen) Einheit aller Sprachen, Völker und Religionen lösen.
3.2.3 Die Wirkmächtigkeit von Sprache und Schrift Neben diesen mehr oder weniger komplexen Theorien über den vermeintlich göttlichen Ursprung der menschlichen Sprache(n), die erheblichen Einfluss auf die programmatische Zielrichtung der Vergleichenden Religionswissenschaft hatten, muss hier ein weiterer Gesichtspunkt Berücksichtigung finden. Welche theologischen und religiösen Implikationen sind mit der Wirkung von gesprochener Sprache und Schrift und nochmals gesondert mit dem Medium des Buches verbunden? Die Idee von der Macht des gesprochenen Wortes ist frühestens in der memphitischen Theologie des Alten Ägypten bezeugt: Hier plant der Gott Ptah die Welt in seinem Herzen und bringt sie ins Dasein, indem er sie mit der Zunge ausspricht.75 Im Buch Genesis (»Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.« Gen 1,3) und im Koran (40:68) und außerdem bei den indigenen 74 | Vgl. Wirth 1931, 7-10. Herman Wirth war Privatgelehrter und Gymnasialprofessor, dessen Idee von der »Urgeschichte der atlantisch-nordischen Rasse« in der NS-Zeit breit rezipiert wurde. Die NS-Landesregierung von Mecklenburg-Schwerin richtete ihm 1932 das Forschungszentrum für Geistesurgeschichte ein und er war zusammen mit Heinrich Himmler und Richard Walther Darré 1935 maßgeblich an der Begründung der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V. beteiligt. Er wird auch heute noch bei zahlreichen Autorinnen als Referenz für die These einer matriarchalen Frühkultur herangezogen. Vgl. Löw 2009. 75 | Rothöhler wertet diesen Akt nicht als eigentliche Kosmogenese, sondern als Erschaffung der Weltordnung, die den Rahmen der menschlichen Lebenswelt abbildet.
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Völkern der Dogon in Afrika und der Witóto in Südamerika tritt diese Kosmogenese durch das göttliche Wort ebenfalls in Erscheinung. Der Glaube an die Wirkmächtigkeit des gesprochenen Wortes im religiösen Ritual bildet hierzu das Gegenstück, am deutlichsten wohl in der Rezitation von Mantras bzw. Sutras in Hindu-Traditionen, im Buddhismus und Tantrismus oder als Vertiefung (dhikr) über Koranzitate und andere zentrale Texte im Sufismus.76 Auch der Schrift an sich, einem einzelnen geschriebenen Buchstaben oder auch der Niederschrift eines besonderen oder geheimen Wortes wird in verschiedenen historischen und gegenwärtigen Religionen und Bräuchen eine Macht zugeschrieben, die das Geschehen in der Welt verändern kann. Dieser Befund korreliert einerseits mit den bereits angesprochenen Ursprungstheorien der Sprache bzw. der Sprache und Schrift als Gottes Offenbarung im Judentum, Christentum und Islam. Er verweist darüber hinaus noch auf die weiteren göttlichen Schöpfer der Schrift: Thot im Alten Ägypten als Erfinder der »heiligen Einritzungen« – der Hieroglyphen, Nabu in Babylonien, Ogma bei den Kelten, Odin als Urheber der Runen bei den Germanen und die Hindu-Gottheit Saraswati, die Gefährtin oder der weibliche Aspekt des Brahma, der mit seinen vier Köpfen unentwegt die vier Vedas rezitiert, die in den vier Armen Saraswatis repräsentiert sind. Der Alphabetzauber, oft mit der numerischen oder geometrischen Umsetzung der Buchstaben verknüpft, ist im Arabischen, im Hebräischen, im Griechischen und im Latein verbreitet; die Buchstabenmystik spielt in der Gnosis, in der jüdischen Kabbala und im schiitischen Islam eine wesentliche Rolle. Der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabetes _ und Ω ist seit der neutestamentlichen Offenbarung des Johannes (22,13) als Symbol für Christus und die christliche Heilsgeschichte etabliert und wurde danach als allgemein christliches Symbol vielfach verwendet. Die Initialen C M B für die drei heiligen Könige Caspar, Melchior und Balthasar werden bis heute im katholischen Brauchtum Mitteleuropas mit ursprünglich apotropäisch gedachter Wirkung an die Türrahmen aller spendenbereiten Haushalte gezeichnet.77 Sowohl im Judentum und Christentum als auch in den Hindu-Traditionen finden sich Bräuche, in denen Buchstaben bzw. besondere Schriftzüge auf magischen Amuletten und Talismanen aufgetragen oder auf der Haut aufgemalt oder tätowiert wurden. Die Zeichen dienten dazu, Segnungen zu erhalten, oder
Vgl. Rothöhler 2006, 224. Zur noch ungelösten Datierung, die meist ab 700 v. Chr. oder früher angesetzt wird, vgl. Rothöhler 2006, 184-202. 76 | Vgl. Graham 2005, 8200. 77 | Vgl. Tiemann 1987, Sp. 296f., Sp. 325-329; Heiler 1979, 340f.; Bertholet 1949, 7-13; Leeuw 1977, 494-497; Leeuw 1977, 457-463.
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wurden für apotropäische Zwecke eingesetzt.78 Die Niederschrift des wahren Namens des verborgenen Urgottes, der durch ein zufälliges Buchstabenorakel ermittelt wurde, oder später auch der Name Jesu, bestimmter Engel und Heiliger galt dabei in der ganzen antiken bzw. mittelalterlichen Welt als wirkungsvolles Mittel eines Bann-, Heil- oder Herbeiholungszauber.79 Im deutschen Volksglauben wurden schriftliche Talismane (meist kurze Gebetsverse oder Schriftzitate) den Neugeborenen in die Wiege gelegt. Schon seit dem Alten Ägypten bis in die jüngste europäische Vergangenheit wurden den Kranken teils pulverisierte Schluckpapiere mit heilsbringenden Formeln oder Abkürzungen der angerufenen Gottheit oder Heiligen in die Speisen gemischt. Auch die Niederschrift des Namens des Erkrankten auf Essbarem, wie Lebkuchen, Äpfel, Mandeln oder essbare »Fieberzettel«, sollten den Heilungsprozess unterstützen, während eingeritzte Namen der Verliebten in Bäumen oder Äpfeln als Liebeszauber bindende Kräfte entfalten sollten, ein Brauch, der aus entsprechendem Runenzauber hervorging. Wurden »Konzeptionszettel« zur guten Empfängnis am Leib oder im Schuh getragen, so sollten Segenssprüche auf dem Gebälk oder der Hauswand vor Wasserschaden und Feuersbrunst schützen.80 Ein Medium, das sich sehr großer Beliebtheit erfreute, stellen die antiken Fluchtafeln dar, die vom 5. vorchristlichen Jahrhundert in Attika bis in die römische Spätantike verwendet wurden, um mithilfe von kurzen Beschwörungstexten einen Schadenszauber gegen Konkurrenten in der Wirtschaft, im Sport, in der Politik oder im Privatleben zu vollziehen. Diese Schriftmagie beruht wie die meisten Arten des abendländischen Schadenszaubers auf der Annahme einer Identität von geschriebenem Namen und Person. Die Texte waren in dünne Bleitafeln geritzt, die eingerollt oder gefaltet meist an Gräbern, Tempeln oder Teichen verborgen wurden. Dass viele Fluchtafeln noch zusätzlich mit Nägeln durchbohrt waren, verweist auf die Anwendung von Analogiezauber, denn der dem Medium zugebrachte Schaden sollte sich auf den Verfluchten übertragen.81 Aber nicht allein der Schrift, sondern auch dem Schreibmaterial wurden besondere Kräfte zugeschrieben. Für das Auftragen der Buchstaben C M B wurde geweihte Kreide verwendet oder im schlesischen Brauchtum gar Kreide, die im Mund verborgen und zuvor von der Hostie berührt worden war. Auch die heutige, rote Markierung der Feiertage in den Kalendern weltweit geht auf europäi78 | Vgl. Tiemann 1987, Sp. 346-350; archäologisch umfassend dokumentiert in: Keel & Uehlinger 1996; Herrmann & Staubli 2010. 79 | Vgl. Tiemann 1987, Sp. 318ff., Sp. 323f.; Sp. 356-363; Mensching 1937, 7-22; Mensching 1938, 99-101. 80 | Vgl. Tiemann 1987, Sp. 321; Bertholet 1949, 14-27; Leeuw 1977, 482-484. 81 | Vgl. Fritz 1999, 440ff.; neuere Forschungen zu antiken Fluchtafeln sind zu finden in Brodersen & Kropp 2004, Kropp 2008 (lat.), Brodersen 2001 (gr.), Tremel 2004 (Sport); zum europ. Schadenszauber: Tiemann 1987, Sp. 364-367.
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sche Bräuche zurück, die auf diese Weise böse Mächte in Zaum halten wollten. Hohe islamische Gelehrte rührten ihre Tinte mit Wasser aus dem Zemzembrunnen in Mekka an und im Talmud, im Hellenismus und in altnordischen Traditionen finden wir die Vorstellung belegt, dass Blut als Tinte für verbindliche Verträge (auch mit dem Teufel) und wirksame Liebes- und Kriegszauber eingesetzt wurde.82 Im religiösen Denken können das gesprochene Wort und die Aufzeichnung von Schriftzügen zum Teil unter Verwendung besonderer Materialien eine außeralltägliche Wirkung haben, die mit herkömmlichen Mitteln wie bspw. der profanen Medizin oder dem gewöhnlichen Leistungsvermögen eines Menschen nicht zu erreichen ist. Diese Effekte können aus dieser emischen Perspektive sowohl apotropäischer und heilender Natur sein wie auch Schaden im Leben anderer Personen bezwecken.
3.2.4 Die »Heiligkeit« des Buches Neben diese sehr konkret gedachte Wirkmächtigkeit von bestimmten gesprochenen Worten und Schriftzügen tritt innerhalb eines religiösen Deutungsmusters eine besondere Idee von größeren Sammlungen von Texten, also Kodize, Palmblattsammlungen oder eben Büchern: zum einen als fiktive Vorstellung eines nicht von Menschen geschriebenen »himmlischen Buches«, zum anderen als tatsächliche »Heilige Schrift«.
Das »himmlische Buch« Die Idee des »himmlischen Buches« oder »Lebensbuches« findet ihre früheste Form schon in den babylonischen Schicksalstafeln, die das vorausbestimmte Leben eines jeden Menschen beinhalten.83 In den Psalmen (56,9; 139,16)84 wird auf die schriftlich festgelegten Lebenstage des Menschen verwiesen, auch finden sich in den biblischen Schriften mehrere Belege für eine Namensliste der Geretteten (Ps 69,29; Dan 12,1; Phil 4,3), die wohl an den altorientalischen Bürgerlisten und königlichen Merkbüchern angelehnt sind. Schließlich werden das sittliche Verhalten und die Art der Gottesfurcht der einzelnen Menschen 82 | Schrift findet im Kriegs- und Kampfeszauber Verwendung, indem Waffenläufe von Kanonen oder Gewehren oder auch Munition mit segensreichen Sprüchen beschrieben werden. Vgl. Bertholet 1949, 7f.; Tiemann 1987, Sp. 329-331, Sp. 363. 83 | Vgl. Koep 1952, 3-6. 84 | »Mein Elend ist aufgezeichnet bei dir. Sammle meine Tränen in einem Krug, zeichne sie auf in deinem Buch. (Ps 56,9). »Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war alles schon verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.« (Ps 139,16).
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aufgezeichnet und als Grundlage für die Verurteilung beim Jüngsten Gericht verwandt (Mal 3,16; Dan 7,10; Apk 20,12).85 Im christlichen Kult wurde diese Vorstellung in der Einrichtung der Taufbücher weitergeführt, denn nur wer hier eingeschrieben war, konnte darauf hoffen, in das himmlische Buch der Geretteten, das Gott allein führt, aufgenommen zu werden.86 Am weitesten entwickelte sich die Idee eines »himmlischen«, oder besser gesagt, metaphysischen Buches in der Theosophie und Anthroposophie des 19. Jahrhunderts. Der Gedanke eines geheimen Buches, das nur den Sehern und Weisen zugänglich sei, geht auf Helena Petrovna Blavatsky (1831-1891) zurück. In ihrem zentralen Werk Isis entschleiert (1877) zieht sie für unser Frageinteresse bemerkenswerte Parallelen zu einer zeitgenössischen Medieninnovation, der Daguerreotypie: Es [das Buch: d. Verf.] enthält einen unverstümmelten Bericht von Allem, was war, ist und jemals sein wird. Die geringsten Handlungen in unserem Leben sind ihm aufgedrückt, und selbst unsere Gedanken bleiben auf seinen ewigen Tafeln photographiert. Es ist das Buch, das wir von dem Engel in der »Offenbarung« öffnen sehen, »welches ist das Buch des Lebens, und wonach die Toten nach ihren Werken beurteilt werden«. Kurz es ist das Gedächtnis Gottes! … Die Bilder der Ereignisse liegen in jenem alles durchdringenden, universalen und stets festhaltenden Medium gebettet, das die Philosophen »Seele der Welt« und Denton »Seele der Dinge« nennt.87
Charles W. Leadbeater und später der Anthroposoph Rudolf Steiner bezeichneten dieses Buch als Akasha-Chronik und auch Steiner wählt mit dem »Phonografen« einen Medienvergleich, um die Eigenschaften dieses Buches zu erklären.88
Die »Heiligen Schriften« aus emischer Perspektive Als Gattung einer besonderen Art von Literatur haben »Heilige Schriften« ihren Ursprung schon im ptolemäischen Ägypten (3.-1. Jhd. v. Chr.), als ägyptische Texte als hiera grammata und hebräische Texte als die »heiligen Schriften« (kitvei ha qodesh) beschrieben wurden. Im 1. und 2. Jahrhundert wurden die allgemeinen Bezeichnungen für Schriftum sriptura (lt.), ƢƯƠƴп (gr.) und ketav (hebr.) mit Adjektiven fest verbunden: ‘ƨƤƯфư, ‘нƢƨRư oder sanctus (gr./lt., »heilig«); 85 | »Das Gericht nahm Platz, und es wurden Bücher aufgeschlagen.« (Dan 7,10). »Der Herr horchte auf und hörte hin, und man schrieb vor ihm ein Buch, das alle in Erinnerung hält, die den Herrn fürchten und seinen Namen loben.« (Mal 3,16). Vgl. Koep 1952, 1886; Lanczkowski 1980, 270f.; Welten 1980, 274; Graham 2005, 8195f. 86 | Vgl. dazu die aufschlussreiche Analyse von Koep 1952, 90-100. 87 | Vgl. Blavatsky 1907, 178, 183. Vgl. a.a.O., 178-185. 88 | Vgl. Zander 2007, 620-624.
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ƧƤῖƮưund divinus (gr./lt, »göttlich«); ƧƤҴƬƤƳƱƲƮư (gr., »göttlich inspiriert«).89 Ab dem 1. Jahrhundert bezog sich der Ausdruck vor allem auf den jüdischen Tanach,90 dann auf die Evangelien, Paulusbriefe und andere neutestamentliche Texte. Nicht im Neuen Testament selbst, aber bei antiken Schreibern wie Judaeus Philo, Flavius Josephus und Origines wird mit Bezug auf die jüdischen Texte der Terminus ‘ƨƤƯҫơрơƪƮư (»heilige Schrift«) im Singular oder Plural verwendet. Aber erst im 12. Jahrhundert setzt sich der lateinische Begriff biblia (nun als femininum singular) in den meisten europäischen Sprachen als Bezeichnung für das Alte und Neue Testament durch.91 Sowohl seitens christlicher als auch islamischer Theologen wird im Mittelalter der lateinische Terminus der scripturae und scripturae sanctae bzw. kitāb auch auf andere Religionen mit Schriften angewandt, der Begriff der Bibel wird sogar in der Neuzeit auch auf Texte anderer Religionen übertragen. Juden, Christen und später Hindus und Buddhisten werden aus Sicht der Muslime nun zu »Leuten des Buches« (ahl al-kitâb) und genießen besonderen Schutz. Lessing und Coleridge prägen mit Blick auf die Zentralität der Schriften in manchen Religionen den Begriff der Bibliolatrie, der abgöttischen Bücherverehrung.92 Der starke Bezug zur Idee der Schriftlichkeit göttlicher Wahrheiten in der jüdischen und christlichen Tradition gegenüber bspw. den Hindu-Traditionen zeigt sich schon in den häufigen Einführungsformeln religiöser Texte. Während die Epen der Hindus äußerst komplexe und in sich verschachtelte Einleitungen entwickeln, in denen der primäre, sekundäre oder gar tertiäre Erzähler mitsamt seiner Erzählsituation eingeführt wird, adaptiert das Neue Testament die Formel der Septuaginta: »Es steht geschrieben« (ƩƠƧҷư ƢҮƢƯƠƴƠƨ). Die rabbinische Literatur und die islamischen Hadithe werden wiederum als Sprachakte präsentiert.93 Diese kurze religionsgeschichtliche Übersicht verdeutlicht, dass »Sprache«, »Schrift«, »Buchstaben«, geschriebene »Namen« und »Formeln« und endlich »Schriften« und »Bücher« keine neutralen Beschreibungskategorien als rein objektive termini technici der Medienwissenschaft abbilden, sondern ihrerseits kulturell und religiös höchst aufgeladene Begriffe darstellen. Die Frage nach dem Ursprung der gesprochenen Sprache wird eng mit der Utopie einer Urgemeinschaft der Menschen verknüpft, die dieselbe Sprache sprechen, die Gott dem ersten Menschen vermittelt hatte. Noch der Vergleich der Religionen durch 89 | Vgl. Graham 2005, 8197. 90 | Der Tanach ist ein Kunstwort aus den Initialen der drei Teile der jüdischen Überlieferung: der Tora, den Prophetenbüchern (Nevi’im) und den »Schriften« (Ketuvim). 91 | Vgl. Graham 2005, 8196; Cantwell Smith 1993, 7-15; Kratz 1999, 402f.; Stemberger 1999, 407. 92 | Vgl. Lang 1990, 144.; Graham 2005, 8197; Cantwell Smith 1993, 45-64. 93 | Vgl. Kippenberg 1992, 106f.
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Müller und die späteren Phänomenologen folgt diesem Impuls, nach der gemeinsamen und ursprünglichsten Botschaft der religiösen Überlieferungen zu fragen. Die religiösen Vorstellungen über Sprache und Schrift, die besondere Stellung des »himmlischen Buches« und die autoritative Geltung und kultische Verehrung der »Heiligen Schriften« belegen anschaulich ein fundamentales, wirkungsorientiertes Paradigma der religiösen Deutungsmuster der hier besprochenen Textmedien. Aus dieser Perspektive können Texte auch Wirkungen unabhängig von dem semantischen Gehalt der Zeichen haben – das Medium selbst trägt eine Botschaft, die von seinem gedachten Ursprung, der Sprache, gegebenenfalls dem Trägerstoff oder dem Aufbewahrungsort der Nachricht (wie im Falle der Fluchtafeln auf Friedhöfen) abhängig ist. Erst die Anwendung dieser emischen »Medientheorien«, die im Einzelfall sehr unterschiedlich ausgeprägt und gewichtet sein können, ermöglicht es dem Gläubigen, die Bedeutung und Relevanzen von Texten oder Textelementen im Kommunikationsprozess zu erschließen. Der Geltungsbereich dieser Beobachtungen umfasst mindestens die okzidentale Religionsgeschichte und diese soll uns vor allen anderen interessieren, da hieraus die erkenntnisleitenden Analysekategorien der europäischen Religionswissenschaft hervorgingen. Soll nun ein Verständnis für die jeweils neu aktualisierte Deutung bestimmter Medien entwickelt werden und sollen nun gar die analytischen Kategorien, mit denen die Religionswissenschaft arbeitet, kritisch hinterfragt werden können, so ist es unumgänglich, diese vielfältigen Konnotationen zu berücksichtigen. Wenn dies gelingt, so können die Selektionen, Ausblendungen und Legitimationsmuster eines Konzeptes wie »Heilige Schriften« oder »Buchreligion« sichtbar gemacht werden.
3.2.5 Die Konstruktion der »Heiligen Schriften« und der »Buchreligion« Die Diskussion um die »Heiligen Schriften« ist nicht nur aus medienwissenschaftlichem und wissenschaftsgeschichtlichem Interesse an der Phänomenologie der Religionen von Belang. Sie berührt auch aktuelle, systematische Zugänge der Religionswissenschaft. So legten jüngst Udo Tworuschka, Christoph Bultmann, Claus-Peter März und Vasilios Makrides zwei Anthologien mit dem Titel Heilige Schriften vor und Klaus Hock führt in seiner Einführung in die Religionswissenschaft die »Heiligen Schriften« rundweg unproblematisiert als Quellen mit grundlegender, konstitutiver Bedeutung ein.94 Sowohl die Theologische Realenzyklopädie (1976-2007) als auch das von Johann Figl herausgegebene 94 | Vgl. Tworuschka 2000b; Bultmann & März & Makrides 2004; Hock 2006, 31. Tworuschka verweist auch auf mehrere internationale Publikationen dieses Feldes, vgl. Tworuschka 2000a, 2.
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Handbuch Religionswissenschaft (2003) warten mit einem eigenen Artikel auf.95 Das Fachlexikon Religion in Geschichte und Gegenwart enthält seit der ersten Ausgabe (1909-1913) einen Eintrag zu den »Heiligen Schriften«, wenn dieser auch in der vierten Auflage (1998-2007) stark verkürzt wurde – die Autorin des Artikels, Daria Pezzoli-Olgiati, bleibt auf wenigen Zeilen lediglich die Anmerkung, dass »Heilige Schriften« alle Arten von geschriebenen Dokumenten seien, welche sich auf ein religiöses Symbolsystem beziehen.96 Bevor die historische Genese des wissenschaftlichen Konzeptes der »Heiligen Schriften« und der »Buchreligion« im Detail dargestellt wird, soll an dieser Stelle zunächst – ausnahmsweise biblisch mit Mt 7,16 – gefragt werden:97 Was leistet das Konzept der »Heiligen Schriften« im Ergebnis? Oder noch konkreter in Anlehnung an Wilfred Cantwell Smiths bekannten Buchtitel: What is scripture? Die wissenschaftlichen Beschreibungsmuster der »Heiligen Schriften« und der »Buchreligion« gehen bekanntermaßen auf Max Müller zurück.98 In seiner zweiten Vorlesung der Einleitung in die Vergleichende Religionswissenschaft in Oxford (26.2.1870) präsentiert Müller das Konzept der Buchreligionen (book-religions), zu denen er schließlich das Judentum, das Christentum, den Islam, den Hinduismus, den Buddhismus, den Zoroastrismus, den Konfuzianismus und den Taoismus zählt: »Mit diesen acht Religionen ist die Bibliothek der Heiligen Schriften des ganzen Menschengeschlechtes fertig und man könnte sagen, dass ein gründliches Studium dieser acht Bibeln der Menschheit … die Kräfte eines einzelnen Arbeiters nicht gerade übersteigen würde.«99 Die Typologie der »Buchreligion« ist damit von Beginn an mit der Idee der »Heiligen Schriften« verknüpft, wenngleich Müller direkt eine Reihe kritischer Überlegungen anschließt, da auch die mannigfaltige »religiöse Literatur« bzw. die »heiligen Bücher« inklusive umfangreicher Kommentare und theologischer Deutungen unbedingt zu berücksichtigen wären, um in angemessener Weise Religionsgeschichte betreiben zu können.100 Die Anlage der 50-bändigen Sacred Books of the East (1879-1910) ist damit vorgezeichnet und beinhaltet neben dem Koran, dem Avesta, den Upanishaden und grundlegenden konfuzianischen Schriften
95 | Vgl. Klimkeit & Vollmer 1999; Tworuschka 2003. 96 | Vgl. Pezzoli Olgiati 2000, Sp. 1549. 97 | »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.« Mt 7,16. 98 | Bernhard Lang verweist in diesem Zusammenhang auch schon auf den frühen Titeleintrag »Buchreligion« in Meyers Konversationslexikon von 1886. Vgl. Lang 1990, 144f. 99 | Müller 1876, 98. Vgl. auch Müller 1884, 255f. 100 | Vgl. Müller 1876, 106-112.
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sowohl weitere Offenbarungstexte als auch Ritualbücher, Epen und Gesetzestexte.101 Der niederländische Theologe und Religionsgeschichtler Pierre Daniël Chantepie de la Saussaye, der als Begründer der Religionsphänomenologie gilt, vermittelt im Lehrbuch der Religionsgeschichte (1887) einen Überblick über die vielseitigen Formen »religiöser Schriften«. Chantepie gibt sich in Abgrenzung zu Müller allerdings zurückhaltend im Hinblick auf das, »was man wohl die Bibeln der Menschheit genannt hat«, denn »im einzelnen wäre oft die Frage, ob ein Buch dazu gehöre oder nicht, schwer zu entscheiden.«102 Eine für weitere Ergänzungen offene Liste der »heiligen Schriften« mit kanonischer Geltung enthält zunächst das King und Shu der Chinesen, den Veda, das buddhistische Tripitaka, das Avesta, das Alte und Neue Testament und den Koran. Chantepie gibt jedoch zu bedenken, dass auch eine Vielzahl weiterer religiöser Schriften höchste Autorität in bestimmten Traditionen genießen können (z.B. die Schriften Luthers, Bunyans Pilgrim’s Progress usw.).103 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Kategorie der »Heiligen Schriften« bzw. der »religiösen Schriften« bei Müller und Chantepie noch sehr weitgefasst ist, auch werden die Begriffe häufig noch synonym für »religiöse/heilige Bücher und Texte« verwendet. Eine besondere Stellung nimmt allerdings Müllers Rede von den »acht Bibeln der Menschheit«104 ein, die Chantepie kritisch hinterfragt. Eine systematische Verengung erfährt das Konzept der »Heiligen Schriften« in der religionsgeschichtlichen Schule. Als Eduard Lehmann in der ersten Ausgabe der Enzyklopädie Religion in Geschichte und Gegenwart (1909-1913) die Erscheinungswelt der Religion (die Phänomenologie der Religion) erörtert, werden die »Heiligen Worte« differenziert als Inspiration des »lebendigen Wortes« und der »Heiligen Schriften« behandelt.105 Zu den expliziten »Bibeln der Menschheit« zählt Lehmann den Veda, das Avesta, das buddhistische Tripitaka, das Alte und Neue Testament und den Koran. Quellen der chinesischen, japanischen und altnordischen Religionen schließt er ausdrücklich aus, denn sie besäßen »zu viel von dem mythologischen, zu wenig von dem kultischen Charakter, um als eine wirklich heilige Schrift betrachtet werden zu können.«106 101 | Die Edition ist seit Kurzem vollständig online zugänglich: www.sacred-textcom/ sbe (01.03.2010). 102 | Chantepie 1887, 137. 103 | Vgl. Chantepie 1887, 137-141. 104 | Ob dies eine zufällige Analogie zur vollkommenen Zahl acht in asiatischen Kulturen und dem achtfachen Pfad im Buddhismus ist oder ob diese von Müller intendiert ist, kann hier nicht geklärt werden. 105 | Von diesen »Heiligen Schriften« zu scheiden sind Lehmann zufolge kultische Schriften, Lehrschriften, Lieder und Predigten. Vgl. Lehmann 1910, Sp. 547. 106 | Lehmann 1910, Sp. 547.
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Auch dem Adhi Granth der Sikhs und dem Buch Mormon spricht Lehmann die Anerkennung als »Heilige Schrift« ab, denn hier würde lediglich der Versuch unternommen, den Koran bzw. das Alte Testament nachzuahmen, um ebenfalls eine »Bibel« vorweisen zu können: »Nicht das System, sondern die Religion macht eine Bibel, und erst mit dem allgemein-menschlichen Werte dieser Religion erhält auch das Buch universelle Bedeutung.«107 Günter Lanczkowski erweitert in seinem Einführungsband in die »heiligen Schriften« (1956) diese Liste wieder: Neben Koran und biblischen Texten erscheinen nun Pyramidentexte, Sargtexte und das Ägyptische Totenbuch, der Talmud, Schriften der Mandäer und Manichäer, das Avesta, die gesamte Bandbreite von Shruti und Smriti im Hinduismus, der Adi Granth, buddhistische Texte auch jenseits des Tripitaka, Schriften des Daoismus und Konfuzianismus, die »ältesten und ehrwürdigsten Literaturdenkmäler Japans (Kojiki, Nihongi)« und das Buch Mormon.108 Friedrich Heiler spricht in seinem monumentalen Werk Erscheinungsformen und Wesen der Religion (1961) zunächst von den »Bibeln der Menschheit« bzw. »Menschheitsbibeln«. Das sind der Veda, die Upanishaden, verschiedene Schriften des Konfuzius, der Siddhanta des Jainismus, das Tipitaka des Theravada-Buddhismus, das Tripitaka des tibetischen Buddhismus und die zentralen Schriften des Daoismus, das Alte und Neue Testament, der Koran, der Granth der Sikhs, die sieben Werke des Mani und die 17 Offenbarungen der Nakayama Mikiko (der Gründerin der japanischen Tenriko-Gemeinschaft). Alle weiteren Texte wie die Puranas, Talmud und Mishna, Hadithe etc. zählt Heiler allgemeiner zu den »heiligen Schriften«.109 Einen etwas eigenwilligen Zugang hat der Religionswissenschaftler Carsten Colpe im Reallexikon für Antike und Christentum vorgelegt. Selbst wenn man die altgeschichtliche Orientierung dieser Enzyklopädie berücksichtigt, ist die Auswahl der »Heiligen Schriften« ungewöhnlich: Colpe zählt die ägyptische Totenliteratur, die liturgischen Pyramidentexte und Sargtexte, sowie Totenbücher und 107 | Lehmann 1910, Sp. 547. 108 | Vgl. Lanczkowski 1956, 10. Der in Lanczkowskis Artikel »Buch/Buchwesen I. Religionsgeschichtlich« für die Theologische Realenzyklopädie (1980) angekündigte Artikel »Schriften, Heilige« wurde später von Hans-Joachim Klimkeit & Ulrich Vollmer realisiert. Er umfasst dabei in etwa das von Lanczkowski vorgezeichnete Spektrum (mit einem ergänzten Schwerpunkt im Hinduismus und Buddhismus). Vgl. Lanczkowski 1980, 270; Klimkeit & Vollmer 1999, 500-510. 109 | Vgl. Heiler 1979, 342-349. Für Eliade und Gerardus van der Leeuw spielen die schriftlichen Zeugnisse nur eine marginale Rolle. Van der Leeuw findet »heilige Bücher« im Hinduismus (Veden), im Zoroastrismus (Avesta) und im Buddhismus (Tripitaka), merkt jedoch an, dass nur das Christentum, das Judentum und der Islam eine einzige »Heilige Schrift« kennen. Vgl. Leeuw 1977, 498ff.; Eliade 1989.
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Priesterbücher dazu, ebenso wie die Schriften der Orphiker, Gnostiker, Chaldäer, Mandäer, Manichäer und des Markion, Plotins Enneaden sowie die sibyllinischen Bücher,110 das Corpus Hermeticum, den jüdischen Tanach, das christliche Alte und Neue Testament, den Koran und das Avesta.111 Im Gegensatz zu allen vorhergehenden Systematiken besteht Colpe auf der Einschätzung, dass in den Religionen Indiens und Chinas keine »Heiligen Schriften« existieren. Hier fände man nur »religiöse Texte« vor, denn es wäre den Verfassern bloß, »so gut es eben geht«, um die Sicherung der mündlichen Überlieferung und nicht um eine Sakralisierung der Texte selbst gegangen, auch einen Kanonisierungsprozess kann er hier nicht erkennen.112 Dagegen sei es kein Zufall, dass im Gebiet von Mesopotamien bis Ägypten eine Vielzahl der »Heiligen Schriften« der Menschheit anzutreffen sei, denn dort glaubt Colpe den Ursprung des Gedankens des Schreibens lokalisieren zu können.113 In Tworuschkas Anthologie Heilige Schriften wird neben das Alte und Neue Testament auch der Talmud gestellt.114 Alle weiteren Kapitel behandeln – abgesehen vom Koran – jeweils die »Heiligen Schriften« (im Plural) des Zoroastrismus, des Hinduismus, des Buddhismus, des Sikhismus, des Taoismus, des Konfuzianismus, der Baha’i und kurz verschiedener neuer Religionen.115 Bultmann, März und Makrides besprechen in ihrem Sammelband Heilige Schriften (2004) neben biblischem Schrifttum lediglich die christlichen Handschriften der Karolinger, den Koran und die Hadithe.116 Nach dieser Zusammenstellung ist offensichtlich, dass das Konzept der »Heiligen Schriften« im Ergebnis keinen nennenswerten Erkenntnisgewinn verspricht. Einig sind sich die verschiedenen Autoren nur darin, dass das Alte Testament bzw. der Tanach, das Neue Testament und der Koran »Heilige Schriften« sind. Darüber hinaus scheint sich die simple Beobachtung zu bestätigen, dass meist diejenigen Texte zu den »Heiligen Schriften« gezählt werden, die zu 110 | Sammlungen der römischen Orakelsprüche seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. 111 | Vgl. Colpe 1988, Sp. 192-222. Ähnlich verfährt Rudolph, der jedoch auch noch Homer und babylonische wie auch römische Gesetzestexte zu den »Heiligen Schriften« hinzuzählt. Vgl. Rudolph 1988, 44. 112 | Vgl. Colpe 1988, Sp. 190. Colpe macht die Anerkennung als »Heilige Schrift« grundsätzlich von der »Würde und dem Wert einer beglaubigten Urkunde« abhängig, die eine Kultur diesen Dokumenten beimisst, vgl. Colpe 1987, 81-83. Ähnlich wie Colpe hatte auch schon Siegfried Morenz den Großteil »Heiliger Schriften« in der vorchristlichen Antike (Griechenland, Ägypten) vorzufinden geglaubt. Vgl. Morenz 1950, Sp. 710715; Morenz 1961, Sp. 1537f. 113 | Vgl. Colpe 1988, 191. 114 | Vgl. Hoheisel 2000. 115 | Vgl. Tworuschka 2000b. 116 | Vgl. Bultmann & März & Makrides 2004, 5f.
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den religionsgeschichtlichen oder philologischen Forschungsschwerpunkten des jeweiligen Wissenschaftlers zählen, so bspw. das buddhistische und hinduistische Schrifttum bei Müller, die Schriften der ägyptischen und griechischen Antike bei Colpe und Morenz. Dort, wo den Experten die nötige Ausdifferenzierung fehlt, existieren im Resultat dann auch keine »Heiligen Schriften«, wie bspw. für den gesamten schiitischen Islam oder für die mesoamerikanischen Kulturen. Die Rolle von Kommentar und deutenden Schriften (Talmud, Mishna, Hadithe, islamische Rechtsliteratur, Kommentare des Shankara zu den Upanishaden etc.) wird weitgehend marginalisiert, obwohl die sozial feststellbare Bedeutung dieser Texte diejenige der »Menschheitsbibeln« oft übersteigt. Die Etablierung wichtiger Schriften in neuen Religionen wird, abgesehen von den Mormonen, vollkommen ignoriert.117 Am Ergebnis lässt sich ablesen, dass gänzlich unklar ist, aufgrund welcher wissenschaftlich feststellbarer Merkmale und Kriterien Texte als »Heilige Schriften« gelten. Denn ob hier mythische, historische, ritualpraktische Texte oder Offenbarungszeugnisse und Gemeindebriefe dazuzählen oder gar, ob sich der Status als »Heilige Schrift« nur an dem Grad der Verehrung und der (am Christentum gemessenen) Verbindlichkeit und Wahrheit der Schrift ausrichtet, ist offen. Der Mangel an konzeptioneller Präzision ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass eine ausgewogene Reflexion dieser Kategorie von Texten meist ausbleibt oder von den Autoren nur oberflächlich vorgenommen wird.118 Dennoch lassen sich einige Merkmale in einem wissenschaftsgeschichtlichen Überblick identifizieren. Für Müller, der sicherlich die weiteste Fassung der sacred books oder »Heiligen Schriften« anwendet, ist die Kategorie wohl ohne weitere Erklärungen evident, alle Texte mit religiöser Bedeutung gehören dazu.119 Chantepies Phänomenologie der Religion weiß schon »heilige Steine, Bäume, Tiere, Zeiten, Orte und Personen« zu nennen und kommt dann auf die Vielfalt »religiöser Texte« zu sprechen.120 Mit Nathan Söderbloms Artikel »Holiness« (1913) und Rudolf Ottos Werk Das Heilige (1917) war die »Heiligkeit« der zentrale und offenbar allgemeingül117 | Als einzige Ausnahme mit Blick auf die neuen Religionen (seit dem 19. Jahrhundert) behandelt Renate Pitzer-Reyl in einem kurzen Beitrag auch die Schriften der Christian Science, Tenrikyo, Vereinigungskirche und des Universellen Lebens. Vgl. Pitzer-Reyl 2000, 276-286. 118 | Der Religionswissenschaftler Günter Lanczkowski, dessen Sammlung als Referenzwerk einer ganzen Generation von Religionswissenschaftlern und Theologen diente, verzichtet gänzlich auf eine kritische Diskussion der Kategorie »Heiliger Schriften«, obwohl ihm die Problematik der Auswahl bestimmter Texte offenbar bewusst ist. Vgl. Lanczkowski 1956, 7f. 119 | Müller 1876, 98. Vgl. auch Müller 1884, 255f. 120 | Vgl. Chantepie 1887, 137-141.
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tige Bezugspunkt für alle Arten religiöser Phänomene.121 So ist für Phänomenologen wie Gerardus van der Leeuw, Friedrich Heiler und Gustav Mensching das »Heilige Wort« bzw. sind die »Heiligen Schriften« nur ein Aspekt der vielfältigen Beziehungen des Menschen zum »Heiligen«. Der heilige Mensch, die heilige Gemeinschaft, das Heilige am Menschen, heilige Zeiten, Worte und Schriften, Räume und Handlungen sind für van der Leeuw, Heiler und Mensching die zentralen Vergleichspunkte aller Religionen.122 Einen entsprechenden Bezugspunkt wählt der Theologe Adolf von Harnack, um den Prozess zu erklären, wie Schriften zu »heiligen Schriften« wurden, »… entweder weil die Personen für verehrungswürdig und heilig galten, welche die Schriften verfaßt hatten, oder weil der Inhalt der Schriften erhaben und heilig war.«123 Systematisch schlägt Carsten Colpe ebenfalls in einem phänomenologischen Rahmen drei Perspektiven vor, um wissenschaftlich einen Text als »Heilige Schrift« bestimmen zu können: Erstens eine philologisch-positivistische Ebene, wenn also eine Schrift selbst mit dem Zusatz »heilig« im Titel auf ihre Sakralität verweist oder aber von anderen so bezeichnet wurde; zweitens eine funktionalistische Ebene, die den Status eines Textes in einer bestimmten religiösen Gemeinschaft und seinen autoritativen Charakter berücksichtigt. Schließlich plädiert Colpe auch für eine ontologische Perspektive, die eine »Heilige Schrift« essentiell als Verschriftlichung des »Heiligen« versteht, unabhängig von sozialen und funktionalen Aspekten.124 Colpe gelangt daher zu folgender Definition: »Unter Heiligen Schriften sind Texte sehr ungleichen Umfangs zu verstehen, denen aus verschiedenen Gründen die Dignität des Heiligen zukommt … Wenn religiöse Texte kanonisiert werden, werden sie Heilige Schriften, aber Heilige Schriften sind nicht als solche schon kanonisch.«125 Die Kanonisierung gilt seit Max Müller bei allen Religionswissenschaftlern sicherlich als das herausstechendste Merkmal der »Heiligen Schriften«, jedoch geht für Müller mit dieser Festlegung eine starke Wertung einher: »Und wie klein ist schliesslich die Anzahl der Religionen, welche einen allgemein anerkannten Canon besitzen, wie gering ist die Aristokratie der Buchreligionen in der grossen Masse der Religionen der Menschheit!«126 Es ist sicherlich keine Übertreibung zu behaupten, dass sich die religionsgeschichtlich-philologische 121 | Vgl. Söderblom 1913; Otto 1991, 5-7; Ahn 1997c, 517f. 122 | Vgl. Leeuw 1977; Heiler 1979; Mensching 1962, 120-148; ansatzweise schon bei Chantepie (1887). 123 | Harnack 1923, 65. Harnack ist sich allerdings der Probleme des »Heiligkeitskonzeptes« bewusst, wenn er auf das profane Hohelied Salomos im biblischen Kanon oder auf die volkstümliche Weihnachtslegende verweist. Vgl. Harnack 1923, 66f. 124 | Vgl. Colpe 1988, Sp. 184-190. 125 | Colpe 1988, Sp. 184f, Sp. 189. 126 | Müller 1876, 95.
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Forschung vor allem auf diese Prozesse der Kanonisierung konzentriert hat.127 Das eng damit verbundene Sujet der Zensur missliebiger Schriften, die natürlich weit über das Gebiet der Kanonisierungsprozesse »Heiliger Schriften« hinausreicht, befindet sich dagegen eher an der Peripherie religionsgeschichtlicher Studien.128 Neben dem Kanonisierungsprozess verweisen Chantepie de la Saussaye, Mensching, Morenz, van der Leeuw und Heiler auch auf die Wichtigkeit der religiösen Authentifizierungsstrategien der Schriften, die den göttlichen Ursprung durch Offenbarungs- und Auffindlegenden, ein hohes Alter oder durch die Annahme einer »himmlischen« Präexistenz der Schrift etc. plausibel machen wollen.129 Udo Tworuschka und Siegfried Morenz betonen darüber hinaus auch Aspekte der kultischen Verehrung, die einer Schrift zuteil werde. Morenz geht sogar soweit, zu behaupten, dass die »Heilige Schrift«, jedenfalls dort, wo eine echte »Heilige Schrift« vorzufinden sei, stets das Zentrum des religiösen Kultes bilde, ja der Kult nur Dramatisierung des heiligen Textes sei. Dieser kultischen Ausstrahlung der »Heiligen Schrift« sei auch die Überlegenheit des Christentums in der Antike zu verdanken. »In diesem Erbteil [der jüdischen Buchreligion: d. Verf.] besaß die Christusreligion eine Kraft, die sie stärker machte als die stärksten und aussichtsreichsten Mitbewerber um den Besitz der Seele des spätantiken und endlich abendländischen Menschen.«130 Aus der Existenz der »Heiligen Schriften« wurden seither eine Reihe von Schlussfolgerungen abgeleitet, die mit dem Typus der »Buchreligion« und dem sich anschließenden Vergleich der Religionen auf engste verbunden sind. Un127 | Ein gutes Beispiel für die anhaltende Fixierung auf Kanonisierungsprozesse sind die Beiträge im Sammelband Heilige Schriften (Bultmann & März & Makrides 2005). Eine eingehende Diskussion und historische Begriffsklärung des Kanonbegriffes liefert Jan Assmann (2007, 103-129). Von der Komplexität der Kanonisierungsprozesse, die oft mit der Zensur und Vernichtung von missliebigen Schriften und der Verfolgung ihrer Anhänger einhergehen, zeugen die Beiträge in Aleida und Jan Assmanns Kanon und Zensur als Initialprojekt der Studiengruppe Archäologie der literarischen Kommunikation. Vgl. Assmann & Assmann 1987, insbesondere der Beitrag von Leo Löwenthal zu Bücherverbrennungen als kulturellen Verdrängungsmechanismen. 128 | Diese »extreme Schieflage« zugunsten der Kanonisierungsforschung gegenüber der Zensurforschung ist insofern überraschend, als dass religiös geprägte Zensurbestimmungen bis heute weite Teile der öffentlichen Kommunikation (Bibliotheken, Museen, Verlage und alle Arten von populären Medien) betreffen. Vgl. Parekh 1998, 114118; Neumann 2001; Bräuer & Lück 2004 (Bib.); Rudolph 1988, 45. 129 | Vgl. Chantepie 1887, 139f.; Mensching 1937, 71-75; Morenz 1961, Sp. 1537f.; Leeuw 1979, 498; Heiler 1979, 342-364; Klimkeit & Vollmer 1999, 499. 130 | Morenz 1950, 714; Vgl. Tworuschka 2000a, 6-28; Tworuschka 2003, 588-589.
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umwunden führt Max Müller die »Buchreligion« (book-religion) in offensichtlicher Anspielung auf die islamische Kennzeichnung der »Leute des Buches« (ahl al-kitâb) in die Religionswissenschaft ein: Im Orient ist es eine ziemlich geläufige Ansicht, Buchreligionen von solchen Religionen zu unterscheiden, die auf kein Buch gegründet sind. Die ersteren gelten als die vornehmeren, und selbst wenn sie Irrlehren enthalten, betrachtet man sie doch als eine Art von Aristokratie gegenüber dem gemeinen Pöbel von buchlosen, unliterarischen Religionen.131
Angesichts der überwältigenden Vielfalt an religiöser Literatur und der vielen religiösen Traditionen, die über keine explizite »Heilige Schrift« verfügen, warnt Müller jedoch gleichzeitig vor der Fixierung auf die schriftliche Überlieferung:132 »But, in other respects, the very existence of these books creates new difficulties, because after all, religions do not live in books only, but in human hearts, … we are often tempted into taking the book for the religion.«133 Vor allem der Bonner Religionswissenschaftler Gustav Mensching entwickelte aus der von Müller selbst stark relativierten Kategorie der »Buchreligion« eine Typologie, die auf die wesenhafte Bestimmung der Religionen abzielt. Für den protestantischen Theologen Mensching ist das göttlich offenbarte »heilige Wort« das zentrale Moment in der Beziehung zwischen Mensch und Gott. Die Sprache als rituelle Formel, als Predigt oder im magischen Gebrauch ist dem untergeordnet.134 Religiöses Leben und Erleben erwacht, wenn irgendwie dem Menschen das Heilige in seiner Erfahrung begegnete … Was aber liegt für den Menschen näher, als solche Wesens- und Willensmitteilung der Gottheit durch das Wort zu erwarten, zumal dem naiven Menschen das Wort selbst eine geheimnisvolle, mit unheimlichen Dämonien geladene Größe ist? So kommt es zu der ersten grundlegenden Vorstellung, daß Gott redet. 135
131 | Müller 1876, 95. 132 | »Grosse Massen, ja einige der muthigsten Vorkämpfer in den religiösen und geistigen Kämpfen der Welt würden in dieser Bibliothek ohne alle Vertretung sein.« Müller 1876, 106. Vgl. Müller 1876, 98-111. 133 | Müller 1884, 254. 134 | Vgl. Mensching 1937, 37-89; Mensching 1937, 111-142. Wichtig ist in diesem Zusammenhang Menschings Religionsdefinition: »Religion ist erlebnishafte Begegnung des Menschen mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.« Mensching 1962, 15. 135 | Mensching 1937, 7.
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Zu den »Buchreligionen« zählt Mensching jedoch nicht alle Traditionen, die über eine »heilige Urkunde« verfügen, sondern nur jene, in denen das Buch die sogenannte Lebensmitte als Wesensmerkmal dieser Religion ausmacht. Dazu zählt er die Hindu-Tradition, das Judentum, den Islam und das Christentum ab der Spätantike – im Urchristentum stehen allein die Gestalt und Verkündigung Christi im Zentrum des Glaubens. Im Zoroastrismus, Konfuzianismus, Taoismus, Shintoismus und historisch im Alten Ägypten, Babylon und Assyrien erkennt Mensching keine bestimmende Bedeutung für die »Lebensmitte« dieser Traditionen. Die »Buchreligion« bildet für den Bonner Religionswissenschaftler einen bestimmten Typus der Offenbarungsreligionen ab.136 Bernhard Lang bezieht in Anknüpfung an Mensching das Konzept der »Buchreligion« auf das Judentum, das Christentum und den Islam und legt eine Geschichte des Christentums als »Buchreligion« vor, in der die Prägung des religiösen Lebens durch das Buch im Gottesdienst, in der Theologie, in der Schule etc. genau bestimmt wird.137 Für Kurt Rudolph hat der Religionshistoriker eine »Buchreligion« vor sich, wenn eine »Heilige Schrift« vorhanden ist.138 Ohne eine einzige Zeile an systematischer Diskussion bezieht Jacques Waardenburg den weitergeführten Begriff der »Schriftreligionen« auf quasi alle »historischen Religionen« von den Kelten und Germanen über das Judentum usw. bis hin zu den »chinesischen Religionen«.139 Das Vorhandensein von »Heiligen Schriften« bzw. der Typus der »Buchreligion« lässt gemäß einigen Religionsforschern nun weitere Aussagen über die entsprechenden religiösen Traditionen zu. Eduard Lehmann hatte in der Enzyklopädie Religion in Geschichte und Gegenwart (1910) angeregt, die Frage der Ausbreitung von Religionen mit der Existenz »Heiliger Schriften« zu verknüpfen: 136 | Vgl. Mensching 1962, 99-101. Im Gegensatz zu Mensching spielen die »heiligen Bücher« für van der Leeuw keine zentrale Rolle, er charakterisiert Typen von Religionen nach der ihnen innewohnenden Dynamik: Flucht, Kampf, Ruhe, Unruhe, Drang, Demut, Liebe etc. sind für ihn die auffallendsten Kennzeichen. Vgl. Leeuw 1977, 675744. Angelehnt an Nathan Söderbloms Feststellung, dass das, was für den Buddhismus die Lehre und für den Islam der Koran sei, die Person Christi für das Christentum ist, nutzt Udo Tworuschka die Idee der Lebensmitte einer Religion, um gerade auf die unterschiedliche Stellung der »Heiligen Schrift« im Islam, Christentum und Buddhismus hinzuweisen. Die sinngebende Mitte sei im Christentum die Person Christi, im Islam der Koran und im Buddhismus die Erkenntnis. Daher wären die »Heiligen Schriften« bloß äußerlich vergleichbare, aber keine analogen Phänomene. Vgl. Tworuschka 2000a, 4f.; Söderblom 1928, 124. 137 | Die Geschichte des Islam als »Buchreligion« bleibt hier skizzenhaft. Vgl. Lang 1990, 145-164. 138 | Vgl. Rudolph 1988, 43. 139 | Vgl. Waardenburg 1986, 84-86.
M EDIENGESCHICHTE ALS R ELIGIONSGESCHICHTE In der Tat haben nur diejenigen Religionen, die eine Bibel haben, Raum und Zeit überwinden können; und es ist kein Zufall, daß eben die drei Weltreligionen: der Buddhismus, das Christentum und der Islam, ihre Religion am schönsten in Büchern niedergelegt haben. Das Neue Testament ist wiederum das reinste religiöse Erzeugnis unter diesen heiligen Schriften …140
Bernhard Lang und Jörg Rüpke schließen sich dieser Auffassung an, denn es erscheint ihnen vollkommen plausibel, dass mit der Verschriftlichung von religiösen Ideen eine gesteigerte »Transportfähigkeit« einhergehe, da unabhängig von Sakralbauten und Kultgegenständen das Wort Gottes in der ganzen Welt verbreitet werden könne.141 Lehmann, Lang und Rüpke unterlassen es jedoch, empirische Belege für diese weitreichende These beizubringen, die in fast allen historischen und gegenwärtigen Kontexten gravierende empirische Probleme bereiten würde: Wie ließe sich vor diesem Hintergrund der missionarische Erfolg der nur mündlich tradierten Lehre des Buddhismus der ersten Jahrhunderte oder gegenwärtig die Verbreitung der kultzentrierten afroamerikanischen Religionen (Santería, Candomblé, Umbanda, Voodoo) erklären? Und andersherum: Wieso sind Traditionen mit religiösen Schriften wie das Judentum oder der Konfuzianismus missionarisch »erfolglos«? Allein diese sehr oberflächlichen Rückfragen zeigen, dass aus der Abwesenheit oder dem Vorhandensein von »Heiligen Schriften« keinerlei einfache, deterministische Schlüsse über Art und Form der Verbreitung einer Religion gezogen werden können. Die von Lehmann formulierte These diente ursprünglich der Erklärung des missionarischen und kolonialen Erfolges und der wesenhaften Überlegenheit des Christentums, ist jedoch der wissenschaftlichen Religionsforschung unserer Tage vollkommen unangemessen. Die zweite Konsequenz, die mit der Verschriftlichung von religiösen Ideen verbunden wird, ist ein Prozess der zunehmenden Vergeistigung und Rationalisierung, den bereits Joachim Wach zu beobachten glaubte.142 Bernhard Lang nimmt an, dass in der »Buchreligion« der Kult nicht eingeschränkt oder verdrängt werde, sondern intellektualisiert, während für Daria Pezzoli Olgiati die Verschriftlichung ein Kennzeichen der distanzierten Reflexion zum Text ist.143 Jörg Rüpke stellt ferner mit Blick auf nur mündlich tradierte Religionen fest, dass sie keine »Religion im Sinne eines ausdifferenzierten, eigenständigen Systems« seien. Als Begründung führt er an, dass religiöse Gedanken, Akte und Vorstellungen in mündlich geprägten Kulturen nur in alltäglichen Situationen und in pragmatischen Zusammenhängen (Wetter, Wirtschaft, Politik, Leben) 140 | Lehmann 1910, Sp. 547. 141 | Vgl. Lang 1990, 146; Rüpke 2005, 198; Rüpke 2007, 46f. 142 | Vgl. Wach 1951, 24f. 143 | Vgl. Lang 1990, 144; Pezzoli Olgiati 2000, Sp. 1549.
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geäußert werden könnten: »Die Situation, in der Religion nur Religion thematisiert, kommt typischerweise nicht zustande.«144 Rüpke verzichtet allerdings darauf, aufzulösen, welches Vorverständnis er von Religion hat, um zu bestimmen, wann »Religion denn nur Religion« sei – er spricht auch den religiösen Spezialisten schriftloser Kulturen das Vermögen ab, sich explizit religiös zu äußern, da ihr Standpunkt sich immer auf Situationen beziehen würde, »die nicht nur religiös sind«.145 Schriftlichkeit dagegen eröffne der Religion eine Steigerung der Komplexität religiöser Gedanken, ein individuelles Durchdenken von Problemen in Auseinandersetzung mit einem religiösen oder philosophischen Text und die langfristige Präsenz schriftlich fixierter Gedanken. Und schließlich: »Religion kann nun überlegen, was sie eigentlich selbst ist, unabhängig von pragmatischen, alltäglichen Kontexten.«146 Kommunikationstheoretisch fragwürdig ist Rüpkes Annahme, dass »Religion« selbst (an Stelle religiöser Akteure) zu Reflexion fähig sei und dass Rüpke hier offenbar einem evolutionistischen Paradigma folgt, das die Ablösung von mündlicher Tradierung durch Schriftlichkeit suggeriert. Es ist jedoch eine unbestreitbare und triviale Feststellung, dass die mündliche Kommunikation auch nach der Erfindung der Schrift auf allen Ebenen des religiösen Lebens – im Ritual, in der moralischen Unterweisung, in der Lehre und Diskussion religiöser Ideen – fortbesteht. Dass mit der von Jörg Rüpke vorgenommenen Fixierung auf die Tradierung religiöser, textlich fassbarer Ideen die bildliche und die musikalische Dimension von Religion marginalisiert wird, mag neben der völligen Ausklammerung der von Tworuschka stets betonten textpraktischen Aspekte noch als geringeres Problem erscheinen.147 Denn ohne die Frage zu berücksichtigen, wie denn die (Vor-)Lese- und Interpretationspraxis aussieht, wie der Zugang zu Texten geregelt ist, ganz zu schweigen von den sozialen und religiösen Bedingungen der Alphabethisierung in einer bestimmten Gesellschaft, lässt sich keine Aussage über die »Individualisierung« oder »Transportfähigkeit« rein mündlich tradierter Religionen im Vergleich mit (rein) schriftlich tradierten Religionen – wenn es die denn geben sollte – generieren. Viel schwerwiegender als diese kommunikationstheoretischen Schwierigkeiten, die Rüpke mit seiner Analyse bereitet, sind jedoch die inhaltlichen Implikationen, die sich aus der Gegenüberstellung von »Buchreligion« und 144 | Rüpke 2005, 200. 145 | Vgl. Rüpke 2005, 200f. 146 | Rüpke 2005, 201f.; Rüpke 2007, 44-52. 147 | Annette Wilke und Oliver Moebius haben in ihrer umfassenden Studie Sound and Communication unter textpraktischen Gesichtspunkten überzeugend darstellen können, dass Texte in Hindutraditionen eigentlich erst durch die klangliche Dimension während der lauten Rezitation Bedeutung für den Leser und die eventuellen Zuhörer erlangen. Vgl. Wilke & Moebius 2011, 207-217.
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schriftloser Religion ergeben. Zunächst ist die These, dass sich erst mit Schriftlichkeit komplexe religiöse Denksysteme etablieren können, faktisch widerlegt – die frühen buddhistischen Lehren wurden mindestens 150 Jahre lang nur mündlich weitergegeben und es entwickelte sich sogar eine hochkomplexe Kommentartradition.148 Zum anderen würde diese Annahme kolonialistische Stereotypen wiederholen, die »schriftlosen« Kulturen per se die Fähigkeit zur Entwicklung komplexer Ideensysteme absprechen und damit erneut die zivilisatorische Überlegenheit des Abendlandes aufzeigen würden.149 Diese Schlussfolgerungen Rüpkes sind insofern erstaunlich, als dass er das Konzept der »Heiligen Schriften« an sich sehr kritisch betrachtet.150
3.2.6 Perspektiven Die Verwendbarkeit der analytischen Kategorie der »Heiligen Schriften« wurde in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere seitens der englischsprachigen Religionswissenschaft grundlegend in Frage gestellt, zumal das Konzept hier auch niemals eine ähnliche Verbreitung wie in der deutschsprachigen und niederländischen Phänomenologie erfahren hatte. William A. Graham in der Encyclopedia of Religion (2005) und Wilfred Cantwell Smith in seinem Werk What is Scripture? (1993) führen vor allem das Problem der Differenzierung zwischen »Heiligen Schriften« (holy scriptures/sacred books) und anderen religiösen Texten an, die in den meisten religiösen Traditionen außerhalb des Christentums keinen Sinn machen würden. Schon Chantepie de la Saussaye mahnt, dass es inhaltlich kein einheitliches Kriterium für die Bestimmung »Heiliger Schriften« gäbe, da das Referenzwerk dieses Konzeptes, das Alte Testament Mythos, 148 | Zur mündlichen Tradierung des Pali-Kanon vgl. Cousins 1983; Gombrich 1988. 149 | Eine »afrikanische« Philosophie oder ein Denken über die Stellung des Menschen in der Welt in schriftlosen oder vorgeschichtlichen Kulturen dürfte es unter diesen Vorzeichen nicht geben. Diese kolonial bedingte Einschätzung wurde bereits 1945 von Placide Tempels’ Werk La Philosophie Bantoue in Frage gestellt, dessen Rezeption zu einem komplexen Diskurs über die Eigenständigkeit »afrikanischen Denkens« führte. Vgl. dazu: Oluoch Imbo 2002; Eliade 2007, 12; Heckelsmüller 2011, S. 59f. 150 | Rüpke kritisiert grundlegend die Ansätze Lanczkowkis und Tworuschkas, da es konzeptionell problematisch sei, welche textlichen Dokumente nun als »Heilige Schriften« in einer bestimmten religiösen Tradition identifiziert werden könnten, ohne dass hier externe Hierarchisierungen und Wertungen einfließen würden. Anstatt das Konzept der »Heiligen Schriften« nun gänzlich ad acta zu legen, sieht er den Ausweg nun gerade darin, darüber nachzudenken, wie Religion durch Schrift verändert werde. Wenn die phänomenologischen Grundannahmen über die »Buchreligion« und die »Heiligen Schriften« jedoch implizit den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bilden, ist an dieser Stelle kein Erkenntnisgewinn zu erwarten. Vgl. Rüpke 2005, 196-200.
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Gesetzbuch und Gebetsbuch in einem sei.151 In Bezug auf den Status der Texte geben Cantwell Smith und Graham zu bedenken, dass bspw. die Puranas im Hinduismus und die Mishna im Judentum als moralische Richtschnur für das religiöse Handeln weitaus verbindlicher und maßgeblicher als der Veda bzw. die fünf Bücher Mose sind. Andererseits können ausgewählte Elemente einer »Heiligen Schrift« ganz unterschiedlich rezipiert werden – Cantwell Smith demonstriert dies wie vor ihm bereits Harnack am Hohelied Salomos, das als profanes Liebesgedicht in den alttestamentlichen Kanon aufgenommen wurde und in der Folge sehr verschieden rezipiert wurde.152 Cantwell Smith und Graham schlagen daher ein relationales Konzept vor, das zwar religiöse Texte als Fragehorizont beibehält, diese jedoch stets in Beziehung zu einer bestimmten Gemeinschaft erörtert.153 Eine universal gültige Kategorie »Heiliger Schriften« würde sich unter diesen Prämissen jedoch verbieten: »I suggest: scripture is a human activity … On close inquiry, it emerges that being scripture is not a quality inherent in a given text, or type of text, so much as an interactive relation between that text and a community of persons (though such relations have been by no means constant).«154 Das relationale Paradigma fokussiert die faktischen Rezeptionsverläufe von Textkörpern und ihren Inhalten. Es begreift die schriftliche und mündliche Kommunikation über Texte und die weiteren Textpraktiken als Interaktion zwischen Menschen, die in diesem Prozess von Deutung und Praxis den Texten erst Sinn verleihen. Die Kritik von Cantwell Smith und Graham erlaubt es nicht nur, das essentialistische Paradigma der »Heiligen Schrift« und der »Buchreligion« zu überwinden, sondern eben diese religionswissenschaftlichen Kategorien wissenssoziologisch selbst als Teil dieser Relation zu religiösen Texten zu begreifen. Zunächst ist offenbar geworden, dass das von Müller aus dem Islam importierte Konzept der »Buchreligion« und die dem christlichen Sprachgebrauch entlehnte »Heilige Schrift« nicht mehr als eine Tautologie ist. Wenn nämlich diese im Judentum, im Christentum und im Islam gewonnenen Merkmale »Heiliger Schriften« nun auf die textlichen Zeugnisse mit dem Ergebnis an151 | »In die kanonischen Sammlungen ist allerlei aufgenommen, was früher liturgisch, rituell oder ceremoniell war, und Stücke des Kanon werden als solche wieder liturgisch gebraucht.« Vgl. Chantepie 1887, 140. 152 | Vgl. Graham 2005, 8194f., 8197-8200; Cantwell Smith 1993, 21-44, 92-123; Harnack 1923, 66f. 153 | Auch Hans G. Kippenberg plädierte schon 1995 für eine »lebenspraktische« Perspektive in der Frage textlicher Überlieferungen der Religionen. Vgl. Kippenberg 1995, 13f. Hartmut Zinser hält die von Lanczkowski und Colpe etablierten Merkmale ebenfalls nur für begrenzt hilfreich, da sie von den Autoren nicht konsequent umgesetzt würden. Vgl. Zinser 2010, 178. 154 | Cantwell Smith 1993, IX, 18.
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gewandt werden, dass ohne jeden Zweifel nur diese drei Religionen über eine »Heilige Schrift« verfügen, so zeigt sich dieser tautologische Charakter in aller Deutlichkeit. Die Texte anderer Religionen wurden meist nach den Präferenzen der jeweiligen Forscher mal zu den »Heiligen Schriften« hinzugezählt, mal ausgeblendet. Im schlimmsten Falle geschieht dies nach undurchsichtigen Ausschlusskriterien etwa asiatischer Schriften wie im Falle Colpes oder Rüpkes, wenn hier teils der (rein) religiöse Charakter der Schriften bestritten wird. Hartmut Zinser ist sich dieser konzeptionellen Schwäche der »Heiligen Schriften« bewusst und spricht daher allgemein nur von »religiösen Texten«. Als »heilige Texte« seien – ganz im Sinne der hermeneutischen Wissenssoziologie – nämlich nur solche Schriften im Christentum, Islam und Judentum anzusehen, »die von einer religiösen Gemeinschaft selber als heilig angesehen werden«.155 In einem zweiten Schritt bedeutet die Abkehr von einem essentialistischen Verständnis »Heiliger Schriften« auch, dass die letztlich theologische Vorstellung aufgegeben wird, dass ein Text eine feste und über die Zeiten hinweg konstante Wirkung haben könnte. Diese Annahme ist natürlich eng mit den religiösen Anschauungen über den göttlichen Ursprung der Schrift und der Sprache und über die Wirkmächtigkeit der Schrift und Sprache schlechthin verbunden. Das von Cantwell Smith etablierte relationale Paradigma »Heilige Schrift« nun als human activity zu verstehen, lenkt das Augenmerk nicht nur auf die von Tworuschka betonte Frage nach dem praktischen Umgang mit »Heiligen Schriften«, sondern viel grundsätzlicher auf die dynamischen Prozesse der Rezeption religiöser Texte. Welche Texte stehen für eine bestimmte Gemeinschaft oder Richtung innerhalb einer großen religiösen Tradition tatsächlich im Zentrum? Wie verändern sich der Status und die Verbindlichkeit dieses Textes im Laufe der Zeit? Welche Texte werden unter Umständen gar als »Heilige Schrift« bezeichnet, sofern dieser Begriff in der Eigenterminologie der spezifischen Tradition überhaupt zulässig ist? Hans-Georg Soeffner sieht die geschichtliche Dynamik der Interpretation und letztlichen Entzauberung von »Heiligen Schriften« gar in der Praxis der Exegese selbst begründet: Die fortgesetzte und sich damit zwangsläufig ändernde schriftliche Kommentierung einer heiligen Schrift bringt statt der Unveränderbarkeit eines sich immer und ewig gleichbleibenden Gehaltes die wechselseitigen Interpretationen, die Ungewissheit des vorgeblichen Wissens hervor. Sie fördert damit Häresien und Reformation und zugleich die Entstehung und Entwicklung der wissenschaftlichen Hermeneutik …156
155 | Zinser 2010, 168. 156 | Soeffner 1989, 89.
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Ähnlich verbindet Hartmut Zinser seine jüngste Kritik am Konzept der »Heiligen Schriften« mit einer universalen Säkularisierungs- bzw. Privatisierungsthese. Durch die Auflösungserscheinungen sozial verbindlicher Religionsformen in der Moderne könne es sogar sein, »daß es heute keine heiligen Texte mehr gibt, da den überlieferten die früher mit heiligen Texten verbundenen Merkmale abhanden gekommen sind, bzw. sie nicht mehr anerkannt werden … Es könnte daher sein, daß wir von heiligen Texten nur in der Vergangenheitsform sprechen können …«157 Selbst wenn diese These überzogen erscheinen mag, lenkt die hier implizierte Abkehr vom essentialistischen Schriftverständnis den Blick auf Prozesse der Vernachlässigung von bestimmten religiösen Textpraktiken (Lektüre, Auswendiglernen). Mit dem von Cantwell Smith entwickelten relationalen Paradigma geraten soziale Konstruktions- und Rezeptionsprozesse der religiös genutzten Texte in den Fokus religionsgeschichtlicher Untersuchungen. Christoph Markiesch verweist in diesem Rahmen auf das komplexe Zusammenspiel zwischen theologischen Interessenlagen und der medialen Infrastruktur – nämlich den frühchristlichen Bibliotheken, Buchhändlern und Schriftsammlungen, die einen Kanonisierungsprozess erst möglich machten.158 Im Bereich der jüngeren Religionsgeschichte konnte Michael Bergunder im Detail den Prozess nachzeichnen, durch den die Bhagavadgita erst am Ende des 19. Jahrhunderts zur zentralen »Heiligen Schrift« des Hinduismus gemacht wurde. Bis zu dieser Zeit war die Bhagavadgita nur eine unter vielen wichtigen Schriften der HinduTraditionen. Sie war allerdings 1785 die erste Übersetzung einer Sanskrit-Schrift in eine europäische Sprache und erfuhr daraufhin eine breite Rezeption. Für die von Helena P. Blavatsky und Henry Steel Olcott begründete Theosophische Gesellschaft, die 1879 ihr Hauptquartier nach Indien verlegt hatte, galt die Bhagavadgita bereits als zentrale Referenzschrift des Hinduismus. Maßgeblich beeinflusst durch theosophische Diskurse wurde die Schrift dann auch unter indischen Intellektuellen und den neohinduistischen Reformern wie Swami Vivekananda, Aurobindo Ghose und Gandhi zum wichtigsten religiösen Text der Hindus erklärt.159 Im Feld des Zoroastrismus hat Michael Stausberg die Rolle insbesondere der westlichen Zoroastrismusforschung bei der »Erfindung« des heute gültigen Schriften-Kanons herausgearbeitet.160 Beide Fälle sind im Rah157 | Zinser 2010, 182. Vgl. a.a.O., 176-183. Die These, dass sich normative und soziale Verbindlichkeit religiöser Gemeinschaften heute gänzlich aufgelöst hätten, wäre natürlich (an anderer Stelle) zu diskutieren. 158 | Vgl. Markschies 2007, 331-335. 159 | Vgl. Bergunder 2006b, 203-211. Interessanterweise firmiert die Bhagavadgita noch für Chantepie de la Saussaye als Erbauungsschrift der Vaishnava-Sekte, während er den Veda als »Bibel« der Inder betrachtet. Vgl. Chantepie 1887, 140. 160 | Vgl. Stausberg 1998b.
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men antikolonialer Emanzipationsbestrebungen gegenüber dem Christentum zu verstehen.161 Das relationale und interaktionistische Paradigma ist jedoch nicht nur von religionshistorischem und wissenschaftsgeschichtlichem Interesse, indem es die Dynamiken der Konstruktionsprozesse »Heiliger Schriften« erhellt, sondern es eröffnet für die wissenssoziologische Religionsforschung auch die Sicht auf Texte, die außerhalb eines definierten, religiösen Kanons liegen. Eine Überwindung des institutionengeleiteten Schemas von Kirche und Verkündigung ist angebracht. In Einzelfällen hat die Religionswissenschaft sogar schon zur Kenntnis genommen, dass sowohl Sachbücher als auch Belletristik eine wichtige Rolle für die religiöse Orientierung des Einzelnen spielen können.
Religionsrelevante Publizistik 162 Schon die Allensbach-Studie von 1969 über den christlichen Buchmarkt in Westdeutschland hatte gezeigt, dass unter engagierten Christen die Bibellektüre nur eine untergeordnete Rolle spielt, wogegen zahlreiche zeitgenössische Autoren mit Büchern aus dem christlichen Themenspektrum (Familie, Ethik, Dialog, kritische theologische Diskussion) auf große Nachfrage stießen. In der aktuellen MDG-Studie unter deutschen Katholiken rangiert die Lektüre der Bibel etwas vor den allgemeinen Büchern mit Religionsthematiken.163 Marilyn Ferguson, die Autorin des einflussreichen New Age-Buches The Aquarian Conspiracy (1980), bestätigt wiederum, dass die Bücher des Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin der am häufigsten zitierte Denker für die Anhänger der sanften Verschwörung seien.164 Schließlich lassen auch meine eigenen Feldforschungen den Schluss zu, dass der Roman The Mists of Avalon (1979, dt. Die Nebel von Ava161 | Vgl. Bergunder 2006b, 208f. 162 | Auf die Diskussion von Sachbüchern über Religion wird an dieser Stelle abgesehen, denn damit beschäftigt sich die wissenschaftliche Religionsforschung fast ausschließlich. 163 | In einer repräsentativen Untersuchung des Instituts Allensbach (1969) gaben schon 36 Prozent der Protestanten und 41 Prozent der Katholiken (wohlgemerkt nur solche, die sich aktiv mit religiösen Fragen beschäftigen) an, nie in der Bibel zu lesen; in der aktuellen MDG-Studie sind dies 57 Prozent der Katholiken. Dagegen zählten Schriften von Martin Luther, Heinrich Böll, Carl Friedrich von Weizsäcker, Billy Graham, Romano Guardini u.a. zur favorisierten Lektüre dieser christlichen Leserschaft. Heute genügt ein Blick auf die Bestsellerliste um die religiösen Lektürepräferenzen bei Margot Käßmann und dem Dalai Lama auszumachen. Vgl. Noelle-Neumann & Schmidtchen 1969, 79-82; MDG 2010a, S. 86f. 164 | Die sanfte Verschwörung ist der deutsche Titel der Aquarian Conspiracy. Ferguson hatte eine Befragung unter mehr als hundert Vordenkern und Praktikern des New Age durchgeführt. Vgl. Ferguson 1980, 50-51, 93, 420.
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lon) das wohl einflussreichste Werk für die Glaubensvorstellungen des rezenten Neopaganismus, insbesondere des Wicca und Keltentums, ist.165 Nachdem sich schon Mircea Eliade nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Autor von mehr als 20 Romanen und Novellen hervorgetan hatte,166 ist es vor allem den Bemühungen von Hans-Joachim Schoeps zu verdanken, dass die Belletristik bereits früh von der Religions- und Geistesgeschichte wahrgenommen wurde.167 Trotz der an sich bemerkenswerten und über die Jahrzehnte recht konstanten Zahl von ca. fümf Prozent der deutschsprachigen Buchpublikationen, die religiöse Themen verhandeln, muss ein systematischer Zugang, der das Verhältnis zu explizit religiöser Literatur und ihre Bedeutung für moderne Religionsbiografien klärt, noch entwickelt werden. Teils noch theologisch motiviert sind hier Untersuchungen zur Jesusfigur in der deutschen Gegenwartsliteratur oder zur Verarbeitung des Monotheismus und Ägyptenbildes in den Josephsromanen von Thomas Mann.168 Andere Untersuchungen haben sich den auch für die Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutsamen Literaten und Dichtern wie Herrmann Graf Keyserling und Stefan George gewidmet.169 Alexandra Grieser wiederum verfolgt am Beispiel des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa die systematische Fragestellung, wie sich die »schöne Literatur« seit der Aufklärung als Medium von Religionskritik etablieren konnte.170 Gregor Ahn und Anne Koch fassen mit Tolkiens Werken bzw. mit den Harry Potter-Romanen religiöse Elemente und Relevanzen von Fantasy-Literatur ins Auge, während Burkhard Gladigow und der Verfasser der vorliegenden Arbeit die Konstruktion von fiktionalen Religionen bzw. von Unsterblichkeitsutopien in der Science-Fiction betrachtet haben.171 Anne Koch ist es auch zu verdanken, im Rahmen der Religionswissenschaft erstmals Kriminalromane und ayurvedische Kochbücher als Aspekt der Lebenshilfe zu thema-
165 | Darauf deuten die Interviews meiner Studie unter Wicca-Anhängern von 20022005 hin, sowie Isabel Laacks Dissertation über das englische Glastonbury (2011). Die scharfsinnige Analyse des Mediävisten Olaf Templin (1998) zeigt auf, wie Zimmer Bradley den Stoff der Artussage als Religionskonflikt inszenieren konnte. 166 | Kritisch zu Eliades Rolle zwischen Literatur und Wissenschaft äußert sich Daniel Dubuisson (2005). 167 | Vgl. Schoeps 1959, 23-29. 168 | Vgl. Kantzenbach 1980; Assmann 2006. 169 | Vgl. Stephenson 1981; Flasche 1996. 170 | Vgl. Grieser 2006. 171 | Vgl. Ahn 1997b; Koch 2007a; Krüger 2004a, 216-237; einen guten Überblick über die vorhandene Literatur gibt Gladigow 2002, 271.
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tisieren.172 Eine vereinzelte Studie von Karl-Fritz Daiber liegt zur Repräsentation von Religionen in den millionenfach verbreiteten Heftromanen vor.173 Insgesamt muss festgestellt werden, dass die Bedeutung der modernen Literatur für die Vermittlung von Wissen über die eigene und über fremde Religionen nicht hoch genug angesetzt werden kann, wenn man berücksichtigt, dass es neben wenigen populären Publikationen (wie bspw. des Eugen Diederichs Verlages)174 und wissenschaftlicher Literatur in der Vergangenheit kaum Möglichkeiten gab, sich dieses Wissen anzueignen. Praktisch haben fast alle großen deutschsprachigen Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts auf die eine oder andere Weise religiöse Sujets verarbeitet, die abgesehen von den oben erwähnten Arbeiten von religionswissenschaftlicher Seite noch keine Würdigung erfahren haben. Verwiesen sei hier auf der Ebene der deutschsprachigen Novellen, Romane und Dramen allein der bereits verstorbenen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts auf Hermann Hesses Aus Indien (1913), Siddhartha (1922), Morgenlandfahrt (1932), Glasperlenspiel (1943); auf Gerhart Hauptmanns Der Apostel (1890), Hanneles Himmelfahrt (1894), Der Narr in Christo Emanuel Quint (1910), Lohengrin (1913), Parsival (1914), Der weiße Heiland (1920), Die Insel der großen Mutter oder Das Wunder von Île des Dames (1924); auf Ödön von Horváths Glaube, Liebe, Hoffnung (1932) und Der Jüngste Tag (1936); auf Alfred Döblins Babylonische Wanderung (1934), Der unsterbliche Mensch. Ein Religionsgespräch (1946); auf Erich Maria Remarques Liebe Deinen Nächsten (1941); auf Franz Werfels Höret die Stimme (1937), Der veruntreute Himmel (1939), Lied von Bernadette (1941), Der Stern der Ungeborenen (1946); neben den vier Josephsromanen auf Thomas Manns Beim Propheten (1904); auf Bert Brechts Die Bibel (1914), Baal (1922), Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1931), Die sieben Todsünden (1933); auf Stefan Zweigs Heilung durch den Geist. Mesmer – Mary Baker Eddy – Freud (1931) und Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt (1936); auf Anna Seghers Die Toten auf der Insel Djal (1924) und Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 (1936); auf Ernst Jüngers Heliopolis (1949); Friedrich Dürrenmatts Ein Engel kommt nach Babylon (1953) und Die Wiedertäufer (1967); Hugo Loetschers Noah. Roman einer Konjunktur (1967); Heinrich Bölls Wo warst Du, Adam? (1951), Der Engel schwieg (1992) und schließlich auf Stefan Heyms Ahasver (1981). Auf methodischer Ebene hat erstmals Michael Stausberg im Zusammenhang mit der Rezeption der Figur Zarathustras in der europäischen Geistesgeschichte die Möglichkeiten der Rezeptionsgeschichte für die religionswissenschaftliche Literaturforschung fruchtbar gemacht, die sich an die Arbeiten der 172 | Vgl. Koch 2005; 2007. 173 | Vgl. Daiber 1986, 80f. 174 | Eugen Diederichs (1867-1930) initiierte eine Werkausgabe von Novalis, eine Reihe zur Religion und Philosophie Chinas und Indiens, Ausgaben der Werke von Meister Eckhart, Martin Buber und Friedrich Schleiermacher. Vgl. Heidler 1991, 11-43.
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Konstanzer Schule um Hans Robert Jauß anlehnt. Erst die Rezeption eines Werkes in spezifischen sozialen, biografischen oder psychischen Kontexten bringt demnach in fortschreitenden Interpretationen seine Rezeptionsgestalten zum geistesgeschichtlichen Leben. Ein rezeptionsgeschichtliches Paradigma bezieht daher sowohl die Geschichtlichkeit eines Werkes als auch den historischen Kontext der Interpreten ein, indem es zugrunde gelegt, dass ein Kunstwerk weder in seiner Struktur noch die Kunst in ihrer Geschichte als eine Substanz oder Entelechie verstanden werden kann – wie es Hans Robert Jauß formuliert: Erst wenn die Differenz und Vielfalt der Auslegbarkeit nicht länger auf den objektiven Gehalt des Schriftsinns, sondern auf die subjektiven Bedingungen des Verstehens, näherhin: auf die Leistung verschiedener Auslegungsweisen gegründet werden, tritt die Wende zur modernen Hermeneutik ein. Danach gilt der Sinn des Textes nicht mehr als autoritativ vorgegeben, sondern als einem produktiven Verstehen zur Suche aufgegeben. Erst dann öffnet sich der Horizont des Verstehens auf Möglichkeiten, den Text im späteren Kontext immer wieder anders, näherhin als Antwort auf Fragen zu verstehen, die sich in seinem primären Kontext noch nicht stellen konnten.175
Dabei ergeben sich gemäß Stausberg aus dem hermeneutischen Ansatz der Rezeptionsgeschichte gravierende Konsequenzen für die gängige Darstellung der »Lehre« oder der »Botschaft« einer bestimmten Religion, Philosophie oder eines bestimmten literarischen Textes: Der historisch arbeitenden Religionswissenschaft wäre somit nicht so sehr die Aufgabe gestellt, aus der Vielzahl der Quellen die Theologie oder Mythologie einer Religion zu systematisieren, sondern Religionsgeschichte als eine Verkettung der von Anhängern bestimmter Religionen selbst in bestimmten geschichtlichen Situationen erbrachten produktiven Rezeptions- und Selektionsleistungen bestimmter Motive, Themen, Konzeptionen oder Texte vorzustellen …176
Unter dieser hermeneutischen Prämisse sind von einer semantisch konstanten Struktur her konzipierte Kategorien wie »Verkanntwerden« oder »Missdeutung« rezeptionsgeschichtlich nicht anwendbar. Für die Analyse von religiösen Motiven und Handlungsmustern in der Belletristik bietet sich damit die Möglichkeit, neue Kontextualisierungen und Interpretationen von überlieferten religiösen Motiven zu erschließen. Kann man im Bereich der »schönen Literatur« nur auf eine Reihe von einzelnen Fallstudien verweisen, so ist das Feld der religionspädagogischen Literatur aufgrund der Sonderstellung des Religionsunterrichtes in Deutschland 175 | Jauß 1987, 9. 176 | Stausberg 1998a, 3. Vgl. a.a.O., 2f.
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ausgesprochen gut erforscht, da an dieser Stelle religionswissenschaftliche und religionspädagogische Forschungsinteressen mit den Fragen der etablierten Schulbuchforschung konvergieren. Bildete anfangs die Frage nach der Darstellung außerchristlicher Religionen und hier vor allem des Islam in deutschen Religionslehrbüchern den Fokus,177 so liegen inzwischen auch internationale Vergleichsstudien und Untersuchungen zur Darstellung des Christentums und anderer Religionen in nicht-christlichen Religionsbüchern vor.178 Nur punktuell hat sich die Religionsforschung jedoch mit den neueren Formen der religiösen Publizistik befasst, die nicht einfach den Kategorien der explizit religiösen Literatur und Pädagogik, den Sachbüchern oder der Belletristik zuzuordnen sind. Spätestens seit den 1960er Jahren fanden Bibel-Comics in den Vereinigten Staaten und Comics aus den Hindureligionen Verbreitung, die sich an Kinder und illiterale Erwachsene wandten und die religiöse Erziehung und Mission erleichtern sollten.179 Heute besteht eine auflagenstarke religionspädagogische Literatur, die auf Comics zurückgreift – die Vita des Papstes Johannes Paul II. war bereits kurz nach seinem Ableben als Comic verfügbar.180 Auch wurden religiöse Sujets vielfach in fiktionalen Comic-Erzählungen mit historischem oder utopischen Hintergrund verarbeitet, wie in der 2005 auch filmisch als Immortal umgesetzten Comic-Trilogie La foire aux Immortels von Enki Bilal, in der die altägyptischen Gottheiten in das Geschehen einer zukünftigen Menschheit eingreifen.181 Erstmals hat Jutta Wermke das Genre der religiösen Comics aufgegriffen und einige Beiträge aus theologischer und pädagogischer Perspektive versammelt, während der Mensching-Schüler Demosthenes Savramis bemüht war, die Bedeutung der Superhelden von Comics für das Christentum zu ergründen.182 Vertiefend greift der evangelische Theologe Frank Thomas Brinkmann diesen Ansatz in seiner Habilitationsschrift auf, in der er nach der Analyse von populären amerikanischen Comicserien (Batman, Spiderman, Spawn, Sandman, Preacher) zu der Einsicht gelangt, dass Welt- und Selbster177 | Zum Islam in deutschen Religionsbüchern vgl. Tworuschka 1986 (evangelische Religionsbücher); Vöcking 1988 (katholische Religionsbücher); Nese 2003; Höpken 2004. Mit teils internationaler Perspektive zum Islambild in Schulbüchern vgl. Islamrat 2001; zu Schweizer Schulbüchern vgl. Jödicke 1997; zum Hinduismus in deutschen Schulbüchern vgl. Murken 1988; Hanneder 2006; zum Afrikabild vgl. Kemme 2004. 178 | Vgl. Hock & Lähnemann & Reiss 2006; zu Indien vgl. Göckel 2009. 179 | Vgl. Stapelfeld 1999, 56. 180 | Vgl. Mainardi 2006. 181 | Vgl. Bilal 1980; Hermsen 1999, 38f. Zahlreiche Publikationen aus dem 1974 gegründeten Genfer Verlagshaus Les Humanoïdes Associés entsprechen diesem Muster einer Synthese von historischen Mythologien und Science-Fiction. Vgl. www.humano. com (01.01.2010). 182 | Vgl. Wermke 1976; Savramis 1985.
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schließungsvorgänge bzw. Welt- und Selbstdeutungsvorgänge in der Religion wie im Comic zu beobachten seien und die praktische Theologie dieses »Credo der medialen Moderne« für ihre Zwecke nutzen müsse.183 Große Aufmerksamkeit erhielt das Gebiet der Cartoons und Karikaturen erst seit dem im Jahr 2006 eskalierten Streit um die Veröffentlichung von zwölf Zeichnungen des Propheten Mohammed in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten, obwohl die europäische Religionskritik schon seit der vorreformatorischen Zeit und verstärkt noch seit der Französischen Revolution auch umfassend auf blasphemische und verspottende Darstellungen des Papsttums bzw. des Christentums zurückgriff.184
Schlussfolgerungen Die Diskussion des religionswissenschaftlichen Konzeptes der »Heiligen Schriften« in Verbindung mit dem Typus der »Buchreligion« brachte einmal mehr ans Licht, wie sehr die Religionswissenschaft ein Teil der europäischen Religionsgeschichte ist. Die Annahme, dass sich bestimmte Texte durch »Heiligkeit« auszeichnen und ihnen damit letztlich ein göttlicher Ursprung oder eine besondere Wirkung zugesprochen wird, ist eng verknüpft mit den weiteren Vorstellungen über den Ursprung und die Wirkmächtigkeit von Sprache und Schrift. In der religionsgeschichtlichen Forschung findet dieses in letzter Konsequenz in der Wirkung des »Heiligen« begründete Paradigma seinen Widerhall im Konzept der »Heiligen Schriften«, die nur dann »echte Heilige Schriften« seien, wenn sie über eine »Kraft« verfügten (Morenz), wenn sie tatsächlich »sakralisiert« wurden und nicht nur der bloßen Überlieferung dienten (Colpe) oder wenn sie im Gegensatz zur mündlichen Tradierung »Religion nur als Religion« kommunizieren würden (Rüpke). Die weiterführenden Überlegungen, dass das Medium des Buches bestimmte Wirkungen wie die höhere Transportfähigkeit einer Religion oder wie die gesteigerte Rationalität des religiösen Denkens aufweise, sind offenbar mit dem wirkungsorientierten Paradigma »Heiliger Schriften« verbunden. Das von Cantwell Smith und Graham eingeführte relationale Paradigma und dessen Einbindung in die hermeneutische Wissenssoziologie kann die vielfältigen und dynamischen Textpraktiken und Rezeptionsprozesse von Texten in Zusammenhang mit den Fragen der Produktion und Distribution systematisch erschließen. Textanalytische Verfahren und sozialwissenschaftliche Methoden können sich hier fruchtbar ergänzen. Das interaktionistische Paradigma kann zudem in angemessener Weise auf die eingangs geschilderten Medienentwicklungen seit der europäischen Neuzeit reagieren, die vor allem durch eine Vervielfältigung von textlichen Me183 | Vgl. Brinkmann 1999, 20f, 220f. 184 | Zum aktuellen Karikaturenstreit vgl. Bechmann 2008; historisch zu religiösen Karikaturen: Fuchs 1903.
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dienprodukten gekennzeichnet ist. Konnte Max Müller noch acht »Bibeln der Menschheit« identifizieren (obwohl auch dieser Schritt schon höchst problematisch war), so kann in einer religiös pluralistischen Gesellschaft mit einem unüberschaubaren Angebot übersetzter, historischer wie auch rezenter religiöser Zeugnisse, Belletristik und Lebenshilfeliteratur eigentlich nur noch von einzelnen und kollektiven Rezipienten aus beurteilt werden, ob und in welcher Weise ein Text religiöse Bedeutung hat – scripture is a human activity. Historisch wie auch gegenwartsorientiert muss daher die Frage lauten: Was machen die Menschen mit den Medien?
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4 Religion und neue Medien Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt auch für Soziologen, die ihr Wissen nicht mehr im Herumschlendern und auch nicht mit bloßen Augen und Ohren gewinnen können.1 N IKLAS L UHMANN
4.1 D IE V IELFALT RELIGIÖSER M EDIEN Es kann wohl ohne Risiko die Aussage gewagt werden, dass es nichts gibt, was nicht als Träger von bildlichen und textlichen und damit auch religiösen Botschaften genutzt wurde. Die christliche Kunstgeschichte beginnt im 2. Jahrhundert mit Kleinstmedien, nämlich Schmucksteinen (Gemmen) und Amuletten mit Abbildungen von Christus und den Aposteln.2 Die vermutlich älteste Darstellung des gekreuzigten Christus ist eine geritzte Karikatur aus dem frühen 3. Jahrhundert in den Wachstuben des römischen Kaiserpalastes, die Jesus mit Eselskopf und seinen Anhänger mit der Bildunterschrift ǕƒƌƝƈƓƌƔƖƙ ƙƌƉƌƚƌƏƌƖƔ (Alexamenos betet seinen Gott an) verspottet. Beginnend mit der ägyptischen, griechischen und römischen Grabkunst setzt sich die Platzierung religiöser Symbole, Darstellungen und Sinnsprüche auf christlichen Sarkophagen, Grabdenkmälern und Grabsteinen bis in die Gegenwart fort, deren Ausgestaltung meist vom sozialen Status und wirtschaftlichen Vermögen der Verstorbenen abhängt. Die Anfertigung der realistischen Totenportraits auf den ptolemäischen Sarkophagen entspringt vermutlich demselben Impuls gemalter Totenportraits, Totenmasken und Totenfotografien, die in katholischen Ländern seit dem 19. Jahrhundert auch in die Grabsteine und Kolumbarien eingelassen wurden. Moderne und antike Grabsteininschriften können in diesem Zusam1 | Luhmann 1996, 9, FN 1. 2 | Zu Talismanen und Bildamuletten vgl. Gladigow 1992 und die umfangreiche Dokumentation von Herrmann & Staubli 2010.
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menhang als Spiegel der Sozial- und Religionsgeschichte gelesen werden: Welche Botschaft soll als so wichtig erachtet werden, dass sie im Grabmal für jeden sichtbar festgehalten wird? Wann und in welchem sozialen Milieu ist es wichtig, den Beruf des Verstorbenen anzugeben? Wird an die Stelle persönlicher Angaben ein Bibelzitat als Zeichen der Verkündigung gesetzt? Wie haben sich diese materialen Erinnerungskulturen historisch entwickelt? Vielversprechend wäre im weiteren Zusammenhang auch die Analyse von Kondolenzbüchern: Zu welchem Zweck werden sie eingesetzt? Gibt es religiöse Bezüge in den Einträgen? Wie verändert sich der Gebrauch von Kondolenzbüchern in historischer Perspektive? Welche Rolle spielen soziale Netzwerke im Internet für die rezente Trauer- und Gedächtniskultur? Wie ist die Verbreitung dieses Elements von Trauer- und Gedächtnisbräuchen interkulturell zu bewerten? Es gibt wohl keinen anderen Ort, an dem die Vielfalt religiöser Medien so präsent ist wie an den religiösen Pilgerzentren der Geschichte und der Gegenwart. Wenn der Tatsache Rechnung getragen wird, dass Wallfahrtsorte immer auch für die lokale Wirtschaft und den Handel bedeutend waren, so ist offensichtlich, dass diese Zentren einerseits Umschlagplatz für allerlei Devotionalien sind und andererseits in Konkurrenz zu anderen Pilgerzielen auch auf Werbung angewiesen sind.3 Ottmar Keel und Thomas Staubli vom Bibel + Orient Museum der Schweizer Universität Freiburg konnten mit ihrer viel beachteten Ausstellung Werbung für die Götter (2003) eindrücklich zeigen, wie bereits altägyptische Wallfahrtsorte auf die Kleinstmedien der Amulette und Statuetten zurückgriffen, um in diesem Falle den memphitischen Lokalgott Ptah als Reichsgott zu stärken.4 Das Pendant zu den antiken und neuzeitlichen Nachbildungen des verehrten Bildes der Gottheit oder des Heiligen, das in unterschiedlichen Qualitäten von der Bronzestatuette und dem Schmuckamulett bis hin zu den massenhaft produzierten Gips- und Tonfiguren für jeden Geldbeutel verfügbar war, bilden heute Aufkleber, Buttons, Spazierstockaufschläge, T-Shirts und Mützen mit dem Emblem der Wallfahrtsorte. Letztere werden insbesondere in den Vereinigten Staaten auch für andere Formen religiöser Propaganda genutzt. An Marien-Wallfahrtsorten wie dem schweizerischen Einsiedeln wurden und werden teils noch heute zahlreiche gedruckte Andachtsbilder, Kerzen, Wachsbildnisse, Gebäck, Rosenkranzbehältnisse, Medaillons und Medaillen,
3 | Einen Literaturüberblick bietet Krüger 2003a. 4 | Vgl. Keel & Page Gasser 2003, 19f.
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Schabmadonnen,5 Schluckbildchen,6 Marienlängen,7 Miniaturhausaltäre und Klappbilder, Briefbeschwerer, Schnupftabakdosen, Aschenbecher, Taschenmesser und Bierhumpen, Jahreskalender und Skapuliere8 vertrieben, die allesamt mit Bildern der Schwarzen Madonna von Einsiedeln oder des Klosters versehen sind.9 Nicht nur christlichen Pilgerzentren sind mannigfaltige Medieninnovationen zu verdanken, sondern dergleichen Erfindungen sind auch bspw. im tibetischen Buddhismus dokumentiert. Kleinere oder monumentale Gebetsmühlen sind oft an den Außenwänden der Tempel eingelassen, um von den Händen der Pilger bewegt zu werden. Im Innern der Mühle oder auf dem Zylinder sind buddhistische Mantren aufgetragen, deren Rezitation durch das Drehen der Mühle ersetzt wird. Pilger nehmen jedoch nicht nur Andenken vom Wallfahrtsort und ihrer Reise (Pilgerstempelbücher) mit auf den Heimweg, sondern legen auch Wert darauf, ihre Präsenz am Pilgerzentrum dauerhaft zu dokumentieren. Dies geschieht durch die unorthodoxe jedoch über Jahrtausende bewährte Methode der Graffitti und Sgraffiti (Ritzungen) oder auf gelenktem Weg über Mystenlisten der Antike wie bspw. im Heiligtum der Großen Götter auf Samothrake oder über Mirakelbücher des christlichen Mittelalters, die einzelne Wunderwirkungen glaubhaft dokumentieren sollten. Votivgaben als Einlösung von Versprechen und Dankesgaben in Form von steinernen Bildnissen oder gestanzten Metallplättchen sind von der griechischen Antike bis in die christliche Gegenwart häufig mit den betroffenen Körperteilen (Beine, Augen etc.) versehen. Neuzeitliche Votivtafeln zeugen mit Bild und/oder Text von den Notlagen, in der 5 | Schabmadonnen oder Schabmadönneli wurden aus Ton gefertigt und enthielten vorgeblich Reliquienasche. Bei Krankheiten wurden kleine Spuren der Figuren abgeschabt und in Erwartung einer schnelleren Heilung vermischt mit Wasser getrunken. Vgl. Senti 2003, 138. 6 | Schluckbildchen sind gesegnete, auf dünnem Papier gedruckte Bilder von Heiligen, christlichen Symbolen oder Gnadenbildern, die vermischt mit der Nahrung einem Kranken zur raschen Genesung verhelfen sollten. Vgl. Senti 2003, 139. 7 | Marienlängen, Länge Mariae oder Heiligenlängen sind lange Papierbänder, die den Frauen zur Erleichterung ihrer Schwangerschaft und der Geburt um den Bauch gebunden wurden. Die Streifen waren mit Gebeten und frommen Texten bedruckt und waren vom 17. Jhd. bis zu Beginn des 20. Jhd höchst populär. Die Ordensleitung der Benediktiner von Einsiedeln warnte jedoch vor dem Gebrauch von Schluckbildern und Marienlängen. Vgl. Senti 2003, 139f. 8 | Skapuliere sind geistliche Schutzzeichen, die von den Mitgliedern der Skapulierbruderschaften getragen werden. Sie bestehen aus zwei Stoffbildern mit Motiven um die Jungfrau Maria und anderer Heiliger, die durch lange Bänder als Schultergurt miteinander verbunden sind und unter der Kleidung getragen werden. Vgl. Senti 2003, 150f. 9 | Vgl. Senti 2003, 124-151.
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den Gläubigen Hilfe zuteilwurde. In diesem Zusammenhang wären auch die moderneren Besucherbücher, die an Wallfahrtszielen oder sogar vereinzelten Stationen des Pilgerwegs ausliegen, von Interesse. Die Beispiele aus der Vermarktung von Wallfahrtsorten haben gezeigt, dass praktisch jeder mit Bildern oder Texten bedruckbare Gegenstand der Mitteilung religiöser und religionsrelevanter Botschaften oder der Zurschaustellung eines religiösen Bekenntnisses dienen kann – in der Schweiz trifft dies sogar für die Verschlussdeckel von Kaffeemilchdöschen zu, die Objekt einer besonders ausgeprägten Sammelleidenschaft sind. Auch Teebeutelverpackungen und -haltepapiere, die die gesundheitsfördernde Wirkung des Produktes preisen wollen, sind bisweilen mit dem Portrait christlicher oder indischer Heiliger versehen. Plakate mit Bibelzitaten sind in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten sehr verbreitet. In den vergangenen Jahren gab es in Großbritannien wie auch in der Schweiz eine öffentliche Debatte darüber, inwiefern öffentliche Busunternehmen religiöse und freidenkerische Werbebotschaften auf ihren Fahrzeugen platzieren dürfen, während sich in Nordindien die Bemalung von Bussen mit mythologischen Motiven großer Popularität erfreut. Fisch-Aufkleber und Autonummernschilder mit religiösen Motiven sind wiederum in den Vereinigten Staaten gefragt. Auch der Bereich der politischen Plakatwerbung darf hier nicht vernachlässigt werden. Religiös ausgerichtete Parteien, wie die Partei Bibeltreuer Christen in Deutschland oder die Evangelische Volkspartei in der Schweiz, greifen auf religiöse Symboliken und Botschaften zurück. Im Falle der Anti-MinarettInitiative in der Schweiz (2009) wurde Religion sogar zum Gegenstand rechtspopulistischer Agitation mit entsprechender propagandistischer Ausgestaltung. Trotz Millionenauflagen wurde das große Sujet der Briefmarken mit religiösen Motiven bisher nur innerhalb der Philatelie verhandelt, obwohl sich durch das staatliche Monopol der Briefmarkenlizenzen in der Geschichte der Moderne höchst komplexe Prozesse kollektiver politischer und religiöser Identitätskonstruktionen beobachten lassen. Ähnlich wie Münzen, jedoch mit einem höheren Aktualitätsgrad, werden Briefmarken in vielen europäischen Staaten mit religiösen Motiven und Leitfiguren anlässlich besonderer Festtage oder Jubiläen produziert. Man denke bspw. an den politisch-religiösen Anspruch auf das Erbe Martin Luthers, der 1983 mit den Briefmarkeneditionen zu seinem 500. Geburtstag in der Bundesrepublik und in der Deutschen Demokratischen Republik verbunden wurde.10 Was für Briefmarken gilt, ist auch auf die Bedeutung des seit der Antike verbreiteten Massenmediums des Geldes zu übertragen, also auf Münzen und Geldscheine. Seit den Münzprägungen griechischer Stadtstaaten und besonders ausgeprägt seit der Zeit der hellenistischen Herrscher werden religiöse Motive – Gottheiten, Kultbilder, vergöttlichte Herrscher, Heilige – zur breitenwirk10 | Beispielhaft für Spezialliteratur sei hier verwiesen auf Banka 1953.
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samen Legitimation politischer Macht verwendet.11 Dass dies keine historische Erscheinung ist, sondern auch für rezente Formen von kollektiven Identitätskonstruktionen Bedeutung hat, zeigt schon ein kurzer Blick auf die Münzen der Euro-Zone: Die Kathedrale von Santiago de Compostela ziert die spanischen 1-, 2- und 5-Cent-Münzen, während der heilige San Marino auf der 20-Cent-Münze der gleichnamigen Republik zu sehen ist. Interessanterweise greifen Malta und Zypern mit den Tempelanlagen von Mnajdra bzw. dem Idol von Pomos auf vorgeschichtliche Symboliken zurück. Im Iran wurden jüngst Geldscheine massenhaft mit Zitaten des Revolutionsführers Chomeini und Wahlsprüchen der Opposition beschrieben, um den Widerstand gegen das herrschende Regime auszudrücken. Noch ganz unbeleuchtet ist das Feld der Hinweisschilder mit religiösen Elementen, wie bspw. die Ankündigungen von Gottesdiensten an den Ortseinfahrten deutscher Gemeinden. Nicht nur die Art der piktogrammartigen Darstellung ist von Interesse, sondern auch die Frage, welche Religionsgemeinschaften unter welchen Bedingungen überhaupt auf ihre Veranstaltungen hinweisen dürfen und ob in naher Zukunft auch jüdische Gemeinden, Freikirchen und muslimische Gemeinschaften dieses Privileg nutzen können. Ein internationaler Vergleich dieser religiösen Werbe- und Ankündigungskulturen drängt sich auf. Interessant wären in diesem Zusammenhang auch die kleinformatigen Hinweisschilder auf die Gebetsräume von Flughäfen, Bahnhöfen und Krankenhäusern. Dort, wo Kleidungsstücke textliche oder bildliche Botschaften transportieren, wie bspw. im sichtbaren Label der 1997 in Montreal gegründeten Marke Muslim Gear,12 müssen weitere Analyseverfahren herangezogen werden, die der Zeichenhaftigkeit der Kleidung angemessen sind. Große Verbreitung haben in den Vereinigten Staaten inzwischen auch direkte Schriftverweise auf Kleidungsstücken erlangt: Das Kürzel »John 3:16« oder einfach nur die aufgedruckten Zahlen »3:16« werden vom Schriftkundigen als Zeugnis eines tief verwurzelten christlichen Bekenntnisses verstanden.13 Dass amerikanische Footballspieler diese Zeichen bisweilen auch als aufgemalte Camouflage unter den Augen tragen, verweist einerseits auf das weite Feld der Tätowierungen mit religiösen Bild- und Textelementen und andererseits auf die mögliche Breitenwirkung dieser an sich intimen Hautbilder, wenn sie von Prominenten in den Medien platziert werden. Bestes Beispiel ist hier sicherlich der Fußballer David 11 | Vgl. Bergmann 1998; Smith 1988; zu Heiligen auf zeitgenössischen Schweizer Münzen vgl. Tobler 1974. 12 | Vgl. Malik 2007, 54f. 13 | Aus dem Johannesevangelium (3,16): »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«
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Beckham mit seinen drei vielfach replizierten, großformatigen Kreuz-, Engelund Jesustattoos.14 Eine leicht zu übersehene Gruppe von Phänomenen bilden schmuckhafte Accessoires von Herrenkleidung: Anstecknadeln für das Revers, Ringe mit Emblem oder Siegel und sogar Manschettenknöpfe, die im profanen Zusammenhang von der Zugehörigkeit zu einem beliebigen Verein, einer Universität oder Familie zeugen können und im religiösen und weltanschaulichen Kontext von der Mitgliedschaft oder der hierarchischen Stellung in einer entsprechenden Gemeinschaft künden. Viele Freimaurer und Anhänger christlicher Laienbewegungen tragen Anstecknadeln oder Ringe und auch Scientologen verfügen über ein ganzes Repertoire an Ringen. Nur verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die meist apotropäisch und glückswirksam verstandene und seit der Antike ungebrochene Nutzung religiöser Symbole und Bildmotive im (Mode-) Schmuck – die heutigen Quellen reichen von den Kelten, Germanen, Griechen, Römern, Christen und Ägyptern bis hin zum tibetischen Buddhismus und den chinesischen Traditionen.15 Einen ganz eigenen Bereich formen schließlich die offiziellen (Ring-)Siegel und Ketten von Amtsträgern, die auch im Rahmen eines rein säkularen Amtes – wie des Bürgermeisters oder Universitätspräsidenten – durchaus noch religiöse Sujets und Sinnsprüche wiedergeben. Dem kleinformatigen Schmuck entsprechen im Großen szenische und symbolische Darstellungen im antiken und mittelalterlichen Mosaik, im kunstvoll gestalteten Glasfenster und im Wandteppich oder sogar in Stoffbezügen von (meist kirchlich verwendeten) Möbeln. Im Rahmen akustischer Aufzeichnungsmedien haben die Schallplatte und die Hörkassette eine nicht zu unterschätzende Relevanz für die Verbreitung religiöser Botschaften und Inhalte – von der Bedeutung des Phonografen für die religionsethnologische Forschung wird noch die Rede sein. Der in die Vereinigten Staaten ausgewanderte Erfinder Emil Berliner (1851-1929) hatte 1887 die Aufnahme- und Abspieltechnik der »Schallplatte« entwickelt und besprach diese Tonträger seines Grammophons anfangs noch selbst. Die erste im Jahr 1889 hergestellte Schallplatte aus einer Latexverbindung, die dann auch kommerziell verbreitet wurde, enthielt das Vater unser-Gebet, auf dem noch erhaltenen Exemplar der Schallplatte Nr. 25 folgte das englische Lord’s Prayer aus dem Book of Common Prayer (1662) in voller Länge.16 Seit 1899 ziert ein schreibender Engel als Firmenlogo alle Schallplatten aus dem Hause Berliner.17 Neben Ku14 | Vgl. www.time.com/time/photogallery/0,29307,1870689_1823241,00.html (01. 01.2010). 15 | Einen kleinen Überblick bietet etwa Avalon’s Treasury: www.amulette-kelten.de (01.01.2010). 16 | Vgl. www.muslimgear.com (01.01.2010). 17 | Vgl. Kittler 1995, 293.
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riositäten wie der vom publizistisch umtriebigen Hellseher Erik Jan Hanussen (1889-1933) produzierten »hellsehenden Schallplatte« sind die Schallplatte und ihr Nachfolgemedium ab Beginn der 1980er Jahre, die Compact Disc, als Träger von religiöser Musik und seltener auch von Ansprachen und Predigten von religionswissenschaftlichem Interesse. Ähnliches gilt natürlich auch für MP3Player und das Apple iPod.18 Was jedoch die CD der Schallplatte in Bezug auf Klangqualität und Spieldauer voraushat, das büßt sie im Hinblick auf das Plattencover ein. Diese oft kunstvoll gestalteten Schallplattenhüllen können Texte und Bilder transportieren und erlaubten angesichts der spärlich ausgestatteten Buchhandlungen der 1960er bis 1980er Jahre den Zugriff auf alternative religiöse Wissensbestände der Gegenkultur. Als Beispiel sei hier nur verwiesen auf das Album Love – Devotion – Surrender von Carlos Santana und »Mahavishnu« John McLaughlin (1973), in dem die beiden Musiker auf großformatigen Bildern nicht nur mit ihrem damaligen Guru Sri Chinmoy (1931-2007) posieren, sondern auch ein langes Gedicht ihres Meisters abdrucken.19 Trotz der inzwischen überholten Technik darf auch die Hörkassette als religiöses Medium nicht vergessen werden, die sich aufgrund der geringen Anfälligkeit und der einfachen Kopiertechnik bis heute weltweit anhaltender Beliebtheit erfreut. In der Vergangenheit setzte insbesondere die Scientology auf die Verbreitung von L. Ron Hubbards Vorträgen via Kassette, während in islamischen Gemeinschaften bis heute Koranrezitationen und Predigten vor allem via Hörkassette kopiert und weiterverbreitet werden. Tonband und Kassette spielen im Rahmen der instrumentellen Transkommunikation noch eine besondere Rolle.20 Der wirtschaftliche Aspekt dieser Tonträger aber auch der Videokassette und der DVD darf nicht unterschätzt werden, da sich Missionswerke wie Reinhard Bonnkes Christ for All Nations aber auch US-amerikanische megachurches, die in der Regel über Online-Stores oder einen eigenen Laden mit einem reichhaltigen Angebot christlicher Print- und audiovisueller Medien verfügen, zum Teil über diese Verkaufserlöse finanzieren.21 Einen Zwischenbereich verschiedener Medien und ihrer Anwendung bilden Powerpoint-Präsentationen in Gottesdiensten, die hierzulande schon in vielen Freikirchen verwendet werden und in den Vereinigten Staaten in protestantischen Gottesdiensten bereits als Standard angesehen werden können. Per Beamer können auf diese Weise ähnlich der Karaoke-Technik fließende Liedtexte, Noten und Illustrationen zu Predigten eingeblendet werden. Der Partizipations18 | Vgl. Hanussen 1932; Dalferth 2000, 95-100. 19 | Vgl. Santana & McLaughlin 1973. 20 | Vgl. Kapitel 4.5.1 Von der Telefonseelsorge zum Twittern und 4.6.1 Von Radio Vatikan zu big spirit. 21 | Vgl. www.cfan.org (01.01.2010).
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grad der Besucher, deren Blicke sich statt auf das Gesangbuch nun auf den Chorraum der Kirche wenden, kann hierdurch vermutlich erhöht werden.22
4.2 P RINTMEDIEN 4.2.1 Von der Flugschrift zur Zeitschrift Schon aus der Frühzeit der christlichen Kirchen ist die literarische Auseinandersetzung mit Juden und Anhängern der griechischen und römischen Religionen überliefert, die mit der umfangreichen Zusammenstellung von verwendbaren Akten, Urkunden, Briefen und verschiedenen literarischen Quellen verbunden ist, die dann zur religiösen Argumentation herangezogen werden konnten. Die Meinungsbildung in den innerchristlichen Kontroversen wird auf dieser Grundlage mithilfe von Privatbriefen, Rundschreiben, theologischpolemischen Darlegungen, Streit- und Schmähschriften vollzogen, deren Überlieferungsbefund trotz Sprachgrenzen und geografischer Hemmnisse auf eine erstaunlich hohe Verbreitung schon im Mittelalter schließen lässt. Waren die frühen Schriften vor allem an ein theologisches Publikum gerichtet, entwickelt sich im Investiturstreit des 11./12. Jahrhunderts eine bewusst parteiische und an die breitere (gebildete) Öffentlichkeit gerichtete Streitschriftenkultur in lateinischer Sprache. Erst mit der Erfindung des Buchdruckes in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gewinnen massenhaft verbreitete Flugschriften in den europäischen Volkssprachen eine zentrale Bedeutung als Mittel der politischen und religiösen Propaganda und Meinungsbildung, auf die sich zunächst vor allem die Reformatoren stützen. Die von Lucas Cranach 1545 hergestellten, illustrierten Spottschriften Martin Luthers auf Papst Paul III. sind wohl das bekannteste Beispiel reformatorischer Flugschriften. In der nachfolgenden Phase der Konfessionsbildung, der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges wurde die Flugblattliteratur zum zentralen Medium der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen und den zahlreichen kleineren christlichen Gemeinschaften.23
Evangelische Publizistik Bis ins 19. Jahrhundert wird die scharfzüngige Debatte mit dem Katholizismus fortgesetzt, es werden aber noch weitere zeitgenössische Problemkreise einbezogen. Insgesamt lassen sich fünf Zielsetzungen identifizieren: das »polemische Motiv« als Auseinandersetzung mit dem Katholizismus; das »apologe22 | Kommerzielle und kirchliche Dienstleister bieten umfangreiche technische Hilfen an: www.churchpowerpoint.com (01.01.2010). 23 | Vgl. Ulrich 2000, 704; Wandersleb-Andersen 1989, 20-23.
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tische Motiv« als Auseinandersetzung mit nicht-christlichen Denkpositionen; das »soziale Motiv« als Diskussion der sozialen Frage und des Sozialismus; das »missionarische Motiv« als Wiedergewinnung von Abtrünnigen und Gleichgültigen und schließlich das »unionistische Motiv« der Einigung der evangelischen Christen bzw. der Versöhnung zwischen Kirche und Welt.24 Bereits 1925 beginnt die akademische Forschung zur evangelischen Medienarbeit am Seminar für Publizistik der theologischen Fakultät der Universität Berlin unter August Hinderer (1877-1945). Während die Berliner Institution nach dem Krieg nicht weitergeführt wurde, etablierte sich seit 1966 an der Universität Erlangen die Abteilung Christliche Publizistik, die seit 1991 auch mit einem eigenen Lehrstuhl vertreten ist.25 Die akademische Publizistik innerhalb der Theologie widmet sich inzwischen vorwiegend der Vermittlung medientheoretischer und -praktischer Kenntnisse für den späteren Pfarrberuf und die weitere Kirchentätigkeit. In diesem Rahmen wurde auch bereits eine publizistisch-funktionale Typologie evangelischer Pressearbeit vorgenommen. Diese unterscheidet zwischen folgenden Periodika: • Theologische und katechetische Zeitschriften • Amts- und Nachrichtenblätter • Kirchliche Zeitschriften (Sonntagsblätter der Landeskirche bis zu Gemeindebriefen) • Kulturelle und politische Zeitschriften • Missionszeitschriften • Kinder- und Jugendzeitschriften • Standes- und Berufszeitschriften • Freikirchliche und ökumenische Zeitschriften26 Zunächst etablierte sich hervorgehend aus den Flugschriften im 18. Jahrhundert die regelmäßig erscheinende, evangelische Presse, die allerdings stark durch innerkirchliche Auseinandersetzungen geprägt war. Auf die von Valentin Ernst Löscher begründeten Unschuldigen Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen (1701-61) folgte die Antwort des pietistischen Theologen Joachim Lange in seiner Zeitschrift der Aufrichtigen Nachricht von der Unrichtigkeit der sogenannten unschuldigen Nachrichten (1706-14). Die erste eigentliche Kirchenzeitung, die Allgemeine Kirchenzeitung (1822-1844), wurde vom hessischen Hofprediger Ernst C. P. Zimmermann initiiert und verstand sich als »Archiv für die neueste Geschichte und Statistik der christlichen Kirche«, die kirchliche Ereignisse aller 24 | Vgl. Meier-Reutti 2000, 708-711; Wandersleb-Andersen 1989, 23-26; Kranemann 2007, 158f. 25 | Vgl. Kranemann 2007, 155f. 26 | Vgl. Achtelstetter 2000, 705-707.
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Art für ein breites Lesepublikum erschließen wollte. Sie vertrat liberale politische Positionen, setzte sich für mehr Volkssouveränität im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie und eine allgemeine Pressefreiheit ein. Es folgten eine Reihe kirchlicher Periodika, die die Vielfalt der theologischen und politischen Positionen der Restaurationszeit und des Deutschen Reiches widerspiegeln: die Evangelische Kirchenzeitung (1827-1849), die Zeitschrift für Protestantismus und Kirche (1838-1876), die Reformierte Kirchenzeitung (seit 1884), die Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland (1854-1896), die Neue Evangelische Kirchenzeitung (1859-1886), die Deutsche Evangelische Kirchenzeitung (1887-1902) und die Christliche Welt (1887-1941). Trotz dieser Vielfalt an Publikationsorganen lag die Gesamtauflage dieser allgemeinen und überregionalen Kirchenzeitungen Ende des 19. Jahrhunderts nur bei etwa 10.000 Exemplaren. Mit einer Auflage von über einer Million Exemplaren sprachen die kirchlichen Sonntagsblätter ein weitaus breiteres Publikum an. Der Theologe Johann Hinrich Wichern (1808-1881) hatte in seiner Denkschrift Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (1849) angeregt, dass die Predigt in den Gotteshäusern durch Volksliteratur, Flugschriften und populäre religiöse Zeitschriften zu ergänzen sei, die auch die entkirchlichte Masse ansprechen. Neben erbauliche Inhalte stellte er Berichte über das kirchliche Zeitgeschehen und einen wöchentlichen Kommentar zur politischen Situation der Zeit. Auf diese Weise entstanden in der Folgezeit eine Reihe bedeutender, regionaler Sonntagsblätter wie Der Nachbar (1848-1914) oder das Evangelische Sonntagsblatt aus Bayern (seit 1884). Zur Förderung dieses Schrifttums wurde 1904 die Zentrale für evangelische Sonntagsblätter gegründet, die die publizistische Tätigkeit der evangelischen Kirchen während der Weimarer Republik noch intensivieren und die Gesamtauflage der Sonntagsblätter und lokalen Kleinpublizistik auf 17 Millionen Exemplare steigern konnte.27 Zu den wichtigsten Kirchenjournalen in der Bundesrepublik gehör(t)en dann seit 1948 Christ und Welt (später Deutsche Zeitung, die 1980 mit dem katholischen Rheinischen Merkur fusioniert) und das Allgemeine Deutsche Sonntagsblatt, das seit 2000 aus Kostengründen unter dem Namen Chrismon nur noch als monatliches Beilagenheft einiger überregionaler Tageszeitungen fortgeführt wird. Mit Jahresbeginn 2011 wurde auch der Rheinische Merkur auf Beschluss der Deutschen Bischofskonferenz aus Kostengründen liquidiert und auf eine unabhängige Beilage in der Wochenzeitung Die Zeit reduziert. Um auch Einfluss auf die weltliche Tagespresse zu gewinnen, wurde bereits 1891 der Evangelisch-soziale Preßverband für die Provinz Sachsen gegründet, der Evangelische Preßverband für Deutschland (EPD) folgte 1910. Die Kooperation mit der Tagespresse wurde in dieser Phase intensiviert und folgte den volkserzieherischen Zielen einer »Ethisierung der Tagespresse«, die »Ehrfurcht vor 27 | Vgl. Meier-Reutti 2000, 708-711; Wandersleb-Andersen 1989, 23-26.
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der Religion« zu erhöhen und die Kräfte der »evangelischen Weltanschauung« öffentlich zur Geltung zu bringen.28 Nach Zensur und dem weitgehendem Verbot jeglicher evangelischer Publizistik im NS-Reich stand die Pressearbeit in der jungen Bundesrepublik und der DDR vor einem Neubeginn. Evangelische Zeitschriften wie auch die genehmigungspflichtigen Gemeindebriefe waren in Ostdeutschland hinsichtlich ihres Umfanges, Inhaltes und der Auflagenhöhe strengen Reglementierungen unterworfen, während die Publizistik in Westdeutschland weitreichende Freiheiten genoss. Seit 1948 wurde die Arbeit der Landessektionen des evangelischen Pressedienstes durch die epd-Konferenz koordiniert, und seit 1968 beliefert die epd-Zentralredaktion, die seit 1974 zum fusionierten Dachverband des Gemeinschaftswerkes Evangelischer Publizistik gehört, die säkulare und kirchliche Presse mit aktuellen Nachrichten und Kommentaren aus dem Bereich von Kirche, Ökumene und Gesellschaft. Bereits 1950 wurde die Christliche Presseakademie für die journalistische Ausbildung und Schulung gegründet (seit 1988 Evangelische Medienakademie); seit 1995 besteht die Evangelische Journalistenschule in Berlin.29 Neben den christlichen Großkirchen sind auch die evangelischen Freikirchen im publizistischen Sektor äußerst engagiert. Auf den Pastor der freien evangelischen Gemeinde in Witten, Friedrich Fries (1856-1926), geht die Gründung des heutigen Bundes-Verlags mit Sitz in Witten zurück, der bereits seit 1893 den Gärtner und das monatliche Nachfolgemagazin Christsein Heute ediert. Der Verlag wird von der Stiftung Christliche Medien e.V. getragen. Dieser Medienverbund der Deutschen Evangelischen Allianz gibt eine ganze Reihe freikirchlich geprägter Zeitungen und Journale für alle Altersstufen heraus, unter anderem das erfolgreiche Frauenmagazin Joyce mit einer Auflage von 18.500 Exemplaren.30 Die Mitglieder der Freikirchen in Deutschland verfügen auch schon seit 1971 über eine eigene Evangelische Nachrichtenagentur Idea e.V., die einerseits als Informationsdienst für säkulare und religiöse Medien im deutschsprachigen Raum dient und andererseits eigene Medien, wie das Nachrichtenmagazin IdeaSpektrum (mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren) und die Nachrichtensendung IdeaFernsehen (Bibel TV, bw-family, Das Vierte), versorgt.31
28 | Vgl. Kranemann 2007, 158f. 29 | Vgl. Pöhlmann 2000, 711-715; www.evangelische-journalistenschule.de (01.08. 2009). 30 | Vgl. www.bundes-verlag.de (01.01.2010). 31 | Vgl. www.idea.de (01.01.2010).
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Katholische Publizistik Mit der katholischen Aufklärung und dem Verlust der Kontrolle der Publizistik durch Zensur in den katholischen Territorien des sich auflösenden Heiligen Römischen Reiches beginnt am Ende des 18. Jahrhunderts die aktive und ausdifferenzierte Publizistik der katholischen Kirche. Diese konzentriert sich zunächst auf die Selbstbehauptung im neuen säkularen Staatsgefüge, auf die Abwehr des Liberalismus und Sozialismus und auf die polemische Auseinandersetzung mit den protestantischen Kirchen. Die Pressefreiheit, die ja nun auch die Veröffentlichung von Polemik und Kritik gegen die Kirche zuließ, wurde anfangs als bedrohliche Folge der Französischen Revolution scharf verurteilt: Papst Gregor XVI. sprach in der Enzyklika Mirari vos (1832) von der numquam satis exsecranda et detestabilis libertas (die niemals genügend zu verwünschende und abscheuliche Freiheit). Andererseits sollte die Pressefreiheit auch der im Vergleich zu den evangelischen Kirchen unterentwickelten, katholischen Publizistik nützen: 1821 wurde in Mainz Der Katholik (bis 1918) als erste von ca. 50 Zeitschriften der sogenannten »Kirchenblattbewegung« der Restaurationszeit begründet. Die größten Anstrengungen waren jedoch auf die Etablierung katholisch geprägter Tageszeitungen gerichtet, wie das Deutsche Volksblatt, das Mainzer Journal und das Echo der Gegenwart. Die Gründung der katholischen Zentrumspartei im Deutschen Reich führte zu einem sprunghaften Anstieg der Periodika. Angeführt von der Berliner Germania wurden unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges knapp 450 katholische Zeitungen verlegt – die Verlage selbst waren bereits seit 1878 im Augustinus-Verein zur Pflege der katholischen Presse zusammengeschlossen. In der Weimarer Zeit führte die Wirtschaftskrise zu einem Konzentrationsprozess in der katholischen Zeitungslandschaft. In der Folgezeit verlangte dann die NS-Zensur zunächst eine Reduzierung der Titel auf ein Blatt pro Bistum und eine vollständige Entpolitisierung der Inhalte. Die verbleibenden Titel wurden ab 1941 durch Sperrung der Papierzufuhr abgewickelt. Trotz eines institutionellen Neustarts in der Bundesrepublik mit der Gründung der Gesellschaft katholischer Publizisten, der Arbeitsgemeinschaft Katholische Presse (AKP) und der Etablierung der Katholischen Nachrichtenagentur gelang es nicht, die katholische Tagespresse wiederzubeleben. Erfolgreich waren dagegen die Bistumsblätter und wöchentlich und monatlich erscheinende Journale und Magazine, die auf ihrem Höhepunkt zu Beginn der 1960er Jahre mit 420 Titeln und einer Gesamtauflage von 15 Millionen Exemplaren pro Erscheinungsintervall aufwarten konnten. Zwar sind die Auflagenzahlen der Zeitschriften inzwischen ca. um die Hälfte geschrumpft, im heutigen Katholischen Medienverband in München sind allerdings immer noch 130 Zeitschriften aus konfessionellen Medienunternehmen zusammengeschlossen. Die auflagenstärkste Zeitschrift ist derzeit das monatlich erscheinende Magazin Frau und Mutter mit 670.000 Exemplaren, unter den Bistumsblättern hat das Münste-
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raner Journal Kirche und Leben mit ca. 100.000 Exemplaren die größte Leserschaft.32 Die aktuelle MDG-Studie zeigt jedoch auf, dass die für Katholiken mit Abstand wichtigste Informationsquelle über religiöse Belange das lokale Pfarr- oder Gemeindeblatt ist, gefolgt von Berichten in der Tagespresse und Wochenmagazinen.33
Weitere religiöse Publizistik Wurden hier nur die bedeutendsten kirchlichen Periodika erwähnt, so muss natürlich auch die große Zahl an lokalen Publikationsorganen berücksichtigt werden, die von den Bistumsblättern und den Zeitungen der evangelischen Landeskirchen bis hinunter zu den Informationsbriefen der einzelnen Gemeinden und Pfarreien reichen.34 Gleiches gilt für alle weiteren etablierten Religionsgemeinschaften – ohne Schwierigkeit kann der Satz gewagt werden, dass praktisch jede religiöse Organisation, die über eine gewisse lokale Streuung verfügt, eine eigene Zeitschrift oder mindestens einen elektronischen Newsletter ediert. Dabei hat sich Der Wachtturm verkündet Jehovas Königreich (bekannt als Der Wachtturm) seit seiner Gründung 1879 mit heute 40 Millionen Exemplaren in 180 Sprachen zur auflagenstärksten christlichen Zeitschrift entwickelt.35 Eine besondere Rolle spielte die 1944 begründete Zeitschrift Back to Godhead für die ISKCON, denn aus der eigentlich innerindischen Zeitschriftenmission der Gaudiya-Vaishnava-Schule ging die spätere internationale Hare-Krishna-Bewegung hervor. Auch andere neuere Religionen verfügen über eigene Publikationsorgane, die meist an die Anhänger gerichtet sind, so die Zeitschrift Sanathana Sarathi (Der ewige Wagenlenker, seit 1958) der Sathya Sai Gemeinschaft, sowie die Gabriele-Briefe des Universellen Lebens.36 Seit 1985 wird die vom Osho-Schüler Rolf Schneider initiierte Zeitschrift connection ediert, die inzwischen unter dem Titel connection spirit vielfältige spirituelle Themen aufgreift und jährlich um je zwei Themenhefte zu Tantra und Schamanismus ergänzt wird.37 Schon seit 1987 erscheint Buddhismus aktuell. Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union, inzwischen viermal pro Jahr mit einer Auflage von 8000 Exemplaren. In der inhaltlichen Ausrichtung etwas freier gestaltet ist Ursache und Wirkung. Die Zeitschrift für Buddhismus, Spiritualität und Gesundheit (seit 1992, ca. 8000 Expl.). Von der Stiftung Gralsbotschaft wird im 32 | Vgl. Schmolke 2000, 720f.; Wandersleb-Andersen 1989, 25; www.katholischermedienverband.de/zeitschriftenuebersicht/index.htm; www.kirche-und-leben.de (01. 08.2009). 33 | Vgl. MDG 2010a, 86f., 92ff. 34 | Zu den Mitgliederzeitschriften der Evangelischen Kirche vgl. Gertz 2001. 35 | Vgl. www.watchtower.org/index.html (01.01.2010). 36 | Vgl. www.sathya-sai.info; www.universelles-leben.org (01.01.2010). 37 | Vgl. www.connection.de (01.01.2010).
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Themenspektrum der christlichen Esoterik, Lebenshilfe und Gesundheitslehre die Gralswelt. Zeitschrift für Geisteskultur und ganzheitliche Zusammenhänge bundesweit vertrieben.38 Unabhängig von spezifischen Religionsgemeinschaften können die astrologischen Zeitschriften den größten Erfolg verbuchen: Marktführer ist hier mit 250.000 Exemplaren der mit der Telefonberatung Questico verbundene Zukunftsblick (monatlich) noch vor der Astrowoche mit 100.000 Verkaufsexemplaren. Es folgen astro-inside – Ihr monatliches Horoskopmagazin und Meridian. Fachzeitschrift für Astrologie (ca. 3000 Expl.). In Visionen – Das Magazin für ganzheitliches Leben (seit 1993) bildet die Astrologie nur eines unter weiteren Themen wie Reisen, Gesundheit, Kinder und Spiritualität, erreicht jedoch mit einer monatlichen Auflage von 77.000 Exemplaren einen großen Leserkreis. Mit ähnlichem Profil – einer Mischung zwischen Frauenzeitschrift, Wellnessthemen und Spiritualität – treten einerseits Newsage. Das Magazin für Körper, Geist und Seele, (zweimonatlich, 40.000 Expl.) und das Engelmagazin – Engel, Spiritualität und Lebensfreude (zweimonatlich, 75.000 Expl.) auf, Letzteres mit einer Bandbreite von Channeling bis zu Kochrezepten. Eine Reihe von Magazinen ist im Spektrum New Age und Spiritualität angesiedelt: Im Bereich der integralen Philosophie bestand von 1997 bis 2011 das auch in deutscher Sprache erschienene EnlightenmentNext. Das Magazin für Evolutionäre, das von dem amerikanischen »Guru« Andrew Cohen herausgegeben wurde (5000-7000 Expl.). Sujets insbesondere zwischen Wissenschaft und Spiritualität bedienen schon seit 1994 Tattva Viveka – Zeitschrift für Wissenschaft, Philosophie und spirituelle Kultur (4000 Expl.) mit Artikeln zu östlicher und westlicher Religion, Quantenphysik, Kosmologie und Mythenforschung, 4000 Exemplare, dann das Magazin Matrix3000. Neues Denken. Wissenschaft/ Politik/Kultur (seit 2000) mit einem Schwerpunkt in Spiritualität, Gesundheit und Gesellschaft und die Zeitschrift Das Wesentliche (seit 2008, 8000 Expl.). Seit Juni 2010 drängt zudem das in den Niederlanden bereits etablierte Esoterik-Magazin Happinez auf den deutschen Zeitschriftenmarkt und bedient die spürbare Nachfrage nach einem umfassenden Magazin, das Wellness, Yoga, Kochrezepte und Spiritualität reich bebildert miteinander verbindet. Spezielle Interessen befriedigen die Magazine Lichtfokus. Zeitschrift für Lichtarbeiter (seit 2003, ca. 11.000 Expl.) mit Themen wie Lichtnahrung und Channeling und äußerst erfolgreich Yoga aktuell – Magazin für Yoga und Neues
38 | Das zweimonatlich erscheinende Magazin wird mit dem Zweck der Verbreitung der Ideen von Abd-ru-shin (Oskar Ernst Bernhardt, 1875-1941) publiziert, richtet sich in Aufmachung und Inhalt jedoch an ein breites Publikum.
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Bewusstsein mit einer derzeitigen, zweimonatlichen Auflage von knapp 40.000 Exemplaren und schließlich das Reiki Magazin (seit 1997, 10.000 Expl.).39
Religion in der weiteren Publizistik Religionen sind natürlich auch Gegenstand der tagesaktuellen Zeitungsmedien (überregional: BILD, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung etc.) und populären Zeitschriften (Stern, Frau im Spiegel, Brigitte, Cosmopolitan, Bravo etc.) und der thematisch spezialisierten Zeitschriftenmagazine (Geo, National Geographic u. ä.), die in der Forschung trotz ihres hohen Verbreitungsgrades bisher nur in der Studie von Nicolai Hannig größere Beachtung fanden.40 Dabei hat der evangelische Theologe Heiko Trimpel 1997 mit seiner Analyse der Jugendzeitschrift Bravo demonstriert, wie ergebnisreich eine solche Untersuchung sein kann: Nicht nur die medienspezifische und daher oft skandalorientierte Aufbereitung der Kirchenthemen (Kirchenzwang, Sexualmoral), sondern auch die stark wertenden Darstellungen des Buddhismus (positiv), der »Sektengefahr« und okkulter und spiritistischer Praktiken (negativ) lassen Schlüsse über die jugendliche religiöse Sozialisation zu.41 Ein Forschungsprojekt des Marburger Graduiertenkollegs Religion in der Lebenswelt der Moderne, das von 1993 bis 1995 durchgeführt wurde, stellte eine Reihe kürzerer Analysen populärer Zeitschriften wie Brigitte, Wiener, manager magazin und andere im Hinblick auf die Präsentation der Religionsthematik vor.42 Systematisch und vertieft ist Nicolai Hannig dieses Feld angegangen: Er hat die religionsbezogenen Berichte der Zeitschriften Spiegel, Stern, Quick, Kristall, Konkret, Twen, Pardon und Magnum von 1945 bis 1980 vollständig erhoben und eine gelungene Analyse vorgelegt, an der sich die journalistische Entwicklung der Religionsthematik in der populären Presse ablesen lässt.43 Wenn Religionen in Zeitungen und Magazinen präsentiert werden, dann meist in Hinblick auf bestimmte Ereignisse – das Maß der Hintergrundinfor39 | Die Angaben zu Auflagenhöhe, Erscheinungsfrequenz und Bestehen wurden dem Impressum bzw. den online veröffentlichten Mediadaten der Zeitschriften entnommen, soweit diese zugänglich waren, und beziehen sich auf das Jahr 2010. 40 | Vgl. Friedrichs 2005, 224f. Elisabeth Hurths Analyse religionsbezogener Thematiken in der BILD münden bloß in der gängigen These einer Medien- oder Unterhaltungsreligion. Vgl. Hurth 2008, 178f. 41 | Vgl. Trimpel 1997, 125-129. In ihrer eigenen Analyse der religiösen Dimensionen der Bravo verlegt sich Gritt Klinkhammer vorwiegend auf die Analyse der aus ihrer Sicht religionsrelevanten Thematiken wie Todesangst, Starkult, Rockmusik und Liebe. Vgl. Klinkhammer 1996, 84-95. Zur dramatisierten »Sektengefahr« vgl. Saborowski 1995, 5-7; zum Islam vgl. Hottinger 1995, 8-13. 42 | Vgl. Friedrichs & Vogt 1996. 43 | Vgl. Hannig 2010, S. 109-129.
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mationen, die in vergleichbaren Fernsehnachrichten keinen Raum finden, unterscheidet dann die sogenannten Boulevardblätter von den Zeitungen mit (ausführlichem) Feuilleton- und Auslandsteil. Während Nachrichtenmagazine (Der Spiegel, Focus) eher an aktuellen Thematiken interessiert sind, finden sich in den spezialisierten Zeitschriftenmagazinen wie Geo oder National Geographic auch Reportagen über Religionen von teils wissenschaftlich geschulten Autoren. Zeitnahe Berichte über kirchliche Stellungnahmen, Enzykliken des Papstes und kirchliche Ereignisse44 konkurrieren hier in der jeweiligen Aufmerksamkeitsökonomie der verschiedenen Publikationen mit den überproportional präsenten, skandalträchtigen Geschichten über »Sekten« – vor allem Scientology, Satanismus und jüngst die Kinder Gottes, selbst wenn keine neuen Erkenntnisse zu präsentieren sind, sondern lediglich ein Aufhänger wie ein Tom CruiseFilm die prominente Platzierung des Themas möglich macht. Von religionswissenschaftlichem Interesse können auch die in vielen regionalen Tageszeitungen vorhandenen Anzeigenrubriken sein: zum einen als Hinweis auf die aktiven Religionsgemeinschaften einer Stadt, die auf ihre Zusammenkünfte aufmerksam machen, sowie auf sonstige religiöse und divinatorische Dienstleistungsanbieter für Workshops und astrologische Beratungen. Zum anderen sind auch die mehr oder weniger religiös ausgeprägten Mitteilungen zu Todesfällen, Hochzeiten, Geburten, Kommunionen und Konfirmationen bemerkenswert – denn nicht erst mit dem Web 2.0 sind Äußerungen von Medienkonsumenten im öffentlichen Raum möglich und sichtbar. Todesanzeigen können zu Kriegszeiten auch eine politische Dimension erfahren, so veröffentlicht seit Beginn der Kriege in Afghanistan und im Irak die konservative Washington Post alle zwei Wochen eine Doppelseite mit Angaben zu den verstorbenen Militärs, die New York Times führt die Rubrik Names of the Dead. Darüber hinaus können Religionen und religiöses Wissen auch Gegenstand von Unterhaltungszeitschriften sein: Die deutsche Ausgabe der Cosmopolitan wartete im April 2008 mit einem neu designten Tarot auf, während die eher hausbackene Fernseh- und Rundfunkzeitschrift Hörzu jüngst ihre Leser über die Kategorien der Engel, ihre Wesenheit und ihre Fähigkeiten aufklärte. Nicht nur der bekannte Benediktiner Anselm Grün kam zu Wort, um die Lichtwesen zu beschreiben, sondern auch der »Religionswissenschaftler« Prof. Dr. Johann Hafner von der Universität Potsdam bestätigte, dass Engel nicht altern, nicht essen und in einer Welt der Geistigkeit leben.45
44 | Vgl. hierzu Meier 2006. 45 | Vgl. Powelz 2009, 18. Hafner ist ausgebildeter Theologe und Philosoph und lehrt Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Christentum.
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4.2.2 Forschungsperspektiven Die schon sehr frühe Initiative Max Webers auf dem deutschen Soziologentag von 1910, eine umfassende Erhebung über die Soziologie des Zeitungswesens zu realisieren, blieb leider nur eine Skizze.46 Allerdings besteht durch die Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzende, akademische Beschäftigung mit christlicher Publizistik innerhalb der universitären Theologie bereits eine sehr umfangreiche Forschung zur Geschichte der katholischen und evangelischen Publizistik vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart und zu praktischen Fragen der kirchlichen Medienarbeit.47 Bezeichnenderweise werden in dem maßgeblichen Artikel der Theologischen Realenzyklopädie nur die institutionsgeschichtlichen und typologischen Aspekte der eigentlichen katholischen und evangelischen Publizistik angesprochen. Es findet lediglich eine Selbstbespiegelung statt: Die große und komplexe Frage der Darstellung von Religionen in den weltlichen Printmedien wird noch völlig ausgeblendet.48 Lutz Friedrichs verschenkt in seinem einschlägigen Artikel im Handbuch Religion und populäre Kultur (2005) gar die Chance zur systematischen Erschließung des Feldes zugunsten der letztlich apologetischen Konstruktion einer flatterhaften »Angebotsreligion«, eben der »Zeitschriftenreligion«.49 In der Religionswissenschaft liegen bisher nur drei vertiefte Forschungsarbeiten mit spezifischen Inhaltsanalysen von deutschsprachigen Zeitschriften vor. Neben den bereits aufgeführten Dissertationen von Thofern zum Spiegel und von Panesar zum Volkserzieher legte Anne Hoffmann mit der Analyse von mehr als 400 Artikeln aus Tageszeitungen und Wochenmagazinen eine äußerst umfangreiche Studie zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandelns im Jahr 1995 an Annemarie Schimmel vor. Die Autorin konnte zeigen, wie die causa Schimmel von den Printmedien aufgegriffen wurde, um den viel grundlegenderen Konflikt zwischen islamischer Welt und »dem Westen« zu thematisieren.50 Darüber hinaus existieren zwei kleinere Fallstudien: Claudia Gronauer hat über den Zeitraum von einem Jahrhundert die Entwicklung von Todesanzeigen einer Lokalzeitung verfolgt und damit die bereits bestehenden kulturwissenschaftlichen Studien um eine religionswissenschaftliche Perspektive bereichert. Zusammen mit Jutta Bernard gelang es ihr, in der Analyse der Berichterstattung 46 | Vgl. Ayaß 2006, 42-49; Weber 2001. 47 | Vgl. die Bibliografie zu Ulrich 2000, Achtelstetter 2000, Meier-Reutti 2000, Pöhlmann 2000, Schmolke 2000. 48 | Zur katholischen Publizistik vgl. Schmolke 2000, zur evangelischen: Achtelstetter 2000, Meier-Reutti 2000, Pöhlmann 2000. 49 | Vgl. Friedrichs 2005, 225f. 50 | Vgl. Hoffmann 2004, 97-101.
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deutscher Tageszeitungen über den Zweiten Golfkrieg 1990/91 überzeugend darzulegen, wie stereotype Aussagen über den Islam und das Christentum der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern dienen.51 Grundlegende Perspektiven religionswissenschaftlicher Forschung zum System der Printmedien weisen die jüngsten Arbeiten von Christel Gärtner und Heinz-Peter Katlewski auf. Erstere hat mithilfe sozialwissenschaftlicher Interviews unter politischen Feuilleton-Redakteuren untersucht, in welcher Weise das Thema Religion in überregional bedeutsamen Tageszeitungen verhandelt wird. Dominierend ist hier die Darstellung von Religion und Kirche als öffentliche Faktoren der Gesellschaft und als Bestandteil der abendländischen Kultur, wo sie meist als Basis von Moral, Sittlichkeit und Orientierung präsentiert werden.52 Anhand von eindrücklichen Fallbeispielen, unter anderem die umstrittenen Änderungen der katholischen Karfreitagsliturgie durch Papst Benedikt XVI. im Juli 2007, gelang es Katlewski, die Mechanismen der journalistischen Aufmerksamkeitsregeln zu illustrieren, die auch von den jeweiligen Verwertungszusammenhängen von Informationen in Nachrichten, Berichten, Reportagen, Features, Kommentaren, Glossen oder Kritiken abhängen.53 Summa summarum ergibt sich für das Feld der Publizistik mit fließenden Übergängen die Frage, wie Religionsgemeinschaften und religiöse Akteure das Medium nutzen und wie zum zweiten über Religionen in der spezialisierten Religionspublizistik und im weiteren Markt der Zeitschriften und Zeitungen berichtet wird. Beide Aspekte können mit den bereits erprobten, medienwissenschaftlichen Verfahren der Bild- und Textanalyse erfasst werden; im Bereich der Online-Medien müssen ggf. filmanalytische Methoden einbezogen werden. Online-Zeitungen/Zeitschriften eröffnen mit den sichtbaren Leserkommentaren auch einen Blick auf die Rezeption der Artikel. Die besondere Stärke des religionswissenschaftlichen Beitrages liegt in der historischen und kulturvergleichenden Dimension. Einerseits können auf diese Weise die Genese und die Rezeption bildlicher und textlicher Motive historisch kontextualisiert werden. Der Vergleich des Umgangs mit ausgewählten religiösen Sujets allein schon in den Printmedien des europäischen Auslands und der USA verspricht vertiefte Erkenntnisse über das verschieden gelagerte Verhältnis von Religion und öffentlicher Sphäre.
51 | Vgl. Gronauer 1996; Bernard & Gronauer 1994. 52 | Religion als existentiell bedeutsames Glaubenssystem zu diskutieren und die ideologiekritische Auseinandersetzung mit Religion als Hemmschuh der Modernisierung zu betrachten, spielen in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle. Vgl. Gärtner 2009, 77-84. 53 | Vgl. Katlewski 2008a, 102f.
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4.3 F OTOGR AFIE Gott ist Licht, nur der Mensch ist Fotograf. Denn nur derjenige, der vergänglich ist und sich dessen bewußt ist, will unvergänglich sein. R ÉGIS D EBRAY 54
Es erstaunt ein wenig, dass die gängigen theologischen und religionswissenschaftlichen Enzyklopädien zwar der christlichen Publizistik, der bildenden Kunst und den elektronischen Medien vom Rundfunk bis zum Internet meist eigene Artikel widmen, dass jedoch die Rolle der Fotografie für historische und gegenwärtige Religionen offenbar gänzlich ausgeblendet wird. Die enge Verknüpfung der frühen Fotografiegeschichte mit dem spiritistischen Medienbegriff und der kulturellen Rezeption als (zunächst!) unbestechlichem Wahrheitsmedium wurde eingangs bereits erörtert. Aber auch als Medium der Dokumentation von realen religiösen Ereignissen, Personen und Orten und später von fiktionalen Sujets erlangte die Fotografie im 19. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung, auch wenn die heutige Religionsforschung davon kaum Kenntnis genommen hat. Papst Pius IX. (1792-1878) war der erste Pontifex, dessen Abbild auf Fotografien festgehalten und verbreitet wurde.55 Das besondere Interesse der Fotografie galt im ausgehenden 19. Jahrhundert jedoch dem Orient. So liegen schon Bilder des Hadsch in Mekka von 1890 vor. Zahlreiche Bildserien, die kommerziell in Europa und den Vereinigten Staaten vertrieben wurden, zeugen von »typischen« Vertretern des Osmanischen Reiches: Straßenhändler, Derwische, betende Muslime, schnauzbärtige Türken mit umständlichen und märchenhaften Gewändern, riesigen Turbanen, Wasserpfeife und Tee. Diese meist gestellten Szenen aus dem Alltag des »Orients« waren ein wichtiger Baustein für das religiöse und zivilisatorisch-rassistische Evolutionsmodell des britischen Kolonialismus, an dessen Spitze der white anglo-saxon protestant stand. In der Konstruktion gesellschaftlicher Alterität bedienten die orientalischen Fotografien daher ganz gezielt die schon bestehenden Stereotypen orientalistischer Romantik und Zurückgebliebenheit, während die moderne, städtische Elite dieser Länder ausgeblendet wurde.56 54 | Debray 1999, 21. 55 | Die vermutlich erste Fotografie eines Papstes, angefertigt von Danesi, zeigt ihn 1863 im päpstlichen Eisenbahnwagon der Vatikanbahn, umgeben von knienden Soldaten. Vgl. Braive 1965, 233. 56 | Edward Said hat diese Konstruktion des Orients historisch nachgezeichnet, während die Analysen von Fernsehberichten ebenfalls ans Licht brachten, dass Journalisten wie Gerhard Konzelmann und Peter Scholl-Latour auch heute noch mit denselben Ste-
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Das wohl umfangreichste fotografische Projekt dieser Epoche ist die achtbändige Anthologie The People of India, die von 1868 bis 1875 von John Forbes Watson und John William Kaye ediert wurde. Im Zuge einer Volkszählung in Indien ergriff die Asiatic Society of Bengal die Gelegenheit, die Vielfalt der Völker, Rassen und Kasten in Indien auch ethnografisch zu erfassen. Mit ausführlichen Beschreibungen der Lebensgewohnheiten und historischen Hintergründe entstanden auf diese Weise über 480 Fotografien der Völker und Stämme des indischen Subkontinentes. Diese umfassende Dokumentation wird heute als Teil der viktorianischen Strategie bewertet, die koloniale Herrschaft über fremde Völker vor der Heimat und vor den nun auch wissenschaftlich erschlossenen Völkern zu legitimieren und zu verstärken.57 Offenbar ist auch die Rolle der Fotografie in der christlichen Missionsarbeit noch gar nicht von der Forschung beachtet worden. In Missionsberichten und Missionsausstellungen auf den Kirchentagen wurden dem interessierten Publikum bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Fotografien der zu bekehrenden und bekehrten Völker präsentiert, um einerseits auf die Gefahren der Mission selbst hinzuweisen und um andererseits auch die religiös-zivilisatorische »Erziehungspflicht« gegenüber den »primitiven Kulturstufen« der »Kannibalen und Kopfjäger« zu legitimieren.58 Um die Jahrhundertwende wurden christliche und jüdische Bildmotive, die bislang der Malerei vorbehalten waren, auch für die Fotografie entdeckt. Pionierarbeit leistete auf diesem Feld der exzentrische Maler und Fotograf Fred Holland Day (1864-1933), der sich bereits einen Namen mit der Produktion von populären exotischen und erotischen Fotografien gemacht hatte. Mit seinem fotografischen Experiment, die letzten sieben Lebenstage Christi zu inszenieren, wollte der an sich areligiöse Künstler beweisen, dass das neue Medium dem ästhetischen Anspruch der Malerei in nichts nachstehe. Holland Day, der hier abgemagert und mit langem Bart und Haar selbst als Christus auftrat, nahm im Sommer 1898 Hunderte von Bildern mit Laiendarstellern aus dem Bostoner Bürgertum auf, die im Folgejahr in mehreren Ausstellungen in den Vereinigten Staaten und Europa teils als Sakrileg verdammt, teils als künstlerisches Meisterwerk gefeiert wurden.59 Eine aktuelle Wiederauflage dieses Projektes als Bildevangelium des 21. Jahrhunderts haben die französischen Künstler Bettina Rheims und Serge Brahmly mit ihrem opulenten und umstrittenen Bildband I.N.R.I. (1998) vorgenommen.60 In Deutschland prägte die Vermarktung der reotypen über arabische Länder arbeiten. Vgl. Erdogdu 2002, 107-114; Braive 1965, 241. 57 | Vgl. Falconer 2002, 51-56. 58 | Ein Beispiel führt Hartmann (1999, 338) auf. 59 | Vgl. Beaton & Buckland 1975, 93-97. 60 | Vgl. Engelschalk 2005, 80f.; Rheims & Bramly 1998.
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Oberammergauer Festspiele über lange Zeit die fotografische Inszenierung biblischer Motive. Die alle zehn Jahre stattfindenden Festspiele, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon mehrere 100.000 Besucher aufwiesen, vergeben über einen Fotoausschuss jeweils die exklusiven Bildrechte für Andenkenkarten und großformatige Reproduktionen. Als besonders gelungen werden die Aufnahmen des Kunstfotografen Friedrich Franz Bauer (1903-1972) bewertet, der die Fotografien konsequent an bekannte »Vorbilder« aus der Malerei und Plastik anlehnte, so an Michelangelos Pietà oder an da Vincis Abendmahl.61 Neben Kunstfotografien hatte sich schon im Zuge des mittleren 19. Jahrhunderts die Portraitfotografie etabliert, die anlässlich religiöser Rituale wie Hochzeiten, Kommunions- und Konfirmationsfeiern zunächst von professionellen Fotografen, dann auch von ambitionierten Amateuren durchgeführt wurde und heute in Form einer umfassenden Dokumentation mit Digital- und Videokameras zum festen Bestandteil der entsprechenden Feiern gehört. Als eigenes Sujet in den Vereinigten Staaten, aber auch in West- und Südeuropa hat sich in diesem Rahmen die Totenfotografie herausgebildet, die das in den gesellschaftlichen Oberschichten schon seit dem 17. Jahrhundert verbreitete Gemälde von Toten und den späteren Brauch einer Totenmaske aus Gips oder Wachs ablöste. Diese fotografischen Totenportraits für den rein privaten Gebrauch waren schon in den 1840er Jahren sehr populär und wurden umfangreich von den Fotoateliers beworben. In der Frühzeit wurden die Verstorbenen meist »schlafend« im Bett als allegorische Anspielung auf die mythischen Zwillingsbrüder Hypnos (Schlaf) und Thanatos (Tod) abgelichtet. Häufig wurden in dieser Periode Totenportraits von Kindern angefertigt, die meist im Schoß der Eltern liegend als Narrative der Trauer und Bedeutung der Familie fungierten. Auf die ästhetische Dimension dieser speziellen Kinderportraits verweist der Fotograf und Kunsttheoretiker N.G. Burgess: All likeness taken after death will of course only resemble the inanimate body, nor will there appear in the portrait anything like life itself, except indeed the sleeping infant, on whose face the playful smile of innocence sometimes steals even after death. This may be and is often times transferred to silver plate. 62
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand parallel zu der sich durchsetzenden vollständigen Einbalsamierung der Leichen in den Vereinigten Staaten auch das fotografische Totenportrait im Sarg zunehmend Verbreitung. Es erfreute sich schließlich einer so großen Popularität, dass sich die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844-1923) zu einer Parodie animiert fühlte und ihr 61 | Vgl. Wrocklage 2000, 39-41. 62 | N. G. Burgess: »Taking Portraits after Death.« In: The Photographic and Fine Art Journal 8 (1855), 80, zitiert nach Ruby 1995, 30.
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Portrait im rosenumsäumten Sarg zu Lebzeiten kursieren ließ. Die Fotografien wurden auch wiederum als Vorlagen für gemalte Bilder verwendet, die den Verstorbenen meist in szenischen Darstellungen mit Garten- oder Landschaftsmotiven im Kreise seiner Familie zeigten.63 In Südeuropa und Lateinamerika hat sich später die Anbringung von Miniaturfotografien auf Grabsteinen und Kolumbarien etabliert.
Forschungsperspektiven Diese wenigen geschichtlichen Beispiele – der gesamte Bereich der zeitgenössischen Kunstfotografie mit religiösen Sujets blieb hier noch vollkommen unberücksichtigt – werden verdeutlicht haben, welch ein vielseitiges und komplexes Forschungsfeld sich hier für die Religionswissenschaft auftut. Nicht nur im Hinblick auf die fotografische Konstruktion des indischen oder arabischen »Orients« ergänzen die Bilder die schriftlichen Quellen, die bisher im Zentrum der Religionsforschung standen. Sondern auch die religiöse Geschichte und Gegenwart Europas ist bereits anderthalb Jahrhunderte von der Fotografie geprägt, sei dies nun in Bezug auf die zeitweise höchst populären spiritistischen Fotografien und die Totenportraits, oder sei dies im Rahmen der privaten Dokumentation von herausragenden (religiösen) Lebensereignissen. Entscheidend für eine religionswissenschaftliche Analyse ist es, Fotografien nicht als bloßes Abbild der Realität zu verstehen, sondern mithilfe der kulturhistorischen und sozialwissenschaftlichen Semiotik den sozial-konstruktiven Charakter von Fotos zu erschließen.64 In Hinblick auf die Produktionsbedingungen von Fotografien müssen die ökonomische Struktur, die kulturell vorgeprägten Bildkulturen ebenso wie rechtlich-moralische Aspekte Berücksichtigung finden, die zunächst darüber entscheiden, was überhaupt fotografiert wird und was nicht. Dies berührt ebenso die soziale Praxis des Fotografierens: Wer fotografiert wen zu welchem Zweck? Nicht zu vernachlässigen ist natürlich die Frage nach dem sozialen Gebrauch der Fotografien. Was geschieht mit den Bildern? Werden sie im Album gesammelt, vielfach reproduziert und an Verwandte und Freunde versendet (Hochzeitsbilder im Gegensatz zu Totenbildern) oder an der Wand des familiären Wohnzimmers (Hochzeit) oder des Kinder- und Jugendzimmers (Kommunion) präsentiert? Werden sie in Form von Dia- bzw. Powerpointshows den Freunden vorgeführt? In welcher Form werden fotografische Bilder im privaten und öffentlichen Gedächtnis- und Verehrungskult verwendet? Wie werden sie bei Trauerfeiern oder in Schreinen und Tempeln zur Ahnenverehrung in ostasiatischen Religionstraditionen oder aber in der zeitgenössischen Guru- und 63 | Vgl. Ruby 1995, 27-47, 49-103. 64 | Vgl. Barthes 1989, 18-24.
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Heiligenverehrung eingesetzt – man denke an die fotografischen Reproduktionen des Leichnams der heiligen Bernadette von Lourdes oder an die Miniaturbilder des spirituellen Meisters in Amuletten der Osho-Bewegung oder gar an die Verwendung von Fotografien der Gurus in privaten oder öffentlichen Altären praktisch aller entsprechenden Hindu-Traditionen jüngeren Datums.65 Schließlich muss auch die religiös-normative Rezeption des Mediums näher beleuchtet werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Päpste der katholischen Kirche oder der 14. Dalai Lama ablichten lassen, kann keineswegs vorausgesetzt werden. Um nicht die Eitelkeit des Menschen zu fördern, ist es bspw. den Erwachsenen der Amischen untersagt, sich fotografieren zu lassen, während diese Frage innerhalb einer strengen Auslegung des Islam insbesondere die Fotografie von Frauen oder gar aller Menschen betreffen kann. Am anderen Ende des fotografischen Spektrums steht die Frage, wie Religionen und der moralische Diskurs einer Gesellschaft insgesamt mit bestimmten fotografischen Sujets wie bspw. der künstlerischen Aktfotografie oder der (partiellen) Nacktheit von Männern, Frauen und Kindern im öffentlichen Raum (insbesondere in der Werbung) umgeht. Während in den meisten europäischen Staaten mindestens die Nacktheit der weiblichen Brust in der Plakatwerbung, auf populären Zeitungscovern und in der Boulevardpresse toleriert wird, wäre dies in den heutigen Vereinigten Staaten undenkbar. Fast jegliche Form von Nacktheit wird dort als Pornografie bewertet. Eine Jugendzeitschrift wie die Bravo mit erotischen Bildgeschichten wäre hier ein Tabu- und Gesetzesbruch.66 Ein besonderes Feld konstituieren sicherlich noch der Bildjournalismus mit seiner Bedeutung für die Printmedien, das Fernsehen und den Online-Journalismus. Insbesondere bei tagesaktuellen Berichten besteht unter den Fotografen eine harte Konkurrenz um den Verkauf von Bildern an die weltweit agierenden Nachrichtenagenturen, die gewiss zu einer bildlichen Dramatisierung von (religiösen) Ereignissen führen kann oder aber eine Orientierung an populären Wahrnehmungsmustern gebietet.
4.4 F ILM 4.4.1 Von Solaris zum Jesus Film Project: Religion im Film So trivial die Frage zunächst erscheinen mag, das Feld von Religion und Film genauer zu bestimmen, so komplex gestaltet sich im Nachfolgenden die Antwort. Der gesamte legitimative Diskurs des Forschungsfeldes ist durch die De65 | Vgl. Keppler 2002, 93-98. 66 | Ein interessanter Aspekt wäre in diesem Zusammenhang noch die Auswirkung sittlich-moralischer Bildethiken auf die Abbildung von Nacktheit in Biologie-Schulbüchern.
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batte um die Thematisierung von Filmen, die nicht explizit religiöse Inhalte, Motive und Rollen präsentieren, bestimmt. Peter Hasenberg, der Vorsitzende der Katholischen Filmkommission für Deutschland, weist darauf hin, dass der religiöse Film »im weiteren Sinne« keinem spezifischen Genre zugeordnet werden könne, denn religiöse Motive fänden sich im Historienfilm, im Kriminalfilm, der Komödie oder dem Melodram. Ausschlaggebend seien für ihn daher nicht die religiösen Inhalte an sich und nicht ein bloßer »Bezug zum Transzendenten«, sondern es gehe darum, dass die Filme eine religiöse Relevanz hätten, eine Bedeutung für den religiösen Menschen.67 Diese schwierige Frage der Filmrezeption wird in der Abschlussdiskussion aufgegriffen, während nun zunächst das Feld der Spielfilme, Dokumentarfilme und religiösen Werbefilme, die unzweifelhaft religiöse Inhalte thematisieren, systematisch erschlossen wird.
Religion im Spielfilm Bereits im Vorfeld der Erfindung des Filmes wurden in der Periode von 1880 bis 1900 in Großbritannien, den USA, der Schweiz und Frankreich sogenannte Life Model Slides für religiöse Zwecke eingesetzt. Verbunden mit der temperance movement, die sich einem tugendhaften Lebenswandel und dem Kampf gegen den Alkohol verschrieben hatte, wurden arrangierte Fotogeschichten mit meist ein bis zwei Dutzend Bildern mithilfe von Projektionsapparaten (laterna magica) einem großen Publikum vorgeführt. Die sentimentalen Geschichten stellen plakativ das Gute und das Böse gegenüber und warnen vor den Versuchungen des Alkohols und dem mit einem unmoralischen Leben verbundenen Abstieg und Verderben. Für die Entstehung des Films sind die Life Model Slides von Bedeutung, da frühe Filmproduktionen zumindest in England oft nahtlos in Hinblick auf die Produzenten, Schauspieler und Geschichten an das Vorgängermedium anknüpften.68 Kurz nachdem die Gebrüder Lumière 1895 auf ihrem Cinématografen die ersten Filme vorführten – meist Alltagsszenen oder Sketche – entstanden ab 1897 die ersten Bibelverfilmungen auf der Grundlage von nachgestellten Passionsspielen. Louis Lumière selbst zeigte seinen Zuschauern schon zwei Jahre nach der ersten Demonstration der medientechnischen Innovation regelmäßig eine Serie von Szenen aus dem »Leben und der Passion Christi«. Besonderen Reiz übten von Beginn an die filmischen Tricktechniken (wie das plötzliche Erscheinen und Verschwinden von Gegenständen und Personen) aus: Der französische Magier Georges Méliès setzte diese bereits 1898 in La Tentation de SaintAntoine um, worauf in der Periode bis zum Ersten Weltkrieg bereits Tausende von Filmen mit wundersamen Tricks produziert wurden, innerhalb und außer67 | Vgl. Hasenberg 1995, 12. 68 | Vgl. Hick 1999, 205-211.
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halb religiöser Rahmenhandlungen. Méliès schuf auch zahlreiche Märchenfilme (Le Royaume des fées, 1903) und Filme über okkultistische Phänomene wie die Geisterfotografie (Le Portrait spirituel, 1903).69 Damals viel beachtet, jedoch von der heutigen Filmgeschichte meist übergangen, ist die aufwendige Produktion La naissance, la vie, et la mort de Notre-Seigneur Jésus-Christ (1906) der französischen Regisseurin Alice Guy, die auch international auf großes Interesse stieß.70 Ayfre verweist darauf, dass nicht nur christliche Lichtgestalten, sondern auch der Teufel zu den frühesten Akteuren im religiösen Film gehörte.71 Es muss bei diesen allerfrühesten Filmproduktionen das soziale Umeld der Produktion und Präsentation berücksichtigt werden, um die stark auf Trickeffekte ausgerichtete Ausgestaltung der Filme wissenssoziologisch verstehen zu können. Waren die Filme zu Beginn nur eine Jahrmarktattraktion und wurden in Edisons kinetoscope parlors, Lagerräumen oder Scheunen vorgeführt, so entstanden parallel zu den nun längeren Filmwerken ab 1902 auch die ersten Filmtheater – schon 1908 zählten die ca. 8000 sogenannten Nickel-Odeons in den Vereinigten Staaten an die zwei Millionen Besucher täglich.72 Die dort und in den entsprechenden europäischen Groschenkinos zur Schau gestellten Filme waren nur wenige Minuten lang, simpel konstruiert und ohne Sprache verständlich. Sie zogen damit als Hort der kurzweiligen Unterhaltung und Heiterkeit vor allem Einwanderer (in den USA) und die sozialen Rand- und Unterschichten an. Erst im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts konnte sich das Kino mit anspruchsvolleren Stoffen als weithin akzeptierte Form der Familienunterhaltung etablieren.73 So stellte es keine Schwierigkeit dar, auch die biblischen Filmadaptionen ins Kirchenleben zu integrieren: Ein Filmtheater wirbt in diesem Sinne während des Aachener Katholikentages von 1912 mit der Präsentation eines Jesus-Filmes und im Beiprogramm mit Aufnahmen von der Beisetzung des Kölner Erzbischofs Anton Fischer (1840-1912).74 Die erste nennenswerte Bibelverfilmung in Deutschland, Der Galiläer, entstand 1921 unter der Regie des Exilrussen Dimitri Buchowetzki, der zusammen mit den Begründern der Oberammergauer Passionsspiele in Freiburg i.Br. mit
69 | Vgl. Sitney 1987, 498; Dixon & Foster 2008, 11-13; Gunning 1995, 560f. 70 | Vgl. Dixon & Foster 2008, 13-15. 71 | Bereits 1897 produziert Méliès Faust und La Magie diabolique, 1899 folgen Le diable à Paris und Le diable au couvant. Vgl. Ayfre 1953, 17. 72 | Ab 1915 erhöhten sich die Eintrittspreise aufgrund der längeren Filmwerke und Filmtheater mit unterschiedlicher Ausstattung entstanden. Vgl. Dixon & Foster 2007, 9f.; Herrmann 2001, 81. 73 | Vgl. De Fleur 1973, 26-30. 74 | Vgl. Hasenberg et al. 1993, 9.
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über 3000 Komparsen die Passionsgeschichte inszenierte.75 1923 folgte mit I.N.R.I. (1923) die schon von der zeitgenössischen Kritik als etwas zu pathetisch empfundene Passion Christi von Robert Wiene, die ursprünglich in die Rahmenhandlung eines Bekehrungserlebnisses eines atheistischen Kommunisten eingebaut war.76 Große Aufmerksamkeit auf internationaler Ebene erlangten etwas später Monumentalfilme wie Intolerance (1916) von David Wark Griffith. In vier miteinander verwobenen Sequenzen wird hier von der babylonischen Antike und der Passion Christi über die Hugenottenverfolgung in Frankreich bis hin zu sozialen Konflikten in den Vereinigten Staaten der Gegenwart die menschliche Intoleranz mit ihren Konsequenzen für das Schicksal der Protagonisten gezeigt.77 Noch in der Stummfilmära verblüffte The King of Kings (1927) als weitere Adaption der Jesusgeschichte mit filmisch geschickt umgesetzten Wunderheilungen, da die Auferstehungsszene als Farbfilm präsentiert wurde. In der Stummfilmzeit und wieder in den 1950er/1960er Jahren, als sich das Kino der Konkurrenz des Fernsehens stellen musste, dominierten monumentale Illustrationen biblischer Stoffe oder Motive (Ben Hur, 1907, 1925 & 1959; The Ten Commandments, 1923 & 1956; The Robe, 1953 als erster Film in CinemaScope). Als Gegenreaktion auf diese schwülstigen Inszenierungen biblischer Stoffe entstanden in der Folgezeit in realistisch-schlichter Ästhetik Pierre Paolo Pasolinis Il vangelo secondo Matteo (Das 1. Evangelium – Matthäus, 1964) und moderne Adaptionen der Passion wie Jesus de Montreal (1989). Während populäre Inszenierungen wie Jesus Christ Superstar (1972) auf ein jugendliches Publikum zugeschnitten waren, ist die jüngste Umsetzung der Jesusgeschichte von Mel Gibson (The Passion of the Christ, 2004) darum bemüht, das Leiden Christi möglichst realistisch durch ausgedehnte Gewaltdarstellungen wiederzugeben.78 Heftige Reaktionen löste auch die Parodie auf alle bisherige Jesusfilme aus, die 1979 von der britischen Komödiantengruppe Monty Python produziert wurde: The Life of Brian schildert das Leben eines jüdischen Zeitgenossen von Jesus, Brian Cohan, und parodierte alle wesentlichen Elemente des Evangeliums: die Geburt, die Wunderheilungen, die Predigten und schließlich die Kreuzigung. Der Film wurde von konservativen Christen als extreme Form von Blasphemie wahrgenommen und löste 75 | Der Film galt lange als verschollen und wurde in der Filmgeschichte daher kaum beachtet. Vgl. Morsbach 1995, 73f. 76 | Vgl. Zwick 1995, 96f. 77 | Vgl. Hußmann 1995, 109f.; Sitney 1987, 498. 78 | Die theologische und interreligiöse Kontroverse um Gibsons Passion thematisierte neben den realistischen Gewaltdarstelllungen auch eventuelle antisemitische Implikationen des Films. Einen guten Überblick über die Kontroverse bietet Garber 2006. Zu filmischen Adaptionen des Evangeliums vgl. Hagmann 1992; Zwick 1997; Moyise & Pearson 2001, 35-52.
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massive Proteste in Europa und den Vereinigten Staaten aus, so dass schließlich die Aufführung für Jahrzehnte in zahlreichen britischen Gemeinden, für acht Jahre in Irland, für ein Jahr in Norwegen und gänzlich in einigen US-Staaten untersagt wurde.79 Insgesamt wurden einschließlich der Stummfilmzeit ca. 100 Spielfilme mit biblischen Motiven hergestellt, davon können ca. 40 Produktionen als explizite Verfilmungen biblischer Geschichten des Neuen und des Alten Testamentes betrachtet werden.80 Ein weiteres umfangreiches Sujet innerhalb christlicher Filmhandlungen bilden die Heiligenfilme. Eindrucksvoll wurde La Passion de Jeanne d’Arc 1928 vom dänischen Regisseur Carl Theodor Dreyer umgesetzt, weitere Verfilmungen des Stoffes folgten 1961 (Robert Bresson), 1993 (Jacques Rivette) und 1999 (Luc Besson). Ebenso populär wurden die filmischen Hagiografien von Franz von Assisi (Gulio Antomoro, 1926; Roberto Rossellini, 1949; Michael Curtiz, 1960; Franco Zeffirelli, 1972; Liliana Cavani, 1989) oder der Heiligen Bernadette (The Song of Bernadette, nach dem gleichnamigen Roman von Franz Werfel, 1943).81 Zur dritten Gruppe der Filme, die religiöse Stoffe explizit thematisieren, gehört das klerikale Melodram. Schon früh griff Charles Chaplin diese Thematik in The Pilgrim (1923) auf, einer von kirchlichen Protesten begleiteten Komödie, in der ein entlaufener Sträfling in seiner neuen Identität als Pastor völlig unbeabsichtigt eine krisengeschüttelte Kirchengemeinde rettet.82 Diese an die gegenwärtige Realität der Kirchen angelehnten Drehbücher orientierten sich an den Zielsetzungen des amerikanischen Motion Picture Production Code, wonach keine Glaubensrichtung lächerlich gemacht und keine religiösen Würdenträger verunglimpft werden dürfen. Diese Maßgabe führte von den 1930er bis in die 1960er Jahre meist zu positiven und verklärenden Priesterfilmen: Ein katholischer Priester kämpft heroisch gegen mexikanische Revolutionäre in The Fugitive (1947, nach Graham Greens Roman The Power and the Glory), während in Das Wunder des Malachias (1961, nach Bruce Marshalls Roman Father Malachyas’ Miracle) Gott auf Bitten des Mönches Malachias einen Nachtclub in seiner unmittelbaren Nachbarschaft einer deutschen Großstadt verschwinden lässt – die Dramatik entzündet sich an der Tatsache, dass der Club zwar wundersam verschwunden ist, aber auf einer Nordseeinsel wieder ebenso wundersam erschienen ist. Große Popularität erlangten auch die Auseinandersetzungen zwischen dem katholischen Priester Don Camillo und dem kommunistischen Bürger79 | Vgl. Chapman 2003, 349-387; Hasenberg 1995, 18-23. 80 | Vgl. Hasenberg 1999, 377f.; Hasenberg 2000, 123-125. 81 | Vgl. Sitney 1987, 499-501; zu den Assisi-Filmen vgl. die ausführliche Darstellung von Campani 2007, 51-80. 82 | Vgl. Sitney 1987, 499.
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meister Peppone in den entsprechenden sieben Romanverfilmungen (19521983) von Giovannino Guareschi und die Kriminalfälle des Pater Brown bzw. Pfarrer Braun (dt./engl. Spielfilme 1934, 1954, 1960, 1960, 1967 und Fernsehadaptionen in Deutschland von 1966-72 und seit 2003). Komplementär verhalten sich dazu problemorientierte Filme, die die Konflikte zwischen klerikalen Rollenerwartungen und menschlichen Neigungen thematisieren, wie zunächst die mit einem Oscar gekrönte Nun’s Story (1959, nach einem Roman von Kathryn Hulme), das Drama The Cardinal (1963) um einen katholischen Priester in den Wirren des Nationalsozialismus oder Priest (1994), in dem ein katholischer Priester mit seiner Homosexualität in Konflikt gerät. Zu Recht verweist Peter Hasenberg darauf, dass religiöse Sujets, Rollen und Rahmenhandlungen auch vielfach als attraktive oder provokative Folie für rein unterhaltungsorientierte Filmgeschichten verwendet wurden wie für den farbenprächtigen »Sandalenfilm« Samson und Delilah (1949) oder gar für pornografische Produktionen wie Justine – Lustschreie hinter Klostermauern (1971). Nicht unbeachtet bleiben dürfen auch die explizit religionskritischen Filme, die vor allem in der Sowjetunion und während der Kulturrevolution im kommunistischen China entstanden sind. In Oktober (1928) setzt sich Sergei Eisenstein kritisch mit der Rolle religiöser Heilsversprechen als Instrument der reaktionären Kräfte Russlands auseinander: Bilder der orthodoxen Liturgie und Ikonografie werden mit Idolen indigener Religionen aus Asien und Ozeanien verglichen, um ihren illusionären Charakter zu enthüllen. Andere sowjetische Filme wie bspw. Zvenigora (von Aleksandr Dovzhenko, 1928) kontrastieren das vorrevolutionäre Leben der Unterdrückung und Ausbeutung durch Zar und Kirche mit den Reformen der Sowjetrepublik.83 Blasphemische Provokationen als fundamentale Kritik an christlichen Morallehren kennzeichnen den surrealistischen Kunstfilm – in L’âge d’or (1930) von Luis Bunuel und Salvador Dali ist Jesus Teil einer mörderischen Orgie, in deren Verlauf die Skalps der getöteten Frauen an ein Kreuz genagelt werden. In dem mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichneten Viridiana (1961) spielt Bunuel die Konflikte katholischer Frömmigkeit und Moral mit den Ansprüchen des realen Lebens durch – ikonografisches Zentrum bildet die Adaption von Leonardo da Vincis Abendmahlszene, nun mit einer Reihe von Bettlern besetzt, die sich an der Welt rächen, sobald sie Gelegenheit dazu haben.84 Hatte Sitney in der Encyclopedia of Religion von 1987 noch einen umfangreichen Abriss mit Verweisen auf sowjetische, französische und deutsche Filme und entsprechende Filmtheorien vorgelegt, so wird die Hoffnung, dass sich mit zunehmender Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes auch eine Ausweitung der Perspektiven verzeichnen lässt, arg enttäuscht: Plate berücksichtigt 2005 83 | Vgl. Sitney 1987, 499. 84 | Vgl. Sitney 1987, 500; Graff 1995, 228f.
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in der Neuauflage der Enzyklopädie zwar ausgewählte Produktionen weltweit, nimmt aber keinerlei Kenntnis von nicht-englischsprachiger Forschung, selbst einschlägige Filmwerke von Lars von Trier und deren theologische Rezeption werden nicht wahrgenommen.85 Auch außerhalb christlich geprägter Filmindustrien wurden religiöse Themen und Motive im Spielfilm aufgegriffen, jedoch in sehr unterschiedlichem Maße. In Israel waren religiös bestimmte Rahmenhandlungen seit der Staatsgründung ein gängiges Spielfilmmotiv, als Folie gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zwischen europäischen und arabischen Juden, das sich ab den 1960er Jahre als ein eigenes Genre (bourekas film) von Komödien und Melodramen etablierte. In der Gegenwart setzt sich dies fort in der filmischen Aufarbeitung von Konflikten zwischen Gender und Religion (Amos Gitais Kadosh, 1999), Sexualität und Religion (Simcha Dubowskis Trembling before G-d, 2001) und zwischen Orthodoxie und Säkularität (Yossi Somers The Dybbuk of the Holy Apple Field, 1998).86 Es wäre zu einfach, aus dem islamischen Verbot der bildlichen Darstellung Muhammads, seiner Angehörigen und der ersten Kalifen zu schließen, dass unter diesen Bedingungen erst 1976 eine Verfilmung seines Lebens möglich wurde. Vielmehr muss in diesem Zusammenhang die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von einerseits islamischer und andererseits der zum Normalfall erklärten, christlichen »Theologie des Bildes« aufgeworfen werden – jede Produktion von Bildern und jeder Rezeptionsprozess ist eine höchst kulturspezifische Leistung: »Unklarheit über das Betriebssystem der eigenen Denkstrukturen produziert die Andersartigkeit des Anderen als Negation des Eigenen. Oder einfacher: Am Anderen fällt vor allem und immer wieder das auf, was in der eigenen Kultur von eminenter Wichtigkeit ist. Traditionell bevorzugter Ort dieser unbewussten Selbst-Inszenierungen: der Orient.«87 Obwohl der syrische Regisseur Mustafa Aqqad den Helden seines Filmes Muhammad, Messenger of Allah (ar-risalah) »kopflos« – nämlich nur mit einer Lichtkugel an Stelle des Hauptes oder aus der Eigenperspektive – zur Schau stellte, wurde der Film schon lange vor seiner Fertigstellung Gegenstand erbitterter Kontroversen zwischen den intellektuellen, progressiven Kulturschaffenden und den Geistlichen. Die Kinoaufführung des Filmes erwies sich daher in den meisten islamischen Ländern zunächst als unmöglich, heute wird der Film in vielen arabischen Ländern zur Zeit des Ramadan im Fernsehen ausgestrahlt.
85 | Vgl. Sitney 1987; Plate 2005. Paradigmatisch für diese Zentrierung auf die englischsprachige Filmwelt und Filmtheorie ist auch, dass Plate davon abrückt, die Originaltitel der Filme aufzuführen, sondern nur ihr englisches Pendant. 86 | Vgl. Plate 2005, 3098; Shohat 1989. 87 | Kreuzer 2002b, 66. Vgl. auch Kreuzer 2002a, 96.
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Auch Filme mit religiösen Rahmenhandlungen wie die Auseinandersetzung von Islamisten mit einem gemäßigten Imam in Bab el Qued City (1994) lösten Proteste aus. Es scheint daher, dass aufgrund der zu erwartenden Rezeptionsschwierigkeiten religiöse Sujets in der arabischen Filmindustrie eher gemieden werden, zugunsten von trivialen Musik- und Liebesfilmen aus Ägypten und den Maghreb-Staaten – das historische Melodrama Das Schicksal (al-Maşīr, 1997) von Yousseff Chahine, das die Erosion von religiöser Toleranz im Andalusien des 12. Jahrhunderts schildert, bleibt die Ausnahme.88 Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird die Auseinandersetzung mit dem islamischen Extremismus natürlich vielfach in Hollywoodfilmen aufgegriffen, jedoch wird meist nur aus amerikanischer Perspektive erzählt, wie in den Verwicklungen von westlichen Geheimdiensten in nahöstliche Korruption in Syriana (2005) oder bei der Aufklärung eines Terroranschlags in Saudi-Arabien in The Kingdom (2007). Eine differenzierte Betrachtung der ideologischen Hintergründe islamistischer Gewalt wie in dem palästinensischen Film Paradise Now (2004) von Hany Abu-Assad gelingt selten – denn das Stereotyp vom Islamisten als »ferngesteuertem (Klein-)Bürgerschreck« ist seit den 1990er Jahren im arabischen Kino etabliert.89 Ganz anders als im islamisch geprägten Kulturkreis wurde in Indien das Medium des Films von Beginn an für die Umsetzung der sehr umfangreichen epischen Literatur in den sogenannten mythologicals genutzt. Der erste indische Stummfilm Raja Harishchandra (1913) gibt eine populäre Episode aus dem Mahabharata und dem Ramayana wieder, in der ein König seine Reichtümer, seine Frau und seine Kinder opfert, um ein Versprechen gegenüber einem Weisen zu erfüllen. Als Dank für seine hohe Moral erhält er schließlich von den Göttern alles wieder, was er verloren hatte. Weitere Kino-Adaptionen des Mahabharata wurden schon 1920 (Jyotish Bannerjee) und 1930 (mit dem ersten Tonfilmstar Zubeida) vorgenommen, 1965 folgte die farbenprächtige Umsetzung durch Babubhai Mistri.90 Für das indische Parallel Cinema, dessen Realismus sich deutlich vom populären Musicalfilm des kommerziellen Kinos abgrenzt, bilden religiöse Elemente oft einen Nebenaspekt sozialer Spannungen, in Neecha Nagar (1946) als Konflikt zwischen dem reichen Aristokraten und der ausgebeuteten Dorfbevölkerung. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang auch die bengalische Apu-Trilogie von Satyajit Ray (Pather Panchali, Aparajito, Apur Sansa 1955-1959), 88 | Eine abschließende Beurteilung des Feldes ist jedoch aufgrund der spärlichen Literatur kaum möglich. Vgl. Harwazinski 1999, 385f. Die Einschätzung Plates, dass sich das postrevolutionäre iranische Kino per se mit dem Islam befasse, weil Muslime in diesen Filmen vorkommen, erscheint überzogen. Vgl. Plate 2005, 3098. 89 | Vgl. Kreuzer 2002a, 92ff. 90 | Vgl. Prasad 2000, 58-72.
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in der das Erwachsenwerden des Jungen Apu aus einer verarmten bengalischen Brahmanenfamilie geschildert wird.91 Obwohl in der Ästhetik an erfolgreiche Bollywoodproduktionen angelehnt, thematisierten Bombay von Mani Ratnam (1995) und Uttara von Buddhadeb Dasgupta (2001) sozialkritisch die Folgen des religiösen Fundamentalismus: zum einen als melodramatische Liebesgeschichte zwischen einem Hindu und einer Muslima, zum anderen als tragische Geschichte vom kleinen Glück einer Hindu-Familie und einem christlichen Priester, die allesamt hilflose Opfer religiös motivierter Gewalt werden. Weitere Filme – wie Kamal Haasans Hey Ram (2000), Deepa Mehtas Earth (1998) und Khalid Mohameds Fiza (2000) – greifen in der Folgezeit den Hindu-Moslem-Konflikt auf und knüpfen teils an den auch kommerziellen Erfolg von Bombay an.92 Aber nicht nur in den Verfilmungen der klassischen Epen und in den problemorientierten Dramen des neorealistischen Kinos spielen religiöse Motive und Rahmenhandlungen eine Rolle, sondern ebenso im populären BollywoodKino. Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne spiegelt sich nämlich auch im kommerziellen Film wider, oft unter Einbezug einer stark utopischen Perspektive, die im happy-end die finale Versöhnung aller Parteien zelebriert: »Bollywood after all is not just a dream factory that belts out trashy material in the fashion of assembly line production. The potpourri despite itself, offers a glimpse of India’s values, traditions, and contemporary events often in a unique formulaic package.«93 Entsprechend der Zielsetzung der hindunationalistischen Reformbewegungen, wollte man die Errungenschaften der westlichen Zivilisation zwar anerkennen und in Indien weiterentwickeln, jedoch ohne die perversions des Systems – also vor allem der moralische Verfall und die Gottlosigkeit – zu übernehmen. Von Beginn an wurden diese Fragen der kulturellen, religiösen und sozialen Identität in Abgrenzung zum Westen im indischen Kino thematisiert. Schon 1921 wurde der westliche Lebensstil in Dhiren Gangulys Film Bilet Pherat aka England Returned scharf kritisiert.94 Auch in Filmen jüngeren Datums wie im Mikrokosmos einer Hochzeitsgesellschaft in Mira Nairs Monsoon Wedding (2001) oder in der international erfolgreichen Produktion Kabhi Khushi Kabhie Gham (engl. Sometimes Happy, Sometimes Sad, 2001) wird die westliche Moderne mit einer »indischen Moderne« kontrastiert, im letzteren Film auch mit Bezug zur Migrationsproblematik. Offenbar spielen hier traditionale Hindu-Rituale eine entscheidende Rolle als Kodierung von sozialen Konflikten und von
91 | Vgl. Martig 2002, 208. 92 | Vgl. Plate 2005, 3098; Martig 2002, 203-205. 93 | Kahn & Debroy 2002, 86. Vgl. auch Kazmi 1999, 215-241. 94 | Vgl. Kahn & Debroy 2002, 86.
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Versöhnung.95 Die Identitäts- und Rollenkonflikte indischer Migranten wurden dagegen für ein westliches Publikum bisher nur vereinzelt aufgegriffen: als Liebesmelodram 1991 von der indischen Filmemacherin Mira Nair in Mississippi Massala und in Bend it like Beckham (2002) von der britischen Regisseurin Gurinder Chadha.96 Neben den Filmproduktionen aus Südasien selbst müssen bei der Frage nach der filmischen Präsentation von Hindu-Religionen auch Filme aus Europa und den Vereinigten Staaten berücksichtigt werden. »Indien« wird dabei meist verwendet als exotisch verführerische Folie (Octopussy, 1983), als exotisch grausame Kulisse (Indiana Jones and the Temple of Doom, 1984) oder als Mischung beider Elemente wie in den erfolgreichen deutschen Spielfilmen Das indische Grabmal (1921) und Der Tiger von Eschnapur (1938) und dem internationalen Remake beider Filme als Der Tiger von Eschnapur unter der Regie von Fritz Lang von 1959 – Tempeltanz und vermeintliche Menschenopfer für indische Gottheiten bilden Konstanten dieser Filme. Die Verfilmung von Hermann Hesses Roman Siddhartha (1972) durch Conrad Rooks entspricht dagegen dem romantisierenden Orientalismus der amerikanischen Gegenkultur der ausgehenden 1960er Jahre. Buddhistische Sujets wurden im indischen Film nur vereinzelt verarbeitet (Gautama Buddha – The Life and Times of Gautama Buddha, 2007; Asoka, 2001), jedoch griffen Filme aus buddhistisch geprägten Ländern wie Sri Lanka, Thailand und Japan mitunter auf historische und gegenwartsbezogene Aspekte buddhistischen Lebens zurück. Eine systematische Aufarbeitung dieser Filme besteht jedoch nicht. Hatte bereits Franz Osten in der deutsch-indischen Koproduktion Die Leuchte Asiens/The Light of Asia (1925) in die Buddha-Biografie eingeführt, so wurde mit Bernardo Bertoluccis auch kommerziell erfolgreichem Film Little Buddha (1994), in dem ein Junge aus Seattle als Reinkarnation eines tibetischen Lamas identifiziert wurde, eine regelrechte Tibetwelle auf internationaler Ebene ausgelöst: Kundun (1997) von Martin Scorsese und Seven Years in Tibet (1997), basierend auf der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Harrer, zeigen Kindheit und Jugend des 14. Dalai Lamas.97 Die internationale Koproduktion Samsara (2001) erzählt die Geschichte eines tibetischen Mönches, der seine Askese für die Liebe einer Frau aufgibt, während der koreanische Film Spring, Summer, Fall, Winter … and Spring denselben Topos im ostasiatischen Buddhismus ansiedelt. Diese Spannung zwischen dem weltlichen Leben und den Idealen der mönchischen Askese hatte bereits 1989 der koreanische Film Warum Bodhi-Dharma in den Orient aufbrach? zumindest dem europäischen 95 | Vgl. Küger 2004b, 5-20. 96 | Zur filmischen Verarbeitung der indischen Migrationsproblematik vgl. auch Brosius & Yazgi 2007. 97 | Vgl. Hasenberg 1999, 379.
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Filmpublikum näher gebracht. Eher selbstironisch greifen Herbert Achternbuschs Ab nach Tibet (1993) und Doris Dörries Erleuchtung garantiert (2000) die Sinnsuche verunsicherter Deutscher in Tibet bzw. Japan auf.98 Das japanische Kino selbst greift gelegentlich auf religiöse Stoffe zurück, vor allem mit Bezug zum Zen- Buddhismus wie filmästhetisch in Hirokazu Koreeda’s Maborosi (1995) und Kei Kumais Sen no Rikyu (1989) und Hiroshi Teshigaharas Rikyu (1989) über den Begründer der neuzeitlichen Teezeremonie Sen no Rikyū (1522-1591).99 Ein weites Feld jenseits der Filme, die explizit religiöse Motive und Erzählungen ins Bild rücken, konstituieren Produktionen des Autorenkinos und populäre Produktionen, denen teils von den Filmemachern intendiert, teils vor allem von Theologen eine religiöse Relevanz zugeschrieben wird. Dies galt zunächst für die Filme von Ingmar Bergmann (Das Schweigen, 1963), für Andrei Tarkowskis an orthodoxer Bildsprache angelehntes Epos Stalker (1978/79) oder Krzysztof Kieślowskis Dekalog (1988/89). Spätestens seit Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) und Andrei Tarkowskis Solaris (1972) nach dem gleichnamigen Roman von Stanisław Lem rückten auch Science-Fiction-Filme verstärkt ins Visier theologischer Interpreten – vielfach wird in diesem Zusammenhang mit Verweis auf die inzwischen sieben Star Wars Filme (1977-2008)100 auf die sinnstiftende Etablierung von »Neomythen« bzw. »neuen Mythologien« verwiesen. In jüngster Zeit spielen die in Ästhetik und Dramaturgie eigenwilligen Filme des dänischen Regisseurs Lars von Trier hier eine herausragende Rolle, die mitunter als Übersetzungen der christlichen Passionsgeschichte gedeutet wurden (Breaking the Waves, 1996; Dancer in the Dark, 2000; Antichrist, 2009).101
Religionen im Dokumentarfilm Die Verwendung des Filmes als dokumentarisches Medium war in der anthropologischen bzw. ethnologischen Forschung bereits durch den breiten Einsatz der Fotografie und akustischer Aufzeichnungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorbereitet worden. Pionierarbeit leistete hier der amerikanische Fotograf Edward S. Curtis (1868-1952), der mit dem Ziel angetreten war, das Leben der vom Aussterben bedrohten, indigenen Völker Nordamerikas zu dokumentieren, und insgesamt 20 Bände des North American Indian mit über 1500 Fotografien 98 | Vgl. Schaedler 2002, 213-216. 99 | Vgl. Plate 2005, 3097. 100 | Der 7. Film, The Clone Wars (2008), war der animierte Pilotfilm zur gleichnamigen Fernsehserie (2008-). 101 | Vgl. Hasenberg 1999, 379; Hasenberg 2000, Sp. 123-126; Mohr 2008, 131. Jutta Brückner vom epd Film gelingt es sogar, den hermeneutisch schwer zugänglichen Film Antichrist als Träger einer christlichen Botschaft zu verstehen. Vgl. Brückner 2009, weiterführend auch Martig 2008.
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anfertigte. Er erfasste ebenso die Bräuche, Rituale und Mythen der indigenen Völker und sammelte mithilfe von Wachszylindern102 auch bereits über 10.000 Aufnahmen von indianischen Sprachen und Musikbeispielen.103 Die Geschichte des ethnografischen Films beginnt 1922 mit der Stummfilmproduktion Nanook of the North von Robert Flaherty, der das Leben der kanadischen Inuit (in meist nachgestellten Szenen) dokumentiert.104 Da Fortschritte in der Filmtechnik und die Etablierung der Anthropologie an den Universitäten es nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubten, die neuen audiovisuellen Medien verstärkt für die Forschung einzusetzen, entwickelten sich um Gregory Bateson und Margaret Mead (Trance and dance in Bali, 1952), Jean Rouch (Initiation à la danse des possédés, Niger 1949), John Marshall (The Hunters, 1957, über die Ju’Hoansi in der Kalahari), Robert Gardner (Dances of the Kwakiutl, 1951, über einen Clan an der amerikanischen Nordwestküste) und Tim Asch (Magical Death, 1974, über Schamanen der Yanomame) eine lebendige Szene anthropologischer Filmemacher.105 Inzwischen ist der Zweig der visuellen Anthropologie auf der akademischen Ebene institutionalisiert: 1984 wurde die Society of Visual Anthropology als Teil der American Anthropological Association gegründet, die seit 1991 die Visual Anthropology Review ediert.106 Eine zweite Zeitschrift, Visual Anthropology, wird seit 1987 von Paul Hockings (University of Illinois, Chicago) und der Commission on Visual Anthropology herausgegeben. Bedingt durch wissenschaftsgeschichtliche »Gebietsaufteilungen« behandeln ethnologische und anthropologische Filme in überwiegendem Maße schriftlose Kulturen außerhalb Europas und fokussieren vor allem rituelle Aspekte des (religiösen) Lebens. Die Volkskunde bzw. die neuerdings sogenannte europäische Ethnologie, die bisweilen auf das Medium Film als Forschungs- und Dokumentationsinstrument zurückgreift, hat das Feld der Religion in der Vergangenheit meist vollständig der christlichen Theologie überlassen, so dass es sowohl zur christlichen All102 | Thomas A. Edison hatte 1888 den Wachszylinder/die Wachswalze als ein Instrument zur Tonaufzeichnung erfunden, das zu Beginn über 2½ Minuten Spielzeit verfügte. Über einen Sprechtrichter mit Membran wird der Schall auf eine rotierende Walze geschrieben und kann später mithilfe eines Phonographen abgespielt werden. Erst mit dem Siegeszug der Schellackplatte wurden der Wachszylinder und der Phonograph ab den 1920er Jahren verdrängt. 103 | Vgl. Davis 1985, 16-47. 104 | Vgl. Ayfre 1953, 18-21. Als Tanzstudie, die in den ersten Filmjahren sehr verbreitet waren, hatte Thomas Edison bereits 1896 den Sioux Ghost Dance filmisch dokumentiert. Später folgten kurze dokumentarische Filmberichte wie z.B. über ein Treffen von Pius X. mit dem Kardinal Merry de Val 1907 in Rom. Vgl. Dixon & Foster 2008, 10. 105 | Zur Geschichte und den Schulen der Visuellen Anthropologie vgl. Heider 2006; Engelbrecht 2007. 106 | Vgl. http://societyforvisualanthropology.org (01.11.2009).
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tagskultur als auch zum außerchristlichen Religionspluralismus in Europa kaum wissenschaftliche Filmproduktionen bestehen.107 Eine wichtige Position in der Verbreitung wissenschaftlicher Dokumentarfilme nimmt seit 1956 das Göttinger Institut für den Wissenschaftlichen Film (seit 2001 IWF Wissen und Medien gGmbH) ein, das über mehr als 2100 Filmtitel mit Religionsbezug verfügt und diese für die Lehre an Schulen und Hochschulen zur Verfügung stellt. Nach einem Beschluss der Bund-Länder-Komission wurde das Institut jedoch Ende 2010 liquidiert.108 In der deutschsprachigen Religionswissenschaft bilden die Produktion und Analyse von filmischen Dokumentationen (noch?) eine große Ausnahme: Seine monografische Darstellung der historischen und gegenwärtigen Religion Zarathustras (2004) hat Michael Stausberg durch umfangreiche Videoaufzeichnungen von parsischen Ritualen ergänzt, während die Schweizer Religionswissenschaftlerin Kerstin-Katja Sindemann seit 2004 in über zehn Filmbeiträgen das religiöse Leben im Kanton Luzern portraitiert.109
Der religiöse Werbefilm Eine weitere Kategorie von religionsrelevanten Filmen sind missionarische und apologetische Filme,110 wobei die Differenz zu Filmen, die religiöse Geschichten oder Motive (der Bibel, der Heiligenlegenden etc.) für Unterhaltungszwecke aufgreifen, nicht per se definierbar ist. Neben der explizierten Intention und der offensichtlichen Zielgruppe einer Produktion sind stets die rezeptiven Bedingungen zu beachten. Während bspw. Verfilmungen des Lebens Jesu aus den 1950er Jahren – man denke an The Robe (1953) – aufgrund ihrer überzeichnenden, bildhaften und musikalischen Monumentalästhetik heute für große Zuschauergruppen vielleicht nicht mehr eine christliche Botschaft transportieren können, kann der zeitlose Realismus von Pasolinis 1. Evangelium: Matthäus (1964) wohl auch heute noch eine glaubensfördernde oder positiv missionarische Wirkung vermuten lassen. Wie schwierig die Frage vom Film her zu beantworten ist, wirft auch exemplarisch The Song of Bernadette (1943) auf. Ist der Film per se als »missionarisch« zu verstehen, weil das zu Grunde liegende Buch von Franz Werfel eine Art Votivgabe war, als Dank an die katholische Heilige 107 | Vgl. Mohr 2008, 131. 108 | Vgl. www.iwf.de (01.11.2009). 109 | Vgl. Stausberg 2004; Projekt Religionspluralismus im Kanton Luzern: www.religionenlu.ch/projekt-science-film.html (01.10.2009). 110 | Hasenberg (1999, 379) führt dankenswerterweise die Gruppe der »missionarischen Filme« ein, die in vergleichbaren Werken über Religion und Film schlichtweg unbeachtet bleibt, ohne jedoch die Rezeptionsproblematik oder weitere Ausdifferenzierungen zu thematisieren. Es macht Sinn von dieser Gruppe noch die apologetischen Filme zu unterschieden.
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für die im Sommer 1940 gelungene Flucht vor den Nazis über die Pyrenäen?111 Diese Spannung zwischen Intention und Rezeption bei der inhaltsbezogenen Zuordnung zu bestimmten Kategorien von religionsrelevanten Filmen ist nicht prinzipiell zu lösen und muss im Einzelfall die Produktionsbedingungen und die Rezeption berücksichtigen. Des Weiteren erscheint es sinnvoll, den Begriff des »missionarischen Filmes« durch den »religiösen Werbefilm« zu ersetzen. Der Begriff der Mission würde eine christozentrische Verengung der Intention und Rezeption von Filmen bedeuten, die letztlich stets auf ein Bekenntnis zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft abzielen würden – »missionarische Filme« würden nur einen kleinen Teil des in diesem Kontext anvisierten empirischen Feldes abdecken. Das Spektrum des »religiösen Werbefilms« dagegen würde auch Filme umfassen, die zur Teilnahme an religiösen Ereignissen (Pilgerfahrt, Jugendtreffen) oder an Workshops/Kursen im neureligiösen Bereich ermuntern, die nicht unbedingt auf eine »Bekehrung« ausgerichtet sind. Betrachtet man unter diesen Voraussetzungen das empirische Feld der Filmproduktionen bspw. von Religionsgemeinschaften, die im weitesten Sinne zu religiösem Engagement aufrufen, so ergeben sich sogleich drei unterschiedliche Typen von Filmen: Zum einen »missionierende Filme« im engeren Sinne, die sich an externe Zuschauergruppen wenden oder auch an die eigenen Anhänger gerichtet sein können (»innere Mission«). Diese Filme intendieren ein Bekenntnis zu definierten Glaubensüberzeugungen, sei dies nun im Rahmen eines Bekehrungserlebnisses, oder sei dies als Festigung und Vertiefung bereits bestehender Ansichten. Zum zweiten Filme, die sich an die Unterstützer und Anhänger des »Missionswerkes« oder der missionierenden Religionsgemeinschaft wenden, um vor allem die Spendenbereitschaft zu mobilisieren. Schließlich Filme, die sich an die Anhängerschaft oder ein breiteres, interessiertes Publikum wenden, um zur aktiven Teilnahme am religiösen Leben der Gemeinschaft oder an einzelnen religiösen oder im weiteren Sinne spirituellen Praktiken aufzurufen. Inhaltlich unterscheiden sich diese drei Kategorien von Filmen erheblich. a) Missionierende Filme Pionier des missionierenden Filmes ist der US-amerikanische Prediger Billy Graham (*1918), der schon 1951 die Produktions- und Verleihfirma Billy Graham Evangelistic Film Ministry (seit 1980 World Wide Pictures) gründete. Zunächst wurden einige crusades (Evangelisationskampagnen) von Graham dokumentiert, später folgten über 30 religiöse Spiel- und Dokumentarfilmproduktionen, die nach Aussagen der Hersteller unzählige Bekehrungserlebnisse und Vertiefungen des Glaubens ermöglicht haben sollen.112 111 | Vgl. Jungk 2006, 289f. 112 | Vgl. www.billygraham.org/WWP_Index.asp (01.10.2009).
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Die Vorgeschichte des wohl umfangreichsten filmischen Missionsprojektes begann ebenfalls 1951, als der presbyterianische Prediger Bill Bright (1921-2003) sein studentisches Missionswerk Campus Crusade for Christ an der University of California in Los Angeles errichtete, das heute über 25.000 fest angestellte Missionare weltweit umfasst. 1976 wurde Bright von dem einflussreichen Hollywood-Filmproduzenten John Heyman (*1933) eingeladen, sein ehrgeiziges Genesis Project zu finanzieren. Heyman, der aus einer jüdischen Familie stammt, wollte das gesamte Alte und Neue Testament Vers für Vers als New Media Bible filmisch inszenieren und durch Begleitmaterialien ergänzen, um auf diese Weise zur unverfälschten, originären Version der jüdischen und christlichen Schriften vorzustoßen. Unter Einbezug zahlreicher wissenschaftlicher Berater waren bis 1976 bereits 22 Kapitel des Buchs Genesis und zwei Kapitel des Lukasevangeliums mit hebräischem bzw. aramäischem O-Ton (mit engl. Untertitel bzw. engl. Off-Ton) verfilmt worden. Heyman sah in Brights Campus Crusade for Christ eine sichere Finanzierungsmöglichkeit für das Genesis Project, da der kommerzielle Erfolg des Unternehmens fraglich war. Für Bill Bright eröffnete sich die Chance, die Botschaft der Bibel in einem idealen Missionsmedium, dem Film, zu propagieren. Auf der Basis des Lukasevangeliums entstand bis 1979 der zweistündige Spielfilm Jesus, dessen Aufnahme in den Kinos der Vereinigten Staaten eher verhalten war, denn gemäß den Kritiken sei der Film zu spröde, monoton und textorientiert. Dem kommerziellen Misserfolg an den Kinokassen zum Trotz wurden innerhalb eines Jahres bereits 30 Sprachversionen des Filmes produziert, mit denen die weltweit agierenden Missionare des Campus Crusade for Christ ausgestattet wurden.113 Inzwischen ist der Film in über 1000 Sprachen übersetzt worden und The Jesus Film Project als eigenes Missionswerk der Campus Crusade for Christ erklärt den Film zum meist gesehenen Film in der Geschichte der Menschheit mit 5,6 Milliarden Zuschauern (wiederholtes Zuschauen eingerechnet): Every four seconds, somewhere in the world, another person indicates a decision to follow Christ after watching the »JESUS« film. Every four seconds… that’s 21,600 people per day, 648,000 per month and more than 7.8 million per year! That’s like the population of the entire city of Seattle, WA, coming to Christ every 27.5 days. And yet, if you are like most people, you may have never even heard of it.114
Ergänzt wurde das Filmwerk durch zahllose Audioversionen und 1999 auch durch die kindgerechte Version The Story of Jesus for Children. Neben den Aufführungen wurde der Film in den Vereinigten Staaten auch unentgeltlich als 113 | Vgl. Dart 2001. 114 | Hier wird das Publikum der weltweiten Filmvorführungen mit den verkauften Filmträgern (Videokassetten, DVDs) addiert. Vgl. www.jesusfilm.org (01.10.2009).
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VHS-Kassette oder DVD an zahlreiche Haushalte versandt, inzwischen sind alle Versionen via Internet frei verfügbar.115 Das Pendant zu den Filmprojekten der missionierenden Kirchen in den Vereinigten Staaten, die ohnehin global agieren, ist die Filmarbeit der beiden christlichen Großkirchen in Deutschland. Da das vormalige Ziel eines innerchristlichen Proselytismus hier dem Anliegen einer Stärkung der christlichen Ökumene gegenüber der Bedrohung durch gesellschaftliche Säkularisierung gewichen ist, werden im Bereich Film nur in begrenztem Maße eigene Produktionen im Dienste der »inneren Mission« gefördert. Eine vordringliche Aufgabe wird in der Bewertung und im Vertrieb von religionsrelevanten Filmen kommerzieller Hersteller gesehen – der gesamte Komplex kirchlicher Filmarbeit wird daher im Anschluss zusammenhängend besprochen. b) Aufruf zur Unterstützung der Mission Von dieser ersten Gruppe der religiösen Werbefilme, die auf Vermittlung von Glaubensinhalten an Außenstehende und Anhänger ausgerichtet sind, müssen solche Filme unterschieden werden, die sich an die Unterstützer der Missionsarbeit wenden. In Analogie zu den umfangreichen Berichten, die von Missionaren in der Vergangenheit und Gegenwart an die Missionsgesellschaften in der Heimat gesendet werden, bietet die filmische Dokumentation der Missionserfolge eine emotional ansprechende Art der Werbung. Im Bereich evangelikaler Missionsarbeit bieten diese Filme eine immens wichtige Illustration der sehr hohen Zahlen an Bekehrungen, die von verschiedenen Predigern angegeben werden. Konnte Billy Graham gegen Ende seiner Predigertätigkeit noch auf fast drei Millionen Bekehrungen verweisen, so strebt die nächste Generation bereits die 100 Millionen-Marke an: Der deutsche evangelikale Prediger und Initiator von Christ for all Nations, Reinhard Bonnke (*1940), versammelt während seiner Großevangelisation in den Metropolen vor allem Nigerias und anderer Staaten Westafrikas in der Regel zwischen einer Million und drei Millionen Teilnehmer. Zentrales Element der Gottesdienste sind Exorzismen und Wunderheilungen, die in den filmischen Missionsberichten ausführlich dokumentiert werden.116 Qualitativer Höhepunkt der Evangelisationserfolge war 2001 die vermeintliche Auferweckung eines verstorbenen evangelischen Pastors in Nigeria, dem eine eigene Dokumentation gewidmet ist (Vom Tod zurück ins Leben/Raised from the Dead).
115 | Vgl. www.jesusfilm.org (01.10.2009). Insbesondere in Westafrika spielen missionarische Filme von Pfingstkirchen eine bedeutsame Rolle im Kulturleben. Vgl. Plate 2005, 3098. 116 | Bspw. in den Filmen 7 Wunder und ein Märtyrer – Im Kriegsgebiet/Befreiung vom Okkultismus – Bis ans Ende der Welt (o.J.). Vgl. www.e-r-productioncom (01.10.2009).
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Die umfangreiche filmische Dokumentation ist für die enorme Missionsarbeit der Freikirchen im deutschen Sprachraum unabdingbar, denn im Gegensatz zu den etablierten Großkirchen besteht ja keine institutionell abgesicherte Finanzierung, jedes Missionsprojekt muss daher »beworben« werden. Das Internet bietet dabei eine willkommene Schnittstelle für den (teils kostenlosen) Vertrieb von Filmmaterial, aber auch zur Verknüpfung mit weiteren Medienangeboten (frei verfügbare Filme zum Download, Audioaufzeichnungen von Predigten, Bücher, Missionsbroschüren etc.).117 c) Aufruf zur aktiven Missionsarbeit Während bei Christ for all Nations die Finanzierung der Evangelisationsveranstaltungen eines einzelnen Predigers im Mittelpunkt der Werbetätigkeit steht, ist diese unter anderen strukturellen Voraussetzungen auch mit anderen Zielen verbunden. Das Jugendmissionswerk Youth with a Mission/Jugend mit einer Mission (YWAM/JMEM), das 1960 von Loren und Darlene Cunningham als überkonfessionelle Bewegung gegründet wurde, ist mit 16.000 freiwilligen Helfern in 171 Nationen aktiv. Die Idee der Cunninghams war es, junge Menschen direkt nach ihrem Schulabschluss zu einer karitativen Missionstätigkeit im Ausland zu motivieren und anderen Menschen von ihrem Glauben an Jesus zu berichten. Die Promotionfilme von YWAM dokumentieren daher hauptsächlich die positiven Erfahrungen der Jugendlichen bei ihrer Arbeit, um weitere Missionare zu motivieren.118 Im Zentrum der Missionsfilme der vor allem in der Schweiz verbreiteten International Christian Fellowship (ICF) stehen dagegen die lebhaften celebrations, die auf ein jugendliches Publikum zugeschnitten sind. Kurze Werbefilme sind auf der Homepage wie auch auf YouTube verfügbar.119 Obwohl die Grenzen zwischen den verschiedenen Arten des religiösen Werbefilms fließend sein können – die Dokumentationen von Billy Grahams frühen Crusades führten sowohl zu Bekehrungserlebnissen bei den Zuschauern als auch zur Unterstützung seiner weiteren Evangelisationsarbeit – haben die aufgeführten Beispiele gezeigt, dass die Intention und der Adressat eines produzierten Filmes erheblichen Einfluss auf die inhaltliche und ästhetisch-formale Ausgestaltung haben. Die Dokumentationen über Bonnkes Evangelisationen sind bspw. in der Bildregie denen von großen Rockkonzerten nachempfunden (fliegende Kameras über den Besuchermassen, Großaufnahmen einzelner Zuschauer etc.), die Promotionfilme von YWAM zeigen eine professionell choreo-
117 | Vgl. www.bonnke.net/portal (01.09.2009). 118 | Vgl. www.ywam.org/contents/sta_res_promo.htm (01.09.2009). 119 | Vgl. www.icf.ch (01.10.2009).
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grafierte Collage kurzer, persönlicher Erfahrungseindrücke, die an vergleichbare Werbefilme amerikanischer Universitäten erinnern.
Die Filmarbeit der Kirchen in Deutschland Schon früh wurde die Bedeutung der Filmarbeit in den christlichen Großkirchen Deutschlands erkannt. Im Zentrum steht hier die »Notwendigkeit der positiven Filmerziehung« im Sinne einer christlichen Gesamtentwicklung des heranwachsenden Menschen – die negative Filmzensur spielt in diesem Zusammenhang nur eine periphere Rolle.120
Katholische Filmarbeit Schon seit 1909 befasste sich die Abteilung »Lichtbilderei« des Volksvereins für das katholische Deutschland intensiv um die neu entstehenden Filmproduktionen, unter maßgeblicher deutscher Beteiligung wurde 1928 die Gründung des Office Catholique International du Cinéma (OCIC) in Den Haag betrieben. 1949 wurde die Katholische Filmkommission für Deutschland gegründet, die zusammen mit dem Katholischen Institut für Medieninformation den deutschlandweit bedeutsamen Film-Dienst (seit 1947) und das Lexikon des Internationalen Films (1995ff.) ediert.121 Eine tiefer gehende Diskussion aktueller und historischer Filmproduktionen aus theologischer Perspektive hat sich die internationale Forschungsgruppe Film und Theologie der Katholischen Akademie Schwerte zum Ziel gesetzt: Die bisher 13 Bände der Buchreihe Film und Theologie und die entsprechenden Fachtagungen fokussieren entweder thematische Schwerpunkte, wie bspw. Gewalt (1), Kinder (6) oder Eros (8) oder das Werk einzelner Filmemacher wie Lars von Trier (10, 12).122 Als zentrale Vertriebseinrichtung für zunächst nur Filme, inzwischen für alle Arten von audiovisuellen Medien, wurde schon 1953 das Katholische Filmwerk als GmbH mit Sitz in Frankfurt a.M. installiert. Dokumentationen aber auch Spielfilme mit religiösem Bezug – wie Kieślowskis Dekalog (1988/89) – werden für den Verleih und heute verstärkt für den Verkauf an Bildungseinrichtungen vorgehalten. Ein entsprechender Programmbeirat wählt die Filme aus dem Markt aus und prüft ihre Verwendbarkeit für die kirchliche Medienarbeit.123 Neun katholische deutsche Bistümer tragen als Mehrheitsgesellschafter die TELLUX Beteiligungsgesellschaft mbH, die als Holding für mehrere audiovisuelle Produktionsgesellschaften fungiert. Deren Programme erstrecken sich vom Kinofilm bis zum TV-Mehrteiler, von der Serie bis zu Dokumentationen, 120 | Vgl. Ludwig 1958, Sp. 944. 121 | Vgl. Schmolke 2000, 720. 122 | Vgl. http://www-theol.kfunigraz.ac.at/film/profil.html (01.09.2009). 123 | Vgl. www.filmwerk.de (01.09.2009).
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von Kinderprogrammen bis hin zu Magazin-Zulieferungen. Daneben hält die TELLUX Beteiligungsgesellschaft Anteile bei Hörfunkveranstaltern. Jüngste Fernsehprojekte wie die TV-Serie »Deutsch Klasse« oder der Spielfilm »In einem anderen Leben« dokumentieren den kulturellen Anspruch der TELLUXProduktionen.
Evangelische Filmarbeit In Kooperation mit dem Central-Ausschuss für Innere Mission rief der Evangelische Preßverband für Deutschland bereits 1922 die Evangelische Bildkammer ins Leben, 1931 tagte in Kassel ein »Evangelischer Filmkongress« und berief mit Werner Heß den ersten Filmbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland. Unter dem Druck der Deutschen Christen und der Zensur der NS-Behörden kam die evangelische Filmarbeit 1941 allerdings vollständig zum Erliegen. 1949 ernannte die neu konstituierte Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) einen speziellen Beauftragten für die Filmarbeit, für die Koordination der Zusammenarbeit mit Film, Fernsehen und Hörfunk wurde 1955 die Kammer für publizistische Arbeit eingerichtet, die 1979 den Publizistischen Gesamtplan der EKD mit Empfehlungen und Richtlinien für die kirchliche Medienarbeit entwarf.124 Grundsätzlich verfolgt die evangelische Filmarbeit das Ziel, Filme zu fördern, »… die eine dem Evangelium gemäße menschliche Haltung zum Ausdruck bringen oder zur Überprüfung eigener Positionen anregen und mitmenschliche Verantwortung wecken. – Dabei ist nicht das filmästhetische Moment, sondern der ethische Gehalt des Films oberster Grundsatz der Auswahl;«125 Die evangelische Filmarbeit, die insgesamt koordiniert wird vom Referat Film und AV-Medien (audio-visuelle Medien) im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, befasst sich einerseits mit der Bewertung und Kommentierung des kommerziellen Filmangebotes und der Aufbereitung interessanter Filme für die Religionspädagogik, kirchliche Erwachsenenbildung und Gemeindearbeit. Andererseits ist sie im Vertrieb und der Filmproduktion engagiert. Seit 1983 wird der monatlich erscheinende epd Film mit umfangreichen Filmkritiken vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik ediert, zurzeit mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren.126 Auch Filmpreise und Filmfestivals werden unter der Regie bzw. mit Beteiligung des Gemeinschaftswerkes evangelischer Publizistik organisiert, wie der European John Templeton Film Award und das Arnoldshainer Filmforum. Seit Dezember 1951 zeichnet zudem die Jury der evangelischen Filmarbeit den Film des Monats aus, um die Öffentlichkeit auf anspruchsvolle und ethisch relevante Filmproduktionen aufmerksam zu ma124 | Vgl. Dannowski 1996, 192f.; Pöhlmann 2000, 713-715; Albrecht 1983, 174. 125 | Publizistische Kammer, Januar 1977: Kirche und Film, Ordnung für den Fachbereich 4 im GEP. Zitiert nach Albrecht 1983, 174. 126 | Vgl. www.epd-film.de (01.09.2009).
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chen.127 Der nebenamtlich tätige Filmbeauftragte des Rates der EKD vertritt die Kirche gegenüber der Öffentlichkeit, in der Filmförderung und in internationalen Organisationen wie der ökumenischen World Association of Christian Communication, die für die Durchsetzung christlicher Standards in der Medienarbeit eintritt. Ebenfalls auf internationaler Ebene sind in dem 1955 etablierten Netzwerk INTERFILM Vertreter der protestantischen, anglikanischen und orthodoxen Kirchen und jüdischer Gemeinden organisiert, um unter einer ökumenischen Perspektive vor allem herausragende Filme mit religiöser Bedeutung auszuzeichnen und bekannt zu machen.128 Um auch auf den Filmverleih und Vertrieb von Filmen Einfluss nehmen zu können, gründete die EKD bereits 1950 die Matthias Film gGmbH in Stuttgart als gemeinnützige Filmvertriebsgesellschaft. Vorrangig war sie als nichtkommerzieller Filmverleih installiert worden, der Lizenzen an Dokumentationen und Spielfilmen mit gesellschaftspolitischen Themen, ethischen Fragestellungen oder religiösen Sujets erwarb und diese Filme dann über Medienzentren vor allem für Schulen und Bildungseinrichtungen zugänglich machte. Treibende Kraft war hier vor allem der bayerische Pfarrer und Kirchenrat Robert Geisendörfer (1910-1976), der in der deutschen Nachkriegszeit die zentrale Bedeutung von Hörfunk und Fernsehen für die evangelische Publizistik erkannte. Heute werden hauptsächlich DVDs und Videokassetten teils auch mit eigenen Labels, wie dem Bilderbuchkino für Vorschulkinder, verliehen.129 Darüber hinaus umfasst das Angebot des Evangelischen Zentrums für Entwicklungsbezogene Filmarbeit (EZEF) als Fachstelle des Evangelischen Entwicklungsdienstes (Bonn) seit 1982 Dokumentationen, Trickfilme sowie Spielfilme aus und über außereuropäische Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika. Das EZEF verleiht Filme an Kinos, informiert über Filmproduktionen der entsprechenden Länder und vertreibt direkt auch DVDs und medienpädagogische Begleitmaterialien. Mit der Medienarbeit werden auch entwicklungspolitische Ziele verfolgt, die über die Ungerechtigkeiten der ökonomischen Globalisierung aufklärt, indem sie dem kommerziellen »Informationsmarkt« entgegensteuert.130 Aus der Matthias Film gGmbH wurde 1960 die Produktionsfirma EIKON gGmbH ausgegliedert, um das wachsende Programmangebot der Kinos und des expandierenden öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit eigenen Produktionen zu versorgen – vereinzelt gab es allerdings schon zuvor Versuche, durch Spenden die Herstellung evangelischer Verkündigungsfilme zu fördern wie Lu127 | Vgl. www.gep.de/filmdesmonats/index.php (01.09.2009). 128 | Zur Geschichte von INTERFILM vgl. Dannowski 1996, 189-202; auch www.gep. de/interfilm/deutsch/index_interfilm.htm (01.09.2009). 129 | Vgl. www.matthias-film.de (01.09.2009). 130 | Vgl. Wolpert 1996, 154-164; www.gep.de/ezef/index_128.htm (01.09.2009).
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ther (1927) von Hans Kyser. Nach mehreren Umstrukturierungen führte 1999 eine Empfehlung des publizistischen Gesamtplans der EKD dazu, dass die EIKON und etliche regionale evangelisch-kirchliche Fernsehproduktionsstätten in einer neuen Holding unter Führung der EIKON zusammengefasst wurden. Gemeinsam mit einer der größten mittelständischen Film- und Fernsehproduktionsgesellschaften in Deutschland, der Tellux-Holding (München),131 wurde 2001 die ökumenisch ausgerichtete Cross Media Medienproduktion (Halle a. d. Saale) gegründet. Zurzeit wird hier die aufwendige Kinderzeichentrickserie Chi – Ro – Das Geheimnis (2010/11) für den Kinderkanal von ARD und ZDF produziert, die innerhalb einer dramatischen Rahmenhandlung in die »bedrohten« Geschichten der Bibel einführen will.132 Die EIKON und die Tellux sind darüber hinaus am Satellitensender BIBEL-TV beteiligt und verwalten ihre Anteile dort gemeinsam. Programmatisch versteht sich die EIKON als eine »Vermittlerin der christlichen Botschaft, als Stimme der Schwachen, als Fenster nach Osteuropa und in die Dritte Welt sowie als Chance für Kreative auf Freiraum in Verantwortung. Was wir anfangen, soll sich schon rechnen, aber der Markt ist nicht unser Herr.«133 Im Mittelpunkt stehen Kinderprogramme (z.B. Neues aus Uhlenbusch, 1978), kirchlich geprägte Sendereihen (So gesehen, Sat1, seit 2007; Um Gottes Willen, N24, seit 2008), Unterhaltungsserien und Spielfilme (Luther, 2003). Wenn auch die Filmarbeit der christlichen Kirchen außerhalb Deutschlands aufgrund von anderen institutionellen und finanziellen Rahmenbedingungen weniger ausdifferenziert und etabliert ist, so muss in diesem Zusammenhang jedoch auf das englische Festival of Light und seine Weiterentwicklungen hingewiesen werden. Eine Bewegung evangelikaler Christen organisierte erstmals im September 1971 landesweite Proteste gegen die Kommerzialisierung und Zurschaustellung von Sexualität und Gewalt in Filmen und Fernsehprogrammen und konnte mit den Massenprotesten in über 300 Städten Großbritanniens weite politische Zustimmung erfahren. In den Folgejahren wurden diese Protestkundgebungen fortgesetzt und mündeten 1983 in der Gründung der Christian Action Research and Education (CARE), die sich inzwischen in ganz Europa mit verschiedenen Kampagnen gegen sexuelle und gewaltverherrlichende Inhalte in den Medien, gegen Abtreibung und Prostitution und für die Aufwertung christlicher Lebensmodelle einsetzt.134 131 | Die Mehrheitsgesellschafter der 1960 gegründeten Tellux-Beteiligungsgesellschaft mbH sind katholische Bistümer. Vgl. www.tellux.tv (01.09.2009). 132 | Vgl. www.crossmedia-tv.de (01.09.2009). 133 | Vgl. www.eikon-film.de/EIKON-Geschichte-und-Philosoph.12.0.html?&L= %2F, unter »Firmenphilosophie« (01.09.2009). 134 | Vgl. Moyise & Pearson 2001, 47; Capon 1972; www.care.org.uk (01.09.2009).
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Medienzensur und medienpädagogische Altersfreigabe Sowohl die katholische Kirche als auch die EKD sind in Deutschland an der Filmzensur und der Altersfreigabe der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) beteiligt. Seit 1920 bestand im Deutschen Reich eine einheitliche staatliche Filmzensur auf der Grundlage des Reichslichtspielgesetzes,135 die jedoch aufgrund der veränderten politischen Rahmenbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg neu gestaltet werden musste. Während sich in der Deutschen Demokratischen Republik eine zentralistische, staatliche Zensur etablierte,136 wurde 1949 in Wiesbaden die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft nach Vorbild des US-amerikanischen production code installiert. Die Verbände der Filmproduzenten, der Filmtheater und des Filmverleihs waren daran interessiert, behördliches Eingreifen möglichst zu vermeiden und einheitliche Regelungen für einen filmischen Jugendschutz für alle Bundesländer zu installieren. In den Prüfungsgremien der FSK sind seither Repräsentanten der Filmwirtschaft, des Bundes und der Länder, der katholischen Kirche und der EKD sowie der jüdischen Kultusgemeinden und des Bundesjugendringes (einer Dachorganisation der deutschen Jugendverbände) paritätisch vertreten: Von den ca. 90 ehrenamtlichen Prüfern bestellt die Deutsche Bischofskonferenz 14, die EKD 16 und der Zentralrat der Juden in Deutschland zwei Vertreter.137 Die FSK prüft hierbei die Freigabe von Filmen, Videokassetten und DVDs für bestimmte Altersgruppen138 und für die öffentliche Vorführung an Feiertagen.139 Maßstab für die Beurteilung ist hier stets das »körperliche, geistige und seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen«.140 Es besteht in Deutschland zwar keine Vorlagepflicht von Filmproduktionen, jedoch haben sich die in der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V. (SPIO) zusammengeschlossenen 16 Berufsverbände der Film-, Fernseh- und
135 | Vgl. Ludwig 1958, Sp. 944. 136 | Da es offiziell keine Zensur in der DDR gab und die Verfassung von 1968 diese sogar explizit ausschloss, wurde die Filmzensur einerseits durch die »Schere im Kopf« und andererseits durch das direkte Eingreifen staatlicher Stellen (Abteilung Agitation des ZK, Informationsämter etc.) nach intransparenten Richtlinien durchgesetzt. 137 | E-Mail vom 06.11.2009 von Stefan Linz, Sprecher der Film- und Videowirtschaft der FSK. 138 | Freigabe ab 0/6/12/16/18 Jahren. 139 | Die so genannten stillen Feiertage (Aschermittwoch, Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag, Allerheiligen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag und Heiligabend) genießen in den Bundesländern einen besonderen Schutz, der sich je nach Bundesland auf den ganzen Tag oder Tagesabschnitte beziehen kann, an denen bestimmte kulturelle Veranstaltungen (wie der Tanz am Karfreitag) oder entsprechende Filmaufführungen untersagt sind. 140 | Vgl. § 29 der Grundsätze der FSK. Vgl. Albrecht 1996, 104f.
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Videowirtschaft verpflichtet, nur diejenigen Produkte zur Veröffentlichung zu bringen, die die FSK durchlaufen haben.141 Über eine Indizierung von Filmen entscheidet wiederum die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die dem Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugeordnet ist; Vertreter der Kirchen und der jüdischen Kultusgemeinde arbeiten hier als ehrenamtliche Gruppenbeisitzer bzw. Beisitzer in den beiden Entscheidungsgremien der Prüfstelle.142 Auch in der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen e.V. (FSF), die 1994 als gemeinnütziger Verein privater Fernsehanbieter gegründet wurde, sind Kirchenvertreter im Kuratorium und im Prüforgan beteiligt und entscheiden darüber, ob und zu welcher Zeit Programme unter Jugendschutzgesichtspunkten gesendet werden dürfen, wo also jeweils das vertretbare Maß an Gewalt- und Sexualdarstellungen liegt.143 Aber nicht nur in Institutionen der wirtschaftlichen und staatlichen Filmzensur bzw. Medienpädagogik, sondern auch in Organen der Filmförderung sind kirchliche Vertreter präsent, wenn auch nur in geringer Anzahl: Im Verwaltungsrat der 1968 gegründeten deutschen Filmförderungsanstalt, die über ein Jahresbudget von rund 76 Millionen Euro verfügt, sitzt je ein Vertreter der EKD und der katholischen Kirche.144 Erheblichen Einfluss hatten die Kirchen in diesem Zusammenhang jedoch auf die Beibehaltung der sogenannten Sittenklausel im Filmhilfegesetz von 1963 bis 1965 und dem Filmförderungsgesetz von 1967 – Filmproduktionen sollten demnach nur dann gefördert werden, wenn sie nicht den Schutz von Ehe und Familie beeinträchtigten, das sittliche und religiöse Empfinden verletzten oder verrohend wirkten.145 Diese Einschränkungen der staatlichen Förderung der Filmkunst wurden mitunter als massiver Eingriff der Kirchen in ein Gesetzgebungsverfahren empfunden und lösten eine kontroverse öffentliche Debatte aus.146
141 | Vgl. Quaas 2007, 205-248; Albrecht 1996, 100-106; www.spio.de/index. asp?SeitID=2 (01.09.2009). 142 | Vgl. www.bundespruefstelle.de (01.09.2009). 143 | Entsprechende Funktionen nehmen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk die entsprechenden Aufsichtsgremien wahr. Vgl. www.fsf.de (01.09.2009). 144 | Vgl. www.ffa.de (01.09.2009). 145 | Vgl. Quaas 2007, 254. 146 | Die politische und öffentliche Debatte ist eindrücklich von Anne Kathrin Quaas dokumentiert worden. Vgl. Quaas 2007, 249-271.
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4.4.2 Zwischen Theologie und Filmanalyse: ein Forschungsüberblick Hubert Mohr resümiert treffend, dass zwar ein gewaltiger Bestand an Filmdokumenten entstanden sei, »ein Quellenpool, der jedoch bisher weder systematisch erfasst noch konsequent ausgewertet wird.«147 Ein absolutes Novum stellte daher das von Mohr und Christoph Auffarth edierte Metzler Lexikon Religion: Gegenwart – Alltag – Medien (1999-2002) dar, das in den Übersichten zu den einzelnen Religionen neben die entsprechenden Bibliografien in vielen Fällen auch hilfreiche Filmhinweise platzierte.148 Insgesamt jedoch ist die wissenschaftliche und theoretische Auseinandersetzung mit dem Feld von Religion und Film wohl wie kein anderer Bereich innerhalb des thematischen Bogens von Religion und Medien von (christlich-)theologischen Voraussetzungen geprägt. In der deutschsprachigen Religionswissenschaft wurde die Thematik von Film und Religion bisher nicht systematisch angegangen, lediglich zu einzelnen Filmen liegen wenige Studien vor.149 Eine Auseinandersetzung mit Filmproduktionen außerhalb Europas und der Vereinigten Staaten fand nur ausnahmsweise statt: Der von der internationalen Forschungsgruppe Film und Theologie im Jahr 2002 edierte Sammelband Weltreligionen im Film vereinigt eine Reihe lesenswerter Beiträge zum Kino aus nicht-christlichen Zusammenhängen. Einen differenzierten Überblick über historische und aktuelle Entwicklungen im Bereich des Buddhismus und der Hindu-Religionen gelingt hier Luc Schaedler und Charles Martig.150 Angesichts der sich erst in aller jüngster Zeit zaghaft entwickelnden, kulturwissenschaftlichen Problematisierung von Religion im Film und dem religiösen Film an sich wäre es ein fruchtloses Unterfangen, hier nur diese letzten Forschungsansätze einer genaueren Betrachtung zu unterziehen – auch im Hinblick auf diese neueren Ansätze stellt sich die Frage nach den christlichen Vorbedingungen der Forschungsperspektiven. Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist nämlich die Forschungsliteratur durchweg von theologischen Prämissen geprägt (auch konfessionelle Unterschiede sind hier spürbar), die entscheiden, welche Aspekte des Feldes überhaupt thematisiert werden (und welche nicht!), und die vorbestimmen, ob in der Filmanalyse bspw. die text147 | Mohr 2008, 125. 148 | Interessanterweise befassen sich die zwei Haupteinträge zum Stichwort »Film« dann doch nur ausschließlich mit Spielfilmen, Dokumentarfilme bleiben unerwähnt. Vgl. Hasenberg 1999; Harwazinski 1999. 149 | Mäder (2008; 2009) zu jüdischer Genderkonstruktion im Film Matchmaker, zu Wirklichkeitsverschiebungen in eXistenZ Pezzoli-Olgiati (2007; 2008a) und Krüger (2004b) zu Ritualen in Bollywoodfilmen und jüngst Großhans (2010) zum Exorzismus im Film. 150 | Vgl. Martig 2002, 202-209; Schaedler 2002, 211-224.
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lichen Inhalte, die ästhetische Bildsprache oder das »Filmerlebnis« akzentuiert werden. Eine religionswissenschaftliche Filmforschung kann eigentlich erst beginnen, wenn die epistemologischen Voraussetzungen der bisherigen Ansätze offenliegen, wenn also klar wird, warum bestimmte Phänomene im Zentrum des Interesses stehen, andere völlig ausgeblendet werden und warum hier sehr spezifisch ausgerichtete Forschungsszenarien realisiert werden. Hubert Mohr appelliert nachdrücklich dafür, diese Dimension der Filminterpretationen zu berücksichtigen: Allerdings ist hier bei der Deutung Vorsicht geboten: Nicht jede »Sinnstiftung« im Spielfilm ist auch religiös gemeint oder fundiert; gerade im theologischen Diskurs findet sich oft eine nur metaphorische Übertragung, um nicht zu sagen: Projektion, (christlich-) religiöser Begriffe auf Film und Fernsehen, die auf ein inklusivistisches Interesse mancher Interpreten zurückzuführen ist: Man argumentiert dem schwindenden (christlich-) religiösen Bezug von Kunst und Gesellschaft hinterher.151
Bis auf wenige Ausnahmen muss daher die gesamte Forschungsliteratur zum Gebiet Religion und Film zunächst als Gegenstand religionswissenschaftlicher Analyse betrachtet werden: Die akademisch-theologische Filmtheorie und deren Weiterführungen sind selbst ein religiöses Faktum. Ein kurzer Blick auf die bisherigen Forschungen im Vergleich zu den oben skizzierten, möglichen Forschungsfeldern offenbart die Problematik: Fast ausschließlich wurden bisher nur Spielfilme thematisiert – eine untergeordnete Rolle spielen religiöse Motive in kommerziellen Werbefilmen. Dokumentarfilmen über Religionen152 wurde ebenso wenig Beachtung geschenkt wie dem weiten Feld der religiösen Werbefilme, also den explizit missionarischen Filmen wie auch den apologetischen Filmen. So stellt denn auch Peter Hasenberg fest: »Die langen Filme, die in religionsunterweisender Absicht, d.h. vom Zentrum der Religion her gedreht und innerhalb des Religionssystems vertrieben werden, sind im Bereich des Kinofilms eine vernachlässigbare Größe.«153 Symptomatisch für diese selektive Wahrnehmung ist sicherlich die vollkommene Ausblendung des missionarisch erfolgreichen Jesus-Filmes von 1978 aus der akademischen, theologischen Debatte.154 Die intensive Filmarbeit der Groß151 | Mohr 2008, 131. 152 | Die auch nur vereinzelten Arbeiten zu Fernsehfilmen und -dokumentationen werden im anschließenden Abschnitt gesondert betrachtet, ändern aber an der Marginalisierung des dokumentarischen Filmes in der religionsinteressierten Filmforschung nichts. 153 | Hasenberg et al. 1993, 11. 154 | Das Jesus Film Project wird in den gängigen theologischen und filmwissenschaftlichen Anthologien zur Thematik Religion und Film meist gar nicht besprochen. Weder
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kirchen in Deutschland – in dieser ausgeprägten Form ohnehin ein deutsches Spezifikum155 – wurde abgesehen von den oben zitierten Selbstdarstellungen nur in wenigen Publikationen systematisch untersucht,156 über die eventuelle Filmarbeit der Freikirchen und anderer Religionsgemeinschaften in Deutschland liegen überhaupt keine Anhaltspunkte, geschweige denn Forschungsarbeiten vor. Auch die Arbeit der christlichen und jüdischen Vertreter in den Prüfungsgremien der Film-, Fernseh- und Videowirtschaft, der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien und der Filmförderungsanstalt blieb bisher völlig unbeachtet von der akademischen Forschung. Wie ist also diese deutliche Ausrichtung auf die Interpretation von Spielfilmen in der bisherigen Forschung zu verstehen, wo sich doch mannigfaltige alternative Perspektiven anbieten würden? Der protestantische Theologe und Filmwissenschaftler S. Brent Plate identifiziert in der Encyclopedia of Religion (2005) mit Blick auf die englischsprachige Literatur zwei Wellen der Analyse von Religion im Film: Die erste reichte von den 1960er bis in die 1980er Jahre und thematisierte vor allem künstlerisch anspruchsvolle Filme (europäische art house movies) aus der Perspektive existentialistischer Theologie.157 Im Anschluss an diese erste Phase fokussiert die zweite Welle laut Plate populäre HollywoodFilme mit dem Anliegen, diese Werke in Bezug auf biblische Exegese und
Plate (2005) und Sitney (1987) in der Encyclopedia of Religion, noch Hasenberg & Luley & Martig (1995) halten den Jesus-Film für erwähnenswert; das Lexikon des internationalen Films widmet ihm mit nur fünf Zeilen eine der kürzesten Rezensionen überhaupt. Vgl. Hasenberg et al. 1993, 130; Sykes & Krisch 1978. 155 | Die intensive Filmarbeit der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland lässt sich vielleicht mit der progressiven (weltoffenen) Theologie, der einzigartigen institutionellen Verankerung und finanziellen Unabhängigkeit erklären. In Ländern ohne ein Kirchensteuersystem ist eine solch umfangreiche karitative, kulturelle und publizistische Arbeit wohl nicht möglich. 156 | Anne Kathrin Quaas (2007) hat die Motive und konfessionelle Prägung in evangelischen Filmzeitschriften bis 1968 analysiert, während Julia Helmke (2005) die evangelische und ökumenische Juryarbeit auf Filmfestivals bis 1988 historisch aufgearbeitet hat. 157 | John R. May (Religion in Film, Knoxville 1982) mit seiner Interpretation der Werke von Pasolini, Dreyer, Bresson, Bergmann gilt nach Ansicht Plates als herausragender Vertreter dieses Ansatzes, der die conditio humana problematisiert. Die Beschränkung auf künstlerisch anspruchsvolle Filme wertet Plate als ernsthaftes Bemühen, das Sujet des Filmes überhaupt innerhalb der Theologie etablieren zu können. Vgl. Plate 2005, 3100.
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Dogmatik zu interpretieren.158 Mögen die Beobachtungen Plates in sich auch stimmig sein, so wird diese Engführung auf die Legitimationsproblematik des Themenfeldes innerhalb der englischsprachigen, protestantischen Theologie der Vielfalt methodischer Ansätze nicht gerecht – denn weder ist Plates Skizze vollständig, noch ist die theologische Reflexion über künstlerisch anspruchsvolle Filme beendet (man denke bspw. an die ausgiebige Diskussion der Werke Lars von Triers, die Pate einfach ignoriert). Noch der vorgängige Artikel in der Encyclopedia of Religion (1987) von P. Adams Sitney umfasste ein ungleich weiteres Spektrum an Zugängen aus der europäischen Filmtheorie.159 Und wenn man schon eine Entwicklung in der Beschäftigung mit Film und Religion auf der Grundlage der besprochenen Filminhalte und Darstellungsweisen umreißen möchte, dann müsste diese mit der Feststellung schließen, dass in den vergangenen zwei Dekaden ein Interesse des Publikums und der Interpreten an Produktionen aus und über Asien (Bollywood, Korea, Tibet) und islamisch geprägten Ländern erwacht sei.160 Orientiert sich eine Strukturierung der Zugänge zum Feld von Film und Religion primär an der grundsätzlichen Frage der religiösen (und theologischen) Rezeption des Phänomens »Film«, so ergeben sich hieraus zunächst zwei zu unterscheidende Ausgangspunkte, die ferner die methodischen Zugänge bestimmen und recht klar – jedoch nicht mit ausschließlicher Geltung – konfessionell zugeordnet werden können. Zu scheiden sind hier zunächst wirkungsästhetische Ansätze meist katholischer Provenienz und parabelorientierte Ansätze vorwiegend aus der evangelischen Theologie, die die sinnstiftende Funktion von Film fokussieren. Ein ritualistisch-anthropologisches Verständnis von Film bildet eine dritte Gruppe von Zugängen zum Phänomen.
Wirkungsästhetik Innerhalb eines Paradigmas der Wirkungsästhetik hatten bereits die frühen Filmtheorien von Louis Delluc, Jean Epstein und Léon Moussinac in den 1920er Jahren die Idee der Photogenie entworfen.161 Der Film schaffe mithilfe der neu158 | Maßgeblich sind für Plate hier die Arbeiten von Joel W. Martin & Conrad E. Oswald: Screening the Sacred: Religion, Myth, and Ideology in popular American Film. Boulder 1995. Vgl. Plate 2005, 3100. 159 | Vgl. Sitney 1987, 498ff. 160 | Plate selbst führt ja zahlreiche Filmbeispiele an. Vgl. Plate 2005, 3097-3099; Harwazinski 1999; Kreuzer 2002b; Krüger 2004b; Mäder 2008; Martig 2002; Schaedler 2002; Valentin 2002. 161 | Das wirkungsästhetische Problem der Filmkunst hatte bereits Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduktion (1936) aufgegriffen und gelangte zu dem Schluss, dass Kunstwerke in der Industriegesellschaft ihre Aura verloren haben, da ihnen Einmaligkeit und Echtheit fehlten. Dem Drang der Massen nach
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en Darstellungstechniken eine eigene Realität, die die bisherige Wirklichkeitserfahrung des Menschen transformiere: Der Film war nicht an eine narrative Linearität gebunden, Zeitsprünge, Retrospektiven, Raffer und Verlangsamungen verzerrten die reale Zeiterfahrung, während der optische Zoom die Möglichkeiten der visuellen Realitätswahrnehmung verschieben konnte. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte in diesem Zusammenhang das Staunen über die Darstellung des Wunderbaren mithilfe filmischer Illusionen. Film wurde damit generell in den Bereich religiöser Wirklichkeitsinterpretationen gerückt – Begriffe wie Wunder (miracle), Offenbarung und Magie sollten der Außeralltäglichkeit der Filmerfahrung einen besonderen Ausdruck verleihen.162 In diesem Sinne formulierte schon 1907 der futuristische und katholische Philosoph Giovanni Papini (1881-1956) seine Philosophie des Kinos: It is a spiritualized world reduced to the minimum, made of the most etheral and angelic matter, without depth or solidity, rapid, fantastic, and as unreal as a dream … Looking at these ephemeral luminous images we feel like gods ourselves, contemplating our creation, in our image and likeness. Involuntarily we are forced to think that Someone is looking at us as we are looking upon the cinematographic figures, and that beyond us – concrete, real and eternal as we think we are – we are merely colored images that rush quickly to death to give pleasure to his eyes. 163
Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollte sich jedoch eine systematische Theorie und Theologie des Films herausbilden, die auf katholischer Seite zunächst stark von dem französischen Jesuiten Amédée Ayfre geprägt wurde. In seiner einflussreichen Monografie Dieu au cinéma (1953) plädiert er dafür, das Phänomen des »religiösen Films« nicht theologisch, soziologisch oder psychologisch zu behandeln, sondern aus der Sicht der Ästhetik alle Ebenen eines würden Kunstwerke nun zu beliebig reproduzierten Ausstellungsstücken »verkümmern« und verlören dadurch ihren letztlich religiösen Kultwert. Das Problem des wirkungsästhetischen Ansatzes zeigt sich mit Benjamin deutlich, denn er verkennt die in der Religionsgeschichte seit der Antike mannigfach anzutreffende, massenhafte Reproduktion von Kultobjekten, denen auch im privaten Hauskult eine spezifische Wirkmächtigkeit zugesprochen wurde (was einem rezeptionsästhetischen Ansatz nicht entgeht). Vgl. Benjamin 2003, 13f., 61f.; Staubli 2003; Krüger & Nijhavan & Stavrianopoulou 2005, 22-24. 162 | Rachel Moore in Savage Theory (2000) geht sogar so weit, zu behaupten, dass die frühen Filmemacher und Theoretiker (Walter Benjamin, der religionskritische Sergej Eisenstein und der Filmkritiker Siegfried Kracauer) den Film als Wiederverzauberung der Welt betrachtet hätten. Vgl. Plate 2005, 3101; Hasenberg 1995, 15f. 163 | Giovanni Papini: »La filosofia del cinematografo.« In: La stampa, Turin 18.05.1907, zitiert nach Sitney 1987, 498.
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Filmes zu reflektieren. Damit sei es auch möglich, Filme als religiös relevant zu besprechen, die kein explizit religiöses Sujet thematisieren, wenngleich Ayfre voraussetzt, dass die entsprechenden Filme von hohem künstlerischen Anspruch sein müssten: »… [L]a qualité religieuse d’une œuvre dépend beaucoup moins de son contenu au sens strict, de son fond, de sa matière, que de sa forme, ou plutôt de ses ›formes‹. Il existe un lien extrêmement étroit entre les valeurs esthétiques et les valeurs religieuses.«164 Durch die ästhetische Erfahrung einer anderen Wirklichkeit sei das Kino für den modernen Menschen ein Mysterium, eine Erfahrung des Ewigen und »Heiligen« (le sacré), der Transzendenz.165 Mithilfe der Filmanalyse könne man nun diese Spuren des »Heiligen« in herausragenden Filmwerken sichtbar machen, die den Kampf zwischen Gut und Böse in der Spannung von Tod und Leben als mythische Themen inszenieren.166 Einflussreich war auch die These des amerikanischen Regisseurs und Drehbuchautoren Paul Schrader (*1946), der nach der Analyse ausgewählter Filme von Robert Bresson (Procès de Jeann d’Arc, 1962 u.a.), Carl Dreyer (La passion de Jeanne d’Arc, 1928 u.a.) und Yasujiro Ozu (Tokyo Story, 1953 u.a.) zu der Schlussfolgerung gelangt, das es kultur- und zeitübergreifend einen transcendental style im Film gebe, der das Erhabene – also die existentiellen Erfahrungen von Geburt, Tod und Sexualität in einer spezifischen Bildsprache darstelle. Programmatisch führt Schrader mit einem Zitat Gerardus van der Leeuws in sein Unterfangen ein: »Religion and art are parallel lines which intersect only at infinity, and meet in God.«167 Nicht die speziellen kulturellen, sozialen, politischen, ökonomischen, moralischen oder biografischen Bedingungen hätten demnach die drei Regisseure zur Herausbildung eines transcendental style veranlasst, sondern das Bemühen, die Transzendenz im Film auszudrücken. Ungeachtet der Produktionsbedingungen und Rezeptionsprozesse ließen sich laut Schrader in der rein immanenten Analyse eines Filmes bestimmte Mittel identifizieren (besondere Einstellungen, Kamerabewegungen, Schnitttechniken), die diesem transcendental style zu eigen wären.168 Die rein ästhetische Erfahrung des transcendental style im Film setzt Schrader damit in Analogie zur Bilderfahrung in orthodoxen Ikonen, Zen-Gärten, gotischer Architektur usw. als Mittel zur kontemplativen Praxis, die damit letztlich einer religiösen Erfahrung entspreche:
164 | Ayfre 1953, 30. Vgl. a.a.O., 12-15. 165 | Vgl. Ayfre 1953, 30-32 166 | Filme mit exponierten, gewalttätigen und sexuellen Handlungen, wie Brigitte Bardots Et Dieu … créa la femme (Roger Vadim, 1956), betrachtet Ayfre dagegen als Symptome des Verfalls des »Heiligen« (dégradation du sacré), vgl. Ayfre 1969, 28-31. 167 | Gerardus van der Leeuw, zitiert nach Schrader 1972, II. 168 | Vgl. Schrader 1972, 3-7.
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»Transcendental style can bring us nearer to that silence, that invisible image, in which the parallel lines of religion and art meet and interpenetrate.«169 Die Ideen Schraders, der sich ausdrücklich und mehrfach auf die Arbeiten von Amédée Ayfre bezieht,170 wurden gerade in jüngster Zeit vielfach rezipiert. Allerdings gilt es, in diesem Zusammenhang einen entscheidenden und fundamentalen Unterschied zu beachten: Während Ayfre und Schrader ihre Analysen und Aussagen auf eine Auswahl von Filmen bezogen, die bestimmten Kriterien genügten – für Ayfre waren dies künstlerisch anspruchsvolle Filme aller Genres, für Schrader Filme einer besonderen Ästhetik – so wird das ästhetische Moment in der jüngeren Literatur dazu verwendet, in beliebigen Filmen und damit im Film generell religiöse Qualitäten zu identifizieren. Ohne explizit an Ayfre anzuknüpfen, setzt die italienische Filmwissenschaftlerin Ermelinda Campani diese religionsästhetischen Überlegungen in Le sacré au cinéma (2003) fort und betrachtet den gesamten Diskurs über Film und Religion im Rahmen der (neo-)platonischen und christlichen Bilderlehre, in der das Kino als Nachvollzug der göttlichen (Bild-)Schöpfung des Menschen erscheine: »Simulacre platonique, catégorie syntagmatique du langage filmique, l’image est aussi, en tant que représentation, celle qui décrit avant tout la genèse de la création humaine, de l’homme créé justement à l’image et à la ressemblance de Dieu.«171 Die Filmkunst sei in diesem Sinne als eine Weiterführung der Ikonenverehrung in der Postmoderne zu verstehen, der Film selbst habe eine eigene Wirkung: »Comme le cinéma, l’icône est une narration hautement symbolique, elle a son aura, qui garde et transmet la présence de la vrai nature de ce qu’elle représente.«172 Im Anschluss an Schrader versteht auch die katholische Theologin Stefanie Knauß ihr Plädoyer für eine ästhetische Theologie in ihrer Dissertation Transcendental Bodies. Überlegungen zur Bedeutung des Körpers für filmische und religiöse Erfahrung. Der Film an sich eröffne dem Menschen bereits die Erfahrung einer nicht fassbaren Wirklichkeit, die in der Transzendenz des Bildes verankert sei – das Bild werde im Film erst durch (göttliches) Licht (der Welt) sichtbar. Im Akt der Betrachtung der Kunstwerke entfalte der Film nun seine Wirkung auf die Zuschauer, als Erfahrung von Ganzheit, Totalität und Überschreitung der Wirklichkeit. Die Wirkung sei gemäß Knauß eine gefühlsmäßige, die aus der Spannung von Verbergen und Entbergen entstehe, aus dem Schon- und NochNicht-Sein, was der Natur einer göttlichen Offenbarung entspreche. Das Filmkunstwerk führe den Menschen damit über das Geschaffene hinaus hin zu den 169 | Schrader 1972, 169. Vgl. a.a.O., 152f.; auch: Zwick 2006, 285ff.; Knauß 2008, 31. 170 | Vgl. Schrader 1972, 11, 39, 42f., 59, 63, 85, 92, 111f., 128, 162. 171 | Campani 2007, 172. 172 | Campani 2007, 178.
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existentiellen Fragen nach dem Woher kommen wir und dem Wohin gehen wir? Filmkunst wird von Knauß als nicht-sprachlich aufgefasst und könne daher Erfahrungen und Wahrheiten vermitteln, die anders nicht vermittelbar wären – sie seien in einer autonomen Ästhetik enthalten, unabhängig von den Gehalten: »Das Gefühl, in einer gelingenden ästhetischen Erfahrung beschenkt zu werden, entspricht dem religiösen Gefühl des Beschenkt-Werdens durch Gottes unverfügbare Nähe.«173 Trotz des Problems, Kunstwerken eine religiös-ästhetische Wirkung zuzuschreiben, plädiert die Autorin für die Offenheit der Theologie, auch in »säkularen« Erlebnisangeboten religiöse Elemente anzuerkennen und damit der Kunst einen eigenständigen Platz in der Vermittlung von Transzendenz zuzugestehen.174 Diesem Ansatz folgend analysiert Knauß fünf gänzlich unterschiedliche Filme (bzw. einzelne Szenen), allerdings ohne ihrer programmatischen Ankündigung zu folgen, der körperlichen »Erregung des alle Sinne involvierenden Kinoerlebnisses« in irgendeiner Weise methodisch gerecht zu werden.175 Die Autorin beschränkt sich auf intellektuelle Kommentare und Ausdeutungen der körperlichen Handlungen im Film (Kampf, Sexualität etc.) anhand von eigenen Vermutungen und Filmkritiken. Eigentliche körperliche Reaktionen der Autorin oder gar diejenigen eines zu befragenden Filmpublikums – man könnte ja durchaus nach Tränen, trockenem Mund, Bauchschmerzen, Kribbeln unter der Haut usw. fragen – finden hier keine Berücksichtigung. Trotz des methodisch dünnen Eises, auf dem die Autorin wandelt, formuliert sie mit voller Überzeugung die Schlussfolgerung ihrer wirkungsorientierten Filmanalysen: »Die Mystik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in der die Überschreitung der konkreten Gegenwart in der unio mystica gerade körperlich erfahren wurde, ist damit der filmischen Erfahrung zumindest strukturell (im Überschreiten des Hier und Jetzt …) vergleichbar.«176 Peter Hasenberg bleibt in dem 1992 vom Katholischen Institut für Medieninformation edierten Lexikon Religion im Film zurückhaltender. Zwar wird eingangs auf ein von Rudolf Otto geprägtes, wirkungsorientiertes, »religionswissenschaftliches« Religionsverständnis als »Erfahrung und Beziehung des Menschen zu einer ganz anderen Macht, zum Numinosen,« verwiesen,177 je-
173 | Vgl. Knauß 2008, 27. 174 | Vgl. Knauß 2008, 31-33, 53f. 175 | Die Filme Erbsen auf halb 6, Strange Days, Apocalypse Now, Basic Instinct I und 9 Songs wurden betrachtet. Vgl. Knauß 2008, 170. Auch die Frage nach dem »Kinoerlebnis« stellt sich methodisch, da die Autorin (*1976) einige der Filme wahrscheinlich nicht aus eigener Kinoerfahrung kennengelernt hat. Der empirische Zugang zum »Filmerlebnis« wird jedenfalls nicht expliziert. 176 | Knauß 2008, 228. Vgl. auch a.a.O., 158-161. 177 | Vgl. Hasenberg et al. 1993, 10f.
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doch ist er sich dem methodischen Dilemma einer religiösen/theologischen Filminterpretation sehr bewusst: Schwierig ist die Entscheidung in jenen Fällen, wo der Film »einfache« Geschichten unter Verzicht auf Verwendung eindeutiger religiöser Artefakte – Symbole, Riten, Theologie, Frömmigkeitsstile etc. – Religion thematisiert. Wieweit ist eine religiöse Lesart legitim, ab wann wird überinterpretiert oder gar religiös vereinnahmt? … Wenn alle Kultursachbereiche – von der Wirtschaft über die Technik bis hin zur Kunst – integralistisch religiös bestimmt sind, dann ist Religion, abgesehen von ihren Fundamenten – Stiftern und/oder heiligen Büchern – kaum noch operationalisierbar. 178
Das Lexikon befasst sich dementsprechend in überwiegendem Maße tatsächlich nur mit den Filmen, für die anhand zuverlässiger Kriterien festgestellt werden kann, dass sie Religionen thematisieren. Im Bewusstsein dieser Problematik will die Religionswissenschaftlerin Marie-Thérèse Mäder gerade den rezeptionsästhetischen Ansatz gegen das »Aufdrängen religiöser Interpretationen« ins Feld führen, denen sie vorwirft, dass nicht der Film und seine spezifische Ästhetik im Zentrum der theologischen Analysen ständen, sondern subjektiv gefärbte Interpretationen.179 Grundsätzlich teilt Mäder die Auffassung, dass Film und Religion als sich überschneidende kulturelle Bereiche angesehen werden müssten und beiderseits existentielle Fragen nach der menschlichen Wirklichkeit, dem Sinn des Lebens, der Erschaffung von Gegenwelten und Weltbildern mit spezifischen Wertesystemen thematisieren. Es gelte nun, in einem kulturwissenschaftlichen Ansatz das »Interpretationsfeld« einer bestimmten religiösen Tradition (außer bei expliziten Verweisen) zu vermeiden und mithilfe einer aus dem vorgegebenen kulturellen Referenzrahmen gewonnenen »Interpretationsmaske« die impliziten Verweise des Films auf religiöse Symbolsysteme zu entschlüsseln.180 Mäder versteht ihren Ansatz zwar als rezeptionsästhetische Methode, betont jedoch, dass sich die Analyse der Rezeption anhand von individuell geprägten Filmkritiken als schwierig erweise. Dagegen erlaube es die Beschränkung auf die immanente Ästhetik, auch Filme, die »nicht auf den ersten Blick« als religiös verstanden werden, zu erfassen. Nur die Filmanalyse könne dem Zuschauer die Funktion und Wirkung der verschiedenen Parameter eines Filmes (Kamera, Licht, Musik, Dialoge und Montage) zu Bewusstsein bringen, denn nicht jeder Rezipient könne die Bezüge einer impliziten Religion verstehen und deuten: »Jedoch müssen die Zuschauer über ein bestimmtes kulturelles Vorwissen verfügen, um die Ver-
178 | Hasenberg et al. 1993, 12. 179 | Vgl. Mäder 2009, 270-273; Warnecke & Locatelli 2001; Laube 2002. 180 | Vgl. Mäder 2009, 259, 274-278.
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weise entsprechend einzuordnen und zu verstehen. Implizite religiöse Verweise erhalten erst durch die Zuschauer eine explizite Bedeutung.«181 Es ist nach diesen Ausführungen offensichtlich, dass auch hier ein wirkungsästhetischer Ansatz vertreten wird, auch wenn die Autorin für sich in Anspruch nimmt, mit der rein immanenten, ästhetischen Filmanalyse eine übergeordnete Deutungshoheit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu realisieren. Schon die Annahme, dass auch Filme ohne explizite Bezüge auf Religionen implizit doch wieder einen religiösen Gehalt hätten – und das unabhängig von ihrer faktischen Rezeption durch Zuschauer, ist selbst Produkt von kulturspezifischen, theologischen Deutungen des Verhältnisses von Religion und Film. Dieses Vorgehen mündet in einer epistemologischen Tautologie, wenn bspw. mithilfe der durch die kulturellen und theologischen Deutungsmuster geformten »Interpretationsmaske« bestimmte Aspekte eines Films als existentiell (und damit religiös) bedeutsam interpretiert werden.182 Nicht unerwähnt dürfen in diesem Zusammenhang auch die Versuche bleiben, eine allgemeine Äquivalenz einer kirchlichen Eucharistiefeier und des Filmerlebens über die Analogie zwischen Kirchenbau und Filmtheater zu konstruieren. So versteht der bekannte Kunsthistoriker Erwin Panofsky das Filmkunstwerk als Kathedrale der Gegenwart, als Ergebnis des koordinierten Zusammenwirkens der Schauspieler, Autoren, Kameramänner, Cutter, Toningenieure und Regisseure.183 Programmatisch verweist das ökumenische Netzwerk kirchlicher Filmarbeit, INTERFILM, im Vergleich des Doms zu Speyer (1061) und des Berliner Lichtspielhauses Universum (1929/30) auf die architektonische Analogie zwischen kirchlichem Sakralbau und Kino.184
181 | Mäder 2009, 279. Vgl. Mäder 2009, 278-282. 182 | Ähnlich wie Mäder plädiert auch die Religionswissenschaftlerin und Theologin Daria Pezzoli Olgiati für eine rein immanente Analyse der Filmästhetik, die die Produktionsbedingungen und Rezeptionsprozesse ausblendet. Wesentlich für diese methodische Entscheidung ist die nicht weiter ausgeführte Annahme, Film und Religion als »grundsätzlich unabhängige Kommunikationssysteme« aufzufassen, die miteinander interagieren. Überzeugend wendet sie die Methode der rein immanenten Analyse bei einem Film mit zahlreichen, explizit religiösen Bezügen und Motiven an (No te mueras sin decirme adónde vas – Stirb nicht, ohne mir zu sagen, wohin du gehst, Eliseo Subiela, Argentinien 1995). Vgl. Pezzoli-Olgiati 2008a, 54-66. 183 | Vgl. Hasenberg 1995, 9f. 184 | Vgl. www.gep.de/interfilm/deutsch/index_interfilm.htm (01.09.2009); auch Rosenfelder 2004.
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Der Film als Parabel und Sinnstiftung Richtungweisend für die evangelische Filmarbeit hat der Filmwissenschaftler und Theologe Gerd Albrecht185 das Verhältnis von Film und Kirche mit seiner Arbeit Film und Verkündigung. Probleme des religiösen Films (1962) geprägt. Das Bilderverbot des Alten Testamentes sei mit der Menschwerdung Gottes aufgehoben, daher müssten die Erzeugnisse der bildenden Kunst als fortwährend aktualisierte Anschaulichkeit des verbum dei verstanden werden. Die Bild- und Sinnhaftigkeit des Filmes könne daher nicht in Opposition zum Wort Gottes interpretiert werden, sondern gehöre zu den Formen, in denen dieses Wort an den Menschen gehen könne. Die theologische Filminterpretation und Filmexegese habe sich genau dieser Herausforderung zu stellen, dem einzelnen Christen die Parabelhaftigkeit der filmischen Darstellungen zu vermitteln – dem Zuschauer müsse das tua res agitur186 bewusst werden. Film wird von Albrecht zwar als wichtiger Sozialisationsfaktor bewertet, da er die Chance von Selbstund Lebenserfahrung auf der Basis einer »ungefährlichen Parabelhandlung« biete, jedoch sei die Wirkung eines Filmes stärker von den Bedingungen der Rezeption abhängig als von den eigentlichen Inhalten oder der »Intention« eines Filmes. Nur wenn aufgrund von individuell ganz unterschiedlichen Primärerfahrungen die Bereitschaft bestehe, das Handeln im Film als Anreicherung oder Diskussion des christlichen Glaubens anzunehmen, könne Film auch Glaubenshilfe sein. In dieser Brückenfunktion sieht er die Aufgabe kirchlicher Filmarbeit angesiedelt.187 In diesem Sinne appelliert der Theologe und langjährige Vorsitzende der Jury der Evangelischen Filmarbeit, Werner Schneider, eindringlich an den Einbezug des Kinos in die Theologie der Moderne – er beschwört geradezu die Chancen des Mediums Film gegenüber der herkömmlichen Vermittlung der christlichen Botschaft: Filme erzählen genauer und vielschichtiger ihre Gleichnisse über den Menschen in der modernen Gesellschaft, als es alle kirchlichen und religiösen Deutungsversuche je vermögen. Bilder von Glück und Unglück, vom Begehren und von der Gewalt, von Sexualität und Aggressivität werden zum Faszinosum für die Zuschauenden, die sich unter versteckten Tränen oder im lauten Lachen auf der Leinwand wiederentdecken. Wenn Kirche
185 | Gerd Albrecht (1933-2008) leitete von 1970 bis 1980 das Institut für Medienforschung an der Universität Köln, danach bis zu seiner Pensionierung 1996 das Deutsche Institut für Filmkunde (Frankfurt) und galt als einer der führenden deutschen Filmwissenschaftler. Er war lang jähriger Filmbeauftragter der EKD. 186 | »Deine Sache wird verhandelt.« Zitat des röm. Dichters Horaz, das theologisch in Verbindung mit II Sam 12,7 und Lk 10,36 gebracht wird. 187 | Vgl. hierzu Albrecht 1983, 175ff.; Albrecht 1962.
R ELIGION UND NEUE M EDIEN etwas über die Sehnsüchte und die Träume, die Ängste und die Freiheit des modernen Menschen erfahren will, muß sie ins Kino gehen.188
Für Schneider sind die akademisch-theologischen Debatten inzwischen zu ausdifferenziert und zu komplex, als dass sie dem Einzelnen Orientierung bieten könnten. Der Film artikuliere gerade die Aufgabe von Selbstverständlichkeiten und Selbstgewissheiten des Menschen in der modernen Welt und problematisiere das verantwortungsvolle Leben des Christen in der ihm von Gott gegebenen Freiheit.189 Die weitaus häufiger und in jüngerer Zeit stärker vertretene These innerhalb protestantischer Filmtheologien betont allerdings nicht so sehr den Verunsicherungsfaktor des Filmes, der existentielle Fragen erst aufwirft, sondern das Sinnstiftungspotenzial. Der evangelische Theologe und Leiter der evangelischen Akademie der nordelbischen Kirche, Jörg Herrmann, hat mit seiner Dissertation Sinnmaschine Kino (2001) und seiner Habilitationsschrift Medienerfahrung und Religion (2007) die aktuelle Debatte entscheidend geprägt. Den gesamten Prozess des »Dialogs« zwischen Theologie und Film versteht er zunächst einmal als kulturhermeneutische Sinndeutung, die zwischen der Gegenwartskultur (des Films), der religiösen Tradition und dem einzelnen Menschen vermittelt.190 Zwar anerkennt Herrmann die Bedeutung der umfangreichen evangelischen Filmarbeit, bemängelt jedoch die Marginalisierung des populären Films in der theologischen Reflexion zugunsten von künstlerisch anspruchsvollen Filmen. Zentral für die theologische Arbeit dürften aber nicht intellektuelle Genrepräferenzen sein, sondern die in allen Arten von Filmen vorhandenen Deutungsperspektiven im Hinblick auf existentielle Fragen, wie also im Film Sinn produziert wird. Über die zwei filmischen Bedeutungsträger, das Bild und die Sprache, müssten die impliziten, nicht offensichtlichen Bezüge zur Religion erschlossen werden.191 Herrmann ist sich der methodischen Problematik seiner auf den Sinnstiftungsprozess fokussierten Filmanalysen voll bewusst,192 was ihn jedoch nicht davon abhält, nach der Analyse von sieben populären und kommerziell äußerst erfolgreichen Filmen193 die markante These von der »Sinnmaschine« Kino zu 188 | Schneider 1996, 59f. 189 | Vgl. Schneider 1996, 60f. 190 | Vgl. Herrmann 2001, 37ff. 191 | Vgl. Herrmann 2001, 103-106. 192 | »Erkenntnisse oder Vermutungen, wie populäre Filme und die ihnen inhärenten Sinnstrukturen mehrheitlich tatsächlich rezipiert werden, können auf diesem Wege nicht gewonnen werden.« Herrmann 2001, 105. 193 | Die Filme Pulp Fiction, Pretty Woman, Jurassic Parc, Forrest Gump, Der König der Löwen, Independence Day und Titanic wurden betrachtet. Auch für Wilhelm Gräb ist der
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formulieren: »Das populäre Kino entwirft einen geschlossenen Sinnkosmos, in dem Selbstreferentialität, Ambivalenzen, Irritationen und offene Fragen auf der formalen und inhaltlichen Ebene vermieden werden.«194 In seiner zweiten Studie Medienerfahrung und Religion (2007) versucht Herrmann, in einem anspruchsvollen methodischen Rahmen die Frage nach der »Medienreligion« empirisch zu erörtern. Er stützt sich dabei auf 20 qualitative Interviews, die Religions- und Medienbiografien berücksichtigten.195 Herrmann gelangt auf der Grundlage seiner erhobenen Daten zur Einsicht, dass Medien (Literatur, Film, Fernsehen) eine wichtige Rolle für die Sinndeutungsfunktionen in der modernen Gesellschaft spielen, dass die »Medienreligion« jedoch meist ohne religiöse Semantik und ohne Transzendenzbezüge auskomme: »Die Diesseitsreligion der Medien ist weithin eine Religion ohne Gott, ohne religiöse Semantik. Sie ist in der Regel eine Religion, die sich selbst nicht als religiös versteht.«196 Dieser Befund führt jedoch nicht dazu, dass Herrmann sein empirisch nicht haltbares Konzept der »Medienreligion« überdenkt, sondern dazu, dass er nun Dimensionen einer »impliziten Religiösität« konstruiert, die sich im bedeutsamen Erleben des Kinobesuches, in der Sinnbildungsfunktion von Literatur und in der rituellen Fernseh- und Videopraxis ausdefinieren lasse – »implizite Religiösität« beschreibt also Erlebnisse und Praktiken, die die Interviewpartner selbst nicht als religiös bezeichnet hatten und in denen sie auch keine Bezüge zu einer religiösen Semantik hergestellt hatten.197 Auf ähnliche Weise führen auch Peter Hasenbergs Überlegungen letztlich in eine epistemologische Tautologie, wenn er betont, dass die religiöse Relevanz eines Filmes Film Titanic das herausragende Beispiel für cineastische Konstruktion von Sinn. Vgl. Gräb 2002, 202-205. 194 | Herrmann 2001, 231. Grundlage für diese These ist die Identifizierung von drei dominierenden Tendenzen im populären Gegenwartskino: die Liebe, die Natur und das Erhabene. Vgl. a.a.O., 212-230; auch Herrmann 2005, 68-71. 195 | Die Validität der Interviews ist jedoch höchst fragwürdig, da Herrmann acht der 20 Interviewpartner aus seinem eigenen Bekannten- und Freundeskreis rekrutiert, 12 weitere aus einem nicht näher beschriebenen »Forschungsprojekt zur Medienreligion« am Berliner Seminar für Praktische Theologie. Vgl. Herrmann 2007, 166f. 196 | Herrmann 2007, 304. Herrmann hatte hier auch nicht nach explizit religiösen Medien(inhalten) gefragt, sondern den Interviewpartnern Raum für die Reflexion über die von ihnen als bedeutsam empfundenen Medienerlebnissen gegeben. Vgl. Herrmann 2007, 160-164. 197 | Vgl. Herrmann 2007, 315-318. Ähnlich argumentiert auch Bettina BrinkmannSchaeffer in Kino statt Kirche (2000), indem sie der »Sinnstiftungskapazität alltäglicher Phänomene bzw. Kultursegmente« außerhalb der institutionalisierten Kirchen nachspürt. Vgl. Brinkmann-Schaeffer 2000, 27; Pezzoli-Olgiati 2008a, 50f.
R ELIGION UND NEUE M EDIEN … nur mit Blick auf den konkreten Rezipienten zu beantworten sei, allerdings könne man auch einen durch seine Religiösität bestimmten Zuschauer annehmen, der aus der Perspektive seines Glaubens Dinge »entdeckt«, die anderen Zuschauern verborgen bleiben. Der religiöse Film ist dann das Ergebnis einer »religiösen« Leseweise, der Verarbeitung durch einen religiös inspirierten Menschen.198
Ein für religiöse Dimensionen sensibilisierter Zuschauer könne so die religiösen Codes des Filmes entschlüsseln. Auf dieser Grundlage resümiert Hasenberg, dass ein religiös relevanter Film eben dadurch gekennzeichnet sei, dass er signalisiere, dass er religiös gelesen werden könne, dass also eine religiöse Deutung am Text legitimierbar sei. Zu betrachten sind laut Hasenberg deshalb sowohl Filme, die religiöse Normen präsentieren, als auch Filme, die die Sehnsucht nach Sinn und Orientierung thematisieren.199 Der Fragestellung Jörg Herrmanns folgend konstatiert die evangelische Theologin Nadine C. Böhm allerdings für das Kino der Jahrtausendwende,200 dass nach den Anschlägen auf das World Trade Center der Rekurs auf das Erhabene offenbar vermieden werde. Auf der Grundlage vor allem von Rudolf Ottos Heiligem entwickelt Böhm eine analytische Kategorie von Sakralisierungen, die sich in der Filmanalyse an Motiven des tremendum et fascinosum ablesen lasse. In Abgrenzung zu Herrmann gelangt sie allerdings zu einem sehr differenzierten Befund, denn eine einheitliche Tendenz der Verarbeitung religiös relevanter Aspekte lasse sich nicht mehr feststellen: »Sakralisierungen in der Form visueller Überwältigungsstrukturen machen nun Platz für moralisch codierte Mikrostrukturen im Kontext der Absenz klarer Demarkationslinien von Kategorien wie ›richtig‹ und ›falsch‹, ›gut‹ und ›böse‹.«201 Geradezu begeistert über die neuen Perspektiven der christlichen Homiletik in der Bildsprache des Kinos als »neuer Sprache« unserer Zeit fragt die evangelische Theologin Inge Kirsner: »Was erwartet man, wenn man zum Gottesdienstbesuch die Kirche, zum Filmsehen das Kino betritt?«202 Laut Kirsner erwarten die Besucher gleichermaßen hier wie dort »Heil, Segen und Glück«.203 Auch die Gründer des amerikanischen Journals of Religion and Film (1997ff.), William Blizek und Ronald Burke, beide Professoren für Philosophie und Re198 | Hasenberg 1995, 13. 199 | Vgl. Hasenberg 1995, 13-15. 200 | Böhm analysierte die Matrix-Trilogie (Andy & Larry Wachowski, 1999-2003), Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (Alfonso Cuarón, 2004), Stigmata (Rupert Wainwright, 1999), William Shakespeare’s Romeo + Juliet (Baz Luhrmann, 1996). Vgl. Böhm 2009, 127-272. 201 | Böhm 2009, 289. 202 | Vgl. Kirsner 1996, 32. 203 | Vgl. Kirsner 1996, 30-37.
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ligion an der University of Nebraska, erschließen das weite Forschungsfeld für die Theologie und Religionswissenschaft durch die Annahme, dass Filme direkt oder indirekt eine religiöse Funktion erfüllen, indem sie Sinn stiften und Werte vermitteln.204 Eine eher metaphorische »Spurensuche Gottes« unternehmen die Soziologen Albert J. Bergesen und Andrew M. Greeley, mit dem aus ihrer Sicht provokanten Ergebnis, dass sich »Gott« entgegen dem weit verbreiteten Säkularisierungsparadigma auch in rezenten Unterhaltungsfilmen finden lasse.205 Die empirische Problematik der Sinnstiftungsthese, dass also, zugespitzt mit Herrmann formuliert, das Kino als solches einen »geschlossenen Sinnkosmos« entwerfe, zeigt sich allein schon an der gegenteiligen (und ebenfalls theologischen) Feststellung Werner Schneiders, dass das Kino gerade durch sein Verunsicherungspotenzial religiös relevant sei.
Film als Mythos und Ritual Eine dritte Gruppe von Ansätzen, die sich eher im Rahmen von Anthropologie und Kulturwissenschaft ansiedeln, greift verschiedene Elemente der theologischen Filmtheorien auf, setzt diese jedoch in ein anderes theoretisches Bezugsfeld. Mit Bezug auf die Ritual- und Mythostheorien von Clifford Geertz, Mircea Eliade, Wendy Doniger und Jonathan Z. Smith entwickelt der protestantische Theologe und Religionswissenschaftler John Lyden in Film as Religion: Myths, morals and rituals (2003) eine anthropologische Zugangsweise zum Phänomen, die Film als einen Werte vermittelnden Mythos in Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen versteht.206 Das Kinoerlebnis selbst, das den Zuschauer in eine andere Realität entführt, kann laut Lyden daher als Ritual und religiöses Erleben aufgefasst werden.207 S. Brent Plate argumentiert auf dieser Grundlage, dass Filme auch Gottheiten und Mythen erschaffen könnten, ohne eine etablierte Religion widerzuspiegeln. Daher seien nicht nur Filme mit explizitem Bezug zur Religion für die religionswissenschaftliche Forschung relevant, zumal auch für Plate der Kino204 | Vgl. www.unomaha.edu/jrf/purpose.htm (01.09.2009). 205 | Vgl. Bergesen & Greeley 2003, 177. Trotz des soziologischen Hintergrundes der Autoren muss dies als ein weiterer theologischer Ansatz betrachtet werden: »Some will think that it is blasphemous to seek God in the Movies. God is beyond human utterance. To see humans as representatives of God is idolatry. We do not agree. Since we are humans, we are forced to imagine God in human terms, as imperfect as we know these terms to be.« A. a. O., 2. 206 | Vgl. Lyden 2003, 41-48, 62-78. 207 | Da der Filmbesuch Religion sei und Religion im Film selbst präsent sei, müsse dieses Verhältnis laut Lyden als interreligiöser Dialog aufgefasst werden. Vgl. Lyden 2003, 126-136; auch: Knauß 2008, 47f.; Plate 2005, 3100.
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besuch im Einzelfall als Ritual aufgefasst werden könne: wenn bspw. amerikanische Kinobesucher sich für die nächtliche Aufführung der Rocky Horror Picture Show (1975) verkleiden und das Filmschauen als ästhetisches Erlebnis in Interaktion mit anderen Zuschauern zelebrieren.208
Die Theologie des Bildes und des Filmes Es steht nach den bisherigen Ausführungen außer Frage, dass das Verhältnis von »Film« und Religion kein neutrales ist, sondern dass wir es mit einem theologisch höchst aufgeladenen Feld zu tun haben. Das Bemerkenswerte ist doch, dass die neueren der vorgestellten Ansätze nicht Aussagen über die ästhetische oder sinnstiftende Wirkung eines spezifischen Filmes oder über eine begründete Auswahl von Filmen treffen, sondern dass an beispielhaften Analysen (meist nicht mehr als fünf bis zehn Filme) eine Aussage über »den Film« an sich getroffen wird – dies gilt übrigens auch für die erwähnten kulturwissenschaftlichen Filmtheorien. Dass »der Film« hier eine Sonderstellung einnimmt, zeigt sich unmittelbar im Vergleich mit anderen Medien: Falls jemand den Versuch unternehmen würde, auf der Grundlage einer beliebigen und begrenzten Romanauswahl von sagen wir Konsaliks Liebesnächte in der Taiga (1966), Benjamin von Stuckrad Barres Blackbox (2000), Johannes Mario Simmels Die Antwort kennt nur der Wind (1973), Donna Leons Blutige Steine (2005) und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) die These aufzustellen, dass Bücher an sich sinnstiftend und damit mindestens implizit religiös seien und wenn diese These einzig an der subjektiven Deutung des Interpreten festgemacht würde, der inhaltlich oder formal-ästhetisch implizite religiöse Bezüge zu dechiffrieren meint, dann müsste man dieses Unternehmen zweifellos als aberwitzig empfinden.209 Nicht so beim Film. Es wird der Eindruck vermittelt, als ob es innerhalb eines theologisch dominierten Deutungsmusters vor allem in der französisch-, englisch- und deutschsprachigen Literatur einen Konsens gäbe, der dieses Vorgehen legitim und vollkommen plausibel erscheinen lie208 | Vgl. Plate 2005, 3097, 3101. Präziser folgt Margaret Miles in Seeing and Believing: Religion and Values in the Movies (1996) den Mechanismen filmischer Sinnstiftung, wenn sie die Präsentation von Gesellschaft in populären Filmen analysiert. Sie gelangt so zu Aussagen über Wertevermittlung in Bezug auf Gender, Klasse, race und sexueller Orientierung. Die Kulturwissenschaftlerin Melanie J. Wright bezieht in ihren Analysen neben dem Film selbst auch seine Rezeption (in Kritiken) und seine theoretische Kontextualisierung mit ein. Mäder kritisiert allerdings, dass Wright allzu sehr um eine Harmoniserung der verschiedenen Rezeptionen bemüht sei und interessante Spannungen ausblende. Vgl. Miles 1996, 13-20; Wright 2007, 26-28; Mäder 2009, 274-276; Pezzoli-Olgiati 2008a, 48-53. 209 | Analog dem Film würden andere Buchgattungen (Kochbücher, Fotobücher etc.) gleich ausgeblendet sein.
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ße. Vorderhand sollten wir uns die Prozesse selektiver Wahrnehmung in den oben geschilderten, interpretativen Ansätzen vor Augen führen. Dass sich die entsprechende Literatur fast ausschließlich nur mit Spielfilmen befasst und Dokumentarfilme sowie die religiösen Werbefilme meidet, wurde bereits festgestellt.210 Im Rahmen der einzelnen Filminterpretationen spielen die Produzenten, die Drehbuchautoren und die Leistungen der Schauspieler eine untergeordnete Rolle, falls sie überhaupt Erwähnung finden.211 Lediglich die Arbeit des Regisseurs wird in besonderen Einzelfällen vertiefend betrachtet, wenn sich ein bestimmter Stil oder eine inhaltliche Kohärenz des Gesamtwerkes aufzeigen lässt – Ingmar Bergmann, Hans Dreyer, Quentin Tarantino oder Lars von Trier ließen sich als Beispiele anführen. In der Regel jedoch – insbesondere bei Interpretationen von populären Filmen – sind der werkgeschichtliche Kontext (in Bezug auf vorhergehende und nachfolgende Filme eines Regisseurs, Drehbuchautors oder Produzenten), der filmgeschichtliche Kontext (in Bezug auf andere Filmproduktionen dieser Zeit) und die Rezeption (durch Zuschauer oder Rezensenten) eine vernachlässigte Größe. Diese Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass in den besprochenen Interpretationen ganz bewusst der Film selbst ins Zentrum gerückt wird, während seine gesellschaftlichen und kulturellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen in den Hintergrund treten. Bei den Filmanalysen selbst werden ebenfalls bestimmte Selektionen und Fokussierungen vorgenommen: Film beruhe laut Jörg Herrmann in der Hauptsache auf zwei Bedeutungsträgern: dem Bild und der Sprache.212 Wo aber ist die Musik? Nach 30 Jahren Stummfilmzeit, in denen Filme stets mit Klavier, Akkordeon oder Orchester begleitet wurden, hatte sich die musikalische Untermalung von Filmen etabliert und ist praktisch in jedem heutigen Spielfilm präsent. In den oben besprochenen Analysen wird jedoch entweder völlig ignoriert, dass Filmhandlungen musikalisch unterlegt sind,213 oder es wird meist nur in der Peripherie der Ausführungen in ein oder zwei Zeilen (gegenüber seitenlangen Bild- und Handlungsanalysen) erwähnt, dass es offenbar auch Musik 210 | Plates maßgeblicher Artikel in der Encyclopedia of Religion (2005) ist in diesem Zusammenhang bezeichnend: Dass Dokumentarfilme oder missionarische Filme eine Relevanz für die religionswissenschaftliche Forschung haben, wird mit keiner Zeile gewürdigt. Lediglich Hubert Mohr weist konsequent auf die Vielfalt filmischer Dokumente über Religionen hin. Vgl. Mohr 2008, 124f. 211 | Eine Ausnahme unter den jüngeren Studien bilden hier die Analysen von Inge Kirsner (1996, 47-243). 212 | Vgl. Herrmann 2001, 103-106. 213 | Vgl. Pezzoli-Olgiati 2009a, 34-39; Herrmann 2001, 142-153 (Jurassic Parc), 169-191 (König der Löwen, Independence Day); Mäder 2009, 258-269; Knauß 2008, 173-191; Selbst bei der Analyse von Titanic erwähnt Lyden die emotional wirkungsvolle Filmmusik nicht mit einer Silbe, vgl. Lyden 2003, 171-178.
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im Film gab.214 So weit ich sehe, macht sich niemand unter den neueren Filmanalysten im Bereich von Religion und populärem Film die Mühe, die musikalische Dimension eines Filmes systematisch und sequentiell aufzuschlüsseln, oder gar Titel, Interpreten, Komponisten, eventuelle Liedtexte und deren sekundäre Rezeption und Vermarktung analytisch zu erfassen, »geschweige denn« – im wahrsten Sinne des Wortes – die jeweilige Relation von szenischer Handlung und Musik zu erschließen.215 Auch in den entsprechenden systematischen Einführungen und Diskussionen bleibt die musikalische Filmebene meist unerwähnt.216 Diese sehr spezifische, fast vollständige Ausklammerung der musikalischen Ebene bei Autoren, die sich mit dem besonderen Feld von Film und Religion befassen, wird um so augenfälliger, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die musikalische Dimension eines Filmes in der Methodik und Praxis der Filmanalyse seit Jahrzehnten mit großer Selbstverständlichkeit berücksichtigt wird: »Es ist mühevoll, aber eben doch möglich und häufig unverzichtbar, wichtige musikalische Motive oder ganze Passagen der Filmmusik zu transkribieren.«217 Die musikalische Ebene zu vernachlässigen, wäre ebenso fatal, wie die sprachliche Ebene zu ignorieren und diese Feststellung gilt übergreifend für soziologische, marxistische, psychologische, strukturalistische oder historische Filmanalysen: »Music and sound effects are the film-maker’s most subtle tools – the viewer is seldom aware of the extent to which his feelings are being manipulated by the
214 | Vgl. Kirsner 1996, 48; Pezzoli-Olgiati 2008a, 64; Knauß 2008, 167, 193 (Platoon), etwas ausführlicher zu Apocalypse Now, 195f. und Basic Instinct, 203; Herrmann 2001, 163 (Forest Gump), 193, 201 (Titanic); Böhm 2009, 186 (Romeo + Juliet); Campani (2007, 90-93) allgemein zu Musik Pasolinis Werken. Herrmann gelingt es sogar, in einem durchweg musikgeprägten Film wie Pulp Fiction diese analytische Dimension völlig »auszublenden« (2001, 121). 215 | Ansatzweise und punktuell bezieht die musikalische Ebene in die Filmanalyse ein, vgl. Kirsner 1996, 48, 76f. (Blast of Silence), 235 (Solaris). 216 | Vgl. Sitney 1987; Plate 2005; Kirsner 1996, 39-47; Herrmann 2001, 94-107; Pezzoli-Olgiati 2008a, 45-54; Mäder 2008a, 269-282; Campani 2007, 171-183. Ayfre diskutiert bspw. eingehend alle filmischen Mittel, um das Religiöse und Wunderbare im Film darzustellen (Kostüme, Kulisse, Gesichter), die Filmmusik bleibt jedoch unbeachtet (vgl. Ayfre 1969, 33-56). Nur Hasenberg verweist ausdrücklich auf die wichtige Rolle der Filmmusik, sowohl von explizit religiöser Musik (wie das Präludium der Bach Kantate »Ich ruf‹ zu Dir, Herr Jesu Christ« in Tarkowskis Solaris) oder die Generierung spezifischer Klangwelten für die Überhöhung religiös bedeutsamer Szenen. Vgl. Hasenberg 1995, 15f. 217 | Faulstich 2008, 141. Zur Analytik und weiterführenden Spezialliteratur vgl. a.a.O., 140-145.
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soundtrack.«218 Die Marginalisierung der musikalischen Filmebene ist gleichermaßen charakteristisch für die wirkungsästhetischen Ansätze wie auch für die eher inhaltsorientierten Parabelinterpretationen von Filmen. Sofern wir nicht davon ausgehen wollen, dass diese Selektionen nun im Vergleich zur gängigen filmanalytischen Praxis dem Zufall oder gar der Scheu vor den Mühen einer weiteren analytischen Ebene zu verdanken seien, so muss die Ursache in den spezifischen Bedingungen der Auseinandersetzung zwischen christlicher Theologie und Film zu finden sein. Zunächst muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass trotz der vielfachen und wohlwollenden Ansätze, die unter Berücksichtigung des Rahmens der vorliegenden Arbeit präsentiert wurden, das Verhältnis zwischen Theologie und Film grundsätzlich problematisch ist. Film war zuerst eine reine Jahrmarktsattraktion, war Unterhaltung und Vergnügen, war Amüsement und Zeitvertreib und war aus Sicht der reformierten Theologie damit auch Zeitvergeudung. Gerade vor dem amerikanischen Hintergrund muss stets berücksichtigt werden, dass der arbeitsfreie Sonntag keineswegs den Vergnügungen, sondern der religiösen Unterweisung und Andacht vorbehalten war und dass bis Mitte des 20. Jahrhunderts in vielen USBundesstaaten scharfe politische Auseinandersetzungen um die sogenannten blue laws geführt wurden, die den Betrieb von Glücksspielen, Tanzveranstaltungen, Kinos und den Ausschank von Alkohol an Sonn- und Feiertagen regeln.219 Ferner muss auch berücksichtigt werden, dass den wenigen religiösen Filmsujets eine Masse von publikumswirksamen Produktionen gegenüberstanden, die ihre Anziehungskraft der Darbietung von Gewalt und Erotik zu verdanken haben. Religiös »erbauliche« Filmwerke bilden nur eine Facette im umfangreichen Filmangebot, das seit den Kindertagen des Filmes eben auch eine Vielzahl von erotischen bis hin zu pornografischen Filmen umfasst.220 Schon die Vorführungen von Edisons Kinetoscope waren überschattet von einer ersten Debatte über sittliche Filmzensur: Die (anstoß-)erregenden, anatomischen Details in den Tanzdarbietungen von Ella Lola (1898) wurden mit einem Filter belegt, nachdem schon der leidenschaftliche Kuss (in Großaufnahme) zwischen John Rice und May Irwin in Edisons The Kiss (1896) für Aufsehen gesorgt hatte.221 218 | Schrader 1972, 69. Vgl. auch Ott 1994, 144ff. 219 | Petigny 2009, 53-99. 220 | Williams bietet eine detaillierte Übersicht über die Anfänge des pornografischen Filmes und der Zensurgeschichte in den Vereinigten Staaten. Vgl. Williams 1995, 93-134. 221 | Vgl. Dixon & Foster 2008, 8-10; Williams 1995, 87. Die Diskussion um die sittliche Filmzensur am Beispiel des Filmes Die Sünderin (1951, Willi Forst) mit Hildegard Knef förderte alle Vorbehalte gegenüber dem Medium Film aus theologischer Sicht zu Tage. Vgl. Quaas 2007, 218-238.
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Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass die theologische Würdigung des Mediums Film grundsätzlich begründungsbedürftig ist – oder mit Heidi Campbell ausgedrückt: dass der theologischen Aneignung und Nutzbarmachung des Mediums Film ein komplexer Prozess des social shaping of technology vorhergehen musste und weiterhin muss.222 Auch in den jüngsten Publikationen über Religion und Film wird ein großer Teil der theoretischen Ausführungen auf die Begründung der theologischen Reflexion über Film verwandt.223 Stefanie Knauß bringt es auf den Punkt: »Noch legitimationsbedürftiger ist allerdings der Dialog der Theologie mit dem Film, der von vielen als unbedeutend, niveaulos, vielleicht sogar schädlich (jedenfalls für die Moral der Massen) abgelehnt wurde und wird.«224 Eine Theologie des Films muss daher bemüht sein, das neue Medium in nachvollziehbarer Weise für christliche Rezipienten nicht nur »verstehbar« zu machen, sondern im Rahmen anerkannter Rezeptionsmuster so zu deuten, dass es als konstruktiver Beitrag zum christlichen Leben verstanden werden kann. Es wird sogleich klar, warum vor allem katholische Theologen und Filmanalysten einen wirkungsästhetischen Ansatz verfolgen, während protestantische Vertreter hauptsächlich die Komplexität von menschlicher Sinnsuche und Sinnfindung in der filmischen Parabel thematisieren. Im ersten Fall ist augenfällig, dass Film meist nicht als eigenständiges Medium behandelt wird, sondern als Bildmedium konzipiert wird. So ordnet Pezzoli-Olgiati den Film konsequent dem »neueren Interesse am Visuellen« in der religionswissenschaftlichen Forschung zu – Film wird als eine Bildkunst determiniert und analysiert, die Fragen an die Praxis des Sehens und Schauens aufwerfe.225 Dass sich hier auch gänzlich andere »Betrachtungsweisen« anböten, ist offensichtlich: Film kann bspw. unter einer soziologischen Perspektive als Repräsentation von Handlungen verstanden werden oder Film kann im Hinblick auf seine performativen Qualitäten als Weiterführung von Theater angesehen werden oder unter Berücksichtigung der musikalischen Untermalung von Filmhandlungen als Analogie zu Oper, Operette und Musical. Die Reduktion des Filmes vor allem auf seine Bildsprache findet dann auch in den analytischen Methoden ihren Niederschlag: Nadine C. Böhm ist die einzige unter den oben behandelten Autoren, die ein Sequenzprotokoll der analysierten Filme anfertigt, was in der heutigen Filmanalyse eigentlich als unverzichtbar gilt. Die wirkungs-
222 | Vgl. Campbell 2005, 1f. 223 | Vgl. Lyden 2003, 9-136; Herrmann 2001, 15-106; Herrmann 2007, 17-97; Knauß 2008, 24-157; Kirsner 1996, 11-38; Bergesen & Greeley 2003, 5-26. 224 | Knauß 2008, 25. 225 | Vgl. Pezzoli-Olgiati 2008a, 46-48.
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ästhetischen Ansätze fokussieren in überwiegendem Maße einzelne Szenen und Bildeinstellungen, der Handlungsfluss tritt in den Hintergrund.226 Den Film als Bild zu verstehen oder gar in explizite Analogie zur Ikone zu setzen, wie dies Ayfre, Schrader und Campani tun, entspricht einer langen Tradition katholischer und orthodoxer Bildtheologien, die jedoch auch den Blick öffnen auf das Spannunsfeld »Film« und den Legitimationsbedarf aus Sicht der protestantischen Bilderkritik. Wenn man berücksichtigt, dass der Bildbegriff in der abendländischen Geschichte für alle Arten von Bildwerken (Plastiken, Reliefs wie auch gemalte, geprägte und gedruckte Bilder) benutzt wurde, so lässt sich der Beginn der kultischen Bilderverehrung schon auf das frühe 4. Jahrhundert datieren. Der Bischof von Caesarea, Eusebios (ca. 260 – ca. 340), berichtet von einer Wunderheilung durch eine Bronzefigur des Heilgottes Asklepios, die von der Bevölkerung seiner Heimatstadt allerdings als Jesus identifiziert wurde.227 Die kultische Verehrung von Bildern war bis dahin den römischen Kaisern vorbehalten, deren Bilder in Gerichtssälen und Basiliken präsent waren und dort verehrt (adorare) wurden, indem man sich vor dem Bild niederwarf, Kerzen und Weihrauch anzündete, dort seine persönlichen Bitten vortrug und im Falle von Verfolgungen dort Zuflucht suchen konnte (ad imagines). In Analogie zu diesem Kaiserkult formulierte der Kirchenvater Athanasius von Alexandria (298-373) im Rahmen des Streites um die Dreieinigkeit in seinen Reden gegen den Arianismus (ƪфƢƮƨ ƩƠƲнƈƯƤƨƠƬцƬ) eine folgenreiche, platonisch beeinflusste Urbild-Theorie: Die Göttlichkeit des Sohnes ist auch die des Vaters, und sie ist die gleiche im Sohn. Wer dies begriffen hat, wird leicht verstehen, dass derjenige, der den Sohn geschaut hat, den Vater geschaut hat (Johannes 14,9), denn er hat im Sohn die Göttlichkeit des Vaters entdeckt. Dies wird noch besser verständlich, wenn man das Kaiserbild als Beispiel nimmt. Im Bild finden sich nämlich Aussehen und Gestalt des Kaisers … Es besteht im Bild eine so vollkommene Ähnlichkeit, dass, wer das Bild schaut, darin den Kaiser sieht, und umgekehrt, wer den Kaiser schaut, ihn als jenen erkennen wird, den man im Bild sieht. 228
Ohne dass es zunächst eine theologische Auseinandersetzung um den christlichen Bilderkult selbst gab,229 verbreitete sich ab dem 5. Jahrhundert die Anbetung der Bilder Christi, der Bischöfe und Heiligen im ganzen Römischen Reich: Das Bildnis von Jesus überragte den Kaiserthron im Palast von Tiberius II. (578226 | Vgl. Faulstich 2008, 64-83. 227 | Vgl. Belting 2005, 52f. 228 | Athanasius: Oratio III contra Arianos, c. 5 (PG, Bd. 26, Sp. 332), zitiert nach Wirth 2000, 28. Vgl. a.a.O., 28f.; vgl. auch Belting 1990, 117-130. 229 | Vgl. Krannich & Schubert & Sode 2002, 2f.
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582) und Justinian II. (685-711) ließ es auf Münzen prägen. Der Philosoph Régis Debray bewertet diese Verbreitung des Bilderkultes als die entscheidende Innovation des Christentums gegenüber anderen monotheistischen Religionen – denn nur durch das Dogma der »Fleischwerdung« Gottes konnte die Idee der Vermittlung der Göttlichkeit toleriert und gefördert werden.230 Mitte des 8. Jahrhunderts kommt es zum ersten Bilderstreit, der die Parteien der Bildverehrer (Ikonodulen) und Bilderstürmer (Ikonoklasten) zwingt, ihre jeweiligen Bildtheologien zu formulieren. Der oströmische Kaiser Konstantin V. (718-775) hatte entschieden, dass nur noch der Eucharistiefeier selbst Verehrung gebühre, alle Bilder im Altarraum seien zu entfernen, ein Erlass des Patriarchen Anastasius machte dies verbindlich. Im nachfolgenden Konzil von Hiereia (754), das diese Haltung theologisch legitimieren soll, wird der Bilderkult um Christus und die Heiligen nun scharf verurteilt:231 Wer nun im Sinn hat, diese in einer toten und verabscheuenswerten Kunst, die niemals lebendig war, sondern in Verblendung erfunden wurde in Anlehnung an die Heiden, die uns entgegengesetzt sind …, zu errichten, der erweist sich als gotteslästerlich. Wie können sie es wagen, auch die allgepriesene Mutter Gottes … die höher ist als die Himmel und heiliger als die Cherubim, in der gewöhnlichen Kunst der Heiden zu malen? 232
Um die nachfolgende Bildtheologie beurteilen zu können, war es nötig, die Argumentation der ersten Ikonoklasten zu würdigen. Weil Christus selbst wesenseins mit Gott sei, könne der Mensch kein künstliches Abbild von Christus und Gott herstellen, denn das Göttliche sei nicht durch Menschenhand in der Welt darstellbar, die kultische Bilderverehrung müsse daher verboten werden.233 Unter anderen politischen Rahmenbedingungen wurden auf dem Zweiten Konzil von Nizäa (787) die Beschlüsse des Konzils von Hiereia als ungültig verworfen, das Konzil selbst wurde zur Pseudosynode erklärt und man folgte weitestgehend der Argumentation des vormals unterlegenen Ikonodulen Johannes von Damaskus (ca. 650-754).234 Es wird nun betont, dass die Kirche alle Sinne zur Verherrlichung Gottes führen möge, also sowohl das Hören von Gottes Wort als auch das Sehen seiner Taten. Die Unterweisung durch die Bilder sei 230 | Vgl. Debray 1999, 71. 231 | Konstantin V. hatte das Konzil einberufen, das sicherlich nur im Kontext des Nachfolgestreites mit seinem Schwager Artabasdus um den Kaiserthron zu verstehen ist. Vgl. Krannich & Schubert & Sode 2002, 4-8. 232 | Horos des Konzils von Hiereia, 276D, 277C, Krannich & Schubert & Sode 2002, 49. 233 | Vgl. Krannich & Schubert & Sode 2002, 9-27; Wirth 2000, 29f.; Thümmel 1980, 534-537. 234 | Zum historischen und theologischen Kontext vgl. Uphus 2004, 82-132.
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sogar als vorteilhaft gegenüber der Schriftlesung während der Messe zu beurteilen: »Denn der Vortrag der Lesung setzt in den ehrwürdigen Tempeln bisweilen aus, doch die ikonische Darstellung erzählt und verkündet uns, da sie in ihnen angesiedelt ist, abends, morgens und mittags die Wirklichkeit dessen, was geschehen ist.«235 Unproblematisch sei die Verehrung der Ikonen deshalb, weil der Gläubige geistlich (ƬƤƳƫƠƲƨƩцư) zur Erinnerung an die Urbilder emporgeführt werde – nicht die Ikone selbst werde angebetet, sondern das dargestellte Göttliche, Christus, der Heilige oder Maria, das Urbild, das hinter der Ikone stehe. Dem Vorwurf des Konzils von Hiereia, man würde mit der Ikonenverehrung heidnische Bräuche wiederbeleben, entgegnet der Horos von Nizäa, dass der Gläubige mit Klugheit und in Reinheit sehr wohl Maria und die Heiligen mit Worten und Bildern ehren könne.236 Nach einer Periode heterogener Bildtheologien unter den Karolingern (libri carolini) und ihren Nachfolgern, in denen Bilder zwar erlaubt waren, jedoch deren Anbetung nicht gebilligt wurde, entdeckten die Scholastiker im 12. Jahrhundert die Schriften von Johannes von Damaskus wieder für sich. Schließlich war es Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), der die Unterscheidung einführte zwischen der Haltung (Bewegung der Seele) gegenüber dem Bild als Ding (als geschnitztes Holz etc.) und dem Bild als Bild (dem Bildinhalt). Die Verehrung (dulia) und Anbetung (latria) könne sich jedoch nur auf das Bild als Bild beziehen, denn nur einem vernunftbegabten Wesen könne Ehrerbietung geschuldet werden.237 Während sich Martin Luther vor allem gegen die verbreiteten Bildstiftungen wendete,238 verurteilten die Reformatoren Karlstadt, Zwingli und Calvin nicht nur den Akt der Bilderverehrung, sondern auch die Präsenz der Bildwerke selbst mit Verweis auf das alttestamentliche Bilderverbot als Götzendienst. Die 235 | Horos des 2. Konzils von Nizäa, 361A6, Uphus 2004, 262. 236 | Vgl. Uphus 2004, 263f., 248; Besançon 1994, 170-187. 237 | Vgl. Wirth 2000, 31-33. In der Tat ist die theologische Debatte um die Bilderverehrung im 14./15. Jahrhundert weitaus komplexer und nimmt zum Teil schon die Kritik der Reformatoren vorweg. Vgl. Schnitzler 2000, 29-76. 238 | Luther wendet sich sogar direkt gegen den Ikonoklasmus anderer Reformatoren. Das Problem der Guten Werke, des »Seelgeräts« (testamentum), dessen Stiftung die Zeit im Fegefeuer mindern sollte, scheint ihm dringlicher. Größere und kleinere Kirchen umfassten unzählige Privatkapellen, im Berner Münster finden sich bspw. insgesamt 26 Altarstellen, im Ulmer Münster sogar 51 Altäre, an denen Kapläne Seelenmessen für die wohlhabenden Stifter lasen. Diese Privatkapellen waren von Adeligen und Patriziern mit umfangreichem Bildwerk und liturgischen Utensilien ausgestattet worden (Wappensteine, Glasfenster, Wandmalereien, Familiengestühl mit Schnitzereien, Grabplatten der Stifterfamilie, Altarstein, Altartücher, zwei Altarleuchter, ein Altarkreuz, Kelch, Messgewänder, Messbücher). Vgl. Jezler 2000, 20ff.
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Verehrung des Fleisches (und seiner Abbilder) stehe der geistigen Natur Gottes und Christi entgegen, dessen menschliches Bild durch die Himmelfahrt dem Gläubigen nun entzogen sei.239 Das Konzil von Trient (1563) reagiert auf die Kritik der Reformatoren am ausufernden Bilderkult und greift auf die Beschlüsse des Zweiten Konzils von Nizäa zurück – die Bilder werden als Gleichnis von Christus und den Heiligen aufgefasst, die Ehrerbietung gehe auf die Dargestellten über. Zurückgewiesen wird jedoch explizit die Vorstellung, die Bilder selbst würden etwas Göttliches oder eine Kraft in sich bergen, von der man sich etwas erbitten könnte.240 Ungeachtet dieser komplexen theologischen Debatten besteht jedoch ein seit der Spätantike dokumentierter Glaube an die Wirkmächtigkeit der Bilder selbst, die trotz der reformatorischen Kritik in den katholischen und orthodoxen Kulturen bis heute ungebrochen ist. Hans Belting urteilt scharfzüngig über die theologischen Debatten: Die Theologen haben immer wieder versucht, materiellen Bildern ihre Macht zu entreißen, wenn diese im Begriff waren, zuviel Macht in der Kirche zu gewinnen … Deshalb lieferten die Theologen in Bilderfragen nur die Theorie einer schon bestehenden Praxis nach … Wenn sie die Bilder ›erklärt‹ und den Zugang zu ihnen reguliert hatten, waren die Theologen zuversichtlich, die Dinge wieder in der Hand zu haben. 241
Bereits im 6. Jahrhundert entwickelte sich eine neue »praktische Bildtheologie«, indem nun einzelne Bilder mit einer unverwechselbaren Geschichte ausgestattet wurden und dadurch einen Status der Einzigartigkeit erreichten: Es waren Bilder, die durch Wunder bewiesen, dass sie echter waren als alle anderen und damit das Recht auf einen besonderen Kult beanspruchen konnten. Sie führten sich mit einem himmlischen Ursprung oder mit eine außergewöhnlichen Genealogie ein … Die Bilder schienen bewohnt zu sein und lebendig zu werden, wie man es sich auch von den Wunderbildern der alten Götter erzählt hatte. 242
Die Verehrung und Anbetung dieser Reliquien, Schreine und eben Bildwerke, deren Wirkmächtigkeit durch Votivtafeln und Mirakelbücher über Jahrhunderte belegt werden soll, bilden die Basis für das christliche Wallfahrtswesen.243 Herausragend sind dann jene Bilder, die als »nicht von Menschenhand gemacht« gelten, die also Bild und Reliquie gleichzeitig sind, wie bspw. das Turi239 | Vgl. Wirth 2000, 35f. 240 | Vgl. Wirth 2000, 36f. 241 | Vgl. Belting 1990, 11. 242 | Belting 2005, 56f. 243 | Vgl. Propoková 2006, 381-388; Krüger 2003a, 409.
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ner Grabtuch.244 Dass es sich hierbei nicht vorwiegend um ein Phänomen des Mittelalters handelt, sondern dass wundertätige Heiligenbildnisse vor allem die Gegenwart des Christentums prägen, belegt eindrucksvoll die aufwendige Studie von Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky: Von ca. tausend dokumentierten Marienerscheinungen seit dem 1. Jahrhundert, die in vielen Fällen durch die Errichtung eines Verehrungsortes mit wirkmächtigem Kultbild als Wallfahrtsort institutionalisiert wurden, fanden 455 Erscheinungen im 20. Jahrhundert statt, 224 im 18. und 19. Jahrhundert.245 Aber auch neben der kultischen Verehrung besonderer »Gnadenbilder« in Wallfahrtskirchen verfügen wir über zahlreiche Zeugnisse einer privaten Bilderverehrung, die seit dem 13. Jahrhundert in Mitteleuropa Verbreitung findet. Hatte die Kirche ein Interesse daran, den Laien den Zugang zur Heiligen Schrift zu verwehren – man befürchtete die Zerstörung der Einheit des Glaubens, so war das Bedürfnis der Gläubigen nach Unterweisung und Frömmigkeitsbekundungen umso stärker auf Bildwerke angewiesen und fixiert. Um diese wachsenden Bestrebungen der Laien, ein heilsbedeutsames und frommes Leben außerhalb von Klöstern zu führen, in kirchlich konforme Bahnen zu lenken, nehmen sich vor allem die Franziskaner und Dominikaner dieser Aufgabe an. Es entwickelt sich eine eigene Frömmigkeitskultur, in deren Zentrum das tiefe Nacherleben des Leidens Jesu Christi und Mariens steht, denn Maria habe bei der Passion ihres Sohnes mehr erduldet als alle Märtyrer zusammen, so die Vorstellung seit spätestens Albertus Magnus (ca. 1200-1280): »Ziel der Bilderverehrung ist das geistige Miterleben (visio), das über Besinnung (contemplatio), Mitleid (compassio), Nachfolge (imitatio), verschiedene Formen der Ekstase (admiratio, exultatio) und Loslösung vom Fleische (resolutio) zu erreichen ist.«246 Verbreitet sind seit dieser Zeit Andachtsbüchlein und kleinformatige Bildwerke aus Elfenbein, Erdpech, Alabaster, Holz, Leder, Speckstein, Zinn, Blei, Ton, Stuck, Glas, Papiermasse oder Perlmutt mit Motiven der Passionsgeschichte oder aus dem Leben Jesu und Mariens, die für jeden Geldbeutel erschwinglich waren. Oft wurden (und werden!) auch berühmte Gnadenbilder besonderer Wallfahrtsorte im Kleinformat massenhaft reproduziert. In seinen Meditaciones Vite Christi (um 1300) schrieb der Franziskaner Johannes de Caulibus für ein geistliches wie weltliches Publikum zu den Zielen der Bildmeditationen: »Wenn du [sic!] aber recht viel Frucht aus der Betrachtung schöpfen willst, dann musst Du Dir alles vergegenwärtigen, als hörest Du es mit eigenen Ohren und sähest Du es mit eigenen Augen, dann muss Dein ganzes Herz dabei sein voll 244 | In der kirchlichen Literatur ist hier vom non manu factum die Rede. Vgl. Belting 2005, 56-74. 245 | Vgl. Hierzenberger & Nedomansky 1993, 38f.; zur frühen Verehrung von Marienbildern vgl. Belting 1990, 42-59. 246 | Tripps 2000, 40.
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freudiger und gespannter Aufmerksamkeit.«247 Das Entrücktwerden und körperliche Ausdrucksformen der tiefen emotionalen Ergriffenheit während der Meditation über diese Bildwerke galten als Zeichen äußerster Frömmigkeit und sind sowohl literarisch als auch in Bildern überliefert.248 Diese gelebten Frömmigkeitsformen korrespondieren mit einer praktischen Bildtheologie, wie sie am deutlichsten der Mystiker und Dominikaner Heinrich Seuse (1295-1366) formuliert hat. Seuse lässt sich Bilder in seine Kapelle malen, meditiert vor ihnen und gibt in seinen Schriften zahlreiche Anleitungen für diese Imaginationsübungen. Eine Berührtheit vom Dargestellten wird durch die Bildwerke nicht nur ermöglicht, sondern das Zeugnis Seuses belegt, dass dies zu seiner Zeit bereits erwartet wurde – wo dieses affektive Erlebnis fehlt, wird es als defizitär erfahren: Die Fähigkeit des subjektiven Nachempfindens wird zum Gradmesser der eigenen Frömmigkeit. Für Seuse führt dieser Weg der Bildbetrachtung und des Nacherlebens bis zur unio mystica, in der der Gläubige sich dem leidenden Christus geistlich angeglichen habe.249 Festzuhalten bleibt demnach, dass wir im katholischen Kontext zum einen theologisch-intellektuelle Bildtheologien vorfinden, die wiederholt auf die platonische Urbildtheorie in ihrer christlichen Rezeption durch Athanasius zurückgreifen, und dass wir zum anderen eine praktische Bilderverehrung beobachten können, die eine Wirkmächtigkeit der Bilder selbst voraussetzt, sei dies nun auf Andacht und Versenkung oder aber auf Hilfs- und Gunsterwartungen bezogen. Im Zentrum der protestantischen Filmtheologien steht aufgrund der reformatorischen Verurteilung der Idolatrie nicht »das Bild«, sondern die Filmhandlung und der Wortgehalt des Filmes, die als Parabel des menschlichen Lebens aufgefasst werden sollen. Theologischer Bezugspunkt ist hier vor allem die Idee der religiösen Substanz der Kultur (1967), wie sie Paul Tillich (1886-1965) als Plädoyer für ein Nachdenken der Theologie über alle Lebensbereiche des Menschen in die jüngere Diskussion eingebracht hat. Es setzt voraus, daß Religion im fundamentalen Sinn des Wortes nicht ein Gebiet neben anderen ist …, sondern daß sie das Erlebnis einer Qualität in all diesen Gebieten ist, nämlich der Qualität des Heiligen oder dessen, was uns unbedingt angeht. Eine Theolo247 | Johannes de Caulibus: Meditatciones Vite Christi, 10, zitiert nach Tripps 2000, 40. 248 | Für die spätmittelalterliche Gesellschaft war die zur Schau gestellte Frömmigkeit ein Zeichen von sozialem Prestige, so dass finanziell und machtpolitisch herausragende Kleriker, Adlige und Patrizier sich während der Privatandacht portraitieren und den Moment der ihnen widerfahrenen visio festhalten liessen. Vgl. Tripps 2000, 40-45. 249 | Vgl. Lentes 2004, 15-19. Zur Komplexität und Vielschichtigkeit der Bildtheologie Seuses vgl. die ausführliche Diskussion von Thomas Lentes (a.a.O., 49-64).
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D IE MEDIALE R ELIGION gie der bildenden Kunst setzt voraus, daß in Bildern und Skulpturen … die Manifestation letzter Wirklichkeit erkennbar ist. – Wenn das so ist, ergibt sich eine entscheidende Folgerung, nämlich daß Kunst nicht religiöse Gegenstände behandeln muß, um religiös zu sein … Sie ist religiös, sofern in ihr die Erfahrung letzten Sinnes und Seins zum Ausdruck kommt. 250
Dieser Ansatz ist Teil von Tillichs übergreifenden Typologien moderner und historischer Gesellschaften, in deren Rahmen er drei voneinander unterscheidbare, normativ fundierte Entwürfe von Kultur identifiziert: erstens den Versuch, eine autonome Kultur zu schaffen ohne irgendeinen Bezug auf etwas Letztes und Unbedingtes, die nur im Rahmen von theoretischen und praktischen Rationalitäten besteht; zweitens eine heteronome Kultur, die alle Formen des Denkens und des Handelns einer einzigen religiösen oder politischen Quasi-Religion unterwirft; drittens die theonome Kultur: Die theonome Kultur jedoch, drückt in ihren Schöpfungen etwas aus, das uns unbedingt angeht, einen transzendenten Sinn, nicht als etwas ihr Fremdes, sondern als ihren eigenen geistigen Grund. Religion ist die Substanz der Kultur und Kultur die Form der Religion … Keine kulturelle Schöpfung kann ihren religiösen Grund oder ihre rationale Formung verbergen. 251
Die Aufgabe der Theologie und der christlichen Laien sei es, die autonome Kultur zu entziffern und »die verborgene religiöse Bedeutung« zu finden, um »… zu zeigen, daß in der Tiefe jeder autonomen Kultur etwas eingeschlossen liegt, das uns unbedingt angeht, etwas Unbedingtes und Heiliges.«252 Auf diesen grundlegenden Ansatz von Paul Tillich berufen sich alle protestantischen Filmtheologen wie John Lyden, Jörg Herrmann und Nadine Böhm, aber auch die katholische Theologin Stefanie Knauß.253 Bemerkenswert für die Rezeption von Tillich ist natürlich, dass bei den genannten Autoren nicht expliziert wird, dass Tillich drei verschiedene, normativ ausgerichtete Begriffe von Kultur einführt und er diese nur auf die bildende Kunst (Bilder/Skulpturen) und die Architektur anwendet.254
250 | Vgl. Tillich 1967, 346. 251 | Tillich 1967, 84f. 252 | Tillich 1967, 85; vgl. a.a.O., 82-88. 253 | Vgl. Lyden 2003, 13-17, 22-25, 38f., 103; Herrmann 2001, 40-44; Böhm 2009, 71-75; Knauß 2008, 42-44, 47-49. 254 | Vgl. bspw. Knauß 2008, 42ff. Der entsprechende Vortrag von Tillich stammt von 1961, es wäre also durchaus anzunehmen, dass Tillich auch explizit die Filmkunst angesprochen hätte, wenn dies seine Absicht gewesen wäre. Die vielfältige Rezeption belegt
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Im englischsprachigen Filmdiskurs wird neben Tillich bisweilen auch auf H. Richard Niebuhr (1894-1962) Bezug genommen, der in Christ and Culture (1951) die weltliche Kultur und die Religion als zwei unabhängige Bereiche verstehen will, die allerdings miteinander interagieren – der Christ müsse daher seine Rolle im Verhältnis zur weltlichen Kultur jeweils neu erschließen und könne sie dann auch christlich prägen: »We must make our decisions, carry on our reasoning, and gain our experience as particular men in particular times and with particular duties.«255 Innerhalb des wirkungsästhetischen Paradigmas, das an katholische Bildtheologien anknüpft, lässt sich einerseits eine klare Rezeptionslinie nachzeichnen, die von Amédée Ayfre über Paul Schrader hin zu Ermelinda Campani, Nadine Böhm und Stefanie Knauß reicht, wobei Letztere nochmals explizit Bezug nimmt auf die historische Bildtheologie des Johannes von Damaskus und ihren Weiterführungen.256 Andererseits rückt als Fokalisationspunkt sowohl protestantischer als auch eher katholischer Filmtheologien Rudolf Ottos Typisierung der Erfahrung des »Heiligen« ins Zentrum, das stark von Schleiermacher geprägt wurde. So bestimmt Paul Schrader während der Charakterisierung des transcendental style in film die Transzendenz als das »Heilige« und als das ganz Andere; die Erfahrung von Transzendenz im westlichen Film (Bresson und Dreyer) und im östlichen Film (Ozu) ordnet er den von Otto identifizierten zwei Formen der Mystik zu, der Vision und der Versenkung, die beide in der unio mystica gipfeln.257 Knauß hinterfragt zwar kritisch die Universalisierbarkeit von Schraders Transzendenzbegriff, würdigt jedoch auch die möglichen Anknüpfungspunkte für die Theologie und Filmästhetik:
allerdings die universale Anwendbarkeit von Tillichs Theorem der religiösen Substanz der Kultur, auch über Konfessionsgrenzen hinweg. 255 | Niebuhr 1951, 237. Niebuhr unterscheidet insgesamt fünf religiöse Einstellungen zur Kultur, die von totaler Ablehnung und Abschottung bis hin zur Annahme einer völligen Übereinstimmung zwischen beiden Sphären reichen. Vgl. Niebuhr 1951, 45-229; vgl. Lyden 2003, 13-15; Plate 2005, 3100. Es ist nicht klar, wo genau Pezzoli-Olgiati und Mäder einzuordnen sind, da es keine expliziten Verweise gibt. Dass Pezzoli-Olgiati Religion und Film als zwei unabhängige Kommunikationssysteme auffasst, könnte auf Niebuhr und Lyden zurückgehen. Vgl. Pezzoli-Olgiati 2008a, 51-54. John Lyden geht sogar so weit, nun alle Ansätze theologischer Filminterpretationen entweder dem Schema von Niebuhr oder Tillich zuzuordnen (so auch Schrader) – die nicht-englischsprachigen Theorien sowie der gesamte bildästhetische Diskurs sind ihm offenbar nicht bekannt. Vgl. Lyden 2003, 18-32. 256 | Vgl. Knauß 2008, 25, 44. 257 | Vgl. Schrader 1972, 3-7, 54.
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D IE MEDIALE R ELIGION Die Erfahrung des Jenseitigen, dessen, das die unmittelbare Wirklichkeit überschreitet, und damit das Gefühl, selbst an einer anderen Realität Anteil zu gewinnen, ist ein Element der ästhetischen Erfahrung, das sich sowohl in der Entzogenheit des sich zeigenden Unendlichen, in der Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit von Interpretationen und im Gabe-Charakter der ästhetischen Erfahrung der Rezipientin oder dem Rezipienten erschließt. 258
Für Campani verkörpert der Film als Ikone das zugleich bedrohliche und anziehrende Mysterium, »l’altérité, le ganz andere, comme Rudolf Otto définissait déjà le sacré.«259 Auch Nadine Böhm, die Otto zwar insofern kritisiert, da die Erfahrung des Numinosen nur einer begabten Elite vorbehalten sei, hält seinen Begriff des »Heiligen« für hilfreich, um die religionsästhetische Erfahrungsebene von Filmen reflektieren zu können: Dem mysterium tremendum, diesem numinosen Zorn, entspricht als primitive emotionale Reaktion das Gruseln oder Grauen; dies ist dem natürlichen Menschen nicht möglich, sondern muss schon als kulturell erworbene Reaktion auf ein außersubjektives Göttliches gesehen werden: »Die Gänsehaut ist etwas ›Übernatürliches‹.« 260
Für Böhm ist Ottos Konzept des »Heiligen« nützlich, um die Kategorie des Erhabenen einzuführen und nun filmästhetisch weiter zu entwickeln.261 Neben Rudolf Otto werden weitere Religionsphänomenologen herangezogen, um eine wie auch immer geartete Wirkungsästhetik des Films zu fundieren. Mit Bezug auf Gerardus van der Leeuw sieht Schrader den Ursprung und das Ziel aller Kunst in der Religion, während Böhm mit Blick auf Mircea Eliade das Konzept der Hierophanie in einen filmischen Kontext setzt.262 Diese expliziten Verweise auf bestehende Theologien der Verkündigung und Exegese (Tillich/Niebuhr) und auf die Religionsphänomenologie, ferner die Wahrnehmung von Film als »Wort und Bild«, als »Ikone«, in Verbindung mit einer langen Tradition der wirkungsästhetischen Bildtheologie und schließlich die Deutung von Film als Mythos und Ritual in den synthetisierenden Ansätzen von S. Brent Plate und John Lyden machen deutlich, mit welchen spezifischen Selektionen und Akzentuierungen die Thematik von Religion und Film im gesamten europäischen und amerikanischen Diskurs wahrgenommen werden. 258 | Knauß 2008, 30. Vgl. a.a.O., 28-31. 259 | Camapni 2007, 181. Auch mit Bezug auf Schrader, vgl. a.a.O., 177-179. 260 | Böhm 2009, 63. Böhm zitiert an dieser Stelle aus Rudolf Ottos Das Heilige (1917). 261 | Vgl. Böhm 2009, 59-64. 262 | Vgl. Schrader 1972, 156f.; Böhm 2009, 67-71. Lyden wiederum setzt sich kritisch mit Otto und Eliade auseinander und macht dagegen den Mythos- und Ritualbegriff von Clifford Geertz stark, vgl. Lyden 2003, 37f., 67.
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Diese stark theologisch geprägten Ansätze entsprechen damit dem positiven Erwartungshorizont konfessioneller Theologien – sie sind »lesbar« für Rezipienten, die mit katholischen Bildtheologien und protestantischen Parabeln der Lebensführung vertraut sind. Das besondere Interesse der hier vorgestellten Autoren, die die gegenwärtige Debatte über Film und Religion dominieren, ist innerhalb der Theologien allerdings legitimationsbedürftig – Film wird daher nicht nur als relevant für die gegenwärtige christliche Theologie dargestellt, sondern ihm wird ein Mehrgewinn zugeschrieben. Wenn Inge Kirsner dem Kinobesuch eine Erwartung von »Heil, Segen und Glück« zuschreibt, dann müsste man zugespitzt von Filmsoteriologien anstatt von Filmtheologien sprechen.263 Die Deutungsprozesse von Film und Religion reihen sich damit ein in die vertraute Argumentation um das Für und Wider der Bilderverehrung, dem mal mit dem Hinweis auf den individuellen Erkenntnisgewinn aus filmischen Parabeln, mal mit Blick auf die implizierte, heilswirksame Bildästhetik begegnet wird. Diese fast durchweg wohlwollende, theologische Lesart des Mediums Film basiert – wie wir gesehen haben – auf einer Reihe von Ausblendungen und Selektionen: Erstens ist nicht die Rede von Filmen in ihrer Vielfalt; Dokumentarfilme und missionarische Filme oder auch Musicalfilme werden vollkommen ausgeblendet. Zweitens beschränkt sich auch die Auswahl von Spielfilmen in den entsprechenden Studien jeweils auf wenige, künstlerisch anspruchsvolle Produktionen oder aber populäre Hollywoodfilme. Drittens wird die Rezeption der Filme – wenn überhaupt – durch wenige Filmkritiken »illustriert« und ansonsten durch die rein subjektive Interpretation der jeweiligen Autorinnen und Autoren der Filmstudien erschlossen.264 Viertens werden auch die vollkommen unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen in Europa, den Vereinigten Staaten und anderen Weltregionen außer Acht gelassen. Welche Stellung das Kino hat, was ein Kinobesuch im jeweiligen kulturellen Kontext und sozialen Milieu bedeutet und für wen Kino überhaupt zugänglich ist und in welchem Verhältnis es zum Filmkonsum per Fernseher steht – all dies wird vernachlässigt. Dieses Vorgehen der weitgehenden Dekontextualisierung »des Films« aus seinen sozialen und kulturellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen entspricht dem Ansatz der Religionsphänomenologie – die Verweise auf Otto, Eliade und van der Leeuw sind daher nicht zufällig. Nicht die Vielfalt der jeweiligen Konkretisationen von »Religion« in ihren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontexten oder gar die religiöse Praxis von Individuen, sondern 263 | Vgl. Kirsner 1996, 30-37. 264 | Dort, wo Jörg Herrmann als einziger der hier behandelten Filmanalysten tatsächlich Rezipienten befragt hat, sind die Resultate ernüchternd bescheiden: Es wird festgestellt, dass Kinofilme neben anderen Medien eine wichtige Rolle für die Sinnstiftung spielen können, ohne dass die Rezipienten hier ausdrücklich religiöse Bezüge herstellen würden. Vgl. Herrmann 2007, 303-308.
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das »Wesen der Religion« sollte aus der vergleichenden Betrachtung religiöser Erscheinungen gewonnen werden. »Film« wird in analoger Weise als eine ahistorische und transkulturelle Größe konstruiert, die ungeachtet der jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Entwicklungen Sinn stiftet oder religiöse Erfahrungshorizonte eröffnet, da den kulturellen Schöpfungen ja grundsätzlich eine religiöse Substanz zugeschrieben wird.
Perspektiven der religionswissenschaftlichen Filmforschung Man ist angesichts der Dominanz theologischer und religionsphänomenologischer Deutungsmuster im gesamten Diskurs über Film und Religion versucht, den »unschuldigen« Nullpunkt dieser Auseinandersetzung identifizieren zu wollen, um dann das Feld von dort aus systematisch und auf einer sicheren methodologischen Basis erschließen zu können. Dies ist jedoch nicht möglich, denn kulturelle und religiöse Deutungsprozesse lassen sich nicht zurückspulen wie eine Filmrolle. Die Offenlegung der theologischen Vorverständnisse, der dominierenden Selektions- und Akzentuierungsmuster – gerade wenn diese von den besprochenen Autoren weder expliziert werden oder ihnen gar nicht bewusst sind – bilden jedoch den ersten Schritt einer religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Analyse. Wenn das Faktum »Film« aus seinem allbeliebten Korsett der theologisch-ästhetischen Verzauberung herausgehoben wird, können die sozialen Dimensionen der Produktion und Rezeption von Filmen angemessener betrachtet werden.265 Einer religionswissenschaftlichen Methodologie wird man nämlich nicht allein dadurch gerecht, dass man die »Wahrheitsfrage« in den Bewertungen von Filmen ausklammert, wie dies Hasenberg und Mitautoren bisweilen suggerieren.266 Die Defizite der theologisch geprägten Ansätze verweisen aber gleichzeitig auf die möglichen Potenziale der religionswissenschaftlichen Filmanalyse. Eine systematische Aufbereitung des Feldes muss zuvorderst und unbedingt die Eigenständigkeit des Mediums Film anerkennen. Film ist nicht »Bild« und nicht »Wort«, sondern Film verfügt über ganz eigene Produktions-, Darstellungs- und Rezeptionsbedingungen von sinnlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Ein Kino ist daher auch keine Kirche! In einem zweiten grundlegenden Schritt kann sich die religionswissenschaftliche Expertise mit außereuropäischen und außerchristlichen Kulturen und Religionen nützlich erweisen, um letztlich christozentrische und okzidentale Darstellungs- und Rezeptionsweisen von Filmen und die damit einhergehenden Interpretationsleistungen kritisch zu hinterfragen. Dies eröffnet bspw. 265 | Vgl. Silbermann 1973, S. 8. 266 | Nur in extremen Fällen von Blasphemie, Brutalitäten und Sexualdarstellungen behält man sich vor, eindeutig Position aus dem katholischen Werthorizont vorzunehmen. Vgl. Hasenberg et al. 1993, 12.
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im Kontext von Hindu-Religionen nicht nur die Perspektive auf differierende performative Aspekte – wie den Vollzug einer puja (Opferzeremonie) vor den Aufführungen religiös-mythischer Stoffe – sondern auch auf vollkommen anders gelagerte Bild-Theologien.267 Vor dem Hintergrund nun des Kinos in islamisch geprägten Ländern vermag es bspw. die Orientwissenschaftlerin Dorothée Kreuzer, die Auseinandersetzung um das Kino in den größeren Kontext des von Huntington beschworenen clash of civilizations zu stellen: Nicht der Antagonismus zwischen oriental-okzidentalen Lebensentwürfen in populären Spielfilmen, sondern die kulturell völlig verschieden konstruierten Bildsprachen und deren Rezeption würden die eigentliche Problematik des Kulturkampfes im Kino ausmachen. Sie warnt eindringlich davor, den konstruktiven Charakter des Kinofilms auszublenden und aus dem arabischen Film vereinfachende Stereotypen von Islamismus und Modernismus herauszulesen: Zweifellos gibt es Filme aus der arabischen Welt, die Innenansichten von Befindlichkeiten liefern, sie können aber nicht schnellstens nachliefern, was vorher mit notorischem Desinteresse ignoriert wurde. Sie sind nur aus der Situation heraus zu verstehen, die sie hier illustrieren sollen. Warum Filme gemacht werden, und warum welche Leute ins Kino gehen, das ist von Land zu Land unterschiedlich. 268
Kreuzer betont in ihrer Analyse damit nicht nur die Unterschiede der künstlerischen Produktions- und Erzählweisen im Film aus islamisch geprägten Ländern, sondern verweist gleichzeitig auf die ebenso zu berücksichtigenden, differenten »Konsumformen« von Film. Es muss hier geklärt werden, in welchem Verhältnis das Kino zu anderen Kultur- und Medienangeboten in einem Land oder regionalspezifisch steht. Welche sozialen Milieus nutzen das Kino? Sind es Jugendliche bei ihren ersten Verabredungen oder ist Kino – wie in vielen Entwicklungsländern nur einer wohlhabenden Elite vorbehalten? Oder bildet Kino wie in den Vereinigten Staaten das einzige (erschwingliche) Kulturangebot neben Sportveranstaltungen, Kirchen und den malls? Schnell relativieren sich die vorgenannten, soteriologisch-theologischen und ritualistisch-mythischen Deutungen des Kinobesuches, berücksichtigt man diese grundlegenden Fragen nach den äußeren, rezeptiven Bedingungen des Filmkonsums als einem sozialen Ereignis. Es stellt sich also nicht so sehr die Frage, wie eine bestimmte »Religion« ein Medium rezipiert, als vielmehr, wie vorhandene, kulturelle Rezeptionsmuster, die teils durch bestimmte, religiöse Einstellungen und Haltungen zu Medien 267 | Wie im Kontext der Hindu-Traditionen. Vgl. Narasimhan 2007, VI; Chaudry 2008, 44f. 268 | Kreuzer 2002b, 64. Vgl. a.a.O., 63f.; Kreuzer 2002a, 91f.
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geprägt und habitualisiert sein können, in konkreten sozialen Handlungen und Zusammenhängen aktualisiert werden. Filmanalyse ist damit immer auch Kultur- und Gesellschaftsanalyse.269 Damit ist auch der zweite Aspekt der Rezeption angesprochen, nämlich die interpretativ-deutende Rezeption durch das Filmpublikum und den eventuellen Konsequenzen für das soziale Handeln der Rezipienten. Vollkommen zu Recht stellt hier Plate noch jüngst fest: »While theorists of film and religion continually mention the importance of audience reception, very little work has been done in this area.«270 Dies hat, wie wir gesehen haben, jedoch vor allem theologische Analysten nicht davon abgehalten, generell »dem Kino« eine sinnstiftende Funktion zuzuschreiben oder aber einem hypothetisch angenommenen religiösen Rezipienten die Entzifferung implizit religiöser Codes im Film zu unterstellen. Aus methodischen Gründen verbietet sich das Konzept der impliziten Religion, die weder durch ausdrücklich religiöse Aussagen im Film noch durch Rezipienten gestützt wäre, gänzlich. Die Validität dieses Konzeptes ließe sich mit theologisch unbedarften Zuschauern oder Rezipienten aus jeweils anderen Kulturkreisen schnell überprüfen.271 Wenn also Aussagen über die religiöse Relevanz eines Filmes gemacht werden, die nicht durch explizite Verweise auf Elemente religiöser Traditionen gestützt sind, dann muss sich die Medienrezeptionsforschung streng an der von Gerd Albrecht schon früh artikulierten Zielvorgabe orientieren, »was Menschen mit den Filmen machen«, im Vergleich zu der zweitrangigen Frage, was denn ein Produzent mit einem Film bezwecken wolle: Aus der notwendigen senderseitigen Materialmanipulation eine zwangsläufige empfängerseitige Verhaltens- und Einstellungsmanipuliertheit zu folgern, hieße Kommunikationsfolgen auf ein mechanistisches Reiz-Reaktions-Schema reduzieren, das weder psychologisch noch soziologisch, weder christlich noch marxistisch zu begründen ist. 272
Diese Ebene der Filmrezeption ist durch sozialwissenschaftliche Methoden der Datenerhebung (Umfrage und Interviews) zu erschließen, denkbar wären auch Beobachtungen und – wenn man tatsächlich wie Knauß die körperlichen Aspekte der Filmerfahrung erfassen will – experimental-psychologische Methoden. Weitergehende Fragen nach der Dynamik religiöser Rituale wie bspw. 269 | Vgl. Mai & Winter 2006b, 8-11. 270 | Plate 2005, 3101. 271 | Selbst Plate appelliert ja eindringlich, den Hollywood-Zentrismus der heute gängigen Filmanalysen zu überwinden und die Vielfalt des global cinema zu entdecken. Vgl. Plate 2005, 3102. 272 | Vgl. Albrecht 1983, 176.
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Hochzeiten, die durch Filmvorbilder eventuell geprägt und standardisiert werden, schließen sich im Rahmen der Rezeptionsanalyse an und müssen ggf. auf eine breitere Materialbasis zurückgreifen.273 Die Rezeption von Filmen kann sich an den Filmgattungen des Spielfilms, des Dokumentarfilms und des Werbefilms orientieren, sollte jedoch der Vielfalt möglicher »religiöser Relevanzen« gerecht werden, denn auch ein Dokumentarfilm bspw. über Tibet kann ein religiöses Interesse fördern.274 Auch die Verwendung der Filme außerhalb der Kinovorführung sollte an dieser Stelle Berücksichtigung finden (bspw. didaktische Sekundärverwertungen etc.). Die eigentliche Untersuchung der Filme selbst sollte sich nach den etablierten Methoden der Filmanalyse orientieren, d.h., Grundlage von Einzelanalysen sind stets das Sequenzprotokoll und das Einstellungsprotokoll, die auf verschiedenen Ebenen systematisch den Handlungsverlauf, die filmischen Techniken (Einstellungen, Bewegungen, Schnitt, Licht) und die Filmmusik berücksichtigen. Die akustische Dimension wird in kulturwissenschaftlichen Analysen im Vergleich zur Bild- und Textebene oftmals vernachlässigt – die filmische Sprache ist jedoch nur integral als »Klangbildgeschehen« zu entschlüsseln.275 In diesen Bereich der eigentlichen Filmanalyse fällt auch die Kontextualisierung mit bereits vorhandenen Filmen oder Literaturvorlagen, aus denen ggf. »zitiert« wird, und mit aktuellen Filmtrends, die Aufschluss über offenbar relevante oder kommerziell erfolgreiche Inhalte oder Stilmittel geben können. Wissenssoziologisch können diese Entwicklungen als Spiegel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des Kinos und seiner letztlich stets wirtschaftlich begründeten Krisen(bewältigung) aufgefasst werden, die mit dramaturgischen Mitteln (Monumentalszenen, Schlichtheit, action, physische »Nähe«) und neuer Technik (3-D, Sound) inhaltliche Verschiebungen bewirken können.276 Besondere Fokussierungen sind für die Analyse von Dokumentarfilmen und Werbe273 | Ein interessanter Fall wäre in diesem Zusammenhang die »Hochzeit in Weiß«, die sich in den Städten der Volksrepublik China seit den 1990er Jahren zumindest für die mediale Repräsentation (Hochzeitsfotos), nicht aber unbedingt für das säkulare Eheschließungsritual und die Hochzeitsfeier selbst durchgesetzt hat. 274 | Mohr führt die Unterscheidung zwischen Filmen über Religionen versus Filmen von Religionen ein: also Fremd- und Eigendarstellung, also Dokumentation zur Religionsinformation gegenüber Eigenwerbung. Die Grenzen lassen sich allerdings nicht scharf ziehen, denn wenn ein buddhistisch inspirierter Regisseur einen Film über den Buddha dreht, ist dies auch ein Film von Religionen (wie bspw. Bertoluccis Little Buddha). Vgl. Mohr 2008, 130f. 275 | Vgl. Keppler 2006a, 69-73; Keppler 2006b, 67-76. 276 | Vgl. Korte 2004, 26-68; Faulstich 2008, 26-63; De Fleur 1973, S. 26-33. Eine wissenssoziologisch fundierte Methode der Fernsehanalyse stellt Keppler (2006a, 86142) vor.
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filmen nötig.277 Eine Profilierung der Akteure einer Filmproduktion wie Drehbuchautoren, Produzenten, Regisseure, Kameramänner/-frauen und eventuell Schauspieler kann zum Beispiel im Hinblick auf ein bestimmtes religiöses Bekenntnis – man denke an Mel Gibson oder Wim Wenders – in diesem Zusammenhang ebenfalls hilfreich sein. Ein letzter Bereich im Feld von Religion und Film umfasst das Verhältnis zwischen dem Mediensystem und den institutionalisierten Formen der religiösen Medienarbeit.278 Wie also können sich die Religionsgemeinschaften in verschiedenen Ländern in der Produktion, Bewertung, Förderung und (sittlichen/ religiösen) Zensur einbringen? Im letzten Fall stellt sich die Frage, auf welcher rechtlich-institutionellen oder informellen Basis diese Filmarbeit steht. Aus den bisherigen Ausführungen ist klar geworden, dass die religionswissenschaftliche Filmforschung erst am Anfang steht und ähnlich wie zu Beginn des cultural turn zunächst ihre epistemologischen Voraussetzungen, Begrenzungen und Potenziale erkennen und entwickeln muss. Gleiches gilt für eine religionswissenschaftliche Fernsehforschung, in einigen Bereichen der Produktion, Rezeption und Medienarbeit der Religionsgemeinschaften ist eine enge Bezugnahme von Film und Fernsehen von Nöten, da erstens viele Filmprodukte sekundär im Fernsehen verbreitet werden und da sich zweitens durch die neuerlichen Entwicklungen des Internet mit film on demand-Systemen die Grenzen zwischen dem klassischem Kinoprogramm, dem Fernsehangebot und dem Internet als Übertragungsmedium auflösen werden.
4.5 D AS TELEFON 4.5.1 Von der Telefonseelsorge zum Twittern So trivial und eindimensional die Verbindung von »Telefon und Religion« zunächst klingen mag, so vielfältig gestaltet sich das empirische Feld, das sich bisher – von wenigen Ausnahmen abgesehen – gänzlich dem religionswissenschaftlichen Zugriff entzogen hat. Im Gegensatz zur optischen und elektrischen Telegrafie, die auf der Übermittlung und fachkundigen Entzifferung von codierten Strom- oder Lichtsignalen basiert, wurde mit der Erfindung des Telefons die direkte Übermittlung von gesprochener Sprache im Dialog zweier Kommunikationsteilnehmer möglich. Nachdem das Telefon durch Alexander Graham Bell (1847-1922) auf der Grundlage zahlreicher vorhergehender Erfindungen verschiedener Forscher 277 | Vgl. Kuchenbuch 2005, 277-294, 325-350. 278 | Vgl. Mohr 2008, 125ff.
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1876 endlich zur Marktreife gebracht wurde, konnten in den Folgejahren in den Vereinigten Staaten, Deutschland und anderen europäischen Staaten zunächst die ersten Lokalnetze in den größeren Städten und ab den frühen 1880er Jahren die Fernverbindungen aufgebaut werden. Schon bald überwog die Zahl der privaten Nutzer diejenigen der geschäftlichen, für das Jahr 1936 werden im Deutschen Reich bereits 3,4 Millionen Telefonanschlüsse verzeichnet.279 Neben den allgemeinen Veränderungen von Kommunikationsmöglichkeiten über Distanz, die natürlich auch die Organisation religiöser Institutionen betrafen, löste der Gebrauch des Telefons bei der religiösen Gemeinschaft der Amischen in den Vereinigten Staaten und im ultraorthodoxen Judentum eine tiefer gehende Diskussion um die adäquate – das heißt dem religiösen Selbstverständnis entsprechende – Nutzung des neuen Mediums aus. Technik und auch das Telefon werden von den Old Order Amischen nicht an sich als »böse« angesehen, sondern die mit der Nutzung bestimmter Techniken verbundenen Lebensweisen werden als Bedrohung des familiären und gottgefälligen Lebens empfunden. In Bezug auf das Telefon bestand bei den Amischen die Befürchtung, dass es zu unnötigem und letztlich schädlichem Geschwätz (gossip) mit Freunden und Bekannten verleite und dadurch auch die Gesprächsgemeinschaft der amischen Großfamilie schwäche. Andererseits erkannten auch die Amischen, dass der Gebrauch des Telefons zur Klärung von Terminen oder in Notfällen durchaus von großem Nutzen sein könne. Das Telefon musste daher – wie es Heidi Campbell ausdrückt – »domestiziert« werden. Die Lösung bestand darin, es eher als gemeinschaftliches denn als individuelles Kommunikationsmittel zu definieren und nutzbar zu machen. Die Telefone werden daher in der Regel nicht im eigenen Haus oder auf dem eigenen Grundstück aufgestellt, sondern in kleinen Telefonhäuschen zwischen den Höfen mehrerer amischer Familien, die das Telefon gemeinsam nutzen.280 Im ultraorthodoxen Judentum in Israel spitzte sich in den Jahren 2004/2005 der Konflikt um den koscheren Gebrauch von Mobiltelefonen zu, das heißt in Einklang mit den rabbinischen Gesetzen. Denn einerseits gab es einen Bedarf, diese praktische Kommunikationstechnologie zu nutzen, andererseits verstieß dessen Nutzung gegen grundlegende, religiöse Lebensnormen in den ultraorthodoxen Gemeinschaften. Die erste Sorge galt dem Problem, dass Frauen in der Öffentlichkeit mit Mobiltelefonen sprechen würden. Die Stimme der Frau könnte den Mann versuchen und ihn zu sehr von seinen religiösen Pflichten ablenken – die Frau hat im Beisein von nicht-verwandten Männern daher in der Regel zu schweigen. In Musikgeschäften der ultraorthodoxen Israelis sind aus diesem Grund nur Gesänge von Männern zu hören, in ultraorthodoxen Radiostationen werden nur Männerstimmen zu hören sein (sogar in Call-in-Shows). 279 | Vgl. Thomas 1995, 5-86. 280 | Vgl. Campbell 2005, 4; Zimmermann-Umble 1992.
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Der Gebrauch von Mobiltelefonen durch Frauen in der Öffentlichkeit stellte also ein moralisches Problem dar. Auch wurde die Privatisierung von Sozialbeziehungen kritisch gesehen, denn gerade die Heranwachsenden konnten sich mithilfe von Mobiltelefonen der Kommunikationskontrolle der Eltern entziehen. Diese Herausforderungen konnten noch mit angepassten Verhaltensregeln gelöst werden. Als jedoch die Mobiltelefone der 3. Generation auf den israelischen Markt gebracht wurden, sah man unüberwindbare Schwierigkeiten in dem freien Zugang zum Internet und seinen säkularen und sexualisierten Inhalten. Es setzte eine Diskussion innerhalb der israelischen Gemeinschaft ein, die dazu führte, dass der Rat der Rabbiner Verhandlungen mit den israelischen Telefonanbietern und Herstellern aufgenommen hat. Am Ende dieses Prozesses wurde 2005 ein koscheres Mobiltelefon auf den Markt gebracht, das nur die reine Telefonie erlaubte und andere Dienste wie den Zugang zum Internet, SMS und Bildtelefonie unterdrückte. Diese Telefone sind mit einem speziellen und deutlich sichtbaren Aufkleber versehen, so dass auch eine soziale Kontrolle möglich ist.281 Über das spezielle Problem der Amischen und ultraorthodoxen Juden hinaus erlangte das neue Medium für die im Deutschen so bezeichnete »Telefonseelsorge« eine besondere Bedeutung. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden protestantische Pfarrer auf die steigende Zahl von Selbstmorden in den Großstädten aufmerksam und schalteten daher Zeitungsanzeigen mit ihrer Rufnummer und einem helfenden Gesprächsangebot. So etablierte schon 1895 der Baptistenpfarrer Harry Warren in New York City die erste rund um die Uhr erreichbare Notrufnummer für Suizidgefährdete. Aufgrund der erschreckenden Feststellung, dass sich täglich etwa neun Menschen in London das Leben nahmen, begründete 1953 der anglikanische Priester Edward Chad Varah (19112007) die Organisation der Samaritans, die bald landesweit eine crisis hotline zur Verfügung stellte. Auf Initiative des Psychologen und Theologen Klaus Thomas (1915-1992) und des ökumenischen St. Lukas-Ordens wurde auch in Deutschland ab 1956 die »Ärztliche Lebensmüdenbetreuung« aufgenommen. In Kassel und in Frankfurt entstanden zu gleicher Zeit die Telefonseelsorge für Lebensmüde des evangelischen Kirchenrates Erich Stange bzw. der Frankfurter Notruf der katholischen Sozialarbeit um Karl Pehl.282 In der Schweiz startete 1957 die Dargebotene Hand, die bis heute von einem Netzwerk gemeinnütziger Organisationen getragen wird. In Deutschland wird die Telefonseelsorge derzeit gemeinsam von der Evangelisch-Katholischen Kommission, der Evangelischen Konferenz für Telefonseelsorge und Offene Tür e.V. und der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger für Beratung koordiniert. Von den 105 Telefonseelsorgestellen 281 | Vgl. Campbell 2010, 162-179. 282 | Vgl. Habenicht 1995, 11-16.
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in Deutschland sind 67 ökumenische Kooperationen, neun sind in rein katholischer, 30 in rein evangelischer Trägerschaft; die Finanzierung ist hier zum größten Teil durch Kirchensteuermittel gesichert. Eine apologetische oder missionarische Gesprächsführung ist hierbei nicht erwünscht, dem Gegenüber soll ohne Vorbehalte geholfen werden; die Thematisierung von christlichen Lebensorientierungen ist jedoch auch nicht ausgeschlossen. Erst 1997 wurde die Telefonseelsorge mit einheitlicher Rufnummer deutschlandweit zusammengefasst und gilt seither als geschützter Begriff. International ist die Arbeit mit verbindlichen Leitlinien für die Gesprächsführung und die Ausbildung der Mitarbeiter in den zwei Dachverbänden der Samaritans und der International Federation of Telephonic Emergency Services organisiert.283 Unter Wahrung der Verschwiegenheitspflicht und der Anonymität beider Gesprächspartner wird eine telefonische Beratung, Krisenbegleitung und Seelsorge gelegentlich auch über längere Zeiträume bei psychischen und psychosozialen Konflikten aller Art angeboten. Um eine möglichst niedrige Kontaktschwelle zu gewährleisten, sind die Anrufe in Deutschland kostenlos und die Rufnummern über das ganze Jahr zu jeder Zeit erreichbar. Die ca. 7000 ehrenamtlichen und ca. 300 hauptamtlichen Mitarbeiter werden wegen der hohen emotionalen Belastung kontinuierlich geschult und Supervisionen unterzogen.284 Seit 1995 besteht auch die Möglichkeit, die Mitarbeiter der Telefonseelsorge per E-Mail oder Chat zu kontaktieren.285 Unabhängig von der Dargebotenen Hand haben katholische und reformierte Geistliche in der Schweiz eine Internetseelsorge ins Leben gerufen, die schon seit 1999 auch Beratungen per SMS ermöglicht.286 Die katholische Kirche in Deutschland bietet darüber hinaus seit Jüngstem auch umfangreiche SMS-Dienstleistungen an: Man kann sich zum Abendgebet oder während der österlichen Fastenzeit täglich einen Bibelvers zusenden lassen oder aber per SMS einen Reisesegen anfordern.287 Dass es sich bei der Telefonseelsorge in Deutschland um kein randständiges Phänomen handelt, verdeutlichen die detaillierten Statistiken: Im Jahr 2007 wurden knapp 1,6 Millionen tatsächliche Beratungsgespräche geführt, die häu-
283 | Vgl. www.ifoteorg und www.samaritanorg (01.09.2009). 284 | Vgl. Dietel 2002, 33f.; Wieners 2005, 118f.; Weiss 2006. 285 | Vgl. Röhl 2006; www.telefonseelsorge.de (01.09.2009). 286 | Vgl. www.seelsorge.net/index.php?id=13&L=0 (01.09.2009). SMS-Beratungen sind schon seit mehreren Jahren auch in christlichen Freikirchen verbreitet. Mit Hinweisen auf Bibelverse werden persönliche Probleme angegangen. 287 | Vgl. www.kirche.tv, SMS-Dienstleistungen unter der Rubrik »Service« (01.09. 2009).
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figsten Problemfelder umfassten psychische und physische Krankheiten, Vereinsamung und fehlenden Lebenssinn.288 Die kirchlich getragene Telefonseelsorge in Deutschland bildet seit der Möglichkeit der Abrechnung von Telefondienstleistungen über die Telefonrechnung (sogenannte Mehrwertdienste) ab Ende der 1980er Jahre allerdings nur eine Facette der telefonischen und religiös orientierten Lebensberatung. Ein Blick bspw. in den Anzeigenteil der wöchentlichen Horoskop-Zeitschrift Astrowoche vermag einen Eindruck von der Vielfalt kommerzieller Lebensberatung zu vermitteln. Auf der Grundlage astrologischer Horoskope, Hellseherei, Kaffeesatzlesen oder Tarotkarten werden in kostenpflichtigen Telefongesprächen Divinationsdienste und ferner magische Leistungen angeboten, die Partnerzusammenführungen, Geschäftsmagie, Schutzzauber, Energieübertragungen bei Immobilienverkäufen und Gerichtsprozessen, Exorzismus, Dämonenbezwingung, Chakra- und Aurareinigungen und Kontakte ins Jenseits oder mit Engeln vermitteln.289 Der deutsche Marktführer auf dem Gebiet der telefonischen Lebensberatung »rund um Astrologie, Horoskope und Kartenlegen« ist die im Jahr 2000 gegründete Questico AG mit Sitz in Berlin. Ca. 2600 selbstständige Berater sind über das Portal von Questico telefonisch erreichbar und decken an die 40 Spezialtechniken der Divination ab, darunter Finanz- und Börsenastrologie, Karmaastrologie, psychologische Astrologie, Crowleykarten, Orakel- und Engelkarten, Channeling, Engelkontakte, Fern-Reiki, Runen, automatisches Schreiben etc. Anders als in der Telefonseelsorge verfügt jede Beraterin (es sind fast ausschließlich Beraterinnen) über ein ausführliches persönliches Profil mit einem Überblick über bisherige Kundenbewertungen und die Anzahl der geführten Gespräche. Dies ermöglicht den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen der Beraterin und dem Kunden und bei Zufriedenheit natürlich die Chance eines andauernden Kontaktes. Einige der beliebtesten Beraterinnen kommen auf über 50.000 geführte Gespräche, die Minutenpreise sind individuell gestaltbar und liegen in der Regel zwischen einem und drei Euro. Neben dem Telefonportal verlegt die Questico AG noch die mit 250.000 Exemplaren auflagenstärkste monatliche Astrologiezeitschrift Zukunftsblick, sie betreibt mit TheCircle das umfangreichste Lebensberatungstelefonportal in Großbritannien und unterhält noch das kostenlose, astrologische Internetangebot NoéAstro, das für individuelle Beratungen wiederum auf Questico verweist. Außerdem können 20 Millionen Haushalte per Kabelfernsehen oder per Internet-Livestream den Spartensender AstroTV empfangen. Die Sendungen werden großenteils von den Questico-Beraterinnen gestaltet, die hier ihre Beratungsdienstleistungen 288 | Vgl. www.telefonseelsorge.de/hintergrund/telefon_2007-2009.htm (01.09. 2009). 289 | Vgl. Anzeigenteil der Astrowoche. Das große Schicksalshoroskop Nr. 1, 2009, 2, 67, 75.
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oder aber die Artikel des überwältigend umfangreichen Astro TV Shops bewerben.290 Schon seit 2000 ist in der Schweiz der Anbieter Zukunftsblick mit ähnlicher Struktur wie Questico mit einigen Dutzend Beraterinnen und Beratern aktiv.291 Der Hellseher und Astrologe Mike Shiva (*1966) hat jüngst mit vergleichbarem Erfolg einen Telefonberatungsdienst mit 60 Mitarbeitern und entsprechenden Angeboten im privaten Rundfunk und Fernsehen aufgebaut.292 Es ist zu erwarten, dass sich ähnlich wie im Erotiksektor mindestens ein Teil der »esoterischen« Telefonberatung in die Cam-to-Cam-Kommunikation via Internet verlagern wird, die ein noch intensiveres Vertrauensverhältnis und eine engere Kundenbindung zwischen Beraterin und Kunde ermöglichen wird. Eine besondere Spielart der »seelsorgerischen Beratung« per Telefon stellen noch die teils kirchlich getragenen Gesprächssendungen im privaten und öffentlich-rechtlichen Hörfunk dar, auf die ich in der weiteren Erörterung eingehen werde. Eine weitere Variante der religiösen Einbettung des Telefons sind Wohltätigkeits- oder Verkaufssendungen im Fernsehen, die vor allem im amerikanischen Televangelism verbreitet sind. Dadurch, dass die Telefonisten (manchmal auch Prominente) oder zumindest die Anzahl der Anrufe, der gespendeten Gelder, der gekauften oder noch zu erstehenden Artikel sichtbar gemacht werden, entstehen auf verschiedenen Ebenen Motivationen, sich am verfolgten Geschehen zu beteiligen. Etabliert und nicht nur als Migrationsphänomen zu bewerten sind außerhalb der christlichen Telefonseelsorge auch die Fatwa-Hotlines islamischer Gelehrter. Per Telefon oder E-Mail können die Anfragen aus dem In- oder Ausland versendet werden. Bereits im Jahr 2000 begann die Al-Azhar Universität in Kairo mit diesem Service. Die Anfragen werden dort innerhalb von zwei Tagen von Rechtsgelehrten im Hinblick auf den spezifischen Fall beurteilt.293 Nur punktuell liegen Erkenntnisse über die religiöse Nutzung des Kommunikationsservice Twitter vor.294 So kann man feststellen, dass in den Vereinigten Staaten erfolgreiche christliche Twitter bis zu 40.000 followers haben,295 während die besonders in den Freikirchen aktive Szene in Deutschland mehrere 290 | Vgl. www.questico.de; www.noeastro.de/noeastro/cms/de/index.html; www.the circle.com; www.astrotv.de (01.09.2009). 291 | Vgl. www.zukunftsblick.ch (01.06.2010). 292 | Vgl. Stamm 2009; www.mike-shiva.com (01.09.2009). 293 | Vgl. Richter 2009, 114f.; www.asharq-e.com/newasp?section=7&id=16954 (01. 09.2009). 294 | Twitter bezeichnet einen 2006 gegründeten kommerziellen Versendedienst von Mikro-Blogs; der Autor kann hier eine festgelegte Anzahl von Abonnenten (followers) mit so genannten tweets versorgen, zeitnahen Kurznachrichten von max. 140 Zeichen über seine momentanen Erlebnisse, die via Internet oder Mobiltelefon empfangbar sind. 295 | Vgl. http://wefollow.com/twitter/christian (01.09.2009).
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Hundert followers populärer Twitter verzeichnet.296 Im Juni 2009 meldete die Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten in Bergisch Gladbach, dass sie die erste Übertragung eines Gottesdienstes via Twitter vorgenommen habe und nun entsprechende Angebote auch für Senioren vorbereite.297 Aber auch die großen christlichen Kirchen lassen inzwischen twittern: Der Senderbeauftragte der katholischen Kirche für die RTL-Gruppe und die ProSieben Sat1 Media AG, Pfarrer Dietmar Haag, verschickt regelmäßig Papstworte an seine followers und auf dem evangelischen Kirchentag in Bremen im Mai 2009 wurde die gesamte Bibel mithilfe mehrerer Tausend Laien als Twitternachricht versandt.298 Einen gänzlich anderen Bereich der religiösen Nutzung des Telefons betrifft die »Erlebnisqualitäten« des Gerätes, die über die rein telefonisch-funktionalen Aspekte hinausgehen und in jüngster Zeit das Design, die klangliche Gestaltung und eventuelle Zusatzfunktionen von Mobiltelefonen prägen können. Eher die Ausnahme ist wohl das explizit religiöse Design eines Mobiltelefons wie das Nokia N70 in Goldtönen, verziert mit reicher Ornamentik und einem chinesischen Guanyin-Buddha (Avalokiteshvara) auf der Rückseite, das über »buddhistische« Klingeltöne und gespeicherte Sutras verfügen soll.299 Für das Display fortgeschrittener Mobiltelefone besteht eine große Auswahl religiöser, insbesondere christlicher Hintergrundbilder (wallpaper).300 Einen weiteren Bereich – und den im öffentlichen Raum wohl spürbarsten – bilden die religiösen Klingeltöne für Mobiltelefone, die meist kostenpflichtig von entsprechenden Anbietern im Mobilfunknetz oder Internet heruntergeladen werden können. Der Markt ist offenbar so lukrativ, dass sich immerhin für den christlichen Bereich bereits spezialisierte Anbieter (ringfortheking) etabliert haben.301 Der Übergang von einfachen Midi-Tonreihen hin zur Wiedergabe polyphoner Musiktitel als Klingelton markiert bereits die Transformation des herkömmlichen Mobiltelefons zum multifunktionalen Smartphone, wie dem Apple iPhone (2007). Die Entwicklung multipliziert die Möglichkeiten religiöser Medienanwendungen, da hier die Funktionen eines Mobiltelefons mit Internetzugang mit denen eines Text-, Video- und Audioabspielgerätes kombiniert werden. Entsprechend breit ist bereits das bestehende Angebot – im jüdischen Kontext sind bspw. vollständige Text- und Audiofiles für alle wichtigen Gebete
296 | Vgl. www.twitchrist.de/Twitchrist/Home.html (01.09.2009). 297 | Vgl. www.schlosskirche.org (01.09.2009). 298 | Vgl. http://twitter.com/Papstworte; www.ekd.de/aktuell/64009.html (01.01. 2010). 299 | Vgl. www.therawfeed.com/2008/04/buddhist-cell-phone-one-with-everything. html (01.09.2009). 300 | Vgl. www.cellphone-wallpapernet/view/Religion/Christian (01.09.2009). 301 | Vgl. www.tenfish.net/default.asp; www.ringfortheking.com (01.09.2009).
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und rituellen Anlässe verfügbar, im islamischen Kontext werden die qibla (Gebetsrichtung nach Mekka) und die Gebetszeiten angezeigt.302 Ein weiterer interessanter Aspekt ist der Einsatz des Telefons als Symbol, was ich beispielhaft an der internationalen Swami Narayan-Gemeinschaft aufzeigen möchte. Anlässlich seiner mehrstündigen Geburtstagsfeier wurde im BAPS Shri Swaminarayan Mandir in Edison (New Jersey) per Beamer das Bild des führenden Gurus der Bewegung, Pramukh Swāmi Maharaj (*1921), projiziert. Der Guru und die Sadhus der Gemeinschaft befolgen ein äußerst strenges Zölibat, das auch das Anschauen von Frauen strikt verbietet (so dass Frauen, sobald ein Sadhu im Tempel anwesend ist, im hinteren, abgedunkelten Teil des Raumes Platz nehmen müssen). Um so bedeutender ist dann die symbolische Inszenierung von Nähe im Bild des Gurus mit einem Mobiltelefon einzuschätzen, die nicht nur eine prinzipielle Nähe suggeriert, sondern durch das Mobiltelefon einen gewissen Kosmopolitismus zelebriert und dennoch die ständige Erreichbarkeit durch seine Anhänger inszeniert – es sei hier angemerkt, dass vicharan, das Reisen, eine der meist gerühmten Eigenarten von Pramukh Swāmi Maharaj ist und er bzw. seine Anhänger darauf verweisen, dass er inzwischen 15.500 Dörfer und Städte in über 50 Ländern besucht, über 250.000 Wohnhäuser gesegnet, über 500.000 Briefe gelesen und beantwortet, über 810.000 Menschen persönlich beraten und über 700 Tempel gebaut und eingeweiht habe und damit den Guinness-Buch Weltrekord für den Bau des größten Hindu-Tempels und für die größte Zahl von eingeweihten Tempeln hält.303 Einem weiteren Bereich gehört die Verwendung des Telefons innerhalb von Ritualen afro-kubanischer oder afro-brasilianischer Religionen an – des Voodoo, Santeria oder Candomblé – in denen die Kommunikation mit den Gottheiten, Geistern oder Ahnen »per Telefon« vollzogen werden kann. Ein Telefonapparat befindet sich hierbei auf dem Opferaltar oder Schrein und wird symbolisch in die Kontaktaufnahme zu den Gottheiten und Geistern einbezogen.304 Verwandt mit dieser Vorstellung, jedoch mit fließenden Übergängen zu einer rationalistisch-wissenschaftlichen Weltauffassung, ist der instrumentelle Einsatz des Telefons in spiritistischen Traditionen und ihren jüngsten Fortführungen – das Telefon wird hier zur tatsächlichen »fernmündlichen« Kommunikation mit den Geistern der Verstorbenen genutzt. So erreichen uns bereits aus der Pionierzeit des Telefons Berichte aus Brasilien, nach denen das neue Kommunikationsmittel in Anwesenheit medial begabter Personen für die 302 | Vgl. Bunt 2010. 303 | Vgl. www.swaminarayan.org; http://en.wikipedia.org/wiki/Pramukh_Swami_Ma haraj (15.07.2009). Pramukh Swami und seine Organisation der BAPS bildet allerdings nur einen Teil der von Swami Narayan (1781-1830) begründeten Bewegung ab. 304 | Vgl. Auffarth 1999, Tafel 7, 21.
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Konversation mit Verstorbenen eingesetzt wurde.305 Um den brasilianischen Spiritisten Oscar d’Argonnel (d. i. Carlos G. Ramos) sammelte sich die Grupo de Espiritismo Experimental, die vormals mit der sehr verbreiteten Methode der Klopfzeichnen Kontakt mit den Geistern Verstorbener aufgenommen hatte. Im Zeitraum zwischen 1919 und 1925 konnte nun angeblich per Telefon Kontakt zu Verstorbenen hergestellt werden. Das 1925 von d’Argonnel veröffentlichte Buch Vozes do Além pelo Telephone. Novo e admiravel systema do communicação. Os espiritos fallando pelo telephone zählt die einzelnen Fälle und die Umstände der Kontaktaufnahme auf.306 Bemerkenswert ist an d’Argonnels Buch, dass er zur weiteren Legitimation seiner Berichte auf ähnliche Phänomene in Europa und den Vereinigten Staaten verweist, die der heutigen spiritistischen bzw. parapsychologischen Literatur teilweise unbekannt sind. Er wiederholt die in der Weltpresse popularisierte Nachricht, dass Thomas A. Edison einen Apparat zur Kommunikation mit den Toten konstruiert habe, und führt weitere Personen auf, die die Entwicklung eines Psychophons ankündigen oder ein entsprechendes Gerät schon besitzen würden: George Lethem, George Garscadden, Arthur Conan Doyle.307 Ausführlich schildert d’Argonnel die spiritistischen Erfolge, die in England F.R. Melton via Telefon erzielt habe und die sogar mit der Materialisation von Ectoplasma verbunden seien.308 Eine neue Blüte erlebten diese spiritistischen Telefonphänomene seit Ende der 1970er Jahre, als in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Brasilien vermeintliche Telefonanrufe Verstorbener bzw. ihre Nachrichten auf Anrufbeantwortern beobachtet wurden. Wo man die Telefongesellschaften um eine Überprüfung bat, konnten keine getätigten Anrufe nachgewiesen werden, so dass man davon ausging, dass die Verstorbenen zwar den Telefonapparat zur direkten Kommunikation nutzen würden, jedoch nicht die technische Telefonleitung: Das Telefon würde bei den entsprechenden Anrufen anders klingeln und auch Apparate, die nicht ans Telefonnetz angeschlossen seien, könnten Transkontakte herstellen. Innerhalb der instrumentellen Transkommunikation bilden die Telefonphänomene neben den Radio- und Tonbandstimmen jedoch nur einen Randbereich ab.309 305 | Vgl. Fischinger 2003, 39. 306 | Dt.: Die Stimmen aus dem Jenseits durch das Telefon. Das neue und wundersame Kommunikationsmittel. Die Geister reden durch das Telefon. Vgl. D’Argonnel 1925, 2-28. 307 | Vgl. D’Argonnel 1925, 29-31. Zumindest Sir Arthur Conan Doyle ist als Spiritist bekannt, er verfasste 1926 die History of Spiritualism. 308 | Vgl. D’Argonnel 1925, 33-35. 309 | Vgl. Fischinger 2003, 39f., Senkowski 2000, 31-34. Richtungsweisend war hier zunächst Scott Rogos und Raymond Bayless Phone Calls from the Dead (1980). Der Bereich der instrumentellen Transkommunikation wird anschließend im Kapitel zum Hör-
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4.5.2 Perspektiven der religionswissenschaftlichen Kommunikationsforschung Soweit dies zu überblicken ist, befasst sich – mit einer Ausnahme – die gesamte wissenschaftliche Auseinandersetzung in dem Bereich der religiösen Nutzung des Telefons erstens mit der Telefonseelsorge und zweitens mit den damit verbundenen praktisch-theologischen bzw. pastoralpsychologischen Fragestellungen. Kurz nach der Gründung der ersten Telefonseelsorgedienste in Deutschland setzte auch die theologische Reflexion über diese neue Form von psychologischer Nothilfe und Seelsorge ein: Erich Stanges Monografie Telefonseelsorge (1961) und Chad Varahs auch international verbreitetes Werk Samariter. Hilfe durchs Telefon (1966) fassten die ersten Erfahrungen zusammen und erstellten Leitlinien für die Gesprächsführung und Organisation des Telefondienstes. Inzwischen besteht eine umfangreiche theologische Literatur, die sowohl eine Einsicht in die statistischen Daten der seelsorgerischen Telefongespräche (Sozialstruktur der Anrufer, Gesprächsthemen) als auch in die praktisch-theologische Diskussion vermittelt. Einen aktuellen Überblick über die gesamte Bandbreite des Themenbereiches bietet Traugott Webers Handbuch Telefonseelsorge (2006).310 Die entsprechenden lexikalischen Einträge in der Theologischen Realenzyklopädie und in Religion in Geschichte und Gegenwart sind durchweg historisch und praktischtheologisch ausgerichtet;311 das sonst so »medienfreundliche« Metzler Lexikon Religion wie auch andere einschlägige religionswissenschaftliche Enzyklopädien ignorieren das Thema vollständig. Nur in wenigen der praktisch-theologischen Ansätze werden medienwissenschaftliche Forschungsstrategien verfolgt, die über die Diskussion pastoralpsychologischer Problemstellungen hinausweisen. Hanspeter Schmidt bspw. untersucht unter einer weiter gefassten Perspektive die medialen Effekte des Telefons auf die spezifische Gesprächssituation der fernmündlichen Seelsorge.312 Abgesehen von der bereits referierten Untersuchung zur Domestizierung des Telefons bei den Amischen von Diane Zimmermann-Umble gibt es offenbar keinerlei systematische Forschungen zur religiösen Nutzung des Telefons, die über das Feld der Telefonseelsorge der beiden christlichen Großkirchen in Deutschland hinausgeht oder gar den kommerziellen, »esoterischen« Beratungsangeboten Beachtung schenkt. Auch zur religiösen Nutzung von SMS funk diskutiert. Eine Sammlung von Hörbeispielen (und Literatur) findet sich unter www. tonbandstimmen.de (01.07.2011). 310 | Vgl. Weber 2006. Biener erfasst in einer älteren Publikation immerhin auch das Phänomen der Telefonpredigt. Vgl. Biener 1992. 311 | Vgl. Dietel 2002; Wieners 2005. 312 | Vgl. Schmidt 1990, 364-368.
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und Twitter liegen offenbar noch keine Forschungen vor, ganz zu schweigen von den religiösen Zusatzfunktionen und Erlebnisqualitäten von Mobiltelefonen. Der gesamte Bereich der sogenannten instrumentellen Transkommunikation mithilfe des Telefons blieb von wissenschaftlicher Seite aus bisher völlig unbeachtet.
4.6 H ÖRFUNK 4.6.1 Von Radio Vatikan zu Big Spirit Nach einer längeren technischen Vorgeschichte und einer Phase der erfolgreichen »drahtlosen Telegraphie«, in der lediglich elektrische Impulse akustisch übertragen wurden, begann die Geschichte des öffentlichen und kommerziellen Rundfunks am Heiligabend des Jahres 1906 mit einem allerersten Radioprogramm, das von Brant Rock in Plymouth County (MA) ausgestrahlt wurde. Der kanadische Erfinder Reginald Aubrey Fessenden (1866-1932), der schon mehrere Jahre mit der Übertragung von Radiosignalen an der amerikanischen Ostküste experimentierte, spielte zu diesem Anlass auf der Violine das Weihnachtslied O Holy Night von Adolph Adam und las das zweite Kapitel des Lukasevangeliums (Geburt Jesu) vor. Die Zuhörer waren zu diesem Zeitpunkt allerdings nur eine unbekannte Anzahl von Seeleuten mit ersten Radioempfängern.313 Allerdings verstrich mehr als ein weiteres Jahrzehnt, bis in den Vereinigten Staaten, Südamerika und Europa die ersten Radiolizenzen vergeben wurden und ab 1920 mehrere Stationen begannen, Live-Programme auszustrahlen. Wegen mangelhafter Aufzeichnungsmöglichkeiten waren fast alle Radioübertragungen der ersten Jahrzehnte reine Live-Übertragungen von Wort- und Musikbeiträgen. Bereits am 2. Januar 1921 begann die erste kommerzielle Radiostation der Vereinigten Staaten, KDKA Pittsburgh, mit der regelmäßigen Übertragung des sonntäglichen Abendgottesdienstes der Calvary Episcopal Church für mehrere Tausend Zuhörer in der Region. Schnell wurde das missionarische Potenzial des Radios von evangelikalen Predigern entdeckt, die das neue Medium nicht bloß zur Übertragung eines protestantischen Gottesdienstes nutzen wollten, sondern hier die Möglichkeit sahen, in der Tradition der Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts große Menschenmassen mit der Botschaft des Evangeliums zu erreichen und von einem christlichen Lebensideal zu überzeugen. Der Vorteil des Radios wurde insbesondere darin gesehen, auch kirchenferne Personen und Schichten zu erreichen, die für den Besuch einer Bekehrungsveranstaltung oder eines Gottesdienstes nicht zu motivieren gewesen wären. Pastor Paul Rader (1879313 | Vgl. Douglas 1987, 156f.; Fessenden 1940, 153-154.
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1938) vom Chicago Gospel Tabernacle war der erste Prediger, der das Radio systematisch zur Missionierung einsetzte und auch die Grundzüge des neuen Formates einer Radiopredigt entwarf. Der Erfolg seiner ersten Predigt, die er im Sommer 1922 von einem improvisierten Studio in der Chicagoer Stadthalle aus sendete, veranlasste Rader und den lokalen Sender WBBM von nun an jeden Sonntag ein vierzehnstündiges christliches Radioprogramm auszustrahlen. Die Sendung des sogenannten WJBT – Where Jesus Bless Thousands – schloss Chorgesänge, Orgelkonzerte, Predigten und auf das Publikum zugeschnittene Sendeformate wie die Healing Hour oder die Bible Drama Hour ein. Derweil wurde 1923 in Kalifornien die erste von einer Kirche betriebene Radiostation gegründet, die KFSG (Kalling Fourthsquare Gospel) in Santa Monica (CA), die die evangelikale Pastorin Aimee Semple McPherson (1890-1944) für die Übertragung ihrer Predigten initiiert hatte. Neben den fundamentalistischen und liberalen christlichen Kirchen nutzen auch andere religiöse Gemeinschaften das Radio für die Verbreitung ihrer Ideen. Auf Anregung des Imperators Harvey Spencer Lewis (1883-1939) ging 1927 in Tampa (FL) der Ancient and Mystical Order Rosae Crucis auf Sendung und bot Chormusik, metaphysische Diskussionen und Wortbeiträge, Nachrichten und Hörspiele an. Im Zuge der fortschreitenden staatlichen Regulierung in den Vereinigten Staaten verlor rund die Hälfte aller religiösen Radiosender zu Beginn der 1930er Jahre ihre Sendelizenzen. Gleichzeitig wurde der Rundfunk in der Folge des Communications Act von 1934 immer stärker durch die großen Netzwerke CBS und NBC dominiert, die allerdings freie Sendezeiten für Programme »im öffentlichen Interesse« reservieren mussten. Die großen Institutionen des kirchlichen Mainstreams konnten auf diese Weise lokale Gottesdienste, erbauliche Dokumentationen, Reportagen und Diskussionen mit bekannten religiösen Führern präsentieren.314 Dies führte jedoch gleichzeitig zu einem Ausschluss der evangelikalen und fundamentalistischen Freikirchen (non-denominational), die ca. ein Drittel der amerikanischen Kirchen ausmachten, aus dem öffentlichen Radioprogramm. Vereinzelt gelang es erfolgreichen Predigern wie Charles E. Fuller (1887-1968), sich mit erkauften Sendezeiten im kommerziellen Radio zu etablieren. Fullers Old Fashioned Revival Hour, die aus seinen Radio-Bibelstunden in den 1920er Jahren in Los Angeles hervorgegangen waren, erreichte Ende der 1930er Jahre landesweit ca. elf Millionen Zuhörer und wurde in der Folgezeit auch in Europa, Südamerika und Asien ausgestrahlt. Neben Predigten und einem professionellen Gospel-Chor führte Fuller in seinen Programmen auch für das Publikum äußerst attraktive Neuerungen ein, die der herkömmli-
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che Gottesdienst nicht bot: Er beantwortete Briefe seiner Zuhörer und schon ab 1930 konnten Zuhörer ihm in seiner phone-in-show telefonisch Fragen stellen. Die Monopolisierung der freien Sendezeiten in den öffentlichen Radionetzwerken durch die etablierten Mainstream-Kirchen hatte jedoch auch zur Folge, dass sich die ausgeschlossenen Freikirchen organisierten und sich 1942 für die politische Lobbyarbeit zur National Association of Evangelicals (NAE) zusammenschlossen und drei Jahre später den Verband der National Religious Broadcasters (NRB) ins Leben riefen. Die Mitglieder der NRB verpflichteten sich, gesetzliche und ethische Standards einzuhalten, und konnten andererseits auf die finanzielle Unterstützung des landesweiten Zusammenschlusses zählen. Große Veränderungen der Rahmenbedingungen für religiöse Radioprogramme ergaben sich nochmals in den 1970er Jahren mit der Ablösung der AM-Übertragungstechnik durch den rauschfreien FM-Standard.315 Die veralteten AM-Frequenzen, die dann nur noch ein kleineres Publikum ansprachen und somit günstiger zu erwerben waren, werden seit dieser Zeit vor allem von unabhängigen, pfingstlerischen (holiness-pentacostals) Predigern genutzt, die nur selten über eine formale theologische Ausbildung verfügen und einen sehr unstrukturierten und emotionalen Predigtstil verfolgen. Verbreitet ist in diesen Programmen auch das Verlesen von langen Namenslisten mit Personen, die in das Gebet der Gemeinschaft eingeschlossen werden sollen. Diese Praxis ist aus den pfingstlerischen Gottesdiensten in das Radioformat übertragen worden: Gemeindemitglieder, die aufgrund persönlicher Krisen oder Krankheiten der Hilfe und Unterstützung der Gemeinschaft bedürfen, werden häufig am Ende des Gottesdienstes für ein gemeinsames Gebet mit Handauflegung oder Umarmung mit dem Pastor und/oder seinen Helfern nach vorne gerufen oder ihre Namen werden bei Abwesenheit (vor allem bei Kranken) vor dem gemeinsamen Gebet verlesen. Obwohl diese unabhängigen AM-Radio-Prediger nur über ein geringes, meist auf Spenden basierendes Budget verfügen, erreichen sie mit ihren inspirierten Mahnreden, die sich gegen Lotterien, Glückspiel, Kneipen und Alkoholkonsum wie auch Homosexualität und Abtreibungen richten, bis heute vor allem im Südosten der Vereinigten Staaten eine umfangreiche Zuhörerschaft.316
315 | Gegenüber der Amplitudenmodulation (AM) ermöglicht die Frequenzmodulation (FM) einen höheren Dynamikumfang des Informationssignals und ist daher weniger anfällig für Rauschen und Störungen; das neue technische Sende- und Empfangsformat setzte sich in Europa bereits seit den 1950er Jahren durch, in den USA flächendeckend erst seit den 1970er Jahren. 316 | Vgl. Goethals & Lucas 2005, 7709-7711. Zu den AM-Radio-Predigern vgl. Dorgan 1993, Hangen 2002; einen Überblick über die historische und heutige religiöse Medienlandschaft in den USA bieten Melton & Lucas & Stone 1997.
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Während das Radio einerseits aufgrund der Konkurrenzsituation der vielen Kirchen und andererseits aufgrund der großen geografischen Streuung der Bevölkerung in den USA praktisch von allen Kirchen als neues und effizientes Instrument der Seelsorge und Mission begrüßt wurde, setzt sich in Deutschland ein Streit innerhalb der christlichen Theologien fort, der mit den zunehmenden Möglichkeiten der technischen Vervielfältigung (Printmedien) und Verbreitung (Hörfunk, Fernsehen) einhergeht. Den neuen Medien wurde teilweise mit der Angst begegnet, dass die medienkonforme Darreichung der christlichen Botschaft eine Verwässerung der Lehre bedinge, was bis heute zu einer eher peripheren Stellung der Medienarbeit innerhalb der deutschen Kirchen geführt hat. Dem Diktum August Hinderers, dass man als Kirche in der Gesellschaft »nicht Sonderung, sondern Mitwirkung« praktzieren wolle, steht die Warnung Karl Barths vor einer Selbstrepräsentation der Kirche gegenüber. Es stand nun einerseits die Frage nach der »parasitären Partizipation« der Kirche an den Medien im Raum und andererseits die Frage nach dem Verhältnis zwischen evangelischer Publizistik und dem Verkündigungsauftrag der Kirche. Der einflussreiche Bonner Theologe Hans Joachim Iwand sah die Gefahr einer »gemalten Öffentlichkeit«. Robert Geisendörfer dagegen betrachtete die Medien als eine Gabe Gottes an die Menschen des 20. Jahrhunderts.317 In dieser Spannung vollzog sich die Medienarbeit der Kirchen im Radio und im Fernesehen. Nachdem die Berliner Radiostunde AG am 9. November 1923 mit der ersten Nachrichtensendung die Rundfunkära in Deutschland einläutete, fanden schon 1924 Programmverhandlungen zwischen den Kirchen und den Rundfunkbetreibern statt – mit der parallelen Einrichtung des Evangelischen Preßverbandes entwickelte die evangelische Kirche gerade ein neues Verständnis ihrer Verkündigungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Am 6. Juli 1924 wurde die erste »Morgenfeier« des Frankfurter Wartburgvereins vom Südwestrundfunk übertragen.318 In der Schweiz wurden sogar schon seit Anfang 1924 regelmäßig französischsprachige Predigten vom Sender Lausanne ausgestrahlt.319 Die Produktion kirchlicher Sendungen, die Gottesdienstübertragungen, »religiöse Feiern«, Morgenandachten, Vertragszyklen, spezifische Nachrichten und Lesungen umfasste, wurde ab 1930 von den Rundfunkreferaten in den Kirchenleitungen koordiniert. Die Rundfunkarbeit der katholischen Kirche wurde ab 1927 vom Zentralbildungsausschuß der katholischen Verbände Deutschlands und ab 1929 auf internationaler Ebene vom Internationalen Katholischen Rundfunkbüro koordiniert. Diese Arbeit wurde jedoch ab April 1939 von der NS-Diktatur voll-
317 | Vgl. Achtelstetter 2000, 705; Hess 1978, 9-14. 318 | Kranemanns Datierung der ersten deutschen Gottesdienstübertragung auf 1932 bezieht sich vermutlich nur auf die katholische Messe. Vgl. Kranemann 2007, 182. 319 | Vgl. Jecker 2009, 109.
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ständig unterbunden und auf protestantischer Seite zuvor meist auch nur von Rednern der Deutschen Christen durchgeführt.320 Während der Staatsrundfunk in der DDR nur in geringem Umfang Sendungen der Kirchen zuließ,321 beteiligten die Besatzungsmächte in Westdeutschland und Berlin die Kirchen systematisch am Wiederaufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.322 Die beiden christlichen Großkirchen sind von Beginn an in den Aufsichtsgremien von allen acht Sendeanstalten mit Delegierten vertreten, die für die Programme aller Sparten, einschließlich der Fernsehprogramme, mitverantwortlich sind. Alle Rundfunkräte der sieben westdeutschen Sendeanstalten (BR,323 HR,324 NDR,325 RB,326 SR,327 SWR,328 WDR329) verfügen heute über mindestens je einen Vertreter der beiden christlichen Großkirchen und 320 | Vgl. Schultz 1961, Sp. 1215f; Schmidt 1986, 463; Schmolke 2000, 720. 321 | In der Wiederaufbauphase wurde die evangelische Kirche explizit in die Rundfunkarbeit in der sowjetischen Besatzungszone und der jungen DDR eingebunden, die sich jedoch ab 1950 zunehmend spannungsvoll gestaltete. Vgl. Winter 1979, 79-126. 322 | Vgl. Schultz 1961, Sp. 1218f. 323 | Der Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks (47 Mitglieder) umfasst neben den genannten Vertretern auch Repräsentantinnen der evangelischen und katholischen Frauenverbände, vgl. www.br-online.de/unternehmen/rundfunkrat/der-rundfunk rat-DID1243435643695/bayerischer-rundfunk-rundfunkrat-mit glieder-ID1201 796423206.xml (01.09.2009). 324 | Dem Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks sitzt Jörn Dulige als Vertreter der evangelischen Kirche vor, vgl. www.hr-online.de/website/derhr/home/index.jsp?rubrik=6324 (01.09.2009). 325 | Der 58 Mitglieder zählende Rundfunkrat des Norddeutschen Rundfunks verfügt neben Repräsentanten der christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinde auch über Vertreter kirchlicher Wohlfahrtsverbände (Diakonie, Caritas), vgl. http://www1.ndr.de/ unternehmen/organisation/rundfunkrat/ndr1154.html (01.09.2009). 326 | Zu Radio Bremen, vgl. www.radiobremen.de/unternehmen/organisation/rund funkrat/mitglieder 102.html (01.09.2009). 327 | Neben den genannten Vertretern umfasst der Rundfunkrat des Saarländisches Rundfunks auch Repräsentantinnen der evangelischen und katholischen Frauenverbände, vgl. www.sr-online.de/dersr/608/1068.html (01.09.2009). 328 | Der Südwestrundfunk wird vom 62-köpfigen Landesrundfunkrat Baden-Württemberg und dem 27 Mitglieder umfassenden Landesrundfunkrates Rheinland-Pfalz beaufsichtigt. Hier sind auch die Freikirchen Baden- Württemberg repräsentiert, vgl. www. swr.de/unternehmen/gremien/-/id=3101358/property=download/nid=3496/o2h8v/ index.pdf (01.09.2009). 329 | Der Rundfunkrat des Westdeutschen Rundfunks umfasst 43 Mitglieder mit den genannten religiösen Vertretern, vgl. www.wdr.de/unternehmen/senderprofil/gremien/ rundfunkrat/mitglieder.jsp (01.09.2009).
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inzwischen auch der jüdischen Gemeinden. Teils entsenden auch die evangelischen und katholischen Frauenverbände und Wohlfahrtsverbände noch eigene Vertreter, als einziges Bundesland lässt Baden-Württemberg auch einen Delegierten der Freikirchen zu. Die Rundfunkräte des WDR, des SWR, des HR, von RB und des RBB verfügen zudem über einen Repräsentanten von Migranten-/Ausländer-Verbänden, jedoch ohne eine spezifische religiöse Zuordnung. Dieses System der Einbindung der Kirchen, das auch für den Rundfunkrat des Deutschlandfunks330 und der Deutschen Welle331 angewendet wurde, ist nach der deutschen Wiedervereinigung analog auf den Mitteldeutschen Rundfunk332 und den Rundfunk Berlin Brandenburg333 übertragen worden. Die Beteiligung an der Aufsicht und Verwaltung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die von den Alliierten mit der Absicht gefördert wurde, der Wertekrise des Nationalsozialismus auch volkserzieherisch zu begegnen, hatte und hat natürlich Auswirkungen auf die Programmgestaltung.334 In der Phase des Wiederaufbaus der westdeutschen Rundfunkanstalten wurden dort eigene Kirchenfunkabteilungen eingerichtet und bis 1948 wurde sogar der Plan eines eigenen ökumenischen Kirchensenders in Bamberg verfolgt. Die Mitarbeiter dieser Abteilungen waren nicht Angestellte der Kirchen, sondern »sachkundige« Redakteure der Funkhäuser, meist Theologen. Heute steht die Kirchenbindung der Redaktionsnamen eher im Hintergrund, so bezeichnen sich die Redaktionen gegenwärtig als »Religion und Gesellschaft« (NDR), »Kirche, Religion und Gesellschaft« (SR), »Religion – Theologie – Kirche« (WDR).335 Die besonderen Rahmenbedingungen des Rundfunks als Anstalt des öffentlichen 330 | Dem Hörfunkrat des Deutschlandradios gehören ein Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland, ein Vertreter der katholischen Bischofskonferenz und eine Vertreterin des Zentralrates der Juden in Deutschland an. Vgl. www.dradio.de/wir/gremien (01.09.2009). 331 | Der jetzige Vorsitzende des Rundfunkrates der Deutschen Welle, Valentin Schmidt, ist gleichzeitig Präsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland. Vgl. www.dw-world.de/dw/article/0,,305442,00.html (01.09.2009). 332 | Der Vorsitzende des 42-köpfigen Rundfunkrates des Mitteldeutschen Rundfunks ist Dr. Karl-Heinz Ducke von der katholischen Kirche Thüringen, den dazugehörigen Fernsehausschuss präsidiert Peter Taeger von der evangelischen Kirche in Thüringen; auch die jüdische Gemeinde Sachsen ist hier vertreten, vgl. www.mdr.de/unternehmen/ struktur/145510.html (01.09.2009). 333 | Im Rundfunkrat des Rundfunk Berlin Brandenburg finden sich Vertreter der beiden christlichen Großkirchen und der jüdischen Gemeinden in Berlin und Brandenburg, vgl. www.rbb-online.de/unternehmen/organisation/gremien/rundfunkrat/rbb_rundfunk rat_mitglieder.html (01.09.2009). 334 | Hintergründe stellt Hannig (2010, 42-67) detailliert dar. 335 | Vgl. Tworuschka 2006, 226.
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Rechts in Deutschland hat zur Folge, dass die kirchliche Programmgestaltung niemals missionarisch auftreten darf, wenn auch den einzelnen Redakteuren ein gewisser Spielraum überlassen ist, inwieweit sie ein konfessionelles Bekenntnis herausstellen. Im Allgemeinen muss der Kirchenfunk »die Vielfalt der Erscheinungen kirchlichen Lebens möglichst angemessen und in ökumenischer Offenheit widerspiegeln«.336 Neben geschnittenen und aufbereiteten »Morgenandachten«, Gottesdienstübertragungen und Informationssendungen über die Kirchen337 kam den Radio-Hörspielen noch eine herausragende Bedeutung im Umfeld des Kirchenfunks zu. Im Gegensatz zu Film- und Fernsehen wurde die Verinnerlichung des gesprochenen Wortes im Hörspiel als Entsprechung zum Verkündigungsauftrag der evangelischen Kirchen angesehen. Neben rein biblischen Hörspielen berührten ferner zahlreiche Stücke zeitgenössischer Autoren (Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Günter Eich u.a.) religiöse und ethische Problematiken, so dass Hörspiele auch in der Gemeindearbeit und im Religionsunterricht eingesetzt wurden (die Zeitschriften epd/Kirche und Rundfunk und der katholische Funk-Korrespondent unterhielten damals eigene Rubriken zur Besprechung von Hörspielen).338 Mit dem Siegeszug des Farbfernsehens in den 1970er Jahren setzte nicht nur das Kinosterben ein, sondern auch die Hörspiele büßten ihre wichtige Rolle im Medienalltag und für die christlichen Kirchen ein.339 Allerdings verweist Udo Tworuschka darauf, dass sich bei einer Durchsicht im Deutschen Rundfunkarchiv allein schon 47 Beiträge zu den Stichworten Hörspiel und Islam finden ließen und Hörfunkadaptionen von Büchern wie Theos Reise von Catherine Clément (WDR 1998) auf ein großes öffentliches Interesse stießen.340 Auch darf die anhaltende Präsenz kommerzieller Hörspielproduktionen als Hörkassetten bzw. CDs für Kinder und jugendliche nicht unterschätzt werden – sei dies im Hinblick auf die Vermittlung von selbstbewussten Frauenrollen als Hexen wie in Bibi Blocksberg (99 Hörspielfolgen seit 1980, 32 Buchbände, zwei Kinofilme, drei Computerspiele, ein Musical), sei dies in Bezug auf die Popularisierung okkulten und religiösen Wissens bei den Drei ??? (152 Buchbände und 139 Hörspiele seit 1964 bzw. 1979, dazu zwei Kinofilme und acht Computerspiele). Die Nachkriegsperiode bis 1958, als ca. acht Prozent der Wortbeiträge von den Kirchenfunkabteilungen produziert wurden, kann wohl zweifellos als in336 | Schultz 1961, 1219. Vgl. auch Schmidt 1986, 463. 337 | Vgl. hierzu die Analysen von Hannig 2010, S. 68-77. 338 | Heute spielt der Hörfunk auch für die konfessionell geführten Medienzeitschriften eher eine untergeordnete Rolle, vgl. www.epd.de/index.html, http://funkkorrespondenz.kim-info.de (01.09.2009). 339 | Vgl. Schultz 1961, Sp. 1218f.; Schmidt 1986, 463ff.; Würffel 1986, 467. 340 | Vgl. Tworuschka 2006, 226ff.
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tensivste Zeit der kirchlichen Wirkung in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern gelten, bevor der Bestand an kirchlichen Sendungen im Radioprogramm kontinuierlich abnahm. Größere Sendeanstalten unterhalten noch eigene Redaktionen zu Kirche und Religion, die allerdings schon seit den 1980er Jahren oftmals nur noch mit einem festen Mitarbeiter besetzt sind. Eine besondere Rolle spielen noch die Bildungsprogramme des Schulfunks, die bereits 1924 vom Vorläufer des NDR gestartet wurden und heute noch von einigen Sendeanstalten fortgeführt werden und in diesem Rahmen auch verstärkt religiöse Thematiken vertiefen.341 Ein Blick auf die sechs Radioprogramme der größten Sendeanstalt der ARD, den Westdeutschen Rundfunk, veranschaulicht diese Abnahme des kirchlichen Programmanteils. Es beschränkt sich auf die wenige Minuten zählenden, täglichen Morgenandachten (»Kirche in WDR 2/WDR 3/WDR 4« bzw. »Das geistliche Wort« auf WDR 5), die sonntägliche Übertragung eines katholischen oder evangelischen Gottesdienstes auf WDR 5 und zwei Stunden Spirits – Gospel und Verwandtes am Sonntagmorgen im Funkhaus Europa. Die Sendereihe Diesseits von Eden. Die Welt der Religionen (WDR 5) behandelt in Berichten, Reportagen und Interviews meist aktuelle Fragen christlicher und außerchristlicher Religionen. Die Sendung Habakuk (WDR 5), die an religiösen Feiertagen ausgestrahlt wird, bereitet den entsprechenden Anlass für Kinder auf. Auch die wöchentliche Gesprächssendung Das philosophische Radio (WDR 5) behandelt in der Diskussion mit bekannten Philosophen und Theologen (Peter Sloterdijk, Hans Küng) einschlägige religiöse Themen. Aus dem Radioangebot ist beim WDR inzwischen ein umfangreiches Informationsportal über »Weltreligionen« entstanden.342 Neben den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind die christlichen Kirchen in Deutschland schon von Anbeginn in einzelnen Privatradios aktiv, die aufgrund geänderter gesetzlicher Rahmenbedingungen seit 1983 entstanden. Einen detaillierten Überblick über die religionsbezogenen Programmangebote der ca. 250 landesweiten und lokalen privaten Hörfunksender und der ca. 150 Bürgerradios und Hochschulsender in Deutschland zu bieten, liegt außerhalb der Möglichkeiten vorliegenden Arbeit und würde sicherlich genügend Material für mehrere Forschungsprojekte bieten.343 Beispielhaft für die Produktionsform der entsprechenden Sendungen sei auf den im Jahr 2000 gegründeten 341 | Vgl. Tworuschka 2006, 227. 342 | Allerdings muss an dieser Stelle berücksichtigt werden, dass der ressourcenreiche WDR mit seinem relativ breiten Programmangebot im Bereich Kirche, Theologie und Religionen eine gewisse Ausnahme unter den deutschen Rundfunkanstalten bildet. Vgl. www.wdr.de/themen/kultur/religion/weltreligionen (01.09.2009). 343 | Ein aktueller Überblick über Radiosender in Deutschland (ohne allerdings den sehr unübersichtlichen Bereich der Livestream-Internetradios zu berücksichtigen) fin-
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Privatsender bigFM aus Stuttgart verwiesen, der in ganz Südwestdeutschland, Hessen und Rheinland-Pfalz empfangen werden kann. Er bietet den Sonntagstalk big Spirit mit dem populären blinden Sänger und Moderator Chris Besau im Auftrag des Evangelischen Rundfunkdienstes Baden (ERB)344 an; der sonntägliche NightTalk mit »bigFM bigPater Ernst und Marc (von der katholischen Kirche) und bigFM Pfarrer Heiko und Doro (von der evangelischen Kirche)« ist ebenso als phone-in- und mail-in-Show konzipiert, um seelsorgerische Probleme der Hörer zu besprechen.345 Für Radio Regenbogen (Mannheim) und eine Reihe kleinerer badischer Radiosender produziert der ERB »die tägliche Verkündigungssendung« Guten Morgen mit Reflexionen von evangelischen Theologen und das zweistündige Feature Radio Regenbogen Heaven Thema der Woche.346 Das zunächst recht vielfältige kirchliche Programm im hessischen Hit Radio FFH beschränkt sich zurzeit auf das dreistündige Sonntagsmagazin Kreuz & Quer; abends erwartet die Zuhörer dann noch die vierstündige phone-in-Show Sternzeit der FFH-Astrologin.347 Ein besonders deutliches Beispiel für die Anpassungsstrategien an die jeweiligen Hörfunkpublikumszielgruppen weist der Techno-Sender sunshine live (Mannheim, seit 1997) auf, der sonntags die zweistündige »Kirchenshow« eternity ausstrahlt: Wir checken für euch, warum der Osterhase die Eier bringt, wir sagen euch warum Halloween gefeiert wird und erklären euch, wie die Wahl des Papstes funktioniert. Spannende Interviews, brisante und interessante Themen locken eben nicht nur sonntäglich »Kirchgänger« vor die Boxen! Wir predigen nicht, wir sprechen Klartext. Und eins ist so sicher, wie das Amen in der Kirche: ihr müsst natürlich auch während Eternity nicht auf fette Beats verzichten!348
Eine besondere Rolle unter den Privatradios in Deutschland nehmen die kirchlichen und religiösen Radiosender ein, denn es ist äußert bemerkenswert, dass
det sich unter http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_deutscher_ H %C3 %B6rfunksender (01.09.2009), auch ALM 2006. 344 | Der Evangelische Rundfunkdienst Baden der evangelischen Landeskirche Baden produziert seit 1987 Hörfunk- und TV-Sendungen für private Radio- und Fernsehsender. http://www2.erba.de/erba/ueberunhtm (01.09.2009). 345 | Vgl. www.mybigfm.de (01.09.2009). 346 | Radio Regenbogen wird seit 1988 betrieben. Zum kirchlichen Programm vgl. http://www2.erba.de/erba/erbradio.htm (01.09.2009). 347 | Krückeberg hatte das kirchliche FFH-Programm im Detail analysiert. Vgl. Krückeberg 1998, 79-208 und www.ffh.de/programm/214.php (01.09.2009). 348 | Vgl. www.sunshine-live.de/onair/sendungen/eternity (01.09.2009).
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von den elf bundesweit gesendeten Radioprogrammen fünf von christlichen Gemeinschaften betrieben werden. Bereits 1931 begründete Papst Pius XI. (1857-1939) das von den Jesuiten geleitete Radio Vatikan, das seit 1957 über Mittel- und Kurzwelle auf der ganzen Welt ausgestrahlt wird. Das Programm wird inzwischen von 35 Sprachredaktionen gestaltet und in 47 Sprachen gesendet, jeder Sprache stehen ca. 20 Minuten Sendezeit pro Tag zu, teils werden die Programme auch mehrmals täglich übertragen. Die Programminhalte befassen sich vor allem mit Nachrichten aus der katholischen Kirche und ferner zu den evangelischen Kirchen und anderen Religionen und werden durch Gottesdienstübertragungen und Gebetssendungen (meist lateinisch) ergänzt.349 Ein vielfältigeres Programm präsentiert seit Pfingsten 2000 das in Trägerschaft des Bistums Köln stehende Domradio, das laut einer Allensbach-Studie von 2004 über 60.000 regelmäßige Hörer verfügt. Das Vollprogramm, das vor allem aus religions- und gesellschaftsrelevanten Berichten, Dokumentationen und Themensendungen für verschiedene Rezipientengruppen besteht, wird täglich von Laudes (Morgengebet) und Komplet (Nachtgebet) eingerahmt, Letztere wird samstags als Lichterfeier aus Taizé gesendet; sonntags wird die Messfeier aus dem Kölner Dom via Radio bzw. Internet in Ton und Bild übertragen.350 Mit ähnlicher lokaler Ausrichtung wie das Domradio sendet seit November 2008 das Münchner Kirchenradio via Internet als Sprachrohr des Erzbistums München und Freising.351 Das konservative Gegenstück zum eher liberal und dialogisch ausgerichteten Kölner Domradio bildet das katholisch ausgerichtete Radio Horeb mit Sitz in Immenstadt im Oberallgäu, das sich nach seiner Gründung 1996 dem internationalen Netzwerk von Radio Maria anschloss. Die Wortbeiträge sind stark auf Lebensfragen im Rahmen katholischer Spiritualität ausgerichtet und umfassen sowohl historische Beiträge als auch aktuelle Aspekte. Einen weiten Bereich nehmen liturgische Elemente im täglichen Radioprogramm ein: Neben den an klösterlicher Geistlichkeit orientierten Stundengebeten (Laudes, Sext, Angelus, Vesper, Komplet) und dem dreimaligen Rosenkranzgebet wird täglich auch eine katholische Messe live übertragen. Katechismus, Themensendungen für verschiedene Publikumsgruppen, Seelsorgesprechstunden, Heilungsgebete und Schriftlesungen mit Exegese runden das Programm ab.352
349 | Zu Geschichte, Auftrag und Struktur von Radio Vatikan vgl. Matelski 1995; www. oecumene. radiovaticana.org/ted/index.asp (01.09.2009). 350 | Vgl. www.domradio.de (01.09.2009). 351 | Vgl. www.muenchner-kirchenradio.de (01.09.2009). 352 | Vgl. www.horeb.org/index.php?id=programmschema_226 (01.09.2009).
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Die jüngste MDG-Studie zeigt allerdings, dass nur etwa ein Prozent der deutschen Katholiken diese Radiosender häufig hört, nur weitere sechs Prozent geben an, »ab und zu« die katholischen Frequenzen anzupeilen.353 Das wohl umfangreichste religiöse Rundfunkprogramm in Deutschland produziert der 1959 in Wetzlar gegründete Evangeliums-Rundfunk (heute: ERF Medien e.V.) mit seinen ca. 230 festangestellten und rund 800 freien Mitarbeitern. Als es noch keine Lizenzen für Privatradios in Deutschland gab, kooperierte der ERF eng mit dem internationalen, christlich-missionarischen Trans World Radio, das die deutschsprachigen Sendungen ab 1961 von Monte Carlo aus über Kurzwelle ausstrahlte. Die Betreiber und Mitarbeiter rekrutieren sich vor allem aus den evangelischen Landeskirchen und Freikirchen, der ERF ist auch der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste der EKD angeschlossen und wird vollständig aus den Spenden der Hörer und Zuschauer finanziert. Zwar betreibt der ERF auch eigene Sender über Kabel, Satellit und Mittel- und Kurzwelle,354 jedoch werden vor allem Sendungen für private Radio- und Fernsehstationen in Deutschland und Europa produziert. Ziel der Arbeit sei es im Sinne eines missionarisch-christlichen Verkündigungsauftrages, durch die Nutzung von Radio, Fernsehen und Internet zu helfen, »dass Menschen Christen werden und Christen Christen bleiben.«355 Das Programm ist nach diesen Vorgaben auch durchweg christlich gestaltet und beinhaltet klassische und populäre christliche Musik, viele Berichte und Dokumentationen, aber neben Gottesdienstübertragungen auch Bibellesungen, biografische Bekenntnisgeschichten und Gebetssendungen, in denen für allgemein Notleidende und einzelne Personen gebetet wird.356 Deutschlandweit über Satellit wird auch das Radio Neue Hoffnung mit einem freikirchlich geprägten Vollprogramm ausgestrahlt, das nicht selbst produziert wird, sondern aus Beiträgen evangelikaler Missionswerke besteht. Träger des Senders ist das stark endzeitlich ausgerichtete Missionswerk Mitternachtsruf.357 Bereits seit 1948 sendet auch die Stimme der Hoffnung der Siebenten-Tags-Adventisten ein deutschsprachiges Programm, zunächst über gekaufte Sendezeiten bei Radio Luxemburg und inzwischen via Satellit und Internet (Hope Channel Radio) als 24-stündiges Vollprogramm. Über das Internet sind auch die Fern353 | Vgl. MDG 2010a, 86f.; MDG 2010b, 156. 354 | Wie ERF Radio, das Jugend-Webradio CrossChannel und seit April 2009 das Webradio ERF Pop. Seit März 2009 sendet der Fernsehkanal ERF 1 über Satellit, Internet-Livestream und verschiedene Kabelanbieter ein 24-stündiges Vollprogramm, zuvor hatte man einen großen Teil des Programms von Bibel TV produziert. 355 | Vgl. www.erf.de/4210-Ueber_den_ERF.html?reset=1 (01.09.2009). 356 | Vgl. www.erf.de/index.php?content_item=18827&node=4167&searchDate=05. 07.2009&setDate=1& searchNow=0 (01.09.2009). 357 | Vgl. www.rnh.de/siteViewer.php?language=de (01.09.2009).
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sehproduktionen des Hope Channel TV abrufbar.358 Unter den regional und lokal wirkenden christlichen Radiosendern ist noch die Region Nürnberg von besonderem Interesse, da hier mehrere freikirchliche Sender ein mehrstündiges wöchentliches Programm ausstrahlen. 1986 nahm das Radio Meilensteine der Freien Christengemeinde Nürnberg seinen Betrieb auf, 1987 folgte Radio AREF als Arbeitsgemeinschaft Rundfunk der evangelischen Freikirchen im Großraum Nürnberg, 1989 Pray 92,9 und Radio Camillo 92,9, das sich missionarisch an kirchenferne Jugendliche richtet. Die programmatische Gestaltung der vier kooperierenden Sender reicht von einer Mischung christlicher und weltlicher Popmusik bis hin zu kirchenaktuellen Nachrichten aus der Region.359 Auch nicht-christliche Religionen nutzen das Hörfunkmedium in Deutschland intensiv, auch wenn die Programme aufgrund der geringeren Anhängerzahlen global organisiert oder produziert werden. Ein islamisches Radio und ein jüdisches Radio in deutscher Sprache bestehen – soweit ich sehe – nicht.360 Das Internet ermöglichte es auch den neuen religiösen Gemeinschaften, mit geringem Personal- und Kostenaufwand und teils mit international organisierten Kooperationen, eigene Radioprogramme zu entwickeln und zu senden. Die internationale Bahá’í-Gemeinde unterhält ein englischsprachiges Vollprogramm mit Musik und Wortbeiträgen.361 Das Radio Sai Global Harmony der Sai Baba Bewegung verfügt über fünf Kanäle mit Bhajans, englisch übersetzten Vorlesungen Sai Babas (*1926), Reportagen, Interviews und weiterer Musik. Zweimal monatlich wird ein kurzes deutsches Programm ausgestrahlt.362 Die Gemeinschaft des Universellen Lebens um die Prophetin Gabriele Wittek (*1933) betreibt über Mittelwelle und Internet in fünf Sprachen das Radio Santec. Das Programm präsentiert Lehrsendungen der Kosmischen Lebensschule, Besprechungen von aktuellen und grundsätzlichen Themen aus urchristlicher Sicht, Meditationen und eigene Kinder- und Jugendsendungen.363 Die International Society for Krishna Consciousness unterhält elf verschiedene Radiostationen ihres Radio Krishna Network (KRN) in Italien, Indien und den Vereinigten Staaten, die teils über Mittelwelle zum größten Teil jedoch nur über Live-Stream via Internet empfangen werden können.364 Statistische Aussagen über die Nutzung der 358 | Vgl. www.stimme-der-hoffnung.de (01.09.2009). 359 | Vgl. http://pray.pr.funpic.de/cms/index.php?option=com_frontpage&Itemid=1, www.meilensteine-medien.de/, www.aref.de/a_info.php, www.camillo929.de (01.09. 2009). 360 | In Frankreich gibt es allerdings einen jüdischen Radiosender. Vgl. www.judaiquesfm.com (01.09.2009). 361 | Vgl. Biener 2003 und www.radionur.com (01.09.2009). 362 | Vgl. www.radiosai.de (01.09.2009). 363 | Vgl. www.radio-santec.com (01.09.2009). 364 | Vgl. www.chantandbehappy.com/home.htm (01.09.2009).
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explizit religiösen Hörfunksender lassen sich nicht machen, da die halbjährlichen Erhebungen der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V. diese Sender nicht erfasst.365 Über die konventionellen Radioformate größerer oder kleinerer Religionsgemeinschaften hinaus muss jedoch noch berücksichtigt werden, dass innerhalb von spezifischen Sendereihen und Features ebenfalls religiöse Aspekte im Hörfunk thematisiert werden. Exemplarisch sei hier auf die in den 1950er und 1960er Jahren im gesamten deutschen Sprachraum ausgestrahlten Beiträge des Schweizer Philosophen Jean Gebser (1905-1973) verwiesen, der durch seine philosophischen Ausflüge in die abendländische Antike und die asiatischen Religionen zu einem Wegbereiter des New Age und der integralen Philosophie wurde. Ebenso breit rezipiert wurde in den 1980er Jahren sicherlich das »Hörwerk« Die Welt ist Klang – Nada Brahma von Joachim-Ernst Berendt.
4.6.2 Instrumentelle Transkommunikation Einen weiteren, von der kulturwissenschaftlichen Forschung bisher vernachlässigten Bereich bildet das Radio als spiritistisches »Medium«, als Kontaktmittel ins Jenseits. Im Bemühen um eine Verwissenschaftlichung der entsprechenden Phänomene prägte Ernst Senkowski hier den Begriff der instrumentellen Transkommunikation.366 Da der Empfang dieser Botschaften eng mit der Möglichkeit einer Aufzeichnung per Tonbandgerät verbunden ist, sollen beide medialen Aspekte hier besprochen werden. Der spiritistischen Anwendung der Radioempfänger liegt die Annahme zugrunde, dass nicht nur analoge mediale Hilfsmittel wie Alphabet und Zahlenreihe auf einem Witchboard zur Kommunikation mit den Verstorbenen genutzt werden könnten, sondern dass sich diese Mittel mit dem technischen Fortschritt weiterentwickeln. Auf mehreren Ebenen wird hier in der jüngeren spiritistischen Literatur der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison (1847-1931) als Urheber dieser Idee und als erster Experimentator auf dem Gebiet der sogenannten electronic voice phenomena (EVP), also der elektronischen Aufzeichnung von »Geisterstimmen« eingeführt. Diese Legendenbildung beruht auf einem Interview, das Edison 1920 dem Journalisten Bertie Charles Forbes für Scientific American gegeben hatte und in dem er spekulierte, dass die Verstorbenen auch aus dem Jenseits Einfluss auf Materie nehmen könnten und diese Signale eventuell mit fortgeschrittener Technik empfangen werden könnten. Edison, der zeitlebens als scharfer Kritiker der Religion und erst recht des Spiritismus galt, klärte dann sechs Jahre später in einem Interview mit der New York Times auf, dass er sich mit Forbes
365 | Vgl. www.studio-gong.de/studio-gong/ma.jsp (01.09.2009). 366 | Vgl. Senkowski 2000.
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einen Scherz erlaubt habe, da ihm seinerzeit nichts Interessantes für ein breites Lesepublikum eingefallen sei.367 Diese Richtigstellung konnte die populäre Mythenbildung infolge des Forbes-Interviews jedoch nicht verhindern,368 so dass sich nach Edisons Tod ein neuer Topos im spiritistischen Genre etablierte: Das technische Genie – also Edison und anschließend andere Charaktere – übermittele selbst aus dem jenseits die Bauanleitung bzw. technische Instruktionen für den Empfang spiritistischer Botschaften. Bereits 1941 soll der Geist Edisons auf Séancen in New York erschienen sein und veranlasste den Erfinder James Gilbert Wright bis zu seinem Tod 1959 – letztlich erfolglos – an einem spiritistischen Empfangsapparat zu arbeiten. 1967 meldete sich der Geist Edisons angeblich erneut, nun bei dem spiritistischen Medium Sigrun Seutemann. Er berichtete hier von seinen vergeblichen Versuchen von 1928, ein Psychophon zu entwickeln, und versah seine Ausführungen mit einer technischen Bauanleitung, die vom Schweizer »Experimentator« P. Affolter-Zinner in eine Apparatur umgesetzt wurde. Über einen Zeitraum von sechs Monaten wurden dann musikalische Sequenzen »unbekannter Herkunft« aufgezeichnet.369 Die Initialzündung der eigentlichen, so genannten Tonbandstimmenforschung ist jedoch mit dem schwedischen Kunstmaler und Opernsänger Friedrich Jürgenson (1903-1987) verbunden. Beim Abhören von Tonbandaufnahmen von Vogelstimmen gab er an, dass sich neben dem Gesang von Buchfinken auch ein plötzliches Trompetensolo und eine norwegische Männerstimme hören ließen. Bei weiteren Aufnahmen fanden sich nach Aussage Jürgensons immer neue Stimmen auf den Bändern, die sich mit kurzen, meist unverständlichen Botschaften namentlich an ihn selbst wandten.370 1963 veröffentlichte er seine Experimente und Schlussfolgerungen in der Monografie Sprechfunk mit Verstorbenen. Ein dem Atomzeitalter gemäße Form der praktischen technisch-physikalischen Kontaktherstellung mit dem Jenseits371 und erregte das Interesse von Hans Bender (1907-1991), dem Begründer des Freiburger Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, mit dem Jürgenson nun gemeinsam mehrere Experimente unternahm. Obwohl Bender skeptisch blieb, ob denn hier tatsächlich
367 | Vgl. Gardner 2001, 213. 368 | Die World Association for Instrumental Transcommunication (ITC) verbreitet auch weiterhin diese Legende. Vgl. www.worlditc.org/(unter ITC History and Future) (01.09.2009). 369 | Vgl. Fischer & Knoefel 2007. 370 | Vgl. Fischer & Knoefel. 371 | Vgl. Jürgenson 1967.
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Verstorbene sprachen,372 formierten sich in Deutschland und auf internationaler Ebene weitere Pioniere der Tonbandstimmenforschung. Andere Tondokumente aus den 1960er Jahren, die von Marcello Bacci und Luciano Capitani in ihrem »psychophonischen Labor« aufgezeichnet wurden, zeugen von Chorälen, die offenbar musikalisch schwer einzurodnen sind. Sehr bekannt geworden ist auch der Fall des amerikanischen Kurzwellenamateurs William O’Neill, der eine Reihe von Jenseitsdialogen mit dem 1967 verstorbenen Dr. George J. Mueller führte, die wegen ihrer Länge von bis zu 30 Minuten einzig dastehen.373 In der Schweiz stellt der ehemalige katholische Priester Leo Schmid (1916-1976) in seinem Buch Wenn die Toten reden (1976) aus seinem Materialschatz von 12.000 Stimmaufzeichnungen ca. 500 Beispiele vor und kommentiert diese.374 Viel Aufsehen mit seinen Forschungen erregte der lettische Schriftsteller, Philosoph und Parapsychologe Konstantin Raudive (1909-1974), der zwar zeitweise mit Hans Bender zusammen forschte und das Gebiet der EVP in der parapsychologischen Forschung etablierte, jedoch wie Jürgenson der Auffassung war, dass technisch die Laute Verstorbener aufgefangen werden könnten. Raudive zeichnete Stimmen mithilfe von Mikrophonen im Raum oder mithilfe von Radioempfängern, die nicht auf einen Sender eingestellt waren, auf. Aus dem Rauschen wurden dann mehr oder weniger deutliche Stimmgeräusche auf Tonbändern aufgezeichnet und später herausgefiltert und verstärkt. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen, angeblich auf über 100.000 Tonaufzeichnungen basierend, veröffentlichte er in mehreren populären Buchpublikationen. Einschlägig und am meisten beachtet wurde wohl Unhörbares wird hörbar mit Demonstrationsschallplatte (1968).375 Im englischsprachigen Raum erlangten neben den Übersetzungen der Werke Raudives und Schmids insbesondere der englische Parapsychologe Peter Bander mit seiner Studie Carry on Talking (1972) ebenfalls große Aufmerksamkeit der populären Medien.376 Wohl aufgrund der einzigartigen Konstellation des IGPP in Freiburg und der Unterstützung durch 372 | Bender sah es als stichhaltiger an, dass andere psychokinetische und psychologische Effekte zu den Stimmphänomenen selbst und den (sehr unterschiedlichen) Deutungen der Hörer dieser Tonfragmente geführt haben könnten. Vgl. Bender 1970, 235-238. 373 | Anders als Fischer & Knoefel geht man in der parapsychologischen Forschung inzwischen mehrheitlich von einem Betrugsfall aus. Vgl. Fischer & Knoefel 2007; Fischinger 2003, 43-45. 374 | Vgl. Schmid 1976. 375 | Vgl. Raudive 1968, engl.: Breakthrough – An Amazing Experiment in Electronic Communication with the Dead. London 1971. Vgl. auch Raudive 1975. 376 | Vgl. Bander 1972. US-Titel (1973): Voices from the Tape Recordings from Other World.
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Hans Bender lag und liegt der Schwerpunkt der Tonbandstimmenforschung im deutschsprachigen Raum, was sich auch in den ca. einem Dutzend monografischer Darstellungen niederschlägt, die seit der Hochzeit der Tonbandstimmenforschung in den 1970er Jahren erschienen sind.377 Wurde bereits 1968 eine informelle Forschungsgemeinschaft der Tonbandstimmenforscher in Korb am Neckar gebildet, so institutionalisierte die Gruppe im April 1975 ihr parapsychologisches Interesse mit der Gründung des Vereins für Transkommunikations-Forschung/Association for Transcommunication Research Germany, die bis heute besteht, Tagungen durchführt und jährlich vier Ausgaben ihrer Vereinszeitschrift VTF-Post ediert.378 Seit 1973 werden auch unter Beteiligung entsprechender Forschungsvereinigungen aus Österreich, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Brasilien internationale Tagungen durchgeführt.379 Allerdings wird beklagt, dass sich seit dem Jahr 2000 weder im Bereich des Radios oder Telefons noch im Feld Internet und Computer neue, stichhaltige transkommunikative Phänomene beobachten lassen. Das Journal Transkommunikation. Zeitschrift für Psychobiophysik und interdimensionale Kommunikationssysteme, herausgegeben von Ernst Senkowski und der Mainzer Gesellschaft für Psychobiophysik e.V. wurde denn auch 2002 nach zwölf Jahren eingestellt.380 Diese wenigen Beispiele belegen bereits, dass der Hörfunk und allgemeiner die Radiotechnik nicht nur für die großen Religionsgemeinschaften, sondern auch für christliche Freikirchen und für die neuen religiösen Gemeinschaften eine gewisse Relevanz haben. Auf die Bedeutung als technisches »Medium« im spiritistischen Sinne wurde hingewiesen. Die sehr vielfältigen Formen und inhaltlichen Gestaltungen der Radioprogramme hängen von gesetzlichen Rahmenbedingungen, personellen und finanziellen Ressourcen und dem Verständnis des Missions-, Lehr- oder Informationsauftrages der Gemeinschaften ab. 377 | Nur als Auswahl sei hier auf Ernst Senkowskis Instrumentelle Transkommunikation (2000), Ernst Knirschigs Phänomen Tonbandstimmen (2001) und Franz Seidls Phänomen der Transzendentalstimmen (1971) verwiesen. Eine umfassende internationale Bibliografie findet sich unter: www.rodiehr.de/a_24_itk_g_41.htm (01.09.2009). 378 | Lediglich kleinere Neugründungen bilden ab 1995 der Verein für Tonbandstimmen-Forscher Hamburg (TFH) e.V., über den Gerhard Helzel offenbar diverse Apparaturen (Voice Tracer, Ultralator, Ultrasonicus) zur Stimmenaufzeichnung vertreibt, und die Arbeitsgruppe der Tonbandstimmenforschung Darmstadt. Vgl. www.romana-hamburg. de/stimmen.htm; www.tbsf-darmstadt.de (01.09.2009). 379 | Eine Übersicht über die Vereinigungen findet sich auf: www.vtf.de/links_tshtml (1.8.2009). 1995 wurde auch das International Network for Instrumental Transcommunication (INIT) ins Leben gerufen, vgl. www.worlditc.org (01.09.2009). 380 | Vgl. www.rodiehr.de/a_26_tk_uebersicht.htm (01.09.2009).
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Dieses komplexe und reichhaltige Feld des religiösen Hörfunks steht in einem eklatanten Missverhältnis zu den bisherigen Forschungsarbeiten der Religionswissenschaft, das in keinem anderen Bereich der hier besprochenen Thematik von Religion und Medien so drastisch ausfällt.381
4.6.3 Unerhört: die Erforschung religiöser Radioprogramme Die Erforschung des religiösen Hörfunks beschränkt sich bisher – soweit dies zu überblicken ist – auf die christlichen Kirchen, dies gilt sowohl für den deutschsprachigen Raum als auch international. Im Fokus stehen hier vor allem die protestantischen Gemeinschaften, die aufgrund ihres ausgeprägten Verkündigungs- und Missionsverständnisses in der Radioarbeit auch ungleich aktiver als die katholischen und orthodoxen Kirchen sind.382 Ein Großteil der Publikationen über die kirchliche Rundfunkarbeit befasst sich von Beginn an mit theologisch-praktischen Fragen der Homiletik,383 die stets auf das Grundproblem der theologischen Auseinandersetzung mit den neuen Medien verweisen: Produziert die Kirche nicht Surrogate, wenn sie Gottesdienste publiziert, Gebet und Segen auf Tonband konserviert und die Situation des persönlichen Gegenübers ersetzt durch die Multiplikation der bloßen von der Anwesenheit des Menschen abgelösten Stimme? Was für Strukturveränderungen ergeben sich aus dem Tatbestand, daß die Kirche über den Rundfunk in unkontrollierbare Anonymität hineinspricht und ihre Predigt, jedenfalls quantitativ, mehr extra als intra muros zu vernehmen ist? 384
Diese Vorbehalte gegenüber dem »Massenmedium« Radio hatten nach Ansicht einer der frühen, in der Radioarbeit engagierten, protestantischen Theologen, Hans Jürgen Schultz, dazu geführt, dass die Kirchen der »Welt der Apparate« mit vergangenen Kategorien unsachgemäß begegnet wären.385 Mit der Zurückdrängung des Hörfunks zugunsten des Fernsehens ließ auch das Interesse an 381 | Vgl. dazu auch Tworuschka 2006, 224f. 382 | Einen umfassenden und aktuellen Überblick zum Engagement der evangelischen Kirchen im öffentlichen und privaten Rundfunk in Europa bietet Krückeberg 2008, 145-192. 383 | Wegweisend waren hier: Claus Westermanns Beitrag »Rundfunkgemeinde und Kirchengemeinde.« (1959) in einer Publikation aus der Schriftenreihe der Evangelischen Akademie für Rundfunk und Fernsehen, die von 1957 bis 1967 erschien; Das Jahrbuch der christlichen Rundfunkarbeit des Evangelischen Presseverbandes (3 Bde., 1958-1960); Manfred Josuttis (Hg.) Beiträge zu einer Rundfunkhomiletik (1967). 384 | Schultz 1961, Sp. 1219. 385 | Vgl. Schultz 1961, Sp. 1220.
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der systematischen Entwicklung einer Rundfunkhomiletik nach, so dass auch noch Joachim Schmidt 30 Jahre nach Schultz bemängelte, dass sich das Fehlen einer fundierten, theologischen Bearbeitung dieses Bereiches schmerzlich bemerkbar mache.386 Mit dem Aufkommen der privaten Radiosender in Deutschland setzte jedoch eine neuerliche Diskussion um die Präsenz und die Gestaltung kirchlicher Radioangebote an, die abermals die Spannung zwischen dem Hörfunk als (teils) kommerzielles Massen- und Unterhaltungsmedium und als Verkündigungsmittel problematisiert. Publikationstitel wie »Religion an den Rändern einer Werbewelle« oder Zwischen Evangelium und Kommerz illustrieren die Dynamik dieser anhaltenden innertheologischen Debatte.387 Rein historisch sind die beiden theologischen Dissertationen von Beatrice Winter über die Mitarbeit der evangelischen Kirche an der Rundfunkarbeit in der DDR bis 1958 und von Dieter Altmannspenger über die evangelische Rundfunkarbeit in Westdeutschland 1945 bis 1949 angelegt. Beide Arbeiten fokussieren die institutionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen zwischen kirchlichen und staatlichen Organisationen und teils die innertheologische Diskussion um die Rundfunkarbeit; die spezifischen Programmformate der Kirche im Rundfunk werden nicht thematisiert.388 Unter den historischen Untersuchungen stechen allerdings drei Arbeiten hervor. In ihrer kommunikationswissenschaftlichen Dissertation über Evangelische Kirche und Rundfunk in der Weimarer Republik (1989) hat Gabriele Wandersleb-Andersen im Detail den Produktionsablauf und die theologischen Aushandlungsprozesse um die evangelischen »Morgenfeiern« nachgezeichnet und zusätzlich die Strukturierung der Hörerschaft beleuchtet. Bemerkenswert ist ihre Schilderung der medienspezifischen Organisation der Hörer als Hörergemeinschaften und den Versuchen, auf dieser Basis einen institutionalisierten Gemeinderundfunk zu gestalten.389 Rolf Schieder hat in seiner theologischen Habilitationsschrift das umfangreiche Unterfangen bewältigt, die Ansprachen dieser evangelischen »Morgenfeiern« von 1924 bis 1939 diskursanalytisch aufzuarbeiten und mentalitätsgeschichtlich zu kontextualisieren.390 Die Medienwissenschaftlerin Constanze Jecker hat jüngst in ihrer Studie SendungsBewusstsein (2009) die kirchliche Kriegskommunikation in deutsch-schweizer Radiopredigten von 1925-1945 analysiert und damit eine
386 | Die Einstellung der oben genannten Schriftenreihen veranschaulicht diesen Bedeutungsverlust der kirchlichen Hörfunkarbeit. Vgl. Schmidt 1986, 464. 387 | Vgl. Biener 2004b; Krückeberg 1998. Einen kurzen Überblick über die jüngere Literatur bietet Biener 2004. 388 | Vgl. Winter 1979; Altmannsperger 1992. 389 | Vgl. Wandersleb-Andersen 1989, 106-153. 390 | Vgl. Schieder 1995, 172-280.
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der wenigen Analysen vorgelegt, die gänzlich frei von praktisch-theologischen und kirchengeschichtlichen Erkenntnisinteressen ist.391 Von großem Wert sowohl für die theologisch-praktische Arbeit wie auch für zukünftige religionswissenschaftliche Analysen sind die Dokumentationen vor allem christlicher Hörfunksender des Nürnberger Theologen Hansjörg Biener in seinen Monografien Christliche Rundfunksender weltweit (1994) und Massenmedien für Christus (1997) und der seit 1984 erscheinenden und von ihm herausgegebenen Zeitschrift Medien aktuell: Kirche im Rundfunk mit Meldungen und zu religiösen Hörfunk- und Fernsehsendern.392 Die lexikalischen Abhandlungen zum Rundfunk bzw. Hörfunk in Religion in Geschichte und Gegenwart und der Theologischen Realenzyklopädie beschränken sich neben einer kurzen Auflistung der kirchlichen Radioformate auf einen institutionsgeschichtlichen Abriss aus theologischer Sicht.393 Die Encyclopedia of Religion (2005) konzentriert sich ebenfalls bloß auf einen historischen Abriss der gesetzlichen, institutionellen und ökonomischen Rahmenbedingungen der protestantischen Radiomission in den USA.394 Das Metzler Lexikon Religion widmet dem Verhältnis von Religion und Rundfunk in drei kurzen Absätzen nur einige punktuelle Anmerkungen zum polnischen Radio Maryja, zum jüdischen Sender Kol Chai und der Regulierung des Rundfunks in der Türkei.395 Für das Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe scheint der Hörfunk gar kein Thema zu sein.396 Dass dieses umfangreiche Forschungsfeld in allerjüngster überhaupt von der Religionswissenschaft angegangen wird, ist vor allem dem Jenaer Religionswissenschaftler Udo Tworuschka zu verdanken, der als Experte selbst an knapp 300 Rundfunksendungen mitgewirkt hat.397 Ganz praktisch ausgerichtet fragt Luise Thuß, die in Tworuschkas pädagogischem Medienprojekt Religiopolis (2005) an der Universität Jena engagiert war, wie »Weltreligionen« im Radio dargestellt werden können.398 In diesen thematischen Rahmen fällt auch 391 | Vgl. Jecker 2009. 392 | Vgl. Biener 1994; Biener 1997. Seit 1999 sind alle Jahrgänge der Zeitschrift auch online verfügbar: www.asamnet.de/~bienerhj/medien-aktuell.html (01.09.2009). 393 | Vgl. Schultz 1961, Sp. 1218ff.; Schmidt 1986, 464f.; Haberer 2004. 394 | Goethals & Lucas 2005, 7709-7711. 395 | Vgl. Bernard 1999, 405f. 396 | Abgesehen vom kurzen Artikel »Radiopredigt« (Haberer 2004) verzichtet auch die 4. Auflage von Religion in Geschichte und Gegenwart auf eine eingehende Diskussion des religiösen Hörfunks. Der Artikel »Medien« berücksichtigt lediglich Film und Fernsehen. Vgl. Grethlein 2002a. 397 | Vgl. www.uni-jena.de/C__Audiovisuelle_Medien_ %28Auswahl %29.html (01. 09.2009). 398 | Vgl. Thuß 2009.
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die einzig vorliegende, kurze Analyse »interreligiöser Rundfunksendungen« des Bayerischen und des Hessischen Rundfunks und des Deutschlandradio Berlin des Theologen Hansjörg Biener. Hier wurde jeweils der Anteil der Sendethemen errechnet, die sich »mit einer fremden Religion beschäftigen«, »in der Stimmen aus verschiedenen Religionen zu Wort kommen«, oder »die sich ausdrücklich mit dem Neben- und Miteinander der Religionen beschäftigen«.399 Udo Tworuschka ordnet die Thematik von Religionen im Radio der an sinnlicher Erfahrung orientierten Religionsästhetik zu, bemängelt jedoch, dass das Hören im Verglech zu textlichen und visuellen Medien in den bisherigen Ansätzen vollkommen marginalisiert wurde.400 Analog des Konzeptes der visible religion plädiert Udo Tworuschka dafür, nun das Programm der audible religion zu entwickeln: Ein audible turn wäre notwendig, um die Bedeutung der Töne im Netzwerk der Sinne angemessen zu berücksichtigen: »Was ist zu hören? Wer hört was und was nicht? Was soll, darf, muss in bestimmten Sets (Stimmungen) und Settings (Umgebungen) gehört werden? Wie konditioniert Religion den akustischen Wahrnehmungssinn des Menschen?«401 Im Zentrum von Tworuschkas Interesse stehen allerdings die »redaktionellen Sendungen«, die über Religionen berichten. Obwohl diese Produktionen von den Religions- und Kirchenfunkredaktionen gestaltet werden und sich großenteils auf die christlichen Kirchen in Deutschland beziehen, betrachtet Tworuschka sie nicht als bekenntnisorientierte Sendungen, sondern als »anspruchsvolle Einschaltformate«, die »intellektuell niveaureiche, meist längere Wort- oder Musiksendungen« anbieten.402 Im allgemeinen Rahmen der praktischen Religionswissenschaft, dem er das Thema Radio zuordnet, wird ein präziser Fragenkatalog entwickelt, der sich unter dem Paradigma der Medienwirkungsforschung vorrangig auf die Produktionsbedingungen der Radiosendungen bezieht: 1. Fragen zu den Zielen: Welche Ziele verfolgt der Beitrag? Welche Dimensionen/Kategorien/Subkategorien werden angesprochen: kognitive – affektive – pragmatische? 399 | Vgl. Biener 2001, 506-509. Udo Tworuschka verweist auf eine geplante Dissertation von Juergen Graf zu Religionen im Hörfunk. Analyse der Sendereihe »Erdkreis, Mensch und Himmelreich« (ORB 1992-2000). Vgl. www.uni-jena.de/Auditive_Turnskin-print.html (01.09.2009). In der Magisterarbeit »Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft« wurde die gleichnamige Radiosendung des WDR von Christine Langer (Hannover) analysiert. 400 | Vgl. Tworuschka 2006, 218. 401 | Tworuschka 2006, 223. 402 | Tworuschka 2006, 226.
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2. Fragen zum ideologischen Ansatz: Liegt eine christliche (konfessionelle) Voraussetzung vor? Soll letztlich der eigene Glaubensstandpunkt geklärt und gefestigt werden? Geht es eher um generelle, interreligiöse Perspektiven? 3. Fragen zur Beurteilung der Wahrnehmungsmuster und Urteilsstrukturen: Gibt es unzulässige, unangebrachte Vergleiche? Werden europäische Lebenseinstellungen als überlegen und als Modell für andere betrachtet? Wird die Wandelbarkeit von Phänomenen berücksichtigt oder erscheint die betreffende Religion als statische Einheit? Ist eine Vermischung von Information und Interpretation feststellbar?403 Ferner weist Tworuschka darauf hin, dass das Medium Hörfunk stark auf das Mittel der personalisierten Darstellung von Religionsgeschichte und religiösem Zeitgeschehen zurückgreift, also in überwiegendem Maße O-Töne von religiösen Vertretern, Zeitzeugen oder Religionsexperten verwendet: »Möglichkeiten und Grenzen für Wirklichkeitsverständnis und -vermittlung, die diese Art der Fokussierung mit sich bringt, sind ausdrücklich und kritisch zu thematisieren.«404 Tworuschka spricht sich dafür aus, eine hörfunkspezifische Hermeneutik zu entwickeln, die den »funkischen Konstruktionen« von Religion durch die beteiligten Redakteure und Reporter gerecht wird. Über die Inhaltsanalyse hinaus sollte daher mit sozialwissenschaftlichen Methoden »Redaktionsforschung« betrieben werden, die die Vernetzung von normativen, religiösen und berufspezifisch-organisatorischen Aspekten in der Biografie der Radiomacher offenlegt. Einen informativen Einblick in die Arbeit der Kirchenredaktion des Hessischen Rundfunks vermittelt im Sinne dieser Redaktionsforschung Heinz-Peter Katlewski im Gespräch mit zwei Redakteuren.405 Es ist evident, dass trotz einer über 80-jährigen Geschichte der religiösen Hörfunkprogramme in Deutschland bisher keine nennenswerten religionswissen403 | Auszug aus dem Fragenkatalog, vgl. Tworuschka 2006, 229f. 404 | Tworuschka 2006, 230. 405 | Vgl. Tworuschka 2006, 232-235; auch Tworuschka 2009, 88-95; Katlewski 2008b. So nützlich Tworuschkas Anregung zu biografischen Interviews mit Redakteuren erscheint, so muss hier sicherlich noch eine tiefer gehende, methodische Reflexion einsetzen. Da es rein quantitativ nur eine sehr geringe Zahl von Religionsredakteuren im deutschen Hörfunk gibt, die zudem noch sehr spezifische Berufsprofile in ihren jeweiligen Sendern erfüllen, ist die Anonymisierung der Daten (und damit auch die Interviewsituation) gewiss problematisch. Es ist zu prüfen, ob nicht Experteninterviews annähernd denselben Zweck erfüllen könnten.
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schaftlichen Forschungsarbeiten zu diesem Themenbereich angefertigt wurden – Udo Tworuschkas jüngste Publikationen sind ein eindringlicher Appell an unsere Disziplin, diesem drastischen Defizit entgegenzuwirken. Allerdings sollten sich die zukünftigen Forschungsentwürfe nicht nur auf die »redaktionellen Sendungen« beschränken – es ist ohne Zweifel von großem Interesse für die praktische Religionswissenschaft, die radiophonen Konstruktionsprozesse von Religionen und religionsbezogenen Themen im redaktionellen Produktionsprozess zu analysieren und hieraus auch Erkenntnisse für die eigene, religionswissenschaftliche Medienarbeit zu gewinnen. Auch die bekenntnisorientierten Sendungen gehören als Teil der europäischen Religionsgeschichte und religiösen Gegenwartskultur zum Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschungen, die aufgrund anderer Interessenzusammenhänge und Feldzugänge auch anders gelöst werden können, als dies in der theologischen Forschung der Fall ist.406 Das theologische Forschungsinteresse ist in der Themenauswahl und in den Fragestellungen höchst selektiv. Es ist ja kein Zufall, dass wir über eine ganze Reihe theologischer Qualifikationsarbeiten im Bereich des katholischen und evangelischen Kirchenfunks verfügen, die mal stärker historisch, mal stärker praktisch-theologisch vor allem die Frage nach den Bedingungen der Homiletik in der kirchlichen Rundfunkarbeit diskutieren. Zunächst blenden diese interessengeleiteten Perspektiven die Radioarbeit außerhalb der Großkirchen vollkommen aus – zum Bereich der Freikirchen liegen nur die Arbeiten von Hansjörg Biener vor; die Hörfunkarbeit der nicht-christlichen Religionen und der neuen religiösen Gemeinschaften in Deutschland wurden bislang überhaupt nicht berücksichtigt. Eine Gesamtdarstellung der religiösen Hörfunkarbeit oder gar ein Ansatz, der sich dem Medienphänomen religiöser Hörfunksendungen widmen will, liegt klar außerhalb theologischer Forschungsinteressen. Die Radioarbeit der Kirchen als Verkündigung oder Mission zu verstehen, gibt paradigmatisch den analytischen Rahmen der entsprechenden theologischen Forschungen vor, die sich dann – wie das in vorbildlicher Form Rolf Schieder getan hat – vornehmlich auf die methodisch bewährte Inhaltsanalyse von Predigten und Andachten konzentrieren. Dass das Radio damit in ein bereits bestehendes Muster religiöser Kommunikation zwischen Gemeinde und Pfarrer/Prediger eingeordnet wird, hat zwar unbestreitbar Vorteile für die praktisch-theologische Arbeit, jedoch auch gravierende epistemologische Konsequenzen. Der Blick auf die medialen Charakteristika des Radios als Hörmedium wird versperrt. Die Bedeutung beispielweise von Musik in den religiösen Programmen wird meines Wissens in keiner der genannten, theologischen Hörfunkanaly406 | In der empirischen Radioforschung wird es m.E. auch nicht leicht sein, bekenntnisorientierte Sendungen von »redaktionellen Sendungen« zu unterscheiden.
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sen gewürdigt – eine problemorientierte Diskussion der Rundfunkhomiletik ist bisher nur auf die Wortbeiträge ausgerichtet. Dies ist umso erstaunlicher, da Musikbeiträge stets einen beträchtlichen Teil der Sendezeit ausmachen und sei es nur als Markierung zwischen verschiedenen Wortbeiträgen. Dass Musik jedoch mehr als nur Beiwerk und Untermalung sein kann, zeigt das Konzept von eternity des Privatsenders sunshine live oder aber das freikirchliche Jugendradio Camillo 92,2, in denen eine angemessene Musikauswahl einfach elementarer Bestandteil des Programms ist. Diese Radiosendungen sind auch eine der wenigen Möglichkeiten, um zeitgenössische, christliche Popularmusik einem breiten Publikum bekannt zu machen, deutschlandweite Erfolge wie Babylon System (2004) der Söhne Mannheims sind ansonsten die absolute Ausnahme. Die Begrenztheit der durch die Homiletik vorgegebenen Fragestellung zeigt sich vollends, wenn außerchristliche Angebote wie bspw. die Radioprogramme der ISKCON oder der Sai Baba-Gemeinschaft in die Betrachtung einbezogen werden: Einige Kanäle spielen fast durchweg Bhajans bzw. Kirtans, indische Preislieder zum hören oder mitsingen. Auf die Rolle von Musik in den »redaktionellen Radiobeiträgen« weist auch Tworuschka hin: »Sie erzeugt ein besonderes, gefühlsmäßiges ›Bild‹ der vermittelten Religion. Ein ›indischer Musikakzent‹ – so oft die Regieanweisung in Hörfunkmanuskripten – imprägniert gleichsam gefühlsmäßig den ganzen Beitrag und kann klischeebildend wirken.«407 Eine Analyse der gesendeten Musikbeiträge bzw. der musikalischen Rahmungen von Wortbeiträgen, der redaktionellen Auswahlprozesse, der Rezeption und Verbreitung populärer religiöser Musik und deren Produktionsprozesse bilden vielversprechende Forschungsperspektiven. Ein anderer Aspekt, der in den bisherigen theologischen Untersuchungen kaum zur Geltung gebracht wurde, ist die deutliche Verschiebung von monologischen Verkündigungssendungen hin zu dialogischen Gesprächssendungen. Wie bereits erwähnt, entstanden die ersten religiösen phone-in-Shows bereits kurz nach Beginn des kommerziellen Sendebetriebes in den Vereinigten Staaten, heute bieten viele öffentlich-rechtliche Sender in Deutschland innerhalb des Kirchenfunks solche Gesprächssendungen an und bei einigen privaten Sendern wie bigFM beschränkt sich der kirchliche Beitrag inzwischen gänzlich auf sonntägliche Anrufsendungen wie big Spirit oder den NightTalk mit zwei Pfarrern der christlichen Großkirchen. Es gilt zu fragen, wie sich die einerseits anonymisierte und gleichzeitig öffentlich gemachte Kommunikationssituation im Vergleich zum herkömmlichen seelsorgerischen Gespräch verändert. Welche Bezüge zur Religion werden noch expliziert oder wird das Gespräch als eine allgemeine Lebenshilfe verstanden? Hat die Anwesenheit der Öffentlichkeit als Zuhörerschaft einen Einfluss auf die Auswahl »interessanter, attraktiver Fälle«
407 | Tworuschka 2006, 233.
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in der Redaktion?408 Welche Bedeutung haben diese Gespräche für die Lebensgestaltung der Anrufer? Wie wird eine kontinuierliche Hilfestellung gewährleistet, wenn doch der Kontakt anders als in der Gemeindearbeit zum Moderator nur punktuell ist? Wer nutzt solche Angebote? Sind es kirchenferne Personen oder bietet das Radio durch die gewährleistete Anonymität des Anrufers gerade die Möglichkeit, Themen anzusprechen, die man mit seinem örtlichen Pfarrer oder Priester nicht thematisieren will? Welche Rolle spielt hier das einseitige Vertrauensverhältnis, das eventuell zum Moderator dadurch aufgebaut wird, dass man ihn – anders als den örtlichen Pfarrer – durch zahlreiche Gesprächssendungen schon »kennengelernt« hat? In diesen weiteren Rahmen der kommunikativen Interaktion fallen natürlich auch die herkömmliche Diskussion von Briefen bzw. neuerdings E-Mails von Zuhörern und das besonders in den Freikirchen verbreitete Verlesen der Namen von Hilfsbedürftigen, die in das öffentlich vorgetragene Bittgebet eingeschlossen werden. Schließlich stellen sich Fragen nach den allgemeinen Rahmenbedingungen für die Möglichkeiten und Strukturen der religiösen Hörfunkarbeit. Dies betrifft zum einen rechtliche Aspekte, die bspw. die christlichen Großkirchen in Deutschland aufgrund der speziellen Konstitution der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender zu einer gewissen Ökumene im öffentlichen Raum gezwungen haben. Missionarische Sendungen mit proselytischen Ambitionen waren von Beginn an in dieser Struktur des Hörfunks nicht möglich. In einer weiteren Perspektive, die über die christlichen Kirchen hinaus weist, gilt zu fragen, welche religiösen Gemeinschaften überhaupt Radioprogramme entwickeln und wie diese im Verhältnis zum traditionellen Lehrverständnis entwickelt werden. Es ist bspw. auffällig, dass eine ressourcenstarke weltanschauliche Gemeinschaft wie die Scientology offenbar keine Radioprogramme anbietet. Wahrscheinlich lässt sich dieser Befund damit erklären, dass die Lehrstruktur auf Kursen in der lokalen Mission beruhen und die Finanzierung der Organisation großenteils von dem kostenpflichtigen Erwerb umfangreicher Buch- und Hörmedien (Vorträge von L. Ron Hubbard) abhängt, die in der Regel auch nicht ausgeliehen werden können. Der ökonomische Gesichtspunkt eröffnet einen weiteren Forschungshorizont, der für das Verständnis der allgemeinen Produktionsbedingungen religiöser Hörfunksendungen relevant ist. Der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland ist quasi durch die Rundfunkgebühren eine vielfältige Mitwirkung an der öffentlich-rechtlichen Programmgestaltung durch den Etat der entsprechenden Redaktionen in den Sendeanstalten garantiert. Während408 | Aspekte dieses Auswahlprozesses interessanter Fälle stellt Jürgen Schramm in seiner Analyse des Talkradios Domian (Einslive/WDR Fernsehen, seit 1995) vor. Vgl. Schramm 1999, 32f.
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dessen sind Freikirchen und nicht-christliche Gemeinschaften meist auf Spenden und/oder internationale Kooperationen angewiesen – beides hat sicherlich Auswirkungen zunächst auf die konkrete Programmgestaltung, manchmal jedoch auch auf die weiteren Kommunikationsstrukturen innerhalb der Gemeinschaft. Mit zunehmender kommunikativer Internationalisierung etabliert sich bspw. Englisch zur lingua franca in der ISKCON und Sai Baba-Gemeinschaft. Auch die wirtschaftliche Bedeutung des religiösen Hörfunks für neuere christliche Popularmusik sollte nicht unterschätzt werden, denn die Herstellung und Verbreitung von entsprechenden Musiktiteln setzt einen Markt voraus, der mindestens die Einspielung der Produktionskosten gewährleisten kann. In den Vereinigten Staaten ist dieser Markt inzwischen soweit stabilisiert, dass sich in jeder größeren Musikabteilung ein Bereich für religiöse/christliche Musik findet, der oftmals ebenso viel Raum einnimmt wie der Bereich der klassischen Musik. Unter den vielen Aspekten, die für die Rezeptionsforschung religiöser Hörfunkangebote von Interesse wären, steht sicherlich im Zentrum, welche Bedeutung diese Programme für die (religiös geleitete) Lebensführung im Verhältnis zu anderen religiös genutzten Medien (Bücher, Internet etc.) und direkten sozialen Erfahrungen in der religiösen Gemeinschaft haben. Dass die kirchlichen Programmangebote in einigen Privatsendern vom herkömmlichen Sonntagmorgen auf den Abend verlegt werden, mag ein aufschlussreiches Indiz für die Anpassung an die Tagesgestaltung der jungen Publikumszielgruppe sein. Obwohl anhand der Datenlage in den Vereinigten Staaten und vereinzelter Erhebungen in Deutschland klar ist,409 dass der seit über 80 Jahren bestehende religiöse Hörfunk kein Randphänomen darstellt, ist das Gebiet für die Religionswissenschaft noch ein »unentdecktes Land«.
4.7 F ERNSEHEN Die Erforschung der Präsentation von Religionen im Fernsehen stellt sich als absoluter Problemfall dar. Der Selbstverständlichkeit, mit der Kirchen in den USA von Beginn an das Fernsehen für ihre Zwecke nutzten (und auch dementsprechend beobachtet wurden), steht hierzulande ein gänzlich kulturkritischer 409 | Das Kölner Domradio verfügte laut einer Allensbach-Studie von 2004 über 60.000 regelmäßige Hörer. Gemäß einer repräsentativen Untersuchung von 2002 in den Vereinigten Staaten nutzten 141 Millionen Gläubige wöchentlich die Angebote der US-amerikanischen Radio- und Fernsehstationen, während nur ca. 132 Millionen die christlichen Gottesdienste besuchten. Genauer betrachtet hatten 52 Prozent der Amerikaner mindestens einmal pro Monat per Radio eine Predigt, eine Talkshow oder eine Lehrstunde verfolgt, während noch 43 Prozent christliche Musiksendungen verfolgt hatten. Vgl. Goethals & Lucas 2005, 7709.
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Diskurs gegenüber, der offenbar bis heute die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik fast vollkommen verhindert hat. Diese akademische Marginalisierung des Phänomens wird in keinster Weise der hohen Bedeutung des Fernsehens im Lebensalltag gerecht – der deutsche Durchschnittszuschauer investiert täglich 3½ Stunden seines Zeitbudgets in den Fernsehkonsum.
4.7.1 Vom »Wort zum Sonntag« zum »Schwert des Islam« Die amerikanischen Kirchen erkannten nach ihren bereits zwei Jahrzehnte währenden Erfahrungen mit dem Rundfunk als Mittel der Mission, Predigt und Seelsorge schnell das Potenzial des Fernsehens. Der 1950 gegründete National Council of Churches of Christ (NCC), in dem die meisten der amerikanischen Mainstream-Kirchen zusammengeschlossen waren, bemühte sich intensiv darum, dass Sendelizenzen nur seinen Mitgliedern vorbehalten blieben, dass Sendeanstalten keine Sendezeiten an unabhängige Kirchen verkaufen durften und dass die religiösen Sendezeiten streng reguliert blieben. Besonders erfolgreich unter den Programmen des NCC war seit den 1950ern die Sendung Life is Worth Living des katholischen Bischofs Fulton J. Sheen (1895-1979). Nicht Mission sondern Unterweisung in den moralischen Lehren der katholischen Kirche in Bezug auf Sünde, Vergebung, Mutterschaft und soziale Pflichten machten die Programme aus, die gleichermaßen von Katholiken wie Protestanten rezipiert wurden. Eine auf Fernsehunterhaltung abzielende Studiogestaltung wurde bewusst vermieden, vom Lehnstuhl aus mit Tafel und Bibel unterwies der väterliche Bischof seine Gläubigen. Eine Folge der strengen Regulierung des religiösen Fernsehmarktes war, dass bis Anfang der 1960er Jahre auf Landesebene nur sehr wenige unabhängige broadcast ministries bestehen konnten, die vor allem durch Rex Humbard (1919-2007), Oral Roberts (1918-2009) und Billy Graham (*1918) geprägt wurden. Der pfingstlerische Prediger Humbard begann 1953 mit der lokalen Ausstrahlung der Gottesdienste aus seinem Calvary Tempel in Akron (Ohio) für die Alten und Kranken. Humbard war auch der erste televangelist, der die Gottesdienste fernsehgerecht umgestaltete: 1958 weihte er eine Kirche mit 5400 Sitzplätzen, weitläufiger Bühne, großem Chor und Orchester mit modernster Bühnen- und Studiotechnik ein, von der aus sonntags seine Cathedral of Tomorrow Gottesdienste an immer mehr Sendestationen übertragen wurden. 1971 umfasste Humbards Kirche 650 angeschlossene Fernsehstationen und 700 Radiostationen und expandierte auch nach Japan, Afrika und Südamerika mit angegebenen acht Millionen Zuschauern. Der Erfolg Humbards beruhte sicherlich auch auf der Betonung der Liebe Gottes, der Sündenvergebung und der Vermeidung kontroverser doktrinaler und politischer Debatten. Die Gottesdienste bestanden aus Predigten und vielen Gesangseinlagen (auch von Humbard und seiner Familie).
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Oral Roberts, in der Tradition der Holiness-Pentecostal-Bewegungen, rief ein anderes Fernsehformat von Gottesdiensten ins Leben, in dessen Zentrum Wunderheilungen durch Handauflegen standen und die in höchstem Maße unterhaltend, dramaturgisch perfekt inszeniert und emotional berührend waren. Diese Art von Heilungsgottesdiensten, in denen die Heilkraft bzw. der Heilige Geist auch durch Berühren der Fernsehmattscheibe übertragen werden konnten, wurde später erfolgreich von Kathryn Kuhlman (1907-1976) und Benny Hinn (*1953) fortgeführt. Daneben konnte der Prediger mit seiner Show Oral Roberts and You, in denen populäre Stars wie Mahalia Jackson auftraten, auch jugendliche Zuschauer für biblische Themen begeistern. Sein luxuriöser Lebensstil und einige aufgedeckte Betrugsfälle im Rahmen der Wunderheilungen kosteten Roberts in den 1980er Jahren jedoch seine Glaubwürdigkeit. Die religiösen Fernsehprogramme des evangelikalen und konservativen Predigers Billy Graham waren die Folge seiner crusades, die zunächst landesweit als Hour of Decision im Rundfunk und ab 1957 als Fernsehübertragungen ausgestrahlt wurden. Diese Bekehrungsveranstaltungen endeten gewöhnlich mit dem Aufruf zum Bekenntnis (come forward to Christ).410 Unter neuen rechtlichen Rahmenbedingungen entstanden dann zwischen 1960 und 1990 auf nationaler Ebene zahlreiche religiöse Fernsehnetzwerke wie das Christian Broadcasting Network (CBN), das Trinity Broadcasting Network (TBN), Praise the Lord Network (PTL) und das Roman Catholic Eternal Word Television Network, LeSea Broadcasting und Pax TV. Diese Sendeanstalten entwickelten ein religiöses Vollprogramm mit Talkshows, Fernsehserien, Gottesdiensten, Messen und Unterweisungssendungen, die gleichzeitig auch per Radio und später weltweit per Satellit ausgestrahlt wurden. Vorläufer dieser Globalisierung war Pat Robertson (*1930), der seit den 1960ern auf CBN seine mehrstündige Talkshow The 700 Club anbietet und hier politische, religiöse und moralische Themen mit evangelikalen Predigern und Theologen sowie gläubigen Prominenten erörtert. Anrufern werden per TV unterstützende Gebete, Heilungen und Exorzismen angeboten. Verbunden mit millenaristischen Hoffnungen auf die nahende Apokalypse zur Jahrtausendwende expandierten CBN und andere Netzwerke weltweit und konzentrierten ihre missionarischen Anstrengungen auf die heilsrelevante Region des Nahen Ostens.411
Die Fernseharbeit christlicher Kirchen in Deutschland Institutionen und Strukturen Mit dem Beginn des regelmäßigen, freilich noch auf zwei Stunden täglich begrenzten Fernsehprogramms in der Bundesrepublik durch den Sendestart der 410 | Vgl. Goethals & Lucas 2005, 7711f. 411 | Vgl. Goethals & Lucas 2005, 7712-7714.
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ARD am 25. Dezember 1952 und des ZDF am 1. April 1963 waren den christlichen Großkirchen an sich außergewöhnliche Privilegien eingeräumt. Die Kirchen verfügen bis heute über ein sogenanntes Drittsenderecht, d.h. dass sie in eigener Verantwortung Sendungen produzieren können und diese dann innerhalb der öffentlich-rechtlichen Programme ausgestrahlt werden müssen.412 Im Allgemeinen sind die Sendeanstalten verpflichtet, die gegenseitige Achtung und Toleranz zwischen den Völkern, Kulturen und Rassen zu fördern und den religiösen Frieden nicht zu stören. In den einzelnen Rundfunkgesetzen und Staatsverträgen der Bundesländer fällt die Rolle der Kirchen in der Programmgestaltung jedoch unterschiedlich aus: Während die Kirchen im Gesetz über den WDR von 1954 nicht erwähnt werden, sehen die Staatsverträge des Bayerischen Rundfunks vor, dass den Religionsgemeinschaften auf Wunsch angemessene Sendezeiten einzuräumen sind. Die Programmrichtlinien des ZDF sehen ferner vor, dass Ehe und Familie als Institutionen nicht in Frage gestellt werden dürfen, dass das gegenseitige Verstehen zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu fördern sei und dass das Programm zur allgemeinen Anerkennung der vom Grundgesetz geschützten sittlichen Ordnung beizutragen habe.413 Die Mitsprache der Kirchen entspricht im Bereich der Sendeanstalten der ARD den bereits im Rahmen des Hörfunks geschilderten Strukturen, während dem 77-köpfigen Kontrollorgan des ZDF, dem Fernsehrat, je zwei Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche und ein Repräsentant der jüdischen Kultusgemeinden angehören.414 Bis auf Radio Bremen verfügen alle öffentlichrechtlichen Fernsehanstalten über eigene Redaktionen, Programmgruppen oder Ressorts, die sich mit der Religionsthematik in mehr oder weniger deutlicher Anlehnung an eine christliche Perspektive auseinandersetzen: BR (Kirche und Welt), MDR, HR, Deutsche Welle-TV (Kirchenredaktion), NDR (Religion und Gesellschaft), RBB (Kirche und Religion), SR, SWR (Religion, Kirche, Gesellschaft), WDR (Religion und Bildung), ZDF (Kirche & Leben). Abgesehen von den religiösen Spartenkanälen räumen die privaten Fernsehsender den Kirchen in geringem Maße Sendezeiten ein, eine rechtliche Verpflichtung hierzu besteht nicht.415 Dass die christlichen Großkirchen in Deutschland über die TELLUX-Holding, die EIKON gGmbH und die Cross Media Medienproduktion auch in der Produktion von (Fernseh-)Filmen, Sendungen und Beiträgen engagiert sind, wurde bereits dargelegt. Eine besondere Stellung nimmt hier MerkurTV ein, die zu je 50 Prozent der TELLUX und der Verlagsgruppe Rheinischer Merkur gehört und 412 | Vgl. Bernard 1999a, 363f. 413 | Vgl. Dörger 1983, 87-89. 414 | Vgl. www.unternehmen.zdf.de (01.09.2009). 415 | Vgl. Haberer 2000, 83.
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zahlreiche unterhaltende und informative Fernsehfilme, Dokumentationen und Magazinbeiträge aus allen Gesellschaftsbereichen produziert. MerkurTV konnte dabei in der Vergangenheit auf die Redaktionen und Korrespondenten des christlich orientierten Rheinischen Merkurs zurückgreifen.416 In Bayern spielt als katholisches Medienhaus der Sankt Michaelsbund eine herausragende Rolle, der das Kindermagazin Anschi, Karl-Heinz & Co. des Bayerischen Rundfunks mitproduziert, während in Baden-Württemberg K!P-Medien für die katholische Kirche Hörfunk- und Fernsehprogramme für private Sender produziert.417 Auf evangelischer Seite übernimmt ERA-TV aus der Evangelischen Medienhaus GmbH, die zu 100 Prozent der evangelischen Landeskirche BadenWürttemberg gehört, entsprechende Funktionen.418 Einzelne Freikirchen und Missionswerke produzieren ebenfalls eigene Fernsehsendungen, die über Lokalsender, Bibel TV oder das Internet ausgestrahlt werden.419 Besonders aktiv sind in diesem Bereich auch die Joyce Meyer ministries um die in den USA äußerst erfolgreiche, evangelikale Predigerin Joyce Meyer (*1943), deren Gottesdienste bzw. Lebenshilfesendungen in Deutschland über Super RTL, Tele 5, Bibel TV, RheinMainTV und BW Family.tv gesendet werden.420 Entsprechend der Filmförderung wird unter der Regie des Gemeinschaftswerkes evangelischer Publizistik seit 1983 jährlich der Robert-Geisendörfer-Preis an je zwei Produktionen des Hörfunks und des Fernsehens verliehen, die in besonderem Maße den christlichen Glauben vertiefen oder zur gegenseitigen Achtung der Geschlechter und zum guten Miteinander von Einzelnen, Gruppen und Völkern beitragen und die Vermeidung von Gewalt fördern. Seit 2004 wird in diesem Rahmen auch ein spezieller Preis für die beste Kindersendung vergeben.421 Zur vertieften Diskussion von aktuellen medienpolitischen Themen bzw. journalistischen Fragen organisiert das Gemeinschaftswerk evangelischer Publizistik jährlich die Tutzinger Medientage und die Berliner Mediengespräche mit Vertretern aus Medien, Politik und Wissenschaft.422
416 | Vgl. www.merkur.tv (01.01.2010). Der Rheinische Merkur wurde jedoch zu Jahresbeginn 2011 eingestellt. 417 | Vgl. www.immer-wieder-sonntags.de; www.kip-tv.de (01.01.2010). 418 | Das Evangelische Medienhaus ist wiederum an der Eikon-Südwest GmbH und dem Privatsender BW Family.tv beteiligt. Vgl. www.evmedienhaus.de (01.01.2010). 419 | Bspw. das Missionswerk Karlsruhe, das Evangelische Fernsehen Augsburg e.V., das Missionswerk Neues Leben e.V., die Hamburger Gemeinde und das Missionswerk Arche e.V. Vgl. www.missionswerk.de; www.evtv.de; www.neues-leben.de; www.archegemeinde.de. 420 | Vgl. www.joyce-meyer.de (01.01.2010). 421 | Vgl. www.gep.de/geisendoerferpreis/index.html (01.09.2009). 422 | Vgl. www.sonntagsblatt.de/603.php (01.01.2010).
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Analog der orientierenden Filmarbeit der Kirchen stellen die Internetportale der katholischen Fernseharbeit (kirche TV) und des Medienbeauftragten der EKD (tv-ev) umfangreiche Programmhinweise auf religionsrelevante Sendungen aus allen deutschsprachigen Fernsehsendern zur Verfügung.423
Fernsehsendungen Zurzeit existieren in Deutschland neben den 25 öffentlich-rechtlichen Kanälen ca. 200 private Spartenkanäle (Nachrichten, Sport, Spielfilme, Kinder, Erotik, Religion), ca. 140 private Regional- und Lokalsender und 60 Offene Kanäle, die Programme in deutscher Sprache senden (ohne Österreich und die Schweiz).424 Während in den »Mutterkanälen« der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten Verkündigungssendungen, Magazine und Dokumentationen zu Kirchen- und Religionsthemen ihren festen Platz haben, spielen sie in den bundesweiten Privatkanälen nur eine marginale Rolle. Allerdings finden sich in den Programmen der lokalen und regionalen Privatsender zunehmend Beiträge und Sendungen aus Medienhäusern mit kirchlicher Beteiligung oder aber Verkündigungssendungen von Freikirchen. Die nachfolgende Zusammenstellung soll einen aktuellen Überblick über das Programmangebot der öffentlich-rechtlichen und privaten Sendeanstalten bieten, um eine Diskussion der Sendeformate zu ermöglichen. Die religiösen Spartenkanäle werden gesondert behandelt. Bereits am 4. Dezember 1952 wurde der erste katholische Gottesdienst im NWDR-Versuchsfernsehen ausgestrahlt, es folgten zu besonderen Festtagen Live-Übertragungen von Messfeiern und ab 1955 auch von Vespergottesdiensten. In den 1970er Jahren wurde entschieden, jeden Sonntag abwechselnd einen evangelischen und einen katholischen Gottesdienst aus großen und kleinen Gemeinden des gesamten Bundesgebietes zu übertragen, der vor allem den Kranken und Alten eine Teilnahme an der liturgischen Feier ermöglichen sollte. Aus theologischen Erwägungen dürfen katholische Eucharistiefeiern nur live übertragen werden. Das ZDF sendet jeden Sonntagmorgen die Fernsehgottesdienste; die ARD gestaltet die Übertragungen an christlichen Feiertagen. Das pastorale Format der Übertragungen wurde sukzessiv ausgebaut, im Anschluss an den Gottesdienst können die Verantwortlichen der jeweiligen Gemeinde heute direkt per Telefon, per Brief oder E-Mail bzw. Chat kontaktiert werden. Neuerdings wird im Online-Angebot des ZDF nach jedem katholischen Gottesdienst unter dem Titel Godpod noch eine mehrminütige Meditation angeboten.425
423 | Vgl. www.kirche.tv; www.tv-ev.de (01.01.2010). 424 | Eine aktuelle Übersicht bietet hier nur Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/ Liste_deutschsprachiger_Fernsehsender (01.01.2010). 425 | Acht Prozent der Katholiken geben an, häufig die Gottesdienstübertragungen zu verfolgen. Vgl. MDG 2010a, S. 86f.; MDG 2010b, 156; Kranemann 2007, 182-184; Dör-
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Die nach der Tagesschau älteste Sendereihe überhaupt im deutschen Fernsehen ist die Verkündigungssendung Das Wort zum Sonntag, die seit dem 8. Mai 1954 jeden Samstagabend in der ARD ausgestrahlt wird – zunächst als zehnminütiger Wortbeitrag nach der Tagesschau, inzwischen auf dreieinhalb bis vier Minuten gekürzt und auf einen Sendeplatz nach den Tagesthemen, also nach 22.00 Uhr oder 23.00 Uhr, verbannt. Konzipiert ist die Sendung als Fernsehkurzpredigt, zunächst mit wöchentlich wechselnden Sprechern der beiden christlichen Großkirchen, heute mit einem Team aus sieben Geistlichen, die für den Medienauftritt geschult sind und über einen längeren Zeitraum die Beiträge gestalten. War die Sendung zunächst als Ansprache vor einem neutralen Hintergrund inszeniert, so finden sich die Sprecher in den vergangenen Jahren bisweilen mitten in der Stadt oder in der Natur ein. Den Machern der Sendung ist ein vielseitiges Bemühen um ihre Botschaft anzumerken: Die Texte sind im Videotext, als Newsletter, als Brief und im Internet verfügbar, neuerdings bieten die katholischen Sprecher auch noch einen eigenen Blog mit Gedanken und Hintergründen zu ihren Texten an. Immerhin acht Prozent der Katholiken geben an, die Sendung häufig zu verfolgen.426 Die nachhaltige Wirkung der Kurzpredigten ist allerdings fraglich, da es einerseits im Gemeindeleben keinen Raum gibt, um Das Wort zum Sonntag zu vertiefen und zu diskutieren und andererseits das Format der Sendung keine pastorale Betreuung der Zuschauergemeinde vorsieht.427 Im Schweizer Fernsehen (Deutschschweiz) startete das Wort zum Sonntag ebenfalls schon 1954 und konnte seinen Sendeplatz am Samstagabend um 19.55 Uhr (SF 1) sogar behaupten. Die Theologen der katholischen, reformierten und altkatholischen Konfessionen können dabei durchschnittlich beachtliche 500.000 Zuschauer ansprechen. Im Rahmen der Anstrengungen einer besseren Integration der muslimischen Migranten hat sich in jüngster Zeit das Spektrum des religionsrelevanten Programmangebotes im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein wenig erweitert: In Analogie zum christlichen Wort zum Sonntag bietet der SWR seit April 2007 auf seinem Internetangebot ein hör- und lesbares Islamisches Wort an, das zurzeit von vier Autorinnen und Autoren arrangiert wird, die teils muslimischen Verbänden wie dem Zentralrat der Muslime in Deutschland und dem türkischislamischen Verband DITIB angehören. Die monatlich verfassten Beiträge von ca. fünf Minuten Sprechdauer sind informativ und explikativ.428 ger 1983, 89; Bernard 1999a, 363f.; Kranemann 2007, 185-188; www.fernsehgottesdienst.de/52_4093.htm (01.01.2010). 426 | Vgl. MDG 2010, 86f.; MDG 2010b, 156. 427 | Vgl. Ayaß 1998, 417-441; Dörger 1983, 89; www.daserste.de/wort (01.01.2010). 428 | Vgl. www.swr.de/contra/-/id=7612/nid=7612/did=1983650/mpdid=1983652/ 1cg jfqd/index.html (01.01.2009).
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Das ZDF startete im Juli 2007 ebenfalls als Online-Angebot das wöchentliche Forum am Freitag, das kurze Zeit später auch in das Programm des ZDF Infokanals aufgenommen wurde. Die rund 10-minütigen Filmbeiträge werden von zwei in Deutschland aufgewachsenen und ausgebildeten Journalisten muslimischen Glaubens, Kamran Safiarian und Abdul-Ahmad Rashid, redaktionell gestaltet. Einen Schwerpunkt der Sendungen, die ausdrücklich das Ziel einer besseren Integration der Muslime in Deutschland verfolgen, bilden insbesondere Themen des interkulturellen (!) Dialogs und Verstehens – viele der Beiträge sind allerdings sichtbar an nicht-muslimische Zuschauer gerichtet und erklären per »Experteninterview« mit muslimischen Persönlichkeiten (sowohl Theologen als auch Laien) islamische Feste, Riten und Glaubenspositionen in deutscher Sprache. Formulierungen wie »im Islam ist dies so und so …« objektivieren den Gegenstand in journalistischer Distanz. Häufig werden auch gerade christliche Anlässe, wie Weihnachten, zum Ausgangspunkt für die Frage nach den »entsprechenden« islamischen Festen genommen. Predigten oder die in islamisch geprägten Ländern üblichen Live-Übertragungen des alljährlichen Hadsch oder des Fastenbrechens sind im Rahmen des Forums am Freitag bisher nicht vorgesehen. Über die Onlineplattform ist das Programm mit einem betreuten und rege genutzten Diskussionsforum, einem Online-Lexikon zum Islam und den umfangreichen Fernsehdokumentationen der Reihe Terra X zur Geschichte und zu aktuellen Aspekten des Islam vernetzt.429 Der SWR bietet darüber hinaus in seinem Online-Angebot auch Wort- und Musikbeiträge des württembergischen Landesrabbiners Joel Berger zu den jüdischen Festtagen wie Chanuka, Jom Kippur oder Pessach an. Die ca. 20-minütigen Sendungen sind anders als die entsprechenden Sendungen zum Islam ausdrücklich an die jüdische Gemeinde gerichtet – Berger spricht seine Zuhörer mit »wir« und »uns« an, was nicht ausschließt, dass der explikative Teil der Ansprache auch für Nicht-Juden erhellend sein kann.430 Sowohl die Sendungen des SWR als auch des ZDF zum Islam orientieren sich dagegen an journalistischen Formaten und mit Blick auf die nicht-muslimische Zielgruppe trotz der im Titel suggerierten Nähe zum Wort zum Sonntag keine Verkündigungssendungen. Die unterschiedliche Gestaltung der christlichen, jüdischen und »islamischen« Sendungen können daher als medialer Diskurs zur Konstruktion von religiöser Identität und Alterität gelesen werden – der muslimische Glaube wird hier als etwas Anderes und Fremdes präsentiert – ein muslimischer Geistlicher, der die Zuschauer mit »wir« anredet, scheint den Programmverantwortlichen zurzeit noch nicht zumutbar zu sein. Wirklich innovativ waren im Sommer 2010 dagegen auf dem Privatsender RTL 2 wäh429 | Vgl. www.forumamfreitag.zdf.de (01.01.2010). 430 | Vgl. www.swr.de/contra/-/id=7612/nid=7612/did=1983650/mpdid=1983666/ 10bik73/index.html (01.01.2010).
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rend des Ramadan vom 11. August bis zum 9. September die Hinweise auf den Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, die den Rahmen des täglichen Fastens markieren. Neben den Gottesdienstübertragungen und dem Wort zum Sonntag greifen eine ganze Reihe von Magazinsendungen und Dokumentationsreihen christliche Themen, Fragen und Probleme auf. Sie verstehen sich schon seit den 1990ern weniger als Verkündigungssendungen, sondern wollen die Kirche(n) mit ihren Antworten mitten im Leben und der Gesellschaft zeigen.431 Das 30-minütige Magazin im sonntäglichen Vorabendprogramm der ARD, Gott und die Welt, präsentiert denn auch informative Reportagen zu aktuellen Themen aus dem In- und Ausland wie der Patientenverfügung, dem Jerusalemer Tempelberg, Entwicklungshilfe; ein expliziter Bezug auf christliche Glaubenspositionen bleibt in der Regel aus.432 Im ZDF beginnt der Sonntagmorgen seit April 2003 mit der Sendung sonntags als Einstimmung auf den »Tag des Herrn« jenseits der Hektik des Berufslebens. Es stellt vor allem inspirierende Menschen in ihrem Engagement für die Schwachen der Gesellschaft vor und nimmt hierbei immer wieder auch Bezug zur »Spiritualität im Christentum, dem Islam oder Buddhismus«.433 Das Fernsehen des Bayerischen Rundfunks sendet neben Gottesdienstübertragungen an christlichen Feiertagen das sonntägliche Magazin Stationen, das in Reportagen, Portraits und Hintergrundberichten vor allem Themen aus dem Katholizismus präsentiert, aber gelegentlich auch protestantische und nichtchristliche Aspekte des religiösen Lebens anspricht. Ein kindgerechtes Angebot stellt hier das sonn- und feiertägliche Magazin Anschi, Karl-Heinz & Co. dar, das Geschichten, Probleme und Fragen aus dem Alltag von Kindern und Jugendlichen um den Engel Anschi, eine Pfarrersfamilie und weitere Figuren aufbereitet.434 Schwerpunktmäßig Beiträge und Dokumentationen zu ethischen Fragen und sozialen Problemstellungen, die zum Teil theologisch und philosophisch reflektiert werden, präsentieren die Sendereihen Horizonte – Gesellschaft und Religion (HR), Himmel und Erde (RBB) und Glaubenssachen (Deutsche Welle-TV).435 Sehr beliebt ist zurzeit die Personalisierung christlicher Themen durch Portraits von engagierten Christen in den Sendereihen nah_dran (MDR), glaubwürdig (MDR), Menschen unter uns (SWR) oder einfach von Menschen in ihrer »Lebensblüte und Lebenskrisen« in Tag 7 (WDR). Einige dieser Dokumentationen, 431 | Vgl. Bernard 1999a, 365. 432 | Vgl. www.daserste.de/gottunddiewelt (01.01.2010). 433 | Vgl. http://sonntagzdf.de (01.01.2010). 434 | Vgl. www.br-online.de (01.01.2010). 435 | Vgl. www.rbb-online.de/himmelunderde; www.hr-online.de; www.dw-world.de/ dw/0,,3668,00.html (01.01.2010).
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die sich meist über 30 Minuten erstrecken, weisen allerdings gar keine Bezüge mehr zum Christentum oder zur Religion auf.436 Im Norddeutschen Rundfunk redet Pastor Jan Dieckmann in der ökumenischen Talkshow offen gesagt achtmal im Jahr mit Gästen über Werte, Alltagskonflikte und Nächstenliebe.437 Der Saarländische Rundfunk präsentiert dagegen am Donnerstagabend einen dreiminütigen Filmbeitrag oder Kommentar Aus christlicher Sicht zu Ereignissen und Unternehmungen meist innerhalb der saarländischen Kirchen.438 Ein besonderes Format stellen die Lichtblicke des Südwestrundfunks an hohen kirchlichen Feiertagen dar, hier werden in einem fünfminütigem Beitrag Kirchenfenster vorgestellt.439 Innerhalb der Kinderprogramme wiederum stehen die Vermittlung biblischer Stoffe in Serien wie Der kleine Bibelfuchs oder Jesus & Josefine im Vordergrund.440 Das Fernsehen von Radio Bremen verfügt über kein eigenes Programmangebot im Religionsbereich.441 In den drei bundesweit ausgestrahlten Privatsendern, die überhaupt kirchenbezogene Programme enthalten, fallen die entsprechenden Sendungen deutlich kürzer aus. Nur der Nachrichtenkanal N24 sendet noch jeden Sonntag die 30-minütige Talksendung Um Gottes Willen – N24 Ethik, in der im wöchentlichen Wechsel der Kapuzinermönch Bruder Paulus Terwitte für die katholische Kirche und die Richterin Julia Scherf für die evangelische Kirche mit prominenten Gästen über Glauben und Werte in ihrem Leben diskutieren.442 Innerhalb des Boulevardmagazins Exclusiv Weekend (RTL) wird sonntags gegen 18.30 Uhr der 30-sekündige Bibelclip gezeigt, in dem aktuelle Ereignisse mit Bezug auf einen Bibelvers präsentiert werden, während montags innerhalb des Morgenmagazins Punkt 6 in der Sendereihe Mittelpunkt Mensch kurze Portraits von sozial engagierten Christen präsentiert werden.443 Auf Sat.1 erzählen sonntags im Morgenmagazin Weck Up unter der Rubrik Sunday Up Prominente in knappen Sätzen, wie sie ihren Sonntag verbringen und welche Bedeutung der Tag für sie 436 | Vgl. www.mdr.de; www.swr.de/menschen-unter-uns/index.html; www.wdr.de/tv/ tag7 (01.01.2010). 437 | Vgl. http://www1.ndr.de/radio/err/fernsehkirche/err174.html (01.01.2010). 438 | Vgl. http://cmbistum-trier.de/bistum-trier/Integrale?SID=82484CEE22B2AE72 8AD522 4DBAD0D672&MODULE=Frontend&ACTION=ViewPage&Page.PK=1145 (01. 01.2010). 439 | Vgl. www.swr.de/menschen-unter-uns/index.html (01.01.2010). 440 | Die Serien wurden im KI.KA in den vergangenen Jahren ausgestrahlt. Vgl. Debertin 2007, 97f. 441 | Die von der evangelischen Kirche initiierte Talkshow Tacheles auf dem Nachrichtensender Phoenix (2007) und der Film-Tipp auf ProSieben bestehen offenbar nicht mehr. 442 | Vgl. www.n24.de (01.01.2010). 443 | Vgl. www.rtl.de (01.01.2010). Die Bibelclips hat Reichertz (1999) untersucht.
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hat. In ca. 90 Sekunden sprechen am Samstagnachmittag Pater Paulus Terwitte und andere katholische Geistliche in der Sendung So gesehen einen kurzen Denkanstoß meist zu aktuellen Anlässen.444 Auch in dem Unterhaltungssender Tele 5 werden z. Z. täglich Programme des Missionswerkes Karlsruhe oder von Joyce Meyer gezeigt.445 Im Bereich der regionalen und lokalen Privatsender – eine systematische Erhebung unter den ca. 140 Kanälen wäre hier dringend geboten – sei an dieser Stelle nur beispielhaft auf das ökumenische Kirchenmagazin Immer wieder sonntags hingewiesen, das vom Medienhaus Sankt Michaelsbund und dem evangelischen Presseverband produziert wird und wöchentlich von zwölf privaten Lokal- und Regionalsendern in Bayern und von Bibel TV ausgestrahlt wird.446 Die wöchentliche Gesprächssendung Alpha & Omega zu aktuellen Themen rund um Kirche und Gesellschaft wird im Auftrag der Diözesen Freiburg und RottenburgStuttgart sowie der evangelischen Landeskirche Württemberg produziert und in verschiedenen Regionalsendern des Landes und bei Bibel TV ausgestrahlt.447 Das wohl umfangreichste Kirchenprogramm umfasst der Regionalsender RheinMainTV, täglich finden sich mehrere Sendungen von Gottesdiensten und Missionsveranstaltungen sowie von charismatischen Predigern wie Reinhard Bonnke, Benny Hinn und Volkhard Spitzer.448 Inwiefern auch nicht-religiöse Spartenkanäle wie bspw. der Serien- und Spielfilmkanal Das Vierte vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen verstärkt religiöse Programmanteile aufnimmt, wäre in weiter gehenden Studien zu überprüfen.449 Wenn diese kirchlichen Programmanteile im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in den bundesweiten Privatkanälen gering erscheinen mögen, so muss auch berücksichtigt werden, dass es seitens der teils konfessionell ausgerichteten Kirchenredaktionen der Sender neben diesen regelmäßigen Angeboten auch umfangreiche Berichterstattungen und Live-Übertragungen zu besonderen Ereignissen wie Kirchentagen, Papstbesuchen, -wahlen und -begräbnissen gibt, die Hubert Mohr zu der zugespitzten Einschätzung verleiten, dass es sich hierbei um »Kultpropaganda unter dem Deckmantel von Religionsinformation« handele.450 444 | Für Sat.1 ist die Sendung offenbar so marginal, dass es keine Informationen dazu auf der entsprechenden Homepage gibt. Teilweise archiviert sind die Sendungen unter www.kirche.tv/default.aspx?TabId=56&FilterId=28&stp=1 (01.01.2010). 445 | Vgl. www.tele5.de (01.01.2010). 446 | Vgl. www.immer-wieder-sonntags.de (01.01.2010). 447 | Vgl. www.kip-tv.de; www.kirchenfernsehen.de (01.01.2010). 448 | Vgl. www.rheinmaintv.de; www.citykircheberlin.de/; www.bonnke.net/cfantv (01.01.2010). 449 | Das Vierte sendet zurzeit täglich die Sendung Living Gospel – Antworten aus Gottes Wort, die vom freikirchlichen Missionswerk Karlsruhe produziert wird. 450 | Mohr 2008, 131.
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Religiöse Spartenkanäle Nach wie vor ist es ein schwieriges Unterfangen, auf dem deutschen Fernsehmarkt kostendeckende oder gewinnbringende religiöse Spartenkanäle zu etablieren. In der vergangenen Dekade ist es dennoch einigen Sendern gelungen, sich mit unterschiedlichen Programmformaten zu etablieren. Vorreiter war in dieser Hinsicht EWTN-TV (Eternal Word Television Network), das 1981 von der US-amerikanischen Franziskaner-Klarissin Mutter Angelica als katholisches Missionsfernsehen gegründet wurde. Es soll eine Alternative zur Pornografie, Gewalt und Belanglosigkeit der kommerziellen Fernsehsender bieten mit einem katholisch orientierten Programm aus positiven Nachrichten, Bildung, Lebenshilfe, Talkshows, Spielfilmen, der Messfeier und Live-Übertragungen aus Rom. Das Netzwerk, das sich gänzlich aus Spenden finanziert, erreicht inzwischen über 140 Millionen Haushalte in 144 Ländern und strahlt ein 24-Stunden-Programm in englischer und spanischer Sprache aus. Seit Oktober 2000 wird auch ein deutschsprachiges Programm von derzeit fünf Stunden täglich angeboten, das per Satellit oder Live-Stream im Internet empfangen werden kann.451 Bereits seit September 1999 strahlt der ebenfalls spendenfinanzierte, römisch-katholisch ausgerichtete Sender K-TV (Kephas-TV) sein Programm aus, inzwischen via Satellit, Kabel und Internet. Der Kanal geht auf das persönliche Engagement des Schweizer Pfarrers Hans Buschor zurück, der bereits seit den 1960er Jahren filmisch aktiv war und hierin die Chance sah, auch im deutschsprachigen Raum ein Pendant zum säkularen Fernsehen zu realisieren. Das Programm ist von durchgehend katholischer Prägung: Im Zentrum stehen Vorträge und Predigten katholischer Geistlicher, Filmbeiträge über Heilige und Katholiken in aller Welt, Rosenkranzgebete und die tägliche Übertragung einer Heiligen Messe. Nachrichtensendungen und die Kinderstunde ergänzen das Programm.452 Auf Initiative und mit maßgeblicher finanzieller Unterstützung des christlich engagierten Verlegers Norman Rentrop453 konnte im Oktober 2002 der deutschsprachige Sender Bibel TV seinen Betrieb aufnehmen. Gesellschafter von Bibel TV sind mit 52 Prozent Anteilen die Norman Rentrop Stiftung, mit
451 | Vgl. www.ewtn.de (01.01.2010). 452 | Vgl. www.k-tv.org (01.01.2010). 453 | Rentrop ist Gründer und Anteilseigner des Verlags für die Deutsche Wirtschaft, der seit 2000 den ökumenischen Predigtpreis vergibt, er ist ferner berufenes Mitglied der evangelischen Landessynode im Rheinland und Kuratoriumsmitglied des Vereins ProChrist, der seit 1993 Großevangelisationsveranstaltungen mit europaweiter Satellitenübertragung organisiert.
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25,5 Prozent Anteilen die ekd-media GmbH454 und die katholische Astratel455 sowie eine Reihe von Freikirchen und Missionswerken.456 Der Sender finanziert sich großenteils über Spenden, in geringerem Umfang über Werbung, und kann auf jährliche Steigerungen des Spendenaufkommens von 15 Prozent zurückblicken. Das 24-stündige Vollprogramm, das via Satellit und digitalem Kabelfernsehen von ca. 50 Millionen Haushalten in Europa empfangen werden kann, umfasst Gebets- und Musiksendungen, Lebenshilfe-Magazine und pastorale Lebensberatung (Betesda), Talksendungen (Club 700), Andachten, Gottesdienste, Dokumentationen und Nachrichten (IdeaFernsehen).457 Der Jugendsender Tru Young Television von Bibel TV wurde von Dezember 2007 bis Juni 2009 per Satellit ausgestrahlt und ist seither nur noch mit einem reduziertem Programm (vor allem Konzerte und Musikclips) via Live-Stream und archivierten Sendungen (z.B. auf Cross.TV) abrufbar.458 Ein »wertorientiertes Vollprogramm« bietet der im Februar 2006 gestartete Sender BW Family.tv an, der über das Kabelnetz in Baden-Württemberg empfangen werden kann. Gesellschafter sind neben kommerziellen Medienunternehmen die ERB Medien GmbH und die Evangelische Medienhaus GmbH.459 Neben Unterhaltungssendungen und regional ausgerichteten Nachrichtenund Informationssendungen werden täglich mehrere kirchenbezogene Formate ausgestrahlt, die sich zum Teil auch auf Bibel TV wiederfinden (Joyce Meyer, Alpha & Omega). Der Sonntag ist praktisch durchweg religiösen Programmen vorbehalten.
454 | Die ekd-media GmbH als Zusammenschluss der EKD, des Rundfunkbeauftragten der EKD und des Gemeinschaftswerkes der evangelischen Publizistik realisiert und vermarktet Film- und DVD-Produktionen, die von der EKD gefördert wurden. Vgl. www. ekd-media.de (01.01.2010). 455 | Astratel ist als Tochter der TELLUX-Gruppe eine Radio- und Televisionsbeteiligungsgesellschaft. Vgl. www.astratel.org (01.01.2010). 456 | Dazu gehören der ERF Medien e.V., die Stiftung Christliche Medien, der Campus für Christus e.V., die Vereinigung Evangelischer Freikirchen, der Geschenke der Hoffnung e.V., der Christliche Medienverbund KEP e.V., der Mediavision e.V., die Deutsche Bibelgesellschaft, die Cornhouse Stiftung International, das Gemeinde und Missionswerk Arche e.V., der Neues Leben e.V., der cfnet e.V. und das Evangelische Fernsehen Augsburg e.V., vgl. www.bibeltv.de/gesellschafter/seite-1.html (01.01.2010). 457 | Viele der Sendungen sind online archiviert und abrufbar. Vgl. www.bibeltv.de (01.01.2010). 458 | Vgl. www.trutv.de; http://de.crostv (01.01.2010). 459 | Die ERB Medien GmbH ist eine Tochter des Evangelischen Rundfunkdienstes Baden gGmbH, die wiederum der Evangelischen Landeskirche Baden gehört. Die Evangelische Medienhaus GmbH gehört der Evangelischen Landeskirche Württemberg.
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Erst seit Januar 2009 verbreitet ERF Fernsehen die christliche Botschaft via Satellit und Kabel unter seinen Zuschauern. Hatte der Evangeliums Rundfunk aus Wetzlar zuvor schon einzelne Sendungen für Bibel TV produziert (z.B. die Talksendung Hof im Himmel, das Magazin Gott sei Dank!), so wird nun ein eigenes 24-stündiges Vollprogramm mit Nachrichtensendungen (ideaTV), einem christlichen Kinderquiz (JoeMax.TV), Bibelsendungen (Bibelgespräch, Schlag die Bibel auf), Predigt- und Diskussionssendungen (ProChrist TV), vielfältigen Dokumentationen (Calando TV), Lebenshilfen (Nikodemus TV), Jugendreihen (Destiny) und Portraits (Art des Lebens, Wert(h)e Gäste) angeboten. Die Mehrheit der Sendungen ist auch im Online-Angebot von ERF Fernsehen abrufbar.460 Der jüngste unter den deutschsprachigen religiösen Spartenkanälen ist Hope Channel TV, das Fernsehen der Stimme der Hoffnung, dem Medienwerk der Siebenten-Tags-Adventisten. Der deutschsprachige Sender, der über Satellit und Live-Stream empfangen werden kann, startete sein Programm am 1. März 2009 und bietet verstärkt Talksendungen (Kirche & Co., Im Gespräch, Auserlesen), Musiksendungen teils zum Mitsingen (Sing mit!), Lebenshilfesendungen mit Gesundheitsthemen (fit & gesund, Gesundheit entdecken) oder Portraitierungen (Erben der Reformation) und Gottesdienstübertragungen an. Die besondere Theologie der Siebenten-Tags-Adventisten kommt nur in einigen der Sendeformate zum Tragen.461 Im Bereich der deutschsprachigen neuen Religionen ist das Universelle Leben der Prophetin Gabriele Wittek besonders ambitioniert: Über die drei Satellitenkanäle Die Neue Zeit TV, Erde & Mensch und über den Sender Neu Jerusalem für das Friedensreich Jesu Christi werden neben zahlreichen Tierfilmen (die Anhänger sind Veganer) Verkündigungssendungen (Lebensschule), Nachrichten und Kinderprogramme in deutsch, englisch und italienisch verbreitet.462 Außerhalb der christlichen Sendeangebote bestehen im Rahmen der deutschsprachigen Programme noch der Verkaufs- und Beratungssender Astro TV, der via Live-Stream und über Satellit ein eigenes 24-stündiges Programm ausstrahlt und auch täglich über Das Vierte, den KI.KA und sonnenklar.tv empfangen werden kann.463 Vorgeblich stärker an der Wicca-Tradition orientiert ist der Beratungssender viktie.tv mit wöchentlicher Live-Beratung von einer Stunde; das telefonische Beratungsangebot rund um die Initiatorin, der populären deutschen Hexe Thea, umfasst jedoch wie Questico ein weites Spektrum von Divinationspraktiken.464 Nur noch via Internet ist der Kanal Telemedial, der »Sen460 | Vgl. www.erf.de (01.01.2010). 461 | Vgl. www.hopechannel.de (01.01.2010). 462 | Vgl. www.nuova-gerusalemme.tv; www.erde-und-mensch.org; www.die-neuezeit-tv.ch (01.01.2010). 463 | Vgl. www.astrotv.de (01.01.2010). 464 | Vgl. http://viktie.tv (01.11.2010).
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der für innere Heilung«, mit eingeschränktem Lebenshilfe-Programm rund um Thomas Hornauer erreichbar.465 Abschließend sei noch auf Jürgen Fliege (*1947) hingewiesen, dem wohl einzigen deutschsprachigen »Fernsehpfarrer«, der sich auf dem Lebenshilfemarkt sichtbar etablieren konnte. Von 1994 bis 2005 moderierte er in der ARD die Talkshow Fliege, die sich mit Gesundheitsthemen und Prominentengesprächen an ein vorwiegend älteres Publikum wandte. Die Nachfolgesendung Flieges Welt, die sich ebenfalls hauptsächlich um Heilmethoden und berührende Lebensgeschichten dreht, wurde von 2006 bis 2008 auf dem inzwischen eingestellten Satellitensender Help-TV ausgestrahlt, ist heute aber wieder täglich über zehn süddeutsche Regionalsender und BW Family.TV empfangbar. Über seine multimediale »Internetkirche« kann man die Programme ebenfalls abrufen sowie ausgewählte Bibelworte einsehen, Flieges »kleine Predigt« lesen, eine Kerze entzünden, spenden oder Kontakt zur Stiftung Fliege oder dem (Pilger-) Reiseunternehmen Fliegereisen aufnehmen.466
Andere Sendeformate Religionen in Nachrichten und Berichterstattung Die bisherigen Beispiele haben verdeutlicht, dass eine einfache Kategorisierung von Fernsehsendungen und Beiträgen von Religionen einerseits und über Religionen andererseits, wie sie Hubert Mohr und Hans Joachim Dörger vorschlagen und gleichzeitig problematisieren,467 in der Praxis recht schwierig ist. Berichterstattung über Religionen kann auch Selbstdarstellung der Religionen bedeuten, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass nur den christlichen Kirchen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen so viel Raum für Berichterstattung über Religionsthematiken und -fragen zugestanden wird. Andererseits können auch Beiträge klassischer Kirchenredaktionen so fern von Religionsthemen angesiedelt sein, dass ein Bezug zum Christentum gar nicht mehr erkennbar ist. Da auch die religiösen Spartenkanäle neben speziellen Schöpfungen wie Gebetssendungen, Predigt- und Gottesdienstübertragungen weitestgehend die bewährten Formate der etablierten Vollprogramme übernehmen (Nachrichtensendungen, Talkshows), so kann auch hier nicht per se ein religiöses Sendeformat identifiziert werden. Gerade die Nachrichtensendungen der christlichen Spartenkanäle sind in ihrer Aufmachung – von der einleitenden musikalischen Fanfare bis zum Studiodesign und den Sprechern – an die Formate der großen Fernsehsender angelehnt. Inhaltlich müssen sich diese Sendungen nicht zwangsläufig von entsprechenden Beiträgen in den Kirchenmagazinen der öf465 | Vgl. www.orangetable.de (01.01.2010). 466 | Vgl. www.fliege.de (01.01.2010). 467 | Vgl. Mohr 2008, 130f.; Dörger 1983, 89.
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fentlich-rechtlichen Anstalten unterscheiden – die jeweilige Ausrichtung der verantwortlichen Redaktionen kann hier die Spielräume für eine neutrale oder aber kommentierende, wertende oder perspektivisch einseitige Berichterstattung ausschöpfen. Der KI.KA bspw. verfolgt erklärtermaßen auch das Ziel, in seiner kindgerechten Berichterstattung über religiöse Ereignisse die Bedeutung und die Erinnerung an die Herkunft christlicher Feste zu vermitteln.468 Aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen (Religionsfrieden) sind Beiträge in den öffentlich-rechtlichen Medien jedoch einem ökumenischen Geist verpflichtet. Mission und die explizit affirmative oder negative Berichterstattung über eine der beiden Großkirchen verbietet sich – reine Verkündigungssendungen wie Das Wort zum Sonntag und Gottesdienstübertragungen werden paritätisch aufgeschlüsselt. In den privaten Kanälen ist prinzipiell jede Art von Verkündigungs- und Missionssendung erlaubt, solange sie nicht gegen grundsätzliche Medienrichtlinien verstoßen. Dieses Manko einer klaren Identifizierung »religiöser« Sendeformate eröffnet im positiven Sinne jedoch den systematischen Blick auf Berichterstattung über Religionen, seien diese nun von allgemeinen Redaktionen, von konfessionell neutralen Religionsredaktionen oder von (frei-)kirchlichen Produktionsfirmen realisiert worden. Der Fragehorizont umfasst damit sowohl die Religionsberichterstattung der Tagesschau wie auch von IdeaTV, der Nachrichtensendung von ERF Fernsehen. Inwiefern hier religiöse Werthaltungen bei der Auswahl, Präsentationen und ggf. Kommentierung der Gegenstände von Berichterstattungen Berücksichtigung finden, muss hier wie dort im Einzelnen erörtert werden. Auf eine gewisse Tradition kann auch die pseudo-dokumentarische Aufarbeitung paranormaler Phänomene im Fernsehen zurückblicken. Formal an populärwissenschaftliche Präsentationen (Quellenmaterial, Augenzeugenberichte und Experteninterviews) angelehnt, eröffnen die Phantastischen Phänomene (Sat1 1992/93) und PSI – Phänomene zwischen Himmel und Erde (ARD 1993) den Blick in entsprechenden Magazinsendungen und Reportagen auf die Dimension PSI (ARD 2003). Seit jüngstem wird der Thematik auch ein eigenes Showformat gewidmet: In The next Uri Geller – Unglaubliche Phänomene Live (ProSieben 2008-09) bewarben sich medial begabte Protagonisten mit ausgefallenen Showeinlagen um die Nachfolge Gellers. In der 2008 ausgestrahlten Sondersendung Uri Geller Live – Ufos & Aliens: das unglaubliche TV-Experiment sollten Interviews mit den anerkannten Experten für Extraterrestrik (Erich von Däniken und Nina Hagen) die Zeit überbrücken, während man (erfolglos) auf eine Antwort der Außerirdischen auf eine live per Radioantenne ins All gesendete Nachricht wartete.
468 | Vgl. Huff 2007, 94f.
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Religionen in der Fernsehdokumentation Neben den streng wissenschaftlichen Filmproduktionen im Rahmen der visuellen Anthropologie entstand mit der Pluralisierung des kommerziellen und privaten Fernsehangebotes ein breites Spektrum an Dokumentationen über historische oder gegenwärtige Formen des religiösen Lebens. Bedeutend ist hier der 1985 gegründete Discovery Channel, der in 33 Sprachen in 155 Ländern weltweit Dokumentationen ausstrahlt und neben den großen öffentlichen Sendeanstalten wie BBC, NBC oder ARD/ZDF/3sat/arte den wichtigsten Markt für nichtfiktionale Filmproduktionen darstellt. Publikumswirksame Themen kreisen vor allem um die Geschichte des Christentums und Judentums (Dem Stammvater auf der Spur, ZDF 2009), des Alten Ägypten (The Assassination of King Tut, Discovery Channel Serie 2002-2005), allgemein der »Weltreligionen« in Hans Küngs siebenteiliger Serie Spurensuche (1999) und des Buddhismus in Tibet und Nepal (Tibet –Reise durch ein verbotenes Land, 2009).469 Hubert Mohr ordnet diese Produktionen dem sogenannten infotainment bzw. edutainment zu, da hier nicht die wissenschaftliche Dokumentation, sondern die attraktive Aufbereitung für größere Publikumszielgruppen im Vordergrund stehe.470 Der Reiz der Exotik führt dabei zu einer Marginalisierung der Vielfalt europäischer Religionen im Fernsehprogramm. Ein im deutschen Sprachraum ausgeprägter Sonderfall von Fernsehdokumentationen liegt mit den Filmen über »Sekten« und christliche Freikirchen vor, die mit bewusst abwertenden Titeln und einseitigen Schilderungen nachfolgend als apologetische Filme besprochen werden, da sie die Richtlinien einer objektiven Berichterstattung zugunsten von attraktiven Dramatisierungen preisgeben.
Der apologetische Film Aus der spezifischen Konstellation von religiösem Schulunterricht an öffentlichen Schulen und der Filmarbeit der Evangelischen und der Katholischen Kirche in Deutschland entstanden seit Ende der 1970er Jahre eine ganze Reihe von Filmen zunächst für ein jugendliches Publikum, die sich mit neuen Religionen unter dem Schlagwort »Sekten« befasst haben. Die Grenzen zu investigativen Fernsehdokumentationen vor allem der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind fließend, auch wenn der erzieherisch-apologetische Charakter vieler Filme klar erkennbar ist. Über Ausstrahlungen in den Fernsehprogrammen, aber auch über die Landesmedienstellen und die zugeordneten Kreismedienstellen (vormals Kreisbildstellen) wird ein Großteil dieser Filme für den Religions- und Ethikunterricht zugänglich gemacht und somit in die Religionspädagogik eingebettet. Innerhalb der vergangenen Jahrzehnte haben sich zwei inhaltliche Schwerpunkte des apologetischen Filmes herausgebildet. 469 | Zum tibetischen Buddhismus im Dokumentarfilm vgl. Schaedler 2002, 212-214. 470 | Vgl. Mohr 2008, 130f.
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Richtungweisend war hier der halbdokumentarische Spielfilm Beate S. in der Sekte (1978), in der eine junge, orientierungslose Frau in der Wohngemeinschaft einer nicht näher bestimmten »Sekte« zunächst die Liebe und Gemeinschaft vorzufinden glaubt, die sie in ihrer eigenen Familie vermisst hat. Als die Gruppe ein anderes Mitglied als Versager stigmatisiert, erkennt Beate ihren Trugschluss. Es fällt auf, dass in den nachfolgenden halbdokumentarischen Spielfilmen Die Auserwählten (1980) und Jugendsekten (1992) die exemplarischen Opfer ebenfalls junge Frauen sind. Das Motiv der Täuschung und Gehirnwäsche unbedarfter junger Menschen, verbunden mit Vorwürfen finanzieller und/ oder sexueller Ausbeutung ist bis in jüngste Produktionen hin konstant. In der Regel wird in den entsprechenden Dokumentarfilmen und Reportagen ein dramaturgischer Spannungsbogen zwischen der positiven oder unauffälligen Außendarstellung bzw. »Tarnung« der »Sekten« und den kontrastierenden Berichten von Aussteigern und enthüllenden Dokumenten entwickelt, so bspw. in der fünfteiligen Dokumentarfilmreihe Sekten – unauffällig aber allgegenwärtig (1997), die den Mythos von der Unterwanderung der Gesellschaft durch »Sekten« beschwört, hier in Bezug auf die Zeugen Jehovas, Scientology, das Universelle Leben, Thakar Singh und allgemein »die Esoterik«. Diese Persistenz gängiger Stereotypen illustriert besonders die vierteilige Dokumentation Seelenfänger: Wie Sekten Menschen ködern (1996), in der neben Scientology und den Zeugen Jehovas auch die ISKCON und die Kinder Gottes portraitiert werden – zu einem Zeitpunkt, als ISKCON sich in einem grundlegenden Öffnungsprozess befand und als die Kinder Gottes quantitativ bereits völlig marginal waren. Längere Filmbeiträge zu einzelnen Gemeinschaften finden sich ausnahmsweise zum Universellen Leben (Das Seelenkartell, 1993), den Zeugen Jehovas (Im Schatten des Wachtturms, 1993) der ISKCON (Hare Krsna, 1983), der Vereinigungskirche (Im Reich des Bösen, 1991), vermehrt jedoch zu Scientology (Gehirnwäsche, 1990; Geschäfte mit der Seele, 1989; Mach Geld! Mach mehr Geld! 1996; NARCONON: Scientology – Geschäfte mit der Seele, 1996). Das wiederkehrende Motiv der »Seelenfänger« korrespondiert im deutschen Sprachraum mit dem maßgeblichen Paradigma des apologetischen Sektendiskurses in Deutschland.471 Neben dem Rattenfänger-Paradigma, das bereits die Verführung der Jugend impliziert, verweisen die weiteren Filmtitel aus dem Themenkreis »Geschäfte mit der Seele« auf noch viel ältere Motive der europäischen Religionsgeschichte: auf den Kampf zwischen Engel und Dämonen/Teufeln um die menschlichen Seelen und insbesondere auf den Teufelspakt. Es besteht seit dem Frühmittelalter eine lange Tradition an Geschichten, in denen der Teufel glaubensschwache Menschen dazu verführt, ihm ihre Seele im Tausch für ein wenig irdisches 471 | Maßgeblich war hier Rüdiger Hauths Schrift Die nach der Seele greifen. Psychokult und Jugendsekten (1979).
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Glück zu überlassen (freilich werden die Verführten meist überlistet, sie erhalten nicht wirklich das, was sie sich erhofften).472 Damit ist bereits die Überleitung zum wohl umfangreichsten Gebiet der apologetischen Filme seit den 1990ern gegeben: der (Jugend-)Satanismus und der Okkultismus. Die Filmproduktionen stehen parallel zu den antisatanistischen Buchpublikationen, die seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland erschienen sind und fiktive Aussteigergeschichten wie Vier Jahre Hölle und zurück (1995) oder Werke des Sensationsjournalismus wie Guido und Michael Grandts Schwarzbuch Satanismus (1995) umfassen.473 Die in diesen Büchern vorgetragenen Schilderungen satanistischer Praktiken werden in der Regel durch Ritualmorde an Tieren und Menschen, sexuellen Missbrauch und Perversionen und Gewaltexzesse charakterisiert.474 In den entsprechenden Filmproduktionen wird diese dramatisierende Präsentation von schockierenden Stereotypen satanistischer Praxis fortgesetzt. Als Reaktion auf den Mord an einem 15-jährigen Schüler in Sondershausen (1993)475 berichtete der Film Pakt mit dem Teufel (1993) über alle Facetten vermeintlicher satanistischer Praktiken, von Kirchen- und Friedhofsschändungen sowie Tier- und Menschenopfern in der Satanistenszene von Sachsen und Thüringen. Der Dokumentarfilm Satanismus – Zwischen Subkultur und Panikmache (1999) demonstrierte, dass Erfahrungen in Satanistenzirkeln mit »Ekeltraining«, »abnormer Sexualität« und Tieropfern zu psychischen Schädigungen der Beteiligten führen können. Rainer Fromm lässt in seiner Dokumentation Teuflisch gefährlich: okkulte Praktiken (2004) zwar auch Anhänger der deutschen Church of Satan zu Wort kommen, stellt sie jedoch als rücksichtslose Hedonisten dar, die unserem Zeitgeist entsprächen. Kennzeichnend für all diese Filmproduktionen ist ein Stilmittel, das man als »dramatische Pauschalisierung« beschreiben kann. Der Journalist Horst Knaut hatte diese Rhetorik bereits 1979 in seinem Buch Das Testament des Bösen. Kulte, Morde, Schwarze Messen. Heimliches und Unheimliches aus dem Untergrund vorgeführt: Nach einer ausführlichen Besprechung der in der Tat grausamen Manson-Morde von 1969 behandelt Knaut auf wenigen Seiten auch die wich472 | Vgl. Schnyder 2009, Sp. 447-453. 473 | Vgl. Lukas 2009; Grandt & Grandt 1995. Lukas’ vermeintlich echter Aussteigerbericht Vier Jahre Hölle und zurück ist 2009 in 17. Auflage erschienen! 474 | Zur Kontinuität dieser stereotypen Darstellungen des deutschen Antisatanismus vgl. Neft 2007, 37-44. 475 | In der Presse wurde der Mord als satanistisches Ritual dargestellt, obwohl Tathergang und Motive dafür keine Anhaltspunkte baten. Die drei Täter allerdings hatten sich vor der Tat und später als Satanisten bezeichnet. Präzise und differenziert aufgearbeitet ist der Fall in der Dokumentation Der Satansmord – Tod eines Schülers (ARD 2001) von Ulrike Baur.
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tigsten »Sekten«, die damals in Deutschland aktiv waren, wie die Kinder Gottes, die Vereinigungskirche, Scientology und ISKCON. Durch diese Kontextualisierung entsteht der Eindruck, dass es sich auch bei diesen Vereinigungen um Unheimliches aus dem Untergrund handeln müsse, obwohl dies nicht explizit gesagt wird.476 Im Falle der antisatanistischen Filmproduktionen werden sozial, kulturell und religiös durchaus differente Erscheinungen pauschal dramatisiert: Hier werden die »fließenden Übergänge« von den jugendlichen Subkulturen der Grufties und Gothics, insbesondere von Heavy Metal-Anhängern, von nur scheinbar harmlosen okkulten Praktiken (wie dem Tarotkarten legen) hin zu den zu »brutalen Satanistenzirkeln« betont, die weder vor Schändungen christlicher Orte noch vor Tieropfern und Mord zurückschrecken würden. Diese Verallgemeinerungen wirken im Medium der Fernsehdokumentation besonders nachhaltig, da die Möglichkeit einer genauen Überprüfung der Aussagen in der Regel nicht gegeben ist (es sei denn, man besitzt den Film). Die suggerierten Kontexte eines Sujets bleiben im Gedächtnis haften. Neben diesen Schwerpunkten der »klassischen Sekten« und des Satanismus werden in jüngster Zeit vermehrt Filme zu christlichen Gemeinschaften oder zum weiteren Feld der »Esoterik« produziert. Während Teufel, Strafe Gottes und ewige Verdammnis (1993) noch spezifisch die Dogmatik und rituelle Praxis des Engelwerks portraitierte, stellt Jesus’ Junge Garde (2005) allgemein die »christliche Rechte« in Deutschland vor und versucht sie als bedrohliches Pendant zur »religiösen Rechten« in den Vereinigten Staaten zu präsentieren. Die Kritik an der Kommerzialisierung steht im Mittelpunkt von Dokumentationen über den Bereich Esoterik und New Age, wie in Doping für die Seele (1998) oder New Age – die Macht von morgen (2000). Bedeutend für den Vertrieb dieser Filme und für Religionsdokumentationen generell sind neben der Ausstrahlung in den regulären Fernsehprogrammen die Sendungen des Schulfunks und die religionspädagogische Zweitverwertung über die Ausleihdienste der Landes- bzw. Kreismedienstellen, die die lokalen Schulen mit Medienmaterial versorgen. Der gesamte »Sektendiskurs« ist nur als cross-media-Phänomen verständlich, da die literarischen und fernsehdokumentarischen Publikationsformen miteinander eng verknüpft sind.
Infotainment Die dramatisierende Darstellung von neuen Religionen wird auch in verschiedenen Informations- und Magazinsendungen aufgegriffen und hier wiederum als kurzes Feature oder Reportage wiedergegeben. Die Debatte um »Sekten« scheint neben dem Islam auch das einzige Religionsthema zu sein, mit dem
476 | Vgl. Knaut 1979, 254-266.
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sich Talkshows kontinuierlich befassen:477 Die übliche Zusammensetzung solcher Gesprächsrunden mit Aussteigern, Politikern und »Sektenvertretern« entspricht dabei in idealer Weise dem gewünschten, Aufmerksamkeit erregenden Ziel eines Streitgespräches.478 In Talkshows wird ansonsten noch der Buddhismus häufiger als alternative religiöse Orientierung thematisiert. Der Dalai Lama selbst war bereits Gast bei Alfred Biolek (ARD 1999), Reinhold Beckmann (ARD 2005) und Maybrit Illner (ZDF 2008),479 und zahlreiche Gäste reden mit den etablierten Talkmastern über ihre religiösen Lebenseinstellungen wie die Buddhistin Tina Turner bei Beckmann (ARD 2009) oder religiöse Frauen (Elisabeth von Thurn und Taxis, Nina Hagen, eine Muslima, eine Atheistin, je eine buddhistische und eine christliche Nonne) in Menschen bei Maischberger (ARD 2009). Insbesondere Wieland Backes konfrontiert in seinem Nachtcafé seit 1987 gerne religiöse und weltliche Lebensentwürfe in extremen Ausprägungen wie bspw. den Jet-Set-Prinzen Marcus von Anhalt mit dem ISKCON-Mönch Krishna Candra (Weniger ist mehr – vom Luxus des Verzichts, SWR 2008). Im Rahmen der unterhaltenden Fernsehformate wäre es vielversprechend, auch die zahlreichen Comedy-Sendungen im deutschen Fernsehen einzubeziehen, denn religiöse Charaktere (Pfarrer, Nonnen, Muslime) und stereotype Einstellungen sind hier kontinuierlich Ziel und Gegenstand von allerlei Scherzen, vor allem mit sexuellen Anspielungen oder im Bruch mit verbreiteten Rollenklischees. Unter einer anderen Perspektive wären auch Quizshows von Interesse für die Religionsforschung. Wie wird bspw. in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern und Kulturen das erwartete Allgemeinwissen definiert? Spielt Wissen über religiöse Akteure und über Religionen in diesem Zusammenhang eine Rolle? Falls die Antwort positiv sein sollte, provoziert dies die nächste Frage, welche Religionen und welche Wissenselemente als »wissenswert« definiert werden. Einen letzten interessanten Aspekt bilden schließlich die Musikvideos mit religiösen Inhalten, die sich spätestens mit der populären Rezeption von christlichen Liedern und entsprechenden Filmen in Deutschland während der vergangenen Dekade aufdrängt – man denke bspw. an den erfolgreichen Song Babylon System (2004) der Söhne Mannheims.480
477 | Abgesehen natürlich von den christlich orientierten Talkshows, die in der Programmübersicht bereits vorgestellt wurden. 478 | Etwas unausgewogen, nämlich ohne Scientology-Anhänger, war die entsprechende Diskussion mit Günter Beckstein, Ursula Caberta, Hubert Seiwert, Jürgen Fliege (!) und zwei ehemaligen Scientology-Mitgliedern bei Maischberger (25.09.2007). 479 | Vgl. Kurzke 2009, 238. 480 | Zu religiösen Videoclips auch über die Musik hinaus vgl. Fermor 2005, 334-337.
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Fiktionale Fernsehformate Ähnlich wie im Bereich des Spielfilmes sind Religionen, religiöse Schauplätze und Akteure auch Gegenstand von fiktionalen Fernsehstoffen, insbesondere von Fernsehserien und Fernsehspielen/-filmen – als Beispiel einer recht aufwendigen Produktion sei auf König der letzten Tage (ZDF 1993) über die Wiedertäufer in Münster verwiesen. Die bereits Jahrzehnte währende Präsenz von Pfarrerfiguren in deutschen Fernsehserien verleitet zu der Feststellung, aus den beobachteten Veränderungen den Wandel gesellschaftlicher Rollenanforderungen an den realen Pfarrberuf abzulesen, wie dies Jutta Bernard tut. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sich hier nicht vordergründig die Medienerwartungen an die Rolle des Pfarrers gewandelt haben. In der Gegenüberstellung mit dem Pater Brown (Heinz Rühmann) der 1960er Jahre erscheint der moderne Pfarrer selbstverständlich als ein »Allrounder«, als Familienvater in Oh Gott, Herr Pfarrer (ZDF 1988/89) und als Mensch (Günter Strack) mit allen Sorgen und Nöten in Mit Leib und Seele (ZDF 1987-1992).481 Versuchsweise jedoch wenig erfolgreich ließ man auch zwei evangelische Pfarrerinnen in Vorsicht – keine Engel! (KI.KA, 2002/03) und Pfarrerin Lenau (ARD, 1989/90) oder einen Pastor als Fußballfan konfrontiert mit den Alkoholproblemen seines Kollegen den Pfarrberuf spielen (Himmel und Erde, ARD 2000/01). Die Abenteuer einer Nonne und eines evangelischen Pfarrers schilderte die Serie Wie gut, daß es Maria gibt (ZDF, 1990/91), und die mit 117 ausgestrahlten Folgen zurzeit wohl populärste Fernsehserie im religiösen Milieu Um Himmels Willen (ARD, seit 2002) spielt ebenfalls in einem Frauenkloster. Anhaltender Beliebtheit erfreuen sich offenbar nur detektivisch ermittelnde Geistliche, wie Ottfried Fischer als neuer Pfarrer Braun (ARD, seit 2003) und jüngst Lasko – Die Faust Gottes (RTL & ORF, seit 2008), ein in Kampfkünsten geschulter Mönch, der vor allem Verschwörungen im Umfeld des Vatikan aufdeckt. Im Falle der Krimiserie Schwarz greift ein (Sat1 1993/94) mit Klaus Wennemann als katholischem Priester hat sich sogar die Deutsche Bischofskonferenz mit 1,5 Millionen DM im Sinne einer »Sympathiewerbung für Pfarrer« an den Produktionskosten beteiligt.482 Diese PR-Maßnahme ist weniger erstaunlich, wenn man gewahr wird, dass die Pfarrserien – nach Gemeindeblättern und journalistischen Magazinen – die dritthäufigst genutzte Informationsquelle von Katholiken über Kirchenthemen sind.483 Religionsthemen werden vereinzelt allerdings auch in anderen Fernsehserien aufgenommen. Neben der Inszenierung von religiösen Feiern wie Weihnachten, Taufen und Beerdigungen problematisiert Die Lindenstraße (ARD, 481 | Ruth Ayaß sind einige glückliche Einsichten in die Pfarr-Serien um 1990 zu verdanken, die sie überzeugend in den Kontext literarischer Thematisierungen der Figur des Landpfarrers einordnen kann. Vgl. Ayaß 1993, 354f. 482 | Vgl. Bernard 1999a, 362f.; Böhm 2005, 107-111. 483 | Vgl. MDG 2010, 86f.; MDG 2010b, 156.
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seit 1985) in mehreren Folgen Aspekte rund um den Islam, wie den Ramadan, die Konversion zum Islam und das Tragen eines Kopftuches.484 Die Daily-Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten (RTL, seit 1992) behandelte über diverse Folgen hinweg die Sinnsuche der Hauptdarstellerin Maria, die nach mehreren Esoterikerfahrungen vorübergehend Antworten in einem christlichen Kloster findet. Außerdem geraten mehrere Darsteller in den Sog der »Sekte« Conception.485 Auch die jährlich ca. 50 Folgen des Tatorts (ARD, seit 1970) greifen regelmäßig auf Sujets in religiösen Milieus zurück: So ermitteln z.B. in Abschaum (2004) die Kommissare in einer »satanistischen Sekte«; auf dem Höhepunkt der Diskussionen um Scientology geschieht ein Mord im Umfeld der »Sekte« Perfect Mind (1996), in den eine Richterin verstrickt ist, die über die Anerkennung der Sekte als Religionsgemeinschaft zu entscheiden hat, auch Glaube, Liebe, Tod (2010) greift erneut die Sektenthematik auf. Im Gesang der toten Dinge (2009) wird im esoterischen Milieu gemordet, während schon Kommissar Schimanski in Das Geheimnis des Golem (2003) in die Mysterien der jüdischen Kabbalah eingewiesen wird. Inzwischen werden auch höchst aktuelle, religionsrelevante Probleme in den Tatort-Folgen thematisiert: Baum der Erlösung (2009) greift die Geschehnisse um den österreichischen Minarettstreit von Telfs auf, und Tempelräuber (2009) spiegelt ein Drama um Kinder aus verheimlichten Beziehungen katholischer Priester wider. Als besonders brisant hat sich die Folge Wem Ehre gebührt (2007) erwiesen, in der eine Tochter aus alevitischer Familie in den Selbstmord getrieben wird, da sie aufklären wollte, dass ihr Vater die jüngere Schwester sexuell missbraucht hatte. Die Ausstrahlung der Sendung provozierte eine Großdemonstration mit 20.000 Teilnehmern in Köln, nicht nur wegen der diffamierenden Darstellung der Aleviten, sondern weil der Film genau diejenigen verleumderischen Vorwürfe des Inzests reproduzierte, denen sich die Aleviten seit Jahrhunderten in der Türkei ausgesetzt sehen. Im sunnitischen Islam der türkischen Mehrheitsgesellschaft besteht das Stereotyp, dass es beim alevitischen Cem-Ritual zu inzestuösen Orgien komme. Erfolgreich erzwang die alevitische Gemeinde per Gericht vom WDR und den Produzenten eine öffentliche Entschuldigung und Gegendarstellung.486 Mögen die Tatort-Folgen als Unterhaltung konzipiert sein, so kann die Wirkung auf die Verfestigung oder Diskussion von Stereotypen kaum in Frage gestellt werden, wenn wöchentlich acht bis zehn Millionen Zuschauer die dramatischen Geschichten verfolgen.
484 | Islam (Folge 1084), Das Kopftuch (Folge 1087). Vgl. www.lindenstrasse.de (01.10.2010). 485 | Vgl. Christenn 2004. 486 | Vgl. Hitz 2009, 6-8.
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Religion in der kommerziellen Werbung Erstaunlicherweise hat sich nur innerhalb der deutschsprachigen Theologie ein gesonderter Diskurs in Auseinandersetzung mit der kommerziellen Werbung im Kino, im Fernsehen und in den Printmedien entwickelt. In einem kulturellen Umfeld, in dem die öffentlichkeitswirksame Werbung für Religionsgemeinschaften per Plakat, Anzeige oder Werbefilm weitgehend akzeptiert ist, hat sich offenbar auch kein Problembewusstsein für das Verhältnis von Werbung und Religion ausgebildet. Soweit ich sehe, wird dieser Aspekt in den Vereinigten Staaten nur in Hinblick auf die Frage thematisiert, ob denn Werbeanzeigen oder Werbespots für eine bestimmte Kirche angemessen oder ausreichend pietätvoll seien.487 Werbung an sich und weniger prominent explizite Bezüge auf Religion in der kommerziellen Werbung bilden einen zentralen Baustein der theologischen Konstruktion der sogenannten Medienreligion, die im Anschluss im Detail erörtert wird.
Rezente Entwicklungen im ausländischen Fernsehen Vollkommen zu recht stellt Phillip C. Lucas in der neuen Encyclopedia of Religion fest »Religious broadcasting is booming throughout the new millenium.«488 Die Privatisierung des Fernsehmarktes seit den 1980er Jahren in Westeuropa und etwas später in Osteuropa und in vielen arabischen Ländern hat insgesamt zu einer Vervielfachung des Programmangebotes geführt. Die Kostensenkungen bei der Aufzeichnungs- und Übertragungstechnik ermöglichen es prinzipiell, ohne größeren finanziellen Aufwand Fernsehproduktionen herzustellen und auszustrahlen. Die Breitband-Internettechnologie wird diesen Trend zumindest in Ländern mit entsprechender Infrastruktur noch verstärken – technisch wird jeder Privathaushalt mit einer schnellen Internetverbindung in der Lage sein, global ein Programm via Live-Stream auszustrahlen. Dies mindert allerdings noch nicht den hohen professionellen Aufwand, anspruchsvolle und ansprechende Sendeformate mit langfristiger Zuschauerbindung und somit sicherer Finanzierungsgrundlage zu produzieren. Während in den Vereinigten Staaten ca. 15 christliche Fernsehnetzwerke landesweit aktiv sind,489 bestehen in Südamerika schon über 150 christliche Fernsehanbieter. Die Lage in den
487 | Vgl. Steinfels 2004. 488 | Goethals & Lucas 2005, 7714. 489 | Daystar Televion Network, Trinity Broadcasting Network, The Inspiration Network, Sky Angel, God TV, Eternal Word Television Network, Three Angels Broadcasting Network, Christian Broadcasting Network, Christian Television Network, God’s Learning Channel, Salem Communications, The Hope Channel, The Worship Network, Familyland Television Network. Viele der Programme werden via Satellit auch in andere englischsprachige Länder übertragen.
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europäischen Staaten ist noch nicht systematisch erhoben worden.490 In Bezug auf die Zuschauerzahlen ist das Trinity Broadcasting Network derzeit wohl das erfolgreichste TV-Netzwerk weltweit. Es wurde 1973 von Paul und Jan Crouch als missionarischer Arm der Pfingst-Bewegung gegründet und verfügt heute mit 500 eigenen Fernsehstationen und 26 Satelliten über einen Marktwert von 500 Millionen Dollar. In die Programme werden die bekanntesten der amerikanischen Prediger integriert, während der Sendebetrieb großenteils durch Spenden finanziert wird.491 Außerhalb christlich geprägter Länder stellt sich die Situation religiöser Fernsehprogramme sehr unterschiedlich dar. Während islamische Programme sich ähnlich vieler protestantischer Formate auf Lebenshilfe, Predigt und Beratung spezialisiert haben, eignet sich in Südasien offenbar die dramatische Inszenierung mythischer Stoffe als Fernsehserien in besonderer Weise, um das Fernsehpublikum zu fesseln. Bei Einführung des Fernsehens in arabischen Staaten Mitte der 1960er Jahre wurden noch scharfe Auseinandersetzungen über die prinzipielle Vereinbarkeit des Islam mit dem neuen Medium geführt. Erneut wurden die Debatten befeuert, als 30 Jahre später das Satellitenfernsehen in arabischen Haushalten Einzug hielt und damit nicht nur die religiös motivierte Frage nach den sittlichen Standards der verschiedenen arabischen Staaten und der Bedrohung durch eine kulturelle Invasion des Westens aktuell wurde, sondern auch, weil hiermit die Fernsehmonopole der nationalen Sendeanstalten bedroht waren. Von Marokko bis Iran reagierten die Staaten zunächst mit dem Verbot von Satellitenschüsseln und dem technisch aufwendigen Herausfiltern von unliebsamen Inhalten, was angesichts der Vervielfachung der Sender in arabischer Sprache seit den 1990er Jahren ein erfolgloses Unterfangen blieb. Mit der Liberalisierung der Wirtschaftssysteme und auf Druck der Wirtschaftseliten entstanden so neben einem umfangreichen Markt an Pay-TV-Sendern über 370 frei zugängliche Satellitenkanäle in arabischer Sprache, die teilweise auch in Europa empfangen werden können. Allerdings ist eine Pluralisierung des religiösen Diskurses im arabischen Fernsehen nur mit Einschränkungen möglich, denn zum einen ist die Mehrheit der pan-arabischen Sendergruppen der Vereinigten Arabischen Emirate (MBC, Orbit, ART) im Besitz der weiteren saudischen Herrscherfamilie. Zum anderen wird auch im Hinblick auf den drohenden Entzug von Sendelizenzen für die wichtigsten Märkte in Ägypten und Saudi-Arabien eine freiwillige Selbstzensur ausgeübt. Im Frühjahr 2008 unterzeichneten außer Katar alle Mitglieder der Arabischen Liga eine Charter of Principles for Regulating Satellite Broadcasting in the Arab Region, die vorsieht, dass Sendern die Lizenzen entzo-
490 | Vgl. Goethals & Lucas 2005, 7713f. 491 | Vgl. Goethals & Lucas 2005, 7712-7714.
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gen werden können, wenn sie den sozialen Frieden, die nationale Einheit, die öffentliche Ordnung oder traditionelle Werte bedrohten.492 Allen Befürchtungen zum Trotz haben sich in arabischen Fernsehsendern eigene religiöse Formate etabliert. Seit 1996 besteht auf dem pan-arabischen Sender al-Jazeera die wöchentliche phone-in-Show al-Shari’a w-al-Hayat (Das islamische Gesetz und das Leben), die zur besten Sendezeit vor allem Ratgebergespräche zu grundlegenden und aktuellen Fragen der islamischen Praxis wie die Pilgerfahrt, den Umweltschutz, die Wohltätigkeit oder Familienkonflikte präsentiert. Häufiger Gast ist hier der äußerst konservative, ägyptische Geistliche Shaykh Yusuf al-Qaradawi (*1926), der seit seinem ersten Bucherfolg Das Erlaubte und Verbotene im Islam (1959) als moralische Instanz in arabischen Ländern gilt.493 Großer Popularität erfreut sich auch der ägyptische Prediger Amr Khaled (*1967), der schon 2007 im Time Magazin Platz 13 unter den einflussreichsten Personen der Welt einnahm. Angelehnt an Vorbilder amerikanischer Fernsehprediger ist er im Anzug gekleidet und agiert beschwingt mit dem Studiopublikum seiner religiösen Ratgebersendung Kalam min al-Qalb (Worte aus dem Herzen, Dream TV, seit 2001). Sondersendungen begleiten die Zeit des Ramadan, in der Khaled 2005 die menschliche Seite des Lebens Mohammeds auf verschiedenen Stationen vorstellte, während er 2006 jeden Abend live aus Mekka über die Namen Gottes reflektierte. Angesichts des Erfolgs der beiden Prediger, die von der arabischen Halbinsel aus ihr Programm verbreiten, wird in islamischen Institutionen wie der ägyptischen Al-Azhar Universität und der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) über die Einrichtung eigener Satellitenkanäle diskutiert.494 Seit drei Jahren sendet von Ägypten aus immerhin der Jugendmusiksender 4Shabab islamisch-erbauliche Titel (mit ausschließlich männlichen Interpreten).495 In den im gesamten arabischen Sprachraum beliebten, ägyptischen Fernsehserien wurde die Religionsthematik bis in die 1990er Jahre völlig ausgeklammert, um der wachsenden Anhängerschaft der Muslimbrüder nicht noch einen zusätzlichen Anlass für eine Konfrontation oder Selbstdarstellung zu geben. Nach einem Strategiewechsel werden muslimische Fundamentalisten in den entsprechenden Fernsehserien nun durchweg negativ dargestellt, was allerdings mit einer Neuausrichtung moralisch-sittlicher Maßstäbe an einer konservativen Auslegung des Islam in den ägyptischen Film- und Fernsehproduktionen einhergeht.496 492 | Vgl. Richter 2009, 104-109; Bernard 1999a, 364. 493 | Qaradawi ist auch der Betreiber der umfangreichen Online-Fatwa-Bank www.is lamonline.net, (01.01.2010). 494 | Vgl. Richter 2007, 59; Richter 2009, 99f., 116-122; Malik 2007, 50. 495 | Vgl. http://4shbab.tv (01.07.2011). 496 | Vgl. Abu-Lughod 2001, 323-332.
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Das Fernsehen als spiritistisches Medium Analog der »Medien« Telefon und Radio wurde auch das Fernsehen als Mittel der Transkommunikation entdeckt, allerdings erst zu einem Zeitpunkt, als auch die privat nutzbare Videotechnik Verbreitung fand. In Italien sollen 1978 zum ersten Mal Verstorbene via Fernsehen Kontakt mit ihren lebenden Angehörigen aufgenommen haben. Seit 1985 folgten in Deutschland Experimente zum Empfang von Transbildern mit – nach Anweisungen aus dem Jenseits – konstruierten Transempfängern. Auf den Jahrestreffen der Forschungsgemeinschaft Transkommunikation von 1992-1995 wurden live auch angebliche Bild- und Tonübermitteilungen aus dem Jenseits präsentiert.497
4.7.2 Ausgeblendet: Fernsehforschung im Spannungsfeld theologischer Paradigmen Religionswissenschaftliche Fernsehforschung Im Vergleich zur weitgehenden Ignoranz gegenüber religiösen Phänomenen im Radio besteht innerhalb des Feldes von Religion und Fernsehen bereits eine längere Forschungstradition, die jedoch in den Vereinigten Staaten und in Deutschland sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Zwar wurden religiöse Fernsehformate in beiden Ländern Anfang der 1950er Jahre entwickelt – die enorme Medienpräsenz durch eigene Netzwerke missionierender Kirchen führte allerdings in den USA zu einer intensiven Beschäftigung mit dem televangelism. Als in den 1980er Jahren einige Fernsehprediger wie der Begründer der Moral Majority, Jerry Falwell (1933-2007), oder der Initiator der Christian Coalition, Pat Robertson (*1930), begannen, sich politisch zu engagieren, war das Interesse der kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Medienforschung geweckt.498 Zahlreiche Studien behandeln die Geschichte, die theologische Ausrichtung, die ökonomischen Aspekte, die politische Bedeutung und die Struktur der Anhängerschaft amerikanischer Fernsehprediger. Mit Prime-Time Religion: An Encyclopedia of Religious Broadcasting legten J. Gordon Melton, Phillip Charles Lucas und Jon R. Stone 1997 eine umfassende Datensammlung zu allen entsprechenden Akteuren und Institutionen vor. Neben den zahlreichen Untersuchungen zu politischen Inhalten und Wirkungen wurden mitunter auch historische Gesichtspunkte berücksichtigt, die das Phänomen des televangelism im Zusammenhang mit den amerikanischen Erweckungsbewegungen betrachteten.499 Unter einer medien- und religionswissenschaftlichen Perspektive konnte Steve Bruce bspw. zeigen, dass die Programme der Fernsehprediger fast aus497 | Vgl. Fischinger 2003, 47-53; www.worlditc.org/c_07_senki_f_36.htm (01.01. 2010). 498 | Vgl. Hoover 1988; Hadden & Shupe 1988. 499 | Vgl. Kellstedt & Kellstedt 1998, 168.
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schließlich von überzeugten Christen wahrgenommen werden, die hierin eine Bestärkung ihrer Weltanschauungen erfahren, obwohl die meisten Sendungen inhaltlich auf Mission und Bekehrung angelegt waren.500 Nur wenige Arbeiten weisen bisher über das Phänomen des televangelism hinaus; so untersuchten Barrie Gunter und Rachel Viney Anfang der 1990er Jahre die Fernsehgewohnheiten und Erwartungen einer multireligiösen Zuschauergruppe in England und konnten feststellen, dass die Befragten unabhängig von ihrem religiösen Engagement eine höhere Präsenz von Religionen in allen Sendeformaten wünschten, damit die Medien als Vermittler zwischen verschiedenen Ethnien und Bekenntnissen zur Lebenshilfe und zur Lösung von Konflikten beitragen könnten.501 Die Deutung des Verhältnisses von Religion und Fernsehen wird bis heute von einer meist theologischen Medienkritik dominiert, die vor allem in der Konstruktion der sogenannten »Medienreligion« ihren Ausdruck findet und hier gesondert besprochen werden soll. Daneben finden sich vereinzelte und teils sehr vielversprechende Studien und Ansätze aus der Religionswissenschaft und Medienwissenschaft, die um eine methodisch abgesicherte Erschließung des Feldes bemüht sind. Die religionswissenschaftliche Fernsehforschung in Deutschland502 beginnt 1990 mit dem Medienprojekt Religionswissenschaft an der Universität Tübingen, das von Studenten und Doktoranden um den Religionswissenschaftler Hubert Mohr initiiert wurde. Systematisch und an den Methoden der Filmanalyse orientiert wurden hier die zwei Fernsehdokumentationen Den Gottlosen die Hölle. Der Islam im zerfallenden Sowjetreich (1991) und Das Schwert des Islam (1991) von Peter Scholl-Latour untersucht. Die Forschungsgruppe konnte demonstrieren, wie der Orient-Journalist auf der Ebene der bildlichen, textlichen sowie musikalischen Darstellungen ein diffamierendes Islambild von unglaubwürdigen, fanatischen und unkontrollierbaren Barbaren zeichnet, während er sich selbst als kosmopolitischer Spion und Mahner inszeniert. Statt konkretem Faktenwissen präsentiere Scholl-Latour Formeln, Schablonen und Gemeinplätze, die er mit historischen Bedrohungen (»Türkensturm«) und Bibelverweisen verknüpft. Durch unterschwellige Bild- und Kommentarkompositionen und emotional wirksamer Musikbespielung werde suggestiv ein neues Feindbild des Islam an
500 | Vgl. Bruce 1990; Martin 1998. Eine kommentierte Literaturliste findet sich unter Goethals & Lucas 2005, 7715f. 501 | Vgl. Bernard 1999a, 365; Gunter & Viney 1994, 9-32. 502 | Auch erst in den vergangenen Jahren wurde das Feld in den Vereinigten Staaten von Stewart M. Hoover u.a. erschlossen. Eine kommentierte Bibliografie der amerikanischen Werke findet sich unter Tyson 2005, 4965-4967; vgl. auch Hoovers Religion and the New Faith and Journalism in American Public Discourse (1998).
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Stelle der Sowjets platziert.503 Der manifeste Sinn des Films ist plumpe Panikmache. Latent werden die alten Gegner durch neue ersetzt. Weitaus problematischer ist jedoch, daß durch das Entsetzen, das aus der undifferenzierten Verdächtigung aller Muslime entsteht, in uns die psychischen Voraussetzungen für die Einsicht in die Notwendigkeit eines »präventiven Erstschlags« geschaffen werden.504 Mit einer weiter führenden Rezeptionsstudie zum Islambild in der Öffentlichkeit konnten die Forscher des Tübinger Medienprojektes belegen, dass die Befragten ihr Wissen über den Islam zwar aus verschiedenen Quellen wie Bücher, Zeitschriften und eigenen Reiseerfahrungen beziehen, dass jedoch das Fernsehen in diesem Zusammenhang mit Abstand die wichtigste Rolle spielt.505 Unter dem Stichwort des »elektronischen Orientalismus« verknüpfte Dorothée Kreuzer bereits vor dem 1. Golfkrieg die Analyse von Berichten über den Islam in deutschen Nachrichtensendungen mit einigen prinzipiellen Überlegungen zur Auslandsberichterstattung des Fernsehens. Sie gibt zu bedenken, dass Nachrichten einer sehr speziellen Aufmerksamkeitsökonomie unterliegen, die sich erstens an »Ereignissen« – und nicht etwa an Beziehungen und Entwicklungen – orientiert und die zweitens durch ökonomische Maßstäbe geprägt sei. Es gebe in dieser Nachrichtenökonomie daher auch keine Gleichheit zwischen den Menschen und Ländern, sondern Auslandsnachrichten aus den Vereinigten Staaten sind für deutsche Medienkonsumenten prioritär gegenüber allen anderen Ländern (umgekehrt gilt dies natürlich nicht). Weiße Flecken auf der Nachrichtengeografie bildeten dagegen die »Entwicklungsländer«, die medienökonomisch ausschließlich durch einen auf Katastrophen, Kriege und Hungersnöte fixierten »Betroffenheitsvampirismus« präsent sind und nur als »Ereignis« behandelt werden. Komplexe Entwicklungen, etwa die Auswirkungen der ›terms of trade‹, mögen langfristig über das Leben von Millionen entscheiden, sind aber letzte und nächste Woche wichtig und deshalb keine Meldung. Solange Verhältnisse sich nicht zu Ereignissen verdichten, sind sie im Süden wie im Norden als Nachricht nicht zu fassen.506 Einen privilegierten Platz als Krisen- und Katastrophenschauplatz in der Berichterstattung nehme der Mittlere Osten seit den beiden Ölkrisen der 1970er Jahre ein. Kreuzer will mit ihrer konkreten Analyse von Beiträgen im Weltspiegel jedoch nicht den Anspruch erheben, dadurch den Medien zu einer »objektive503 | Vgl. Mohr 1994a, 140-143; Menzel 1994, 102-105; Kuske 1994, 124-127; Ott 1994, 145-149. 504 | Wenzel 1994, 109. 505 | Vgl. Gietz & Haidt & Kuczera 1994, 178-181. 506 | Kreuzer 1988, 222.
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ren« Sichtweise der Region zu verhelfen, vielmehr will sie den spezifisch konstruktiven Charakter dieser Berichte im Kontext historischer Wahrnehmungsmuster aufzeigen. Der Journalist und Buchautor Gerhard Konzelmann (19322008) verwendet gemäß den Analysen Kreuzers die historisch vorgeprägten Stereotypen des textuellen Landschaftsentwurfes »Arabiens« in besonderem Maße: Hier werden Bilder von Wüstennomaden, ihrer irrationalen Mentalität und Gewaltbereitschaft und von diktatorisch herrschenden Scheichs hervorgezaubert, die nur wenig mit den aktuellen sozialen Wandlungsprozessen arabischer Millionenstädte zu tun haben. Damit werden aber Muster der Wahrnehmung des Orients perpetuiert, die den »Westen« und den »Nahen Osten« seit der Auseinandersetzung der demokratischen Griechen und der autokratischen Perser und der von Lord Byron angeführten, um ihre Freiheit kämpfenden Griechen und Osmanen als konkurrierende politische und kulturelle Systeme präsentieren.507 Aspekte der Mediennutzung betrachtet der Erfurter Religionswissenschaftler Jamal Malik, wenn er den Wandel des Medienverhaltens muslimischer Migranten in Europa aufschlüsselt. Nach einer ersten Phase des Gastarbeiter-Radios und der Gastarbeiter-Presse traten Ausländerprogramme in den staatlichen Medien, Presseorganen und Kinomilieus in den Einwanderungsländern in Konkurrenz zu den seit den 1980er Jahren meist per Video importierten Medien der Herkunftsländer. Die Einführung von Satellitenschüsseln und Kabelfernsehen ermöglichte in der Folge wiederum eine starke Orientierung an der muttersprachlichen Medienstruktur, während gleichzeitig neue Ethnomedien und multikulturelle Medienangebote zu einer Diversifizierung des Sektors führen. Malik identifiziert mit Blick auf die über 2500 fremdsprachlichen Medien in Europa sowohl Prozesse der medialen Segregation, der Assimilation und Integration als auch die Entstehung neuer Medienkulturen als alternativen Ausdruck der jungen Eliten, die nun sozial und politisch an der Gesellschaft des Einwanderungslandes partizipieren wollen: »Die Medien ent-territorialisieren, sie sind nicht begrenzt durch nationale Grenzen, sondern sind in diasporischen Öffentlichkeiten globalisiert: Das heißt, die Semantik der Diaspora expandiert stetig.«508 Im Hinblick auf die gelebte Religion ergeben sich unter den neuen Medien- und Wissensstrukturen Möglichkeiten einer offenen Diskussion und Liberalisierung jenseits der etablierten islamischen Institutionen.509 507 | Vgl. Kreuzer 1988, 224-235, auch Ahn 1997a, 41ff. Wenige Jahre nach Kreuzers Analyse folgte in Allahs Plagiator (1992) der Nachweis des Orientalisten Gernot Rotter, dass Konzelmanns Veröffentlichungen großenteils aus Plagiaten wissenschaftlicher Autoren bestanden, dass er kein Arabisch beherrscht und sich langen Paraphrasierungen aus der Märchensammlung Tausendundeine Nacht bedient hatte. 508 | Malik 2007, 49. Vgl. a.a.O., 43-50. 509 | Vgl. Malik 2007, 51-54.
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Neben zwei religions- und kommunikationswissenschaftlichen Studien zu den herausragenden Medienereignissen, zunächst der Papstbesuche und später des Sterbens und der Trauerfeierlichkeiten für Papst Johannes Paul II. (1920-2005),510 befasste sich noch die kommunikationswissenschaftliche Forschungsgruppe Religion im Fernsehen an der Schweizer Universität Freiburg mit der Frage, wie Religion, Religiösität und Religionsgemeinschaften im Schweizer Fernsehen thematisiert wurden. Dazu wurden systematisch Daten in Nachrichten- und Informationssendungen erhoben und sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgewertet.511 Dass auch die Darstellung von Religionen in fiktionalen Fernsehformaten gravierende Konsequenzen für religionspolitische Diskurse haben kann, demonstrierten auf internationaler Ebene die Medienwissenschaftler Shanti Kumar und Arvind Rajagopal. Mehrfach wurden die umfangreichen Stoffe der beiden zentralen indischen Epen des Mahabharata und des Ramayana als Fernsehserien realisiert.512 Als das Ramayana 1987/88 erstmals als 78-teilige TV-Serie ausgestrahlt wurde, nutzten die hindunationalistischen Parteien der Bharatiya Janata Party (BJP) und der Vishwa Hindu Parishad (VHP) die Popularität der Serie, um einen religionspolitischen Disput um die Rechtmäßigkeit der Babri Masjid Moschee in Ayodhya zu befeuern. Die Moschee auf dem angeblichen Geburtsplatz des Gottes Rama wurde nach einer langen Medienkampagne der hindunationalistischen Parteien schließlich gewaltsam zerstört.513 Einen ganz anderen Blickwinkel auf die Wirkung von Fernsehserien eröffnet die amerikanische Medienwissenschaftlerin Emily Edwards. In ihrer Analyse von über 730 Hexenfilmen und Fernsehserien mit okkulten Sujets konnte sie aufzeigen, wie magische und spiritistische Vorstellungen der Medien ihrerseits aufgegriffen werden und in den Vereinigten Staaten kommerziell nicht nur in zahlreichen Merchandising-Produkten umgesetzt werden, sondern auch im Tourismus vermarktet werden. So werden in den meisten historischen Städten in den USA sogenannte ghost tours angeboten, die nachts über Friedhöfe und zu
510 | Der Freiburger Medienwissenschaftler Louis Bosshart und seine Forschergruppe analysierten die mediale Präsentation der Besuche von Johannes Paul II. in der Schweiz und in Liechtenstein. Vgl. Bosshart 1987; Sieprath 2009b; Döveling 2007. 511 | Vgl. Jecker 2010. 512 | Das Mahabharata wurde 1988-90 durch B.R. Chopra, 1989 für ein westliches Publikum mit internationaler Besetzung durch Peter Brook und 2008 durch gleich zwei TV-Serien von Bobby Bedi und Ekta Kapoor verfilmt. Das Ramayana wurde von Ramanand Sagar produziert und 2008 als Remake mit neuer Besetzung wieder aufgelegt. 513 | Vgl. Kumar 2006, 36ff.; Rajagopal 2001, 12-21.
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angeblich verwunschenen Orten führen. Populäre Mediennarrative wie Poltergeist und Ghost Busters werden hierbei an ausgewählten Orten aktualisiert.514
Medienkritik und die Konstruktion der »Medienreligion« Mit Aufkommen des televangelism in den Vereinigten Staaten wurde in vielfacher Hinsicht auch Kritik an den Fernsehpredigern selbst und ihren Sendeformaten geübt.515 Die theologische Kritik an den Gottesdienstübertragungen in Deutschland entzündete sich zunächst lediglich an den Veränderungen des liturgischen Geschehens durch die nur noch mediale Teilnahme via Fernsehapparat und durch wechselnde Kameraperspektiven im Vergleich zur herkömmlichen Positionierung des Gläubigen in der Kirchbank. Angesehene Theologen wie Karl Rahner und Romano Guardini äußerten sich skeptisch gegenüber den Möglichkeiten der Gottesdienstübertragungen; man fürchtete eine Konkurrenz zum tatsächlichen Gottesdienstbesuch und eine Anpassung der Liturgie an die Erfordernisse des Unterhaltungsmediums Fernsehen. Auch stand das Fernsehformat einer starken liturgischen Bewegung Mitte des 20. Jahrhunderts entgegen, die sich um die aktive Teilnahme des Gläubigen an der Eucharistiefeier bemühte.516 Mit seinem Aufsatz Vom Trost der christlichen Religion zur Tröstung durch die Massenmedien hatte der evangelische Theologe Hans-Jürgen Benedict 1976 allerdings ein zweites Paradigma eingeführt, das sich nachhaltig auf die gesamte weitere Diskussion um Religion und Fernsehen in der deutschsprachigen Theologie auswirken sollte.517 Mit Blick auf das Fernsehen stellt Benedict die These auf, dass sich in Konkurrenz zu Kunst und Religion in der Gegenwart eine »Religion der Massenmedien« herausgebildet habe, die nun die Bedürfnisse der Menschen befriedige:
514 | Vgl. Edwards 2005, 73-138., 195-214. Gerhard Mayer wiederum hat die Rezeption okkulter Sujets in populären Filmen analysiert. Vgl. Mayer 2000. 515 | Die Ablehnung einer historisch-kritischen Bibelexegese, die dualistisch-simplifizierende Botschaft der evangelikalen Prediger und die zugewiesene passive Zuschauerrolle im Fernsehgottesdienst galten vielen Kritikern als nicht vereinbar mit der Theologie der Mainstream-Kirchen. Die direkte Einmischung in die Politik, der aufwendig-luxuriöse Lebensstil einiger Fernsehprediger und zahlreiche Skandale um Liebesaffären und Veruntreuung von Spendengeldern wurden seitens der liberalen Medien kritisiert. Vgl. Goethals & Lucas 2005, 7713f. 516 | Vgl. Kranemann 2007, 185-188; Ludwig 1958, 946. Unter den wenigen neueren liturgie-theologischen Arbeiten ist Beate Gilles (2000) Studie zu Gottesdienstübertragungen besonders zu nennen. 517 | Vgl. Benedict 1976.
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D IE MEDIALE R ELIGION Die Religion der Massenmedien ist also eine Religion, die auf der Verdrängung von Leid, Schmerz und Tod beruht … Die Massenmedien sind eine Religion des Status quo, wenn man so will, eine Baalsreligion, die den Bestand der Welt durch Unterhaltungsriten garantieren möchte, Glück vermitteln ohne Beziehung zu Schmerz und Leid. 518
Während im Mittelalter das Leben des Einzelnen vollkommen durch die Kommunikationsstrukturen der Kirche bestimmt gewesen sei, werde der Tag des modernen Menschen vom Morgenradio, der morgendlichen Zeitungslektüre bis hin zum abendlichen Fernsehprogramm nun total von den Massenmedien strukturiert und ritualisiert.519 Medienkritik wird in der Folge von protestantischen Theologen wie Harvey Cox und Dorothee Sölle mit Konsumkritik verbunden – die alttestamentliche Götzenverehrung, der von Benedict schon eingeführten »Baalsreligion«, gibt an dieser Stelle das dominierende, theologische Rezeptionsmuster des Fernsehens vor.520 Ein zentrales Element dieser viel beschworenen »Medienreligion« ist daher die kommerzielle Fernsehwerbung, die als Charakterisierung des gesamten Mediums herangezogen wird.521 Dorothee Sölle hatte 1979 in ihrem Aufsatz Du sollst keine Jeans haben neben mir dieses kulturpessimistische Paradigma begründet und kritisch den Konsumismus zur neuen Religion der Gegenwart erklärt.522 Konsum als Symbol für den Kapitalismus sei unter diesen Vorzeichen als eine Konkurrenz zur etablierten Religion zu verstehen – Adressaten der Werbung würden nicht mehr zu Gott geführt, sondern sie werden zum Warenkauf und zum »Götzendienst« verführt. Die angepriesenen Produkte könnten natürlich nicht einlösen, was sie in der Werbung versprechen und würden den Menschen daher vorsätzlich täuschen.523 In der Religionspädagogik wird das aufklärerische Bemühen der Theologie mit der neutestamentlichen Rede von den falschen Propheten (Mt. 7, 15-20) in Verbindung gebracht: »Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder
518 | Benedict 1978, 133. 519 | Vgl. Benedict 1978, 121-123. 520 | Vgl. Cox 1993, 93f. 521 | Dies zielt insbesondere auch auf religiöse Elemente in der kommerziellen Werbung ab. Seit Jahrzehnten sehr verbreitet sind Personen, die »über« ein Produkt meditieren (Autos, Zigaretten…), kirchliche Vertreter als Werbeträger (Nonnen, Priester…) oder Adaptionen christlicher Bildsprachen (das Abendmahl). Vgl. hierzu die spezifischen Beiträge in Buschmann & Pirner 2003, 73-180. 522 | Der Aufsatz erschien in Jürgen Habermas berühmter Sammlung zur »geistigen Situation der Zeit«. Vgl. Sölle 1979. 523 | Vgl. Sölle 1979, 543; Pirner 2003, 61.
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von Disteln Feigen?«524 In diesen Kontext sind auch aufwendige Dokumentationen von kirchlichen Laien einzuordnen, wie die Internetseite glaube + kaufen – religiöse elemente in der werbung.525 In den 1990er Jahren, unter dem Eindruck der Vervielfachung und Etablierung des Fernsehangebotes durch Privatsender, wurde diese protestantische Kultur- und Medienkritik von einer Reihe von theologischen Autoren wie Horst Albrecht, Arno Schilson und Günter Thomas wieder aufgegriffen und das Konstrukt einer »Medienreligion« wurde mit verschiedenen Nuancierungen verfeinert. Der evangelische Pfarrer und Theologe Horst Albrecht (1941-1990), der sich über Jahrzehnte mit dem Thema Fernsehen befasst hatte, gelangt in seinem maßgeblichen Werk Die Religion der Massenmedien (1993) zu der Einsicht, dass das Fernsehen als neuer Mythengenerator mit seiner von Falco, Prince und Madonna überbrachten, kommerzialisierten Botschaft von »Rock als Gottesdienst am Altar des Sexus« die Stelle der Religion in der Gesellschaft eingenommen habe: »Angesichts der Tatsache, daß heute neben Schlaf und Arbeit nichts so sehr die Zeit der Menschen beansprucht wie das Fernsehen, angesichts seiner leichten Zugänglichkeit und seiner Faszination scheint das Christentum die Schlacht um die Seele der Menschen zu verlieren.«526 Mit Bezug auf Richard Niebuhr und Paul Tillich versteht Albrecht die »Medienreligion« als implizite Religiösität, die durch ihre Bildhaftigkeit, ihre Regression (im Sinne einer Infantilisierung), als eine Religion des Spiels ohne Verbindlichkeiten, als »hedonistische Religion, als Glaube an die ungebrochene Dauer des Vergnügens« gekennzeichnet sei.527 Die Religion der Massenmedien ist für Albrecht ein diffuses Gebilde »Welten entfernt von den klar geordneten Vorstellungen der monotheistischen Religionen, allenfalls noch als der Staub begreifbar, zu dem jene für viele zerfallen sind«.528 In seiner Monografie Medienreligion. Zur religiösen Signatur der Gegenwart (1997) versucht der katholische Theologe Arno Schilson (1945-2005), das »Medienreligiöse« konkret zu identifizieren und wahrzunehmen, um auf dieser Grundlage eine theologische Deutung vornehmen zu können. Die Heilsversprechen der Werbung, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit im Kriminalfilm, die 524 | Vgl. Heinemann 1987, 4. 525 | Vgl. www.glauben-und-kaufen.de (01.08.2009). Neuere, dialogische Ansätze will der Nürnberger Religionspädagoge Manfred L. Pirner im Umgang mit der kommerziellen Werbung forcieren, etwa eine kulturtheologisch-pneumatische Interpretation von Werbung, die »Gottes Geist« auch in Bereichen außerhalb explizit christlicher Kulturerscheinungen wiederfinden will – so dass Offenbarung also nicht nur in Inhalten, sondern auch in ästhetischen Formen erkennbar sei. Vgl. Pirner 2003, 64; Gottwald 2005, 344-347. 526 | Albrecht 1993, 110. 527 | Albrecht 1993, 17, 146. 528 | Albrecht 1993, 144. Vgl. a.a.O., 143-146.
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Integration des Einzelnen im einheitlichen Ganzen der Fernsehserien und die Feier einer »neuen Dimension der Welt« in der Fernsehshow sowie die Strukturierung des Alltags durch feste Programmpunkte ähnlich der liturgischen Ordnung des Tages durch Gebete erscheinen Schilson als stichhaltige Belege für die Existenz der Medienreligion, die jedoch gegenüber der gelebten Religion ohne Tiefendimension bleibe.529 Den bisher wohl umfassendsten Versuch einer theologischen Deutung des Fernsehens hat der evangelische Theologe Günter Thomas mit seiner 1998 veröffentlichten Dissertation Medien Ritual Religion vorgelegt. Er ist dabei jedoch weder an der Frage von der Präsenz religiöser Gestalten und Gemeinschaften oder an der Religion im Fernsehen im Allgemeinen noch an der kirchlichen Fernseharbeit interessiert. Fernsehen und Kirche versteht Thomas nicht als ein Anderes, sondern als ein Ähnliches – Fernsehen werde das Christentum daher nicht völlig ablösen, gehöre aber zu seiner Erbengemeinschaft. Kern der These von Thomas ist das Konzept der »impliziten Religion«, die weder von Zuschauern, Produzenten und Verantwortlichen in den Sendern als Religion verstanden werde, sondern gemäß Thomas’ eigener theoriegeleiteter Konzeption von Religion als Religion erkannt werden könne.530 Der Theologe zielt damit ähnlich wie Benedict und Schilson auf die funktionale Äquivalenz von Fernsehen und Religion ab, die er in der liturgischen Ordnung des Fernsehprogrammes zu identifizieren glaubt: »Unabhängig vom Akt der Rezeption existiert sie in einer Objektivität, die Verläßlichkeit signalisiert. In diesen liturgischen Strom sind die Rhythmen, Zyklen und Perioden eingelagert, die die Anordnung der einzelnen Rituale bestimmen.«531 Ohne nun im Detail einzelne Fernsehformate und -sendungen zu analysieren, stattdessen über eine funktionale Bestimmung der Massenmedien gelangt Thomas zu der Schlussfolgerung,
529 | Vgl. Schilson 1997, 93-99. Auch Wilhelm Gräb schließt sich diesem Befund an, vgl. Gräb 2002, 195ff. Ebenso geht Stefan Piasecki davon aus, dass Medien Alltagsfunktionen erfüllen, die eigentlich solche der Religion sind. Ansonsten bewegt sich das vom Titel her vielversprechende Werk Piaseckis Religion in der Mediengesellschaft. Verständnisse und Missverständnisse innerhalb des Spektrums, das der Untertitel andeutet. Abgesehen von einem überholten Religionsbegriff bleibt die Zielrichtung des Buches vollkommen unklar. Vgl. Piasecki 2009, 12. 530 | Vgl. Thomas 1998, 21f., 355. Auch Thomas‹ kritische Diskussion des Konzeptes der impliziten Religion in der gleichnamigen Monografie von 2001 bleibt wenig überzeugend und empirisch fragwürdig. Es besteht weiterhin der Verdacht, dass hier Phänomene der weltlichen Kultur theologisch vereinnahmt werden sollen. Vgl. Thomas 2001, 449-453. 531 | Thomas 1998, 516.
R ELIGION UND NEUE M EDIEN … daß das System der Massenmedien und im besonderen das Fernsehen mit seiner liturgischen Programmförmigkeit für die moderne differenzierte Gesellschaft in der Tat die Funktion hat, eine Kosmologie bereitzustellen, die selbst im Kontext soziologischer Erwägungen schlechterdings nur als religiöse oder als komplexe Nachfolgeeinrichtung traditionell religiöser Kosmologien gelesen werden kann.532
In diesem Sinne argumentieren dann auch die evangelischen Theologen Johanna Haberer und Manfred L. Pirner, der katholische Theologe Thomas H. Böhm und die Religionswissenschaftlerin Jutta Bernard.533 Aus Sicht Haberers ritualisiert Fernsehen den Alltag, transportiert und nährt mythische Vorstellungen und füllt die Lücke des Verlustes von wahren Gemeinschaftserlebnissen durch den »Schein des Dabei-Seins« – die Massenmedien und insbesondere das Fernsehen seien prägend für die Wertorientierungen der modernen Gesellschaft. Diese medienvermittelten Werte sind für Haberer Ausdruck unserer konsumfixierten, fortschrittsenthusiastischen und hedonistischen Gesellschaft und sind der christlichen Botschaft diametral entgegengesetzt.534 Pirner sieht die Analogien zwischen Fernsehen und Religion neben der rituellen Strukturierung vor allem in der Vermittlung einer sinnhaften Welt und in der Krisenbewältigung durch die ordnenden Fernsehinhalte.535 Böhm bezeichnet die Fernsehliturgie, die in die »Transzendenz des unendlichen Stroms der Fernsehprogramme« eingebettet sei, gar als Inversion des traditionellen Gebets. Fernsehwerbung preist aus seiner Sicht im Buhlen um Aufmerksamkeit die Göttlichkeit der Produkte und greift Motive und Bildwelten auf, die an der Tiefenstruktur menschlichen Daseins orientiert sind und Sinnangebote offerieren, während Fernsehserien die unüberschaubare Welt wieder in ein sinnvolles Ganzes fügten.536 Auch Bernard ist davon überzeugt, dass das Fernsehen mit der Thematisierung von Liebe und Gewalt, Leben und Tod, Erfolg und Misserfolg, existentielle Grunderfahrungen in mythischen Erzählrahmen immer wieder neu aktualisiere und damit Bereiche erobere, die traditionell durch die Religionen besetzt gewesen seien.537 Dem Fernsehen würden göttliche Attribute der Omnipräsenz, Ubiquität und Allwissenheit zugeschrieben und es könne den Alltag transzen-
532 | Thomas 1998, 519. 533 | Ähnliche Argumente trägt auch Wolf-Rüdiger Schmidt in seinem Beitrag in der Theologischen Realenzyklopädie vor. Vgl. Janowski & Schmidt 1992, 325f. 534 | Vgl. Haberer 1993, 134-137; auch Eurich 2000, Sp. 81. 535 | Vgl. Pirner 2005, 44-48. 536 | Vgl. Böhm 2005, 170-216. 537 | Vgl. Bernard 1999a, 367.
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dieren – jedoch fragt Bernard skeptisch, ob denn das Fernsehen einen Ersatz für die konkreten religiösen Bedürfnisse seiner Konsumenten bieten könne.538 Neben Theologen haben auch vereinzelt Medienwissenschaftler das Konzept der »Medienreligion« diskutiert bzw. propagiert. Kurt Hickethier bezeichnet ohne Umschweife den täglichen Fernsehkonsum als Gottesdienstersatz, weil er keine moralische Belehrung, sondern nur Unterhaltung verbreite. Es bestehe also nur eine strukturelle Äquivalenz zwischen liturgischer Praxis und medial bestimmter Ritualisierung des Alltags, da das Fernsehen an sich keine inhaltlich sinnhafte Orientierung anbiete.539 Ähnlich resümiert auch die Theologin Elisabeth Hurth: »Die vom Medium gestiftete ›Religion‹ ist letztlich nur ein Glaube an das Medium selbst.«540 Die einzige empirische Studie, die in dem weiteren Rahmen der »Medienreligion« operiert, hat der Essener Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Jo Reichertz vorgelegt. Methodisch an der hermeneutischen Wissenssoziologie orientiert wurden populäre deutsche Fernsehshows der ausgehenden 1990er Jahre – wie Traumhochzeit und Nur die Liebe zählt – analysiert und zusätzlich 37 Interviews mit Kandidaten dieser Shows geführt.541 Im Ergebnis kann Reichertz dokumentieren, dass die untersuchten Fernsehshows Angebote an Sinn, Verheißung, Vergebung, Verkündigung, Geborgenheit, Trost, Caritas und Magie unterbreiten und diese von den Kandidaten wahrgenommen werden: Das wichtigste Merkmal all dieser Angebote übergreifenden, den Einzelnen überschreitenden Sinns ist (und das ist hier der entscheidende Punkt), dass sie alle im Diesseits gründen und auf das Diesseits gerichtet sind. Diese Sinnangebote kommen ohne ein Jenseits aus, ohne einen Gott – ihre ›Heiligung‹, ihre Aura ist explizit von dieser Welt. 542
Der Mensch gebe damit nach Ansicht Reichertz’ seine alte, religiös fundierte Sicht auf die Welt auf, die als Bezugspunkt das Jenseits und den Allmächtigen hatte. Die Diesseitsreligion bestehe allerdings aus einem Überangebot an unterschiedlichsten Sinndeutungen, die sich der Einzelne flexibel und ohne dauerhafte Verbindlichkeiten und ohne Angst vor Sanktionen aneignen und auch wieder ablegen könne: 538 | Vgl. Bernard 1999a, 368f. Durch die erzeugte Spannung zwischen der Brüchigkeit des Alltags und der christlichen Heilsbotschaft vermittelt Das Wort zum Sonntag nach Ansicht der Kommunikationswissenschaftlerin Ruth Ayaß eine Transzendenz im Diesseits. Vgl. Ayaß 1998, 441-447. 539 | Vgl. Hieckethier 2000, 42f. 540 | Hurth 2008, 182. Ansonsten vertritt sie die gängige These vom Fernsehen als »Medien- und Unterhaltungsreligion«. Vgl. a.a.O., 178-190. 541 | Vgl. Reichertz 2000, 41-57. 542 | Reichertz 2000, 255f.
R ELIGION UND NEUE M EDIEN Aus dem riesigen Angebot an Sinn von den unterschiedlichsten Anbietern kann der einzelne – wenn der (kleine) Sinn-Hunger kommt – sich seine Instant-Religion schnell und mühelos mixen, um sie dann entsprechend der Umgebung und den angestrebten Zielen zu gebrauchen. 543
Es muss natürlich kritisch gefragt werden, inwiefern es legitim ist, dass Reichertz nur auf der Grundlage von Interviews mit Kandidaten von Fernsehshows (!) die These vom Fernsehen als (kurzzeitig) sinnstiftende Diesseitsreligion entwickelt, zumal die Kandidaten selbst ihre Fernsehteilnahme keineswegs als »Religion« beschrieben haben. So wie die kirchliche Fernseharbeit immer in der Spannung zwischen Kultur- und Medienkritik einerseits und der Mitwirkung an der Programmgestaltung andererseits stand und seit den 1960er Jahren die Kritik an den Massenmedien meist mit dem Aufruf an die Theologie verbunden wurde, eigene Kompetenzen im Umgang mit den neuen Medien zu erwerben, so ist der gesamte Diskurs um die »Medienreligion« stets eingebettet in praktisch-theologische Überlegungen.544 In diesem Sinne appellieren Benedict, Schilson und Albrecht eindringlich, dass man die in der »Religion der Massenmedien« sichtbaren Tendenzen und Bedürfnisse als Kirche ernst nehmen müsse und in der praktischen Arbeit der Kirchen auch darauf reagieren müsse.545 Für Schilson ist die »Medienreligion« ein Indikator dafür, dass es wohl einen Entkirchlichungsprozess, jedoch keine Säkularisierung der Gesellschaft gegeben habe. Die theologische Betrachtung der Medien müsse daher in den Phänomenen der Moderne das Religiöse wieder aufspüren. Schilson und Thomas treten beiderseits dafür ein, die Angebote der »Medienreligion« in der christlichen Liturgie zu überbieten und die Stärke der gottesdienstlichen Feier als leiblich-konkreter Gemeinschaft zu betonen.546 Wie ist nach diesen Ausführungen das Konzept der »Medienreligion« bzw. der »Religion der Massenmedien« aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu bewerten? Schon Hans-Jürgen Benedict hatte in den 1970er Jahren zu bedenken gegeben, dass das Fernsehen kein ausformuliertes und abgeschlossenes Sinnsystem offeriere und es unmöglich sei, aus der Vielfalt der Programman543 | Reichertz 2000, 257. Vgl. a.a.O., 250-260. 544 | Vgl. Uden 2004, 28-40; Uden 2005, 235f.; Abarbanell 1993, 150f. 545 | Vgl. Albrecht 1993, 125-146; Benedict 1987, 130f. Der Theologe Ronald Uden stellt allerdings zu Recht fest, dass bei dem posthum erschienenen Werk von Albrecht nicht klar sei, wofür der Autor nun konkret plädiere. Vgl. Uden 2004, 76-79. 546 | Vgl. Schilson 1997, 28-31.; 104-117; 200-222. Thomas verbindet sein Eintreten für den realen Gottesdienstvollzug allerdings mit der Absage an die verstärkte Präsenz der Kirche in den Medien, weil sie sich auf diese Weise den Spielregeln eines konkurrierenden kulturellen Symbolsystems unterwerfe. Vgl. Thomas 1998, 613-616.
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gebote eine klare Sinnorientierung oder Dogmatik abzuleiten.547 Die empirisch arbeitende Medienforschung – allen voran die Kommunikationswissenschaftler Siegfried J. Schmidt und Angela Keppler – haben das Konzept der »Medienreligion« scharf kritisiert. Grundsätzlich wird die fehlende empirische Legitimation des Konstruktes bemängelt: Eine Ableitung der Fernsehnutzung durch Zuschauer allein auf der Grundlage des gedruckten und gesendeten Fernsehprogramms ohne verschiedene Sendungstypen und deren jeweilige Rezeption zu beachten, sei nicht tragfähig.548 Schmidt stellt schon im Jahr 2000 die berechtigte Frage: Für wen ist das Fernsehen denn heute noch Leitmedium? Und welche Sendeanstalten mit welchen Programmen erfüllen für welche Nutzergruppen diese Funktion? Sind nicht gerade die Nutzer mit höherer Bildung schon mehrheitlich dominant Internet-User geworden, die Fernsehkonsum oft demonstrativ verweigern? Läßt sich in Zeiten des dualen Rundfunksystems von Pay TV und Video-on-Demand noch eine zahlenmäßig signifikante Sinnbildungskraft »des Fernsehens« unterstellen? … der Stil der Fernsehnutzung hat sich durch das duale System und Modi des Switchens und Zappens gewandelt. Insofern ist Fernsehen insgesamt ein massenhaft genutztes Mediensystem geblieben; aber seine Funktion als Leitmedium, als Primus unter den Mediensystemen durch Authentizität und Repräsentativität seiner »Welt-Ansichten« (reality on demand), hat es weithin verloren und wird es durch die Verschmelzung mit dem Internet noch weiter verlieren. 549
Berücksichtigt man in diesem Sinne das Nutzungsverhalten der Fernsehkonsumenten, sind alle Bausteine der »Medienreligion« letztlich auf Sand gebaut. »Das Fernsehen« bietet keine einheitliche Kosmologie, keine sinnhaft-geschlossene Weltdeutung, an. Auch die Annahme einer impliziten und hedonistischen »Diesseitsreligion« (Reichertz, Albrecht, Haberer) gelingt nur unter völliger Ausklammerung aller explizit religiösen Programminhalte, die nämlich sehr wohl auf genuin religiöse Heilsziele verweisen. Die empirische Fernsehnutzungsforschung deutet sogar auf einen der These eines Fernseh-Sinnkosmos entgegengesetzten Befund hin. Ruth Ayaß untersuchte bspw. die »Moralkommunikation« von Zuschauern während des Fernsehkonsums, d.h. die sprachlich geäußerten Bewertungen von Fernsehfiguren, Nachrichten und Handlungen. Die Besonderheit des »fernsehbegleitenden Sprechens« besteht darin, dass die Menschen, über die man spricht, nicht anwesend sind. Diese Umstände führen offenbar zu einer Häufung von direkten und scharfen Negativurteilen (lästern, klagen, entrüsten, mokieren) gegenüber
547 | Vgl. Benedict 1976, 95; Benedict 1978, 118, 127. 548 | Vgl. Keppler 2000, 223. 549 | Schmidt 2000, 219f.
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den selteneren Positivbewertungen (loben, bewundern) des Gesehenen.550 Von einer einhellig positiven Rezeption der präsentierten Fernsehinhalte kann keine Rede sein. Spätestens mit der Erfindung der Fernbedienung und der Zerstückelung der Sendungen durch Werbeunterbrechungen ist die These von der liturgischen Ordnung hinfällig. Die Mediennutzung entspricht nicht dem Programmverlauf eines einzelnen Senders: Im deutschen Durschnitt beträgt die Verweildauer beim Angebot eines Senders nur sieben Minuten, bis umgeschaltet wird.551 Ohnehin wirft die funktionale Gleichsetzung von Fernsehprogrammen und einer religiös-liturgischen Ordnung des Tages die Frage auf, warum denn nicht auch Zug- und Busfahrpläne religiöse Funktionen erfüllen würden. Auch kann von der Tatsache des zeitgleichen Konsums einer bestimmten Fernsehsendung nicht auf eine wirkliche Vergemeinschaftung geschlossen werden: Es besteht lediglich ein formaler Konsens der zeitweisen Teilnahme am Mediengeschehen, was jedoch in keinster Weise eine Zustimmung zu den jeweiligen Medieninhalten bedeuten muss.552 Das Konstrukt der »Medienreligion« kann daher nicht als Resultat einer medienwissenschaftlichen Diagnose überzeugen, sondern muss als theologischer Deutungsprozess des Fernsehens begriffen werden. Die Konstruktion der »Medienreligion« ist damit Gegenstand einer religionswissenschaftlichen Medienforschung und nicht deren Ergebnis oder erkenntnisleitendes Mittel. Aber geht es Harvey Cox, Dorothee Sölle, Arno Schilson, Johanna Haberer, Horst Albrecht und Günter Thomas wirklich um das Fernsehen? Um eine Erforschung der Mediennutzung, um die konkrete Analyse von Programminhalten und ihren Produktionsbedingungen? Wohl kaum – denn wie ließe sich sonst erklären, dass die explizit religiösen Programme in diesem Diskurs vollkommen ignoriert oder weitgehend marginalisiert werden und dem tatsächlichen Medienverhalten der Fernsehzuschauer keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird? Ganz offensichtlich und ausdrücklich geht es den genannten Autoren um eine Verhältnisbestimmung von Kirche und Moderne bzw. Postmoderne, als deren Spiegelbild und Projektionsfläche das »Massenmedium« Fernsehen dient.553 550 | Vgl. Ayaß 2007, 271-284. 551 | Jedoch mit sehr unterschiedlichem Nutzungsverhalten der diversen Konsumententypen. Vgl. Lindner-Braun 2007, 343f. 552 | Vgl. Keppler 2000, 225-230; Keppler 1999, 195-198; Schmidt 2000, 216-221. Auch Stewart M. Hoover hält den gegenüberstellenden Vergleich von Religion und Medien für nicht zielführend. Seine Forschungen über die Rezeption von Daily-Soaps lassen den Schluss zu, dass Fernsehserien ihren Konsumenten eher eine konditionierende Sprache bereitstellen, als dass sie einen Einfluss auf Überzeugungen und Verhalten hätten. Vgl. Hoover 2000, 89. 553 | Vgl. Haberer 1993, 134-137; Schilson 1997, 93-99; Albrecht 1993, 17, 146.
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In diesem Zusammenhang ist es lohnenswert, einen Blick auf die Semantik des Begriffes der »Massenmedien« zu werfen, die jüngst Christina Bartz in ihrer hervorragenden medienwissenschaftlichen Dissertation herausgearbeitet hat. Die in Deutschland entstandene Massentheorie der Medien evoziert in Anlehnung an entsprechende sozialpsychologische Theorien der Masse den Eindruck einer Willenlosigkeit und Beeinflussbarkeit der Massen durch die Medien. Der Terminus der Massenmedien impliziert die Manipulierung oder mindestens die Hervorbringung einer rezeptiven Disposition der Zuschauer und Konsumenten durch die Medien. Rhetorisch schließen sich Redewendungen vom »Bann des Fernsehens« und von dessen »magischer Anziehungskraft« an. Da die Masse selbst weder über Charakter- und Willensstärke noch über die Möglichkeit zur freien Entscheidung verfügt, stellt das Fernsehen eine enorme Gefahr durch die Verführung der Massen dar.554 Mehr noch: In ihren Studien zum Ursprung des modernen Medienbegriffes hat Petra Löffler herausgearbeitet, wie dem neuen Medium des Films ab 1900 Wirkungen auf die manipulierbare Masse der passiven Zuschauer wie Schwindel, Hysterie und Zerstreuung zugeschrieben wurden.555 Wenn nun »Massenmedien« in Verbindung gebracht werden mit Religion, dann ist die Medienreligion eine Religion der Masse – auf die pejorative Konnotation der »Massenreligion« und »Massenheilanstalt« bei Max Scheler und dem »Massenerlösungsglauben« bei Max Weber wurde bereits hingewiesen. Unter dem von Benedict und Cox eingeführten medienkritischen Paradigma der »Baalsreligion« und des »Götzendienstes« wird das Fernsehen zum Goldenen Kalb der Moderne und die leichtgläubige Masse der Zuschauer zum verführten Volk Israel. Wenn die »Medienreligion« aber Baalskult ist, dann zeichnen sich vor dieser unentrinnbaren Bedrohungslage die Konturen der vera religio ab. Nur als Nebenaspekt ist von Interesse, dass Religion in diesem idealen Sinne nicht unterhaltend sein darf – denn Hedonismus, Vergnügungssucht und Infantilisierung sind ja die Kennzeichen der »Medienreligion« und der religionslosen Moderne. Viel gravierender ist jedoch die historische Vereinnahmung der Zeit vor den Massenmedien durch das theologische Paradigma der »Medienreligion«.556 Werden die Massenmedien, in der Regel also das Fern554 | Vgl. Bartz 2007, 129-136. Auch Maud Sieprath und Katrin Döveling verwenden dieses Paradigma in der Analyse von emotionalisiert dargestellten, religiösen Massenereignissen in den Medien, in denen »sich das bewusste Denken des Einzelnen auflöst«. Die festgestellte emotionale Wirkung der Ereignisse wird jedoch nur angenommen, Zuschauerreaktionen wurden nicht erhoben. Vgl. Sieprath 2009b, 26-29; Döveling 2007, 79ff. 555 | Vgl. Löffler 2009, 376-398. 556 | Die Medienkritikerin Barbara Sichtermann vermutete ja hinter der heutigen theologischen Medienkritik die Klage darüber, dass Medien in der Vergangenheit in der Hand
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sehen, zum Symptom einer gottlosen Moderne deklariert, so wird gleichzeitig der Anspruch erhoben, dass die Zeit vor den Massenmedien vollkommen von Religion und Kirchlichkeit durchdrungen war und dass alle Medien in dieser Periode letztlich religiösen Zwecken dienten. Dieser Anspruch jedoch ist im Angesicht des historischen Befundes zur mittelalterlichen, frühneuzeitlichen und modernen Lebenswelt unhaltbar. Es würde nicht nur die auch unter den wissenssoziologischen Klassikern verbreitete These vom religiösen Mittelalter in Europa wiederholen – Phillip Ariès, Georges Duby und Mitstreiter haben uns in den vergangenen Jahrzehnten einen sehr differenzierten Blick auf die weltliche Kultur des privaten Lebens dieser Periode gelehrt. Es würde auch bedeuten, die umfangreiche weltliche und religionskritische, teils blasphemische Volkskultur und die gesamte Geschichte der französischen und schottischen Religionskritik, der Aufklärung, des Marxismus und der Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts zu ignorieren. Bereits seit dem 18. Jahrhundert haben wir sichere Daten vorliegen, die zeigen, dass große Teile der Bevölkerungen in Europa weder besonders stark am kirchlichen Leben wie den Gottesdiensten und der Beichte partizipiert haben, noch eine spürbare Orientierung an den Morallehren der Kirchen aufzuweisen hatten.557 Eine außereuropäische Perspektive ist in dem theologischen Paradigma der »Medienreligion« natürlich niemals berücksichtigt worden, denn dann müssten auch gänzlich anders geartete Beziehungen zwischen Religionen und neuen Medien reflektiert werden, die schließlich das gesamte Konzept der »Medienreligion« ad absurdum führen würden. Während der Säkularisierungsaspekt die theologische Auseinandersetzung mit der Moderne betrifft und das dominierende Deutungsmuster der »Medienreligion« unter diesen Vorzeichen gelesen werden muss, ist jedoch eine weitere Implikation für die religionsbezogene Fernsehforschung noch folgenreicher: Religion und ihre Präsenz in den Medien werden als unvereinbarer Gegensatz konstruiert, da sich das vermeintliche unterhaltungs- und diesseitsorientierte des Christentums Sinn und eine Daseinsberechtigung erfuhren, während heute das Fernsehen, der Hörfunk, die Presse und das Kino nur noch der weltlichen Mythologie und ihren diesseitigen Zielen dienen würden. Vgl. Sichtermann 1993, 139f. 557 | Im Zuge der Verbürgerlichung des Christentums und seiner ethischen Privatisierung in West- und Mitteleuropa seit dem 17. Jahrhundert konnten sich die städtische Unterschicht der Handwerker und Lohnarbeiter wie auch die Landbevölkerung in zunehmendem Maße nicht mehr mit der Kirche identifizieren. Die Moralstatistiken geben Aufschluss über die ethische Orientierung der Bevölkerungen. Dass sich die Kirchen in Deutschland bereits vor der großen Verbreitung des Fernsehens in einer Krise befanden, belegt eindrücklich die frühe Studie Religion ohne Entscheidung von Hans-Otto Wölber. Vgl. Matthes 1967, 79f.; Benedict 1978, 120f.; Wölber 1959; Duby 1999; Scharfe 2004, 157-245.
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Medium Fernsehen nicht mit einer jenseitsorientierten, christlichen Heilsbotschaft verbinden lasse. Kirchliche Sendungen und Beiträge als Bestandteile von privaten oder öffentlich-rechtlichen Vollprogrammen wie auch die religiösen Spartenkanäle werden aus dieser theologischen Perspektive heraus abgewertet, der Forschung über Religion im Fernsehen wird keine Relevanz zugestanden. Den entsprechenden Marginalisierungsprozess kann man allein schon daran ablesen, dass diese explizit religiösen Sendungen und Sender in den deutschsprachigen Werken über die »Medienreligion« praktisch nicht zur Sprache kommen, ganz im Gegensatz zu den entsprechenden US-amerikanischen Forschungen.
Forschungsperspektiven Eine religionswissenschaftliche oder medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld von Religionen im Fernsehen muss zunächst die selbst verantworteten Grenzen und selektiven Wahrnehmungen reflektieren, die vor allem das Paradigma der »Medienreligion« mit sich brachte. Anstatt also Zeit und Ressourcen in die empirisch fragwürdige Suche nach der »impliziten Religion« und den religiösen Funktionen »des Fernsehens« zu investieren, sollte eine religionswissenschaftliche Fernsehforschung gezielt die explizit religiösen Aspekte von Fernsehen ins Auge fassen: Das sind erstens die Produktionsbedingungen und -strukturen der religiösen und im deutschen Kontext dann fast ausschließlich kirchlichen Fernseharbeit; zweitens betrifft dies die Präsentation von Religionen im Fernsehen und drittens die religiöse geprägte Rezeption des Mediums Fernsehen an sich und bestimmter Sendeformate durch die Zuschauer. Im ersten Fall gilt es, zunächst die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen religiöser Sendeformate zu klären: Gibt es wie in Deutschland ein privilegiertes Drittsenderecht für bestimmte Religionsgemeinschaften? Wie ist das Verhältnis zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanstalten und den Kirchen geregelt? Wie ist der Markt der religiösen Spartenkanäle strukturiert und welche Organisationen und ggf. Einzelpersonen stehen hinter den Sendern? Welche Produktionsfirmen für entsprechende Fernsehbeiträge und -filme existieren und wie sehen die Vertriebswege aus? Welche Kooperationen gibt es in diesem Zusammenhang zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften? Welche Qualifikationen und welches Selbstverständnis ihrer Arbeit haben die Personen, die am Produktionsprozess beteiligt sind (Autoren, Regisseure, Redakteure)? Wie werden die religiösen Programme finanziert? Welche Rolle spielen hierbei Zuwendungen der Kirchen und Spenden der Zuschauer? Diese Aspekte konnten in der vorliegenden Arbeit nur skizzenhaft angedeutet werden, müssen jedoch in der weiteren Forschung systematisch und mit angemessenem ökonomischem und juristischem Sachverstand erschlossen werden. Da viele Sender ihr Programm schon heute parallel als Live-Stream und/
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oder als video-on-demand anbieten und einzelne Sendungen auf YouTube zur Verfügung stellen, muss die religionswissenschaftliche Fernsehforschung im Prozess der zunehmenden Verschmelzung der klassischen Ausstrahlungswege via Rundfunk, Kabelfernsehen und Satellit mit dem Internet den neuen technischen und strukturellen Bedingungen Rechnung tragen. Der wohl umfangreichste Bereich des Forschungsfeldes thematisiert die Darstellung von Religionen im Fernsehen mit der Dynamik, die sich aus der Eigendarstellung und Fremddarstellung in journalistischen wie auch fiktiven Produktionen ergibt.558 Die Einzelanalysen müssen sich an den jeweiligen Sendeformaten orientieren und hier je spezifische Analysemethoden der Kommunikations- und Medienwissenschaften anwenden. Für kirchlich verantwortete Sendereihen – Magazin- und Informationssendungen ebenso wie Features, Berichte und Fernsehdokumentationen – ist natürlich von besonderem Interesse, auf welche Weise hier Bezüge zum Christentum oder zu anderen Religionen hergestellt werden. Generell muss sicherlich berücksichtigt werden, inwieweit sich die Darstellung von Religionen in der fernsehgerechten Aufbereitung hier an den Maßgaben zur Bebilderung, zur Personalisierung und zur Fixierung auf Ereignisse orientiert.559 Welche Aspekte des religiösen Lebens werden durch diesen medial bedingten Selektionsprozess verstärkt und welche ausgeblendet? Welche Rolle spielt hier der interne Druck zu hohen Einschaltquoten und Dramatisierung der Darstellung (Warnung vor Gefahren, Skandalisierung) in Vollprogrammen wie auch in religiösen Spartenkanälen? Journalistische Beiträge über Religionen stellen ein besonderes Problem dar, denn entweder sind sie von meist theologisch qualifizierten Mitgliedern von Kirchen- und Religionsredaktionen der Fernsehanstalten angefertigt, oder aber es besteht seitens liberaler Journalisten die Tendenz, Religionen, ihre Praktiken und Strukturen als überholte Überbleibsel eines voraufklärerischen Weltverständnisses zu besprechen.560 Im Bereich der Nachrichtenbeiträge über Religionen ist es notwendig, zunächst ein Verständnis für die Spezifika des Fernsehens zu entwickeln, bevor einzelne Nachrichteninhalte analysiert werden können, wie Ruel Tyson meint: »News is not fact, but with the mediation of facts through symbolic media, through conventions of writing an editing, and through inclusions created in the practice of such conventions.«561 An wen richten sich Nachrichten? Mit welchen Mitteln der Darstellung arbeiten sie? Welchen Nachrichtenwert (Aktualität, Relevanz) müssen Nachrichten haben, um aus der Fülle von Agenturmeldungen ausgewählt zu werden? Gerade der Nachrichten-Journalismus arbeitet unter enormen Zeitdruck stets mit Masken 558 | Vgl. Mohr 2008, 125-132. 559 | Vgl. Bernard 1999a, 367f. 560 | Vgl. Tyson 2005, 4964. 561 | Tyson 2005, 4961.
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und rhetorischen Konventionen, um bestimmte Ereignisse auszudrücken und damit die Relevanz der Medien für die Gesellschaft zu betonen.562 Diese diskursiven Strukturen gilt es im Bereich des Religionsjournalismus zu identifizieren, sowohl im Hinblick auf die Berichterstattung in den Nachrichten als auch gerade in Reportagen und Dokumentationen über Religionsgemeinschaften jenseits der christlichen Großkirchen in Deutschland. Der Bereich der »Sektenfilme« scheint in diesem Zusammenhang als Extremfall wertender und dramatisierender Berichterstattung besonders geeignet, um die Anforderungen des Mediums Fernsehen im Spannungsfeld zwischen Unterhaltung, Einschaltquote und Information zu veranschaulichen. Quantitative und qualitative Verfahren der Film- und Fernsehanalyse sind hier angebracht. Analytische Methoden der sozialwissenschaftlichen Gruppendiskussion könnten sich als hilfreich erweisen für das bisher kaum beachtete Feld der Talkshows mit religiösen Sujets. Fiktionale Formate wie Fernsehserien und Fernsehfilme können auf die gängigen Verfahren der Filmanalyse zurückgreifen, wobei es sich gerade im Falle von anhaltend erfolgreichen Fernsehserien wie Lindenstraße und Gute Zeiten, schlechte Zeiten auch als vielversprechend erweisen könnte, zu schauen, wo Religion nicht in Erscheinung tritt – werden bspw. sonntägliche Gottesdienstbesuche gezeigt? Wie also sieht die Normalität dieser fiktionalen Alltagskonstruktionen aus? Je nach Fragestellung und Sendeformaten müssen neue, interdisziplinär verankerte Analyseverfahren entwickelt werden – gerade im Hinblick auf religiöse Musikvideos, die komplexe Bild-, Klang- und Textdimensionen auf engem Raum miteinander verbinden, scheint dies notwendig zu sein. Nicht zuletzt müssen auch die religiösen Interpretationen, Stellungsnahmen und Verhaltensweisen gegenüber dem Medium Fernsehen an sich und die Rezeption bestimmter Programminhalte aufgearbeitet werden, sei dies nun die theologische Konstruktion einer »Medienreligion«, die Wertschätzung des Mediums als Mittel der Mission und Verkündigung seitens vieler Freikirchen und des Vatikans, oder sei es die Nutzung des Fernsehens als spiritistisches Medium in der instrumentellen Transkommunikation. Auch spezifisches Konsumverhalten wie die Performanz einer puja beim Empfang der Ramayana-Fernsehserie in indischen Haushalten oder die mediale Teilnahme an Fernsehgottesdiensten muss in diesem Kontext erörtert werden.563 Damit im deutschsprachigen, akademischen Betrieb überhaupt Forschungen zu religiösen Fernsehprogrammen und -inhalten entstehen können, bedarf es allerdings noch einiger struktureller Voraussetzungen. Da zu erwarten ist, dass sich reine Medienwissenschaftler auch in Zukunft nur in Ausnahmefällen auf das Gebiet der religiösen Medienangebote spezialisieren werden – so sie denn keine Karriere in kirchlichen Strukturen anstreben – ist es notwendig, 562 | Vgl. Tyson 2005, 4960f. 563 | Vgl. Plate 2005, 3101.
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in der religionswissenschaftlichen Lehre systematisch Methoden der Medienanalyse zu integrieren. Ebenso wichtig ist es, im Rahmen der europäischen Religionsgeschichte und Gegenwartsforschung eine gewisse Offenheit gegenüber der Erforschung christlichen Lebens zu propagieren. Die traditionelle Aufteilung zwischen Theologie und Religionswissenschaft, nach der Erstere das Christentum behandelt und Letztere sich außereuropäischen Religionen und nicht-christlichen Minderheiten in Europa zuwendet, erweist sich spätestens dann als fatal, wenn aufgrund von theologischen Vorbehalten wichtige Erscheinungen der religiösen Gegenwartskultur schlichtweg »ausgeblendet« werden, was insbesondere die neueren Medienentwicklungen und das gesamte Feld der Freikirchen betrifft.
4.8 I NTERNE T Das Unterfangen, »etwas über Religion im Internet« zu schreiben, ist genauso wenig befriedigend zu bewältigen, wie »etwas über Religion in Büchern« auszusagen.564 Im Gegensatz zu allen anderen neuen Medien wurde die Entwicklung des Internet seit der Etablierung des World Wide Web Mitte der 1990er Jahre höchst aufmerksam von der Religionswissenschaft in Mittel- und Nordeuropa und in Nordamerika verfolgt. Die Aufgabe, die sich nun stellt, unterscheidet sich somit von den vorherigen insofern, als dass nicht die Ignoranz gegenüber dem neuen Medium erklärt werden muss, sondern die Natur der erkenntnisleitenden Deutungsmuster der schon sehr weit gediehenen, religionsbezogenen Internetforschung. Auf die kurze Einführung zur historischen und substantiellen Frage, worum es bei der Rede vom »Internet« überhaupt geht, folgen eine Skizze der religionsrelevanten Aspekte des Internet und ein kurzer Forschungsüberblick. Abschließend werden vertieft dominierende Paradigmen der »Netzkultur« analysiert, die eng mit religiösen Ideen individueller und kollektiver Identität verknüpft sind. Gemeint ist einerseits der Avatar als persönlicher Neuentwurf in Kommunikationssystemen des Internet und andererseits die religiöse Dimension einer universalen Gemeinschaftsutopie, die mit dem World Wide Web verbunden wird.
564 | Mit dieser Aufforderung seitens eines theologischen oder religionswissenschaftlichen Publikums sah sich der Heidelberger Internetforscher Gernot Meier öfters konfrontiert und reagierte mit dem anschaulichen Vergleich zur religiösen Bücherwelt. Vgl. Meier 2006, 277.
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4.8.1 Was ist das Internet? 565 Das Internet ist ein Enkelkind des Kalten Krieges. Der Sputnik-Schock im Jahr 1957 führte in den Vereinigten Staaten zur Gründung der Advanced Research Project Agency (ARPA), die innerhalb des US-Verteidigungsministeriums die Entwicklung neuer Technologien fördern sollte. Hier war es vor allem dem amerikanischen Psychologen Joseph C. R. Licklider als Leiter zentraler Forschungsabteilungen zu verdanken, dass Computer über ihre Funktion als bloße Rechenmaschinen hinaus als Kommunikationsmittel weiterentwickelt wurden. Er formulierte bereits 1963 in einem Memorandum die Vision eines intergalactic computer network. Licklider plädierte dafür, dass Großrechner an verschiedenen Standorten miteinander verbunden werden und Informationen untereinander austauschen, damit die Rechenkapazitäten besser ausgelastet werden.566 Im Herbst 1969 konnten dann in mehreren Schritten und nach allerlei Versuchsdurchläufen erstmals vier Großrechner an der University of California an den Standorten in Los Angeles und Santa Barbara, an der Stanford University und an der University of Utah dauerhaft über Telefonleitungen miteinander zum ARPANET zusammengeschlossen werden.567 Per Satellit wurden ab 1972 Verbindungen nach Norwegen und England aufgebaut, aber erst im Folgejahr wurde ein gemeinsamer Kommunikationsstandard verbindlich eingeführt (das Transmission Control Protocol, TCP). Nachdem ab 1977 die ersten Heimcomputer zur Verfügung standen, wurde das Netzwerk nicht nur von Universitätsangehörigen und Mitarbeitern großer Firmen, die über einen Host-Computer verfügten, genutzt, sondern per Modem konnten sich auch Privatleute mit neu entwickelter Software in die bestehenden Host-Computer einwählen. Bis 1983 war das ARPANET auf über 200 verbundene Host-Computer an Forschungseinrichtungen und Regierungsstellen angewachsen. Zu diesem Zeitpunkt wurden auf Beschluss des US-Verteidigungsministeriums zwei unabhängige Netzwerke eingerichtet: das öffentlich zugängliche ARPANET und das geschlossene MILNET (military network) des Militärs und seiner Forschungseinrichtungen. In Europa und Japan wurden erst ab Mitte der 1980er Jahre eigenständige Computernetzwerke aufgebaut, teils auch mit unabhängigen Netzen für den E-Mail-Verkehr. Auf der Grundlage 565 | Die historische Darstellung ist vorwiegend Leiner et al. 1997 und Hafner & Lyon 2000 entnommen. 566 | Nach Angaben der Internet Society ist die Annahme, dass das ARPANET aufgrund der Bedrohung durch einen Atomkrieg eingerichtet wurde, nicht mehr als eine hartnäckige Legende. Vgl. Leiner et al. 1997, FN 5. 567 | Die erste versendete Nachricht (29.10.1969) bestand aus den Buchstaben »l« und »o«. Bevor das Wort »login« vervollständigt werden konnte, brach das System zusammen.
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des rein technischen Übertragungsstandards wurde 1995 in der Erklärung des US-amerikanischen Regulierungsrates für Netzwerke, dem Federal Networking Council, das Internet als ein globales Informationssystem definiert, das auf dem TCP/IP (IP = Internet Protocol) basiert und entsprechende Kommunikationsdienste anbietet. Erst 1991 entstand das World Wide Web, nachdem der am Schweizer Kernforschungszentrum CERN beschäftigte Informatiker Tim Berners-Lee ein abrufbares Hypertextsystem für die Vernetzung wissenschaftlicher Artikel entwickelte – die Bezeichnung World Wide Web ist seine Wortschöpfung.568 Durch Hyperlinks und eine eindeutige Adresszuweisung von Inhalten eines Netzwerkes durch die Hypertext Markup Language (HTML) konnten die einzelnen Inhalte erst miteinander »verlinkt« werden, unabhängig davon, auf welchem Host-Computer (Server) sie sich befanden. Web-Browser ermöglichten die visuelle Anzeige und das Ansteuern der Webinhalte, während die Privatisierung der vorhandenen Netzwerke und die Öffnung für kommerziell ausgerichtete Unternehmen Anfang der 1990er Jahre zu einer raschen Weiterentwicklung der inhaltlichen Angebote führte. Bereits 1994 waren weltweit drei Millionen Computer miteinander vernetzt. Aktuelle Statistiken über die globale Internetnutzung sind mit Vorsicht zu genießen, die absolute Zählweise der »Internetnutzer« ist meist vollkommen intransparent und beruht außerhalb Europas meist nur auf Schätzungen und den Angaben der involvierten Unternehmen.569 Im Jahr 2009 verfügten laut der europäischen Statistikbehörde Eurostat 64 Prozent der Haushalte in den 27 EU-Staaten über einen Internetanschluss, in Deutschland sind es 78 Prozent. EU-weit geben allerdings 30 Prozent der Einwohner an, dass sie das Internet noch niemals genutzt haben, weder privat noch beruflich,
568 | Das World Wide Web ist nicht gleichzusetzen mit dem Internet, da das Internet noch eine Reihe weiterer Kommunikationsleistungen wie den E-Mail-Verkehr, das Usenet, den Internet Relay Chat, Internet-Telefonie, Radio, Fernseh- und Datenübertragungen umfasst (obwohl diese Dienste auch über die gängigen Webbrowser verfügbar gemacht werden). Die erwähnten Dienste basieren nicht auf HTML. 569 | So geben die marketingnahen Internet World Stats an, dass ca. 30 Prozent der Weltbevölkerung bereits zu den Internetnutzern gehören, für Deutschland wird hier eine Quote von 80 Prozent der Bevölkerung angegeben, die zu den Internetnutzern zählt. Die zuverlässige Datenbasis von Eurostat gibt lediglich an, wie hoch die Zahl der Haushalte ist, die über einen Festnetz-Internetanschluss (Breitband/Modem/ISDN) verfügen (in Haushalten mit mindestens einem Mitglied zwischen 16 und 74 Jahren). Daraus kann seriös keine Aussage über die absolute Zahl der Internetnutzer und das Nutzungsverhalten gewonnen werden. Zu Internet World Stats vgl.: www.internetworldstatcom/stathtm (01.09.2010).
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in Deutschland ist dieser Wert inzwischen auf 19 Prozent der Bevölkerung (im Alter von 16-74) gesunken.570 Was aber machen die Menschen, die »User«, mit dem Internet? Bereits 1971 wurde das erste E-Mail-Programm für das ARPANET von Ray Tomlinson entwickelt (ihm ist die Kennzeichnung elektronischer Post mit dem Zeichen @ zu verdanken). 1975 wurden die ersten Mailinglisten eingerichtet und schnell überstieg das per E-Mail versandte Datenvolumen den Umfang des herkömmlichen Datenaustausches. Im Januar 2010 betrug die Zahl der täglich versendeten E-Mails ca. 183 Milliarden, darunter sind allerdings mit steigender Tendenz 95 Prozent unerwünschte Spam-Mails, die von Bot-Netzen (»gekaperten« Computern) automatisch versandt werden und großenteils von Filtersystemen automatisch eliminiert werden.571 1980 wurde in den Vereinigten Staaten das auf dem Betriebssystem UNIX basierende Usenet als Alternative zum ARPANET begründet, das vorwiegend an den Bedürfnissen privater Nutzer orientiert ist. Neben der Möglichkeit, über E-Mails zu kommunizieren, können in inzwischen acht großen Themenbereichen (Computer, Wissenschaft/Technik, Gesellschaft, allgemeine Gespräche, Freizeit/Kunst/Kultur, Neuigkeiten und Vermischtes) Nachrichten in Newsgroups platziert und kommentiert werden. In der Form von Diskussionsforen wurde diese Struktur auch im World Wide Web fortgeführt. Ab 1985 wurde auch die Verbindung mit dem über TCP/IP regulierten Internet möglich. Ende der 1970er Jahre entstanden auch die ersten Multi User Dungeons (MUDs) – unter dieser Bezeichnung startete 1980 das erste textbasierte Rollenspiel für mehrere Spieler auf dem Universitätsnetzwerk der University of Essex, das später auch externen Nutzern auf dem ARPANET zugänglich gemacht wurde. Die Räume, Landschaften und Akteure dieser Abenteuerwelt waren ähnlich der Live-Rollenspiele ausschließlich durch Texte beschrieben. Schon ab Mitte der 1980er Jahre entwickelten sich hieraus die Massively Multiplayer Online Games (MMOGs), die virtuelle Welten grafisch darstellen und heute eine große Bandbreite an Spieltypen vom Strategiespiel über das Sportspiel bis zum Ego-Shooter-Game erlangt haben. Das gemessen an der Teilnehmerzahl erfolgreichste MMOG ist derzeit die Bauernhofsimulation Happy Farm mit mehr als 228 Millionen aktiven Spielern, die großenteils aus China und Taiwan stammen.572
570 | Wertvolles Datenmaterial liefert Eurostat unter: http://epp.eurostat.ec.europa. eu/portal/page/portal/information_society/data/main_tables (01.09.2010). 571 | Vgl. Gartz 2010. 572 | Vgl. Ho 2010. Happy Farm ist an ein chinesischsprachiges, soziales Netzwerk angeschlossen. Kosten für die Nutzer entstehen vor allem durch die zusätzliche Ausstattung der Avatare mit Kleidung etc.
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Die letzte internetpezifische Kommunikationsinnovation war 1988 der Internet Relay Chat, der es ermöglichte, Textbotschaften in Echtzeit mit einem oder mehreren anderen Nutzern auszutauschen. Alle späteren Entwicklungen können wahrscheinlich als quantitative Steigerungen betrachtet werden: von der Darstellung von reinen Texten über Grafiken, Bilder, Audiodateien bis hin zu einzeln abrufbaren Radio- und Fernsehbeiträgen (»Podcasts« als playable on demand broadcasting). Inzwischen stellen die Downloads von Filmen den größten Einzelposten des Datenverkehrs im Internet dar.
4.8.2 Religionen und das Internet: eine Feld- und Forschungsskizze Das Problem, etwas über Religionen im Internet auszusagen, ist gegenüber dem Buchmarkt noch dadurch verschärft, dass das Internet alle bisherigen, gängigen Text- und Bildmedien wie auch alle audiovisuellen Medien verfügbar macht. Wir befinden uns zurzeit noch in einem Übergangsstadium, in dem sich die künftigen technischen Möglichkeiten und ökonomischen Strukturen ausbilden.573 Zumindest in den Regionen, die die nötige informationstechnische Infrastruktur hoher Übertragungsraten und einen ausreichend großen Absatzmarkt aufweisen, werden heutige Medienangebote vom Film, vom Musik- und Buchtitel bis hin zum Radio- und Fernsehprogramm vollständig im Internet verfügbar sein – für einige Bereiche wie Radio und Musikdownloads gilt dies schon heute. Daneben entwickelt sich ein spezielles Internetangebot, das den Bedürfnissen des Mobiltelefons angepasst ist. Die Annahme, dass das Internet weltweit die bisherigen Medien ersetzen würde, ist sicherlich vermessen und unterschätzt die dafür notwendigen Investitionen in leistungsfähige Datennetze, jedoch wird es in hochentwickelten Industrieländern in den kommenden Jahren sicherlich parallele Angebote geben. Die großen Fernsehanstalten sind bereits heute mit Umstrukturierungen befasst, die dem veränderten Nutzungsverhalten entgegenkommen, nämlich dem internetbasierten, gezielten Abruf einzelner Sendungen als Podcast.574 573 | Ob im Internet weiterhin zahlreiche Informations- und Unterhaltungsangebote sowie Netzwerkdienste – wie Onlinezeitungen, Facebook oder Googlebooks – kostenfrei angeboten werden, ist fraglich. Offen ist auch die Zukunft des strukturierten Kino- und Fernsehprogramms, wenn Filme und Sendungen jederzeit aus dem Netz heruntergeladen werden können. 574 | Während DSL-Anschlüsse (digital subcriber line) bereits in weiten Teilen der OECD-Staaten verfügbar sind, konzentrieren sich die bis zum Endverbraucher gelegten Glasfaserleitungen, die noch leistungsfähiger sind, bisher nur auf große Metropolen. Über die bisherige Verfügbarkeit der nötigen Breitbandanschlüsse in Deutschland gibt der Breitbandatlas des Bundeswirtschaftsministeriums Aufschluss. Die statistischen
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Grundsätzlich kann man festhalten, dass alle mit dem Internet verbundenen Medienanwendungen auch für religiöse Zwecke verwendet werden. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick die möglichen Forschungsfelder und den jeweiligen Forschungsstand skizzieren. Dabei werden die bereits in den vorhergehenden Kapiteln dargelegten Aspekte (wie Internetfernsehen und -radio, E-Mail-Dienste und persönliche Online-Beratungen etc.), die als Weiterführung oder Integration bestehender Kommunikationsformen gelten können, nicht mehr explizit angesprochen.575 Die frühesten Zeugnisse von religiösen Präsenzen im Internet müssen wohl noch ein Jahrzehnt vor die Einführung des World Wide Web datiert werden: Von der Online-Spielwelt Habitat wird Mitte der 1980er Jahre berichtet, dass hier Religionen gegründet wurden und virtuelle Eheschließungen stattfanden.576 Gregor Ahn verweist auf das 1991 installierte Hopi Information Network und auf Online-Textsammlungen des Okkultismus (Aleister Crowley) als früheste Zeugnisse der religiösen Nutzung des Internet, während Stephen O’Leary von neopaganen Ritualen berichtet, die auf rein textlicher Basis in Computernetzwerken schon zu Beginn der 1990er durchgeführt wurden.577
Institutionelle und private Präsentationen Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die ersten religiösen Webpräsenzen nicht von offiziellen Institutionen, sondern von Individuen als private Homepages eingerichtet wurden. Erst darauf folgten offizielle Seiten von Kirchen in Europa, Nordamerika sowie von Tempeln in Japan, auf denen meist Kontaktadressen und Verzeichnisse von Gemeinden, Mitgliedern und später auch eine Vielzahl
Daten über die Breitbandverteilung in den OECD-Staaten werden jährlich aktualisiert. Deutschland bildet nach den USA den zweitgrößten Markt für Breitbandangebote, befindet sich gemessen an der Einwohnerzahl aber mit 30 von 100 Einwohnern mit Breitbandanschluss nur auf Platz 10. Nur 0,2 Prozent der Einwohner haben einen Glasfaseranschluss (Dez. 2009). Vgl. www.zukunft-breitband.de; www.oecd.org (01.09.2010). 575 | Ebenso werden die spiritistischen Deutungen von Computertechnik und Internet nicht mehr im Detail diskutiert. Die spiritistischen Kontakte und Phänomene (autonom druckende Drucker, E-Mails aus dem Jenseits, Dateien und Bilder mit technisch unerklärbarer Herkunft) sind fast ausschließlich nur aus der Anfangsphase der PCs in den 1980ern bekannt und spielen eine marginale Rolle in der heutigen Diskussion um die instrumentelle Transkommunikation. Die wenigen beobachteten Fälle werden auch von Anhängern der Transkommunikation sehr skeptisch bewertet. Vgl. Fischinger 2003, 40-47. 576 | Vgl. Morabito 1986, 24-26; Damer 1998, 522f. 577 | Vgl. Ahn 2006, 135f.; O’Leary 2004, 46ff.
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religiöser Texte und Links auf befreundete Seiten verfügbar gemacht wurden.578 Die meisten Studien befassen sich seit Beginn der Forschungen denn auch mit der Präsenz von institutionalisierten Religionsformen im Internet, teils unter der praktisch-theologischen Fragestellung, wie das Internet das Kirchenleben im 21. Jahrhundert beeinflussen und prägen wird.579 Die Homepage des Vatikan ist in diesem Zusammenhang sicherlich die am häufigsten zitierte Webpräsenz einer religiösen Gemeinschaft – vermutlich weil hier so plastisch vor Augen geführt werden kann, wie sich die hierarchische Kirchenstruktur in der Homepagegestaltung niederschlägt: Diese ist gänzlich auf Information und nicht auf Dialog und Interaktivität angelegt.580 Daneben stehen die Homepagedarstellungen einzelner religiöser Akteure, die rein privater Natur sein können (besonders im Bereich alternativer Religionsformen), eventuell mit kommerziellen Interessen gepaart sind (Workshopangebote, Publikationen) oder auch etablierte religiöse Funktionäre vorstellen und Kontaktmöglichkeiten offerieren (hier ist Pfarrer Fliege genauso aktiv wie die wichtigsten iranischen Ajatollahs).581 Hier wie auch in den sozialen Netzwerken wie Myspace oder Facebook sind die Links auf andere Teilnehmer, Gruppen oder Institutionen von besonderem Interesse für die Frage nach der Konstruktion kollektiver religiöser Identitäten. Die Besonderheit der internetbasierten Kommunikationsformen sieht Ahn daher in der Beobachtbarkeit von individuellen religiösen Konstellationen und Praktiken.582 Studien aus den Vereinigten Staaten zeigten, dass durch die Verfügbarkeit des Internet bisher keine starken Bestrebungen erkennbar sind, die Strukturen der etablierten Kirchen grundlegend zu verändern und das Gemeindeleben in den virtuellen Raum zu verlagern.583 Auch konnte die jüngste Erhebung unter deutschen Katholiken belegen, dass nur ein Prozent der Befragten die kirch578 | Vgl. Horsfall 2000, 155-181. Zur Verbreitung von Textmedien im Internet vgl. Ahn 2006, 137. 579 | Zu den Pionierarbeiten zählen hier sicherlich die Studien des dänischen Religionswissenschaftlers Morten T. Hojsgaard, der ausgehend von den Entwicklungen in der dänischen Kirche eine Theorie über die Zukunft der Kirchen im Internetzeitalter entwarf. Vgl. Hojsgaard 1999; Hojsgaard 2003; Hojsgaard 2004. 580 | Meier 2006, 282, FN 24; Horsfall 2000, 155-157; Krüger 2004c, 185f; Ahn 2006, 142-150; Brasher 2004, 70, 83. 581 | Völlig marginal bleiben die »privaten Präsentationen« auf den so genannten Internetfriedhöfen angesichts von ca. einer Million Todesfällen pro Jahr im deutschen Sprachraum und wahrscheinlich nur einigen Dutzend Gedenkeinträgen auf entsprechenden Seiten, z.B. Memorta.com (01.10.2010). Vgl. Fischer 2001, 88-91. 582 | Vgl. Ahn 2007, 196-203. 583 | Vgl. Bedell 2000, 189-202. Young zeigt, wie im Internet eigentlich bloß die bisherigen protestantischen Praktiken des Lesens und des Betens fortgeführt werden. Vgl. Young 2004, 93-106.
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lichen Informationsangebote im Internet häufig abrufen und nur 17 Prozent der Katholiken, die überhaupt das Internet nutzen, sich schon einmal online über religiöse Themen informiert haben.584 Es entstanden allerdings vereinzelt durchaus alternative Entwürfe des religiösen Lebens. Als Experiment des britischen, christlichen Satiremagazins Ship of Fools wurde 2004, begleitet von einem ausgeprägten Medieninteresse, die überkonfessionelle Church of Fools begründet. Ein virtueller Kirchenraum kann hier mit dem persönlichen Avatar für Gebete und Gottesdienste aufgesucht werden, die Predigten werden teils von ordinierten Vertretern der anglikanischen Kirche und anderer Denominationen gehalten.585 Eher am Rande wird in der Forschung der Bereich von christlicher Mission und Proselytismus behandelt, obwohl sich besonders unter einer crossmediaPerspektive die enorme Bedeutung des Internet als kostengünstiges Medium mit großer Reichweite aufzeigen ließe. Die protestantischen Freikirchen haben sicherlich zuerst die Potenziale des neuen Mediums entdeckt und wissen sie auch zu nutzen.586 Verschärft ist die mediale Auseinandersetzung im Feld der neuen religiösen Gemeinschaften. Jean-François Mayer bezeichnet dieses Phänomen als einen Propagandakrieg, der über verschiedene Mittel ausgetragen wird, sei dies durch eine überzeugende und aufwendige offizielle Präsenz, über einen aggressiven und gezielten Gegenangriff gegen einzelne Kritiker, über eine Vervielfachung der Seiten einzelner Mitglieder oder schließlich dadurch, dass das Internet von den Angegriffenen gänzlich als Datenquelle delegitimisiert wird.587 Unter den alternativen, westlichen Religionsbewegungen wurden aufgrund ihrer per se hohen Präsenz im Internet bisher vor allem neopagane Traditionen im Bereich Wicca und Neukeltentum erforscht. Die Fragestellungen sind ähnlich gelagert wie im christlichen Diskurs über neue Medien und problematisieren den Wandel von Gemeinschafts- und Identitätsbildung und die Veränderungen ritueller Praxis in den entsprechenden Gruppierungen.588 In diesem
584 | Vgl. MDG 2010a, 86f.; MDG 2010b, 174. 585 | Zur Gründungsgeschichte der Church of Fools (http://churchoffoolcom) vgl. den Bericht von Simon Jenkins (2008); dazu auch Kluver & Chen 2008; Haese 2005, 128f. Bernd-Michael Haese ist auch eine der ersten praktisch-theologischen Arbeiten zum Internetthema mit seiner Habilitationsschrift Hinter den Spiegeln. Kirche im virtuellen Zeitalter des Internet (Stuttgart 2006) zu verdanken. 586 | Vgl. Mayer 2008, 107-126. Als Beispiel sei auf das Missionswerk Christ for All Nations verwiesen: www.cfan.org (01.10.2010). 587 | Vgl. Mayer 2000, 258-266; Mayer 2008, 137-142; Cowan 2004a, 260-268. 588 | Vgl. Cowan 2004b (allg. Neopaganismus); Bowman 2003 (Neukelten); Krüger 2004c, 189-194 (Wicca); Berger & Ezzy 2004 (Wicca).
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Rahmen nimmt die Analyse privater Homepages naturgemäß einen größeren Raum ein.589 Übersichtsstudien sind meist an der systematischen Einteilung der Weltreligionen und ihren zentralen Institutionen orientiert.590 Das generell große Interesse am Islam hat jedoch inzwischen zu einem differenzierten Befund in diesem Feld geführt, der über die Beobachtung von E-Mail-basierten Fatwa-Dienstleistungen hinausgeht und die Qualität der Internetnutzung durch Gläubige thematisiert.591 So kann Jamal Malik bereits verschiedene Phasen des Internetgebrauchs in den Diasporagemeinden identifizieren, in der das Medium heute als wichtige religiöse Sozialisationsinstanz fungiert.592 Zu den institutionellen Repräsentationen von Religionen müssen ferner auch diejenigen Webseiten gezählt werden, die zwar keine religiösen Gemeinschaften, Lokalitäten oder Einzelpersonen darstellen, jedoch ein religiöses Angebot offerieren. Die Rede ist von spezialisierten Online-Shops, die bspw. Ritualutensilien oder religiöse Literatur vertreiben.593 Dynamischer als herkömmliche Homepages werden auch bereits seit den 1990er Jahren religiöse Blogs (web log) gestaltet. Hier veröffentlichen engagierte Autoren ihre Ideen zu Religion, Welt und Leben oder dem aktuellen Tagesgeschehen aus religiöser Perspektive für eine breite Leserschaft.594 Das Feld ist bisher kaum beschrieben und mit einer Ausnahme noch unerforscht – Heidi Campbell ist hier Pionierarbeit zu verdanken. Sie hat mit einer Analyse von über 300 englischsprachigen, christlichen Blogs die Frage nach der Konstruktion religiöser Autorität diskutiert.595
Online-Enzyklopädien Einen Bereich, in dem gar nicht mehr eindeutig zu klären ist, ob sich hier Religionen selbst präsentieren oder ob hier aus objektiver und wissenschaftlicher Sicht Informationen über Religionen vermittelt werden, bilden die offenen Online-Enzyklopädien. 2001 wurde mit Wikipedia ein Lexikon gestartet, dessen Ar589 | Vgl. Radde-Antweiler 2008a (Wicca); Miczek 2009b (westl. Esoterik). 590 | Vgl. Prebish 2004 (Buddhismus); Kurzke 2009, 238-240 (Dalai Lama); Bunt 2000; Larsson 2002; Mayer 2008. 591 | Vgl. Bunt 2000; Harms 2007. Mit großen Ambitionen, jedoch bisher mit nur wenigen Artikeln, kann das Fachjournal CyberOrient. Online Journal of Virtual Middle East aufwarten: www.cyberorient.net (01.10.2010). 592 | Vgl. Malik 2007, 50f.; Richter 2007, 66-67. 593 | So reicht das Angebot bei Ritualbedarf.de von Runenorakelsteinen bis hin zu Ritualdolchen und Büchern der »dunklen Künste« (01.10.2010). 594 | Die deutschsprachige Seite RelevantBlog.de vermittelt einen Überblick über ca. 30 christliche Blogs. 595 | Vgl. Campbell 2010b; überblicksartig auch angesprochen in Mayer 2008, 61-66.
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tikel von anonymen oder angemeldeten Nutzern erstellt und verändert werden konnten, und das heute über ca. zehn Millionen Artikel in 260 Sprachen verfügt.596 Eine fachlich qualifizierte Redaktion besteht nicht. Zu jedem Artikel können ältere Versionen, Veränderungen und ggf. Diskussionen eingesehen werden. Die einfache Verfügbarkeit und Nutzerfreundlichkeit von Wikipedia stellt insofern eine grundsätzliche Herausforderung insbesondere für den religionsbezogenen Wissenschaftsbetrieb dar, als dass die historisch-kritische Aufarbeitung von Religionen durch Wissenschaftler mit den allein schon von der Anzahl der möglichen Autoren her überlegenen, engagierten Religionsvertreter konkurriert. So kommt der Wikipedia-Artikel über die Bhagavadgita bspw. ohne jegliche Historisierung und Kontextualisierung des Textes aus, während gleichzeitig eine ausführliche Inhaltsdarstellung und Exegese betrieben wird.597 Noch größere Schwächen des Projektes einer Laienenzyklopädie treten bei sogenannten edit wars zwischen Unterstützern und Gegnern einer Religionsgemeinschaft auf.598 Irritierend können in diesem Zusammenhang insbesondere die grafisch an Wikipedia angelehnten Online-Lexika sein, die in der Regel nicht als offene Laienenzyklopädie angelegt sind. Vishnupedia.org ist bspw. eine Enzyklopädie deutschsprachiger Krishna-Anhänger, offensichtlich aus dem Umfeld der International Society for Krishna Consciousness (ISKCON), die ohne Eingriffe von außen die Bhakti-Theologie darlegen will. Ähnlich versteht sich Orthpedia. de als deutschsprachiges Online-Lexikon der christlich-orthodoxen Traditionen. Die Seite Esowatch.com dagegen versucht, »irrationale Überzeugungssysteme« von christlicher Esoterik bis hin zu Verschwörungstheorien darzustellen und kritisch zu beurteilen.599 Der Aushandlungsprozess zwischen den verschiedenen Akteuren, dokumentiert in den Versionsspeicherungen und Diskussionen auf Wikipedia, kann 596 | Google hat 2008 das Konkurrenzprojekt Knol mit gleicher Struktur gestartet (http://knol.google.com/k). 597 | Version vom 01.10.2010. 598 | Ein eindrückliches Beispiel eines edit wars ist hier der englischsprachige Artikel zur Swaminarayan-Bewegung (Artikel »Swaminarayan Sampraday«), die seit gut einem Jahrhundert durch ein Schisma gespalten ist. Der Artikel ist eine apologetische Darstellung einer der zwei Hauptrichtungen (nämlich des traditionellen Vadtal-Tempels) gegenüber der bochasanvasi akshar purshottam sanstha (BAPS). Letztere stellt um den charismatischen Guru Pramukh Swami heute wohl die größte Hindu-Gruppierung in den Vereinigten Staaten und Europa. Der Artikel zeigt weder die Tempel der Konkurrentin, noch wird Pramukh Swami mit seiner Millionen zählenden Anhängerschaft erwähnt. Stattdessen wird mit zahlreichen Verweisen auf Gerichtsbeschlüsse etc. die Rechtmäßigkeit der Führerschaft durch die Gurus des Vadtal-Tempels belegt (Version vom 01.10.2010). 599 | Vgl. www.vishnupedia.org, www.orthpedia.de, www.esowatch.com (01.10.2010).
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natürlich auch Gegenstand religionswissenschaftlicher Untersuchungen sein. Wenn die Religionswissenschaft an dieser Stelle nicht selbst aktiv wird, könnten jedoch die jüngeren Entwicklungen von Laienlexika das enzyklopädische Projekt der Aufklärung und damit die Eigenständigkeit religionswissenschaftlicher Arbeit gegenüber den religiösen Selbstdarstellungen ernsthaft bedrohen.
Diskussionsforen und Mailinglisten Zu den ältesten internetspezifischen Kommunikationsmöglichkeiten gehören, wie wir gesehen haben, die Diskussionsforen und Mailinglisten. Die Foren sind meist religionsspezifisch angelegt und erlauben eine offene und vertiefte Diskussion aktueller, praktischer oder theologischer Themen. Eines der aktivsten katholischen Foren im deutschsprachigen Raum, das 1999 gestartete mykath. de, weist zurzeit ca. 1,5 Millionen Beiträge auf (Stand November 2010). Diese dokumentierten Diskussionen der Foren ebenso wie der Mailinglisten sind ein einzigartiger Fundus für die Erforschung öffentlicher Meinungsbildung im Bereich der Religionen, die sich sowohl für statistische als auch für qualitative Auswertungsverfahren eignen.600
Video Sharing Websites (VSW) Das animierte Äquivalent zu den textbasierten Diskussionsforen sind die sogenannten video sharing websites, also Internetplattformen, die darauf spezialisiert sind, vorwiegend Videofilme oder animierte Bildcollagen, die mit Ton unterlegt sind, zu verbreiten. Der bekannteste Dienst ist YouTube (seit 2005) mit zurzeit zwei Milliarden Videoaufrufen pro Woche.601 Als Podcast können registrierte, private Nutzer Videos in unterschiedlicher Länge ohne thematische Einschränkungen einstellen (abgesehen von Videos, die den Jugendschutz unterlaufen), teils werden auch Videos von Fernsehsendern und Filmproduktionen eingestellt. Diese Videoplattformen scheinen vor allem im Bereich von Mission und Verkündigung ergiebig für die religionswissenschaftliche Medienforschung zu sein, zumal ein Suchergebnis auf weitere »ähnliche« Videos verweist. Sowohl Predigten und Interviews von evangelikalen Pastoren wie Reinhard Bonnke oder Benny Hinn, wie auch musikalisch unterlegte Missionsvideos mit prominenten amerikanischen Muslimen als auch religiöse Werbevideos zu umstrittenen Themen wie der Abtreibungsfrage eröffnen einen völlig neu gestaltbaren,
600 | Zu Foren im neopaganen Bereich vgl. Krüger 2004c, 193; Krüger 2005b, 4f, 15f. 601 | YouTube wurde 2006 von Google aufgekauft, woraufhin der eigenständige Service GoogleVideo eingestellt wurde. Eine aktuelle Liste der über 40 Video Sharing Websites findet sich unter http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_video_hosting_websites (01.10.2010).
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diskursiven Raum der religiösen Auseinandersetzung.602 Eine eigene Plattform für christliche Videos stellt GodTube.com dar. Die Lausanner Religionswissenschaftlerin Florence Pasche hat jüngst eine erste Exploration des ansonsten noch völlig unerforschten Feldes vorgelegt und schlägt folgende, hilfreiche Kategorien zur Einteilung der Videos vor: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Nachrichten, TV-Berichte, Interviews Filme (fiktional oder dokumentarisch, im Ganzen oder als Trailer) PPP (Propaganda, Proselytismus, Polemik) Moderate Kritik, Debatten, satirische Beiträge Biografische Zeugnisse (Konversionserlebnisse etc.) Hagiografische Darstellung eines Lehrers/Heiligen etc. Religiöse Unterweisung (Ethik, Theologie, Philosophie) Exegetische Diskussionen von Texten, Ereignissen, Stellungnahmen Aufzeichnungen von tatsächlichen religiösen Ereignissen, Ritualen etc. Spezifische Ritualanweisungen mit praktischen Übungen603
Auf der analytischen Ebene ermöglichen die VSWs neben der Untersuchung der präsentierten Inhalte jedoch auch Rezeptionsstudien, da die meisten Plattformen wie YouTube zum einen die Anzahl der Aufrufe erfassen und publizieren, was uns in die Lage versetzt, einen klaren statistischen Vergleich zwischen verschiedenen Angeboten zu bewerkstelligen. Andererseits können Videos auch frei kommentiert werden, was uns qualitative Aussagen über religiöse Deutungsmuster erlaubt.604
Online-Spielewelten Eng verbunden mit der Struktur sozialer Netzwerke, die »reale« Profile von Internetnutzern miteinander verlinken, sind die Online-Spiele, in denen eine Avatar-Identität aus verschiedenen Optionen gewählt wird. Von besonderem Interesse für die religionswissenschaftliche Forschung sind dabei solche Anwen602 | Reinhard Bonnke in Lagos vor Millionenpublikum (www.youtube.com/watch?v= dBWOCMhJ0CA, 01.10.2010). Der Sänger Busta Rhymes, der Fußballer Franck Ribéry, der Comedian Dave Chapelle u.a. werden bspw. in einem Video (von umiCity.com) auf YouTube gezeigt (www.youtube.com/watch?v=DVnEdB8uSkE, 01.10.2010). Unter dem Suchwort »Psalm 139« erscheinen zahlreiche Videos auf YouTube, die sich gegen Abtreibung und für den Erhalt des ungeborenen Lebens aussprechen. 603 | Vgl. Pasche 2008, 5. 604 | Eine Fernsehdiskussion mit Malcolm X als Vertreter der Nation of Islam (17.03.1963) hat seit der Veröffentlichung auf YouTube im Jahr 2006 bis heute 1,4 Millionen Aufrufe erfahren und wurde 16.000 mal kommentiert. Vgl. www.youtube.com/ watch?v=ENHP89mLWOY (01.11.2010).
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dungen, bei denen erstens die grafisch gestaltete Spielwelt dauernd bestehen bleibt und zweitens der Avatar dauerhaft erhalten bleibt (persistente Spielewelten). Darin unterscheiden sich Spielewelten von sogenannten Netzwerkspielen – das populärste ist seit vielen Jahren das Echtzeit-Strategiespiel Starcraft, bei denen sich Spieler für je ein Spiel mit festgelegtem Ziel vernetzen (lokal oder per Internet) und danach ein vollkommen neues Spiel starten. Bei persistenten Spielewelten kann sich dagegen ein Avatar-Charakter fortentwickeln, sei dies durch soziale Erfahrungen mit anderen Spielern (das ist der Fokus von Second Life) oder aber zusätzlich durch das Erlangen von bestimmten Fähigkeiten im System des Spieles (wie bei World of Warcraft). Second Life (seit 2003) mit über 16 Millionen Benutzerkonten kann dabei eher als virtuelle Sozialplattform mit dreidimensionaler Gestaltung der Umwelt wahrgenommen werden, ein eigentliches Spielziel gibt es nicht: Man kann dort Land, Kleidung und Häuser kaufen und selbst gestalten. Der Spielreiz beruht einerseits auf freier Kommunikation mit den virtuellen Selbstentwürfen und andererseits auf den unbegrenzten grafischen Gestaltungsmöglichkeiten. Auf separaten »Gebieten« in der Second Life-Welt haben sich auch eine Reihe von geschlossenen Rollenspielwelten eingerichtet. Reale und virtuelle Religionen und entsprechende Ritualhandlungen haben sich ebenfalls auf Second Life etabliert und wurden inzwischen ausgiebig dokumentiert.605 Andere Spielewelten sind insgesamt in ein mythologisches Universum eingebettet wie das mit zwölf Millionen Abonnenten umsatzstärkste Spiel World of Warcraft (seit 2004), das entfernt angelehnt ist an mittelalterliche und magische Fantasiewelten der Tolkien-Romane.606
Interaktion und Ritual Die religiöse Relevanz des Internet beschränkt sich jedoch nicht auf die Präsentation von religiösen Inhalten (Texten, Videos etc.), dem Konsum religiöser Güter oder dem reziproken kommunikativen Austausch über diese Inhalte.607 Schon in den 1990er Jahren erschienen teils nichttextliche, interaktive 605 | Vgl. allgemein zu Second Life: Meier 2008, 156f.; Martinez-Zárate & Corduneanu & Martinez 2008; Radde-Antweiler 2008b; Robinson-Neal 2008; Miczek 2009a; zu Online-Hochzeiten Radde-Antweiler 2007; zur Gebetspraxis Miczek 2008. 606 | Ähnlich ausgerichtet ist auch Runescape (seit 2001). Vgl. Stam & Scialdone 2008. Allgemein zu den virtuellen Welten ist die Anthologie des Religionssoziologen William Bainbridge Online Worlds (2010) lesenswert. 607 | Schon früh ist dem kanadischen Soziologen Christopher Helland aufgefallen, dass es neben den präsentativen Elementen auch interaktive Formen von Religion im Internet gibt. Er unterschied darauf hin die religion online (herkömmliche Präsentationen) mit der online religion (interaktive Teilnahme und Austausch). Die Diskussion um dieses Konzept wurde später ausdifferenziert, da die meisten Webpräsenzen sowohl
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Elemente, die als Übersetzungen ritueller Praktiken in Internetanwendungen verstanden werden können. Gebete per E-Mail (E-Prayer), Andachten durch das virtuelle Entzünden einer grafisch dargestellten Kerze und schließlich Internetgottesdienste wie in der Church of Fools bilden den allgemeinen Rahmen christlicher Online-Ritualistik.608 Während die virtuelle Wallfahrt zu herausgehobenen Pilgerzentren im Christentum wohl eher die Ausnahme bildet,609 ist die Verehrung von Schreinen aus der Ferne (als yohai) offenbar bestens in japanische Traditionen integrierbar.610 Den größten Raum nehmen in dem interaktiven Bereich wahrscheinlich nicht liturgische Elemente ein, sondern die Internetseelsorge, die nach der Kontaktaufnahme über eine Webseite per E-Mail, Chat, in Foren oder auch über SMS abgewickelt wird.611 Von den christlichen Großkirchen wird das Internet daher auch vor allem als Möglichkeit gesehen, den Kontakt zu den Mitgliedern zu vertiefen oder zu festigen. Sowohl die katholische Kirche als auch die evangelischen Landeskirchen haben mit themenzentrierten Medienkonferenzen und eigenen Internetbeauftragten dem Internet an sich eine hohe Bedeutung eingeräumt.612 Eine aktive und geplante Missionsarbeit seitens der Großkirchen findet im Internet jedoch bisher nicht statt – im Gegensatz zu den Aktivitäten sowohl der traditionellen Katholiken der Priesterbruderschaft St. Pius X. und der evangelischen Freikirchen.613 Den schon sehr ausdifferenzierten, pastoraltheologischen Überlegungen stehen allerdings immer noch massive Bedenken
interaktive als auch rein informative Elemente enthalten. Vgl. Helland 2000, 214-220; Helland 2004, 1-13. 608 | Vgl. Bönert 2007, 167-172. 609 | Marc MacWilliams deutet das virtuelle Besuchsangebot des Croagh Patrick in Irland als virtuelles Übergangsritual und glaubt im elektronischen Gästebuch des Ortes auch eine virtuelle communitas ablesen zu können. Vgl. MacWilliams 2004, 225-236. 610 | Vgl. Pye 2009, 26f. 611 | Wie bspw. in der Chatseelsorge der evangelischen Kirche (www.chatseelsorge. de), in der Internetseelsorge der katholischen Kirche (www. Interneteelsorge.de) oder der Arbeitsgemeinschaft Christliche Onlineberatung (www.christliche-onlineberatung. de). Vgl. Vauseweh 2007, 170-178. 612 | Die katholischen Bistümer haben teilweise Internetbeauftragte bestimmt, während die evangelischen Landeskirchen die Konferenz der evangelischen Internetbeauftragten (www.evangelisch-online.de) eingerichtet haben. Das Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik verleiht jährlich den EKD-Internet-Award WebFish und veranstaltet zusammen mit dem Hessischen Rundfunk einmal im Jahr den Frankfurter Tag des Online-Journalismus. 613 | Vgl. bspw. den multimedialen Internetauftritt der Piusbruderschaft (www.piusbruderschaft.de), die auch mit zahlreichen Videos auf YouTube vertreten ist.
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und Vorbehalte gegenüber, die die Erscheinungen des Internet als Pseudoreligiösität oder Pseudosozialität bewerten.614
4.8.3 Die Mythen des Internet Neben dieser schier unbegrenzten Vielfalt religiöser Repräsentationen, Kommunikationsformen und ritueller Praktiken im Internet gilt es jedoch, noch einen weiteren Aspekt zu berücksichtigen, auf den bereits Burkhard Gladigow vor einem Jahrzehnt hingewiesen hatte: »Es ist auffallend, wie schnell die Internet-Besucher, unabhängig von den Selbstdarstellungen bestimmter religiöser Gruppierungen, das gesamte Netz, Simulation, Virtualität und ständige Metamorphosen, mit religiösen oder göttlichen Prädikaten bedacht haben.«615 Diese allgemeinen Deutungen, die nicht unbedingt einer bestimmten religiösen Gemeinschaft zuzuordnen sind, können nichtsdestotrotz eine immense Wirkung entfalten, die dominierende Deutungsmuster des Internet widerspiegeln. An zwei entscheidenden Stellen betrifft dies religiöse Aspekte: nämlich im idealen Entwurf personaler Identität als sogenannter Avatar und als spirituell oder religiös verstandene Gemeinschaftsutopie.
Der Avatar als Konstruktion einer positiven personalen Identität Die Frage persönlicher Identität ist eines der zentralen soziologischen Probleme, die das Internet aufwirft. Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten via E-Mail, speziellen Mailinglisten, Chat-Rooms und Diskussionsforen stehen heutzutage in Deutschland Herrn Jedermann und jeder Frau für einen synchronen oder zeitversetzten Austausch zu bestimmten Themen prinzipiell zur Verfügung. Gemeinsam ist diesen genannten Kommunikationsanwendungen die völlige Abwesenheit des konkreten Körpers und seiner Ausdrucksmöglichkeiten.616 Wir sehen niemanden, wir hören keine Stimme, wir fühlen keinen anderen Körper und wir nehmen auch nicht den Geruch unseres Gegenübers war. Identität hat mit der Abwesenheit des Körpers ihre Authentizität aufgegeben – oder mit Wittgenstein gesprochen: Sie hat ihre »Gewissheit« verloren. Es gibt keine Möglichkeit, den einzelnen Kommunikationspartner am anderen Ende des Computernetzes eindeutig zu identifizieren, solange keine Internet-(Bild-) Telefonie genutzt wird. Wir können über die sogenannte IP-Adresse (Internet Protocol Address) höchstens Aussagen über den genutzten Computer machen, jedoch nicht über die Person(en), die ihn benutzen.
614 | Vgl. Bobert-Stützel 2001; Ruch 2009; Haese 2005, 133-135; Wolff 2007; Arasa & Cantoni & Ruiz 2010. 615 | Gladigow 2005c, 288. 616 | Vgl. Döring 2003, 37-126.
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Durch die Möglichkeit der Unverbundenheit mit der alltäglichen Identität, die durch Alter, Beruf, Herkunft und Körper bestimmt wird, ist in vielen Kommunikationsräumen des Internet auch ein freies Spiel mit beinahe beliebig konstruierbaren Identitäten durchführbar. Positiv werden solche virtuellen Identitäten als Avatar bezeichnet. Erneut popularisiert wurde der Begriff durch James Camerons Film Avatar (2009). Wenn der Verdacht der Fälschung und bewussten Täuschung sich jedoch erhärtet, redet man gewöhnlich vom Fake (dt.: Fälschung/Schwindler). In welchem Verhältnis jedoch steht das Fake zum Avatar und wieso konnte der an sich exotische Avatarbegriff eine rezeptionsgeschichtlich so erfolgreiche »Karriere« absolvieren? Der Sanskrit-Begriff des Avatara, der am treffendsten mit »Herabkunft« übersetzt werden kann, bezeichnet im Kontext der Hindu-Traditionen die zehn irdischen Erscheinungen des Gottes Vishnu in menschlicher oder tierischer Gestalt (der christlich konnotierte Begriff der »Verkörperung« wäre hier unangebracht). Beginnend mit dem Fisch-Avatar Matsya, erschienen die Avatare stets zu den kritischen Wendepunkten der großen zyklischen Zeitalter – Krishna und Rama aus den Epen des Mahabharata und des Ramayana sind wohl die bekanntesten Avatare.617 In der klassischen hinduistischen Vorstellung verfügt ein Avatar über unbegrenzte Macht und kann sein physisches Erscheinungsbild – vor allem seine körperliche Größe – beliebig verändern. Die Avatare steigen zur Erde hinab, um die kosmisch-gesellschaftliche Ordnung (Dharma) wiederherzustellen, die Feinde von Ordnung und Rechtschaffenheit zu besiegen und den Leidenden Trost zu spenden.618 Wie aber gelangt der hinduistische Avatar als Schlüsselbegriff persönlicher Identität ins Zentrum postmoderner Medienkultur? Nachdem der Ausdruck Avatar im 18. Jahrhundert durch die ersten Studien zu den Religionen Indiens nach England gelangte, wird die Bezeichnung Avatar schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts unabhängig von ihrer engeren religiösen Bedeutung im Hinduismus als Manifestation in menschlicher Form verstanden. Der schottische Schriftsteller und Dichter Walter Scott (1771-1832) spricht von Napoleon Bonaparte als dem einzigartigen Avatar des Prinzips des Bösen. Später wird der Ausdruck Avatar im englischsprachigen Diskurs auch häufiger als Synonym für allgemeinere Formen von Manifestationen und Repräsentationen verwendet.619 Die Einführung des Avatar-Begriffs im Kontext virtueller Identitäten wird meist mit dem 1992 erschienenen Science-Fiction Roman Snow Crash des amerikanischen Autoren Neal Stephenson in Verbindung gebracht. In seiner lite617 | Zur Diskussion über die genaue Anzahl der Avatare und ihren Bezug zur Gottheit Vishnu vgl. Parrinder 1970, 13-31; Mishra 2000, 21-121. 618 | Vgl. Seemann 1998, 92-103. 619 | Erstmals erwähnt in Walter Scotts Paul’s Letters to his Kinsfolk, and Abstract of the Eyrbiggia-saga (London 1815, 325). Vgl. Oxford 1989b, 814.
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rarischen Fiktion des virtuellen metaverse, durch den sich Menschen mithilfe verschieden ausgestatteter Modelle der sogenannten avatars bewegen können, popularisierte Stephenson diesen religiösen Begriff als neues Konzept von frei wählbaren Identitäten in den Vorläufern des World Wide Web.620 Tatsächlich jedoch geht die Einführung des Avatar-Begriffs im Kontext der Medien auf die Anfänge der ersten privat nutzbaren Computernetzwerke zurück. Für die Firma Lucasfilm Games gestalteten die Softwareentwickler Chip Morningstar und F. Randall Farmer die virtuelle Welt des Habitat. In diesem Zusammenhang soll Morningstar 1985 den Begriff Avatar für die Verkörperungen der Computernutzer adaptiert haben. In gedruckter Form ist der Begriff dann erstmals im August 1986 in der amerikanischen Computerzeitschrift Run Magazine nachgewiesen, die das Projekt des Habitat einer breiten Öffentlichkeit präsentierte: Definition Habitat: A make-believe world inhabited by small, colorful creatures, called Avatars. Human beings may visit Habitat and move freely about its regions, interacting at will with Avatars. Human beings reach Habitat by traveling many miles through tiny telephone lines and entering through a large gateway, called QuantumLink. Once a human being enters Habitat, he or she takes on the visual form of an Avatar, and for all intents and purposes becomes one of these new-world beings. 621
Das originale Habitat wurde von Lucasfilm Games sechs Jahre lang in den Vereinigten Staaten und Japan betrieben und hat in dieser Zeit Tausende von Nutzern des Commodore C-64 und C-128 angezogen. Hatte man die Telefonverbindung zum Anbieter hergestellt, so musste sich jeder neue Einwohner des Habitat zunächst aus einer begrenzten Anzahl grafischer Optionen eine neue Identität schaffen: Man wählte gewöhnlich einen neuen Namen, bestimmte das physische Erscheinungsbild durch die Wahl des Geschlechtes, der Haarfarbe, eines Gesichtsausdruckes und der ersten Kleidungsstücke und versah das virtuelle Eigenheim, für das man sich entschieden hatte, noch mit den passenden Möbeln. Mit den anderen Bewohnern der weitläufigen Stadt, die man Stück für Stück erkundete, konnte man im Echtzeit-Chat oder aber über virtuelle Briefkästen und Telefone kommunizieren. Die Bewohner haben in der Welt des Habitat Spiele gespielt und Abenteuer erlebt, haben sich verliebt, virtuell geheiratet und sich wieder scheiden lassen, haben Geschäfte eröffnet, Religionen gegründet, Kriege angezettelt und gegen diese Kriege demonstriert.622 Später wurden diese virtuellen Erlebniswelten in der Tradition der Rollenspiele oftmals in eine mittelalterliche Umwelt oder aber in Reallife-Simulatio620 | Vgl. Stephenson 1992; Döring 2003, 94. 621 | Morabito 1986, 24. 622 | Vgl. Morabito 1986, 24-26; Damer 1998, 522f.
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nen wie Second Life eingebettet – in einer der langlebigsten Varianten, dem Spiel Ultima-Online (seit 1997), erlernt man einen Beruf, kann ein Vermögen anhäufen, sich ein Haus bauen, gegen Monster und Unholde kämpfen und schließlich kann man auch andere Spieler ehelichen.623 Der Avatarbegriff im Kontext elektronischer Medien bezeichnet zunächst also künstlich generierte Verkörperungen menschlicher Computernutzer, die von einfachen Nicknames, grafischen Symbolen und Fotoportraits im ChatRoom bis hin zu komplexen alternativen Persönlichkeitsprofilen reichen, die vollkommen eingebunden sind in virtuelle Spiel- und Lebenswelten.624 Ende der 1990er Jahre erlangte der mediale Avatarbegriff noch eine zweite Bedeutungsebene, die vor allem durch den neophilen Zeitungs- und Fernsehdiskurs popularisiert wurde. Der Terminus Avatar wurde nun nicht mehr beschränkt auf die Persönlichkeitsmasken menschlicher Nutzer in Computernetzwerken, sondern computergenerierte Animationen – versehen mit einer künstlichen, aber individuellen Biografie – wurden nun ebenfalls als Avatare bezeichnet. Die japanische Sängerin Kyoko Date, die nur virtuell existierte, und die Computerspielfigur Lara Croft haben hier einige Bekanntheit erlangt. Schließlich bezeichnet der Begriff des Avatars noch die visuelle Simulation von Schauspielern, die sich teils aus Eitelkeit, teils um noch Filme nach dem biologischen Ableben produzieren zu können, mittels bodymapping ein virtuelles Abbild haben schaffen lassen.625 Von wenigen Ausnahmen abgesehen – nämlich dort, wo die Identifikation der Realperson unabdingbar ist – unterscheidet sich die alltägliche Identität der Kommunikationspartner im Internet meist erheblich von den virtuellen Identitätskonstruktionen der Avatare. In Spielwelten ist dies selbstverständlich, in anderen Kommunikationsanwendungen des Internet sorgt dieses Identitätsspiel jedoch mitunter für Verwirrung und Verärgerung. Nutzer des Internet geben sich in Chats, in Foren und in ihren persönlichen Profilen der Online-Communities fiktive Nicknames, beschreiben ihre äußerlichen Erscheinungsmerkmale, Beschäftigungen und Interessen in textlicher Form und fügen, wenn möglich, ein Portrait ein. Die (nicht überprüfbare) Konstruktion des virtuellen Körpers wird häufig dazu benutzt, die eigenen Körpermerkmale mithilfe völlig veralteter oder fremder (Model-)Fotografien zu negieren oder Defizite zu kaschieren – denn attraktive Menschen können auch im virtuellen Leben schneller Gesprächspartner gewinnen. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass in den Kommunikationsräumen des Internet eine Ent-
623 | Vgl. www.uo.com (01.09.2010). 624 | Vgl. Brill & de Vries 1998, 282f. 625 | Vgl. Krüger 2004a, 34-36.
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leiblichung der Nutzer stattfinde, betont die große Mehrheit der empirischen Internetforscher die Wichtigkeit dieser selbstkonstruierten Körperlichkeit:626 Der Körper wird zum individuell ausgestalteten Projekt …, manipulierter Teil des ersehnten fiktionalen Selbstentwurfes … Der Wunsch nach Bildung einer fiktionalen Identität ist hier offensichtlich immer auch durch das Bedürfnis gekennzeichnet, im fiktiven Selbstentwurf jene Dimensionen des Unverfügbaren in die eigene Konstruktion zu integrieren, die sich in »realweltlichen« Kontexten solcher Verfügbarmachung entziehen.627
Virtuelle Identität beinhaltet damit sehr wohl körperliche und sogar körperlich ideale Dimensionen, die in ihrer textlichen und fotografischen Form für den Anderen nicht überprüfbar sind. Die positiven, sozialen Erfahrungen im virtuellen Raum, die schnell zur Sucht werden können, begünstigen in manchen Fällen daher auch die Gefahr der multiplen Persönlichkeitsstörung.628 Weit verbreitet ist auch das Phänomen, dass sich Männer als Frauen präsentieren (gender-swapping), denn im Allgemeinen erhalten Frauen in Internetkommunikationsforen mehr Aufmerksamkeit.629 Es werden jedoch nicht nur einzelne persönliche Profile als Fake konstruiert, sondern ebenso soziale Beziehungen. In Online-Communities ist es schon seit den 1990er Jahren möglich, favorisierte Freunde im eigenen Profil zu verlinken. Die neueren sozialen Netzwerke wie Myspace (ab 2003), Facebook (ab 2004), aber auch Online-Spielewelten wie World of Warcraft (ab 2004) scheinen Identität generell stärker im Hinblick auf die soziale Konnektivität im Netz hin zu konstruieren. Konstituierend für Gemeinschaft, im Falle der sozialen Netzwerke also die Erlangung des »Freundesstatus«, ist neben den schon bestehenden Freundschaftsbeziehungen der Alltagswelt offenbar das, was man als Gemeinsamkeiten ausmachen kann, z.B. Anhänger einer bestimmten Band oder Yoga-Schule zu sein. Jemand, der viele Verlinkungen (also soziale Beziehungen) nachweist, wirkt authentischer und attraktiver. Fälle dieser multiple personality users, die über ein Dutzend Fake-Persönlichkeiten verfügen und diese in einer künstlichen Gemeinschaft miteinander vernetzen, sind offenbar keine Seltenheit.630 Insbesondere psychologische Forscher im Bereich des Internet sehen in dem Verlust körperlicher Authentizität, den das Internet mit sich bringt, eine 626 | Vgl. Becker 1997, 165, 181f.; Turkle 1998, 340-377; Rheingold 1994, 205-208. 627 | Becker 1997, 182. 628 | Rheingold und Turkle berichten schon in den 1990er Jahren von einer Reihe von Studenten, die mehr als 60 Stunden pro Woche in fiktiven Online-Spielewelten verbrachten. Vgl. Rheingold 1994, 190; Turkle 1998, 318-333, 419-427. 629 | Vgl. Rheingold 1994, 205f.; Becker 1997, 168f. 630 | Von mir interviewte Internetnutzer meiner Neopaganismus-Studie berichteten mehrfach davon.
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Chance zur Selbstfindung. Die amerikanische »Cyberanalystin« Sherry Turkle versteht die virtuellen Persönlichkeitserfahrungen und das freie Spiel mit Identitäten gar als eine Form von Psychotherapie, denn die sozialen Erfahrungen, die im Netz gewonnen werden, seien durchaus real. Sie könnten dazu dienen, das reale Leben zu bereichern. Zwar problematisiert Turkle gleichfalls die Gefahr der multiplen Persönlichkeitsstörung, die der Wechsel zwischen realer Identität und oft mehreren virtuellen Identitäten mit sich bringt, jedoch ist sie der Meinung, dass hier ohnehin vorhandene Facetten unserer Persönlichkeit zum Vorschein kommen und reflektiert werden können.631 Sherry Turkle, Nicola Döring und auch Barbara Becker interpretieren diese Ich-Konstruktionen im Internet als Fortsetzung der kontinuierlichen traditionellen Aneignung verschiedener sozialer Rollen, wie sie im Alltag oder auch in schamanistischen Ritualen, im Karneval und bei Initiationsvorgängen praktiziert wird.632 Allerdings sind traditionelle »Verkleidungen« in der Religions- und Kulturgeschichte nicht direkt mit den Identitätsspielen der Internetkommunikation vergleichbar.633 Während die kurzzeitigen »Maskeraden« in Chats offenbar dem menschlichen Bedürfnis nach Verkleidung und Verstellung entgegenkommen, kann die kontinuierliche Identitätskonstruktion in komplexen persönlichen Internetprofilen offenbar als ein alternativer biografischer Selbstentwurf verstanden werden, der über das unverbindliche Spiel hinaus für manche Internetnutzer eine immense soziale und psychische Bedeutung erlangen kann.634 Die vielseitigen Möglichkeiten einer körperunabhängigen Identitätskonstruktion in der Internetkommunikation haben jedoch nicht nur eine Relevanz für die Diskussion heutiger Möglichkeitsräume, sondern sie haben auch Philosophen, Feministinnen, Künstler und Techniker zu weit über das Internet hinausreichenden Zukunftsutopien veranlasst. Während sich der sogenannte Cyberfeminismus die vollständige Überwindung der geschlechtlichen Identität durch die Online-Kommunikation erhofft, propagieren die Vertreter des Posthumanismus gar die Abschaffung der biologischen Spezies Mensch schlecht-
631 | Vgl. Turkle 1998, 285-339, 419-438. 632 | Vgl. Turkle 1998, 289; Becker 1997, 170; Döring 2003, 329. 633 | Turkle, Becker und Döring übersehen, dass der traditionelle Rollentausch im religiösen oder festlichen Zusammenhang stets in die Markierungen einer besonderen Zeit bzw. eines besonderen Ortes rituell eingebunden ist, um die Differenz zwischen der Alltagserfahrung und der Alltagsrolle und den außeralltäglichen Erfahrungen zu kennzeichnen. Der Schamane bspw. vollzieht spezielle Riten und legt unheilabwehrende Kleidung an, bevor er die Realität verlässt, um unbeschadet zurückkehren zu können. Vgl. Eliade 1997, 148-174. 634 | Vgl. Döring 2003, 329.
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hin zugunsten einer Fortexistenz im virtuellen Raum mit neuen, idealen Körpern.635 Zur Frage, warum der indische Avatar als Leitbild personaler Identität im Internet akzeptiert werden konnte, lassen sich nun einige Vermutungen anstellen. Aus dem bisher Gesagten ist evident, dass das Spiel mit Identitäten von den hier berücksichtigten medienpsychologischen Ansätzen durchaus positiv bewertet wird. Dies ist umso erstaunlicher, als dass es zwischen dem Avatar und dem Fake keinen prinzipiellen Unterschied gibt, sondern nur aus dem Kontext heraus beurteilt wird, was Avatar und was Fake ist. Wo beginnt und wo endet das Rollenspiel? Abgesehen von den expliziten Online-Spielen wie Ultima Online oder World of Warcraft ist die Grenze zwischen der online gewählten Identität und der Alltagsidentität niemals klar. Wenn allerdings das Spiel mit verschiedenen Rollen und Verkleidungen als Avatar/Fake aus der Sicht der anderen und aus der eigenen Perspektive positiv wahrgenommen werden soll, dann wird ein Rollenmodell benötigt. Die abendländische Kulturgeschichte kennt einige Beispiele von erfolgreichen »Verkleidungen«, allen voran der griechische Gott Zeus, der scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten der Verwandlung (als Schwan, Kuckuck, Adler, Stier und Schlange) nutzte, um die begehrten Frauen zu verführen. Spätestens seit dem mittelalterlichen Christentum jedoch werden die Verstellung und Täuschung und das Verbergen der wahren Identität als gebräuchlichste Mittel des Teufels angesehen, um die glaubensschwachen Menschen vom Pfad der Tugend abzubringen.636 Auch die moderne Geschichte des Verstellens und der doppelten Identitäten wie in der Novelle Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) von Robert Louis Stevenson lässt das Rollenspiel nicht in einem guten Lichte erscheinen. Sowohl der Geist der Aufklärung wie auch die Romantik drängen in Abgrenzung zur Künstlichkeit der höfischen Gesellschaft auf die Verwirklichung des Echten, Wahren und Natürlichen – Rousseau ebenso wie Schiller und Kleist haben dieser Idee Ausdruck verliehen. Vor diesem Hintergrund ist der für den Laien recht unscharfe Begriff des Avatars eine ideale Projektionsfläche für das Spiel und den Neuentwurf personaler Identitäten im Internet. Gerade weil der Begriff exotisch ist und im Westen nur eine ungefähre Vorstellung von der »Herabkunft« der göttlichen Avatare im Hinduismus besteht, die übrigens im Gegensatz zur griechischen Mythologie gänzlich positiv besetzt ist, war der mediale Avatar wahrscheinlich so erfolgreich. Inwieweit die Avatare für den Internetnutzer noch eine religiöse
635 | Vgl. Krüger 2004a, 156-162, 350-372. 636 | So wurde auch die Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies (Gen 3) später als Maskierung des Teufels in Gestalt der Schlange umgedeutet. Vgl. Frenschkowski & Drascek 2008, 394-397.
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Dimension innehaben, kann jedoch nur durch eine entsprechende Medienrezeptionsforschung beantwortet werden.
Gaia, Gott und die Noosphäre Im Vergleich zur Forschung über die praktische Nutzung bestimmter Medien und über die dogmatisch reflektierten Einstellungen gegenüber Medien in einer definierten Religionsgemeinschaft ist es ein weitaus komplexeres Unterfangen, die dominanten Deutungsmuster neuer Medien herauszuarbeiten, die in einem allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs zum Vorschein kommen. Sie können teils religiöse, teils profane Aspekte betonen. Nachfolgend soll das etwas »diffuse« Netz der kulturellen Rezeption des Mediums Internet als Teil der Religions- und Medienphilosophie erhellt werden. Der Begriff »diffus« wird dabei im Sinne einer Vermischung, einer gegenseitigen Durchdringung und unscharfen Abgrenzung von religiösen, sozialen, politischen, philosophischen und technischen Aspekten verstanden. Der Brennpunkt all dieser einzelnen Gesichtspunkte ist ein evolutionsgeschichtlich eingebettetes Ideal von Gemeinschaft.637 Die weitreichendsten Interpretationen des Internet sind durch den Anspruch charakterisiert, dass das Internet nicht nur für bestimmte Typen von Gesellschaften (wie der postindustriellen Gesellschaft) oder durch spezifische Anwendungsbereiche (bspw. in der Bildung) eine revolutionäre Bedeutung haben wird. Vielmehr wird das Auftreten des Internet als Ereignis gefeiert, das ontologisch und evolutionsgeschichtlich einen herausragenden und einmaligen Moment für die Geschichte der Menschheit oder gar für die Geschichte des Universums darstellt. Ontologische Deutungsmuster beziehen sich auf mehr oder weniger stark ausgeprägte, metaphysische Annahmen über die Natur des Internet und der virtuellen Realität. Fast schon zu einem geflügelten Wort ist in diesem Zusammenhang Michael Heims Rede von der Metaphysik der virtuellen Realität geworden.638 Die Neologismen des »Cyberplatonismus«, der »Cybergnosis« und der »Techgnosis« spiegeln die kreative Rezeption dieser medialen Metaphysik in der postmodernen Medienphilosophie wider, die vorwiegend die
637 | Diese Durchdringung der verschiedenen Lebensbereiche der »virtuellen Gesellschaft« hat schon früh Bühl (1997) beschrieben. 638 | In seinem gleichnamigen Werk von 1993 hat Heim gar nicht viele Worte über das Thema seines eingängigen und viel zitierten Buchtitels verloren. In der einzig relevanten Passage, die tatsächlich so etwas wie die »Metaphysik des Internet« begründen wollte, gibt sich Heim einem assoziativen staccato von der Legende des heiligen Grals und König Artus bis hin zu Wagners Parsifal hin. Durch diese Hinweise, die durch einen weniger bekannten Informatiker angeregt wurden, bemüht sich der Autor, die esoterische Essenz des Internet herzuleiten. Vgl. Heim 1993, 123-128.
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Überwindung des menschlichen Körpers durch die virtuellen Medientechnologien thematisiert.639 Neben diesen metaphysisch ausgerichteten Theorien besteht ein evolutionsgeschichtlicher Diskurs, der sich nicht auf die gnostisch-philosophische Interpretation heutiger Medientechnologie beschränkt, sondern der den Anbruch eines neuen Zeitalters verkündet. Dieses neue Zeitalter werde mit einer grundlegenden Veränderung der Menschheit, wie wir sie kennen, einhergehen. Kennzeichnend für diese Idee ist, dass eine religiöse Deutung der Evolutionsgeschichte und ein organisch-ganzheitliches Verständnis des Planeten Erde als Gaia mit dem Erscheinen der Computertechnologie in Verbindung gebracht wird. Der Verknüpfung zwischen der religiösen Konnotation des Evolutionsgeschehens und der Medientheorie ist auf das Werk des Philosophen, Paläontologen und Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) und dessen spezifische Rezeption durch Marshall McLuhan zurückzuführen. Sowohl McLuhans Rede vom globalen Dorf (global village) als auch Teilhards Konzept von der evolutionären Entfaltung Gottes – beginnend mit der Biosphäre, weitergeführt über die Noosphäre bis zur letztlichen Verwirklichung im göttlichen Punkt Omega – werden in gegenwärtigen Deutungen des Internet aufgenommen. Die von James Lovelock (*1919) initiierte Gaia-Theorie verstärkt noch die Idee, das Internet als einen organischen Teil der Erde zu verstehen und damit auch die jüngsten technologischen Entwicklungen als eine Fortsetzung der natürlichen Evolutionsgeschichte unseres Planeten aufzufassen. Nachfolgend sollen nun die komplexen Rezeptionsprozesse dieser teils religiösen, teils philosophischen Interpretationen präziser aufgeschlüsselt werden. Dieses hermeneutische Verfahren orientiert sich nicht an Kategorien von »Missinterpretation« oder »Verkanntwerden«, sondern den neuen Kontextualisierungen von Ideen soll Rechnung getragen werden.640 Zunächst werden einige Exponenten des philosophischen und theologischen Gemeinschaftsideals des Cyberspace vorgestellt, danach folgt eine Analyse des zentralen Konzeptes der Noosphäre im Werk von Teilhard de Chardin und Marshall McLuhan. Abschließend wird die Rolle der Gaia-Theorie in die Betrachtungen miteinbezogen. Um die spezifischen Selektions- und Rezeptionsprozesse der Visionäre des Cyberspace offenzulegen, ist es essentiell, auch die historischen und philosophischen Interpretationen der Evolution zu berücksichtigen, die das dominierende Deutungsmuster der gegenwärtigen Interpretation des Internet geformt haben.
639 | Vgl. List 1996; Böhme 1996; Davis 1998. Zum Diskurs von Körpern im Cyberspace vgl. Krüger 2004d. 640 | Vgl. Jauß 1987; Stausberg 1998a, 2-4.
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Cyberutopien Als sich das World Wide Web Mitte der 1990er Jahre in immer mehr US-Unternehmen und Privathaushalten verbreitete und frühere Netzwerke miteinander verband oder ersetzte, haben vor allem technische Visionäre das Wort ergriffen und verkündet, das Internet sei Vorbote eines neuen Zeitalters. Eine der bekanntesten Stimmen war der amerikanische Informatiker Mark Pesce, der 1994 den ersten verbindlichen Standard für visuelle Darstellungen im Internet entwickelt hatte (Virtual Reality Modeling Language, VRML). Zahlreiche Publikationen, Fachtagungen und Medienauftritte nutzte er nicht nur, um seine informationstechnischen Innovationen zu präsentieren, sondern er verbindet diese technischen Aspekte mit einer bildhaften Vision vom Internet. So führt er in seinem Buch Playful World mitten in der Schilderung über die Erfindung von VRML den Jesuiten Teilhard de Chardin als den großen, jedoch fast vergessenen Propheten des Internet ein: … no one foresaw the importance and comprehensive impact of the World Wide Web. But, over fifty years ago, one fairly obscure scientist did predict a coming transformation of the human mind, the birth of collective intelligence, and the emergence of a new way of knowing. 641
Mit der Idee, dass nun bald alle Menschen durch das Internet geistig miteinander verbunden seien, adaptiert Pesce das von Teilhard entwickelte Konzept der Noosphäre: We can’t know for sure if the Web is the same thing as the noosphere, or if the Web represents part of what Teilhard envisioned. But it feels that way. We do believe there is something new under the sun, as if something unexpected and wonderful (and ridiculous and horrible) has arrived. How else to explain this sudden transformation? If Teilhard was right, the Web is part of our evolution, as much an essential element of humanity as our acute eyes, our crafty hands, and our wonderful brains. 642
Wenn das Internet durch Pesce mit der Noosphäre gleichgesetzt wird, erscheint es nicht mehr als eine »alltägliche« medientechnische Neuerung, wie seinerzeit bspw. das Radio oder das Fernsehen. Das Internet verweist durch seine Außerordentlichkeit damit gemäß Pesce auch auf eine spirituelle Dimension: Meine Arbeit rund um WebEarth hat viel mit Spiritualität zu tun, mit der Idee der Gaia, des Planeten als Lebewesen. Wenn ich diese Arbeit Leuten zum ersten Mal zeige, packt
641 | Pesce 2000, 164. 642 | Pesce 2000, 170.
R ELIGION UND NEUE M EDIEN es sie oft richtig; manche weinen … Mit VRML wird die Noosphäre viel greifbarer werden. Die Leute werden sie als echten Ort erkennen, obwohl sie nur aus Daten besteht.643
Somit verknüpft Pesce die Ideen Teilhards gleichzeitig mit der Gaia-Theorie, die für einige New Age-Vertreter wie auch ökologische Vordenker wie Ken Wilber, Terence McKenna und Buckminster Fuller von zentraler Bedeutung ist.644 Das Internet wird auf diese Weise als organischer Teil der Erde konzipiert, der sich ganz natürlich im Lauf der Evolutionsgeschichte entwickeln musste. Ähnliche Visionen wie Mark Pesce vertritt auch der Informatiker Bruce Damer, der sich durch seine realgetreuen Umweltsimulationen einen Namen machte und heute den global cyberspace nur als Vorstufe der irdischen Expansion in den Weltraum betrachtet.645 Die wohl umfassendste Rezeption von Teilhards Ideen im Kontext des Cyberdiskurses hat jedoch die amerikanische Theologin Jennifer Cobb vorgenommen. In ihrem 1998 erschienen Buch Cybergrace. The Search for God in the Digital Space versteht Cobb, die beruflich mehr als 15 Jahre mit der Vermarktung von Informationstechnologie befasst war, den Cyberspace als unbegrenzten Möglichkeitsraum für die Menschheit, um sich intellektuell, spirituell und emotional selbst entfalten zu können. Wenn die Bedeutung der neuen Computertechnologien richtig verstanden würde, könne die Welt erneut als eine göttliche Realität jenseits der Dualismen von Materie und Geist erfahren werden.646 In the ongoing process of spiritual evolution, cyberspace has a special role to play … In this vision, the spiritual basis of the universe is understood as creative events unfolding in time. Cyberspace reflects this basic, sacred truth as it creates a world of experience capable of enormous richness and diversity that is derived from essentially nonphysical, creative events unfolding in time … Cyberspace can help guide us toward a reconciliation of the major schisms of our time, those between science and spirit, between the organic world and the world that we create.647
Cobb rezipiert weitestgehend Teilhards mehrstufiges Evolutionsmodell mit besonderer Betonung des Entwicklungssprungs von der Biosphäre zur Noosphäre. Sie ist allerdings der Meinung, dass Teilhards Ideen überhaupt erst im Hinblick auf die Entstehung des Cyberspace verständlich werden: »This dis643 | Pesce im Gespräch mit David Bennahum. Vgl. Bennahum 1997. 644 | Die Gaia-Theorie geht auf James Lovelocks Werk Gaia – a new Look at Life on Earth (Oxford 1979) zurück. Pesce widmet sein Buch Playful Worlds sogar dem amerikanischen New Age-Denker Terence McKenna (1946-2000). 645 | Vgl. Damer 1998, 424-428. 646 | Vgl. Cobb 1998, 8ff. 647 | Cobb 1998, 43.
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tinctly nontraditional evolutionary idea may strike us as odd until we consider the phenomenon of cyberspace, that electronically supported layer of human consciousness that now encircles the globe.«648 Der zweite zentrale Referenzpunkt für Cobb ist die protestantische Prozesstheologie (process theology), die vor allem durch den Philosophen Alfred North Whitehead (1861-1947) geprägt wurde.649 So wie viele andere protestantische Theologen in den Vereinigten Staaten die Verbindung zwischen Naturwissenschaft und christlicher Theologie mithilfe der Prozesstheologie herzustellen versuchen, legitimiert auch Cobb ihre theologische Deutung des Cyberspace als Entfaltung der göttlichen Kreativität im Universum.650 Creative process forms the soul of cyberspace. The source of richness and potential in this vast, electronic web of experience is spirit. The divine expresses itself in the digital terrain through the vast, global communication networks that are now beginning to display rudimentary self-organizing properties.651
Die Menschheit müsse laut Cobb den durch die Computertechnologie erreichten Fortschritt nur als Entfaltung göttlicher Kreativität erkennen: »It is when this knowledge comes fully into our conscious awareness that our deeper journey with cyberspace will truly have begun.«652 Noch einen Schritt weiter als Cobb geht der Physiker und posthumanistische Denker Frank Tipler. Zusammen mit dem englischen Astrophysiker John D. Barrow veröffentliche er 1986 sein wissenschaftliches Hauptwerk The Anthropic Cosmological Principle, das bereits eine teleologische Deutung der Geschichte des Universums enthält.653 Einem größeren Lesepublikum bekannt wurde Tipler jedoch durch seine Physik der Unsterblichkeit.654 Hier vertritt er die Position der sogenannten Physikotheologie (natural theology) und zeigt sich absolut davon überzeugt, dass nur die Naturwissenschaften (allen voran die Physik und Mathematik) uns helfen werden, Gott besser zu verstehen und die Bestimmung des Menschen als einen Teil des göttlichen Schöpfungsplanes zu erkennen.
648 | Cobb 1998, 85. 649 | Vgl. Whitehead 1979, 611-627; dazu erläuternd auch Au 2010, 101-110. 650 | Vgl. Cobb 1998, 12, 51-97. 651 | Cobb 1998, 44. 652 | Cobb 1998, 239. 653 | Vgl. Barrow & Tipler 1986. 654 | Der Originaltitel lautet: The Physics of Immortality: Modern Cosmology, God and the Ressurection of the Dead . Auf dt. erschienen unter: Die Physik der Unsterblichkeit. Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten. München 1995.
R ELIGION UND NEUE M EDIEN The only book which does not suffer from these limitations is the Book of Nature, the only book which God wrote with His/Her own hand, without human assistance. The book of nature is not limited by human understanding. The Book of Nature is the only reliable guide to the true Nature of God.655
Aus dieser kosmologischen Perspektive heraus begründet Tipler die Annahme, dass Gott das Universum geschaffen hat, um seine eigene Persönlichkeit im Entfaltungsprozess des Universums selbst zu realisieren. Das Ziel der natürlichen Evolution wie auch der kosmischen Entwicklung sei der Punkt Omega. Gemäß Tipler nimmt der Mensch eine Schlüsselrolle in diesem göttlichen Plan ein, da der Mensch die einzige intelligente Lebensform im Universum sei. Durch die Erschaffung künstlicher Computerintelligenzen, die durch den Menschen entworfen wurden und schon bald die Galaxis bevölkern werden, solle laut Tiplers Vision das gesamte Universum in eine einzige denkende Einheit verwandelt werden, in einen gigantischen kosmischen Computer. Die menschliche Rasse sei auf diesem Weg nur ein evolutionärer Zwischenschritt, der in nächster Zeit durch posthumane Entitäten überwunden werde.656 Wenn schließlich Gott im Punkt Omega verwirklicht sei, werde auch die Geschichte des Universums zu einem Ende kommen: At the instant the Omega Point is reached, life will have gained control of all matter and forces … life will have spread into all spatial regions in all universes which could logically exist, and we will have stored an infinite amount of information, including all bits of knowledge which is logically possible to know. And this is the end. 657
Auf verschiedene Weise haben Mark Pesce, Jennifer Cobb and Frank Tipler das Evolutionsmodell von Teilhard rezipiert, teils als spirituelle Evolution der Menschheit, teils als explizite Entfaltung des christlichen Gottes. Abgesehen von diesen Unterschieden teilen sie die Einschätzung, dass die Entwicklung des Internet und der Informationstechnologie der entscheidende Sprung in der bisherigen, irdischen Evolutionsgeschichte sei. Alle drei wenden ein religiöses Deutungsmuster zur kulturellen Einbettung dieses Ereignisses an.
Teilhard de Chardin and Marshall McLuhan Die aufgeführten Beispiele haben illustriert, wie einzelne Ideen, die Teilhard de Chardin zugeschrieben werden, im gegenwärtigen Cyberdiskurs wahrgenommen werden – eine Onlinerecherche mit entsprechenden Stichworten ver655 | Tipler 1995, 337. 656 | Zu Frank Tipler und der allgemeinen Thematik des Posthumanismus vgl. Krüger 2004a, 103-400. 657 | Barrow & Tipler 1986, 677.
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weist auf Hunderte ähnlicher wissenschaftlicher wie auch populärer Beiträge, die Teilhard de Chardin vor allem als den großen Vordenker des Internet stilisieren.658 Diese starke Rezeption innerhalb des Mediendiskurses ist an sich äußerst bemerkenswert, denn Teilhard de Chardin hat sich – soweit ich dies beurteilen kann – in seinem umfassenden Werk, abgesehen von zwei peripheren Anmerkungen, nie zu Medien- oder Computertechnik geäußert. Dass Teilhard dennoch einiges Interesse im Zusammenhang des gegenwärtigen Mediendiskurses auf sich gezogen hat, ist meines Erachtens auf Marshall McLuhan zurückzuführen, der Teilhards Ideen bereits eklektisch aufgegriffen und für den Mediendiskurs »fruchtbar« gemacht hatte. In einem populären Diskurs und teils in wissenschaftlichen Beiträgen werden beide Theoretiker in einem Atemzug genannt, McLuhan wird ein »Flirt« mit Teilhards Ideen zugeschrieben, ihre Theorien seien großenteils deckungsgleich659 und es herrscht oftmals die Überzeugung vor »McLuhan’s ›global village‹ was nothing other than Teilhard’s ›noosphere‹.«660 Es gilt daher im Folgenden, etwas Licht in das Verhältnis zwischen McLuhan und Teilhard de Chardin zu bringen, um schließlich die populäre und offenbar dominante Synthese von McLuhans Idee des globalen Dorfes und Teilhards Noosphäre erklären zu können. Als 1968 der ausdrucksstarke österreichische Schauspieler Oskar Werner in dem amerikanischen Spielfilm The Shoes of the Fisherman den charismatischen Theologen und Wissenschaftler David Telemond spielte,661 der für seine Vision einer friedlichen und global orientierten Zukunft der Menschheit eintrat, da war Teilhard de Chardin schon längst zu einem der bekanntesten Vertreter christlicher Theologie im 20. Jahrhundert geworden. Nach seinem Eintritt in den Jesuitenorden, der Priesterweihe und seinem ausgedehnten Studium der Theologie, Philosophie und verschiedener Naturwissenschaften fokussierte Teilhard sein wissenschaftliches Interesse bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges immer stärker auf die Paläontologie, insbesondere die Vorgeschichte des Menschen. Schon seine frühen, teils mystisch anmutenden Schriften während und nach dem Weltkrieg,662 den er als Sanitäter erlebte, sind geprägt von dem Gedanken einer göttlich gelenkten Evolution des Kosmos, den er in den folgenden 40 Jahren seines wissenschaftlichen und theologischen Schaffens weiterentwickelte. Die Zeit von 1923 bis 1946 verbrachte Teilhard – abgesehen von einigen Reisen 658 | Etwa eine Googlerecherche mit den Stichworten »Teilhard« und »Internet« bzw. »Cyberspace«. 659 | Vgl. Hickey 2005, 64; Curtis 2005, 163-175. 660 | Vgl. Wolfe 2003. 661 | Michael Anderson verfilmte die gleichnamige Romanvorlage von Morris West von 1963, in der die Figur des Pater David Telemond (im Roman Jean Telemond) als Freund und Berater des Papstes fungierte. Vgl. West 1963, 268-272. 662 | Bspw. »La vie cosmique« (1916) und »Mon univers« (1924).
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nach Frankreich, Indien, Java, Äthiopien, Birma und den Vereinigten Staaten – in China, wo er neben seinen paläontologischen Forschungen auch seine wichtigsten philosophischen und theologischen Schriften verfasste. Trotz zahlreicher weltlicher Ehrungen wie der Ernennung zum Ritter der französischen Ehrenlegion (1947) und der Ernennung zum nichtresidierenden Mitglied des Institut de France (1950) untersagte der Vatikan weitgehend die Veröffentlichung von Teilhards philosophischem und theologischem Werk. Die Anerkennung und Weiterführung der darwinistischen Evolutionstheorie erschien der römischen Zensur und seinem Orden zu progressiv. Andere fortschrittliche französische Ordensbrüder von Teilhard wurden in dieser Zeit mit Lehrverboten und anderen Restriktionen gemaßregelt. Die letzten Lebensjahre von 1950 bis 1955 verbrachte Teilhard, unterbrochen von zwei Forschungsreisen nach Südafrika, als Forscher bei der Wenner Gren Foundation in New York. Trotz des Publikationsverbotes waren Teilhards Ideen durch seine Vortragstätigkeit und umfassende Korrespondenzen insbesondere in philosophischen und naturwissenschaftlichen Kreisen so weit bekannt, dass noch im Todesjahr die Veröffentlichung einer Werkausgabe unter dem Patronat vieler prominenter Wissenschaftler – wie z.B. Julian Huxley, Adolf Portmann, Arnold Toynbee – begonnen wurde. Parallel zum zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) setzte die weit über die katholische Kirche hinausgehende Rezeption von Teilhards Lebenswerk ein. Schon Ende der 1970er Jahre wiesen verschiedene Bibliografien mehr als 10.000 Titel an Sekundärliteratur über Teilhard auf.663 Angeregt durch Henri Bergsons Versuch einer Synthese zwischen christlichem Schöpfungsgedanken und naturwissenschaftlicher Entwicklungslehre in L’évolution créatrice (1907) bemühte sich Teilhard de Chardin um eine fruchtbare Ergänzung wissenschaftlicher Erkenntnisse und religiöser Erkenntnis. Materie und Geist sind für Teilhard die zwei in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehenden Zustände des kosmischen Stoffes. Aus dem Anfangspunkt alpha lasse Gott das Universum sich zu einem immer komplexer werdenden System entfalten. In seinen beiden philosophischen Hauptwerken Der Mensch im Kosmos (Le Phénomène humain, 1955) und Die Entstehung des Menschen (Le Groupe Zoologique Humain, 1956) schildert Teilhard den Evolutionsprozess als eine sukzessive Entfaltung des Geistes zunächst über die Vorstufe der Entstehung des Sonnensystems und der Erde (Kosmogenese), die nachfolgende Ausbildung der Biosphäre (Biogenese) und schließlich der Ausbreitung der Noosphäre (Noogenese) mit dem Erscheinen der ersten Hominiden, die sich durch die Fähigkeit des »Ichbewusstseins« von den vorhergehenden Primaten unterscheiden.
663 | Einen biografischen und bibliografischen Überblick bieten Daecke (2000) und Trennert-Helwig (2006).
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D IE MEDIALE R ELIGION Quand, pour la première fois l’instinct s’est aperçu au miroir de lui-même, c’est le Monde tout entier qui a fait un pas … Juste aussi extensive, mais bien plus cohérente encore, nous le verrons, que toutes les nappes précédentes, c’est vraiment une nappe nouvelle, la »nappe pensante«, qui, après avoir germé au Tertiaire finissant, s’étale depuis lors par-dessous le monde des Plantes et des Animaux: hors et au-dessus de la Biosphère, une Noosphère.664
Mit der wissenschaftlichen und philosophischen Dominanz des Abendlandes seit der Zeitenwende begann Teilhard zufolge der »Zusammenfluss des Denkens«, die »Planetisierung der Noosphäre«: »… grâce au prodigieux événement biologique représenté par la découverte des ondes électro-magnétiques, chaque individu se trouve désormais (activement et passivement) simultanément présent à la totalité de la mer et des continents, – coextensif à la Terre.«665 Durch diese »kollektive Cerebralisation«, den Aufstieg der Wissenschaft und den zusätzlichen Antrieb durch die »erstaunliche Leistung der Elektronenautomaten«666 und den Fortschritten in der Kybernetik werde sich, so hofft Teilhard, die Vervollkommnung des menschlichen Gehirns in der künftigen Evolutionsgeschichte beschleunigen, vor allem wenn auch die Methoden der Eugenik Anwendung finden würden.667 »Nur ein Bruchteil seiner Möglichkeiten ist bis heute verwirklicht worden. Der Mensch hat eine weitere Verbesserung dringend nötig. Hier ist der Punkt, wo die Eugenik ihren Hebel anzusetzen hat.«668 Den Prozess der Evolution begreift Teilhard als Aufstieg des Bewusstseins und diesen Vorgang wiederum als »Einigungswirkung«, denn nur wenn alle Völker und alle Schichten zusammen nach einem Ziel drängen, ließe sich die psychobiologische Entwicklung hin zu einer »Mega-Synthese« der Menschheit verwirklichen:669 Une collectivité harmonisée des consciences, équivalente à une sorte de superconscience. La Terre non seulement se couvrant de grains de pensée par myriades,
664 | Teilhard de Chardin 1955, 200-202. Diese Idee ist eng verwandt mit dem evolutionary humanism von Julian Huxley (1887-1975), der ebenfalls ein mehrstufiges Evolutionsmodell von der kosmischen bis zur post-biologischen (= menschlichen) Phase kreierte. Vgl. Huxley 1965, 11-54. 665 | Teilhard de Chardin 1955, 266-267. 666 | Teilhard de Chardin 1961, 118. 667 | Vgl. Teilhard de Chardin 1955, 263-323. 668 | Vgl. Teilhard de Chardin 1955, 263-323. 669 | Vgl. Teilhard de Chardin 1955, 270-272.
R ELIGION UND NEUE M EDIEN mais s’enveloppant d’une seule enveloppe pensante, jusqu’à ne plus former fonctionnellement qu’en seul vaste Grain de Pensée, à l’échelle sidérale. 670
Nach Ansicht Teilhards wird die Noosphäre durch das kollektive Zusammenwirken ihrer Teile schließlich »am Ende der Welt« ihren Konvergenzpunkt erreichen, an dem sich die Summe des individuellen Bewusstseins wieder zu einem neuen, überpersönlichen Bewusstsein bündelt. Dieser von Teilhard als Omega bzw. Gott-Omega bezeichnete Konvergenzpunkt könne nur durch die Kraft der universalen Liebe erreicht werden. Durch die Gegenwart Christi falle der Menschheit diese außerordentliche Rolle im Kosmos zu, Omega zu verwirklichen: Si le monde est convergent, et si le Christ en occupe le centre, alors la Christogénèse de saint Paul et de saint Jean n’est rien autre chose, ni rien moins, que le prolongement à la fois attendu et inespéré de la Noogénèse en laquelle, pour notre expérience, culmine la Cosmogénèse … Seul, absolument seul sur la Terre moderne, il [le Christianisme: O.K.] se montre capable de synthétiser dans un seul acte vital le Tout et la Personne.671
Auch in dieser sehr gedrängten Übersicht über das Werk Teilhards zeigen sich bereits die vielen möglichen Anknüpfungspunkte für die spätere Rezeption, die von der Eugenik über die katholische Theologie bis hin zum New Age, dem Posthumanismus und eben den genannten Cyberutopien reichen wird. Dass Medien und Computertechnologie außer in den zwei aufgeführten Verweisen keine Erwähnung in Teilhards Werk finden, sondern im Gesamtwerk vielmehr die biologisch-evolutive Ausrichtung seines Denkens in einem explizit christologischen Kontext deutlich wird, Teilhard aber dennoch im gegenwärtigen Mediendiskurs wahrgenommen wird, ist auf Marshall McLuhan zurückzuführen. Für das Werkverständnis spielt dabei die Tatsache, dass McLuhan selbst Katholik war, keine unerhebliche Rolle. McLuhan ist 1937 zum römisch-katholischen Glauben konvertiert, arbeitete an drei katholischen Universitäten,672 besuchte täglich die Messfeier und stand mit vielen katholischen Theologen, 670 | Teilhard de Chardin 1955, 279. Teilhard ist sich dabei der Problematik seiner Utopie nach den zwei schrecklichen Weltkriegen bewusst. Er ist jedoch der Überzeugung, dass sich im Angesicht bisheriger, Jahrtausende währender Veränderungen in der Evolutionsgeschichte auch in der Menschheitsgeschichte die schwierige Phase der kulturellen »Abstoßung« überwinden lasse. Vgl. Teilhard de Chardin 1955, 266, 282-284. Dass hier ältere Ideen einer civitas dei über Augustinus, Francis Bacon (Nova Atlantis) u.a. Pate gestanden haben, ist offensichtlich. 671 | Teilhard de Chardin 1955, 331. 672 | Von 1937-1944 St. Louis University der Jesuiten (Missouri), 1944-1946 Assumption College (Windsor), ab 1946 St. Michael’s College (Toronto).
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insbesondere Jesuiten, in engem Kontakt. In seiner öffentlichen Auseinandersetzung mit der Kirche fiel er bisweilen durch unkonventionelle Vorschläge auf, wie z.B. durch seine Kritik an der Abschaffung des Latein als liturgischer Sprache während des II. Vatikanischen Konzils (1961-1965).673 Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass es eine besondere Beziehung zwischen McLuhan und Teilhard de Chardin gab. Das fehlende Glied in der Kette ist der amerikanische Theologe und Jesuit Walter J. Ong (1912-2003). Er studierte von 1938 bis 1941 an der St. Louis University Philosophie und Anglistik, während der junge McLuhan dort von 1937 bis 1944 Englisch lehrte; McLuhan betreute auch Ongs Magisterarbeit über den viktorianischen Jesuiten und Dichter Gerald Manley Hopkins (1844-1889), der Ong bereits für die theologische Verbindung von Evolution und der Entfaltung Gottes sensibilisieren sollte. Seit dieser Zeit waren Ong und McLuhan durch einen regen Briefwechsel wissenschaftlich und freundschaftlich miteinander verbunden. Ong widmete sogar den zweiten Band seiner Dissertation »Herbert Marshall McLuhan who started all this«.674 Als Ong in den frühen 1950er Jahren als Guggenheim Fellow in Paris lebte, wohnte er zeitweise mit Teilhard de Chardin in derselben Unterkunft und konnte in dieser Zeit bereits dessen erst posthum veröffentlichtes Hauptwerk Le Phénomène Humain (1955) studieren. Als Ong 1952 nun eine Rezension für McLuhans erstes Buch The Mechanical Bride675 verfasste, nutze er die Gelegenheit, um bereits zentrale Punkte aus Teilhards Werk zu veröffentlichen.676 Mit Bezug auf McLuhans Zivilisationskritik wirft Ong die Frage nach den Antworten der katholischen Theologie im technisierten Industriezeitalter auf und leitet positiv dann zu Teilhards (zensierten) Ideen über. Ong führt die Begriffe der Kosmosphäre und Biosphäre als frühe Stufen der Evolution ein und verweist dann auf die Noosphäre: In a third stage, slowly, man, with human intelligence, has made his way over the surface of the earth into all its parts … with the whole world altered simultaneously every day to goings-on in Washington, Paris, London, Rio de Janeiro, Rome and (with reservations) Moscow – human consciousness has succeeded in enveloping the entire globe in a third and still more perfect kind of sphere, the sphere of intelligence, the ›noosphere‹, as it has been styled by Father Pierre Teilhard de Chardin, S.J. 677
673 | Vgl. Eric McLuhan 1999, IX-XXVIII; McLuhan 1999b. 674 | Vgl. Ong 1958. 675 | Vgl. McLuhan 1951. 676 | Vgl. Farrell 2003, 451-457. 677 | Ong 1952, 84.
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Ong wurde in der englischsprachigen Welt sicherlich der wichtigste Vertreter von Teilhards Ideen.678 Es ist damit evident, dass McLuhan spätestens seit Ongs Rezension von 1952 mit Teilhards Ideen in Berührung kam, noch bevor er sich selbst intensiver mit kommunikationswissenschaftlichen Fragen befasste. Direkte Verweise auf Teilhard finden sich meines Wissens nur in McLuhans Gutenberg Galaxy von 1962, vermutlich aufgrund von äußerer Kritik und McLuhans späterer, zunehmend kritischen Haltung gegenüber Teilhards Werk.679 McLuhan lenkt die Aufmerksamkeit seiner Leser bereits zu Beginn der Gutenberg Galaxy auf Teilhards Werk, »the lyrical testimony of a very Romantic biologist«680 und zitiert eine Beschreibung des globalen Zusammenwachsens und technischen Fortschrittes aus Le Phénomèn Humain. McLuhan fügt gleich hinzu, dass Teilhards unkritischer Optimismus von Intellektuellen heftig kritisiert wurde, führt aber dann doch Teilhards Begriff der Noosphäre ein: This externalisation of our senses creates what de Chardin called the ›noosphere‹ or a technological brain for the world. Instead of tending towards a vast Alexandrian library the world has become a computer, an electronic brain, exactly as in an infantile piece of science fiction. 681
In der entscheidenden Passage, in der elektronische Medien als eine »cosmic membrane that has been snapped round the globe«682 verstanden werden, bezieht sich McLuhan auf Teilhard. Bei zwei weiteren Anmerkungen verweist McLuhan auf die Verbindung des Evolutionsgedankens mit dem Fortschritt der (Medien-)Technik bei Teilhard.683 In der Folgezeit gestalten sich McLuhans Aussagen zu Teilhards Werk vielfältig, wenn nicht gar widersprüchlich. Zwar erwähnt McLuhan den französischen Jesuiten in seinem dritten Buch Understanding Media. The Extensions of Man (1964) nicht mehr namentlich, jedoch entwirft er nun mit Bezug auf Henri Bergsons L’évolution créatrice die Utopie eines
678 | In zahlreichen Monografien bezieht sich Ong auf die Ideen Teilhards (und teils auch auf McLuhan), so z.B. in Interfaces of the Word. Studies in the Evolution of Consciousness and Culture (1977). Der explizit christliche Kontext, in dem Ong die Idee von der Entfaltung Gottes in der Geschichte der Evolution präsentierte, verhinderte m.E. jedoch, dass Ong bzw. Teilhard über die Publikationen Ongs von Vertretern des Cyberdiskurses rezipiert wurde. 679 | Vgl. Marchand 1998, 216f. 680 | McLuhan 2002, 32. 681 | McLuhan 2002, 32. 682 | McLuhan 2002, 32. 683 | Vgl. McLuhan 2002, 46, 174. Der vierte Verweis bezieht sich etwas dekontextualisiert auf Werte des typografischen Menschen. Vgl. a.a.O., 135.
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harmonischen elekronischen Zeitalters, geleitet von Bergsons Gedanken, dass die Sprache für die Teilung der Menschheit etc. verantwortlich sei: Electricity points the way to an extension of the process of consciousness itself, on a world scale, and without any verbalization whatever. Such a state of collective awareness may have been the preverbal condition of men. Language as the technology of human extension, whose powers of division and separation we know so well, may have been the ›Tower of Babel‹ by which men sought to scale the highest heavens. Today computers hold out the promise of a means of instant translation of any code or language into any other code or language. The computer, in short, promises by technology a Pentecostal condition of universal understanding and unity. The next logical step would seem to be, not to translate, but to by-pass languages in favor of a general cosmic consciousness, which might be very like the collective unconscious dreamt of by Bergson. The condition of ›weightlessness‹, that biologists say promises a physical immortality, may be paralleled by the condition of speechlessness that could confer a perpetuity of collective harmony and peace. 684
Das genannte Werk von Bergson war jedoch exakt der Ausgangspunkt für Teilhards evolutionstheoretische und theologische Überlegungen. McLuhan sieht sogar noch mehr Anlass zu Optimismus. If the work of the city is the remaking or translating of man into a more suitable form than his nomadic ancestors achieved, then might not our current translation of our entire lives into the spiritual form of information seem to make of the entire globe, and of the human family, a single consciousness?685
In anderen Schriften und Interviews nimmt McLuhan allerdings eine analytische Haltung ein, er selbst sieht keine inhärente religiöse Bedeutung in den Neuerungen der Medien an sich, jedoch: »[W]e would not belittle the merely cultural power of the non-literate and the literate forms of life to shape the perceptions and biases of the entire human community.«686 Als er 1970 in einem Interview direkt auf die Parallelen seines und Teilhards Werk angesprochen wird, reagiert McLuhan differenziert, ohne jedoch auf Teilhard einzugehen; er weist in diesem Zusammenhang mögliche Voraussagen über die Folgen des Medienwandels als reine Spekulation zurück. Allerdings könne er nachvoll-
684 | McLuhan 1994, 80. 685 | McLuhan 1994, 61. 686 | McLuhan 2002, 68. Vgl. hierzu auch die Auseinandersetzung McLuhans mit dem Religionswissenschaftler Mircea Eliade, a.a.O., 67-71.
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ziehen, dass die von den Medien erzeugte Allgegenwart von Information eine Triebfeder für die religiöse Suche des Menschen sein kann.687 In McLuhans deutlicher Kritik an den religiösen Interpretationen des Informationszeitalters, spiegelt sich jedoch andererseits auch immer wieder die Bewunderung für die neuen Kommunikationstechnologien wider: »Electric information environments being utterly ethereal fosters the illusion of the world as a spiritual substance. It is now a reasonable facsimile of the mystical body, a blatant manifestation of the Anti-Christ. After all, the Prince of this World is a very great electric engineer.«688 Auch darüber hinaus äußert sich McLuhan an vielen Stellen sehr kritisch gegenüber der Idee einer harmonischen Weltgemeinschaft689 und entwirft schon früh das Konzept der retribalization – die elektronischen Medien werden durch die fehlenden Hierarchien und Machtzentren eher das Individuum stärken und große, zentralistisch organisierte Gemeinschaften gefährden; selbst Fortschritte in der christlichen Ökumene hält er nicht für realistisch.690 Festzustellen bleibt nur, dass sich McLuhan ab dem Ende der 1960er Jahre nicht mehr euphorisch zu den neuen Medienentwicklungen äußert, sondern bemüht ist, keine Wertungen und Voraussagen mehr vorzunehmen. Das globale Dorf – zu dem Begriff fühlte sich McLuhan durch Wyndham Lewis’ Buch America and Cosmic Man inspiriert – wird für McLuhan zunehmend zur leitenden Metapher der Mediengesellschaft, die durchaus konfliktreich und krisengeschüttelt verstanden wird, wie dies vor allem in McLuhans Buch War and Peace in the Global Village (1968) deutlich wird.691 In den analytischen Aussagen McLuhans zeigen sich dann auch spürbar die Unterschiede in der Verwendung des Bewusstseinsbegriffs im Vergleich zu Teilhard. Denn abgesehen von den ausdrucksstarken, aber seltenen euphorischen Prophezeiungen in der Gutenberg Galaxy und in Understanding Media bezieht McLuhan die »Erweiterung des Bewußtseins« (extension of consciousness) auf die erweiterte Wahrnehmungsfähigkeit der Individuen und nicht auf die Entstehung eines gemeinsamen, kollektiven Bewusstseins, das in einem fer687 | Vgl. McLuhan 1999c, 87f. 688 | Brief von Marshall McLuhan an Jaques Maritain vom 6. Mai 1969. Vgl. McLuhan 1999d, 70-72. 689 | Den Rückfall in eine »orale Gesellschaft« kommentiert er scharf: »Terror is the normal state of any oral society, for in it everything affects everything all the time.« McLuhan 2002, 32. 690 | Vgl. Beiträge in: McLuhan 1999a. 691 | Der Maler und Autor Wyndham Lewis (1882-1957) war McLuhans Kollege am Assumption College der University of Windsor. Lewis schrieb in America and Cosmic Man: »… the earth has become one big village, with telephones laid from one end to the other, and air transport both speedy and safe …« Vgl. Lewis 1948, 21; McLuhan 1968.
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nen Punkt Omega kulminieren würde. Das globale Dorf ist ein Dorf und keine Stadt, weil metaphorisch jeder von jedem alles weiß: »With such awareness, the sublimina life, private and social, has been hoicked up into full view, with the result that we have ›social consciousness‹ presented to us as a cause of guilt feelings … In the electric age we wear all mankind as our skin.«692
Die Noosphäre, das globale Dorf und der Punkt Omega Der genauere Blick auf das Verhältnis von Marshall McLuhan und Pierre Teilhard de Chardin wird demonstriert haben, dass es sehr wohl erhebliche Differenzen in den theoretischen Konzepten der beiden Denker gibt. Umso interessanter gestaltet sich die konkrete Frage nach den Rezeptionsprozessen des philosophischen Werkes von Teilhard in den gegenwärtigen Deutungen des Internet. Teilhard ist kein Medientheoretiker, die Begriffe »Information« und »Kommunikation« spielen keinerlei Rolle in seinen Theorien und den Terminus der Noosphäre führt er im Kontext von theologischen und philosophischen Überlegungen eines phylogenetischen Aufstiegs des menschlichen Bewusstseins ein. Maßgeblich für die spätere Rezeption Teilhards im medienphilosophischen Zusammenhang war nun McLuhans Präsentation von Teilhards Ideen in der Gutenberg Galaxy: Zunächst wird Teilhard de Chardin von McLuhan als »romantischer Biologe« und nicht etwa als katholischer Theologe in jesuitischer Tradition vorgestellt. Niemals erwähnt McLuhan den christlichen Kontext von Teilhards Evolutionsmodell. Dessen Kern, die Konvergenz des Bewusstseins der menschlichen Individuen im künftigen Punkt Omega verschweigt McLuhan gänzlich. Teilhards Ideen erscheinen bei McLuhan folglich in einer völlig enttheologisierten Form. Der Begriff der Noosphäre schließlich erfährt durch McLuhan eine klare Umdeutung. Bezeichnet die Noosphäre bei Teilhard die Schicht des Denkens, die sich mit dem Erscheinen der ersten Hominiden entwickelt, so wird die Noosphäre für McLuhan zum »technological brain« – die ganze Welt wird zum Computer. Damit vollzieht McLuhan drei Modifizierungen, die den Begriff der Noosphäre für heutige Cyberphilosophen überhaupt erst interessant gemacht haben: Erstens wird die Noosphäre als medientechnischer Begriff kontextualisiert, zweitens wird die Entstehung der Noosphäre auf den Beginn des Computerzeitalters, also unsere Gegenwart, datiert und drittens impliziert die Noosphäre für McLuhan bereits die weltumspannende Vernetzung.693 Auf diese Weise nimmt McLuhan eine außerordentliche Aufwertung der gegenwärtigen Medienentwicklungen vor. Was bei Teilhard noch als die allmähliche und mit der Hegemonie des Abendlandes verbundene Planetisierung 692 | McLuhan 1994, 47. 693 | Teilhard hatte die Entstehung der Noosphäre vor vielen Jahrtausenden ja differenziert von ihrer »Planetisierung« und dem künftigen »Zusammenfluß des Denkens«. Vgl. Teilhard 1955, 211-235.
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der Noosphäre oder als Zusammenfluss des Denkens bezeichnet wurde, wird bei McLuhan zur neuen Evolutionsstufe des durch Radio, Fernsehen und Computer geprägten elektrischen Zeitalters. Für unsere Analyse der kulturellen Rezeption des Internet muss neben dieser engen Verbindung zwischen Medien- und Evolutionsgeschichte noch ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden. Elektronische Medien und das Internet werden unter einer holistischen Perspektive als sich entfaltender Organismus wahrgenommen. Mark Pesce hat eingangs die Idee vertreten, dass Medien nun ein lebendiger Teil Gaias, der Erde, seien. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass ja bereits McLuhan den ersten Schritt dieser Organisierung elektronischer Medien vollzogen hatte: Abgesehen von der Grundannahme, dass Medien eine Erweiterung (extension) unseres körperlichen Sinnesapparates seien, führt der Kanadier auch weitere, biologische konnotierte Metaphern wie das »elektronische Gehirn« (electronic brain) und die »kosmische Membran« (cosmic membrane) ein, während Teilhard noch von einem »denkenden Mantel« gesprochen hatte (enveloppe pensante).
Gaia Die sogenannte Gaia-Theorie wurde seit den späten 1960er Jahren vom britischen Mediziner, Geophysiker und Ökologen James E. Lovelock (*1919) mit der Idee, dass die Erde mitsamt ihren Einwohnern als ein ganzheitlicher Organismus zu verstehen sei, begründet. Mit seinem Buch Gaia – a new Look at Life on Earth (1979)694 hatte Lovelock sowohl großen Einfluss auf die sich formierende Umweltbewegung als auch auf viele holistische Denker aus religiösen wie spirituellen Strömungen seiner Zeit. The result of this more single-minded approach was the development of the hypothesis that the entire range of living matter on Earth, from whales to viruses, and from oaks to algae, could be regarded as constituting a single living entity, capable of manipulating the Earth’s atmosphere to suit its overall needs and endowed with faculties and powers far beyond those of its constituent parts. 695
Auf diese Weise erscheint der Planet Erde als bedrohtes Lebewesen, das geschützt werden muss und nicht bedingungslos ausgebeutet werden darf. Lovelock zeigte, dass die Erde als ganzes auf die Handlungen ihrer Bewohner reagiert, insbesondere auf die steigende Umweltverschmutzung durch den Menschen.696 Diese grundlegende Idee, dass die Gesamtheit aller einzelnen 694 | Auf dt. erschienen unter Das Gaia-Prinzip. Die Biographie unseres Planeten (Frankfurt 1981). 695 | Lovelock 1991, 9. 696 | Vgl. Lovelock 1991, 12, 64-123.
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Lebewesen auf dem Planeten eine lebende Einheit konstituiert, hatte weitreichenden Einfluss auf eine Reihe verschiedener Diskurse.697 Dadurch, dass Lovelock den Namen der griechischen Erdgöttin Gaia für die holistische Idee der Erde wählte, förderte er eine breite Rezeption der GaiaTheorie in der feministischen Theologie. Die britische Theologin Anne Primavesi betrachtet das richtige Verständnis der Gaia sogar als die wichtigste Aufgabe der Theologie der Gegenwart. Theology at this level is an earth science. This simply affirms that the systematic organization of human knowledge, in this case knowledge of God, now includes in its remit and discussions the environment in which that knowledge is systemized … Gaia theory shows us that … all living beings on earth are in physical contact at one remove through its water, atmosphere and soils … 698
Neben christlichen Vertretern haben vor allem Denker des New Age wie Ken Wilber699 und Fritjof Capra700 Elemente aus der Gaia-Theorie aufgenommen und sie wiederum mit Teilhards teleologischer Deutung der Evolutionsgeschichte verbunden.701 Andererseits wird Lovelocks Ansatz gerade in den Vereinigten Staaten häufig mit der Arbeit des seinerzeit sehr populären Philosophen und Architekten Buckminster Fuller (1895-1983) in Verbindung gebracht.702 Die höchst heterogene, heutige Gaia-Bewegung vereint Ideen prominenter Denker 697 | In der Umweltbewegung wurden die Ideen von Lovelock vor allem von dem brasilianischen Ökologen José Lutzenberger (1926-2002) aufgenommen, der 1987 die Gaia Foundation gründete. Vgl. Lutzenberger 1990, 101-108. Lovelock selbst war überrascht von der breiten religiösen Rezeption seines Werkes: »I was naïve to think that a book about Gaia would be taken as science only.« Lovelock 2003, 532. 698 | Primavesi 2000, 20. Noch konsequenter als Primavesi verfolgt die amerikanische Theologin Rosemary Radford Ruether (*1936) eine politische Perspektive dieses Ökofeminismus, die auf den Ausgleich zwischen dem »männlichen Gott« und der »weiblichen Gaia« abzielt. Vgl. Radford Ruether 1992, 254-274. 699 | In seiner integralen Philosophie bezieht sich Ken Wilber sowohl auf Elemente der Gaia-Theorie wie auch auf Teilhard. Die Begriffe der Biosphäre, der Noosphäre und der Punkt Omega sind essentiell für seinen Ansatz, wenn auch nicht im christlichen Sinne, sondern im Rahmen einer evolutionären Theologie. Vgl. Wilber 1995, 85-87, 111-113. 700 | Capra, wie auch andere New Age-Denker, verbinden ökologische Ansätze der Gaia-Theorie mit dem Evolutionsgedanken und der Vision einer spirituellen Erneuerung einer vereinten Menschheit. Vgl. Capra 1982, 284-285. 701 | Zur Bedeutung Teilhard de Chardins für das New Age vgl. Ferguson 1980, 50-51, 93, 420. 702 | Schon in den 1930er Jahren hatte Fuller die gänzlich rationale Vision einer Weltgemeinschaft entwickelt, die dank des wissenschaftlichen Fortschrittes fähig sei, in
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wie Teilhard und Lovelock sowie verschiedenste Gedanken und Praktiken aus der Ökologie, der Astrologie, dem Buddhismus, den Hopi-Indianern und dem Neoschamanismus.703 Die gegenwärtige Rezeption der Gaia-Theorie im Kontext elektronischer Medien geht jedoch vorwiegend auf Impulse von Lovelock selbst zurück. Der Ökologe ist tief davon überzeugt, dass der Fortschritt in den Naturwissenschaften und insbesondere der Kybernetik als Teil der natürlichen Evolution der Menschheit auch zu einem besseren Verständnis von Gaia führen wird – so lange jedenfalls, wie die Menschen noch Kontakt zu ihrer natürlichen Umwelt haben.704 Auch wenn Lovelock sich über den Widerstand verbleibender Nationalismen besorgt zeigt, teilt er mit Teilhard einen pragmatischen Zukunftsoptimismus. Still more important is the implication that the evolution of the homo sapiens, with his technological inventiveness and his increasingly subtle communication network, has vastly increased Gaia’s range of perception. She is now through us awake and aware of herself.705
Indem Lovelock schon früh eine Analogie zwischen biologischen Gehirnen und Computernetzwerken erkennt, nimmt er die Ansätze der späteren Cyberphilosophen vorweg: »Our brains can be likened to medium-size computers which are directly linked to one another and to memory banks, as well as to an almost unlimited array of sensors, peripheral devices, and other machines.«706 Die Rezeption der Ideen von Teilhard de Chardin erscheint nach diesen Ausführungen als ein komplexer, nicht-linearer Prozess, der einerseits auf McLuhans Medien- und Evolutionsbegriff beruht und andererseits auf Lovelocks organischer Interpretation der Medien als Teil der Gaia. Teilhard wird durchweg im Muster des verkannten Propheten präsentiert: In Mark Pesces Buch erscheint er als moderner und weitsichtiger Denker der Evolutionstheorie und Jennifer Cobb beschreibt ihn als einen »obskuren Jesuitenpriester und Paläon-
Harmonie mit der Natur und miteinander auf dem Raumschiff Erde (spaceship earth) zu leben. Vgl. Fuller 1938, 356-360; Fuller & Dil 1983, 11-17. 703 | Vgl. bspw. www.gaiamind.org; www.gaia-net.de (01.09.2010). Judith L. Boice beschreibt ihre Erfahrungen in den Gaian Communities sehr facettenreich (Boice 1990). Eine linguistische Analyse des Begriffes »Gaia« scheint vielversprechend. Ein neohinduistischer Heiler in München trägt ebenso wie eine Marke für wiederaufladbare Batterien diesen Namen. 704 | Lovelock 1991, 127-140. 705 | Lovelock 1991, 148. 706 | Lovelock 1991, 150.
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tologen«707. Pesce ignoriert Teilhards theologischen Hintergrund vollkommen und verbindet das Konzept der Noosphäre mit Gaia und dem Internet, während Cobb eine spirituelle Vision des Cyberspace entwirft, ohne jedoch Bezüge zu Teilhards Christologie aufzuzeigen. Der Punkt Omega als Konvergenzpunkt der Evolutionsgeschichte wird von Frank Tipler in einem technozentrischen Rahmen adaptiert. Auch wird die Idee der Noosphäre im Sinne McLuhans vielfach rezipiert, jedoch mit einer entscheidenden Veränderung. Das Erscheinen der Noosphäre wird nicht mehr mit dem Beginn des »elektronischen Zeitalters« verbunden, sondern mit der Verbreitung des Internet. In diesem Rahmen verleihen die religiösen bzw. spirituellen Deutungsmuster dem Internet eine absolut singuläre Bedeutung und dies nicht nur im Kontext der Erdgeschichte sondern für die gesamte Evolution des Lebens im Universum. Durch diese diskursive Strategie wird den Akteuren und Machern des Internet natürlich ebenfalls eine ungeheure Bedeutung zuteil.
Kontext Die Rezeption der Idee der Noosphäre und der Gaia-Theorie ist kein Phänomen, das quasi klinisch in einem kulturellen Vakuum seziert werden könnte. Die hier dargelegten Prozesse sind in übergreifende kultur- und religionsgeschichtliche Zusammenhänge eingebettet. Die vorhandenen, dominanten Deutungsmuster können die Wahrnehmung bestimmter Phänomene lenken. Ihre Analyse kann auch Unterschiede in der Rezeption ähnlicher Ideen erhellen. Ein europäischer und amerikanischer Ideenkomplex spielt hier eine herausragende Rolle für die kulturelle Rezeption des Internet, der nachfolgend genauer betrachtet werden soll. In diesem Zusammenhang ist die grundlegende Idee eines kontinuierlichen Fortschrittes der Lebensformen im Laufe der Evolutionsgeschichte maßgeblich. Diese Idee wird teils religiös oder metaphysisch, teils rationalistisch oder materialistisch legitimiert. Der Historiker Arthur Oncken Lovejoy hat in seinem viel beachteten Werk The Great Chain of Being (1936) die großen philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge aufgezeigt, in denen die abendländischen Theorien über die Entwicklung der Lebewesen stehen. Wie wir bereits im Zusammenhang mit der Schelerschen Wissens- und Erkenntnisordnung gesehen haben, bestand schon seit Aristoteles die Vorstellung einer hierarchischen Seinsordnung aller Lebewesen, die in der christlichen Weiterführung dieser Idee durch den Abstand der Lebewesen zu Gott definiert war. Die Rangfolge reichte von den einfachen Elementen über die Tiere, die Menschen, die Heiligen im Himmel und die Engel bis schließlich zu Gott, dem Ursprung aller Lebewesen. Alle Lebewesen waren demnach so, wie sie zum Zeitpunkt der Weltschöpfung geformt wurden und 707 | Vgl. Pesce 2000, 164-171; Cobb 1995.
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wie sie bis zum Anbruch des Jüngsten Gerichts bleiben sollten. Wurde diese göttliche Schöpfung bis in die Neuzeit als vollkommen und statisch angesehen, so konnten Philosophen wie Edmund Law, Leibniz, Herder und Diderot der Diskussion um eine mögliche Entwicklung des Lebens neue Impulse verleihen. Im 18. Jahrhundert wird die Idee der Seinsordnung der Lebewesen schrittweise temporalisiert, die Hierarchie wird (parallel zur zeitgenössischen Dynamisierung der gesellschaftlichen Ordnung) dynamisiert. Die Ordnung der Lebewesen drängt nun nach dem Aufstieg ihrer Glieder, denn alle Möglichkeiten des Seins im Universum drängen auf ihre Verwirklichung und dies kann nur in zeitlicher Abfolge geschehen.708 Als nun der Schweizer Naturphilosoph Charles Bonnet im Ausgang des 18. Jahrhunderts den Begriff der Evolution einführte, so enthielt dieses naturwissenschaftliche Konzept auch eine soteriologische Dimension. Im Sinne dieses Preformationismus entsteht Leben stets aus einem anfänglichen Keim, der bereits alle späteren Formen in sich trägt – Arthur McCalla weist in diesem Zusammenhang auf die Analogien zum christlichen Entwicklungsgedanken hin.709 Zusammen mit Bonnet vertrat der einflussreiche schwäbische Pietist und Naturphilosoph Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) die Ansicht, dass sich organische Lebensformen im Verlauf der Evolutionsgeschichte immer komplexer gestalten und stets höhere geistige Fähigkeiten entwickeln werden. Die Evolution versteht Öttinger als die Entfaltung Gottes, als ens manifestativum sui.710 An die Stelle der Idee einer vollkommenen Schöpfung Gottes ex nihilo trat in der Naturphilosophie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts der Gedanke einer kontinuierlichen Vervollkommnung der natürlichen Schöpfung, der am deutlichsten von Erasmus Darwin und Jean-Baptiste Lamarck vorgetragen wurde.711 Als dann Charles Darwin in On the Origin of Species (1859) der Theorie der Evolution die nötige empirische Basis verlieh, wies er zunächst alle teleologischen Implikationen der Evolutionsgeschichte von sich. Seine Rede jedoch von der Hervorbringung immer höherer und fortgeschrittener Lebewesen in den Schlussworten seines Hauptwerkes und in einigen privaten Korrespondenzen
708 | Vgl. Lovejoy 1961, 183-200. 709 | McCalla 1998,30. Bereits ein Jahrhundert vor Bonnet (1720-1793) hatte der niederländische Forscher Jan Swammerdam (1637-1680) den preformationistischen Kerngedanken formuliert, den Bonnet nun weiter ausführte. Das biblische Gleichnis vom Himmelreich mit dem Senfkorn (Matt 13: 31f.) mag die spätere religiöse Interpretation der biologischen Evolutionstheorie erleichtert haben. 710 | Vgl. Lovejoy 1961, 242-287; McCalla 1998, 29-31. 711 | Vgl. Lovejoy 1961, 227-241; Spadafora 1990, 234; Staudinger 1986, 167-168.
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gaben den späteren teleologischen Interpretationen der Evolution Nahrung.712 Trotz vereinzelten Widerstandes gegen diese melioristischen Tendenzen wurde die Idee eines kontinuierlichen Fortschritts des Lebens sowohl in rationalen und wissenschaftlichen als auch in religiösen Diskursen weithin anerkannt.713 Neben dem häufig und plakativ zitierten, fundamentalistischen Widerstand gegen den Darwinismus hatte sich eine große Anzahl protestantischer Theologen und Philosophen der Aufgabe gewidmet, die wissenschaftliche Evolutionstheorie und die christliche Heilsgeschichte in Einklang zu bringen.714 Ohne die Bedeutung dieser vielfältigen theologischen Rezeptionen schmälern zu wollen, ist offensichtlich, dass die philosophischen Ansätze der drei Philosophen Henri Bergson, Samuel Alexander (1859-1938) und Alfred North Whitehead für Teilhard und die spätere Rezeption der Noosphäre im Medienkontext relevanter ist. In seinem Hauptwerk L’évolution créatrice (1907) formuliert Bergson einen lebensphilosophischen Gegenentwurf zur positivistisch-materialistischen Weltdeutung. Die Entwicklung der Lebensformen könne nicht einfach auf mechanistische Gesetzmäßigkeiten reduziert werden. Die Evolution, deren Gipfel durch die Ausbildung von Bewusstsein gekennzeichnet sei, ist laut Bergson weitaus kreativer. Er weist daher sowohl mechanistische als auch teleologische Interpretationen zurück.715 Tatsächlich sei die Ausbildung neuer Formen des Lebens durch eine metaphysische Lebenskraft, den élan vital, vorangetrieben, der jedem Lebewesen zu eigen sei: Nous revenons ainsi, par un long détour, à l’idée d’où nous étions partis, celle d’un élan originel de la vie, passant d’une génération de germes à la génération suivante de germes par l’intermédiaire des organismes développés qui forment entre les germes le trait d’union. Cet élan, se conservant sur les lignes d’évolution entre lesquelles il se
712 | Darwins Einschätzung des Fortschrittes in der Evolutionsgeschichte klingt vielversprechend: »And as Natural Selection works solely by and for the good of each being, all corporeal and mental endowments will tend to progress towards perfection.« Darwin 1988, 347. 713 | Eine zentrale Rolle für die Verbreitung dieses fortschrittsoptimistischen Evolutionsgedankens spielte der Zoologe und Begründer des Monismus Ernst Haeckel (18341919) vor allem mit seinen Welträthseln (1899), die in allen modernen Sprachen sehr hohe Auflagenzahlen erreichten. 714 | Zu nennen wären hier bspw. der konservative Prediger Minot Judson Savage (1841-1918), der schottische Presbyterianer und Präsident der Princeton University, James McCosh (1811-1894), der populäre christliche Autor Henry Drummond (18511897) und der enge Vertraute Darwins an der Harvard University, Asa Gray (18081888). Vgl. Krüger & Thürig 2010, 10f. 715 | Vgl. Bergson 1909, 57-73, 392-399.
R ELIGION UND NEUE M EDIEN partage, est la cause profonde des variations, du moins de celles qui se transmettent régulièrement, qui s’additionnent, qui créent des espèces nouvelles.716
Dieser élan vital begründet laut Bergson die metaphysische Einheit allen Lebens, die aus dem steten Kampf zwischen Materie und Geist immer wieder aufs Neue hervorgeht.717 Samuel Alexander nun brachte in den philosophischen Evolutionsdiskurs die Idee ein, dass sich das Leben über die drei bisherigen Existenzstufen von Materie, Leben und Geist (mind) entwickelt habe und sich nun die nächste Stufe der Gottheit (deity) andeute. »Deity is thus the next higher empirical quality to mind, which the universe is engaged in bringing to birth.«718 Das Universum sei laut Alexander darauf ausgelegt, immer höhere Formen von Bewusstsein auszubilden.719 Ähnlich wie Alexander hatte sich der Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead darum bemüht, eine Theorie zu entwerfen, die auf empirischer Basis wieder die Natur- und Geisteswissenschaften mit der Philosophie vereinen könnte. Whitehead zeichnet das Bild eines bipolaren Gottes, der über eine Urnatur und eine Folgenatur (primordal und consequent nature) charakterisiert wird. Whitehead nimmt ferner an, dass diese beiden Naturen Gottes im Entwicklungsprozess des Universums zueinander streben, um die Einheit in Gott wiederherzustellen. Aus seinen Beobachtungen der Geschichte des Kosmos und des irdischen Lebens schließt Whitehead, dass dieser prozesshafte Gott im Zuge seiner eigenen Verwirklichung in aufeinanderfolgenden Stufen immerzu neue und höhere Daseinsformen hervorbringt.720 There are thus four creative phases in which the universe accomplishes its actuality. There is first the phase of conceptual origination, deficient in actuality, but infinite in its adjustment of valuation. Secondly, there is the temporal phase of physical origination, with its multiplicity of actualities. In this phase full actuality is attained; but there is deficiency in the solidarity of individuals with each other … Thirdly, there is the phase of perfected actuality, in which the many are one everlastingly, without the qualification of any loss either of individual identity or of completeness of unity. In everlastingness, immediacy is reconciled with objective immortality … In the fourth phase, the creative action completes itself. … For the kingdom of heaven is with us today. The action of the fourth phase is the love of God for the world.721 716 | Bergson 1909, 95. 717 | Vgl. Bergson 1909, 95-106. 718 | Alexander 1966, 347. 719 | Vgl. Alexander 1966, 309-310, 341-372; Emmert 1991, 109-112. 720 | Vgl. Whitehead 1929, 511-544. 721 | Whitehead 1929, 532-533.
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Diese Idee eines sich kontinuierlich entfaltenden Gottes hatte großen Einfluss auf die Ausbildung der protestantischen Prozesstheologie, die in den 1930er Jahren an der Divinity School in Chicago ihren Anfang nahm.722 Bergson, Alexander, Whitehead und später Teilhard schufen Systeme einer kosmologischen und evolutionsgeschichtlichen Metaphysik als erweiterte Interpretationen der naturwissenschaftlichen Beobachtungen. Um im Reich biologischer Metaphern zu verweilen, könnte man diese hier in kürzester Form dargestellten Überlegungen als den Ackerboden bezeichnen, auf dem in der Folge Marshall McLuhan, einige New Age-Denker und die heutigen Cyberphilosophen eine evolutionistische Deutung elektronischer Medien pflanzten. McLuhan, Tipler und Cobb beziehen sich ausdrücklich auf Bergson oder Whitehead. Zudem betrachten Cobb und Tipler ihren eigenen Ansatz als Fortführung der Prozesstheologie, während Pesce die Ideen Teilhards eher im Kontext der New Age-Philosophie rezipiert. Trotz der unterschiedlichen Deutungen der Noosphäre ist Pesce, Cobb und Tipler gemeinsam, dass sie die Erscheinung der Computertechnologie und des Internet als Zeichen einer neuen Bewusstseinsstufe in der Geschichte der Evolution auffassen, die letztlich die Menschheit vereinen wird.
Aufklärung und die Utopie von Gemeinschaft Das Aufkommen des Internet seit den 1990er Jahren war jedoch nicht das erste Ereignis, das mit einer idealen Gemeinschaftsutopie der Menschheit verbunden wurde. In seiner brillanten Analyse The Rise and Persistence of the Technological Community Ideal hat Randy Conolly demonstriert, dass bereits im 17. und 18. Jahrhundert technische Innovationen wie die großen Kanalbauten innerhalb Europas als Vorboten einer Vereinigung aller Menschen interpretiert wurden, die Krieg und Feindseeligkeiten zwischen den Völkern für immer überwinden würden. Später wurden Telegrafen, die Eisenbahn, das Radio und das Fernsehen – also die »magischen Kanäle« McLuhans – zu den sozialutopischen Hoffnungsträgern: Mit diesen Medien wurde die Möglichkeit verbunden, soziale Gegensätze und Hierarchien zu nivellieren und die wahre Gleichheit aller Menschen zu verwirklichen.723 An dieser Stelle wurden die utopischen Interpretationen der neuen Technologien von einem zentralen Projekt der Aufklärung geleitet, nämlich der Gleichheit und brüderlichen Gemeinschaft aller Menschen. Die religiöse Deutung des Internet korrespondiert daher mit säkularen Visionen wie derjenigen des französischen Medienphilosophen Pierre Lévy und des spanischen Soziologen Manuel Castells.724 Aus Sicht Lévys ist der Cyber722 | Vgl. Maaßen 1991, 217-219. 723 | Vgl. Connolly 2001. 724 | Der postmoderne Medienphilosoph Pierre Lévy (*1956) ist zurzeit Professor für kollektive Intelligenz an der Universität Ottawa (Kanada). Sein Werk ist maßgeblich beeinflusst durch seinen Mentor Felix Guattari.
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space die Metapher einer befreiten und egalitären menschlichen Gemeinschaft, die die Hoffnungen der Aufklärung in der globalen, kollektiven Intelligenz verwirklichen wird.725 Castells, vormals einer der bedeutendsten marxistischen Stadtsoziologen, betrachtet das Internet als Schlüssel zu einer neuen politischen Utopie: Das »Netzwerk« sei die Botschaft des Internet und werde eine Gesellschaft des »vernetzten Individualismus« hervorbringen. Diese transparent-demokratische Netzwerkgesellschaft wird nach Meinung Castells’ durch eine gewaltlose »Noopolitik« (als Politik in der Noosphäre) geprägt sein.726 Florian Rötzer fasst diese optimistische Leitbotschaft des »globalen Gehirns« wie folgt zusammen: … der Cyberspace als eine Art neue länderübergreifende Nation, die sich über alle anderen legt, eine globale, wenn auch virtuelle Öffentlichkeit, die auf die realen Staaten zurückwirkt und die auf territorialer Macht beruhende Ordnung allmählich unterläuft … Die Hoffnung mancher war, dass die durch das grenzenlose Internet geschaffene Freiheit nicht nur ein Weltbürgertum der Netizen, sondern weltweit für alle eine globale freiheitliche und demokratische Kultur durchsetzen könnte.727
Tatsächlich ist es bemerkenswert, dass das Internet im weiteren Mediendiskurs sowohl als eine säkulare Idee wie auch als religiöse Utopie eines universalen Gemeinschaftsideals gedeutet werden kann. Lévys und Castells’ Gedanke, dass das Internet sich durch den Fortschritt des Wissens und der Vernunft in eine kollektive Netzwerk-Intelligenz verwandeln wird, konvergiert mit der religiösen Deutung der Noosphäre durch Jennifer Cobb, Mark Pesce und anderen. Die Verbreitung des Internet wird als das herausragende, singuläre Ereignis im Lauf der Evolutionsgeschichte interpretiert, das der Menschheit den Weg von ihrem göttlichen oder wie auch immer transzendenten Ursprung hin zu einer christlichen oder weiter gefassten, spirituellen Weltgemeinschaft weist. Der abendländische und teils soteriologische Kontext dieser religiösen Ideen mag erklären, warum diese Vorstellungen bisher jedenfalls nicht in anderen kulturellen Hemisphären in Erscheinung getreten ist. Laut dem Kommunikationstheoretiker Armand Mattelart haben diese Utopien eines egalitären global village eine zentrale Bedeutung für die Konstruktion von Sinn in hochgradig kontingenten Gesellschaften, die von einer nicht mehr zu bewältigenden Menge an Informationen überflutet werden. Sie vermitteln die Illusion einer ländlichen (village) oder organischen (Gaia) Einheit einer religiös oder säkular legitimierten Weltgemeinschaft und stehen damit
725 | Vgl. Lévy 2001, 100. 726 | Vgl. Castells 2005, 9-17, 173f. 727 | Rötzer 2005, 14.
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dem tatsächlichen Verlust von Gemeinschaft gegenüber.728 Die Metaphern von Gaia, Gott und dem Internet spiegeln einige Aspekte dieses gegenwärtigen Gemeinschaftsideals wider. Das Internet nun aber als das wichtigste Ergebnis der bisherigen Evolutionsgeschichte darzustellen, übersteigt jedoch Euphemismen vergangener Epochen, wenn es darum ging, den kulturellen und politischen Wert von Medieninnovationen zu preisen. Das Medium wird nun zum Element eines übergreifenden, kosmischen Geschehens, das scheinbar unberührt ist von menschlichen Einflüssen. In einem Zeitalter, das keine allgemeingültigen Mythen der Gemeinschaft mehr kennt, wird das Medium selbst zur Meistererzählung der Mediengesellschaft. Die für das Studium von Religion in den Medien notwendige, analytische Distanz zu diesen Paradigmen prägenden Medienutopien mag der simple Verweis erbringen, dass zwei Drittel der Bevölkerung im globalen Dorf noch niemals ein Telefon benutzt haben.729
4.8.4 Religionswissenschaftliche Internetforschung Die Vielschichtigkeit und Vielfalt religiöser Phänomene, die mit dem Internet verbunden sind, stellt die religionswissenschaftliche Forschung vor eine Reihe methodischer und theoretischer Herausforderungen. In methodischer Hinsicht besteht die grundsätzliche Schwierigkeit darin, auf der Basis von beobachteten Medieninhalten und Mediennutzungen zuverlässige Aussagen über religiöse Einstellungen und Praktiken des Einzelnen zu generieren. Lorne Dawson hat das entsprechende Forschungsprogramm schon vor einem Jahrzehnt wie folgt definiert: First, we need to know what is on the Internet, who has put it there, and for what purpose. Second, we need to know how many people are using these resources. How often are they using them? In what ways are they using them? We need to develop a social profile of those who use the Internet for religious purposes … Third, we need to know what influence these activities are having on religions and practices of users.730
Das grundlegendste Problem für die Weiterentwicklung der heutigen Religionstheorie stellt die von Anthony Giddens als »Entbettung« bezeichnete Lösung 728 | Vgl. Mattelart 1996, 85-162, 304. 729 | Im Milleniumsreport der Vereinten Nationen griff der Generalsekretär, Kofi Annan, auf die Metapher des globalen Dorfes zurück und stellte klar, dass die meisten der »Dorfbewohner« noch nie einen Telefonanruf getätigt hatten und vollkommen mit den Herausforderungen des blanken Überlebens eingenommen wären, nämlich dem Zugang zu sauberem Wasser, zu ausreichender Nahrung, Gesundheitsversorgung und Bildung. Vgl. Annan 2000, 16. 730 | Dawson 2000, 28.
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sozialer Beziehungen und Kommunikationsformen von ihren räumlichen und zeitlichen Bedingungen dar, die mit dem Aufkommen des Internet offensichtlich geworden ist. Aufs Neue sehen wir uns damit der ältesten aller soziologischen Fragen gegenüber: Was ist Gemeinschaft? Und damit verbunden: Was ist eine religiöse Gemeinschaft?
Methodische Probleme und Perspektiven Die Erforschung von Gegenwartsreligiösität, die ausschließlich auf Daten beruht, die online gewonnen wurden, steht einigen grundsätzlichen Problemen gegenüber. Mir selbst wurden diese methodischen Herausforderungen während meiner Studie zum Neopaganismus sehr plastisch vor Augen geführt. Die Studie begann 2002 mit einer Analyse von Diskussionsforen im Bereich Wiccaund Hexenmagie und wurde 2003/2004 durch zwölf qualitative Interviews mit Nutzern eben dieser Foren ergänzt. Die Grenzen der Aussagen zu erkennen, die rein auf der Grundlage von Internetdaten basieren, kann sicherlich dazu beitragen, die heutigen Forschungsmethoden zu verfeinern.
Technische Auswahleffekte bei der Religionsrecherche Die Güte, Aussagekraft und Rechweite jeder empirischen Forschung wird durch die Validität und Reliabilität der eingesetzten Erhebungsmethoden bestimmt. Die Reliabilität basiert auf der Zuverlässigkeit der Methoden: Werden die eingesetzten Forschungsinstrumente zu den gleichen Ergebnissen führen, wenn die Untersuchung wiederholt wird? Oder ist unser Befund in großem Maße abhängig von unklaren Faktoren wie bspw. dem Einsatz männlicher oder weiblicher Interviewer oder gewissen Auswahleffekten während der Erhebungsphase? Die Validität spiegelt das Verhältnis zwischen theoretischen Konzepten, also der Operationalisierung unserer Fragestellung, mit den empirischen Beobachtungen wider. Haben wir wirklich erfasst, was wir erfassen wollten? Entsprechen unsere Beobachtungskategorien der empirischen Wirklichkeit?731 Wenn die Frage der Validität und der Reliabilität der Forschungsinstrumente systematisch berücksichtigt wird, scheint das schwerwiegendste Problem in den technischen Auswahleffekten zu liegen. Das Problem besteht in der einfachen und naiven Frage: Was sehen wir? Während diese Frage schon in den ethnografischen und soziologischen Forschungen eine große Herausforderung darstellt, verschärft sich die Lage noch im Hinblick auf das Internet. Wir haben keinen direkten Zugang zur sozialen und personalen Realität unseres Forschungsfeldes. Zusätzlich zu den milieuspezifischen und kulturellen Selektionseffekten, die in der Person des Forschers begründet sind (wie das Geschlecht oder religiöse Präferenzen), ist die soziale Wirklichkeit des Internet zunächst nur durch technische Filter zugänglich, die der Forscher nicht kont731 | Vgl. Friedrichs 1990, 100-103; Knoblauch 2003, 162-168.
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rollieren kann. Daher müssen wir uns bewusst darüber sein, was wir überhaupt sehen können. Sobald die meist individuell festgelegte Startseite unseres Internet-Browsers verlassen wird, müssen wir eine Entscheidung treffen. In den meisten Fällen, in denen wir über Religion im Internet reden, beziehen wir uns auf das World Wide Web. Jedoch werden – ganz abgesehen von Diensten wie dem E-MailVerkehr – täglich auch über 25.000 Beiträge in den ca. 100.000 Foren des Usenet publiziert.732 Eine weitere Unbekannte liegt im sogenannten deep web. Darunter sind solche Daten im Internet zu verstehen, die aufgrund von Restriktionen der Provider und technischer Schranken von den Programmen der Suchmaschinen nicht erfasst werden. Der größte Teil des deep web besteht wahrscheinlich aus Datenbanken, die dynamisch aufgrund von konkreten Useranfragen als sichtbare Webinhalte erscheinen. Es wird angenommen, dass das deep web ca. 500mal so umfangreiche Datenmengen enthält wie das surface web. Suchmaschinen wie Completeplanet.com haben in den vergangenen Jahren mit einigem Erfolg und mit großem technischem Aufwand den Versuch unternommen, diese Lücke zu schließen.733 Sofern man sich nicht auf methodisch problematische Vorauswahlen (Linkverzeichnisse auf Homepages, Zeitungsartikel etc.) verlassen möchte, sind wir auf die Ergebnisse von Suchmaschinen angewiesen – um genauer zu sein: Wir sind abhängig von den ersten Seiten der Suchergebnisse, deren Anzeige durch eine kommerzialisierte Aufmerksamkeitsökonomie gesteuert ist.734 Bei mehreren tausend Treffern macht sich kaum ein Internetnutzer die Mühe, die hinteren Resultate zu konsultieren. Eine Alternative bieten kommentierte WebKataloge wie das Open Directory Project, das in knapp 600.000 Kategorien ca. 4,5 Millionen Websites auflistet.735 Forscher sind daher meist auf die Resultate der Ranking-Technologien von Suchergebnissen (SERP – Search Engine Results Page) angewiesen, die zuerst von Google im Jahr 1999 eingesetzt wurden. Die wichtigsten Kriterien sind hierbei der Grad der Vernetzung der entsprechenden Seite und die Verteilung und Häufigkeit des Suchbegriffes auf der Seite (term vector). Sogenannte metatags und keywords spielen heute nur noch eine untergeordnete Rolle, da die Suchmaschinen in der Vergangenheit durch deren massenhafte Platzierung auf Webseiten zu leicht manipuliert wurden.736 Die etablierten Suchmaschinen setzten jedoch verschiedenartige Rankingpräferen732 | Die Tendenz ist jedoch stark rückläufig. Vgl. Smith 2001; www.usenet.com/index. htm (01.09.2010). 733 | Vgl. Griesbaum & Bekavac 2004, 40-49. 734 | Vgl. Schetsche & Lehmann & Krug 2005, 20-26. 735 | Vgl. Griesbaum & Bekavac 2004, 37-39. Vgl. www.dmoz.org (01.08.2010). 736 | See @-WEB www.at-web.de/google/g-deutsch.htm#ra (01.08.2010).
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zen ein, in einigen Fällen bestehen auch lukrative Verträge mit kommerziellen Anbietern von Webseiten. Ein kleines Beispiel soll die Problematik der Suchmaschinenresultate illustrieren. Das Suchwort »religion« führt zu folgenden Suchergebnissen:737 • Google.de: 1. Artikel »Religion« auf Wikipedia (deutsch) 2. Informationsplattform Religion (Remid e.V.) • Google.com: 1. Artikel »Religion« auf Wikipedia (englisch) 2. Modelabel »Religion« (UK) (www.religionclothing.co.uk) • Yahoo.de: 1. Yahoo-Nachrichten zu Religion 2. Seite des Bergmoser + Höller Verlages mit Religionsbüchern • Yahoo.com: 1. Missionarische Quaker-Seite (www.hallvworthington.com) 2. Artikel »Religion« auf Wikipedia (englisch) • MSN.de: 1. Seite des Bergmoser + Höller Verlages mit Religionsbüchern 2. Die deutsche ebay-Seite • Completeplanet.com: 1. Textsammlung zu Religion und Psyche (griechisch)(www.psyche.gr) 2. Searches – Center on Religion and Democracy (http://religionanddemocracy.lib.virginia.edu/searches/index.html) Diese nur wenigen Suchresultate zeigen die Schwierigkeiten einer per Suchmaschine vorgenommenen Exploration des möglichen Forschungsfeldes »Religion« auf.738 Natürlich werden wir immer »etwas« finden – jedoch haben wir weder einen Einblick in die Mechanismen, die zu bestimmten Treffern geführt haben, noch haben wir eine auch nur vage Vorstellung von dem, was noch so »da draußen« auf uns wartet. Webseiten über schon vorhandene Linkverzeichnisse zu lokalisieren, mag das Problem der Kohorteneffekte mit sich bringen; Webseiten werden vermutlich auf ähnliche oder »befreundete« Webseiten verweisen, während andere Adressen unerwähnt bleiben. Um die Reliabilität des Erhebungsinstrumentes zu erhöhen, bietet sich im Kontext religionswissenschaftlicher Recherchen eine Kombination verschiedener Auswahlverfahren an, um ein forschungsrelevantes Feld zu erschließen. Es können also Ergebnisse aus gewöhnlichen Suchmaschinen und spezialisierten Datenbankrecherchen im deep web mit den Listungen systematischer Verzeich737 | Die Suche wurde am 08.10.2010 durchgeführt. 738 | Vgl. Griesbaum & Bekavac 2004, 45-49.
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nisse (wie dem Open Directory Project oder yahoo-groups etc.) verbunden werden. Bei historischen Fragestellungen, die die Genese von Webseiten erforschen will, bietet sich das Internetarchiv an (www.archive.org). Dieses Vorgehen ist natürlich durch vorhandene Forschungsliteratur und die meist aktuellere Tagespresse zu ergänzen. Hinweise von religiösen Akteuren im Feld sind insbesondere für die Einschätzung der Bedeutung verschiedener Internetangebote unverzichtbar. Welche Seite wird zu welchen Zwecken konsultiert? Wie sieht das religiöse Milieu der Nutzer einer bestimmten Webseite aus? Vor allem ist es wichtig, das Auswahlverfahren im methodischen Teil der Untersuchungsberichte möglichst klar zu explizieren – je transparenter der Prozess ist, wie man bspw. eine bestimmte Anzahl von Webseiten im Feld des Neopaganismus für die Analyse ausgewählt hat, desto höher ist die Zuverlässigkeit des Instrumentes und desto einfacher können unerwünschte Selektionseffekte identifiziert werden.
Soziale und kulturelle Auswahleffekte der Religionsrecherche Während die technischen Aspekte der Auswahlverfahren meist Auswirkungen auf die Zuverlässigkeit unserer gesammelten Daten haben, bestehen hinsichtlich der Validität unserer Beobachtungen besondere Probleme in der religionswissenschaftlichen Internetforschung. Wenn wir religiöse Kommunikationsprozesse oder Präsentationen suchen, die einen individuellen Ausdruck religiösen Lebens darstellen, dann sind unsere gewohnten Kategorien der »Mitgliedschaft« in einer Gemeinschaft unangebracht oder fehlleitend. In den vergangenen Jahren wurde zudem vielfach auf die Schwächen des eurozentrischen Konzeptes der »Mitgliedschaft« in Religionsgemeinschaften hingewiesen, da hier offenbar aus den institutionalisierten Formen des Christentums gewonnene Kategorien auf andere kulturelle Hemisphären übertragen wurden. Ohne die Chancen bestreiten zu wollen, mithilfe des Internet einen gewissen Bereich der »unsichtbaren Religion« erfassen zu können, sind die methodischen Herausforderungen der Internetforschung ungleich größer als in der herkömmlichen sozialempirischen Forschung. Indem wir die Suchmaschine mit einem Begriff wie bspw. »Wicca« speisen, wird ein religiöses System im Rahmen technischer Notwendigkeiten definiert – die Suchmaschine verlangt nach klaren Schlagwörtern. Die Auswahleffekte sind bedeutsam, denn in unserem Beispiel würden sich viele heute praktizierende »Hexen« im Kontext des Neopaganismus ausdrücklich nicht als Teil des Wicca (oder gar als »Hexe«) verstehen. Welche Möglichkeiten gibt es nun für die fokussierte Religionsrecherche? Zum einen kann eine entsprechende Suche mit einer Vielzahl von Suchbegriffen ein variantenreiches Sample hervorbringen. Hier sollten nach einer ersten Exploration des Feldes möglichst viele emische Bezeichnungen integriert werden und die Suche sollte durch systematische Kataloge (yahoo groups etc.) ergänzt werden. Da sich einige der im Internet religiös Aktiven jedoch explizit keiner spezifischen Gruppierung zuordnen lassen wollen, ist es nützlich, nicht
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nur geleitet vom Paradigma religiöser Mitgliedschaft her zu operationalisieren, sondern alternativ die religiöse Praxis zu berücksichtigen. In meinem Heidelberger Forschungsprojekt über rezente Ritualdiskurse suchte ich in mehreren Diskussionsforen, die Rituale im Feld von Hexentum, Neopaganismus oder Magie thematisierten, nach Probanden für Face-to-face-Interviews. Die in den Foren platzierte Anfrage richtete sich nicht an »Wicca-Anhänger« etc. (was mir nebenbei die an sich nicht zu lösende Aufgabe ersparte, zu definieren, was ein »echter« Wicca-Anhänger sei), sondern an Personen, die in diesen Foren über Rituale diskutierten und bereit waren, mit mir über diese Rituale zu reden. Im Ergebnis bezeichnete sich knapp die Hälfte der Befragten gar nicht als WiccaAnhänger, sondern als Druiden, Pagane oder neugierige Anfänger. Die Suche nach einer »Hexe« hätte viele der tatsächlichen Diskussionsteilnehmer ausgeschlossen. Auf diese Weise konnten nun wertvolle Erkenntnisse über religiöse Kommunikation, individuelle Ritualpraktiken und die Rezeption traditioneller Vorstellungen gewonnen werden. Die methodische Hinwendung zur religiösen Praxis (statt auf die »Zugehörigkeit« zu religiösen Institutionen) in den Auswahlverfahren mag sich auch als hilfreich erweisen, um die philologisch bedingte Fokussierung auf Glaubensvorstellungen und Dogmen zu relativieren.
Unsichtbare Aspekte der Kommunikation in der Online-Community Ein weiteres Problem der religionswissenschaftlichen Internetforschung besteht darin, dass wir nur eine beschränkte Einsicht in die tatsächlichen Kommunikationsabläufe haben. In den Diskussionsforen können wir bspw. nicht die Aktivitäten der »Gäste« beobachten: Dies sind Nutzer, die nicht als »Mitglieder« registriert sind, nur Beiträge lesen und nicht selber posten. Da einige Foren aktuelle Statistiken auf der Eingangsseite platzieren, die anzeigen, wie viele »Gäste« und wie viele »Mitglieder« gerade online sind, wissen wir jedoch, dass offenbar ein großer Anteil der Besucher eines Diskussionsforums nur passive Leser sind. Entsprechendes ließe sich wohl auch für mediale Plattformen wie Youtube annehmen.
Der mediale Kontext der Internetnutzung Die Nutzung des Internet ist im Allgemeinen nicht isoliert von anderen Medien. Um die Bedeutung des Internet für die religiöse Gegenwartskultur bestimmen zu können, ist es nötig festzustellen, wie viele Menschen das Internet für religiöse Zwecke nutzen, was sie dort tun und schließlich welche Rolle das Internet im Vergleich und in Verbindung mit anderen Medien spielt. Nutzen sie nur religiöse Diskussionsforen? Besuchen sie private und institutionelle Homepages? Verfügen sie selber über eine Homepage zur Präsentation ihrer religiösen Interessen? Welche Aussagen können über die Fluktuation von Mitgliedern ausgewählter Communities gemacht werden? Welche Bedeutung haben die im
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Internet gewonnenen Informationen im Vergleich zu Büchern, Fernsehsendungen, Zeitschriften und natürlich der eigenen religiösen Erfahrung? Erste Schritte in dieser religionsrelevanten Forschung wurden vom Pew Internet and the American Life Project unternommen.739 In ihrer Studie von 2001 konnten sie belegen, dass 25 Prozent der US-amerikanischen Internetnutzer das Medium mindestens einmal bereits für religiöse oder spirituelle Zwecke genutzt hatten. Die meisten hatten das Internet als unermessliche religiöse Bibliothek betrachtet und die aktivsten Surfer auf religiösen Webseiten waren auch die aktivsten Teilnehmer am religiösen Leben ihrer Gemeinden.740 Die zweite Studie von 2004 konnte mit dem an sich bemerkenswerten Befund aufwarten, dass 64 Prozent der Internetnutzer bisher mindestens einmal Dinge unternommen hatten, »that relate to religious or spiritual matters«. Allerdings wurden unter diesen religiös relevanten Tätigkeiten auch Aspekte wie das Versenden oder Erhalten einer Weihnachtskarte per E-Mail oder die Lektüre von Nachrichten mit Religionsbezug verstanden.741 Im Gegensatz zu diesen hohen, religionsbezogenen Indikatoren der Pew-Studie stellte eine repräsentative Studie privater Homepages aus Deutschland fest, dass religiöse Angaben und Inhalte nur auf einem kleinen Bruchteil der untersuchten Seiten Erwähnung finden.742 Stewart Hoover als einer der Mitautoren der Pew-Studie schlägt ebenfalls einen qualitativen Forschungsansatz vor, der die Nutzungsgewohnheiten verschiedener Medien miteinander in Beziehung setzt. In einer Studie in 62 amerikanischen Haushalten hat sein Forschungsteam sowohl die Medienerfahrungen der einzelnen Familienmitglieder als auch ihr Verständnis von Medieninhalten und ihre gemeinsamen Gespräche über Medieninhalte analysiert.743 Eine Fokussierung auf die religiösen Aspekte der kontextorientierten Medienkommunikation muss noch geleistet werden. Allerdings muss an dieser Stelle den vollkommen unterschiedlichen Rezeptionsmustern der Mediennutzer Rechnung getragen werden. In ihrer exzellenten Studie über die Wahrnehmung übernatürlicher Phänomene in populären Medien hat Lynn Schofield Clark verschiedene Rezeptionstypen unter jugendlichen Mediennutzern in Bezug auf alternative, religiöse Inhalte identifiziert.
739 | Vgl. www.pewInternet.org/index.asp (01.08.2010). 740 | Vgl. Larsen 2001, 6-22. 741 | Hoover & Schofield Clark & Rainee 2004, 4-5. Weihnachtskarten und das Erhalten (!) von entsprechenden Wunschkarten als Indikatoren einzubeziehen, lässt die Validität der Daten höchst fragwürdig erscheinen. 742 | Vgl. Misoch, 2004, 155-165. 743 | Vgl. Hoover 2003, 13-15.
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Sie reichen von Bewunderung über Imitation und Skepsis bis hin zu offener Ablehnung.744 Aus meinen eigenen Studien ging hervor, dass neben elektronischen Medien auch Bücher und Zeitschriften eine enorme Bedeutung für die Verbreitung alternativer religiöser Ideen haben. Autorinnen wie Silver Ravenwolf, Starhawk oder die populäre deutsche Hexe Thea offerieren eine Synthese aus neopaganer Esoterik (von Heilsteinen bis zur Astrologie), einer vereinfachten Form des feministischen Wicca und Vorschlägen für das individuelle Ritualdesign.745 Alle meine Interviewpartner besaßen mindestens drei populäre oder spezialisierte Bücher über Hexen, Wicca oder keltische Religion. Wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass amerikanischen Teenager mehr als drei Stunden pro Tag fernsehen und nur 23 Minuten pro Tag mit dem Internet verbringen, so relativiert dies natürlich die Rolle des Internet im Leben Jugendlicher.746 Helen Berger und Douglas Ezzy können aber schlüssig argumentieren, dass das Internet eine zentrale Rolle für religiöse Minderheiten im Verbund mit anderen Medien spielt: »However, the Internet is part of a larger process by which teenage Witches explore and participate in Witchcraft.«747 Es ist unmöglich, die Frage nach der Rolle einzelner Medien für die tatsächliche religiöse Praxis und das religiöse Denken zu beantworten, ohne die individuellen Mediennutzer direkt zu befragen. Was im Rahmen einer rein immanenten Medienanalyse geleistet werden kann, ist die Darstellung der Medien(nutzungs)geschichte einer bestimmten Gruppierung. So wurden in den frühen 1990er Jahren Online-Plattformen für neopagane Religionen und Esoterik, so wie auch andere special interest groups nun Newsletter, Newsgroups und Diskussionsforen einrichteten. Das neue Medium setzte damit die wohlerprobten Kommunikationsmittel der 1970er Jahre auf elektronischem Wege fort. Die weit verstreuten Wicca-Zirkel hatten damals ihre Vorstellungen über Rituale und soziale Themen in Newslettern per Post versandt.
Identität Wie wird religionsbezogene, persönliche Identität in den Medienanwendungen des Internet konstruiert? Auch in diesem Fall könnte eine einfache Antwort 744 | Vgl. a.a.O., 95-180. 745 | Thea hatte früher eine Kolumne in der Astrowoche, in der sie jede Woche neue Rituale präsentierte, und verfügt inzwischen via Internet über ein umfangreiches Beratungs- und Weiterbildungsangebot (http://viktie.de/, 10.10.2010). Starhawk und Ravenwolf sind als Buchautorinnen sehr bekannt (Ravenwolf 2003; Starhawk 1978; Thea 2000). 746 | Aktueller Nielsen Social Media Report (2011), verfügbar unter: http://blog.nielsen.com, 01.09.2011. 747 | Vgl. Berger & Ezzy 2004, 176.
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nicht der tatsächlichen Vielfalt der Möglichkeiten gerecht werden. Per Video auf YouTube, im eigenen Blog, durch eine persönliche Homepage, als Teil sozialer Netzwerke und Foren oder sogar als Avatar in persistenten Spielewelten ist Identität darstellbar. Für die Religionswissenschaft sind die identitätsstiftenden Aspekte von individuellen Homepages und von Profilen sozialer Netzwerke und Foren im Religionsbereich von besonderem Interesse, da hier eine umfassende und meist konsistente Präsentation religiöser Identität vorzufinden ist. Sowohl für die Analyse persönlicher Homepages als auch von Webseiten religiöser Gemeinschaften ist der Einbezug eines kombinierten Methodenapparates zu empfehlen, denn »Videos, Bilder, Texte, Animationen, Verweise auf Blogs und vieles andere erzeugen ein flirrendes Gesamtbild«748. Die Farben, die grafische Gestaltung, die Auswahl der Texte, spezielle Ikonografien und eventuelle Hintergrundmusik und weitere Animationen sind bei religiösen Homepages einzelner Akteure offenbar nicht zufällig, sondern folgen oft einer persönlichen Erfahrung oder Eingebung. Die Analyse dieser Elemente kann die Zuordnung zu identifizierbaren religiösen Strömungen oder Gruppen und die religionsgeschichtliche Kontextualisierung erleichtern.749 Im Rahmen von Diskussionsforen können wir mithilfe statistischer Beobachtungen ziemlich gute Aussagen über die Nutzungspräferenzen von Internetusern machen: Sowohl die Anzahl von Mitgliedern eines Diskussionsforums, die Anzahl von Postings eines Mitglieds und die Zahl der Aufrufe eines bestimmten Beitrages werden meist öffentlich präsentiert. Wer aber sind die Nutzer? Selbst wenn wir die einzelnen IP-Adressen identifizieren könnten (normalerweise haben wir aber nicht diese Kenntnisse), so wäre es schwierig, über einzelne Nutzer eine Aussage zu machen. Denn technisch gesehen, können wir nur einerseits Computer – eventuell stehen diese in einer öffentlichen Bibliothek – oder persönliche Profile zählen. Einzelne Nutzer über ihre Nicknames zu identifizieren, ist insofern problematisch, als dass sie im besten Falle ein idealisiertes Selbst darstellen, im schlimmsten Falle eine vollkommene Fake-Identität.750 Wir wissen nie, wer sich wirklich hinter einem Profil verbirgt. Aus der Internetforschung wissen wir, dass es sehr verbreitet ist, das persönliche Profil unter den jeweiligen Bedingungen aufzubessern. Die große Anzahl potenziell verfügbarer Kontakte erfordert in gewisser Weise, einen einzigartigen und attraktiven Charakter dazustellen – für manche User ist das Internet ein multioptionaler Raum, um spielerisch eigene Facetten der persönlichen Identität zu 748 | Meier 2008, 154. 749 | Ahn weist auf die Vielfalt ikonografischer Aspekte von Internetpräsentationen hin, die sich in künstlerischen Bildwerken, in privaten Fotosammlungen, Andachts- und Meditationsbildern, Architekturabbildungen und Bildern religiöser Kaufobjekte niederschlagen. Vgl. Ahn 2006, 136; Meier 2008, 154f.; Miczek 2009, 408-421. 750 | Vgl. Gallery 2000, 71-75.
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erproben.751 Gender swapping, sich selbst jünger zu machen, die religiöse Biografie aufzuwerten und attraktive Fotografien zu verwenden, kann fast als Normalzustand der Identitätskonstruktion im Internet verstanden werden. Insbesondere im Rahmen der Selbstpräsentation auf persönlichen Homepages tendieren User offenbar dazu, in gegenseitiger Konkurrenz kontinuierlich die Elemente der eigenen religiösen Biografie anzureichern.752 Im Zuge meiner Interviews wurde mir von einem Nutzer eines populären deutschsprachigen Hexenforums berichtet, der hier 15 verschiedene Profile mit Nicknames angelegt hatte. Dieser User hatte eine große Zahl künstlicher Diskussionen unter seinen eigenen Profilen geschaffen – er stellte Fragen und beantwortete diese für Jedermann sichtbar. Als das Spiel aufflog, hielten ihn viele andere Mitglieder innerhalb der Online-Community für geistesgestört. Jedoch folgte dieses Verhalten als sogenannter multiple personality user (MPU) der sozialen Logik des Diskussionsforums. Auf künstliche Weise durch dieses Fake sozialer Beziehungen konnte er zeigen, dass er offenbar ein gefragter Gesprächspartner war. Die Anzahl der geposteten Beiträge, also der soziale Status, waren in diesem Forum symbolisch wiedergegeben, so dass der Nutzer ohne Schwierigkeiten mit dem »goldenen Hexenkessel« ausgezeichnet werden konnte (damals ab 1000 Postings erhältlich). Dieser Bericht ist natürlich nur ein Extrembeispiel, verdeutlicht jedoch die Schwierigkeiten, verlässliche Aussagen über die Nutzer von letztlich anonymen Onlineangeboten zu generieren.753 Diese Probleme der Identifizierung von Profilen/Nicknames als reale Personen zeigen die Grenzen der verführerisch günstigen und schnellen Online-Datenerhebung auf.754 But what is the real meaning of socio-demographic data obtained through, say, a structured on-line questionnaire? What is really happening, for example, when SweetBabe, a regular participant in IRC channel #netsex and one of the hypothetical cases from our survey sample, tells us that her real name is Mary, she’s thirty years old and she works as a secretary? … Even when the design of research does expect some data referring to the real world, it is never correct to accept this data without keeping in mind that obtaining information about someone’s off-line life through on-line means of communication – although seemingly easy and convenient – is always a hazardous, uncertain proce751 | Vgl. Vogelsang 2000, 246-250. Obwohl Online-Identitäten auf den ersten »Blick« unabhängig von dem realen Aussehen, dem Geschlecht, dem Alter und der Ethnie erscheint, hat O’Leary in seiner Studie dokumentiert, dass physische Attribute bei der Konstruktion von Avataren und Fakes eine herausragende Rolle spielen. Vgl. O’Leary 2004, 56-57. 752 | Vgl. Dawson 2000, 32-36; Misoch 2004, 133-137. 753 | Zu den Schwierigkeiten der Identifizierung einzelner Nutzer vgl. Meier 2008, 155f. 754 | Vgl. Dawson 2000, 29-31.
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D IE MEDIALE R ELIGION dure, not simply because of the risk of being deliberately deceived but also because in such cases the medium itself increases the lack of ethnographic context …755
Einige Forscher wie Heidi Campbell, Andreas Ackermann und Stephen O’Leary fordern daher, die verschiedenen Feldzugänge miteinander zu kombinieren. O’Learys sozialempirische Studie erforscht, wie religiöse Akteure ihr rituelles Wissen in der Praxis umsetzen, welche Bedeutung die einzelnen Rituale für sie haben und auf welche Weise sie an Online-Ritualen partizipieren.756 Andere Forscher wie Helen Berger, Douglas Ezzy, Mia Lövheim, Alf Linderman, Stewart Hoover, Göran Larsson und Nadja Miczek können sogar schon auf einige wertvolle Ergebnisse ihrer kombinierten Forschungsmethoden aus Analysen von Online-Inhalten, Beobachtungen und Interviews verweisen, teils weil sie insbesondere den Umgang spezifischer Gruppen mit dem Internet studieren wollten, teils weil die Untersuchungen im Rahmen ethnografischer Publikumsforschung angesiedelt waren.757 Die religiöse Kommunikation und Repräsentation im Internet ist Teil eines reziproken Prozesses, ernsthaft und dauerhaft personale Identität zu konstruieren und kann daher nicht losgelöst vom alltäglichen sozialen Leben und den dortigen Lebenserfahrungen betrachtet werden: »… [P]revious research into these issues makes it clear that we need to approach the construction of identity in relation to online interaction as a process situated in the structuring conditions of the offline as well as the online context.«758 Wenn man all die Unsicherheiten reiner Online-Erhebungen berücksichtigt, so ist klar, dass auf dieser Grundlage kaum verlässliche Aussagen über religiöse Motive und Verhaltensweisen der Internetnutzer selbst gewonnen werden können. In Verbindung jedoch mit klassischer Feldforschung – von standardisierten Umfragen bis hin zu Beobachtungen und biografischen Interviews mit Usern und Webmastern – kann viel gewonnen werden.
Die virtuelle Gemeinschaft und die Entbettung sozialer Interaktion Die Fragen nach den neuen Formen religiöser Vergemeinschaftung und den Vermittlungsprozessen des gesellschaftlichen Wissensvorrates via Internet bilden wohl die größten Herausforderungen für religionswissenschaftliche und wissenssoziologische Theoriebildung unserer Zeit. Diese Fragen sind eng verknüpft mit den Ausgangspunkten der soziologischen Religionstheorie bei Durkheim und Weber. Emile Durkheim hat in seinen 1912 erschienenen Stu755 | Paccagnella 1997, 4. 756 | Vgl. Ackermann 2000, 287-289; O’Leary 2004, 48-49. 757 | Vgl. Berger & Ezzy 2004; Lövheim 2004a, 48, 97-99; Vgl. Linderman & Lövheim 2003, 233-238; Hoover et al. 2004, 11-17. 758 | Lövheim 2004b, 61. Vgl. a.a.O., 60-67, 71-72.
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dien über die elementaren Formen des religiösen Lebens eine für die Religionsund Sozialtheorie wirkungsreiche Definition von Religion entworfen. Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verborgene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.759
Auf der Basis seiner Analysen des australischen Totemismus gelangt Durkheim zu der Einsicht, dass das religiöse Leben mit seinen Symbolen und Ritualen ein Spiegel der Gesellschaft sei – sie sei »im Wesentlichen eine kollektive Angelegenheit«.760 Auch Max Weber versteht Religion als »Bedingung und Wirkung einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln«, dessen Verständnis sich erst vom subjektiv gemeinten Sinn her erschließt.761 Das Internet stellt damit sowohl den strukturorientierten Ansatz Durkheims als auch Webers handlungstheoretische Fragestellung vor neue theoretische Probleme. Wie verändert sich das religiöse Leben und Handeln des Einzelnen und in Bezug auf die Gesellschaft, wenn Wissen über alle Religionen schnell und einfach verfügbar ist? Welche Folgen hat das Internet für die Bildung von religiösen Gemeinschaften und für die Entwicklung bestehender Gemeinschaften? In welchem Verhältnis stehen individuelle Erfahrungen und deren subjektive Deutungen zum gesellschaftlichen Wissensvorrat? Wie verändert sich der Aneignungsprozess von rituellem Wissen, der bisher meist an die Teilhabe am religiösen Leben einer Gemeinschaft gebunden war? In seinem breit rezipierten Werk Konsequenzen der Moderne (1990) identifiziert Anthony Giddens als übergreifendes Kennzeichen der Moderne die Entbettung (disembedment) sozialer Interaktion von ihren zeitlichen und räumlichen Bedingungen. Seit dem Beginn der Moderne wird der soziale Raum, so Giddens, in zunehmendem Maße unabhängig vom konkreten Ort. Soziale Interaktion bezieht Partner ein, die nicht den gleichen geografischen Ort teilen und die über große Distanzen eventuell zeitversetzt miteinander kommunizieren.762 Auf drei Ebenen hat diese Entbettung sozialer Interaktion Relevanz für religiöse Gemeinschaften: für die Kommunikation von Anhängern bestehender Gemeinschaften mit einem hohen Institutionalisierungsgrad, für Diasporareligionen und für alternative Formen von Religiösität mit bisher geringem Institutionalisierungsgrad.
759 | Durkheim 1994, 75. 760 | Durkheim 1994, 75. 761 | Vgl. Weber 1980, 245; Dawson 2004, 75-76. 762 | Vgl. Giddens 1997, 33-43.
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Das Internet als komplementäres Kommunikationsforum Im Fall von bereits stark institutionalisierten Gemeinschaften eröffnet das Internet den engagierten Anhängern von bspw. christlichen Kirchengemeinden die Möglichkeit, sich über theologische und aktuelle Fragen auszutauschen und diese vertieft zu diskutieren. Das normale Gemeindeleben bietet hierfür nur bedingt einen sozialen Raum: Die Gottesdienste und kirchlichen Feste sind nicht auf eine wechselseitige Gesprächsform hin angelegt und sonstige gemeinschaftliche Unternehmungen (vor allem Jugend- und Frauengruppen) sind nicht unbedingt auf theologiebezogene Diskussionen ausgerichtet. Spezielle Gesprächskreise erfordern zudem eine gewisse Gemeindegröße, um eine beständige Zahl an teils auch akademisch vorgebildeten Teilnehmern zu gewährleisten. Dies alles können überregionale Internetforen wie mykath.de mit mehreren hunderttausend Beiträgen bieten. Auch können in diesem Rahmen Gesprächspartner für Spezialthemen gefunden werden, die in der örtlichen Kirchengemeinde vielleicht nur bei Einzelnen Interesse finden würden. Die zeitversetzte Kommunikation ermöglicht auch den Berufstätigen und den jungen Eltern eine Teilhabe an der Diskussion, die ansonsten aufgrund der Alltagsverpflichtungen vollkommen von diesen Angeboten ausgeschlossen wären. Sind nun diese sozialen Netzwerke und Kommunikationsforen als neue Form einer religiösen Gemeinschaft zu verstehen? Der bisherige Befund deutet darauf hin, dass diese Angebote als Ergänzung zum Gemeindeleben aufgefasst werden: »People use the Internet in ways that are in continuity with or augment their offline social lives.«763 Vertiefte Diskussionen zu theologischen Themen waren bisher fast ausschließlich im universitären Milieu möglich. Bücherlesungen und organisierte Diskussionsabende bilden eher eine Ausnahme. Das Internet füllt hier eine bestehende Lücke. Neben dem meist an praktischen Fragen orientierten Diskurs in den Kirchengemeinden (zu Konfirmation, Katechese, Gemeindeverwaltung) und dem universitär-theologischen Diskurs erscheint mit den Kommunikationsforen und sozialen Netzwerken im Internet ein beständiger Laiendiskurs zu religiösen Fragen innerhalb und an den Rändern der christlichen Großkirchen. Freikirchen wie bspw. die höchst erfolgreiche International Christian Fellowship aus Zürich können offenbar auf ein größeres Potenzial an engagierten Mitgliedern zurückgreifen, organisieren wöchentliche Gesprächszirkel und nutzen das Internet wohl eher für den Austausch von Informationen und Networking (Facebook-Präsenz). Die ausgemachte Tendenz, dass sich Kommunikationsplattformen des Internet komplementär zu den herkömmlichen Gemeindestrukturen verhalten, muss im Einzelfall jedoch differenziert betrachtet werden. Aus den aktuellen Studien zur religiösen Praxis im Kontext des Iran können wir beobachten, wie sich gerade auch die aus dem theologischen Diskurs ausgeschlossene Gruppe 763 | Dawson 2004, 79. Vgl. auch Dawson 2004, 77-81.
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der Frauen im Internet ohne Vorbehalte einbringen kann. Auf den iranischen, sozialen Onlinenetzwerken entstehen ganz offensichtlich parallele Gemeinden, auf denen sich die Glaubensanhänger gegenseitig mit Gebeten, Reflexionen und Erinnerungen an die Verpflichtungen zu den Feiertagen unterstützen. Hier entstehen neue soziale Strukturen, die denen der herkömmlichen islamischen Gemeinden im Iran nicht entsprechen.764
Das Internet als Rückbindung: Religionen in der Diaspora Die zweite Ebene der Entbettung betrifft Religionen in der Diaspora, die jedoch in verschiedener Weise das Internet nutzen, was am Beispiel der Parsen, der Hindu-Traditionen und der afroamerikanischen Religionen demonstriert werden soll. Die Gemeinschaft der Parsen, den Anhängern des Propheten Zarathushtra, sind heute hauptsächlich in Indien, im Iran, in Pakistan und der Diaspora Großbritanniens, Kanadas und den Vereinigten Staaten angesiedelt. Die von einem Laien kreierte Seite www.zarathushtra.com enthält sich jeglichen Angaben zur institutionellen Struktur der Parsengemeinschaft und offeriert stattdessen einen Zugang zu zentralen religiösen Texten (den Gathas als Teil des Avesta), versehen mit einer Einleitung, einigen wissenschaftlichen Artikeln und allgemeinen Informationen zur zoroastrischen Religion. Grußkarten und eine Galerie mit zoroastrischen Motiven übertragen den herkömmlichen Bilderkult in eine elektronische Form. Darüber hinaus weist die rituelle Dimension dieser Webseite jedoch schon seit 2001 einen sogenannten Cyber-Temple of Zarathushtra auf, der eine Pilgerreise zu drei Arten von offenen Feuertempeln der Parsen zulässt. Vor dem Eintritt in die Tempel wird der Besucher aufgefordert, eine angemessen respektvolle Haltung einzunehmen. Weit davon entfernt im Einklang mit traditionellen Feuertempeln zu stehen, kombiniert der Cybertempel frei ikonografische Elemente wie ein Zarathushtra-Bild mit einem Relief aus dem antiken Palast von Persepolis. Da der Zoroastrismus heute eine Diaspora-Religion mit Anhängern auf der ganzen Welt ist und da gleichzeitig eine Reihe verschiedener Editionen und Übersetzungen ihrer ursprünglichen, religiösen Texte existieren, spielt das Internet eine zentrale Rolle bei der Verbreitung dieser Skripte und der exegetischen Kommentare. Auch finden sich umfangreiche Informationen zu den Ritualen der Parsen (www.avesta.org). Daneben bietet das 1999 gegründete Online Journal Vohuman (www.vohuman.org) eine Reihe wissenschaftlicher Artikel aus der Zoroastrismusforschung. Für diese quantitativ sehr kleine Gemeinschaft von weniger als 200.000 Anhängern weltweit hat das Internet daher eine integrative Kraft, die zwar keine neue Cyber-Community stiftet, jedoch
764 | Mohammed Taghi Abbasi (Universität Shiraz, Iran) führt seit 2009 eine entsprechende Studie als Dissertationsprojekt durch.
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einen gewissen Zusammenhalt und Austausch der weltweit verstreuten Parsen erleichtert.765 Berücksichtigt man, dass in den außerchristlichen Religionen die rituelle Dimension stärkeres Gewicht hat als die dogmatische und die institutionelle Struktur, so wird es nicht überraschen, dass Hindus offenbar andere Präferenzen in der religiösen Nutzung des Internet aufweisen. In den Hindu-Traditionen ist das zentrale Ritual des Alltags wie auch der religiösen Feste die puja, das Opfer von Blumen, Feuer oder Speisen für die verehrten Gottheiten. Die indischen Migranten in Großbritannien, Australien, den Vereinigten Staaten und Südafrika, die im vergangenen Jahrhundert auswanderten, fühlen sich häufig noch in enger Verbindung mit ihren kulturellen und religiösen Wurzeln. Aufgrund der Vorstellung, dass die Wirksamkeit von pujas an mythischen Orten und besonderen Tempeln größer sei, ist die Entscheidung, wo eine puja durchgeführt wird, wesentlich. Eine ganze Reihe von puja-Dienstleistern haben sich daher im Internet im vergangenen Jahrzehnt etabliert, um dieser Nachfrage zu entsprechen. Auf diese Weise ist es Hindus auf der ganzen Welt möglich, eine puja für individuelle Anlässe für eine ausgewählte Gottheit an einem indischen Heiligtum zu bestellen. Der Anbieter Saranam.com (www.saranam.com) vermittelt systematisch aufgeschlüsselt pujas in über 200 Tempeln in ganz Indien, pujas für besonders beliebte Gottheiten (Shiva, Vishnu, Shakthi, Ganesha, Murugan) und spezielle pujas für Kinder, Hochzeiten, Gesundheit und Reichtum. Während das Internet ein bedeutender Faktor als Kommunikationskanal für Parsen und Hindus geworden ist, ist die Einschätzung, dass es sogar Vorbedingung für das Revival afrokubanischer Religionen in den Vereinigten Staaten war, vermutlich nicht übertrieben. Die Religion des Santería ist eine Synthese katholischer Heiligenverehrung vermischt mit Elementen der afrikanischen Yoruba-Tradition (Regla de Ocha, Lukumí) und der kongolesischen Tradition (Regla Conga). Nach der kubanischen Revolution von 1958 wurde Yoruba durch die amerikanische Exilgemeinde auch in den Vereinigten Staaten populär. Da die meisten religiösen Experten weiterhin in Kuba ansässig sind, eröffnete das Internet die Möglichkeit, sich über Fragen der Rituale und Glaubensvorstellungen auszutauschen. Auch werden über das Internet Reiseangebote offeriert, entweder für Schüler, die initiiert werden wollen, oder für Priester (Babalaos), die für besondere Anlässe buchbar sind. Die entsprechenden Webseiten sind meist durch kommerzielle Angebote (Bücher, DVDs, Ritualzubehör, »heilige Pflanzen«) geprägt.766 Es schließt sich die Frage an, inwiefern diese global verfügbare Präsentation der afrokubanischen Religionen auch über die angestammten Migrationsgebiete hinaus rezipiert wird und dadurch eine von Mi-
765 | Vgl. Stausberg 2002, 351. 766 | Vgl. www.orishanet.org oder www.eleda.Org (01.10.2010).
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grationsströmen weitgehend unabhängige Santería-Rezeption z.B. in Europa oder Australien ermöglicht.767 Diese wenigen Beispiele demonstrieren die Vielfalt der Kommunikationsformen von Religionsanhängern in einer Diasporasituation. Viel grundlegender stellt sich jedoch angesichts dieser Phänomene global organisierter, religiöser Kommunikation die Frage nach der theoretischen Leistungsfähigkeit von der religionswissenschaftlichen Diasporakonzeption. Folgt man Giddens Idee der Entbettung, dann ist die Diaspora eine vormoderne Erscheinung. Wenn Kommunikation und damit gewisse Formen gemeinschaftlicher Identität geografisch entbettet sind, so hat dies Konsequenzen für die Genese neuer Sozialformen der Religion. Es müsste systematisch geprüft werden, ob die kostengünstige Möglichkeit der beständigen, weltweiten Kommunikation der verstreuten Anhänger einer Gemeinschaft untereinander die bisherigen kulturellen Identitätskonstruktionen verstärken. Eventuell hat dies einen Einfluss auf das Verhalten in der Minderheitssituation, die sich von bisherigen Diasporagenerationen unterscheiden wird. Trotz dieser Entbettungsphänomene darf nicht übersehen werden, dass die gemeinsame Sprache die wichtigste Voraussetzung für die Etablierung eines religiösen Kommunikationsraumes ist, selbst wenn vereinzelt, wie im Fall der Santería, kommerziell ausgerichtete Angebote in englischer Sprache gestaltet werden.
Das Problem von Ritualwissen und Ritualkompetenz am Beispiel des Wicca Die dritte Ebene der von Giddens entworfenen Idee der Entbettung können wir im medialen Religionsbereich auf religiöse Traditionen beziehen, die im Vergleich zu den etablierten und privilegierten christlichen Großkirchen nur über wenige Anhänger verfügen. Am Beispiel des gegenwärtigen Wicca soll gerade im Hinblick auf die Vermittlungsprozesse von rituellem Wissen die Ambivalenz der heutigen Entwicklungen aufgezeigt werden. Denn weder kann dieser Prozess nur als Verfestigung einer alternativen, neopaganen Cybercommunity beschrieben, noch das gesamte Phänomen einseitig als Individualisierungsprozess bestimmt werden. Die Vermittlung von rituellem Wissen und ritueller Kompetenz ist gewöhnlicherweise in die feste Sozialstruktur der Lebenswelt eingebunden. Der Erwerb 767 | Auch müssen bei der Verbreitung von Santería-Angeboten im Internet die kommerziellen Aspekte berücksichtigt werden. Eine Seite, die gleichzeitig Ritualutensilien für Praktizierende des Wicca und des Santería anbietet, muss nicht zwingend ein Beleg für einen religiösen Synkretismus sein. Es kann auch das Ergebnis einer Aufmerksamkeitsstrategie sein, die die Seite über das Doppelangebot attraktiver macht. Wirth & Schweiger (1999) diskutieren im Detail diese Aufmerksamkeitsökonomie des Interntet. Vgl. z.B. Witchcraft Supply unter: www.neworleansmistic.com (01.10.2010).
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ritueller Kompetenz impliziert damit auch die Übernahme eines kollektiv verbindlichen Systems von Werten und Normen.768 Die rituelle Kompetenz ist im religiösen Kontext daher das Ergebnis eines Lernprozesses innerhalb einer Gemeinschaft, die die regelmäßige Teilnahme an Ritualen erfordert und somit graduell in ein spezifisches Ritualwissen einführt; konkret also stellt sich die Frage, welche sprachlichen Akte, körperlichen Handlungen und Kleidungsvorschriften zu einem bestimmten Anlass und Zeitpunkt zu beachten sind. Normalerweise wird dieses Wissen von einer institutionalisierten Hierarchie von religiösen Spezialisten kontrolliert. Es ist daher kein Zufall, dass die Internetforschungsgruppe des Sonderforschungsbereiches Ritualdynamik der Universität Heidelberg in ihrer ersten Phase die Kommunikation von Ritualen im Bereich des Wicca und Neopaganismus untersuchte.769 Im Zentrum des traditionellen Wicca steht das gemeinsame Erlebnis von rituellen Handlungen, »… among contemporary neo-pagan and Wiccan groups, ritual is central to both religious worship and creative expression.«770 Wie also verändert das Internet die Vermittlung von rituellem Wissen in kleineren Bewegungen wie dem Wicca, wenn nun unabhängig von Alter, Bildung, Geschlecht und spezifischen persönlichen Qualitäten der Zugang zu den entsprechenden Wissensbeständen offenbar ohne Barrieren möglich ist? Ist das Internet in diesem Zusammenhang ein vollkommen demokratisches und antihierarchisches Medium, das die Ideale von Freiheit und Gleichheit verwirklicht, wie es frühe Visionäre wie Howard Rheingold vor beinahe 20 Jahren prophezeiten?771 Der Begriff des Wicca bezeichnet heute eine Reihe miteinander verwandter neopaganer und esoterischer Bewegungen und Gruppen, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, ihren Ursprung jedoch auf die vorchristlichen keltischen, germanischen und griechischen Kulte und Mythologien zurückführen. Die Bezeichnungen The Old Religion oder The Craft verweisen auf dieselben Traditionen. Gerald Brosseau Gardner (1884-1964) gilt als Gründervater der modernen Wicca-Bewegungen, wenn auch einige seiner Schüler nach kurzer Zeit eigene Zweige des Wicca entwarfen. Gardner wurde einer breiten Öffentlichkeit durch seine provozierenden Buchveröffentlichungen wie High Magic’s Aid 768 | Vgl. Goffman 1967; Schütz & Luckmann 1994, 154-172, 293-313; Habermas 1981, 182-228. 769 | Die erste Forschungsphase dauerte von 2002 bis 2005. Kerstin Radde-Antweiler hat hier Prozesse von Ritual-Design im rezenten Hexendiskurs auf individuellen Homepages betrachtet, ich selbst befasste mich vor allem mit dem Austausch über Rituale in entsprechenden Diskussionsforen. Vgl. Radde-Antweiler 2008 und http://rituals-online.uni-hd.de/de/project (01.10.2010). 770 | Magliocco 1996, 93. 771 | Vgl. Rheingold 1994.
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(1949) oder Witchcraft Today (1954) bekannt. Andere Praktizierende des Wicca mieden daraufhin Gardner, da er gegen das Geheimwahrungsgebot verstoßen habe. Einer der Schüler Gardners, Alexander Sanders (1926-1988), reformierte später die Ritualentwürfe seines Lehrers und begründete die Alexandrinische Richtung des modernen Wicca, die sich in den Ritualen stärker an Logentraditionen und der jüdischen Kabbalah orientiert. Wir können davon ausgehen, dass die wichtigsten Wicca-Traditionen in den 1960er und 1970er Jahren von Großbritannien aus in die Vereinigten Staaten gelangten, als insgesamt auch zahlreiche neue Zweige mit neuen Ideen entstanden. Das sogenannte Dianic Wicca wurde 1970 in den USA begründet, als Zsuzsanna Emese Budapest (*1941) den ersten reinen Frauen-Coven ins Leben rief. Anders als die vorhergehenden Traditionen wird hier unter feministischen Vorzeichen die römische Göttin Diana verehrt.772 Im Allgemeinen ist das Weltbild der Wicca-Anhänger durch die Balance zwischen der männlichen und weiblichen Polaritäten geprägt, die als Gott und Göttin verkörpert sind. Obwohl griechische Gottheiten wie Hekate, Hermes, Zeus und Diana oder keltische und seltener germanische Gottheiten verehrt werden, sind sie in den meisten Traditionen stets egalitär konzipiert: Männlichen und weiblichen Gottheiten wird die gleiche Aufmerksamkeit zuteil. Diese Balance wird in der Regel durch ein ausgeglichenes Verhältnis von Männern und Frauen in den Covens symbolisiert, die aus maximal zwölf männlichen und weiblichen »Hexen« bestehen. Das Dianic Wicca bildet daher eine Ausnahme. Die magische Praxis spielt in allen Traditionen eine größere Rolle als die Debatte über dogmatische Glaubensinhalte. Die gebräuchlichsten Rituale sind wahrscheinlich die Verehrung des Mondes (drawing down the moon), die Verehrung von Gott und Göttin, einige Übergangs- und Initiationsrituale sowie Rituale zu den Feiertagen im Jahresverlauf (sabbats) wie das keltische Samhain und magische Rituale, die für weltliche Zwecke eingesetzt werden.773 In den vergangenen 15 Jahren erfuhr die Wicca-Bewegung einen großen Wandel. Vormals eine zahlenmäßig übersichtliche Bewegung auf der Basis geschlossener Hexenzirkel, weckten nun international verbreitete Fernsehserien wie Buffy the Vampire Slayer (1997-2003), Charmed (1998-2006), und Sabrina (1996-2003) sowie die Harry-Potter-Romane und -Filme (1997-2011) ein breites Interesse an magischen Praktiken und ferner eben auch der Wicca-Religion selbst.774 Autorinnen wie Starhawk (Miriam Simos), Silver RavenWolf oder die deutsche Hexe Thea bieten den Lesern eine Mischung aus Erklärungen zu magischen Praktiken (von Heilsteinen bis zu Astrologie), Grundlagen weiblich 772 | Einen historischen Überblick des modernen Wicca bieten: Adler 1987; Lewis 1996; Rensing 2007, 67-85. 773 | Vgl. Adler 1987; Rensing 2007, 260-280; Fischer 2007, 77-97. 774 | Vgl. Schofield Clark 2003, 47-74.
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orientierter Spiritualität und konkreten Ritualentwürfen für allerlei weltliche Zwecke (Geld- und Liebeszauber etc.).775 Diese Popularisierung hatte auch immense Auswirkungen auf die Sozialstruktur des Wicca. Schon von Beginn des modernen Wicca an hat sich ein Teil der Praktizierenden als sogenannte solitaries verstanden, die sich keiner besonderen Richtung zugehörig fühlten und meist nur sporadisch in Verbindung mit einem Coven standen. In ihrer magischen Praxis beziehen sie sich auf Quellen aus unterschiedlichen Richtungen, innerhalb der Wicca-Bewegung wird allerdings eine Kontroverse zwischen den Covens und den freien Anhängern darüber geführt, wer den Begriff »Wicca« für sich reklamieren darf. In neueren Studien wird geschätzt, dass ca. 50 Prozent der engeren Wicca-Anhänger diese Religion »frei« praktizieren, wobei jedoch ein großer Teil der heutigen solitaries mehr oder weniger intensive Erfahrungen in einem Coven gesammelt hat.776 Die Präsenz des Wicca auf dem Internet erlaubt es nun, einerseits Zeugnisse dieses Individualisierungstrends und andererseits neue Formen von Vergemeinschaftung und Normierung zu erfassen. Auf der umfangreichen Homepage der amerikanischen Hexe Isamara wird Cyber Wicca als eine neue Tradition unter den zahlreichen schon bestehenden Schulen eingeführt: Cyber Wicca is less of a tradition, than in the traditional sense of the craft. The Internet is the ultra-modern age of Wicca, and more and more people are turning to it in their quest to practice The Old Religion. It is the ideal medium for the solitary or eclectic practitioner, to learn from and communicate with others in the craft. It is also ideal for those people unable to meet with and practice with others, and indeed for those who for various reasons, need to remain anonymous. There are now many groups on the Internet that take part in live play and group rituals. This is accomplished through synchronized live imagery and the typed word. When you think about it, magic holds no boundaries, a person practicing in England using the same tools, method, and intent, synchronized with a person in America, should and now do, work together in common goals.777
Der Wandel des vormals streng hierarchisierten Wicca durch das Internet wird an diesem emischen Zitat sehr anschaulich. Der Erwerb von ritueller Kompe775 | Richtungsweisend war Starhawks Werk Der Hexenkult als Urreligion der großen Göttin (Orig. 1979). Lebensnah ausgerichtet sind die Bücher Theas: Hexenwissen. Beschwörungen und Hexenrituale für ein glückliches Leben (2005), Die große Hexenschule – der komplette Lehrplan für junge Hexen (2003). Die Bücher von Silver RavenWolf sind bei Einsteigern sehr beliebt: Zauberschule der neuen Hexen (2004), Das Zauberbuch der freien Hexe (2004), Die schützende Kraft der Engel im täglichen Leben (2004). Vgl. dazu auch Fischer 2007, 189-192. 776 | Vgl. Lewis 1996, 86-87; Rensing 2007, 99f.; Berger 1999, 82-100. 777 | Vgl. http://wiccachile.tripod.com/moon/otherhtm (07.08.2004).
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tenz wird zum Teil losgelöst von der notwendigen Initiation und Unterweisung durch eine soziale Gemeinschaft. Die Ritualgemeinschaften des Cyber Wicca konstituieren sich nicht über die kollektive Performanz von Ritualen, sondern über die Kommunikation und den Austausch über Rituale. Dieser strukturelle Aspekt des Cyber Wicca wird noch deutlicher am Ritual der Selbstinitiation, das 1997 vom Wicca-Anhänger David Sands entworfen wurde und das heute auf vielen Wicca-Webseiten rezipiert wird. Dieses Ritual für den ausschließlich individuellen Gebrauch schließt mit einer besonderen Formel, die gewöhnlich vom Hohepriester oder der Hohepriesterin des Coven gesprochen wird: 11. Now say to yourself: »I am reborn. I am a Witch. I am a Priest/ess.« Rise to your feet and say as loud as is safe bearing in mind that sound carries: »I AM A WITCH«778
Auf diese Weise ist das entscheidende Kennzeichen der Initiation nicht mehr die Zustimmung der Gemeinschaft der Hexen, sondern die selbstbestimmte, subjektive Einschätzung der spirituellen Reife. Das rituelle Sonderwissen einer Initiation wird nicht mehr von einer sozialen Hierarchie kontrolliert und ist frei verfügbar. Wenn auch dieses Extrembeispiel der Selbstinitiation, das innerhalb des Wicca übrigens umstritten ist, die Rolle des Internet für die religiöse Individualisierung belegen mag, so können wir allerdings gleichzeitig Phänomene beobachten, die die Entstehung neuer Formen von Gemeinschaft, Hierarchie und ritueller Normativität begünstigen. Seit den frühen 1990ern wurden über das Internet elektronische Newsletter, Newsgroups und Diskussionsforen im Bereich des Neopaganismus installiert, so wie auch tausende anderer, marginaler special interest groups Gleichgesinnte über große Entfernungen vernetzen konnten.779 Die Vorteile liegen auf der Hand: Practitioners of nontraditional religions can run a considerable risk by publicly declaring their allegiances in communities hostile to non-Christians; the network afforded an opportunity to meet with like-minded others and engage in religious activity without ever leaving one’s home or alerting one’s neighbors to one’s non-conformity.780
Das gemeinsame Interesse an Traditionen oder Praktiken des Wicca führte in der Folge zu stabilen, computergestützten sozialen Netzwerken (computer-supported social networks, CSSN).781 Beständig sind diese Communities offenbar jedoch nur mittelfristig, denn durch persönliche und wirtschaftliche Entwick778 | Vgl. www.braided-web.net/dedication.html (01.10.2010). 779 | Vgl. zum Bereich der Junghexen: Berger & Ezzy 2004, 186f. 780 | O’Leary 2004, 46. 781 | Vgl. Wellman & Salaff 1996, 213-220.
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lungen des letztlich alleinverantwortlichen, einzelnen Betreibers eines Forums kann ein Webangebot auch abrupt verschwinden. Dies geschah bspw. mit dem größten deutschsprachigen Webring im Bereich der neopaganen Esoterik, dem »Magischen Knoten« (www.amanita.de) mit über 8000 vernetzten Homepages um das Jahr 2004.782 Andere Foren wie das Hexenboard (www.hexenboard.de) oder das Wurzelwerk (http://forum.wurzelwerk.at) bestehen weiter. Andererseits können wir offenbar auch eine hohe Fluktuation unter einem Großteil der Mitglieder eines Forums ausmachen. Aus meinen Interviews ergab sich zudem, dass die aktive Teilnahme am Forum nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der individuellen Praxis sowohl der solitaries als auch der Covenmitglieder verstanden wird. Fast alle Befragten waren sehr daran interessiert, via Internet Gleichgesinnte in der Nähe zu treffen und mit ihnen gemeinsame Rituale und Jahresfeste zu feiern, was die meisten auch schon in die Tat umgesetzt hatten. Die Forenbetreiber organisieren ebenfalls regelmäßig Treffen der User im realen Leben und unterhalten eine Rubrik mit dem Verzeichnis lokaler Hexen- und Heidenstammtische.783 Die Foren selbst sind sozialstrukturell stark hierarchisiert: Zum einen gibt es normale User, zum anderen die Webmaster und Moderatoren, die über besondere Kontrollprivilegien verfügen. Aus den Informationen meiner neopaganen Interviewpartner wurde deutlich, dass die Rolle der diskursiven Macht der Moderatoren und Webmaster wohl unterschätzt wird, zumal einige Kommunikationsakte für eine spätere Inhaltsanalyse der Foren unsichtbar bleiben. Moderatoren können Beiträge von einer thematischen Sektion in einen anderen Bereich verschieben; sie können Diskussionen blocken, so dass sie nicht fortgeführt werden können, und sie können auch komplette Diskussionen löschen. Einer meiner Interviewpartner berichtete, dass es eine lebhafte Diskussion über Engel in einem neopaganen Hexen-Diskussionsforum gab. Nach einigen Tagen griff der Webmaster ein und löschte die gesamte Diskussion mit dem Hinweis, dass das vermeintlich christliche Thema der Engel hier fehl am Platze sei. Wer also »Mitglied« in einer Online Community sein möchte, der muss sich den kommunikativen Regeln der Webmaster und Moderatoren anpassen. Moderatoren kann man ohne Übertreibung als Könige der Foren bezeichnen, die weitgehend nach eigenem Gutdünken »schalten und (ver-)walten« können, zumal sie im Religionsbereich freiwillig und ohne Entgelt tätig sind und ohne dass es »harte«, professionelle Richtlinien für ihre Arbeit gäbe, wie etwa in einem wissenschaftlichen Forum von Physikern. Auch die Gruppe der normalen Nutzer eines Forums ist durch eine hierarchische Ordnung strukturiert – die Anzahl der geschriebenen Beiträge wird 782 | Das Folgeangebot unter derselben Adresse ist eine konventionelle Homepage. 783 | Entsprechend der Befund von Berger & Ezzy 2004, 186f.; vgl. hierzu auch Shah & Kwak & Holberg 2001.
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nicht nur numerisch neben dem Nickname für jeden sichtbar angegeben, sondern diese Angaben werden auch symbolisch inszeniert. Im Design des aktivsten deutschsprachigen Hexenforums, dem Hexenboard, war dies in der Vergangenheit eine grafische Skala vom »blechernen Hexenkessel« bis zum »goldenen Hexenkessel«; heute sind es verschiedene Darstellungen von Raben. Durch die Kommunikationswissenschaftler Watzlawick, Beavin und Jackson wissen wir, dass menschliche Kommunikation stets einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt aufweist.784 Neben der inhaltlichen Ebene, die im konkreten Fall dann durch Rhetorik oder wertende Äußerungen soziale Beziehungen im kommunikativen Prozess ausdrücken kann, spielt die symbolische Präsentation der diskursiven Agency der Teilnehmer eine wichtige Rolle bei der Verteilung von sozialem und religiösem Status in der Community. Ein neu angemeldeter Nutzer des Forums wird automatisch und ohne, dass er gefragt wird, in ein graduiertes System ritueller (oder kommunikativer) Kompetenz eingegliedert, analog dem Prozess, durch den ein Neuling in einen Wicca-Coven eingeführt wird. In diesem speziellen Fall der Hexenforen wird die Struktur der real-sozialen Gemeinschaften auf die Online-Community übertragen – mehr noch: Hier müssen sich auch die Solitaries in die Hierarchie der Gemeinschaft einfügen. Diese Hierarchisierungen haben gemäß meinen Interviewpartnern einen großen Einfluss darauf, ob einzelne Beiträge von der Community ernst genommen werden oder ignoriert werden. Die Normativität von Ritualvorstellungen, die hier diskutiert werden, ist das Ergebnis eines komplexen Aushandlungsprozesses, in der der »soziale Status« der kommunizierenden Mitglieder einer Gemeinschaft eine entscheidende Rolle spielt.
Entbettung als relationales Schema Den Prozess, den Anthony Giddens schon zu Beginn der 1990er Jahre als Entbettung bezeichnet hat, kann ohne Weiteres viele der sozialen Aspekte der Kommunikation im Medium Internet beschreiben. Die drei für die Religionstheorie interessanten Ebenen der räumlichen und zeitlichen Entbettung wurden an den Beispielen von Kommunikationsforen christlicher Großkirchen, von Religionsanhängern in Diaspora-Situationen und der Wicca-Gemeinschaft als Exempel einer zahlenmäßig kleinen Bewegung illustriert. Dabei zeigte sich, dass das theoretische Konzept der »Entbettung« nur als relationales Schema sinnvoll angewendet werden kann. Die beobachtete Entbettung muss stets zum ganzen Spektrum bestehender und neu entstehender Sozialformen der Religion in Beziehung gesetzt werden. Denn ganz unterschiedliche Konsequenzen können sich auf der Ebene der Sozialstruktur und Gemeinschaftsbildung abzeichnen. Im Falle der hoch frequentierten Diskussionsforen der christlichen Großkirchen bedeutet die Entbettung nicht die Auflösung bisheriger Struktu784 | Vgl. Watzlawick & Beavin & Jackson 1990, 51-54.
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ren, sondern ergänzt die bestehenden Strukturen durch neue, überlokale und themenspezifische Kommunikationsmöglichkeiten. Für Frauen im theologischen Laiendiskurs im Iran bietet das Internet sogar die einzige Möglichkeit, sich vertieft mit anderen Teilnehmern mit theologischen Fragen auseinanderzusetzen. Die sozialen Beziehungen in der religiösen Diaspora-Situation stellen sich wieder grundsätzlich anders dar – hier könnte der Begriff der Entbettung sogar irreführend sein. Denn in diesem Zusammenhang erlaubt das Internet eine Rückbindung und Aufrechterhaltung sozialer und religiöser Beziehungen mit dem kulturellen Herkunftsland der heutigen und früheren Migrantengruppen, die ja faktisch durch ihre Auswanderung »entbettet« waren und nur über relativ aufwendige Mittel (Brief, Telefon, Besuche) den Kontakt über Kontinente hinweg halten konnten. Via Satellitenfernsehen und Internet ist der Entbettungsprozess kein Verlustgeschehen, sondern die im Giddensschen Sinne entbettete Wiederherstellung sozialer und religiöser Beziehungen. Im dritten Fall der kleineren religiösen Bewegungen und Gruppierungen kann die Entbettung von zeitlichen und räumlichen Interaktionen überhaupt erst als Vorbedingung für die größere Verbreitung von religiösem Wissen angesehen werden. Das Internet erleichtert es den wenigen Anhängern des Wicca, kommunikative Beziehungen zueinander aufzubauen, die dann in vielen Fällen auch zu mindestens gelegentlicher, gemeinsamer ritueller Praxis führen. Das von Giddens eingeführte Konzept der Entbettung beschreibt treffend übergeordnete Prozesse der Gemeinschaftsbildung in spätmodernen Gesellschaften, die auch in Bezug auf das religiöse Leben Relevanz haben. Was im konkreten Fall jedoch »Entbettung« ist und welche Folgen sich hieraus für die Sozialformen von Religion und für die Vermittlungs- und Rezeptionsprozesse von religiösen Wissensbeständen ergeben, kann nur aus dem Zusammenhang erschlossen werden.
Die normative Prägung der religionsbezogenen Internetforschung So wie die Religionswissenschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der kulturwissenschaftlichen Wende gelernt hat, dass universal anwendbare Kategorien des Religionsvergleiches äußerst problematisch sind, so müssen auch die einzelnen Medienphänomene des Internet stets gesondert und in ihrem jeweiligen sozialen und historischen Kontext betrachtet werden. Große sozialpolitische oder sozialtheoretische Metaphern und Trenddiagnosen wie Freiheit und Gleichheit sind per se verdächtig, eher Ideale zu propagieren anstatt Realzustände zu beschreiben.785 Allerdings spiegeln diese hehren Ziele dominante Deutungsmuster wider, die durch fließende Übergänge zwischen emisch-religiöser und 785 | Morten Hojsgaard und Brigitte Warburg verorten diese Cyberutopien nur in der ersten Phase religionswissenschaftlicher Internetforschung. Angesichts der permanenten Wiederholung dieser Deutungsmuster auch in aktueller Literatur muss man jedoch
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etisch-religionswissenschaftlicher Perspektive gekennzeichnet sind. Die Soziologin Brenda Basher interpretiert den Cyberspace als heiligen Raum, in dem sich Individuen frei von allen wirtschaftlichen Zwängen entfalten können: Socially, in spite of its pitfalls and dangers, religion in cyberspace offers a valuable countervailing presence to the market commodification of everything in sight. Governments cannot provide this. Religion can. Existentially, the aspiration for intelligible expression of the transcendent motivates billions. Corporations cannot satisfy this longing, but religion can because it specializes in limited, human attempts to make sense of these encounters. Mystically, humanity’s search for a direct encounter with the divine has been fulfilled by the widely accepted stories of the encounters of a rare few in human history. Would we cut off cyberspace where this might occur? In mythic terms, this is an act akin to leveling the mountain before Moses can see on it a fire that does not consume itself.786
In ähnlicher Weise preist die neopagane Autorin Lisa McSherry die Verheißungen des Internet in ihrem Buch The Virtual Pagan, »… anyone anywhere – without fear of discrimination or harassment by small minded neighbors … can worship with others in Cyberspace.«787 Die amerikanische Medienwissenschaftlerin und Theologin Lynn Schofield Clark betrachtet die religiösen Medienphänomene des Internet insgesamt als protestantization, da hier nun die originären Ideale der Reformation, nämlich Freiheit, Demokratie und Pluralismus, in die Tat umgesetzt würden. Auch für den Religionswissenschaftler Hubert Mohr ist das Internet ein Hort der Demokratisierung von Information und Kommunikation. Sie sei hier »so unkontrollierbar wie Sex. Daran ändern weder Enzykliken noch Fatwas etwas.«788 Stephen D. O’Leary vergleicht in Anlehnung an Walter Ong (!) die heutige Situation mit dem Anbruch des reformatorischen Zeitalters.789 Ähnlich schätzt der kanadische Soziologe Christopher Helland die Situation ein, wenn er feststellt, »… doctrines and teachings that were once centralized and controlled can now be openly challenged, contradicted, or ignored through a medium that is accessed by hundreds of millions of people every day.«790 Er zieht ein optimistisches Fazit, indem er das Internet den traditionellen Hierarchien institutionalisierter Religionen gegenüberstellt: »Hierarchies and networks are two very different systems and the Internet was really develwohl von einer Persistenz dieser Ideale einer menschlichen Gemeinschaft reden. Vgl. Hojsgaard & Warburg 2005b, 5. 786 | Vgl. Brasher 2004, 187. 787 | Covertext von McSherry 2002. 788 | Vgl. Schofield Clark 2002, 7; Mohr 2009, 180. 789 | Vgl. O’Leary 2004, 40f. 790 | Helland 2004, 30.
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oped for only one of them.«791 Helland hatte ebenfalls vorgeschlagen, die Erfahrungen von Online-Religion als virtuelle Communitas im Sinne von Victor Turner zu verstehen. Because it acts as a great leveler once people have gone on-line, Internet participation forces this same form of liminality upon its users. Status disappears, no social class has dominion over any other, and everyone is forced into an accommodation of equality in which a particular form of non-structured interaction can take place.792
Die Diskussion des Begriffes »Entbettung« anhand verschiedener empirischer Beispiele hat gezeigt, dass das religiöse Internet mitnichten ein Hort von Freiheit und Egalität ist. Alle empirisch fundierten Internetforschungen im religiösen Feld, die sich diesen Fragen nach neuen Formen der Gemeinschaftsbildung und Autoritätskonstruktion widmeten, deuten darauf hin, dass sich nicht alte Strukturen einfach auflösen, sondern dass die bestehenden Sozialstrukturen in die Online-Kommunikation übertragen werden oder aber neue Strukturen entstehen: »MUD users experience a redefinition of social inhibitions; they do not experience the annihilation of them.«793 So berichtet Göran Larrson von einem muslimischen Diskussionsforum in Schweden, bei dem sogar der Zugang mit einem Motivationsschreiben an den Webmaster beantragt werden musste, um zu belegen, dass ein ernsthaftes Interesse am Islam besteht. Er geht davon aus, dass die Teilnehmer bemüht waren, ein (in der Logik des Forums) besonderes positives Selbstbild inszenieren wollten, um in diesem Rahmen soziale Anerkennung zu erhalten.794 Schon in ihrer religionsbiografischen Studie über religiöse Identitätsbildung junger Internetnutzer aus dem Jahr 2000 konnte Mia Lövheim zeigen, wie die von ihr untersuchte Online-Community sozialen Strukturen einen diskursiven Ausdruck verleiht. Die Diskussionen waren geprägt von Ab- und Ausgrenzungen zwischen erfahrenen Mitgliedern gegenüber wannabes sowie von genderbezogenen Positionierungen.795 Douglas Cowan, Helen Berger, Douglas Ezzy und andere Forscher haben innerhalb des Neopaganismus im Internet die Ausbildung neuer Autoritätsstrukturen und Hierarchien beschrieben und sehen diese oft in enger Verknüpfung mit kommerziel791 | Helland 2005, 13. Auch Eileen Barker vertritt noch die undifferenzierte Ansicht, dass das Internet durch den freien Zugang zu Informationen generell zu einer Infragestellung religiöser Autoritäten führen werde. Vgl. Barker 2005, 80-83. 792 | Helland 2000, 215. Auch Mark MacWilliams deutet eine virtuelle Pilgerfahrt als Communitas-Erlebnis. Vgl. MacWilliams 2004, 234-236. 793 | Reid 2001, 112. MUD = Multi User Dungeon. Vgl. auch a.a.O., 111-120; Paccagnella 1997, 5; Stegbauer 2000, 29-34. 794 | Vgl. Larsson 2005, 3, 12f. 795 | Vgl. Lövheim 2004a, 143-155.
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len Interessen, die aus einem gewissen Status als religiöser Autorität abgeleitet werden können.796 Schließlich warnt Heidi Campbell vor pauschalisierenden Deutungen des Internet, die die religionsspezifischen Formen von Autorität, Hierarchien und sozialer Anerkennung ignorieren würden: Therefore, there is a need for comparative work across religions on dominant conceptions of authority. Attempts to make overall claims about the changing nature of authority and power in religion in a digital context must begin with a focused exploration of the specific. We need studies that understand and communicate the historical nuances and functional structures of different religions and religious communities, offline as well as online.797
Die sehr verschiedenen Kommunikationsanwendungen des Internet müssen nicht nur jeweils gesondert betrachtet und mit einem jeweils angepassten Methodenapparat analysiert werden, sondern es müssen auch die religions- und milieuspezifischen Gebrauchsformen des Mediums berücksichtigt werden. Die Forschungen der vergangenen Jahre haben bereits eine Reihe von Einsichten in die Qualität der sozialen Beziehungen in den Online-Communities erbracht, die durch kombinierte Online-Recherchen und herkömmliche Methoden empirischer Sozialforschung gewonnen werden konnten.798 Die Grenzen eines wirkungsorientierten Paradigmas der Toronto School of Communication um McLuhan und seiner Epigonen werden durch diese sehr differenzierten Studien deutlich. Die Rede vom »Internet« als einem Medium mit einer bestimmten Wirkung oder message ist nicht gerechtfertigt: Abgesehen von der inhärenten kommunikationstechnischen Vielfalt und den landesspezifischen Bedingungen des religiösen Marktes werden den rezipierten Inhalten des Internet ganz unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben.799 Diese lassen sich nur aus dem lebensweltlichen Zusammenhang der einzelnen Nutzer erschließen. Wie mächtig jedoch vereinfachende Deutungsmuster des Internet sind, hat die skizzenhafte Religionsgeschichte der Idee des Mediums Internet gezeigt. Sowohl die Hoffnungen auf die persönliche Selbstentfaltung als Avatar wie auch 796 | Vgl. Cowan 2004b, 180-191; Ezzy 2001, 36-40; Berger & Ezzy 2004, 184ff.; Krüger 2004c, 193. 797 | Campbell 2007. Vgl. auch Campbell 2010b; McSherry 2002, 76-80; Lövheim 2004b, 68-71; Jakobsh 2006. Methodisch zeichnen sich die genannten Studien durch die Kombination von face-to-face-Interviews mit Analysen von Webinhalten aus. 798 | Dafür plädiert auch Dawson (2004, 78). 799 | Etwa die Hälfte der weltweiten Internetnutzer kann aufgrund von Zensurbestimmungen und deren technischer Durchsetzung nur in eingeschränktem Maße religiöse Inhalte wahrnehmen oder veröffentlichen. Vgl. dazu Länderdetails unter: http://map. opennet.net/filtering-pol.html (01.10.2010).
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die Sozialutopien des Internet – von Teilhard de Chardins Noosphäre, Whiteheads Prozessphilosophie und Lovelocks Gaia-Theorie bis hin zu den Exegesen von Cobb und Pesce – finden ihren Niederschlag in religiösen Deutungsmustern wie auch in den erkenntnisleitenden Paradigmen religionswissenschaftlicher oder theologischer Medienforschung. Die Utopie einer egalitären Gemeinschaft von freien Menschen scheint nicht nur religiöse Akteure, sondern auch die involvierten Forscher enthusiastisch gestimmt zu haben. Die Religionswissenschaft kann mit der Offenlegung und historischen Kontextualisierung der kulturell und religiös bedingten Vorverständnisse und Interpretationen des Internet in emischen Konstellationen und in den wissenschaftlichen Ansätzen ihren ganz eigenen Beitrag leisten. Mit Blick auf die neuen Computermedien zieht Friedrich Kittler als Vertreter einer weiträumig kulturwissenschaftlichen Medientheorie folgendes Resümee: Selbstredend gibt es kein Ende des Buches, erst recht kein Verschwinden der Schrift. WRITE und READ, Lesen und Schreiben sind zwei Befehle auf der untersten Ebene von Computerprogrammen, in der sogenannten Maschinensprache selber. Aber es wird auch niemand als Alphabet über seinem Roman einschlafen und am nächsten Morgen als Analphabet unter lauter technischen Medien erwachen. Solche Träume oder Alpträume rechnen wohl eher zu den Effekten jener trügerisch linearen Geschichtsschreibung, die McLuhan auf Gutenbergs Erfindung des Buchdruckes rückdatierte. Medien sind keine Pflanzen, die gleich den Kulturen bei Spengler wachsen und vergehen würden. Sie sind eher, wie die den Dichtern teure Mondscheibe, der unseren Sinnen zugekehrte Teil eines Systems von Sternen oder Nachrichtenflüssen. 800
800 | Kittler 1988, 289.
5 Schlussfolgerungen Ist das Gegebene in Wahrheit nicht Resultat einer Interpretation?1 H ANS -G EORG G ADAMER
5.1 R ELIGIONSWISSENSCHAF TLICHE M EDIENFORSCHUNG Mit einem vielversprechenden Programm hat der Religionsgeschichtler und Philosoph Hans-Joachim Schoeps 1948 die Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte begründet. In seinem sehr umfassenden Verständnis von »Zeitgeistforschung«, das sich stark an die universalgeschichtliche Perspektive Wilhelm Diltheys anlehnt, ist Schoeps bemüht, das »Denken, Fühlen und Wollen« der menschlichen Akteure in den zentralen Thematiken ihres facettenreichen Lebenshorizontes einzufangen.2 Er will dies nicht wie die Historiker vorangegangener Epochen auf die Genies und die herausragenden »historischen Persönlichkeiten« beschränken, denn … über die hohe Bedeutung der Massen, ihrer Lebensziele, ihrer Verhaltensweisen, Wert- und Geschmacksgeltungen wird wohl in aller Zukunft nicht mehr hinwegzukommen sein. Daher ist das Lebensgefühl der kleinen Leute heutzutage der wichtigste Orientierungspunkt für die Zeitgeistforschung. 3
Als Quellen dieser »Zeitgeistforschung« empfiehlt Schoeps Predigten und Traktate, Enzyklopädien, (Auto-)Biografien, Tagebücher, Tageszeitungen, Zeitschriften, »Witzblätter«, Schulansprachen, Lehrbücher, politische Reden, Film, Tonband, Fotografie, Bild, Warenhauskataloge, Münzen, Papiergeld, Briefmarken, Belletristik, musikalische Schöpfungen und Briefe – der Prophet Hesekiel erhielt seine Weisheit bekanntlich durch einen von Gott geschriebenen Brief,
1 | Gadamer 1993, 339. 2 | Vgl. Schoeps 1959, 23-29. 3 | Schoeps 1959, 60.
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den er essen musste.4 Diese von Schoeps angeregte Perspektivenvielfalt fand in der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte nur einen geringen Widerhall. Selbst wenn man einige kunstgeschichtliche Abhandlungen der frühen Ausgaben berücksichtigt, widmen sich die Beiträge der inzwischen 51 Jahrgänge fast ausschließlich der philosophischen Geistesgeschichte, Spezialproblemen der Religionsgeschichte und der deutschen politischen Geschichte, die sich vornehmlich an »großen« Namen und Traditionen orientieren. Die Beschäftigung mit den »Zeugnissen der kleinen Leute«, den populären Medien oder gar eine Diskussion über das Problemfeld von Religion und Medien blieben marginal.5 Erst ein halbes Jahrhundert nach Schoeps innovativer Zeitschriftengründung wurden diese Impulse in der deutschsprachigen Religionswissenschaft aufgenommen. Neben vereinzelten Studien in den Bereichen der Publizistik und der neuen Medien, die in diesem Rahmen schon besprochen wurden, haben Udo Tworuschka und Hubert Mohr in jüngster Zeit verstärkt für eine vertiefte und systematische Analyse von religionsrelevanten Medieninhalten und ihrer Bedeutung für das religiöse Leben geworben.6 Eine Basis für diese medienorientierten Ansätze hatte seit den 1990er Jahren bereits der Zürcher Religionswissenschaftler Fritz Stolz gelegt, als er dafür plädierte, die spezifischen Regeln der Produktion und Rezeption religiöser Kommunikation zu erschließen. Die Phänomene der Religionsgeschichte sollen zunächst in ihrem Kontext betrachtet werden. Sie sind Produkte konkreter, historischer religiöser Kommunikation. Gebete, Bilder, Bauten, Gotteskonzepte usw. existieren ja zunächst nicht in einer zeitlosen Form, sondern sie werden geschaffen und verwendet, wahrgenommen und weitergegeben. 7
Stolz entwirft auf dieser Grundlage ein an die Systemtheorie angelehntes Verständnis religiöser Kommunikation, das es ermöglichen soll, diese kulturspezifischen Regelsysteme miteinander zu vergleichen. Er diskutiert diesen Ansatz anhand von Beispielen aus der altorientalischen Religionsgeschichte. Wertvoll für die heutige Debatte sind insbesondere Stolz’ Einsichten in die soziale und kulturelle Bedingtheit von religiöser Kommunikation, die nicht wie in der Religionsphänomenologie als überhistorische »Wesensschau« verstanden wird.8 4 | Vgl. Tiemann 1987, Sp. 301; Schoeps 1959, 62-89. 5 | Ansonsten beklagt Günther Kehrer an der Religionssoziologie dieser Periode, dass sie sich zu wenig mit »den religiösen Komponenten im Bereich der vorgeblich säkularen Massenmedien« befasst. Vgl. Kehrer 1968, 14. 6 | Tworuschka knüpft explizit an Schoeps an: Tworuschka 2008, 76f.; Tworuschka 2006, 215; Mohr 2008; Mohr 2009. 7 | Stolz 1997, 38. 8 | Vgl. Stolz 1997, 37-50; Stolz 1998, 301-305.
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Vielleicht hat die systemtheoretische Orientierung die Fortführung seines Ansatzes und die Ausweitung auf Gegenwartsphänomene verhindert. Es fällt jedoch auf, dass (mit einer Ausnahme) auch die weiteren Beiträge in der einschlägigen Anthologie Religion als Kommunikation, zu der Stolz beiträgt, keine systematische Diskussion von Religion in den neuen Medien vorschlagen oder gar eine Analyse der Verflechtung von religiösen Institutionen und dem Medienapparat vornehmen.9 Wenn Hubert Mohr konstatiert, dass das Themenfeld »Religion und Medien« Gegenstand einer Teildisziplin der Religionswissenschaft ist, »die es derzeit so noch nicht gibt«,10 dann lautet die These der vorliegenden Erörterung, dass dies kein Zufall ist. Die Voraussetzung für die angestrebten Forschungen ist meines Erachtens die Offenlegung der Selektionen und Ausblendungen im hier skizzierten Feld und die Klärung der dominanten Deutungsmuster der einzelnen Medien in der religionswissenschaftlichen Debatte. Auf der Grundlage dieser beiden Indikatoren lassen sich dann bestehende Forschungsparadigmen sichtbar machen, die, wie wir gesehen haben, ganz unterschiedlich gelagert sein können. Welche von vielen möglichen »messages« sind die Medien im jeweiligen religiösen oder wissenschaftlichen Kontext? Zunächst konnten wir feststellen, dass eine Vielzahl von historischen und aktuellen Medien von der religionswissenschaftlichen Forschung gänzlich ignoriert oder weitgehend marginalisiert wurden. Dabei kann die zahlenmäßig hohe Verbreitung von bspw. Briefmarken, Münzen, Geldscheinen, Amuletten oder amtlichen Siegeln mit religiösen Motiven kaum bestritten werden. Andere Träger religiöser Nachrichten wie Grabsteine und christliche Werbeplakate sind im öffentlichen Raum präsent. Es ist offensichtlich, dass hier seitens des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses eine gewisse Gewichtung religiös genutzter Medien stattfindet, an dessen Peripherie die im »profanen« Kontext verwendeten Alltagsmedien erscheinen. Andererseits zeichnet sich vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit ab, seitens der Theologie die Außeralltäglichkeit ihres medialen Zentrums zu betonen und seitens der Religionsphänomenologie die Besonderheit ihres Gegenstandsbereiches herauszuheben: In der Konstruktion der »Heiligen Schriften« zeigen sich diese beiderseitigen Bemühungen, das »Heilige« und das »Profane« als zwei voneinander separierte Sphären des religiösen Lebens zu entwerfen. Wenn dann der Kanonisierungsprozess als konstituierendes Merkmal bestimmt wird, geraten Romane oder religiöse Gegenwartsautoren wie Romano Guardini, Pierre Teilhard de Chardin, der Dalai Lama oder Ken Wilber natürlicherweise aus dem Blickfeld. Ein hermeneutischer Ansatz, der die Untersuchung von Textinhalten und deren Produktionsbedingungen durch die Analyse der Rezeption ergänzt, könnte die9 | Vgl. Tyrell & Krech & Knoblauch 1998. 10 | Vgl. Mohr 2009, 159.
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ses Manko beheben und würde der faktischen Pluralisierung religiöser bzw. religiös rezipierter Literatur in der gesamten Neuzeit entgegenkommen. Unter diesen Voraussetzungen würde auch die bisher gänzlich vernachlässigte Zeitschriftenpublizistik im Bereich etablierter religiöser Traditionen wie auch in der Esoterik, in der Astrologie, im New Age usw. Beachtung finden. Dass die religiöse Fotografie in der religionswissenschaftlichen Forschung so vollkommen gemieden wurde, gibt angesichts der omnipräsenten fotografischen Dokumentation von religiösen Sujets Rätsel auf und kann sicherlich nur teilweise mit der philologischen Fixierung und dem spät einsetzenden iconic turn in der Religionswissenschaft erklärt werden.11 An der Technizität des Mediums kann es jedenfalls nicht liegen, das zeigt die breite theologische Auseinandersetzung mit dem Medium des Films. In diesem Zusammenhang konnten wir sehen, wie theologische Erkenntnisinteressen – Film nämlich entweder als sinnstiftende Parabel oder als ästhetisch wirksam, als Erfahrung des »Heiligen«, zu verstehen – gleichzeitig zu gewissen Vereinnahmungen und »Ausblendungen« geführt hat. Hier wird zum einen den Erzeugnissen der Populärkultur ein religiöser Subtext, eine »implizite« religiöse Botschaft, zugeschrieben. Zum anderen werden Filme mit expliziter religiöser Semantik und Pragmatik, wie die Werbe- und Missionsfilme der Freikirchen, nicht in die entsprechenden Studien zu Religion und Film einbezogen. Dass wiederum die religiöse Dimension der Telefonie bisher alleinige Domäne der praktischen Theologie war, liegt am Gegenstand der Seelsorge; ausgesprochene Werthaltungen konnten in diesem Bereich nicht ausgemacht werden. Das erweiterte, telefonische Beratungsangebot zwischen Lebenshilfe, Divination und Religion birgt zudem eine Reihe methodischer Erhebungsprobleme. Die allerjüngste Nutzbarmachung und Anpassung der mobilen Telefonie an die Bedürfnisse einzelner Religionsgemeinschaften wird immerhin bereits im englischsprachigen Diskurs wahrgenommen. Auch das Feld der religiösen Radioprogramme und des radiophonen Religionsjournalismus ist noch weitgehend von praktisch-theologischen Forschungsarbeiten der evangelischen Kirchen geprägt. Auch wenn in den vergangenen Jahren einige Fragen in Hinblick auf entsprechende Themensendungen bereits von Udo Tworuschka angegangen wurden, bleiben viele Bereiche, wie die genuin religiösen Radiosender der freikirchlichen und katholischen Mission, noch außerhalb der religionswissenschaftlichen Sensorik. Dieser Umstand ist sicherlich auch auf die Aufbereitung des Feldes durch die Forschungspräferenzen der praktischen Theologie zurückzuführen. 11 | Obwohl vielfach Fotografien abgebildet werden und das Titelbild eine Fotokamera abbildet, wird Fotografie in der Anthologie Religiöse Blicke – Blicke auf das Religiöse. Visualität und Religion erstaunlicherweise nicht eigens thematisiert. Vgl. BeinhauerKöhler & Pezzoli-Olgiati & Valentin 2010.
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Die größten Schwierigkeiten bereitet zweifellos das Verhältnis von Religion und Fernsehen. Die gesamte deutschsprachige Debatte wird seit drei Jahrzehnten durch die empirisch fragwürdige Konstruktion einer »impliziten Medienreligion« dominiert, die aus der Perspektive theologischer Autoren als eine den hedonistischen und konsumorientierten Zeitgeist verkörpernde Konkurrenz zur authentischen Gemeindereligiösität interpretiert wird. Dass unter diesen Voraussetzungen sowohl religionsrelevante Programmanteile (fiktional und dokumentarisch), religiöse Spartenkanäle und schließlich auch die Berichterstattung über Religionen zum randständigen Phänomen deklariert wurde, kann den kundigen Leser nicht überraschen. Das Tübinger Medienprojekt aus den frühen 1990er Jahren hat gezeigt, wie wertvoll ein analytisch (statt ideologisch) ausgerichteter Forschungsansatz sein kann. Hier gilt es, trotz des sicherlich noch fortgesetzten, spekulativen Medienpessimismus der Theologie mit kühlem Kopf eigene Akzente der religionswissenschaftlichen Medienforschung zu setzen. Im Rahmen der Internetforschung ist die Problematik wiederum anders gelagert. Es stellt sich nicht das Problem, dass das Medium marginalisiert wurde. Von Beginn an hat die Forschung seit der Entstehung des World Wide Web die religiösen Entwicklungen dokumentiert und analysiert. Vielmehr waren und sind eine Reihe von Forschungsansätzen stark von den allgemeinen Idealen der frühen Netzkultur – Freiheit, Gleichheit, Demokratisierung, unbegrenzte Persönlichkeitsentfaltung und Verwirklichung einer Weltgemeinschaft – geprägt. Diese Ideale werden in den Bereich der Religion übertragen: Das Internet wird als Realisierung einer erneuten Reformation oder als Zusammenwachsen des menschlichen Denkens zu einer organisch gedachten Noosphäre gefeiert. Dass in all den genannten Bereichen die »medialen« Deutungen der spiritistischen Subkultur ausgeklammert sind, kann vielleicht als diskursive Strategie gelesen werden, die neuen »Medien« als rein technische »Wiedergabeinstrumente« der Wirklichkeit zu determinieren. Die systematische Erörterung über die spiritistische Nutzbarmachung der technischen Medien würde einmal mehr die Doppelbedeutung des Medienbegriffs unterstreichen und den konstruktiven Charakter aller medial vermittelten Wirklichkeiten enthüllen. Die vorliegende Studie versteht sich in diesem Sinne als Vorarbeit für die gezielte Erforschung des Feldes. Erst wenn die Bedingungen unseres (religions-) wissenschaftlichen Diskurses über Medien – also unsere eigenen kulturellen und teils theologischen Deutungsmuster – offengelegt sind, kann die vertiefte und geordnete Diskussion über geeignete Methoden und relevante Forschungsfragen vorwärtsschreiten. Wenn man sich weiter der wissenssoziologischen Metapher vom Bus, den man anschieben will und doch selber drin sitzt, bedienen will, so stellt sich das Problem, warum denn noch niemand gefragt hat, wohin
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der Bus überhaupt fährt?12 In welcher Linie sitzen wir? Solange nicht klar ist, unter welchen erkenntnisleitenden Paradigmen und Deutungsmustern die Entdeckungsfahrt durch das Feld von Religion und Medien unternommen wird, stellt sich Unbehagen ein. Auch sollte unter den Reisenden Klarheit darüber herrschen, welche Gepäckstücke im Kofferraum verstaut sind. Wie viele Anteile aus der fachgeschichtlichen Prägung der Wissenssoziologie und der Religionswissenschaft tragen wir mit uns? Wieviel (christlich-)theologisches oder gar säkular-utopisches Gepäck haben wir an Bord? Erst wenn diese Fragen – zumindest ansatzweise – thematisiert wurden, kann die Reise unbeschwert fortgesetzt werden. Dazu will diese Studie einen Beitrag leisten. Die Diskussion ist damit freilich nicht ausgeschöpft, sondern muss sukzessiv weitergeführt werden. Da auch der Stand unserer wissenssoziologischen Selbstreflexion zeit- und kulturgebunden ist, kann es auch kein abschließendes Urteil geben. Wenn diese Vorarbeiten fortgeschritten sind, dann lässt sich die Relevanz neuer Forschungsfelder und Forschungsfragen transparenter legitimieren. Eine Analyse evangelikaler Plakatwerbung oder religiöser Sujets in Fernsehserien kann dann genauso plausibel und erkenntnisfördernd erscheinen wie die bereits etablierte Filmforschung im religiösen Feld. Wenn offenbar ist, dass die Konstruktion »Heiliger Schriften« ein wirkungsästhetisches Deutungsmuster voraussetzt, das religionshistorisch auf einer langen Tradition eines wirkmächtigen Glaubens an das magische Vermögen von Sprache und Schrift beruht, dann kann dieser Position ein rezeptionstheoretischer Ansatz kritisch gegenübergestellt werden. Mit der Frage, was denn Menschen mit den Medien »machen«, würden dann auch Romane, Wellnessbelletristik und religiöse Gegenwartsliteratur ins Visier geraten.
Forschungsperspektiven Welche Forschungsperspektiven ergeben sich nun für das Feld von Religion und Medien? Die vorangegangenen Bemerkungen werden den ganz eigenen Beitrag der Religionswissenschaft plausibel gemacht haben. In der Frage nach der Mediengeschichte als Religionsgeschichte, kann die Religionswissenschaft in besonderem Maße ihre Fähigkeit einbringen, kulturelle, theologische und religiöse Deutungsmuster historischer und aktueller Medien transparent zu machen und religions- wie auch sozialgeschichtlich zu kontextualisieren. Im konkreten, analytischen Bereich der von Hubert Mohr als »Religionsmedienwissenschaft« entworfenen Subdisziplin unterscheidet er zunächst zwischen den medienbezogenen und religionsbezogenen Analysefeldern der Religionsmedienwissenschaft. Ersteres bezieht sich auf die Präsentation von religiösen Themen und Inhalten in den Medien, also die immanente Analyse von Medieninhalten, die Wirkung von Medien (Rezeptionsästhetik), die Medienge12 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 14; Reichertz 2006, 295.
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schichte und die Berücksichtigung der Medienproduktion und des institutionalisierten Mediensystems. Unabdingbare Voraussetzung sei die kontinuierliche Archivierung und Aufarbeitung von Mediendokumenten (vor allem Film- und Fernsehbeiträge). Auch die medienpraktische Anwendung in der Feldforschung oder die Beratertätigkeit und Interviews für Medienproduktionen zählen für Mohr zu diesem Bereich.13 Zum zweiten identifiziert Mohr die religionsbezogenen Analysefelder, die die Dokumentation religiöser Praxis und der Alltagsreligion und die Nutzung der Medien durch religiöse Organisation umspannen, sowohl im kultischen Kontext als auch als gemeinschaftsbildendes Mittel. Zu diesem Bereich rechnet Mohr auch die Religionsästhetik der Medien (Wahrnehmung und Zeichengebrauch) und die »Religionsgeschichte als Mediengeschichte«, die soziologische Perspektive auf das Verhältnis zwischen religiösem und medialem System und die »Phänomene der Sakralisierung« von Medien.14 Die Anregungen von Hubert Mohr sind äußerst hilfreich, spiegeln sie doch die Vielschichtigkeit der religionsrelevanten Medienphänomene wider. Allerdings könnte die Aufteilung in jeweils medienbezogene oder aber religionsbezogene Analysefelder die komplexe Verflechtung beider Perspektiven zu einem gewissen Grad vernebeln. Gerade wenn wir Erscheinungen wie die Programme christlicher Spartenkanäle betrachten, können Aussagen über den Inhalt nur gemacht werden, wenn auch der Zusammenhang zum Missionsverständnis und den generellen Medienaktivitäten der entsprechenden Gemeinschaft hergestellt wird. Religiöse Akteure sind häufig auch Medienmacher, das gilt sowohl für evangelische Missionswerke als auch für die noch stark theologische Besetzung der Kirchen- bzw. Religionsredaktionen der öffentlichen Sendeanstalten. 13 | Vgl. Mohr 2009, 170ff.; Auffarth & Mohr 2003, 167-169. 14 | Vgl. Mohr 2009, 171-174. Im Punkt der Sakralisierung wird nicht klar, ob Mohr die erwähnten Konzepte der »impliziten Religion« und des rituellen Mediengebrauchs gemäß Günter Thomas nun als Gegenstand oder als analytische Kategorie verwenden will. Auch leitet Mohr aus seinen Beobachtungen einige Konsequenzen für die Religionen unter dem Eindruck des gegenwärtigen Medienwandels ab, wie die Annahme, dass religiöse Pluralität der Normalfall für den heutigen Medienkonsumenten sei und dass die audiovisuellen Medien eine Fokussierung auf die gut darstellbaren Ritual- und Handlungselemente von Religion bedingen würden. Der erste Aspekt lässt jedoch die Mediennutzung und die Dominanz christlicher Themenanteile in den deutschsprachigen Medien außer Acht. Der zweite Aspekt unterschätzt ein wenig, wie weit auch historische, theologische und abstrakte Stoffe per Spielszenen, Gesprächssendungen und Hintergrundartikeln in den neuen Medien präsentiert werden können. Dass ein katholischer Gottesdienst sich per se besser als ein protestantischer Gottesdienst für die fernsehgerechte Wiedergabe eignet, kann so sicherlich nicht stehen bleiben. Vgl. Mohr 2009, 175-180; Auffarth & Mohr 2003, 162-166.
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Meines Erachtens können die Dynamik und Tiefe des Feldes noch klarer erschlossen werden, wenn man sich – angelehnt an eine Formulierung von Siegfried J. Schmidt – an zwei Hauptfragen orientiert, die sich gegenseitig ergänzen und bedingen:15 Was machen die Medien mit den Religionen? Was machen die Religionen (und religiöse Akteure) mit den Medien?16 Im Spannungsfeld dieser zwei Fragen ließen sich dann ein Religionsprofil ausgewählter Medien und ein Medienprofil ausgewählter Religionsgemeinschaften erarbeiten. Beide Aspekte sind natürlich gleichermaßen berührt, wenn eine bestimmte Religionsgemeinschaft auch in dem betrachteten medialen Sektor selbst aktiv ist. Das heißt, man könnte erstens fragen, wie bspw. deutschsprachige Wochenmagazine über »Sekten« berichten und wie sich diese Fragestellung in einem begrenzten Zeitraum entwickelt hat. Das wäre ein spezifisches Religionsprofil von »Sekten« in Zeitschriften. Das Medienprofil einer Religionsgemeinschaft würde dagegen erheben, wie Medien erstens von den Anhängern als Konsumenten genutzt werden und zweitens auf welche Art Medien aktiv zur Kommunikation innerhalb der Gemeinschaft und zur Verbreitung der Botschaft benutzt werden. Diese Fragen müssen sich nicht zwingend auf etablierte und klar umrissene Religionsgemeinschaften beziehen, sondern können auch individuelle Akteure bspw. aus dem weiteren Feld von Esoterik, New Age und alternativer Spiritualität umfassen. Hier wie dort, könnte über medienbiografische Interviews und Beobachtungen die Nutzung von religionsrelevanten Medien(inhalten) in ihrem Verhältnis zu anderen biografischen Erfahrungsdimensionen von Religion erforscht werden.17 Die religiöse Deutung bestimmter Medien unabhängig von ihren konkreten Inhalten gehört ebenfalls in diesen Fragenkomplex. Das Potenzial der gegenseitigen Ergänzung von Religionsprofilen und Medienprofilen liegt vor allem in der crossmedia-Perspektive, die die Verknüpfungen von bestimmten Inhalten in verschiedenen Medien und die Nutzung verschiedener Medien durch die Konsumenten oder religiösen Medienmacher betrachtet. Peter Scholl-Latour war einer der ersten deutschen Journalisten, die erfolgreich ihre Fernsehdokumentationen gleichzeitig als Bücher vermarktet 15 | Die medienpraktischen Fragen einer »angewandten Religionswissenschaft« sollten von der analytischen Strategie getrennt behandelt werden. 16 | Bei dieser Frage zeigt sich, wie schwierig die grundsätzliche Feststellung von Christel Gärtner ist, dass »Medien« wegen der faktischen Programm- und Meinungsvielfalt einen Meinungsrelativismus pflegen würden, Religionen auf ihrem Wahrheitsanspruch beharren und daher Religionen den Medien »suspekt« sind. Diese Einschätzung schließt aus, dass es auch religiös motivierte Medienmacher geben würde. Vgl. Gärtner 2009, 72. 17 | Auch Detlef Thofern plädiert schon früh dafür, religionsrelevante Medienphänomene mithilfe sozialwissenschaftlicher Methoden zu erfassen. Vgl. Thofern 1995, 20f.
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haben. Fast zu jeder historischen Fernsehdokumentation der großen öffentlichen Fernsehanstalten sind heutzutage die Filme als DVD mit Begleitmaterial bestellbar. Viel interessanter als die mehrstufige Vermarktung des Medienproduktes eines »Autoren« ist jedoch das Aufgreifen von bestimmten Themen in verschiedenen Medien in diachroner oder synchroner Perspektive. Ina Schmied-Knittel hat in diesem Sinne eine wissenssoziologische Diskursanalyse des Themas »Satanismus und ritueller Missbrauch« in deutschen Print- und Fernsehmedien durchgeführt, die belegen konnte, wie verschiedene Medien das Thema aufgreifen, aktualisieren und mehrfach neu verwerten.18 Als crossmedia-Studie könnte man bspw. auch nach dem Religionsprofil des »Islam in Deutschland« im Jahr 2009/2010 im Kontext unterschiedlicher Medienangebote fragen. Seit der erfolgreichen schweizer Anti-Minarett-Initiative im November 2009 wurde das Thema des Islam in Europa vielfach auch in deutschen Radio- und TV-Beiträgen (Reportagen wie auch Gesprächssendungen) sowie in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln aufgegriffen. Die Intertextualität der vielschichtigen medialen Verarbeitungen dieses Sujets zu erforschen, wäre zwar ein höchst komplexes aber auch ein vielversprechendes Unterfangen, das über die Religionsthematik hinaus Aufschlüsse über die strukturelle Dynamik zwischen Printmedien und elektronischen Medien zulassen würde. Ein als crossmedia-Studie angelegtes Medienprofil einer Religionsgemeinschaft könnte wiederum Erkenntnisse über die zielgruppenorientierte Gestaltung und über den Stellenwert von medial gestützter Kommunikation und Mission im Verhältnis zur herkömmlichen Gemeindearbeit generieren. Es könnte diskutiert werden, inwiefern bspw. der Erfolg der International Christian Fellowship in Zürich auf die starke mediale Präsenz zurückzuführen ist: Neben den Gottesdiensten (celebrations), wenigen Buchpublikationen, Camps und Kleingruppen stützt sich ICF vielseitig auf gemeinschaftsfördernde Kommunikationsmedien wie mehrere Homepages der lokalen Kirchen in deutsch und englisch, online verfügbare Podcasts der celebrations, einen Blog des Pastors, Facebook, Twitter, Videos auf YouTube, Bildersammlungen auf Flickr und auch auf bedruckte T-Shirts. In vorbildlicher Weise hat Isabelle Rigoni, die an der Universität Poitier die Forschungsgruppe Minoritymedia leitet, die beiden Gesichtspunkte des Religionsprofils und des Medienprofils von muslimischen Migranten in Europa fokussiert. Sie konnte zunächst aufzeigen, wie die populären Medien in westeuropäischen Staaten seit mehreren Jahrzehnten meist unter islamophoben Vorzeichen das Bild der Muslime prägen. Im zweiten Teil ihrer Analyse beleuchtete Rigoni dann die jüngeren Entwicklungen in der europäischen Me18 | Vgl. Schmied-Knittel 2008, 51-60, 103-142. Die Autorin bemüht auf methodischer Ebene den Ansatz der wissenssoziologischen Diskursanalyse von Reiner Keller. Vgl. a.a.O., 18ff.
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dienlandschaft, nach denen muslimische Migranten selbst zunehmend zu Medienakteuren werden und eigene Akzente setzen können.19
Übergreifende Fragestellungen An die systematische Erschließung des Feldes fügen sich übergreifende, analytische Dimensionen an. Vor allem gewinnt die religionsökonomische Fragestellung neue Facetten, wenn Klarheit darüber herrscht, dass der gesamte Bereich medialer Präsentation von Religionen und Berichten über Religion höchst kommerzialisiert ist.20 So lässt sich auf Ebene der religiösen Institutionen erklären, wie z. Z. die Medienarbeit der deutschen Großkirchen eine ressourcenabhängige, neue Gewichtung innerhalb der gesamten Kirchenarbeit erfährt. Das Angebot der entsprechenden Zeitschriften schrumpft seit Jahren kontinuierlich, während gleichzeitig neue Medienprodukte aus den Freikirchen auf starke Resonanz stoßen. Damit hängt die Frage zusammen, inwiefern sich kirchliche Informationen und Selbstdarstellungen an die Bedürfnisse des allgemeinen Medienmarktes anpassen können (und wollen) und andersrum gefragt: Wie bereiten Medien im Bemühen um die Aufmerksamkeit der Quote religiöse Sujets »medienkonform« – also in der Linie eines bestimmten Senders oder einer Zeitschrift – auf? Dass hier gegenüber der wissenschaftlichen Darstellung stets eine Vereinfachung und aufmerksamkeitsfördernde Dramatisierung stattfindet, wird wohl kaum bestritten werden können. Die genaue Aufschlüsselung von Selektionen, Personalisierungen und Emotionalisierungen im Produktionsverlauf religiöser Themen in den Medien ist bisher jedoch noch ein Forschungsdesiderat. In diesen Fragen muss die religionswissenschaftliche Medienforschung mit dem aktuellen medienwissenschaftlichen Diskurs Anschluss halten, in dem Trends der rezenten Medienentwicklungen empirisch und theoretisch reflektiert werden. Die Umwälzungen, die das Internet mit sich bringt, setzen nach der Pionierphase der ersten 20 Jahre jetzt erst ein und zeigen gravierende Auswirkungen in der Musikbranche, im Zeitschriften- und Zeitungsmarkt sowie im Bereich von Fernsehen, Hörfunk und Film. Zum einen brechen aufgrund sinkender Abonnentenzahlen in den Printmedien herkömmliche Werbeeinnahmen weg und zum anderen werden sich neue ökonomische Strukturen ausbilden, um mit dem Informations- und Unterhaltungsangebot noch rentable Gewinne erzielen zu können. Die allgegenwärtige Werbung auf Webseiten, 19 | Vgl. Rigoni 2009. 20 | Dieser Sachverhalt gilt auch für die religiöse Vergangenheit. Man denke an die von George Fox, dem Begründer der Quaker, scharfzüngig geäußerte Kritik am Handel mit Bibeln oder an die ökonomisch-infrastrukturellen Bedingungen frühchristlicher Bibelexegese. Vgl. Krüger 2007b, 110f.; Markschies 2007, 298-331. Zum noch jungen Ansatz der Religionsökonomie vgl. Gladigow 2009.
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die Erhebung von Leseentgelten für Onlinejournale, die kommerzielle Hierarchisierung von Suchergebnissen in Suchmaschinen und schließlich die jüngst vorgeschlagene Strukturierung nach schnell oder langsam verfügbaren Webseiten, die sich die Internetdienstleister von den finanzstarken Anbietern vergüten lassen wollen, bilden nur einige Gesichtspunkte der aktuellen Diskussion ab. Diese rein wirtschaftlichen Aspekte haben im Rahmen der Aufmerksamkeitsökonomie des Internet wiederum Auswirkungen auf die Gestaltung von Informationsbeiträgen, bspw. auf die nachrichtenmäßig angelegte Dokumentation über Religionen. Die Berichterstattung im Internet verläuft bei dramatischen Ereignissen fast »live«, die Onlinezeitungen liefern sich einen Wettkampf darum, eine bestimmte Nachricht als Erste zu präsentieren und haben hier einen Informationsvorteil gegenüber Radio und Fernsehen mit festen Nachrichtensendezeiten. Als Folge verlagert sich die Darstellung von journalistisch aufbereiteten und strukturiert dargebrachten Hintergrundinformationen auf möglichst aktuelle »Eindrücke« und Bilder (deren Wiedergabe günstiger ist als die redaktionelle Herstellung von Text). Diese werden als SMS- und Twitter-Nachrichten oder gar als Fotos und Handy-Videoaufzeichnungen von Beteiligten präsentiert. Dadurch werden gewisse mediale Standards auch in den Online-Newsmagazinen gesetzt, die m.E. zu einer Orientierung am Fernsehen führen. Auch in den Online-Ausgaben seriöser Nachrichtenmagazine wie der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Spiegel-Online (und im Boulevard ohnehin) werden die aktuellsten Themen einer Rubrik stets bebildert. Wenn keine tatsächlichen Bilder zur Verfügung stehen, werden die Archive bemüht. Anders als Texte, die verschiedene Positionen eines Diskurses ausgewogen entwickeln können, wollen Bilder zunächst Aufmerksamkeit für einen Artikel generieren und greifen daher meist auf stereotype Darstellungen mit hohem Wiedererkennungswert zurück. Wenn die Süddeutsche Zeitung online über die Einführung von Imam-Ausbildungen an deutschen Universitäten berichtet und den Artikel mit dem großformatigen Bild einer einzelnen Muslima mit Kopftuch anreichert, so hat diese Entscheidung einen bedeutenden Einfluss auf den semantischen Gehalt des ansonsten sehr sachlichen Artikels.21 Wichtige News-Artikel werden online schon jetzt meist mit kurzen Videoeinspielungen ergänzt, wobei im Boulevard (Bild Zeitung) ein ausgewogenes Verhältnis zwischen bebilderten Text- und Video-Beiträgen besteht. Setzt sich dieser Trend zu fernsehgerechten Nachrichten im Internet fort, so wird dies wohl erstens zu einer höheren Emotionalisierung der Darstellung führen – denn Nachrichten mit möglicher emotionaler Teilhabe wie Empörung und Abscheu (Skandal), Bewunderung oder Rührung sind »attraktiver« für den Leser und Zuschauer. Zweitens wird diese Tendenz offenbar eine Verfestigung stereotyper 21 | Vgl. www.sueddeutsche.de/karriere/islam-studium-in-deutschland-deutsche-aus bildung-fuer-muslimische-geistliche-1.1011920, (17.10.2010).
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Präsentationen implizieren, da der visuelle Wiedererkennungseffekt als eye catcher fungieren kann. Im Falle von Religionen ist dies in gewissem Maße schon jetzt zu beobachten, man denke an die eingesetzten Bilder zur Illustrierung eines gewalttätigen und rückständigen Islam, der Bedrohung durch »Sekten« oder des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Die Auseinandersetzung mit den übergreifenden Fragen der aktuellen wie auch der historischen Medienentwicklungen kann schließlich als Grundlage für ein vertieftes Gespräch der Religionswissenschaft mit der Medienphilosophie und der Medienkunst dienen. Hier wie dort – es sei an die Werke des französischen Philosophen Jean Baudrillard und des koreanischen Medienkünstlers Nam June Paik erinnert – ist man um ein Verstehen der von Medien geprägten, modernen Gesellschaft als Ganzes bemüht. Die postmoderne Zeichentheorie des einen und die bildhaften Bezüge zu religiösen Traditionen des anderen laden dazu ein, sich mit dem Wissen um die religiösen Deutungen von Medien und Kunst in diesem weiterführenden Diskurs zu beteiligen.
5.2 R ELIGION , G EMEINSCHAF T UND DAS M EDIALE Es ist dem wachen Geist von Wilhelm Jerusalem seinerzeit nicht entgangen, dass Durkheim und seine Schüler zwar eine bestechende Theorie der lokalen Gemeinschaft vorgelegt haben, sie jedoch noch keine Antwort auf die Frage fanden, wie denn »… die Idee der ganzen Menschheit als einer großen Einheit in die Welt gekommen ist und wie sich daraus der große Gedanke der allgemeinen Menschlichkeit, der Humanität, herausentwickelt hat.«22 Als Jerusalem die Grundzüge einer zukünftigen »Soziologie des Erkennens« entwarf, bewegte ihn vor allem die Frage, wie durch die Gemeinschaft der Einzelnen etwas Neues und Überpersönliches entstehen könne. Die Sprache bildet für den Wiener Soziologen den »Kristallisationspunkt« gesellschaftlicher Erfahrungen, sie produziert soziale Ordnung, ist Gedächtnis der Gesellschaft und ist bestimmend für die Wahrnehmung und Deutung der Welt, in der wir leben. Religion ist für Jerusalem (ganz im Sinne Durkheims) der Ausdruck von Glaubensvorstellungen und Praktiken, die einer organisierten Menschengruppe gemeinsam ist. Wenn ein halbes Jahrhundert später Peter Berger und Thomas Luckmann feststellen, dass Wissenssoziologie Sprachsoziologie voraussetzt und dass Wissenssoziologie ohne Religionssoziologie unmöglich sei (wie auch vice versa), so wollen wir diese Bemerkungen zum Anlass nehmen, die Verknüpfung zwischen Sprache, Religion und Gemeinschaft etwas näher
22 | Jerusalem 1924, 187. Vgl. auch a.a.O., 183ff.
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zu beleuchten.23 Dies geschieht unter der wissenssoziologisch begründeten Annahme, dass auch die Erkenntnisse der Religionswissenschaft und der Wissenssoziologie in größere kulturgeschichtliche Zusammenhänge eingebunden sind: »Es muß gefragt werden, was und wieviel in den allgemein für wahr gehaltenen Urteilen des alltäglichen Lebens und der wissenschaftlichen Forschung als Produkt des menschlichen Zusammenlebens und der darin gegebenen seelischen Wechselbeziehungen sich erweisen läßt.«24 Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob die verschiedenen, hier gewonnenen Einsichten in das Verhältnis von Religion und Medien miteinander in Verbindung stehen. Gibt es ein gemeinsames Deutungsmuster, auf das sich die religionswissenschaftlichen, theologischen wie auch wissenssoziologischen Diskurse gleichermaßen beziehen? Wo besteht eventuell ein Zusammenhang zwischen dem spezifischen Religionsverständnis der Wissenssoziologie und den ausgesprochenen Werthaltungen gegenüber den »Heiligen Schriften«, dem Film, dem Fernsehen und dem Internet?25 Mit anderen Worten: Existiert eine Meistererzählung? Eine Meistererzählung (frz.: méta récit) spiegelt für die französischen Dekonstruktivisten Michel Foucault und Jean-François Lyotard Grundmuster des Denkens wider, die die Ausrichtung bestimmter Diskurse entscheidend prägen können und die über lange Zeiträume wirksam sind. So interpretiert Foucault den Fortschrittsoptimismus als eine Meistererzählung des neuzeitlichen Denkens im Westen, während Lyotard dem grand récit marxiste eine Umdeutung der Vergangenheit im Sinne des historischen Materialismus vorhält, die eine künftige, sozialistische Weltrevolution legitimieren solle.26 Es stellt sich also das Problem, ob sich in dem betrachteten Feld von Religion und Medien in der Religionswissenschaft, der Theologie und der Wissenssoziologie ebenfalls eine Meistererzählung identifizieren lässt. Wenn man die Suche nach gemeinsamen Deutungsmustern und Motiven aufnimmt, so lassen 23 | Vgl. Berger & Luckmann 1994, 197. 24 | Jerusalem 1924, 183. 25 | Die eher indifferente Haltung gegenüber der Fotografie, der Publizistik und dem Hörfunk ist für die anvisierte Fragestellung nur wenig ergiebig. 26 | Die Idee einer master narrative ging von dem amerikanischen Historiker Hayden White aus, der in seiner bahnbrechenden Studie Meta-History. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe (1973) die literarische Dimension historischer Rekonstruktionen erschloss. Der Anthropologe Claude Levi Strauss hatte in seinen Forschungen in den ehemaligen Kolonialgebieten Lateinamerikas die master narratives der offiziellen Geschichtsschreibung den slave narratives der Unterprivilegierten gegenübergestellt. Die französischen Dekonstruktivisten hatten den Begriff in der Folge metaphorisch verallgemeinert und ideologiekritisch verwendet. Vgl. Foucault 1973; Lyotard 1986, 110ff.; Jarausch & Sabrow 2002, 13-16.
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sich unschwer zwei Elemente ausmachen, auf die in ganz unterschiedlicher Weise Bezug genommen wird. Die Rede ist zum einen von der universalen Utopie von Gemeinschaft und zum anderen von der Trennung des »Heiligen« und des »Profanen«. Beide Probleme sind miteinander verwoben.
Vom Geist der Utopie einer universalen Gemeinschaft Die im Zuge dieser Untersuchung diskutierten Medien- und Religionstheorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie die beobachteten Medien- und Religionsphänomene anhand von utopischen Vergleichen einordnen und bewerten. Diese für unsere Fragestellung relevanten Utopien sind Visionen einer universalen Gemeinschaft. Damit ist grundsätzlich die Vorstellung einer geeinten, konfliktfreien und egalitären Menschheit gemeint. Der Vergleich der gegenwärtigen Phänomene mit dieser universalen Gemeinschaftsutopie kann rückwärtsgewandt oder zukunftsorientiert sein, also die Projektion einer umfassenden Gemeinschaft der Menschen in die Vergangenheit oder in die Zukunft bedeuten. Die utopische Projektion in die vergangene Menschheitsgeschichte kann dabei von den Sozialtheoretikern durchaus mit bestimmten religiösen Konstellationen verbunden werden. Das Dreistadiengesetz von Auguste Comte beginnt mit der Phase des Fetischismus im theologisch-fiktiven Zeitalter, in der die gesamte Umwelt des Menschen als göttlich empfunden wird. Werner Stark will sogar wissen, dass das Universum für den vorgeschichtlichen Menschen ein Mysterium war. Scheler und Mannheim zeichnen das Bild der krisengeschüttelten Moderne vor der Folie eines idealisierten europäischen Mittelalters und Orients. Die okzidentalen, geistig-kontemplativen Traditionen der christlichen Mystik seien demnach der neuzeitlichen Rationalisierung des Denkens und des machtorientierten Handelns zum Opfer gefallen. Wo Scheler in dieser vergangenen Epoche eine lebendige und durchdringende Metaphysik ausmacht, spricht Mannheim von einem Gemeinschaftsbewusstsein, das alle Lebenssphären durchdringen konnte und sinnhaft auf ein Höchstes, Transzendentes, bezogen war: »Das Weltbild rundete sich zu einer relativ stabilen Geschlossenheit ab.«27 Stark schließt sich dieser Einschätzung an, verknüpft die Einheit der Welt- und Wertevorstellung jedoch aufs Engste mit dem mittelalterlichen Katholizismus. Diese Einheit wurde gemäß Stark dann durch die Individualisierungsbewegungen des Protestantismus und in dessen Folge durch die Ausbildung der modernen, rational organisierten Lebensführung zerstört. Thomas Luckmann und Peter Berger, teils mit explizitem Bezug auf Mircea Eliade, Max Scheler und Max Weber, führen die griffige Formel vom einheitlichen »Heiligen Kosmos« ein, in der die Gesellschaft der Archaik bzw. der Vormoderne verankert gewesen sei. Für Berger ist der Versuch des Menschen, die Welt als sinnvolles Ganzes, als »Heiligen Kosmos«, wahrzunehmen, gar die zentrale Aufgabe der Religion. 27 | Mannheim 1980b, 41.
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Es sei »Kosmisierung auf heilige Weise« und es sei mit Bezug auf Rudolf Otto »das Erleben einer numinosen Mächtigkeit«. Die Krise der Moderne stellt sich daher für die wissenssoziologischen Entwürfe als Verfall »gemeinsamer Erlebniszusammenhänge« (Mannheim) und Verlust der »mystischen Wesensschau« (Scheler) in der ausdifferenzierten, rein innerweltlich orientierten Gesellschaft der Moderne dar. Dies entspricht auch den allgemeinen Zeitdiagnosen von Ernst Troeltsch und Ferdinand Tönnies.28 Erstaunlicherweise greift der theologische Mediendiskurs dieses religionsgeschichtliche Deutungsmuster auf, jedenfalls dort, wo die Mediengesellschaft als Bedrohung und Surrogat von Religion beschrieben wird. Im Zentrum steht dabei die Debatte um das Fernsehen. Das Motiv der alttestamentlichen Götzenverehrung, die mediale »Baalsreligion«, wird nämlich schon von Hans-Jürgen Benedict mit einer Verfallsgeschichte des gelebten Christentums verknüpft, deren Beginn die geschichtliche Utopie eines religiös idealisierten Mittelalters markiert. An die Stelle einer liturgisch geordneten Tagesstruktur mit gottgefälligem Tun und Gebet sei nun die Programmstruktur der Religion der Massenmedien getreten. Die »Medienreligion« stelle eine »Kosmologie« bereit (Thomas), sie offeriere Wertorientierungen der Konsumgesellschaft, sie preise die »Göttlichkeit ihrer Produkte« und sei eingebettet in die »Transzendenz des unendlichen Stroms des Fernsehprogramms« (Böhm) und vermittele auf diese Weise den infantilen Glauben an die »ungebrochene Dauer des Vergnügens« (Albrecht). Die Heilsversprechen, die die »Medienreligion« inszeniere, könne sie natürlich nicht einlösen. Die Folie dieser nachdrücklichen Medienkritik bildet die Annahme, dass in der vormodernen Periode vor Ankunft der Massenmedien die Religion selbst noch die Sinnhaftigkeit der Welt befriedigend erklären konnte. Mit dieser teils unspezifischen Projektion eines religiösen Idealzustandes in die Vergangenheit, die sowohl in der Wissenssoziologie als auch im theologischen Diskurs über die »Massenmedien« vorgenommen wird, korrespondiert nun die Utopie einer künftigen Gemeinschaft. Für Comte wie für Marx wird das letzte, positive Zeitalter bzw. der Kommunismus die Vereinigung der Menschheit in einem pazifistisch organisierten Gefüge mit sich bringen.29 Jerusalem und bereits der Soziologe Herber Spencer gehen allgemein von einer engeren 28 | Auf einer weiter abstrahierten Ebene korrespondieren diese utopischen Geschichtsentwürfe sogar mit der Idee einer klassenlosen Urgesellschaft im Historischen Materialismus (Marx und Engels). Alfred Schütz ist übrigens vorsichtiger als Berger und Luckmann, denn die vollkommen homogene Sinnstruktur einer Gesellschaft wäre für ihn hypothetisch nur dann möglich, wenn es keinerlei soziale Ausdifferenzierung gäbe. Vgl. Schütz & Luckmann 1990, 207-212; Schütz & Luckmann 1994, 297-302. 29 | Vgl. Comte 1975, 567-582.
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Verflechtung aller Menschen im fortschreitenden Zivilisationsprozess aus. Scheler ersinnt die weitreichende Vision eines »Weltalters des Ausgleichs«, das durch die Annäherung zwischen Asien und Europa einen neuartigen Kosmopolitismus der Kulturkreise verwirklichen werde. Alle politischen, kulturellen, sozialen und rassischen Gegensätze würden dann überwunden sein und Gotteserkenntnis durch einen menschlich kooperativen Akt möglich machen. Auch im Spätwerk Mannheims bildet die Religion mit ihrer kontemplativen Erfahrungsdimension ein wichtiges Element des Entwurfs einer demokratisch planbaren Gesellschaft. Im Kontext neuer Medien wird diese universale Utopie von Gemeinschaft hauptsächlich mit dem Internet in Verbindung gebracht. Jedoch hatte Teilhard de Chardin schon früh die Idee der »Planetisierung der Noosphäre« an der Verbreitung des Rundfunks festgemacht und der Filmtheoretiker Paul Schrader hatte in ausgewählten Filmen den kulturübergreifenden transcendental style identifiziert, der den Menschen aus verschiedenen religiösen Traditionen Zugang zum Erlebnis des »Heiligen« ermöglichen solle. Das Internet bietet sowohl Raum für säkulare Projektionen wie die Idee einer »kollektiven Intelligenz« (Lévy) wie eben auch für die religiös oder spirituell aufgeladenen Utopien der Noosphäre, des Punktes Omega und der Gaia innerhalb und außerhalb des New Age. Konkrete Visionen eines Umbruches in der heutigen Religionslandschaft, der durch demokratische Ideale wie Freiheit und Gleichheit gekennzeichnet ist, schließen sich aus der Perspektive einzelner Traditionen (Protestantismus, Neopaganismus) und zum Teil auch von wissenschaftlicher Warte aus an. Wir müssen nun fragen, ob es eine gemeinsame Deutungslinie für die rückwärtsgewandten und für die zukunftsorientierten Utopien gibt. Es ist wiederum Marshall McLuhan, dessen Werk die Aufschlüsselung der Meistererzählung von Religion und Medien erlaubt. In Understanding Media (1964) schlägt er die Brücke zwischen den religiösen und sozialen Utopien und der Medienfrage. Language as the technology of human extension, whose powers of division and separation we know so well, may have been the »Tower of Babel« by which men sought to scale the highest heavens. Today computers hold out the promise of a means of instant translation of any code or language into any other code or language. The computer, in short, promises by technology a Pentecostal condition of universal understanding and unity. The next logical step would seem to be, not to translate, but to by-pass languages in favor of a general cosmic consciousness which might be very like the collective unconscious dreamt of by Bergson. The condition of »weightlessness,« that biologists say promises a physical immortality, may be paralleled by the condition of speechlessness that could confer a perpetuity of collective harmony and peace. 30
30 | McLuhan 1994, 80.
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Die Meistererzählung ist die Geschichte von der ursprünglichen Einheit und Harmonie der Menschen im Einklang mit ihrer sozialen Umwelt und mit Gott: »Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.« (Gen 11,1). Sie setzt sich fort im Verlust der göttlich an Adam vermittelten Ursprache aller Menschen und einer Periode des Unheils. Sie schließt mit der Utopie einer erneuerten, universalen Gemeinschaft aller Menschen mit Gott. Das heilsgeschichtliche Moment des Christentums und Judentums als Erzählung vom verlorenen Paradies und der Hoffnung auf dessen Wiederherstellung ist unverkennbar. Dennoch sind auch Varianten dieser Meistererzählung möglich, die keinen Gottesbezug aufweisen, wie etwa im historischen Materialismus oder in den medienphilosophischen Entwürfen, wie im konkreten Fall bei Pierre Lévy, Manuel Castells oder Marshall McLuhan selbst. Der Religionsoder Gottesbezug verleiht diesem Narrativ eine soteriologische Dimension und unterstreicht damit seine herausragende Bedeutung in der Menschheits- und Evolutionsgeschichte. In der Religionswissenschaft wurde diese Meistererzählung als Idee der Verständigung oder gar als Vereinigung der Religionen rezipiert und fortgeschrieben. Seit Goethes west-östlichem Divan (1819) zieht sich das Motiv der Suche nach dem einen Ursprung bzw. nach der gemeinsamen Botschaft aller Religionen durch die Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.31 Die Romantik und mit ihr die beginnende Religionsforschung bei Friedrich Schlegel sind ganz von dieser Idee eingenommen. So wie nun die Asiaten und die Europäer nur eine große Familie, Asien und Europa ein unzertrennbares Ganzes bilden, so sollte man sich immer mehr bemühen, auch die Literatur aller gebildeten Völker als eine fortgehende Entwicklung und ein einziges innig verbundenes Gebäude und Gebilde, als ein großes Ganzes zu betrachten, wo denn manche einseitige und beschränkte Ansicht von selbst verschwinden, vieles im Zusammenhange erst verständlich, alles aber in diesem Lichte neu, erscheinen würde. 32
Auch Friedrich Max Müller nimmt diese Impulse auf, als er 1870 die Programmatik der Vergleichenden Religionswissenschaft formuliert. Die Suche nach dem geschichtlichen Ursprung ist für ihn gleichbedeutend mit dem religiösen Ursprung des Menschen, in der die Religion noch in ihrer »reinsten Gestalt« bestand. Das Wesen der ursprünglichen Religion würde daher auch Aufschluss über das Wesen des Menschen geben.33 31 | »Wer sich selbst und andre kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen. Sinnig zwischen beiden Welten sich zu wiegen, lass’ ich gelten; also zwischen Ost und Westen sich bewegen sei zum Besten.« Goethe 1998, 121. 32 | Schlegel 1995, 218. 33 | Vgl. Gladigow 2005b, 44-46.
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D IE MEDIALE R ELIGION … every religion, even the most perfect, nay the most perfect on account of its very perfection, more even than others, suffers from its contact with the world, as the purest air suffers from the mere fact of its being breathed. Whenever we can trace back a religion to its first beginnings, we find it free from many of the blemishes that offend us in its later phases. 34
Für Müller ist das Buch das Leitmedium seiner Epoche, das als Spiegel eines fortschreitenden Erkenntnisprozesses fungiert. Die Übersetzung und der Vergleich der »Bibeln der Menschheit« versprechen die Aussicht, den Kern aller vergangenen und gegenwärtigen Religionen zu entschleiern.35 Auf diese Weise rezipierte Müller die alte, zunächst theologische Idee einer Akkumulation des Wissens (über Gott), die sich von Vinzenz von Lérins’ Commonitorium (5. Jahrhundert) über Francis Bacons Advancement of Learning (1605) bis hin zu den neuzeitlichen Theorien über den wissenschaftlichen und religiösen Fortschritt (Isaac Newton, Joseph Priestley, William Paley) erstreckt. Müller denkt jedoch schon universalgeschichtlich: Die »Offenbarungen Gottes an seine Kinder« gelte es in jeder historischen und gegenwärtigen Kultur zu achten und auf ihre zentrale Botschaft hin zu erfassen.36 Rudolf Otto knüpft ein halbes Jahrhundert später an diese Überlegungen an, wenn er in der west-östlichen Mystik (1926) die »seltsame Übereinstimmung in den Urmotiven seelischen Erfahrens« in der christlichen und indischen Mystik darlegen will.37 Praktisch mündeten diese Ideen vom Dialog und der Vereinigung der Religionen in der Ausrichtung des Parlamentes der Weltreligionen 1893 in Chicago und dem von Otto initiierten, kurzlebigen Religiösen Menschheitsbund (1920er).38
Das Heilige und das Profane Nach der Klärung dieser Meistererzählung vom Ursprung und Verlust der universalen Gemeinschaft der Menschen und der Hoffnung auf Wiedergewinnung dieses Urzustandes bleibt noch die Frage offen, warum manche Medien positiv und andere negativ rezipiert werden. So werden die »Heiligen Schriften« und der Film als wirkmächtige Mittler zwischen den Menschen und einer »heiligen Wirklichkeit« interpretiert. Das Internet wird zumindest innerhalb der hier bezeichneten Deutungsmuster positiv mit der Utopie einer künftigen Heilsgemeinschaft der Menschen verbunden. Andere Medien wie das Fernsehen werden als Symptom der Auflösung und Störung der ursprünglichen Ein34 | Müller 1867, 75. 35 | Dieses frühe Ziel des Religionsvergleiches teilte die religionswissenschaftliche Disziplin mit der zeitgenössischen Theosophie. Vgl. Blavatsky 1907. 36 | Vgl. Müller 1867, 78f. 37 | Vgl. Otto 1929, V. 38 | Vgl. Lüddeckens 2002; Obergethmann 1998.
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heit, als Ausdruck der hedonistischen »Baalsreligion«, verstanden. Dass diese Deutungsleistungen mit Blick auf die faktische Situation der Medien quasi willkürlich sind, wird sofort klar, wenn man die Pluralität der unterhaltungsorientierten Inhalte und die Omnipräsenz von Werbung im Internet mit denen des Fernsehens vergleicht. Welches Schema liegt diesen Wertungen und Selektionen also zugrunde, die den einzelnen Medien ihren »Platz« in der Meistererzählung zuweisen? Die Diskussion des religionswissenschaftlichen Konzeptes der »Heiligen Schriften« enthält vermehrt Hinweise für die Lösung dieser Kernfrage. Als Resümee der Debatte beharrt Jörg Rüpke darauf, dass in mündlich tradierten Religionen Gedanken, Handlungen und Vorstellungen stets in pragmatischen Zusammenhängen des Alltags erscheinen. Religion könne daher nie »nur Religion« sein, da sie sich immer auf diese weltlichen Probleme beziehen würde. Aus diesem Grunde sei auch das Verhältnis von Religion und Medien prinzipiell ein kritisches.39 Das eigentliche Problem, das hier verhandelt wird, ist die für weite Teile der religionswissenschaftlichen Phänomenologie und der Wissenssoziologie gebräuchliche Feststellung, dass Religionen eine Zweiteilung der Wirklichkeit in das »Heilige« und das »Profane« vornehmen. Nathan Söderblom hatte in seinem wegweisenden Artikel Holiness in der Encyclopedia of Religion and Ethics bemerkt, dass »primitive« wie auch hochentwickelte Religionsformen auf dieser Dichotomie aufbauen: »The ›holy‹ is apart from ordinary life.«40 Durkheim führt diese Beobachtung in die soziologische Religionstheorie ein und gelangt zu der Definition, dass sich Religion per se dadurch auszeichne, dass sie sich auf »heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken« bezieht.41 In der Religionsphänomenologie wurde diese Unterscheidung fortgeführt und mit dem Erfahrungsmoment verbunden. Für Rudolf Otto ist das Erlebnis des religiösen Gefühls ein Erleben des »ganz Anderen«, ein außeralltägliches Mysterium.42 Mircea Eliade greift explizit den Gedanken Ottos auf und konstatiert: »Die erste Definition des Heiligen ist, daß es den Gegensatz zum Profanen bildet.«43 Auch der Phänomenologe Gerardus van der Leeuw beschreibt das religiöse Erlebnis in Anlehnung an Otto als »das Eingreifen einer fremdartigen, ›ganz anderen‹ Macht in das Leben.«44 Und für Friedrich Heiler 39 | Vgl. Rüpke 2005, 200ff.; Rüpke 2007, 43. 40 | Vgl. Söderblom 1913, 731. 41 | Vgl. Durkheim 1994, 75. 42 | Vgl. Otto 1991, 5-38; 170f. Otto bezieht sich hier eingangs auf das erfahrungsorientierte Religionsverständnis von William James Varieties of Religious Experience (1902). Vgl. a.a.O., 11f. 43 | Eliade 1998, 14. Vgl. a.a.O., 13-16. 44 | Vgl. Leeuw 1977, 780.
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besteht schließlich kein Zweifel, dass sich Religionen stets auf die Erfahrung von Transzendenz, von jenseitiger Wirklichkeit beziehen.45 In der Wissenssoziologie entwirft Max Scheler eine anthropologisch konstante Hierarchie der Wissenssphären, in deren Zentrum die »Absolutsphäre« des Wirklichen, Werthaften und »Heiligen« stehe. Die Erkenntnis dieser höchsten Wissenssphäre ist dabei einer letztlich platonisch begründeten Geistesaristokratie der wenigen Auserwählten vorbehalten. Peter Berger rezipiert ebenfalls das Diktum Ottos und warnt davor, dass der Verlust der Verbindung zum »Heiligen« für die säkularisierte Gesellschaft die Gefahr mit sich bringe, »vom Chaos verschlungen zu werden.«46 Für Schütz und Luckmann ist es die Aufgabe der Religionen, die Erfahrungen von großen Transzendenzen (Tod, Lebenskrise) bewältigbar zu machen, das heißt sinnhaft zu deuten. In der modernen Gesellschaft werde dieser Sinnkosmos jedoch fragmentarisiert und die Erfahrung des Todes werde weitgehend aus dem sozialen Leben verdrängt: »So wird in der modernen Gesellschaft das mysterium tremendum zu einem subjektiven Verbraucherphänomen und die ihrem Sinn nach die Faktizität des Lebens transzendierende Wertordnung zu einer Meinungskonstellation.«47 Ein Religionsbegriff, der in dieser Weise die unmittelbare Erfahrung »heiliger Wirklichkeit« oder der »großen Transzendenzen« zur Voraussetzung hat, wird die mediale Repräsentation und Vermittlung religiöser Ideen und Bilder nur als Epiphänomen betrachten, das selbst keine nachhaltige Bedeutung hat.48 Die weitgehende Marginalisierung explizit religiöser Medienphänomene in der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Forschung könnte dadurch zum großen Teil erklärt werden. Die dezidiert wohlwollenden oder abweisenden Interpretationen der »Heiligen Schriften«, des Films, des Fernsehens und des Internet werden vor der theologisch begründeten Dichotomie zwischen der heiligen und der profanen Sphäre plausibel. Wenn die unmittelbare Erfahrung des »Heiligen« das einzig »authentische« religiöse Erlebnis ist, dann ist jede mediale Repräsentation in höchstem Maße legitimationsbedürftig. Wie können Medien, wie bspw. der Kodex oder später das Buch, die auch für rein profane Zwecke genutzt werden, glaubhaft als Träger einer »echten«, göttlichen Offenbarung Geltung erlangen? Am deutlichsten hat wohl der Diskurs über »Heilige Schriften« veranschaulicht, wie sich dieser Prozess der »Sakralisierung« auf verschiedenste Elemente wie den Vorstellungen über den 45 | Vgl. Heiler 1979, 563ff. 46 | Vgl. Berger 1973, 27f. 47 | Luckmann 1963, 73. 48 | So lässt sich bspw. das Fehlen von medienbezogenen Artikeln in Johann Figls phänomenologisch orientiertem Handbuch Religionswissenschaft (2003) verstehen, was selbst gemessen an den Standards der TRE (2007) und der RGG3 (1965) äußerst ungewöhnlich erscheint.
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göttlichen Ursprung und über die Wirkmächtigkeit von Sprache und Schrift stützt. Die positive Rezeption des Films knüpft beinahe nahtlos an katholischwirkungsästhetische oder protestantisch-gleichnishafte Bildtheologien an. Das Internet wird in verschiedene, größere Deutungsmuster eingebettet, die im engeren Sinne theologischen Ursprungs sind (protestantization) oder einer spirituell-organisch-evolutiven Idee wie der Noosphäre entspringen. Dagegen wurde das Fernsehen im deutschsprachigen Diskurs – und in dieser Gründlichkeit offenbar nur hier – seit den 1970ern als »Medienreligion« zum Sinnbild der religionslosen und hedonistischen Konsumgesellschaft stilisiert. Die Fernsehinhalte wurden nicht als Kunst (wie der Film), sondern als Teil der vergnügungssüchtigen Unterhaltungskultur oder, wie im Falle von Berger und Luckmann, als Schau eines verwirrenden Wertepluralismus gedeutet. Medien werden aus dieser meist theologisch gefärbten Anschauung heraus positiv oder negativ an ihrer (vermeintlichen) Nähe und Distanz zum »Heiligen« und zum »Profanen« gemessen, also inwiefern sie ein Erlebnis »heiliger Wirklichkeit« zulassen oder gar fördern können. Für die religionswissenschaftliche Medienforschung ist die Scheidung zwischen dem »Heiligen« und dem »Profanen« und der damit verbundene, erfahrungsorientierte Religionsbegriff dann problematisch, wenn die emische Perspektive zur etischen wird. Die religionswissenschaftliche Konstruktion der »Heiligen Schriften« hat gezeigt, auf welche Art theologische Konzepte wie die »Leute des Buches« (islamisch) oder die »Bibel« universalisiert wurden und welche Schwierigkeiten damit im Einzelnen verbunden sind. Noch gravierender als die Wertungen bestimmter Medien sind die Selektionen und Ausblendungen für die Forschung. Denn Wertungen, gerade wenn sie so extrem ausfallen wie der theologische Diskurs zum Fernsehen, sind leicht durchschaubar und können kritisch reflektiert werden. Die Selektionen und Ausblendungen sind als Prozess jedoch unsichtbar und werden erst bei einer recht umfassenden Kenntnis des gesamten Feldes sichtbar (daher rühren die teils umfangreichen Feldbeschreibungen in der vorliegenden Studie). Vollständig ausgeblendet wurden offenbar Medienphänomene wie das Telefon, die religiöse Publizistik, die Fotografie und überwiegend auch der Rundfunk – eine positive oder negative Einordnung in das Schema vom »Heiligen« und »Profanen« war in diesen Fällen vermutlich nicht möglich. Gleichzeitig verschwinden aber auch bestimmte Aspekte von Medien »vom Bildschirm«, wenn diese nicht dem angestrebten Deutungsmuster entsprechen. So verlieren die Exegeten der »Medienreligion« bspw. keine Zeile darüber, dass eine große Zahl an religionsrelevanten Programmen und gar christliche Sender mit Vollprogrammen im deutschen Fernsehen existieren. Wenn die vorliegende Studie nun einige dieser emisch bedingten »Ausschaltungen« und Wertungen von Medien offenlegen konnte, so ist schon viel auf dem Weg zu einer systematischen Medienforschung in der Religionswis-
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senschaft und Wissenssoziologie erreicht. Die Identifizierung der Meistererzählung von Religion und Medien und die Bezugnahme auf das erkenntnisleitende Schema vom »Heiligen« und »Profanen« werden Licht auf die Funktionsweise dieser Deutungsprozesse geworfen haben. The medium is a message – die »Bedeutung« eines Mediums ist, das haben die Ausführungen gezeigt, keine konstante Größe. Nur zum Teil – ich würde sogar sagen, nur zum kleinsten Teil – lassen sich kulturelle und religiöse Deutungen von Medien aus den rein technischen Gegebenheiten ableiten. So ist dieser Befund, der mit Blick auf jüngere deutschsprachige und englischsprachige Diskurse gewonnen wurde, mit den sicherlich gänzlich anders gelagerten Einsichten in andere Zeiten, Kulturen und Religionen zu vergleichen. Für die Religionswissenschaft wie auch für die Wissenssoziologie gilt es, den erfahrungsorientierten Religionsbegriff kritisch zu reflektieren und schließlich zu relativieren. Das »Erlebnis des Heiligen«, die »jenseitsorientierte und außeralltägliche religiöse Erfahrung« – was immer aus emischer Perspektive darunter verstanden wird – mag einen wichtigen Aspekt von dem ausmachen, was Religionen sind. Dieses jedoch zum Eigentlichen und Innersten, zum Maßstab aller »Religion« zu erheben, verstellt den Blick auf den Alltag des religiösen Lebens. Max Weber hatte dies vor einem Jahrhundert erkannt. Eine Definition dessen, was Religion »ist«, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen. Allein wir haben es überhaupt nicht mit dem »Wesen« der Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun … Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist, in seinem urwüchsigen Bestande, diesseitig ausgerichtet. »Auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden«, sollen die religiös oder magisch gebotenen Handlungen vollzogen werden. 49
Wer als soziologischer Flaneur offenen Auges und Ohres durch die soziale Lebenswelt streift, wird sich schnell von religiösen Medien aller Art umgeben wissen – von tibetischen Gebetsfahnen auf dem Mietshausbalkon über altägyptische Amulette als zeitgenössisches Accessoire bis hin zu Heil spendenden Priestern im Computerspiel. Wo Gottheiten, das Heilige oder transzendente Wirklichkeiten tatsächlich erlebt werden können, kann und will die Religionswissenschaft nicht beantworten. Die medialen Ausprägungen von Religion jedoch sind sichtbar, hörbar und ganz explizit überall zu finden.
49 | Weber 1980, 245.
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D IE MEDIALE R ELIGION
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Q UELLENVERZEICHNIS
Rivette, Jacques (1994): Jeanne la Pucelle (Johanna, die Jungfrau). Frankreich Rooks, Conrad (1972): Siddhartha. USA Rossellini, Roberto (1949): Francesco, giullare di Dio. Italien Rouch, Jean (1949): Initiation à la danse des possédé Scorsese, Martin (1997): Kundun. USA Sharman, Jim (1975): The Rocky Horror Picture Show. USA Sivan, Santosh (2001) : Asoka. Indien Somer, Yossi (1997): The Dybbuck of the Holy Apple Field. Israel Spielberg, Steven (1984): Indiana Jones and the Temple of Doom. USA Spielberg, Steven (1993): Jurassic Park. USA Subiela, Eliseo (1995): No te mueras sin decirme adónde vas (Stirb nicht ohne mir zu sagen wohin du gehst). Argentinien Sykes, Peter & John Krisch (1978): Jesus. Großbritannien, Italien, USA Tarantino, Quentin (1994): Pulp Fiction. USA Tarkowski, Andrei (1972): Solaris. Sowjetunion Tarkowski, Andrei (1979): Stalker. Sowjetunion Teshigahara, Hiroshi (1989): Rikyu. Japan Till, Eric (2003): Luther. USA, Deutschland, Großbritannien Verhoeven, Paul (1992): Basic Instinct I. USA. Von Ambesser, Axel (1962): Er kann’s nicht lassen. Deutschland Wachowski, Andy & Larry (1999): The Matrix. USA, Australien Wachowski, Andy & Larry (2003): Matrix Reloaded. USA. Wachowski, Andy & Larry (2003): The Matrix Revolutions. USA Wainwright, Rupert (1999): Stigmata. USA. Wicki, Bernhard (1961): Das Wunder des Malachias. Deutschland Wiene, Robert (1923): I.N.R.I. Deutschland Winterbottom, Michael (2004): 9 Songs. Großbritannien Wyler, William (1959): Ben Hur. USA Yasujiro Ozu (1953): Die Reise nach Tokyo. Japan Zeffirelli, Franco (1972): Fratello sole, sorella luna. Italien Zemeckis, Robert (1994): Forrest Gump. USA Zinnemann, Fred (1959): The Nun’s Story (Geschichte einer Nonne). USA
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Danksagung
Wer wissenssoziologisch arbeitet, der befindet sich verständlicherweise in einem andauernden Prozess der Selbstreflexion über die Entstehung der eigenen theoretischen Zugangsweisen zur Forschungsproblematik. Der wissenschaftliche Apparat dieses Buches mag »technisch« die analytische Gedankenführung transparent machen. Er ist gewissermaßen der verschriftlichte Spiegel der ganz profanen Laufwege, die mich in zahlreiche Bibliotheken der Universitäten Bonn, Heidelberg, Princeton, Bern und Freiburg führten. Deren jeweilige Ausstattung hat der hier vorgestellten Thematik die eine oder andere, ungeplante Wendung geben können. Vielmehr als Bücher war jedoch meine akademische Sozialisation sicherlich für die kritische Grundausrichtung der Studie entscheidend. Meine akademischen Lehrer Karl Hoheisel, Wolfgang Gantke und Gregor Ahn haben mich in den vergangenen Jahren fortwährend dazu ermutigt, unbekannte Forschungsfelder für die Religionswissenschaft zu erschließen, bestehende Probleme noch einmal aus einer neuen Perspektive zu beleuchten und die Frage nach dem theoriebedingten Vorverständnis der Phänomene, nach den erkenntnisleitenden Paradigmen, nicht aus den Augen zu verlieren. Dafür bin ich ihnen zutiefst zu Dank verpflichtet. Viele weitere Kollegen und Freunde haben es mir durch Ratschläge und Gespräche ermöglicht, religionsgeschichtliche, theoretische und medienwissenschaftliche Fakten und Debatten zu berücksichtigen, die mir ohne ihre Hilfe sicher entgangen wären. Mein Dank gilt daher Michael Bergunder, Petra Bleisch, Heidi Campbell, Simona Chaudhry, Stefanie Elbern, Barbara Hallensleben, Manfred Hammes, Constanze Jecker, Magali Jenny, Ansgar Jödicke, Hans Kippenberg, Hubert Knoblauch, Alexandra Kraatz, David Lavery, Jean-François Mayer, Gernot Meier, Karin Meiner, Nadja Miczek, Hubert Mohr, Nina Raja, Andrea Rota, Jens Schlieter, Ricarda Stegmann, Thomas Staubli, Joachim Trebbe, Ulrich Vollmer, Nadine Weibel und Helmut Zander. Für die Fotografie von Nam June Paiks Enlightenment Compressed danke ich Jane Cohan von der Cohan Gallery in New York. Besonders möchte ich mich an dieser Stelle bei Michael Stausberg und Ralf Hoffmann bedanken. Ersterer antwortete auf meine oftmals in Sackgassen ge-
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ratenen Rechercheanfragen stets mit umfangreichen Ideen und Anregungen. Letzterer konnte mir technische Zusammenhänge manchmal auch ohne Informatikerlatein verständlich machen. Neben vielen Hinweisen habe ich Richard Friedli, Isabel Laack und Michael Tschetsche zahlreiche Korrekturen und inhaltliche Verbesserungen zu verdanken. Meinem Freiburger Team – Gabriella Loser Friedli, Daniela Vaucher besonders aber den Adleraugen Serina Heinens – ist die Korrektur zahlreicher Fehler im Manuskript zu verdanken. Thomas Luckmann danke ich für das offene Gespräch im Juli 2011 über die Hintergründe seines religionssoziologischen Werkes. Dem wöchentlichen Kolloquium mit Leigh Schmidt und Robert Wuthnow während meines zweijährigen Forschungsaufenthaltes in Princeton ist mein neuerliches Bemühen zu verdanken, komplexe Sachverhalte stilistisch möglichst klar zu formulieren – an einigen Stellen ist dies vielleicht auch gelungen. Seit mein postdoktorales Leben vor acht Jahren in Heidelberg begann, hat meine Burgfrau, Han Yan, mich und auch die Entstehung dieser vorliegenden Schrift mit ihrer stets ermutigenden Heiterkeit, vielen Korrekturen und so manchem Rat begleitet. Dafür danke ich ihr.
Index
A Adorno, Theodor W. 30, 92 Ahn, Gregor 33, 208, 378f., 426 Albrecht, Horst 361, 365, 367, 459 Alexander, Samuel 414f. Aristoteles 15, 53, 147, 154, 412 Assmann, Jan & Aleida 168, 198 Auffarth, Christoph 35f., 260 Ayaß, Ruth 12, 30, 42, 131, 137, 161, 349, 364, 366 Ayfre, Amédée 239, 264-266, 277, 280, 287 B Bacon, Francis 178, 182, 403, 463 Barth, Carl 307 Baudrillard, Jean 14 Belting, Hans 165, 283 Bender, Hans 317-319 Benedict, Hans-Jürgen 359, 362, 365f., 368 Benedikt XVI. 232 Berger, Peter L. 17, 24f., 43, 104, 107, 115-120, 122f., 127, 131-33, 144f., 150, 153, 156-159, 161, 456, 458f., 464f. Bergson, Henri 70, 76f., 91, 109f., 121, 156, 158, 401f., 406 Bergstraesser, Arnold 115, 123, 125 Bergunder, Michael 206 Biener, Hansjörg 322, 325
Blavatsky, Helena P. 19, 189, 206 Bloch, Ernst 87f., 91, 120 Böhm, Nadine C. 273, 286-288 Bonnke, Reinhard 221, 252, 338, 383f. Bräunlein, Peter 163 Bruce, Steve 354f. C Campbell, Heidi 29, 279, 295, 381, 428, 443 Cantwell Smith, Wilfried 203-207, 212f. Castells, Manuel 24, 416f., 461 Chantepie de la Saussaye, Pierre D. 40, 193, 198, 203, 206 Cobb, Jennifer 397-399, 416, 444 Colpe, Carsten 194f., 196f., 204f., 212 Comte, Auguste 44, 48-51, 59, 61, 84, 105, 140, 152, 458f. Conan Doyle, Arthur 19, 302 Condorcet, Marquis de 48f., 62, 178 D XIV. Dalai Lama 37, 207, 237, 246, 348, 381, 447 Darwin, Charles 413f. Dawkins, Richard 34 Debray, Régis 233, 281
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Diderot, Denis 44, 413 Dilthey, Wilhelm 56f., 89, 91, 121, 142, 148 Dreyer, Carl Theodor 241, 265, 276, 287 Driesch, Hans 120 Durkheim, Emile 44f., 51f., 53-56, 59, 61, 67, 97, 102f., 119, 122f., 128, 143, 152, 428f., 456, 463
Goethe, Johann Wolfgang von 461 Graham, Billy 37, 207, 250, 252f., 329f. Graham, William A. 203-207, 212f. Gregor XVI. 226 Grimm, Jacob 181f. Guardini, Romano 207, 359, 447 Gumplovicz, Ludwig 50-52, 61, 140, 152, 158
E Edison, Thomas A. 40, 69, 239, 248, 278, 302, 316f. Eliade, Mircea 17, 41, 127f., 168, 194, 208, 274, 288f., 406, 458, 463 Elias, Norbert 56, 78, 84 Emge, Martinus 48 Engels, Friedrich 47f., 51, 84, 459 Enzensberger, Hans Magnus 29
H Haeckel, Ernst 51, 57, 414 Hasenberg, Peter 238, 242, 249, 261, 262, 273, 277, 290 Hegel, G. W. F. 44, 46, 98f. Heiler, Friedrich 17, 41, 136, 168, 194, 197f., 463 Herder, Johann G. 16, 98f., 413 Hermsen, Edmund 36 Herrmann, Jörg 271-274, 276, 286 Hinderer, August 223, 307 Hitzler, Ronald 22 Hock, Klaus 39, 191 Hoover, Stewart M. 32, 351, 367, 424 Horkheimer, Max 30, 92 Husserl, Edmund 53, 58, 70, 107, 110f., 124, 148, 154
F Feuerbach, Ludwig 44, 46f. Figl, Johann 35, 191f., 464 Flasche, Rainer 39 Fliege, Jürgen 342 Flusser, Vilém 14 Foucault, Michel 457 Fuller, Buckminster 397, 410f. G Gadamer, Hans-Georg 446 Gebser, Jean 316 Gehlen, Arnold 30, 118f., 122, 126, 147 Geiger, Theodor 104-107, 117, 140, 148f., 153, 155 Geisendörfer, Robert 256, 307, 332 George, Stefan 72, 78, 208 Giddens, Anthony 418f., 429-434, 439f. Gladigow, Burkhard 35, 168, 208, 387
I Innis, Harold
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J Jerusalem, Wilhelm 45, 50, 52-56, 140f., 142f., 152f., 158, 456 Johannes von Damaskus 281f., 287 Johannes Paul II. 211, 358 K Kant, Immanuel 16, 61, 75, 79 Keel, Othmar 165, 216 Keppler, Angela 12, 28, 30, 131, 134, 137-140, 161, 366
I NDEX
Kippenberg, Hans 39, 164, 204 Kittler, Friedrich 11, 444 Klimkeit, Hans-Joachim 194 Knauß, Stefanie 266f., 286-288 Knoblauch, Hubert 21f., 38, 42, 44, 52, 75, 107, 131, 134-136, 158, 161f. Koch, Anne 39, 208 Konzelmann, Gerhard 233, 357 Krech, Volkhard 25, 39, 165 L Laack, Isabel 208 Lanczkowski, Günter 194, 196, 203f. Lazarus, Moritz 183f. Leeuw, Gerardus van der 17, 40, 122, 127, 194, 197f., 200, 265, 288f., 463 Lévy, Pierre 24, 416f., 460f. Löwith, Karl 115 Lovelock, James 395, 409-411, 444 Luckmann, Thomas 22f., 32, 43, 104, 107, 111, 113, 115-120, 122-131, 132137, 144f., 150, 153f., 156-159, 161f., 167, 456, 458f., 464f. Luhmann, Niklas 14, 215 Lukács, György 75f., 77, 78, 82, 84, 120, 143 Luther, Martin 173f., 193, 207, 218, 222, 257, 282 Lyden, John 274, 276, 286, 288 Lyotard, Jean-François 457 M Mann, Thomas 19, 208f. Mannheim, Karl 17, 21, 23f., 31, 44f., 60, 67f., 75-98, 101, 117, 128, 141, 144, 149, 155-159, 458-460 Marx, Karl 44-49, 51, 67, 84, 98, 117, 140, 459 Mayer, Carl 115, 122, 125 Mayer, Jean-François 380
McLuhan, Marshall 12, 14, 24, 27f., 138, 163, 173f., 395, 399f., 403-409, 411f., 416, 443f., 460f. Meier, Gernot 373 Meister Eckhart 76, 79, 209 Méliès, Georges 238f. Mensching, Gustav 41, 163, 177, 197200, 211 Meyrowitz, Joshua 12 Miczek, Nadja 33, 39, 428 Mohr, Hubert 32, 36, 38, 260f., 293, 338, 342, 355, 446f., 451 Morenz, Siegfried 177, 195f., 198, 212 Müller, Max 40, 167f., 182f., 190199, 204, 213, 461 Münzer, Thomas 87, 91 N Niebuhr, H. Richard 287f., 361 Nietzsche, Friedrich 56, 64f., 148 O Ong, Walter 404f. Ortega y Gasset, José 148f. Otto, Rudolf 17, 25, 57, 71, 131f., 134-136, 159, 161, 196, 173, 267, 287-289, 459, 461-463 P Parsons, Talcott 14, 89 Pesce, Marc 396f., 399, 416, 444 Pezzoli-Olgiati, Daria 33f., 192, 201, 269, 279, 287 Pius IX. 233 Pius X. 248 Pius XI. 313 Plate, S. Brent 242-244, 262f., 274, 276, 288, 292 Platon 70, 77, 97, 147, 177 Plessner, Helmuth 51, 118-122, 132, 157 Plotin 154, 158
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Postman, Neil 14 Pye, Michael 39 R Radde-Antweiler, Kerstin 33, 434 Rahner, Karl 359 Reichertz, Jo 22, 42f., 134, 337, 364f., 366 Rentrop, Norman 339f. Rickert, Heinrich 142 Rousseau, Jean-Jacques 178, 393 Rüpke, Jörg 40, 163, 201-205, 212, 463 S Saint-Simon, Henri de 48f. Sartre, Jean-Paul 124 Scheler, Max 17, 23f., 31, 44f., 51, 56-75, 84, 96-102, 106, 117-122, 125, 127, 131, 141-146, 150-159, 368, 412, 458-460, 464 Schelling, F. W. J. 16, 179 Schelsky, Helmut 122, 147 Schetsche, Michael 28, 158 Schilson, Arno 361f., 365, 459 Scholl-Latour, Peter 233, 355f. Schlegel, Friedrich 178-181, 461 Schleiermacher, Friedrich 16f., 20, 71, 136, 159, 161, 179, 209, 287 Schmidt, Siegfried J. 12, 30, 366, 452 Schoeps, Hans Joachim 208, 445f. Schopenhauer, Arthur 64 Schrader, Paul 265f., 280, 287f., 460 Schütz, Alfred 22, 107-117, 126, 131, 133, 136-138, 153f., 156f., 159, 162, 459, 464 Simmel, Georg 57, 60, 74, 76f., 142f., 151, 156 Smart, Ninian 25 Schmidt, Wilhelm 168, 184
Söderblom, Nathan 196, 200, 463 Soeffner, Hans-Georg 22f., 43, 134137, 158, 162, 205 Sölle, Dorothee 360, 367 Spencer, Herbert 51, 59, 61, 459 Spengler, Oswald 64, 444 Stark, Werner 96-104, 128, 134, 140f., 144, 150, 152, 155, 158, 458 Stausberg, Michael 206, 209f., 249 Steiner, Rudolf 78, 189 Steinthal, Heymann 183f. Stolz, Fritz 25, 39, 446f. Stuckrad, Kocku von 39 T Teilhard de Chardin, Pierre 24, 207, 395-412, 414, 416, 444, 447, 460 Thomas von Aquin 15f., 94, 282 Thomas, Günter 362-365, 367, 459 Tillich, Paul 92, 285-288, 361 Tipler, Frank 398f., 416 Tönnies, Ferdinand 59, 83, 92, 97, 103, 150f., 156, 459 Trier, Lars von 243, 247, 254, 263, 276 Troeltsch, Ernst 89, 102, 120, 151f., 156, 459 Tworuschka, Udo 40, 191, 195, 198, 203, 310, 322-325, 446, 448 Tylor, Edward B. 114 U Uehlinger, Christoph
165
V Varah, Chad 296, 302 Virilio, Paul 14 Vollmer, Ulrich 168, 194 Voltaire 44, 98f. W Waardenburg, Jacques
39, 200
I NDEX
Wach, Joachim 24, 71, 127, 136, 159, 161, 201 Weber, Alfred 78, 84-86, 89, 99, 115, 141, 143, 147 Weber, Max 22, 44f., 51, 59, 67, 89, 93, 97-99, 102f., 108f., 114f., 119, 123, 127, 136, 145f., 151, 231, 368, 428f., 466 Werfel, Franz 209, 249f. Whitehead, Alfred N. 398f., 414-416, 444 Wiese, Leopold von 58, 89 Wilber, Ken 397, 410, 447 Wittek, Gabriele 315, 341 Wirth, Herman 184f. Z Zinser, Hartmut 34, 39, 204 Znaniecki, Florian 97
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