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German Pages 220 Year 2015
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hrsg.) Spannungswechsel
Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Ralf Schnell.
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hrsg.)
Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000
Medienumbrüche | Band 8
Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
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© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Susanne Pütz, Siegen; Kordula Röckenhaus, Bielefeld © für die abgebildeten Werke: VG Bild-Kunst, Bonn 2005, für Robert Rauschenberg, René Magritte, Giacomo Balla, Lazlo Moholy-Nagy, Dorothea Tanning, Marie Cerminova Toyen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-278-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT
Nanette Rißler-Pipka
Einleitung: Theoretische Vorbemerkungen zu medialen Zäsuren ................. 7 Marion Tendam
Audiovisuelle Übergänge in Kameradschaft von G.W. Pabst..................... 17 Marijana Erstiü
Good Vibrations? Überlegungen zur Metamorphose der Passantin in futuristischen Körper- und Modeinszenierungen .............. 31 Tanja Schwan
Einbrüche, Aufbrüche, Umbrüche, Durchbrüche – über Risse und Sprünge auf (Lein-)Wänden in Literatur und Kunst seit den historischen Avantgarden........................... 43 Annette Geiger
Mathematische Peepshow und mediales Panopticon – Das ‚Weltwissen‘ im Möbel- und Mediendesign von Charles und Ray Eames ............................................................................... 73 Jens Schröter
1956, 1953, 1965 – Überlegungen zur Archäologie elektronischen Löschens............................ 99 Christian Spies
Nachricht, Schild und Bild. Laszlo Moholy-Nagys Telefonbilder ............ 125 Joseph Garncarz
Von der Bilderschau zur Nachrichtensendung........................................... 141 Sandra Herling
Zäsuren im Normalisierungsprozess spanischer Regionalsprachen am Beispiel des Radios .............................................................................. 155
Jens Uwe Pipka
„Find the Answer within.“ Software Entwicklung im Gleichgewicht zwischen Implementierung und Dokumentation ....................................... 167 Kirsten von Hagen
„You’ve got Mail“– Liebe im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit.................................... 187 Isabel Maurer Queipo
Von Fantômas zu Kill Bill – Zwischen Kult und Électrochoc .................. 203 Zu den Autorinnen und Autoren ................................................................ 215
NANETTE RISSLER-PIPKA
EINLEITUNG: THEORETISCHE VORBEMERKUNGEN ZU MEDIALEN ZÄSUREN Wenn wir einen Beitrag zur Mediengeschichte im Sinne von Foucaults archéologie schreiben möchten,1 reicht es nicht aus, die beiden markanten Medienumbrüche um 1900 und 2000 zu betrachten. Denn die Bedeutung und Relevanz dieser Veränderungen durch die Erfindung des Films (und der Fotografie) auf der einen Seite und durch den Wechsel von analogen zu digitalen Medien auf der anderen Seite lässt sich nur erschließen, wenn auch die unscheinbaren medialen Zäsuren beachtet werden. Solche Zäsuren vollziehen sich möglicherweise am Rande der beiden Medienumbrüche oder begleiten sie.2 Dabei geht es weniger darum, eine kausale Abfolge von kleinen Ereignissen zu skizzieren, die dann zum großen Umbruch geführt haben. Vielmehr handelt es sich um ein enger geknüpftes Netz, das abseits einer Bedeutungshierarchie auch die scheinbar marginalen Veränderungen auffängt.
1 Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981. 2 Neben Foucaults zahlreichen Beispielen einer solchen auf das Disparate, die Schwellen, Passagen und Brüche ausgerichteten Geschichtsschreibung (vgl. Wahnsinn und Gesellschaft, Sexualität und Wahrheit, Die Ordnung der Dinge, etc.) gibt es auch aktuelle Versuche, wie Gumbrechts 1926, eine Alternative zur immer noch teleologischen Art der Geschichtsschreibung zu bieten (vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a.M. 2001). Vgl. speziell zur Mediengeschichtsschreibung auch Schanze, Helmut (Hrsg.): Handbuch Mediengeschichte, Stuttgart 2001 und Engell, Lorenz/Vogl, Joseph (Hrsg.): Mediale Historiographien, Weimar 2001. Vgl. auch Roloff, Volker: „Intermedialität und Medienumbrüche: Anmerkungen zur aktuellen Diskussion“, in: Frank Furtwängler et al. (Hrsg.): Zwischen-Bilanz. Eine Festschrift für Joachim Paech zum 60. Geburtstag, www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2002/836/html/zdm/beitrg/Roloff: „Offensichtlich sind medienhistorische Umbruchssituationen nur vor dem Hintergrund langfristiger Prozesse zu begreifen, die die Geschichte des Sehens und der Aisthesis, d.h. Formen der sinnlichen, audiovisuellen Wahrnehmung bestimmen.“
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Die im Forschungskolleg „Medienumbrüche“ angelegte Makrostruktur erlaubt es, rückblickend Bezüge zwischen zwei entscheidenden Einschnitten in der Mediengeschichte herzustellen.3 Wir wenden uns davon ausgehend einer Mikrostruktur zu, die eine Bewertung hinsichtlich der Bedeutung der jeweiligen Zäsur innerhalb der Mediengeschichte zunächst einmal offen lassen kann. Das hat den Vorteil eines dynamischen und flexiblen Beobachterstandpunktes. Wir begeben uns mit Foucault auf die Suche nach „den fast unwahrnehmbaren Bruchstellen“ und bemühen uns, „um die Wiederherstellung des kleinen und unsichtbaren Textes, der den Zwischenraum der geschriebenen Zeilen durchläuft und sie manchmal umstößt.“4 Es soll vorher nicht festgelegt werden, in welcher Relation die hier betrachteten medialen Zäsuren zu den Medienumbrüchen 1900 und 2000 stehen. Sie werden folglich nicht in einer (teleo-)logischen Kette von Ereignissen gesehen, die als Begründung eines Umbruchs dient. Sicherlich bleibt die leitende Fragestellung, wie die jeweilige Zäsur im Verhältnis zu einem oder beiden Medienumbrüchen steht. Entscheidend ist jedoch, dass sich die Auswahl der Beispiele keineswegs an der Relevanz dieser Beziehung orientiert. Im Gegenteil wurden gerade solche Gebiete ausgewählt, die nicht auf den ersten Blick mit den beiden Medienumbrüchen in Verbindung gebracht werden. So zeigen sich die Lücken im Netz, und es ergeben sich teilweise erstaunliche Korrelationen zwischen medialer Zäsur und Medienumbruch, aber auch zwischen den einzelnen Disziplinen. Es gibt inzwischen ähnliche Ansätze, die – wie Zielinski – eine Archäologie der Medien versuchen. Er kommt in Anlehnung an Visker und Foucault zur „An-archéologie“ der Medien, die er als „Suchbewegung“ charakterisiert. Seine Suche richtet sich auf technische „Kuriositäten“ aller Art, die er anarchisch, d.h. führer- und zügellos verfolgen möchte.5 Dies wirft allerdings die Frage auf, ob er als Beobachter nicht automatisch zum „Führer“ seiner Suche wird, vor allem da sie Zielinski an den „Helden“ seiner „An-Archäologie der Medien“ ausrichtet. Der autobiografische Anteil, der, wie er selbst betont, sehr persönlichen Heldengeschichten ist unverkennbar.6 Dennoch werden auch bei Zielinski 3 Vgl. Schnell, Ralf: „Einleitung“, in: SPIEL, Jg. 20 (2001), H. 2 zum Thema „Medienumbrüche“, S. 165-173. 4 Foucault 1981, S. 42-43. 5 Zielinski, Siegfried: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 40 und S. 46ff. 6 Vgl. ebd., S. 49-54, bes.: „Jeder von uns, die sich dafür entschieden haben, zu lehren, zu forschen und zu schreiben, hat seine Helden. […] Ihre Aus-
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Verbindungen zwischen Technik, Philosophie und Kunst deutlich, die überraschend sind und durch seine Suche zum Vorschein kommen. Unvermeidlich ist es bei einem solchen Vorgehen allerdings, erneut Ausschließungen vorzunehmen. Entscheidend ist dabei, dass nun nicht das Marginale oder Periphere in ein Zentrum umgewandelt wird. Einen Leitsatz formuliert Zielinski dahingehend: Wirksame Verbindungen zu den Peripherien herzustellen, ohne sie in die Zentren integrieren zu wollen, kann dabei helfen, die Me7 dienwelten offen und veränderlich zu halten.
Die Schwierigkeit solcher Ansätze besteht immer darin, nicht in eine Beliebigkeit der Auswahl abzugleiten. Während Zielinskis Auswahl autobiografischer Natur ist und vor allem Technikgeschichtliches beachtet, wenden wir uns den medialen Zäsuren zu, die mit den beiden Medienumbrüchen 1900 und 2000 in Verbindung stehen. Wenn man den Begriff der „Zäsur“ mit Waldenfels philosophisch einkreist, kommt man wieder zu der auch von Zielinski aufgeworfenen Frage nach der Bedeutungshierarchie, die zwangsläufig eingeführt wird, wenn etwas als Zäsur herausgehoben und damit von Bedeutung ist. Waldenfels unterscheidet den eher neutralen Begriff der „Pause“ von der „Zäsur“: Während die Pause eher an eine Hohlform erinnert, die sich als Lücke, Loch, Leere oder Intervall darstellt, wird in der Zäsur der künstliche und auch mit Gewalt verbundene Vorgang des Einschneidens betont. Einschnitte lassen Ausschnitte oder Abschnitte entstehen. Muster verwandeln sich in Schnittmuster, Zäsuren in 8 Zensuren.
Die Vorstellung, dass es sich bei einer medialen Zäsur auch um einen gewaltvollen Akt handelt, ist durchaus plausibel, wenn man an die vielfach ausgedrückte Angst in Zusammenhang mit kleineren und größeren medialen Zäsuren denkt, die sich im künstlerischen Bereich und in der Rede vom „Ende der Medien“ beobachten lässt. Tholen kritisiert zu recht diese apokalyptische Einstellung,9 da es sich bei der Zäsur zwar um eine gewaltvolle Veränderung, aber doch weniger um einen Stillstand, ein Ende wahl ist deshalb kein Zufall. […] Ich suchte alle die Orte auf, an denen die Helden meiner An-Archäologie gewirkt haben.“ 7 Ebd., S. 299. 8 Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a.M. 2002, S. 216. 9 Vgl. Tholen, Georg Christoph: Mediale Zäsuren, Frankfurt a.M. 2002.
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oder auch nur eine „Pause“ handelt. Die Unterscheidung zwischen „Pause“ und „Zäsur“ ist auch deshalb wichtig, weil die Zäsur Bewegung und Veränderung ausdrückt. Betrachtet man mit Waldenfels die Zäsur als Teil eines „Bewegungsmusters“, das aus mehreren Zäsuren und auch aus Pausen besteht,10 wird die Gefahr einer erneuten Hierarchisierung gebannt. Es kann auf diese Weise kein linearer Verlauf beschrieben werden und auch eine Vorher-Nachher-Betrachtung ist nicht mehr das Hauptkriterium. Im Gegenteil bleibt eine „Verbindung in der Trennung“11 bestehen, wie Waldenfels betont. Der Bruch oder die Zäsur, die etwas voneinander trennt, verbindet diese beiden oder auch mehrere Elemente gleichzeitig miteinander. Daher wird auch nichts abgelöst, beginnt oder endet, sondern bleibt durch ein Netz von Bedeutungen oder eben durch das „Bewegungsmuster“ miteinander verbunden. Es ist aber immer beides: Trennung und Verbindung. Das „Bewegungsmuster“ bildet keinen geschlossenen Raum, den man als Einheit betrachten könnte, sondern wir müssen aushalten können, dass selbst zwischen den zeitlichen Eckpunkten der beiden Medienumbrüche 1900 und 2000 unendlich viele mediale Zäsuren zu beobachten sind, die auch weiter zurück reichen können und sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und damit in allen Disziplinen finden lassen. Festzustellen bleibt, dass es sich bei der vorliegenden Auswahl ganz bewusst um exemplarische Analysen solcher Zäsuren handelt, die einen Teil einer bisher zu wenig beachteten Mediengeschichte ausmachen. Es ist daher zunächst eine „Geschichte der Nebenpositionen und Randpositionen“,12 wie sie Foucault als Ideengeschichte beschreibt. Tholens Konzept der „Zäsur der Medien“ fußt ebenfalls auf der foucaultschen archéologie, wenn er damit versucht, die „Wahrnehmung von Zeit und Geschichte“ neu zu beschreiben: Die Zäsur die sich auf keiner kontinuierlichen oder evolutiven Zeitlinie verorten läßt, durchkreuzt die Vorstellung von Anfang und 13 Ende – auch und gerade im geschichtsphilosophischen Sinne.
Was Tholen generell auf die Beziehung zwischen Mensch, Medium und Technik anwendet, soll hier konkret an medialen Zäsuren aus der künstlerischen und alltäglichen Praxis untersucht werden. Denn das Denken von Geschichte und Zeit als nicht-linear, veränderbar, beobachterabhän10 11 12 13
Vgl. Waldenfels 2002, S. 218. Ebd., S. 220. Foucault 1981, S. 195. Tholen 2002, S. 9.
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gig und gegenläufig wird von Tholen als Verdienst einer postmodernen Theorie von Foucault, Lyotard, Derrida, etc. angesehen, zeigt sich aber zum Teil zeitlich und inhaltlich unabhängig von der Theorie in den künstlerischen Werken, die eine mediale Zäsur begleiten und reflektieren.14 Diese medialen Zäsuren zwischen 1900 und 2000 zu beschreiben, bedeutet nicht einer zeitlichen Linie durch Einschnitte neue Struktur zu geben, sondern den Verlust von „Anfang und Ende“, wie Tholen es nennt, auszuhalten. Mehr noch sind die Zäsuren dazu in der Lage, die lineare Struktur zu dekonstruieren. Wie die hier behandelten Beispiele zeigen, lässt sich kein bestimmter Zeitpunkt für die jeweils beschriebene Zäsur nennen. Selbst der als große Veränderung und zum Teil apokalyptisch als „Ende des Menschen“15 wahrgenommene Umbruch von analogen zu digitalen Medien lässt sich zeitlich nicht eingrenzen. Spätestens im 17. Jahrhundert mit Bacon und Leibniz setzt z.B. Coy die Umwandlung von Lettern in die Ziffern 0 und 1 an.16 Ähnlich verhält es sich bei den hier betrachteten Zäsuren des elektronischen Löschens oder des Quelltextes innerhalb des zweiten Medienumbruchs. Trotz der scheinbar klaren zeitlichen Angaben führt die Frage des Löschens konsequenterweise zurück zu den ersten Speichermedien wie Kreide, Wachstafel etc. Ebenso verweist die aktuell diskutierte Veränderung in der Informatik – von der Dokumentation zur Beschränkung auf den Quelltext – unweigerlich auf die von Platon bis Derrida geführten Debatte um die Vorherrschaft von Stimme oder Schrift.17 Es stellt sich die alte Frage, welches Medium besser geeignet sei, eine bestimmte Information zu übermitteln und sogar welches das ‚ursprünglichere‘ Medium sei. In der Informatik handelt es sich um ein Festhalten an der schriftlichen Dokumentation, die hierarchisch vor den Code gestellt wird, die aber – ähnlich wie das „a“ oder „e“ von Derridas différance, das man liest, aber nicht hört – keine ‚Übersetzung‘ des Quelltextes sein kann.18
14 Vgl. Roloff 2002. 15 Tholen 2002, S. 15, vgl. auch ebd. S. 124ff. 16 Coy, Wolfgang: „Analog/Digital – Schrift, Bilder & Zahlen als Basismedien“, in: Peter Gendolla, Peter Ludes, Volker Roloff (Hrsg.): Bildschirm – Medien – Theorien. München 2002, S. 154-165, hier: S. 158-159. 17 Vgl. die Beiträge von Jens Schröter und Jens Uwe Pipka in diesem Band. Zur Stimme und Schrift vgl. Derrida, Jaques: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972 und ders.: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983. 18 Vgl. zum Begriff der différance das entsprechende Kapitel in Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie, Wien 1988.
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Wenn wir mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900 und 2000 untersuchen, handelt es sich zwar um eine grobe zeitliche Orientierung, aber vor allem um eine Orientierung am diskursiven Feld zweier Umbrüche, die selbst genauso wenig allein an den beiden Jahrhundertwenden festgemacht werden können. Schanze betont zudem: Allein am Fortschritt der Medientechnologie also kann sich Mediengeschichte nicht orientieren, auch nicht, im Sinne eines Epochenmodells allein an den Zäsuren, welche durch die Erfindungs19 geschichte markiert werden.
Die Erweiterung der Pespektive beginnt schon bei der Definition des Medienbegriffs.20 Wir begreifen auch Mode, Design, Shortmessages, emails oder den Quelltext in der Informatik als Medien. Bei den ausgewählten Themenbereichen handelt es sich entweder um eine Zäsur im Rahmen einer technischen Weiterentwicklung (vgl. Tonfilm, Fernsehen, Radio, Telefon, e-mail/sms oder elektronisches Löschen) oder um eine Veränderung innerhalb eines Gebiets, die mit einem Medienumbruch in Zusammenhang steht.21 Dabei kann der Umbruchsbegriff auch als reine Metapher antizipiert werden.22 In den Detailanalysen zeigen sich neue, bisher kaum beachtete Formen, die Umbruchssituation künstlerisch auszudrücken. Gerade in den ästhetischen Umsetzungen werden diskursive Beziehungen reflektiert, die bei der Betrachtung der reinen technischen Entwicklungen leicht übersehen werden. Unter der oben genannten Fragestellung können vor allem in der interdisziplinären Zusammenstellung der Themen ‚neue Gruppierungen‘23 und mögliche Sinnzusammenhänge geschaffen werden. So ist der 19 Vgl. Schanze, Helmut: „Von der Schrifterfindung zu den Digitalmedien“, in: ders. (Hrsg.) 2001, S. 208-219, hier: 208 20 Vgl. zur immer schwieriger werdenden Definition des Medienbegriffs Tholen 2002, S. 7ff.; vgl. auch Zielinski 2002, S. 46ff. 21 Beispielsweise die Mode zur Zeit des ersten Medienumbruchs (vgl. Beitrag Erstiü) oder die filmischen Referenzen im Actionkino des zweiten Medienumbruchs (vgl. Beitrag Maurer Queipo). 22 Vgl. dazu die Beispiele aus der Malerei im Beitrag von Tanja Schwan in diesem Band. 23 Den Begriff der „Gruppierung“ verwende ich Foucault entsprechend, der damit wissenschaftliche Disziplinen und diskursive Einheiten beschreibt, aber auch die Möglichkeit aufzeigt, neue Gruppierungen zu bilden (vgl. Foucault 1981, S. 48f. und S. 45: „indem man sie von allen Gruppierungen befreit, die sich als natürliche, unmittelbare und universelle Einheiten geben, gibt man sich die Möglichkeit, aber diesmal durch eine Menge von beherrschbaren Entscheidungen, andere Einheiten zu beschreiben. Vorausgesetzt, daß man deren Bedingungen klar definiert, wäre es legitim […] dis-
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Wechsel vom Stummfilm zum Tonfilm bezüglich des Drehbuchs, das auch dokumentarischen Charakter hat, vergleichbar mit dem Verzicht auf eine schriftliche Dokumentation in der Softwareentwicklung. In beiden Fällen stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten der sprachlichen Beschreibungen innerhalb eines anderen Mediums. Beim Stummfilm scheint das ältere Medium zunächst geeigneter, indem es sich ganz auf das Bild konzentrieren kann – im Gegensatz zum Tonfilm, während in der Informatik das neue Medium, der Quelltext, im Gegensatz zu Schrift und Sprache favorisiert wird. Die Veränderungen verlaufen dabei gegenläufig: im Tonfilm muss die Sprache in Form der Stimme (des Tons) integriert werden, in der Programmierung soll die Sprache in Form der Textdokumentation als überflüssig und sogar behindernd entfernt werden. Die aktuelle Diskussion innerhalb der Informatik erinnert an die polemische Verteidigung des Stummfilms durch René Clair.24 Auch am Beispiel der „Tagesschau“ lässt sich in ihren Anfangstagen ein solcher Übergang vom Bild zum gesprochenen Wort verfolgen. Denn hier dominiert der Tagesschausprecher zunächst ohne Bilder aus aller Welt, nachdem das Kino mit seinen „Wochenschauen“ zuvor den umgekehrten Weg ging und das Radio für die Wortbeiträge zuständig war.25 Das Radio wiederum erlebt bezüglich der Verbreitung und Erhaltung der spanischen Regionalsprachen eine Renaissance, die sich sprachwissenschaftlich belegen lässt und sowohl kultur- als auch mediengeschichtlich betrachtet eine Zäsur darstellt. Denn zum einen erholen sich die marginalisierten Regionalsprachen und dies zum anderen in einem Medium, das sich durch das Fernsehen ebenfalls an den Rand gedrängt sieht.26 Die Frage nach der vermeintlichen Vorherrschaft des neuen und Verdrängung des alten Mediums stellt sich auf ganz ähnliche Weise in den unterschiedlichen Gegenstandsbereichen von Hollywood-Film und moderner Kunst. Im Mainstream-Kino Hollywoods verbinden sich unter romantischen Vorzeichen das alte Medium des Briefes oder der Flaschenpost mit den neuen, schnellen und zielgerichteten Medien e-mail und sms. Während jedoch im Vergleich mit der Flaschenpost das Telefon als unromantisch verteufelt wird, wird gleichzeitig die e-mail und der kursive Mengen zu bilden, die nicht arbiträr wären, indessen aber unsichtbar geblieben wären.“). 24 Vgl. Clair, René: Kino. Vom Stummfilm zum Tonfilm, Zürich 1995; vgl. auch die Beiträge von Marion Tendam und Jens Uwe Pipka in diesem Band. 25 Vgl. den Beitrag von Joseph Garncarz in diesem Band. 26 Vgl. den Beitrag von Sandra Herling in diesem Band.
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anonyme Internet-Chat mit den ‚alten‘ Attributen eines Liebesbriefes ausgestattet.27 Im Spannungsfeld zwischen den ‚neuen‘ Medien Fotografie, Film, Telefon und Digitalmedien, die dahin tendieren den Künstler zu ersetzen, und der weiterhin erkennbaren „malerischen Handschriftlichkeit“, bewegen sich auch die Telefonbilder Moholy-Nagys. Die Frage, ob die Bilder tatsächlich per Telefon in Auftrag gegeben wurden oder nicht, ist angesichts der anonymisierten Herstellungsweise, die trotzdem eine individuelle Gestaltung beinhaltet, gar nicht mehr entscheidend. Allein die Möglichkeit wird direkt im Kunstwerk reflektiert.28 Ähnlich verhält es sich mit aktuellen Action-Filmen, die mit großem technischen Aufwand versuchen, Effekte zu erzielen, aber nicht unbedingt zu einer neuen Dimension der Wahrnehmung gelangen, sondern auf künstlerische Verfahrensweisen angewiesen sind, die schon im Laufe des ersten Medienumbruchs – und dort besonders in den Avantgarden – ausprobiert wurden. Spannend sind solche Filme für unser Thema, wenn sie, wie am Beispiel von KILL BILL gezeigt,29 ganz bewusst in intermedialer Form ihre Wurzeln innerhalb der Mediengeschichte reflektieren und auf die Zusammenhänge zwischen den beiden Medienumbrüchen 1900 und 2000 sowie auf die medialen Zäsuren verweisen, die dazwischen liegen. Hier werden mediale Zäsuren eben nicht als unüberwindbare, radikale Veränderung oder gar als Ende von Vorherigem antizipiert, sondern dienen im Gegenteil dazu, die Basis unserer Kommunikation und Wahrnehmung neu zu betrachten. Die technische Neuerung spielt eher eine Nebenrolle. Neue künstlerische Ausdrucksformen bilden sich in Auseinandersetzung mit der medialen Zäsur, aber das wahrnehmbare Ergebnis lässt unter Umständen nicht erkennen, ob es mit dem ‚alten‘ oder ‚neuen‘ Medium erreicht wurde. Auch im Bereich von Design und Architektur finden sich in Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten ‚neuer‘ Medien Überlegungen zur menschlichen Wahrnehmung generell. In den Arbeiten von Charles und Ray Eames lässt sich sogar eine eigene „Archäologie der Medien“ entdecken,30 die sich ganz im Sinne Foucaults nicht an den „Dokumenten“, sondern den „Monumenten“ orientiert.31 Doch an diesem Beispiel zeigt sich auch, dass im Fall der Eames die Fokussierung auf die 27 28 29 30 31
Vgl. den Beitrag von Kirsten von Hagen in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Christian Spies in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Isabel Maurer Queipo in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Anette Geiger in diesem Band. Zum Unterschied zwischen „Monument“ und „Dokument“ vgl. Foucault 1981, S. 15.
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„stummen Monumente“, „bewegungslosen Spuren“, „kontextlosen Gegenstände“32 auch zu einer naturphilosophisch, aber auch politisch-patriotischen Aussage missbraucht werden kann. Denn die Offenheit und undefinierbare Faszination können leicht wieder zu einer Einheit und kausalen Kette werden, verlieren dann aber gerade den von Foucault geforderten Monumentcharakter, weil der zunächst ‚kontextlose Gegenstand‘ einem Ziel und damit einem Kontext zugeordnet wird. *** Welche neuen „Gruppierungen“ sich anhand der Beispiele aus Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft, Kunstgeschichte, Design und Informatik bilden lassen, soll offen bleiben. Die Reihenfolge der Beiträge richtet sich zu Gunsten einer möglichst neutralen Perspektive nach chronologischen Gesichtspunkten und bietet Spielraum für eine individuelle Lektüre. So lassen sich Querverbindungen bezüglich der künstlerischen Reflexion der medialen Zäsur zwischen den Beiträgen zur Malerei der Avantgarde (Schwan) und des aktuellen Films (Maurer Queipo) ebenso entdecken wie zwischen den Beiträgen zum Stumm/Tonfilm (Tendam) und zur Tagesschau (Garncarz). Zu zahlreichen weiteren Verknüpfungen lädt die Lektüre des Bandes ein.
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AUDIOVISUELLE ÜBERGÄNGE IN KAMERADSCHAFT VON G.W. PABST Der technische und ästhetische Stellenwert des ‚Umbruchs‘ vom Stummfilm zum Tonfilm ist unbestritten. Allerdings hat die traditionelle medienhistorische Sicht auf dieses Phänomen andere, weniger bedeutende Begleiterscheinungen an den Rand gedrängt. Zu diesen übersehenen Aspekten zählen beispielsweise die innerhalb der entstehenden Tonfilmkultur neu zu ordnenden Austauschbeziehungen zwischen Drehbuchvorlage und filmischer Umsetzung, an deren Schnittstelle sich audiovisuelle Bruchstellen und Zwischenräume offenbaren. Anhand des Films KAMERADSCHAFT von Georg Wilhelm Pabst, eines ‚frühen Tonfilms‘ aus dem Jahr 1931, werden einige Auswirkungen des ‚neuen Hörens und Sehens‘ auf das ‚Schreiben für den Film‘ in den Blick genommen. Dabei gibt gerade das Drehbuch – als geschriebener Film – über die zahlreichen, mit dem Tonfilm verbundenen, technischen und ästhetischen Umsetzungsschwierigkeiten Aufschluss. Eine die Peripherie des Tonfilmdrehbuchs einschließende Perspektive soll zeigen, wie stark sich ein zentraler Wendepunkt der Filmgeschichte in immer kleinere Aspekte verzweigt. Die Wende zum Tonfilm ist mit paradoxen Fragen und widersprüchlichen Konstellationen verbunden. Schon die Geschichte der Tonfilmerfindungen verhindert eine Festlegung der Geburtsstunde des neuen Mediums und damit eine eindeutige Beurteilung des Phänomens. Zwischen den Experimenten Edisons Ende des 19. Jahrhunderts und den Patenten der ‚Triergon‘-Gruppe um Hans Vogt Mitte der 20er Jahre begleiten zahlreiche Zufälle und Rückschläge die ‚Erfindungsgeschichte‘ der Tonfilmtechnik.1 Definitorische Schwierigkeiten ergeben sich auch auf medienästhetischer Seite. So gilt für viele Filme der 20er und 30er Jahre,
1 Dargestellt zum Beispiel von Friedrich Kittler: „Das Werk der drei. Vom Stummfilm zum Tonfilm“, in: ders./Thomas Macho u.a. (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002, S. 357-370.
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dass eine unhinterfragbare Einordnung konkreter Beispiele in die Dichotomie ‚Stummfilm-Tonfilm‘ nahezu unmöglich ist. Während viele ‚frühe‘ Tonfilme noch keinerlei ästhetische Eigenständigkeit erlangt zu haben scheinen, weisen auch ‚späte‘ Stummfilme einen vergleichbar ambivalenten Charakter auf, denn mit ihrer souveränen „Visualisierung des Tons“, antizipieren sie die audiovisuelle Perfektion des Tonfilms.2 Auch hinsichtlich der Frage, inwieweit man den Tonfilm als ‚neues Medium‘ bezeichnen kann, sieht man sich vor einem Dilemma. Corinna Müller löst dieses Problem, indem sie zwischen dem ‚Medium Film‘ einerseits und einem ‚Forum Kino‘ andererseits unterscheidet. Innerhalb der Institution des Kinos lassen sich „Stummfilm und [...] Tonfilm durchaus als eigenständige Medien begreifen“3. Wobei der „Stummfilm als die erste kulturell etablierte Form des Bewegtbildmediums an sich“ und der Tonfilm „als die erste Form eines technisch reproduzierenden audiovisuellen Mediums“ gelten kann.4 So könnte man auch schon die Tonbilder Oskar Messters als Vorläufer des Tonfilms bezeichnen.5 Inwieweit man jedoch die Tonfilmwende als medienhistorisch einmaligen Ersetzungsvorgang einstufen kann,6 bleibt fraglich, da auch andere mediale Ablösungsprozesse einen ähnlichen Status beanspruchen könnten. Das Phäno2 Prümm, Karl: „Historiographie einer Epochenschwelle: Der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm in Deutschland (1928-1932)“, in: Knut Hickethier (Hrsg.): Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Dokumentation der Tagung der GFF 1988, Berlin 1989, S. 93-102, hier S. 97: „Der Stummfilm erzeugte paradoxerweise eine Intensivierung der Tondimension. Das Nicht-Hörbare mußte bildbeherrschend gezeigt werden [...]. Unter einem Verdopplungszwang mußte die Reaktion des Hörenden ebenso zentral im Bild erscheinen, Simultaneität löste sich in Sukzession auf.“ (S. 96f). 3 Müller, Corinna: Vom Stummfilm zum Tonfilm, München 2003, S. 389. 4 Ebd.: „So unterschiedlich die kommunikativen und rezeptiven Strukturen von Stummfilm und Tonfilm waren, so war es ihnen ebenso eigen, dass sie Werkzeuge zu ihrer Realisierung, Vervielfältigung und Verbreitung brauchten und dass sie eines Forums bedurften.“ 5 Ebd., S. 74ff. 6 Mühl-Benninghaus, Wolfgang: Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektro- und der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren, Düsseldorf 1999, hier S. 404: „Da für die Tonfilmherstellung und -wiedergabe das beim Stummfilm eingesetzte technische und zum Teil auch künstlerische Personal, die Fundi sowie die Lichtspielhäuser weiter genutzt werden konnten, wurde das alte Medium durch das neue vollständig verdrängt. In der absoluten Verdrängung des stummen durch den Tonfilm lag eine grundlegende Besonderheit des beschriebenen Prozesses. Mit dem Verschwinden des Stummfilms war bei keiner der abgegebenen Prognosen gerechnet worden. Vergleichbare Vorgänge haben sich bisher in der Mediengeschichte auch noch nicht wiederholt.“
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men ‚Tonfilm‘ als zentraler mediengeschichtlicher Wendepunkt scheint in seinen wesentlichen Aspekten nicht zuletzt sprachlich konstituiert zu sein. Denn schließlich haben vor allem die Auseinandersetzungen innerhalb der zeitgenössischen ‚Tonfilmdebatte‘ in ihrer Eloquenz und Vehemenz dessen Erfolg überhaupt möglich gemacht. Dies ist auch im immanenten Sensationscharakter der Filme spürbar.7 Die Auswirkungen der Tonfilmwende zeigen sich auch in den neuen Anforderungen an das Drehbuchschreiben. Dabei repräsentiert das Drehbuch – als geschriebene Filmvorlage – eine Sonderform des filmischen Schreibens.8 An der Schnittstelle zwischen Drehbuch und filmischer Umsetzung lassen sich audiovisuelle Wahrnehmungsveränderungen besonders deutlich ablesen. So gibt es Elemente im Drehbuch, „die sich gegen die vielen kleinen Veränderungen in der filmischen Umsetzung mit beinahe materieller Gewalt durchsetzen“.9 Diese Bruchstellen und Zwischenräume nehmen im neuen Abstraktionsniveau des Tonfilms, wo das Verhältnis zwischen Bild- und Tonebene nicht nur bezogen auf den Dialog, sondern auch auf den Einsatz von Musik und Geräuschen neu gewichtet wird, eine zentrale Rolle ein. Zielte das Stummfilmdrehbuch überwiegend auf den visuellen Gesamteindruck, kommt im Tonfilmdrehbuch nun eine audiovisuelle Eigendynamik zum Tragen. Das, was man schließlich im Tonfilm sehen und hören kann, ist das Ergebnis einer konsequenten, im Drehbuch genau vorausberechneten Trennung und Verbindung von Bild- und Tonelementen. Die Wahrnehmungsatmosphäre der Audio-Vision10 prägt auch das Abstraktionsniveau des
7 In dieser Hinsicht ließe sich die Tonfilmrevolution nicht nur als ein ‚Ereignis der Mediengeschichte‘ bezeichnen, sondern auch als ein ‚Medienereignis‘ von transnationaler Bedeutung. Dieser Aspekt ist Thema meines Dissertationsprojektes, das am Graduiertenkolleg ‚Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart‘ an der Universität Gießen unter dem Arbeitstitel „Kulturen des Hörens und Sehens“ entsteht. 8 Vgl. zum Drehbuchschreiben im Stummfilm: Witte, Karsten: „Direktor Musenfett, Ein Volksfeind und Die Ästhetik der Nebensachen. Zur Geschichte und Theorie des Drehbuchschreibens in Deutschland“, in: Jochen Brunow (Hrsg.): Schreiben für den Film. Das Drehbuch als eine andere Art des Erzählens, München 1989, S. 40-72. 9 „Diese Elemente bestehen in der Struktur der Narration, der Dramaturgie der Szenenfolge, sie sind Ausdruck des filmischen Rhythmus des Erzählens“, so Jochen Brunow in: „Eine andere Art zu erzählen. Utopie vom Drehbuch als eigenständiger Schreibweise“, in: ders. (Hrsg.) 1989, S. 2339, hier S. 33. 10 Chion, Michel: L’Audio-vision, Paris 1990, S. 4: „[...] dans la combinaison audio-visuelle, une perception influence l’autre et la transforme: on ne
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Drehbuchs und spiegelt sich dort nicht zuletzt in der sich rasch durchsetzenden typographischen Trennung der Bild- und Tonspalten.11 Im Folgenden sollen anhand von KAMERADSCHAFT solche Übergänge im Zusammenhang mit dem neuen audiovisuellen filmischen Schreiben untersucht werden. KAMERADSCHAFT eröffnet insofern eine fruchtbare Ausgangsperspektive, als dessen Drehbuchmaterialien zum Teil publiziert12 und wesentliche Aspekte der Stoffentwicklung bereits ausführlich herausgearbeitet wurden.13 Auf Grundlage dieser Forschungsergebnisse lassen sich im Rahmen einer vergleichenden Lektüre ausgewählter Passagen des Drehbuchs und der Verfilmung einige exemplarische Bruchstellen dieses audiovisuellen Übersetzungsprozesses nachzeichnen.
KAMERADSCHAFT Der Film erzählt von einem Unglück in einer französischen Kohlengrube, bei dem infolge eines Gasbrandes und einer sich daraus entwickelnden Schlagwetterexplosion ca. 1.200 Bergleute verschüttet und eingeschlossen werden. Die Katastrophennachricht verbreitet sich auch in Deutschland, von wo aus sich eine Rettungsmannschaft auf den Weg über die Grenze macht und auf französischer Seite ungläubig und freudig begrüßt wird. Unter Tage kommt es zu dramatischen Rettungsaktionen und symbolischen Verbrüderungsszenen. Ausgehend von einer Skizze ‚voit‘ pas la même chose quand on entend; on n’,entend‘ pas la même chose quand on voit.“ 11 Kasten, Jürgen: „Vom visuellen zum akustischen Sprechen. Das Drehbuch in der Übergangsphase vom Stummfilm zum Tonfilm“, in: Gustav Ernst (Hrsg.): Sprache im Film, Wien 1994, S. 41-55, hier S. 44: „In der Tat wurde in Drehbüchern der damaligen Zeit [...] neben der Bildspalte eine ausführliche Tonspalte angelegt, die erheblich umfangreicher war als der gesprochene Text.“ 12 Belach, Helga/Bock, Hans-Michael (Hrsg.): Kameradschaft / La tragédie de la mine. Drehbuch von Ladislaus Vajda, Karl Otten, Peter Martin Lampel nach einer Idee von Karl Otten zu G. W. Pabsts Film von 1931. Mit Aufsätzen und Materialien zum Film von Hermann Barth, Heike Klapdor, Helga Belach und Wolfgang Jacobsen, München 1997. Vgl. auch den ausführlichen Materialband: Barth, Hermann (Hrsg.): Kameradschaft. Ein G.W.-Pabst-Film der Nero, Frankfurt a.M. 1992. 13 Zu den Drehbuchmaterialien vgl. Barth, Hermann: Psychagogische Strategien des filmischen Diskurses in G.W. Pabsts Kameradschaft. Mit vollständigem Filmprotokoll im Anhang, München 1990, S. 164ff. Außerdem ders.: „Wie Pabsts ‚Kameradschaft‘ gemacht ist. Eine Drehbuchlektüre“, in: Belach 1997, S. 20-25.
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des Schriftstellers Karl Otten führt dieser kollektiv geschriebene Film die Drehbuchautoren Ladislaus Vajda und Martin Lampel, die Dramatikerin Anna Gmeyner sowie den französischen Schriftsteller Léon Werth zusammen.14 Pabst selbst sah sich innerhalb dieser Gruppe gleichermaßen als Autor und Regisseur. Während das Exposé Karl Ottens Ort und Zeit der Handlung in den historischen Kontext einer Grubenkatastrophe des Jahres 1906 situierte, bei der deutsche Kumpel ihren Kollegen im nordfranzösischen Courrières zur Hilfe kamen, verlegte bereits das erste Treatment das Geschehen in die Aktualität des Jahres 1931.15 Diese Tilgung der historischen Referenz ermöglichte eine inhaltliche Einbeziehung der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs in die Filmhandlung. So soll das Bergwerk nun im Zuge der Versailler Verhandlungen geteilt worden sein, so dass eine „neue Grenze“, so G.W. Pabst, „mitten durch die Stollen [...] sichtbar von der Oberfläche der Erde 1000 Meter tief hinunter, durch Gestein und Wasserfälle“ geschnitten und mit einem Gitter festgeschrieben wurde.16 Gerade vor dem Hintergrund der Ereignisse des Ersten Weltkriegs und der immer noch traumatisch präsenten Rivalität zwischen beiden Ländern lotet KAMERADSCHAFT – als Teil einer umfangreichen Reihe deutsch-französischer Filmkooperationen der Zwischenkriegszeit17 – grundsätzliche Möglichkeiten und Grenzen der Völkerverständigung aus. Die Rettungsaktion als spontaner Akt der unter Bergleuten so typischen ‚Kameradschaft‘ wirkt zum Teil ambivalent, weil Kriegstraumata in zentralen Situationen spontane Hilfsbereitschaft verhindern. So verkennt beispielsweise einer der eingeschlossenen Franzosen seinen mit einer Gasmaske ausgerüsteten Retter als gegnerischen Soldaten, woraus sich ein dramatisches Handgemenge entwickelt. Solche Vorkommnisse werden nicht zuletzt dadurch negativ verstärkt, dass am Ende des Films der Status quo zwischen beiden Ländern wieder hergestellt wird. Nach14 Ebd., S. 11. 15 Ebd., S. 12. 16 Pabst, Georg Wilhelm: „Über zwei meiner Filme“, in: Filmkunst. Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft 31 (1960), S. 21. 17 Die enge Zusammenarbeit gerade zwischen deutscher und französischer Filmindustrie hatte insbesondere patentrechtliche Ursachen. Im ‚Pariser Tonfilmfrieden‘ des Jahres 1930 einigten sich europäische und US-amerikanische Rechteinhaber auf die Festschreibung weltweiter Einflusssphären sowie auf den Austausch von Patenten. Die zu dieser Zeit von Krisen gelähmte Filmindustrie Frankreichs, stellte für beide Konsortien einen lukrativen Absatzmarkt dar. Die europäischen Produzenten wie z.B. Tobis-Klangfilm GmbH und Nero Film AG verfolgten das Ziel, sich der Konkurrenz aus Hollywood entgegenzustellen.
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dem das Grenzgitter unter Tage im Laufe der Rettungsaktionen demontiert worden war, wird dieses am Ende des Films wieder aufgerichtet, was allerdings, wie aus einer Kritik Siegfried Kracauers hervorgeht, in den meisten damals gezeigten Kopien herausgeschnitten wurde: Am Schluß findet eine Verbrüderung zwischen der deutschen und der französischen Arbeiterbevölkerung statt, die aber nicht der Schluß ist. Ihr folgt vielmehr noch eine letzte bittere Szene im Schacht. Grenzbeamte nehmen dort zu Protokoll, daß das starke eiserne Trennungsgitter [...] wieder ordnungsgemäß eingesetzt ist. Dieses erschütternde Bild, dessen langsames Verdämmern jeden einzelnen Zuschauer zum Nachdenken darüber zwingt, ob ein solches Ende wirklich das Ende sein darf, ist bei den späteren Auffüh18 rungen gestrichen worden.
Pabst hat KAMERADSCHAFT inhaltlich und formal als Fortsetzung seines Tonfilmdebuts WESTFRONT 1918 konzipiert, das die Grauen des Krieges und den sinnlosen Alltag in den Schützengräben schildert. Der drastische Realismus dieses Antikriegsfilms kontrastiert mit seiner im gleichen Jahr realisierten Verfilmung der brechtschen DREIGROSCHENOPER.19 Die politische Ausrichtung von WESTFRONT und KAMERADSCHAFT unterscheidet sich auch von seinen der Neuen Sachlichkeit nahe stehenden Stummfilmen.20 Dieser Strömung warf man in der zeitgenössischen Diskussion politische und soziale Kälte vor und argumentierte, dass der realistisch-dokumentarische Stil dieser Kunstwerke bewusst eine Leerstelle bleibe.21 Von ‚inhaltlicher Leere‘ kann in KAMERADSCHAFT und WESTFRONT 1918 jedoch keine Rede sein. Beide Filme befördern ihre Botschaft mit filmrhetorischen und psychagogischen Strategien.22 Den18 Kracauer, Siegfried: „Tonfilm heute“ (Kunst und Künstler Jan/Feb. 1932), in: ders.: Werke, Bd. 6.3, Inka Mülder-Bach (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2004, S. 29-35, hier S. 31. 19 Brecht hatte gegenüber diesem Film den Vorwurf kommerzieller Ästhetik erhoben und strengte einen Rechtsstreit mit der Nero-Film AG an. Die Drehbuchmaterialien und eine Dokumentation des zeitgenössischen Presseechos finden sich in dem von Hans-Michael Bock und Jürgen Berger herausgegebenen Band Photo: Casparius, Berlin 1978. 20 In Filmen wie DIE FREUDLOSE GASSE (1925), DIE GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926) oder in seiner Wedekind-Adaptation DIE BÜCHSE DER PANDORA (1928) hatte Pabst die Abgründe erotischen Begehrens mit den Mitteln neusachlicher Ästhetik gestaltet und auf explizite politische Stellungnahmen zur Gegenwart verzichtet. 21 Was sich im von Helmut Lethen aufgegriffenen Begriff des ‚Weißen Sozialismus‘ spiegelt: vgl. ders.: Neue Sachlichkeit: 1924 – 1932. Studien zur Literatur des ‚weißen Sozialismus‘ (1970), Stuttgart/Weimar 2000. 22 Barth 1990.
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noch verbergen sich darin Anzeichen einer entpolitisierten Haltung, denkt man das Prinzip der Mitmenschlichkeit konsequent zu Ende.23 Vielen zeitgenössischen Kritikern war diese Aussage zu uneindeutig: „[W]enn sich eine Mehrheit für Kameradschaft ausspricht, so weniger aus politischen oder gar parteipolitischen Erwägungen als aus ästhetischen, meist humanistischen Beweggründen.“24 Ein Topos, der selbst die gegenwärtige Forschungslage bestimmt, denn auch der jüngeren Forschung gilt das Filmschaffen Pabsts als ‚extraterritorial‘ und politisch unentschieden.25
Zwischen Wochenschau und Tragödie Die Botschaft der Mitmenschlichkeit wird in KAMERADSCHAFT mit ästhetischen Mitteln befördert und gesteigert. So mischt der Film Versatzstücke des Katastrophenfilms mit Elementen der Wochenschau26 und erreicht dadurch eine zugleich aktuelle und allgemein-symbolische Dimension. Pabst beabsichtigte, [...] diesem gewaltigen Thema [der Bergwerkskatastrophe], das so aktuell in die Gegenwart hineinschlägt, die Form einer Wochenschau zu geben, d.h. jede Einstellung, jede Szene darauf zu prüfen, ob sie sich in Wirklichkeit so abspielen könnte, ob sie in Wirklich27 keit so aussehen würde.
Für Pabst schließen sich Tragödie und Wochenschau keineswegs aus, sondern steigern gerade in ihrer Kombination das identifikatorische Potential des Films. Innerhalb des dokumentarischen Anteils dieser Mischform lassen sich zwei Ebenen unterscheiden: die Möglichkeiten der Bildgestaltung und der Bild- und Tonkombination. So ist die Bildästhetik 23 Ebd., S. 112f.: Die allgemeine implizite ‚Botschaft‘ des Films, die für Völkerverständigung und Pazifismus wirbt, führt konsequent zu Ende gedacht, zur Entpolitisierung [...]. Der Film bietet keinerlei Lösungen an, um textextern den Widerspruch zwischen der als ‚inadäquat‘ empfundenen lex, dem positiven Recht, und dem als höherwertig empfundenen Naturrecht, der aequitas aufzulösen.“ 24 Belach, Helga/Jacobsen, Wolfgang: „Grenzverläufe der Kritik“, in: Belach 1997, S. 155-164, hier S. 156. 25 Rentschler, Eric: „The Problematic Pabst. An Auteur Directed by History“, in: ders. (Hrsg.): The Films of G.W. Pabst: an Extraterritorial Cinema, New Brunswick u.a. 1990, S. 1-23. 26 Vgl. zur Wochenschau auch den Beitrag von Joseph Garncarz in diesem Band. 27 Pabst 1960, S. 22.
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deutlich durch die Fotografie der Neuen Sachlichkeit beeinflusst, was in KAMERADSCHAFT zum ‚Paradox eines fotografischen Films‘ führt.28 Die Fotografie als wesentlicher Bestandteil des ästhetischen Programms der Neuen Sachlichkeit soll dabei dokumentarische Authentizität garantieren. Die eigentlich paradoxe Dimension dieses Anspruchs besteht darin, dass eine authentische Wirkung nur mit den Mitteln extremer künstlerischer Stilisierung erzielt werden kann.29 Analog dazu verhält sich auch der mikrostrukturelle Bild-Ton-Bereich des Films. Dort herrscht eine vergleichbare dokumentarisch-sachliche Rigorosität vor. Dabei verweisen zahlreiche, nur mit den Mitteln des Tonfilms darstellbare Elemente gleichsam selbstreflexiv auf die audiovisuelle Medialität des Tonfilms. Hier kommt der Schnittstelle zwischen Drehbuchvorlage und filmischer Umsetzung eine entscheidende Bedeutung zu, denn viele dieser im Drehbuch ausgearbeiteten Elemente sind erst mit Hilfe des Drehbuchs als solche entschlüsselbar, weshalb eine Art mikroanalytische Relektüre des Films notwendig ist, um solche Strukturen aufzuspüren. So sieht das Drehbuch zum Beispiel zahlreiche, im Film selbst nicht umgesetzte Tonüberleitungen vor. Zum Beispiel sollte ein „Glockengeläute“ „in das Staccato einer Grubenbahn“30 übergehen, oder „das Stampfen der Tanzenden und der Musik“ hineinblenden „in den Takt der Maschinen, das Heulen von Sirenen und das Geräusch der Strasse“.31 KAMERADSCHAFT verzichtet nahezu vollständig auf Musikbegleitung. Lediglich im Vorspann, im bal mineur sowie beim Wiedersehensfest am Ende des Films wird Musik in den Handlungszusammenhang eingebunden. Überall sonst herrscht die Geräuschkulisse der Arbeitswelt über und unter Tage vor. Selbst in dramaturgischen Schlüsselsituationen, wie beim katastrophalen Einsturz des Stollens unter Tage, wird keine Musik zur dramatischen Verstärkung eingesetzt. Unmittelbarkeit und Authentizität werden durch den Einsatz von Originalgeräuschen inszeniert, wobei eine Tonkulisse lärmender Abraummaschinen und Presslufthammer unter Tage, das Pfeifen der Grubensirenen, die Telefonsignale oder der Einsturz der Stollen diesen von Pabst beabsichtigten realistischen Eindruck befördert, wie zum Beispiel als die französische 28 Schmitz, Norbert M.: „Der Film der Neuen Sachlichkeit. Auf der Suche nach der medialen Authentizität“, in: Ursula von Keitz (Hrsg.): Die Einübung des dokumentarischen Blicks, Marburg 2001, S. 147-168, hier S. 163. 29 Ebd., S. 167. 30 Belach 1997, S. 51 (Bild 21). 31 Ebd., S. 62f. (Bild 29).
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Zeche zum ersten Mal gezeigt wird. Dort ist die Rede davon, dass eine Gruppe arbeitsloser deutscher Grubenarbeiter am Werktor der französischen Zeche abgewiesen wird: Die Leute stehen noch herum und können sich nicht entschließen, wegzugehen, sie lauschen fast sehnsüchtig auf die zu ihnen dringenden Laute der Arbeit: die Glockensignale des Förderkorbs, das 32 Pfeifen der Sirenen.
Diese Geräusche finden sich zwar auch im Film in analoger Form gestaltet, werden aber erst mittels des Drehbuchs in ihrer dramaturgischen Funktion identifizierbar.
Zwischen den Grenzen – Völkerverständigung im Tonfilm Eine besondere audiovisuelle Qualität des Films liegt in dessen zweisprachiger Gesamtkonzeption. Zweisprachigkeit ermöglicht sprichwörtliche ‚Völkerverständigung‘ im Medium des Tonfilms. Für den Zuschauer und Zuhörer wird diese im synästhetischen Schock-Potential der fremden Sprache spürbar.33 Aus mediengeschichtlicher Sicht bietet der Film dadurch einen Ausweg aus dem Dilemma der verloren gegangenen, universal verstehbaren Bildsprache des Stummfilms. Die Zweisprachigkeit unterstützt zudem andere Grenzmotive des Films: die nationalen Abgrenzungen und Vorurteile, die sozialen Hierarchieebenen zwischen Arbeitern und Zechendirektion, den Gegensatz von Hell und Dunkel bzw. zwischen der Welt über und unter Tage, bis hin zum Grenzgitter im Stollen. Dabei ist diese Konfrontation der unterschiedlichen Sprachen wohl vor allem für den Zuschauer inszeniert. Tatsächlich existierte im Arbeitsalltag der deutsch-französischen Grenzregionen diese Sprachgrenze nicht, denn für viele Kumpel, die auf der anderen Seite der Grenze Arbeit fanden, gehörte das Nebeneinander der Sprachen zum Alltag. Die bewusst eingesetzte ton-filmische Zweisprachigkeit verweist über den rein mediengeschichtlichen Aspekt hinaus auf die allgemein-symbolische Problematik der Völkerverständigung zwischen Franzosen und Deutschen, wie auch die folgenden Beispiele zeigen:
32 Ebd., S. 38 (Bild 2). 33 Vgl. Lommel, Michael: „Stimme und Blick. Paradoxien synästhetischer Medienrezeption“, in: Navigationen. Siegener Beiträge zur Medien- und Kulturwissenschaft 2 (2002), S. 7-16.
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In der Eröffnungssequenz von KAMERADSCHAFT sieht man zwei mit Murmeln spielende Jungen. Einer der beiden nimmt sich alle Kugeln und gibt vor, gewonnen zu haben. Die Jungen streiten lauthals, der eine auf deutsch, der andere auf französisch. Schließlich trennen die Väter, jeweils ein französischer und ein deutscher Zollbeamter, die streitenden Jungen und fordern diese auf, sich friedlich zu verhalten.34 Zweisprachigkeit ist in KAMERADSCHAFT somit nicht nur eine synästhetische Konfrontation zweier fremder Sprachen, die in der Intensität des Streits unverständlich werden. Es geht dabei auch und gerade um die symbolische Konfrontation zwischen Deutschen und Franzosen. In einer anderen Situation kommt es wiederum zu einer Infragestellung der Utopie der Völkerverständigung. Auf einem bal mineur in Frankreich will ein deutscher Bergmann eine Französin zum Tanz auffordern. Diese lehnt ab, weil sie überhaupt nicht tanzen will und bittet ihren französischen Begleiter, dies zu übersetzen „Dis le lui en allemand, si tu peux“35. Daraufhin antwortet der deutsche Bergmann aggressiv, dass ein ‚Allemand‘ ebenso gut tanze, wie ein Franzose. Im Drehbuch ist diese Situation klischeehafter als im Film gestaltet. Sie steigert sich selbst in Wut und setzt leise, wie selbstverständlich hinzu: „Mit einem Deutschen schon gar nicht!“ Wilderer hat ihr scharf auf die Lippen geschaut. Er hat genug kapiert, auch wenn es ihm Emile jetzt nicht übersetzen würde: „Ma36 demoiselle nickt tanzen...“
Am Schluss des Films, als Deutsche und Franzosen zusammen die glückliche Rettung feiern, werden Reden gehalten, in denen die Unverständlichkeit der fremden Sprache noch einmal explizit angesprochen wird. So äußert einer der deutschen Retter: „Genossen – was der französische Kamerad gesagt hat, habe ich nicht ganz verstanden – aber was er gemeint hat, das haben wir alle verstanden.“37 Völkerverständigung kennt keine Sprachgrenzen – eine Utopie, die in vielen Passagen des Films an ihre Grenzen stößt. Die Situation der spielenden Jungen verweist auch auf die in Drehbuch und Verfilmung unterschiedlichen Inszenierungsbedingungen von audiovisueller ‚Unmittelbarkeit‘. Im Gegensatz zum Film hatte das Drehbuch den Ort der Handlung gleich zu Beginn markiert. Dort waren vor „[a]lltägliche[r] Landschaft mit Industriecharakter [...] zwei ge34 35 36 37
Barth 1990 (Einstellungen 7-10 u. 13-16). Ebd., (Einstellung 62). Belach 1997, S. 59 (Bild 23). Ebd., S. 142 (Bild 140).
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mauerte Grenzbaracken mit den deutschen und französischen Hoheitszeichen“ als Hintergrundkulisse der spielenden Jungen vorgesehen.38 Im Film sind diese Referenzsymbole des Drehbuchs nicht notwendig. Hier garantiert bereits das gesprochene Wort die Lokalisierung der Situation. Dies gilt auch für die filmischen Grenzziehungen über und unter Tage. Diese scheinen unter Tage nicht so stark ausgeprägt zu sein, weil die Arbeitswelt beiderseits der Grenze von den gleichen Gefahren geprägt ist. Unterschiede werden für den Filmzuschauer erst offensichtlich, wenn gesprochen wird. So zum Beispiel im Kontext einer ersten Vorstellung des Arbeitsalltags in der deutschen Zeche: Der Lärm der Maschinen schränkt die Kommunikationsmöglichkeiten stark ein. Man verständigt sich mit Befehlskürzeln oder mit Signalen bzw. Ausrufen. Erst als einer der Arbeiter Gasgeruch bemerkt und dessen Kollege antwortet: „Das Feuer frisst sich immer wieder durch“, kann der Zuschauer die Handlung eindeutig auf deutscher Seite lokalisieren. Nun setzt sich die Kamera in Bewegung und gewährt dem Zuschauer mit einer Fahraufnahme Einblick in einen vom Gasbrand zerstörten Stollen. Man sieht brennende und verkohlte Balken und hört das Knacken des Feuers. Schließlich kommt eine Feuerschutzmauer ins Bild. Ein Bergmann prüft die Qualität dieser Mauer: „Non, ça ne va pas.“ Und ein Kollege fügt hinzu: „Pas de gaz.“39 Erst jetzt bemerkt der Zuschauer, dass unmerklich die Grenze überschritten wurde. Auch hier lohnt es sich, zwischen Drehbuch und filmischer Umsetzung zu differenzieren. Da dem Zuschauer die im Drehbuch vorhandenen Ortsangaben nicht zur Verfügung stehen, erfüllt wiederum das gesprochene Wort die Funktion der Grenzmarkierung und bewirkt so den Eindruck einer stärkeren audiovisuellen ‚Unmittelbarkeit‘ in der Verfilmung des Drehbuchs.
Audiovisuelle Authentizität: Klopfzeichen als Tonfilmereignisse Audiovisuelle ‚Unmittelbarkeit‘ und ‚Authentizität‘ lassen sich schließlich auch auf die Klopfzeichen der Verschütteten beziehen. Diese sind vor allem existentielle Rettungssignale, denn sie sind universal verstehbar und suggestiv einsetzbar. Sobald die Rettung absehbar wird, werden sie zum Instrument der Euphorie, wobei das Drehbuch die Tonwirkung
38 Ebd., S. 37 (Bild 1). 39 Barth 1990 (Einstellungen 29-35).
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der Klopfzeichen mit einer Jazzimprovisation vergleicht, was aus dem Film selbst nicht erschließbar ist: Eine unbändige Freude überwältigt ihn, er packt eine Eisenstange und drischt wie toll auf die Schienen los, einen tollen Wirbel. Auch Kasper und Kaplan überwältigt es, sie packen Schraubenschlüssel und trommeln auf die Röhren der Presslokomotiven los – eine 40 schaurige, tolle Jazzmusik der Rettung.
Bemerkenswert ist, dass das ‚filmische Schreiben‘ des Drehbuchs hier ausgerechnet den Jazz als metaphorische Vergleichsebene heranzieht. Dies könnte ein Hinweis auf die zeitgenössische Wahrnehmungssituation im Kontext der beginnenden audiovisuellen Kultur sein, insofern zwischen Jazz und dem mechanisierten Lebensgefühl der Neuen Sachlichkeit ein Zusammenhang gesehen wird: Vom Einfluß des Jazz bis zum Einfluß des Maschinenkults auf die neusachliche Musik ist darum ein wesentlich kleinerer Schritt, als man gemeinhin angenommen hat. Schließlich dominieren in beiden eine starre Motorik, die dem Hörer ständig denselben Grundrhythmus aufzuzwingen versucht. Die Befürworter des Technischen in der Musik waren deshalb dieselben, die sich auch für den Jazz be41 geisterten [...].
Aufgrund ihres wahrnehmungsästhetischen Verweischarakters fungieren die Klopfzeichen als sprichwörtliche ‚Medienereignis‘-Signale. Auch wenn Klopfzeichen mit den Mitteln des Stummfilms darstellbar sind,42 gewinnen sie doch erst im Tonfilm ihr audiovisuelles Profil. Jedoch haben die Klopfzeichen in KAMERADSCHAFT nicht nur eine formal-wahrnehmungsästhetische sondern auch eine allgemein-symbolische Dimension, denn diese sind unterschiedlich interpretierbar und verlieren manchmal sogar ihre positiv-rettende Bedeutung. Beispielsweise versucht sich in einer anderen dramatischen Situation ein verschütteter französischer Bergmann mit einer Eisenstange bemerkbar zu machen, als er die Rufe eines mit einer Gasmaske ausgerüsteten deutschen Kumpel hört.43 Dieser bleibt für den Verschütteten zunächst unsichtbar. Nun werden halbnahe Einstellungen von Opfer und Retter parallel montiert. Als der französische Bergmann die Gasmaske des Deutschen zum ersten Mal erblickt und mit dessen fragenden Rufen „Hallo, ist wer da?“ in Verbin40 Belach 1997, S. 137 (Bild 137). 41 Hermand, Jost/Trommler, Frank: Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, hier S. 315. 42 Vgl. Prümm 1988, S. 97. 43 Barth 1990 (Einstellungen 381-386).
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dung bringt, flüstert dieser: „Les Allemands!“. Daraufhin steigert sich sein Klopfen in ein stakkartoartiges Trommeln. Nun wird das Gesicht des Franzosen in Großaufnahme mit dem Gesicht des Deutschen konfrontiert. Dann geht plötzlich mit einem Schnitt auf die Gasmaske in Großaufnahme das stakkatoartige Klopfen des Franzosen in Trommelfeuer über und kündigt so akustisch einen Szenenwechsel zwischen Grubenschacht und Schützengraben an. Die Gasmaske des Deutschen bewegt sich in Großaufnahme auf die Kamera zu, während das Trommelfeuer lauter wird. Jetzt erst wird auch visuell auf das nun bärtige Gesicht des französischen Bergmanns in Militäruniform übergeblendet. Die traumatische Vision des Schützengrabens hat audiovisuelle Gestalt angenommen.44 Das Drehbuch akzentuiert diese Filmszene auf andere Weise. Hier ist die Rede von einer „akustischen Vision“, in welcher sich das „Trommeln und Prasseln der Steine unter den Tritten“ des für ihn zunächst unsichtbaren deutschen Retters „verdichtet“ und im „Rattern von Maschinengewehren“ kulminiert.45 Ein Höreindruck reicht aus, um die Realität des Schützengrabens lebendig zu machen. Während das Drehbuch diesen Vorgang linear entwickelt, erzeugt die audiovisuelle Dimension des Tonfilms eine simultane ‚Lebendigkeit‘. Der Zuschauer (und Zuhörer) dieser Szene wird sprichwörtlich in das Geschehen hineingezogen und so audiovisuell-unmittelbar in das Trauma des Krieges versetzt. Schließlich verwandeln sich die beiden im Schützengraben ringenden Soldaten wieder zurück in Opfer und Retter. Während des Kampfes zieht der französische Bergmann seinem vermeintlichen Gegner die Gasmaske vom Kopf. Erkennbar ist nun der Initiator der Rettungsaktion von deutscher Seite. Dieser schlägt dem Franzosen ins Gesicht. Wie der weitere Verlauf des Films zeigt, soll dies kein absichtlicher Schlag sein, sondern den französischen Bergmann aus seiner durch das ausströmende Gas verursachten Bewusstlosigkeit retten. Dennoch wirkt dies für den Filmzuschauer verstörend. Erst am Schluss des Films, im Rahmen des Wiedersehensfestes für Opfer und Retter, als jeder von ihnen stellvertretend für seine Landsleute das Wort ergreift, ist klar, dass beide überlebt haben. In dieser verstörenden Situation tragischen Verkennens verlieren selbst die Klopfzeichen ihre eigentlich positive Konnotation. Zwar sind sie universal verstehbar und einsetzbar und können Sprachbarrieren außer Kraft setzen – stehen sie doch für die eigentlich letzte, existentielle 44 Ebd. (Einstellungen 382-407). 45 Belach 1997, S. 129 (Bilder 123f.).
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Artikulationsmöglichkeit überhaupt. Dies ist jedoch in dieser tragischen Schlüsselsituation, in der die gesamte positive Botschaft des Films fragwürdig wird, nicht der Fall. Zudem kommen sich hier Schützengraben und Bergwerksschacht erschreckend nah, so dass man Beobachtungen über WESTFRONT 1918 auf KAMERADSCHAFT übertragen kann. Die Explosionen im Stollen werden ebenso wie in WESTFRONT zu „Geräuschcollagen, in denen der Bildraum die Tiefe und Dimensionalität eines unendlichen Dunkels gewinnt“46. Diese Parallelität betont auch Kreimeier: Was dort die Waffen anrichten, bewirken hier ein Grubenfeuer, Flammen, die durch Mauern schießen, donnernde Gesteinsmassen, Wasserfluten, die Stützstempel wie Streichhölzer einknicken lassen – und das ausbrechende Gas [...]. Gas ist unsichtbar – und abbildbar nur im Requisit der Gasmaske, die das Gesicht des Menschen 47 zu einem monströsen, animalisch-futuristischen Apparat entstellt.
Die Tonsymbole der Klopfzeichen haben die gleiche Funktion wie die Bildsymbole der Gasmasken: Sie werden zu offenen Zeichen. Im Gegensatz zu den Gasmasken aber sind die Klopfzeichen die eigentlichen Medienereignissignale des Films KAMERADSCHAFT, weil diese selbstreflexiv auf den Ereignischarakter des Mediums Tonfilm hindeuten. Denn Klopfzeichen lassen sich nur im Tonfilm ‚authentisch‘ darstellen und verweisen damit zum einen explizit auf die neuen ästhetischen Möglichkeiten des Tonfilms und zum anderen auf die Paradoxien stilisierter Authentizität.
46 Kappelhoff, Hermann: Der möblierte Mensch. G.W. Pabst und die Utopie der Sachlichkeit. Ein poetologischer Versuch zum Weimarer Autorenkino, Berlin 1994, S. 188. 47 Kreimeier, Klaus: „Trennungen. G.W. Pabst und seine Filme“, in: Wolfgang Jacobsen (Hrsg.): G.W. Pabst, Berlin 1997, S. 11-126.
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GOOD VIBRATIONS? ÜBERLEGUNGEN ZUR METAMORPHOSE DER PASSANTIN IN FUTURISTISCHEN KÖRPER- UND MODEINSZENIERUNGEN MODE: Kennst du mich nicht? […] Ich bin die Mode, deine Schwester TOD: Meine Schwester? MODE: Ja. Erinnerst du dich nicht, dass wir beide Kinder der Ver1 gänglichkeit sind? Giacomo Leopardi
Das den vorliegenden Überlegungen vorausgehende Motto Giacomo Leopardis ist bis heute eine der gelungensten Charakterisierungen der Mode geblieben. In ständigen Umbrüchen inbegriffen, situiert sich vor allem die Kleidermode, diese De-Naturalisierung des scheinbar Natürlichen2, stets zwischen dem Noch-Nicht-Akzeptierten und dem Allgemeingültigen. Vergänglich und wandelbar reagiert sie als eines der eindruck1 Leopardi, Giacomo: „Dialog zwischen der Mode und dem Tod“, in: ders.: Gesänge, Dialoge und andere Lehrstücke. Werke erster Band. Übersetzt von Hanno Helbling und Alice Vollenweider. Mit einem Nachwort von Horst Rüdiger, München 1978, S. 288-292. In der deutschen Übersetzung wird dem Dialog eine erweiterte Komponente zugesprochen, die der Originaltext nicht enthält: sowohl ‚moda‘ als auch ‚morte‘ sind weiblichen Geschlechts, was im Original ihre Verwandtschaft nur noch stärker unterstützt. Im Original heißt es: „MODA: Non mi conosci? [...] Io sono la Moda, tua sorella. / MORTE: Mia sorella? / MODA: Sì: non ti ricordi che tutte e due siamo nate dalla Caducità?“ (Leopardi, Giacomo: „Dialogo della moda e della morte“, in: ders.: Poesie e prose. A cura di Rolando Damiani e Mario Andrea Rigoni. Bd. 2. Prose, Milano 1988, S. 24-28, hier S. 24). 2 Gemeint ist das Problem der Geschlechter und der Klassen, welches die Mode, Barbara Vinken zufolge, immer wieder unterläuft. Vgl. Vinken, Barbara: Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, S. 12ff. Vgl. auch Simmel, Georg: „Philosophie der Mode“, in: Otthein Ramstedt (Hrsg), Gesamtausgabe. Michael Behr/Volkhardt Krech/Gert Schmidt (Hrsg.), Bd. 10., Frankfurt a.M. ²2000, S. 7-37.
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stärksten Modi der Körperinszenierungen auf die gesellschaftlichen, künstlerischen oder technischen Veränderungen. Vice versa ist gerade das Modedesign längst zum beliebten Ort des teatrum mundi, aber auch der Hybridisierung und Inszenierung vor allem jener „Künste“ avanciert, die auf rasche Verbreitung abzielen. Aus sozialer Sicht changiert die Mode zwischen Differenzierung und Universalisierung, dem Zwang zur Bedingtheit und demjenigen zur Individualisierung.3 Ästhetisch wiederum spannt sie einen Bogen zwischen dem Ephemeren und dem Ewigen, der De- und Rekonstruktion des Bekannten. Im vorliegenden Aufsatz wird die zweite, die ästhetische Seite dieser Modeparadoxie im Mittelpunkt stehen, die in einer sich der Zukunft verschreibenden, gleichwohl auch retrograden Bewegung wie dem Futurismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen ihrer einschneidendsten Orte finden konnte. Ausgehend von der These, dass die künstlerischen, namentlich die futuristischen Modedarstellungen und -überlegungen die ästhetische Erfahrung der Mode mitunter als einen Impuls inszenieren, sollen im Folgenden einige herausragende Beispiele solcherart medial vermittelter Wahrnehmungsmuster exemplarisch untersucht werden. *** Wie lässt sich die Wiederkehr des Immergleichen, die für gewöhnlich mit der Mode verbunden wird, mit den Phantasmagorien des Futurismus vereinbaren, jener Bewegung, die dem Sentimentalismus und dem Feminismus beispielsweise in einer kriegerischen Purifikation ein Ende setzen wollte?4 Eine generalisierende Antwort ist hierbei nicht möglich, denn die Kleiderentwürfe der Futuristen umfassen die aus den 30er Jahre stammenden konstruktivistischen Frauenkleiderentwürfe Tullio Cralis gleichermaßen wie die ersten Überlegungen über die aktivistisch verwandelbare, männliche Uniform-Kleidung in den Manifesten Il vestito antineutrale5 (11. September 1914) und Ricostruzione futurista del universo6 (11. März 1915). Während in Il vestito antineutrale die Ansichten noch
3 Baudrillard, Jean: La société de consommation. Paris 1970, S. 100-109. 4 Vgl. hierzu insb. Ehrlicher, Hanno: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken der europäischen Avantgarden. Berlin 2001, S. 87-173. 5 Balla, Giacomo: „Il vestito antineutrale“ in: Manifesti, proclami, interventi e documenti teorici del futurismo 1909-1944, a cura di Luciano Caruso. Bd. 1, Firenze 1980, Blatt 68. 6 Balla, Giacomo/Depero, Fortunato: „Ricostruzione futurista dell’universo“, in: Ebd. Blatt 75.
DIE METAMORPHOSEN DER PASSANTIN IM FUTURISMUS
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allgemein formuliert werden – „Gli abiti futuristi saranno […] agilizzanti, […] dinamici, […] semplici e comodi, […] igienici, […] variabili“ –, so spitzt Ricostruzione futurista diese Forderungen in Richtung eines „vestito trasformabile“ zu, der dem ‚modernen Leben’ und dem ständigen Ortswechsel entsprechend über „applicazioni meccaniche, sorprese, trucchi“ („mechanische Applizierungen, Überraschungen und Kniffe“) verfügt und das Verschwinden der Individuen („sparizioni di individui“) herbeiführen soll. Die veritable Weiterführung dieser futuristischen Idee einer der Mode entgegengesetzten Bekleidungs-Masse sind die „tute“ Ernesto Thayahts, die sich in Stummfilmen wie METROPOLIS ebenso wiederfinden wie in den Fliegeruniformen.7 Doch obgleich die futuristischen Bekleidungsentwürfe und -objekte analog zum misogynen Überbietungsgestus der Gruppe bis ca. 1918 fast ausschließlich die Männermode zum Thema haben8, begann die eigentliche Auseinandersetzung des Futurismus mit dem Phänomen der Kleidermode bereits in dem Gemälde Giacomo Ballas Dinamismo del cane al guinzaglio. Abbildung 1: Giacomo Balla: Dinamismo del cane al guinzaglio / Dynamismus des Hundes an der Leine, 1912, Öl auf Leinwand, 90,8 x 110 cm, Bufflo (N.Y.), Albright-Knox Art Gallery
7 Vgl. Per il sole e contro il sole. Thayath & Ram. A cura di Caterina Chiarelli. Testi di Giovanna Uzzani, Firenze 2003; Guillaume, Valérie: „Die Ästhetik der neuen Kleidung.“, in: Gisela Framke (Hrsg), Künstler ziehen an. Avantgarde-Mode in Europa 1910 bis 1939, Dortmund 1998, S. 16-27. 8 Vgl. Brunner, Maria-Elisabetta: „Von der futuristischen Rekonstruktion zur Dekonstruktion der italienischen Mode: Vertextungs- und Verbildlichungsprozeß als zur Schau gestellter Körper und inszeniertes Ich“, in: Horizonte. Zeitschrift für Kulturwissenschaft und Gegenwartsliteratur. Bd. 1, 1996, S. 117-156; Crispolti, Enrico: „Die ‚futuristische Rekonstruktion‘ der Mode“, in: Norbert Nobis (Hrsg.): Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909 – 1918, Hannover 2001; Lista, Giovanni: „Die futuristische Mode“, in: Framke 1998, S. 28-47.
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Das Gemälde weist mehrere Referenzpunkte auf: Mit den burlesken Filmen der frühen 1910er Jahre, wie JOURNÉ D’UNE PAIRE DE JAMBES (1909/10) oder AMOR PEDESTRE (1914) von Marcel Fabre verbindet es die Froschperspektive, die später auch innerhalb der Inszenierungen des sogenannten synthetischen futuristischen Theaters von Bedeutung sein wird, insbesondere im Stück Le basi, das 1915 uraufgeführt und gänzlich aus der Perspektive der Füße inszeniert wurde. Abbildung 2: Le basi, sintesi teatrale von Filippo Tomaso Marinetti, Szenenphoto aus der Uraufführung im Jahr 1915
Weiterhin erinnert das Gemälde Ballas an das Motiv der spazierenden Frauengestalt in Tchechows Erzählung Dame mit dem Hündchen. Vor allem aber zitiert und dekonstruiert es das anthologische Sonett À une passante aus den Tableaux Parisiens von Charles Baudelaire, das sich in einer präfuturistisch anmutenden Szenerie, inmitten des Lärms der Großstadt ereignet: Betäubend heulte die Straße rings um mich. Hochgewachsen, schlank, in tiefer Trauer, hoheitsvoller Schmerz, ging eine Frau vorüber; üppig hob und wiegte ihre Hand des Kleides wellenhaften Saum. Leicht und edel setzte sie wie eine Statue das Bein. Ich aber trank, im Krampf wie ein Verzückter, aus ihrem Auge, einem fahlen, unwetterschwangeren Himmel, die Süße, die betört, die Lust, die tötet. Ein Blitz … und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit, von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, soll ich dich in Ewigkeit erst wieder sehen? Anderswo, sehr weit von hier! Zu spät! Niemals vielleicht! Denn ich weiß nicht, wohin du enteilst, du kennst den Weg nicht, den ich 9 gehe, o du, die ich geliebt hätte, o du, die es wußte! 9 Baudelaire, Charles: „An eine, die Vorüberging“, in: Friedhelm Kemp/ Claude Pichois (Hrsg.): Gesammelte Werke. 8 Bde., Bd. 3, Darmstadt 1975, S. 245. Im Original heißt es: La rue assourdissante autour de moi hurlait. / Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, / Une femme
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Das Sonett ist durch Gegensätze gekennzeichnet, den statuenhaften Körper der Passantin, die, wie die Gradiven Jensens, Freuds, Dalís, Warburgs durch den wellenartigen Saum des Kleides belebt wird. Der das Unwetter ankündigende Blicktausch, der das lyrische Ich hier punktiert und verletzt, löst nicht nur die Nacht sondern auch die Wiedergeburt aus, die aus dem Ephemeren entspringt und eine Überlagerung und Auflösung der Kategorien von Zeit und Raum bedeutet. „Allenfalls ein letztes Mal“, so Barbara Vinken, zeige sich hier die Mode in der Lage, ihre traditionelle Aufgabe zu erfüllen und Zeit im perfekten Augenblick des Jetzt aufzuheben. Der epiphanieartige Moment, der zwischen dem Wahrwerden und der Zerstörung changiert10, wird auch hier als ein aus dem „Reich der Flüchtigkeit“11, aus dem Ephemeren gewonnenes Barthes’ sches Punktum stilisiert. Das Flüchtige wird in einem die Zeit aufhebenden Augen-Blick zum Ewigen, die Spannung zwischen dem klassischen Ideal der antiken Statue und dem „bewegten“, sodann belebten „Beiwerk“ entpuppt sich als das Begehren schlechthin.12 Im ephemeren „Blitz“ des Aufeinanderprallens von Entgegengesetztem und Nichtzusammengehörendem, von antikem Mythos und dem Alltag einer Metropole antizipiert das Gedicht ein traumatisches wie engrammatisches „Erregungsbild“, das als Impuls jener in die Zukunft gerichteten, zerebralen Energie fungiert, die in den Gedächtnistheorien um 1900 unterschiedlich konnotiert und aus verschiedenen Ausgangspunkten heraus von Henri Bergson gleichermaßen wie von Richard Semon oder Aby Warburg entwickelt wurde. So ist das Sonett beides, der Ausdruck des Ephemeren und des aktualisierten Gedächtnisses, und für es scheint dasjenige zu gelten, was Walter Benjamin mit den Worten beschrieb: Es ist in jeder Mode etwas von bitterer Satire auf die Liebe, in jeder sind Perversionen auf das rücksichtsloseste angelegt. Jede steht im Widerstreit mit dem Organischen. Jede verkuppelt den lebendigen passa, d’une main fasteuse / Soulevant, balançant le feston et l’ourlet; // Agile et noble, avec sa jambe de statue. / Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, / Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan, / La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. // Un éclair… puis la nuit! – Fugitive beauté / Dont le regard m’a fait soudainement renaître, / Ne te verrai-je plus que dans l’eternité? // Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être? / Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, / Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais! „A une passante“ (Tableaus Parisiens XCIII), in: Oeuvres complètes, texte établi et annoté par Y.-G. Le Dantec. Ed. révisée, completée et présentée par Calude Pichois, Paris 1961, S. 88f. 10 Vinken 1993, S. 36. 11 Ebd. S. 35. 12 Ebd. S. 38.
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MARIJANA ERSTIû Leib der anorganischen Welt. Der Fetischismus, der dem sex13 appeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv.“
Die futuristische Mode indes will von derartigen Erinnerungsenggrammen der Mode nur bedingt etwas wissen. Das Gemälde Giacomo Ballas (Abb. 1) scheint ironisch und verspielt sowohl mit den Mustern des Flüchtigen und der Betrachtererregung als auch mit den Chronophotographien Étienne Jules Mareys zu spielen, indem es einen vermeintlichen Dynamismus des Hundes zum Hauptthema erhebt. Die Rüsche am Kleid ist hier kein sublimes Abbild der Ewigkeit sondern allenfalls ein Gag, der der mimischen Psychologisierung und Entladung ein Ende setzen will, ähnlich wie in dem, im Jahr 1916 gedrehten Film THAÏS, jenem Film des von Umberto Boccioni und Filippo Tomaso Marinetti zunächst gemiedenen Photographen und Regisseurs Anton Giulio Bragaglia und des Bühnenbildners Enrico Prampolini, für den die russische Tänzerin Thaïs Galitzky als Inspiration diente. Bereits die Titel der Bragaglia-Filme, in denen die Galitzky auftrat – THAÏS, PERFIDO INCANTO – deuten auf die Erotisierung des Körpers hin, auf seine endlose, erfrischende Plastizität. In ihrem ersten Film ist Thaïs die femme fatale par excellance, die vielen Außenaufnahmen zeigen sie zumeist von zahlreichen, ihr folgenden Männern umringt. Dargestellt wird sie in somnambulen Kostümen, ihr wichtigstes Attribut ist eine Pelztasche, eine Art metonymischer Requisite, das Lieblingsspielzeug der Liebhaber. Die Innenräume dagegen, die Orte des Intimen, sind der Freundin Bianca vorbehalten, und die Sequenzen, in denen Thaïs und Bianca alleine gezeigt werden, kommen nicht ohne homoerotische Elemente aus, die sich in der Gestik, aber auch in den, das traditionelle Geschlechterverhältnis geschickt umspielenden Garçonne- und Reiter-(Ver-)Kleidungen manifestieren. Diese Räume des Intimen jedoch stehen aus einem weiteren Grund im Kontrast zu den Außenaufnahmen: Sie sind gänzlich dem Art Deco verpflichtet. Enrico Prampolini, der für die Ausstattung der Innenräume zuständig war, schuf hier eine Ästhetik, die aus geometrischen und abstrakten Elementen besteht. Die Innenarchitektur sucht im Folgenden auch die fin-de-siècleStimmung in eine futuristische zu verwandeln, denn wenngleich im Film Modelle der Jahrhundertwende, wie femme-fatale- und femme-fragileOpposition14, die Symbolik der Katzen, Pfauenaugen, Pelze durchexerziert werden, und die spätantike, durch den gleichnamigen Roman von Anatole France (1890) und die Oper von Jules Massenet (1894) bekannt 13 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk I, Frankfurt a.M. 1983, S. 130. 14 Vgl. hierzu Praz, Mario: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1970.
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gewordene und hier in eine phantastische Gegenwart verlagerte Geschichte einer Kurtisane erzählt wird, so changiert doch die Darstellung des Freitodes Thaïs’ zwischen der Sublimierung einer Märtyrerin und dem futuristischen Sieg über die erotische Verzückung. Thaïs wählt nach dem Verschulden des Selbstmordes Biancas den Freitod durch Vergiftung, es sind jedoch die zu Dolchen ‚mutierten’, art-deco-artigen Wandbemalungen, die ihren lebenden Körper durchbohren, sie letztendlich töten und den Umbruch des „passatismo“15 markieren. Die Einstiche indes wurden in den Punkten auf den Kleidern und den gemalten Augen an den Wänden, die die Voyeursposition des Filmzuschauers symbolisieren, vorweggenommen. Die Titelfigur mit ihrem lächelnden Gesicht wird hier durch die Messer und Nadeln einer in die (fiktionale) Wirklichkeit überführten Innenarchitektur erstochen, der Körper und sein bewegtes, „freudig wirbelnd[es]“16 Beiwerk werden durchbohrt, verletzt, getötet. *** Jahrzehnte später wird die dem sog. ‚secondo futurismo’ angehörende Triestiner Photographin Wanda Wulz im Medium der Photographie, wie es scheint, dieses erstickte Beiwerk in das Bild des sublimierten SexAppeals überführen (Abb. 2). Die Schwingungen und die Kraftlinien, die in dem Gemälde Ballas dem Hund zugesprochen wurden und in THAÏS erstickt wurden, sind hier ganz der Körperbewegung um eine Mittelachse verpflichtet, und die Photographie scheint in ihren Überblendungen und Dynamismen die aktuelle Modephotographie zu antizipieren. Wanda Wulz’ Interesse wendet sich hier nicht dem einzelnen (Ver-)KleidungsEntwurf, sondern vielmehr der Idee jener Mode zu, die aus dem Flüchtigen und Ewigen gleichermaßen gewonnen wird und die „aus der Rüsche am Kleid“ eher als aus der „Idee“ entsteht17. Der hier inszenierte Ausdruck des Körpers, beschwingt und lebhaft, lässt den Körper der Frau weder als das Burleske noch als das Bedrohliche erscheinen, sondern als das Modische schlechthin. Das veritable Interesse der Photographie freilich gilt nicht dem Kleid sondern den Überlagerungen und Überblendungen der Körperpositionen, dem Motiv der Bewegung, das in Anschluss 15 Vgl. hierzu Schwan, Tanja: „Die futuristischen Manifeste der Valentine de Saint Point – zur Performativität von gender in medialer Vermittlung“, in: Erstiü, Marijana/Schuhen, Gregor/Schwan, Tanja: Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierung und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005, S. 259-298. 16 Aby Warburg, zit. nach: Raulff, Ulrich: Wilde Energien. Vier Versuche über Aby Warburg, Göttingen 2003, S. 38. 17 Ebd., S. 578.
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an die Photodynamiken Anton Giulio Bragaglias als Unschärfe dargestellt wird und motivisch aus der transparenten Stofflichkeit des Kleides, formaltechnisch aus der Montage tänzerischer Gesten und ihrer Schwingungen resultiert. Nicht das Kleid sondern der Körper und die aus ihm gewonnene Belebung des Kleides stehen hier im Mittelpunkt, und auch die anderen Photographien Wanda Wulz’, so z.B. jene, die die Linie der gymnastischen Bewegung durch Mehrfachbelichtung nachzeichnen wie auch jene, in der die Schwingungen der Musik evoziert werden, gelten dem Rhythmus als dem Lebenszeichen schlechthin, gleich ob sie die gymnastische Übung (Abb. 4) oder die Musik (Abb. 5) zum Thema haben. Abbildung 3: Wanda Wulz: Wunder-Bar, 1932, Reproduktion auf glänzenden Papier, 27 x 21 cm, Museo di storia della Fotografia Fratelli Alinari-Wulz-Archiv, Florenz
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Abbildung 4 (links): Wanda Wulz: Gymnastische Übung, 1932, Reproduktion auf glänzenden Papier, 29,5 x 22,5 cm, Museo di storia della Fotografia Fratelli Alinari-Wulz-Archiv, Florenz Abbildung 5 (rechts): Wanda Wulz: Jazz Band, 1930, Gelatine auf Silberdruck, 29,5 x 22,5 cm, Museo di storia della Fotografia Fratelli Alinari-Wulz-Archiv, Florenz
Mit der letzten Photographie (Abb. 5) stellt Wanda Wulz, so scheint es, eine grundlegende Frage: Welche Kunst kann diese Schwingungen, die von einem Körper und seinem „bewegten Beiwerk“ ausgehen, besser verdeutlichen als die Musik? Ihre Antwort fällt ungefähr zeitgleich zum Entwurf des sog. Theremin-Kleides, das den Körper als Interface benötigt, um in den „sinfonie di gesti“18 zu kulminieren – ein Ausdruck eines wahrhaftig futuristischen Körperbewusstseins und das vielleicht erste Beispiel des sog. wearable computing. Das Theremin (auch: Thereminvox, Thermenvox) jenes Musikinstrument, das auch Ätherwellengeige oder Ätherophon genannt wird, ist das erste benutzbare elektronische Instrument, das 1919 von dem russischen Physiker Leon Theremin19 18 Marinetti, Filippo Tomaso/Corra, Bruno/Settimelli, Emilio/Ginna, Arnaldo/Balla, Giacomo/Chiti, Remo: „La cinematografia futurista. Manifesto futurista publicato nel 90 numero del giornale ‚L’Italia futurista‘. (Milano, 11.09.1916)“, in: Manifesti, proclami, interventi e documenti teorici del futurismo. 1909-1944. Bd. 1, Blatt 89. 19 Theremin, Lev: „Ätherwellenmusik und neue Wege der Musik“, in: Funk, Bd. 44 (1927), S. 368.
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(eigentlich Lev Sergejewitsch Termen) erfunden, 1920 auf einer Moskauer Industriemesse erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt und um 1928 in den USA patentiert wurde. Seine wirklichen Möglichkeiten freilich wurden bis in die 60er Jahre hinein nicht ausgeschöpft,20 obgleich das Instrument gleichzeitiges Tanzen und Musizieren ermöglicht und neben der Momentaneität einer Pathosformel der Bewegung auch die MenschMaschine-Schnittstelle markiert: Berührungsfrei gespielt, durch den Abstand beider Hände zu zwei Antennen arbeitet das Theremin nach dem Überlagerungsprinzip von Schwingkreisen und Schwebungen der durch die Geste ausgelösten Schwingkreisfrequenzen.21 Doch während das Theremin die Menschmaschine-Utopien des frühen Futurismus weiterführt, reinszeniert die Wulzsche Photographie Jazz Band indes ironisch das reziproke Verhältnis von Körper und Instrument. Die Photographien Wanda Wulz’ weisen sodann auf die Grenze sowohl der GeschmacksFlexibilität, als auch der futuristischen Utopien hin. Wie ihr Autoporträt Io – gatto / Ich – Katze (Kater), das Giovanni Lista zufolge im Equilibrium zwischen einer angenommenen weiblichen Natur und dem Animalen mündet, und weniger auf den Surrealismus rekurriert als auf die pysiognomischen Studien Giovanni Battista della Portas22 oder auch auf die Manifeste Valentine de Saint-Points23, so spielt auch die Wunder-Bar20 „Als Theremin ein Instrument mit grundlegend neuen Möglichkeiten herausbrachte, taten die Thereminiten ihr Bestes, um das Instrument wie irgendein altes klingen zu lassen, gaben ihm ein ekelhaft süßliches Vibrato und spielten darauf recht und schlecht die Meisterwerke der Vergangenheit. Obgleich das Instrument über eine reiche Palette von Klangqualitäten verfügt, die einfach durch Einstellung eines Skalenreglers gewonnen werden, treten die Thereminiten als Zensoren auf, die dem Publikum jene Klänge gewähren, von denen sie annehmen, das Publikum hätte sie gern. So behütet man uns vor neuen Klangerfahrungen.“ John Cage: „Die Zukunft der Musik – Credo“, in: Richard Kostelanetz: John Cage, Köln 1973 sowie in: Für Augen und Ohren, Berlin 1980, S. 112f. Bis hin zur Musik von Led Zeppelin und den Beach Boys bzw. bis zu den Spiel- und Fernsehfilmen PSYCHO, MARS ATTACKS oder STAR TRACK ist das Instrument kaum benutzt worden. 21 Vgl. Siegele, Ludwig/Cicco, Stephen: „Die Schönen und das Bit“, in: Die Zeit (Magazin). Nr. 46, 7. November 1997, S. 40-47. Rothauer, Doris (Hrsg.): Fastfortward. Mode in den Medien der 90er Jahre, Wien 1999. 22 Giovanni Lista: Futurism & Photography, London 2001, S. 90. 23 Saint-Point, Valentie de: „Manifesto della Dona futurista“ (35.03.1912), in: Manifesti, proclami, interventi e documenti teorici del futurismo. 19091944. Bd. 1, Blatt 23 und Dies: „Manifesto futurista della Lussuria“. (11.05.1912), in: ebd. 29. Vgl. auch Schwan, Tanja: „Die futuristischen Manifeste der Valentine de Saint Point. Zur Performativität von gender in medialer Vermittlung.“, in: Verf./Gregor Schuhen/Tanja Schwan (Hrsg.): Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrneh-
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Photographie (Abb. 3) mit den Prämissen des frühen Futurismus wie mit der bergsonschen Frage nach der Dauer und der Zeit des photographisch festgehaltenen Augenblicks24, und auch sie liefert, wie die Chronophotographien und Photodynamiken, nicht nur einen sondern viele mögliche Augenblicke einer Bewegung. Der bewegten Passantin sowie dem zeitlichen Paradoxon der Mode und der Idee des photographisch festgehaltenen, ephemeren Augenblicks setzt sie (Abb. 3) ein „wunder-bares“, das Balla-Gemälde (Abb. 1) dekonstruierend reinszenierendes photographisches Denkmal, die Mode als das Reich jener Flüchtigkeit modulierend, die im Kamera-Blick doch noch zur Ewigkeit, in der angedeuteten %ewegung zur veritablen „weiblichen Entsprechung des Futurismus“25 werden kann. Abbildung: 6 Wanda Wulz: Io – gatto, 1932, Gelatine auf Silberdruck, 29,5x23,5 cm, Museo di storia della Fotografia Fratelli Alinari-WulzArchiv, Florenz
mungsmuster zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Bielefeld 2005, S. 255-294. 24 Vgl. Hülk, Walburga /Verf.: „Vom Erscheinen und Verschwinden der Gegenstände. Futuristische Visionen“, in: Ralf Schnell/Georg Stanitzek (Hrsg.): Ephemeres. Bielefeld [2005]. 25 Volt (Vincenzo Fani Ciotti): „Manifesto della moda femminile futurista“ (1920), zit. nach Crispolti: „Die ,futuristische Rekonstruktion‘ der Mode“. S. 349.
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EINBRÜCHE, AUFBRÜCHE, UMBRÜCHE, DURCHBRÜCHE – ÜBER RISSE UND SPRÜNGE AUF (LEIN-)WÄNDEN IN LITERATUR UND KUNST SEIT DEN HISTORISCHEN AVANTGARDEN Im Kontext der Medienumbrüche 1900 und 20001 untersucht mein Beitrag Ein-, Auf-, Um- und Durchbrüche von (Lein-)Wänden am Beispiel der Werke ausgewählter Autorinnen und Künstlerinnen, allen voran der Erzählung „The Yellow Wallpaper“ (1892) von Charlotte Perkins Gilman sowie einem Gemälde Dorothea Tannings, Jeux d’enfants (1942). Die (Lein-)Wand wird dabei als das Medium aufgefasst, auf das sich die im Folgenden näher zu skizzierenden Umbruchshandlungen allesamt richten: sieht sie sich doch mannigfaltigen Übergriffen ausgesetzt, wird ein- oder gleich abgerissen und eben aufgebrochen, umgebrochen, durchbrochen, bricht mitunter auch von selbst ein, spaltet sich auf, erhält Risse, Sprünge, Fissuren – und dies aus den verschiedensten, auf Anhieb nicht immer einsichtigen Gründen. Zurück bleiben jeweils Bruchstücke, Fragmente, Torsi, die den Blick freigeben auf Dahinterliegendes, zuvor Verborgenes. Auf solche Art enthüllt wird allerdings – soviel sei vorweggenommen – oftmals nur eine Leere. Um dem Bedeutungsgehalt der im Titel aufgereihten Begriffe auf die Spur zu kommen, soll vorab ein flüchtiger Blick auf deren Etymologien geworfen2 und, von diesen ausgehend, dem jeweiligen Bedeutungs1 Eine von der Positionierung des Siegener Forschungskollegs 615 Medienumbrüche abweichende Perspektive in der Debatte um die konkrete historische Verortung der Umschlagpunkte nimmt beispielsweise das Archiv für Mediengeschichte (Weimar; hrsg. v. Lorenz Engell, Bernhard Siegert u. Joseph Vogl) ein, das in seiner aktuellen Ausgabe Jg. 4 (2004) unter dem Schwerpunkttitel: „1950 – Wendemarke der Mediengeschichte“ den ‚großen‘ Medienumbruch des 20. Jahrhunderts um die Jahrhundertmitte ansetzt. 2 Vgl. zum Nachfolgenden die Einträge zu den entsprechenden Lemmata in Lutz Mackensen: Ursprung der Wörter. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, München 1985.
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spektrum in freier Assoziation weiter nachgesonnen werden: Ein „Bruch“ (von ahd. bruoh / mhd. bruoch) bezeichnet demnach immer auch eine Grenze – zunächst (als ‚Grenzmarke‘) im konkreten, dann aber auch im übertragenen Sinne einer Trennlinie, die es wahlweise zu schließen oder zu überschreiten gilt. „Brechen“ im Allgemeinen konnotiert so unterschiedliche Wortbedeutungen wie das Brechen mit Konventionen und das Schlagen von ‚Breschen‘ (= ‚Mauerlücken durch Beschuss‘). Etwas, das einbricht, fällt in sich zusammen; ein „Einbruch“ kann jedoch auch ein schockartiges, krisenhaftes Erlebnis meinen, das über jemanden buchstäblich hereinbricht, sowie nicht zuletzt das „Einbrechen“ in fremde Domänen, meist verbunden mit einer widerrechtlichen Aneignung des Eigentums anderer. Aufbrechen heißt, etwas öffnen für Neues, ‚das Lager abbrechen‘, ‚fortgehen‘ – Menschen, Orte, Situationen hinter sich zu lassen, um aufzubrechen zu fernen, manchmal entlegenen Ufern. Die Vorsilbe „um-“ (aus ahd. umbi- / mhd. umbe-) weist ihrerseits eine enge etymologische Verwandtschaft auf zu gr. amphís (‚auf beiden Seiten‘) – das eine stammt wie das andere aus der gleichen (freilich rekonstruierten) indoeuropäischen Wurzel *ambhi- – und deutet somit eine Wechselseitigkeit und Ambivalenz, auch Entzweiung an. „Durch“ schließlich geht zurück auf lat. trans, ‚jenseits‘; es impliziert ein Hindurchgehen, Durchqueren, Herausdrängen auch über einmal gesetzte Grenzen. „Durchbrechen“ steht in einer Reihe neben ‚durchbohren‘ und ‚durchlöchern‘. Von einem „Durchbruch“ spricht man sowohl, wenn es um das Niederreißen, den Abriss einer tragenden Wand geht als auch wenn man die ersten nachhaltigen Erfolge einer Person auf literarischem oder künstlerischem Parkett im Sinn hat. Was dieser kleine Exkurs in die basalen Tiefen der Sprachgeschichte demonstrieren sollte, war, dass, wie ich mit meinem Beitrag zeigen möchte, all jene Bedeutungsnuancen einzufließen haben in die nachfolgenden Text- und Bildanalysen, wobei sie einander sowohl überlagern als auch unterlaufen können. In sämtlichen Fällen beziehe ich mich, neben den vorgenannten Bedeutungen und über sie hinaus, stets auch auf „Einbrüche, Aufbrüche, Umbrüche, Durchbrüche“ der Medien selbst und ihrer materiellen Träger – namentlich Leinwand oder Textkörper. Verhohlen sei an dieser Stelle nicht, dass bestimmte, ebenso denkbare und sogar einschlägige Wortbildungen auf „-brüche“ im Titel zwar ausgespart wurden, gleichwohl jedoch zum – wenn auch verschwiegenen – Horizont des Aufsatzes gehören und folglich zumindest im Hinterkopf bei den Einzelstudien jeweils mitbedacht werden müssen. Unterschlagen habe ich, neben anderen, die Abbrüche: etwas endet (mehr oder weniger
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abrupt); eine Tradition wird nicht fortgeführt und liegt von da an gleichsam brach – ist zerbrochen, auseinander gegangen, entzwei. Es fehlen ferner auch die Ausbrüche – bisweilen gewaltförmige Ausgänge aus unerträglichen Lebensumständen: Im (gesellschaftlichen) ‚Aus‘ befindet sich, wer – ob freiwillig oder unfreiwillig – den tabuisierten ‚Raum hinter der Spielfeldgrenze‘ betreten und somit eine abseitige Position bezogen hat. Meine Ausführungen konzentrieren sich auf literarische sowie künstlerische Werke weiblicher Provenienz, da Frauen im Kunst- und Literaturbetrieb auch des 20. Jahrhunderts im Verhältnis zu ihren männlichen Kollegen nach wie vor marginalisierte Räume einnahmen3 – Susan Rubin Suleiman hat mit Bezug auf Künstlerinnen der Avantgarde sogar von einem „Double Margin“ gesprochen,4 einer Ausgrenzung in doppelter Hinsicht also, in ihrer Eigenschaft als Teilhaberinnen an den auf dem Boden einer bürgerlichen Dominanzkultur operierenden avantgardistischen Bewegungen ebenso wie als Randständige innerhalb jener Avantgarden, die als solche wiederum geschlossene Männerveranstaltungen waren und bleiben wollten. Innerhalb der gewiß großen Bandbreite der Möglichkeiten dominiert im Diskurs der Avantgarde jene Subjektposition, die Autorschaft, diskursive Autorität, Männlichkeit, Heterosexualität und männerbündische Gruppensolidarität zur Voraussetzung hat. Daß Individuen, die nicht alle dieser Voraussetzungen erfüllen können oder wollen, sich die Subjektposition ‚Avantgardist‘ trotzdem aneignen, ist möglich, ist möglich gewesen und historisch belegbar; belegbar sind aber auch die Schwierigkeiten, die solche Transgres5 sionsakte mit sich brachten […].
Diese Zwei- bzw. Mehrfachmarginalisierung, so meine These, prädestinierte Autorinnen und Künstlerinnen aus dem näheren wie weiteren Umkreis der Avantgarden in besonderer Weise dazu, auch ästhetische Brü-
3 Zu den philosophischen, politisch-historischen sowie terminologischen Implikationen von „Marginalisierung/Marginalität“ als Theoremen der Gender-Studien siehe den gleichnamigen Artikel der Vf.in im Metzler Lexikon Gender Studies / Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Renate Kroll (Hrsg.), Stuttgart/Weimar 2002, S. 254f. 4 So in Susan Rubin Suleiman: Subversive Intent. Gender, Politics, and the Avantgarde, Cambridge, Mass./London 1990, S. 11ff. 5 Birgit Wagner: „Subjektpositionen im avantgardistischen Diskurs“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta, GA 2000, S. 163-182, hier S. 177.
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che und Innovationen6 anzustoßen. Mit Gilman, Tanning sowie mehreren, im Sinne der vorgenannten Hypothese exemplarischen Texten und Bildern aus dem letzten Jahrhundertdrittel, die im Kontext dieses Aufsatzes nur gestreift werden können, sind drei markante Rahmendaten bzw. Eckpunkte jeweils kurz vor Beginn, in der Mitte und gegen Ende des 20. Jahrhunderts abgesteckt, an denen einschneidende, bislang jedoch nicht genügend beachtete mediale Zäsuren sich ereignen und aufweisen lassen. Spezielles Augenmerk soll insofern der Koinzidenz und Verschränkung von Aspekten der Medialität mit solchen der Gender-Forschung gewidmet werden.
I. Tapetenvisionen einer Hysterikerin um 1900 Hysterie erzählt vor allem eine Geschichte, die verstanden, interpretiert, überhaupt gelesen werden 7 kann.
Angesiedelt im kulturellen Umfeld des ausgehenden 19. Jahrhunderts, repräsentiert Charlotte Perkins Gilmans Kurzgeschichte von der „Gelben Tapete“8 ein Paradigma des zeitlich ersten Medienumbruchs. Das fin de siècle erweist sich – wie Foucault als prominentester Theoretiker revolutionärer Umwälzungen in der Geschichte der Denksysteme9 schlüssig nachgewiesen hat – als gekennzeichnet durch eine Neuverhandlung der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit,10 die in eine Redefinition 6 Zur Kategorie der innovatio auf dem Terrain des Ästhetischen vgl., unter gender-Aspekt, Waltraud Wende: „Ästhetische Innovation. Zur Dekonstruktion etablierter Erzählstrukturen am Beispiel von Virgina Woolf, Nathalie Sarraute und Ingeborg Bachmann“, in: Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann (Hrsg.): Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 21999, S. 533-547. 7 Elaine Showalter: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien, Berlin 1997, S. 15. Der Begriff ‚Hystorien‘ umschreibt die „kulturellen Narrationen der Hysterie“. Ebd., S. 14. 8 Fortan im laufenden Text zitiert als: GT nach der deutschen Übersetzung in Charlotte Perkins Gilman: Die gelbe Tapete und andere Erzählungen, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1985, S. 35-56. 9 Foucault initiierte mit seinen Forschungen ein achronologisches „Denken der Diskontinuität“ und der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, ein Denken gleichsam auf der Schwelle, dem schmalen Grat zwischen zwei Abgründen – theoretisch begründet in Michel Foucault: Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt a.M. 1973, S. 13. 10 Vgl. ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft [1961], Frankfurt a.M. 1969.
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dessen mündet, was (gerade noch) als ‚normal‘ gelten kann und was (schon) nicht (mehr): „[A]m Kranken entwirft sich das Gesunde als Norm.“11 „Als Nervenschwäche, als Neurasthenie macht eine Krankheit die Runde, die, bleich, exaltiert und unberechenbar, die Züge einer Epoche zu tragen scheint“12 – „ein Leiden mit vielen Gesichtern“13 oder mal du siècle, das dem ‚nervösen Zeitalter‘ seinen Namen geliehen und „die Besonderung der Frau zum Studienobjekt“14 nachhaltig befördert hat. Im Zusammenhang mit der damals im Entstehen begriffenen Psychoanalyse Freuds nämlich kam es zu einer zunehmenden Hysterisierung und somit Pathologisierung des Frauenleibs, der „als ein gänzlich von Sexualität durchdrungener Körper analysiert [wurde] – qualifiziert und disqualifiziert.“15 Die Person, die als erste vom Sexualitätsdispositiv besetzt wurde und als eine der ersten sexualisiert wurde, war die ‚müßige‘ Frau zwischen der ‚großen Welt‘, in der sie einen Wert darstellte, und der Familie, in der ihr zahlreiche neue eheliche und elterliche Pflichten zugewiesen wurden: auf diese Weise kam die ‚nervöse‘ Frau zustande, die von ‚Vapeurs‘ befallene Frau; hier hat die Hys16 terisierung der Frau ihre Verankerung gefunden.
Ein neues Dispositiv der visuellen Wahrnehmung formierte sich aus dem Zusammenspiel von Medizin17 und Medien und verfestigte einmal mehr eine „Tradition des Sehens“, die auf der „Gleichzeitigkeit von Fragmentierung und Fetischisierung des weiblichen Körpers“ beruht.18 Im 11 Marianne Schuller: „‚Weibliche Neurose‘ und Identität. Zur Diskussion der Hysterie um die Jahrhundertwende“, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982, S. 180-192, hier S. 182. 12 Ebd., S. 180. 13 Caroll Smith-Rosenberg: „Weibliche Hysterie. Geschlechtsrollen und Rollenkonflikt in der amerikanischen Familie des 19. Jahrhunderts“, in: Claudia Honegger/Bettina Heintz (Hrsg.): Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt a.M. 1981, S. 276-300, hier S. 276. 14 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850 [1991], München 1996, S. 6. 15 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I [1976], Frankfurt a.M. 1977, S. 126. 16 Ebd., S. 145. 17 Vgl. hierzu ders.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks [1963], München 1973. 18 Inge Baxmann: „Geschlecht und/als Performance. Körperinszenierungen bei aktuellen Performancekünstlerinnen“, in: Julika Funk/Cornelia Brück (Hrsg.): Körper–Konzepte, Tübingen 1999, S. 209-221, hier S. 209. Anders
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Betrachterblick wird dabei dieser Körper in seiner Weiblichkeit allererst erzeugt:19 Berühmt-berüchtigt sind die in einer Art fotografischen Archivs oder „medizinischen Bilder-Buch[s]“20 gleichsam musealisierten Posen und Verrenkungen von Frauenkörpern zu ihnen diktierten hysterischen Symptomen, wie sie – unter der Regie des Zeremonienmeisters Jean-Martin Charcot „in den ‚unheimlichen Hallen‘“21 der Pariser Nervenklinik La Salpêtrière publikumswirksam in Szene gesetzt (vgl. Abb. 1) und im Auge der Kamera stillgestellt – zu Anschauungsobjekten ikonografischer Deutungen wurden, künstlerisch aufbereitet oftmals mit Hilfe nachträglicher Retuschen.22 Schon Sigmund Freud hatte 1893 in seinem Nachruf auf Charcot dessen besondere visuelle Begabung hervorgehoben: Er war kein Grübler, kein Denker, sondern eine künstlerisch begabte Natur, wie er es selbst nannte, ein visuel, ein Seher. […] Vor seinem geistigen Auge ordnete sich […] das Chaos, welches durch die Wiederkehr immer derselben Symptome vorgetäuscht wurde;
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als Baxmann anzunehmen scheint, reichen die genealogischen Grundlagen dieses epistemologischen Dispositivs einer zunehmenden Privilegierung des Sehsinns vor allen anderen Wahrnehmungsmedien jedoch weit über die Moderne hinaus zurück ins Mittelalter und Frühe Neuzeit, wo sie sich – auch dort bereits unter Zentrierung des Blicks auf den zergliederten weiblichen Körper als bevorzugten Fetisch – archäologisch allemal schon aufspüren lassen z.B. im Minnesang, Petrarkismus oder blason anatomique. Vgl. hierzu weiterführend Vf.in: „Regard, geste, voix, écriture: Diane, Philomèle, Écho, Arachné – mythes et médias“, in: Ortrun Niethammer/Françoise Rétif/Annette Runte (Hrsg.): Mythos und Geschlecht / Mythes et différence des sexes. Akten des gleichnamigen deutsch-französischen Kolloquiums in Rouen (Herbst 2004), Heidelberg [2005]. Anhand der Beispiele Cindy Shermans und Orlans zeigt Baxmann überzeugend auf, wie Künstlerinnen sich jener prädominanten Ordnung des Sehens gewollt und bis zum Exzess aussetzen, um hinzuweisen auf Konstruktionsprozesse des (weiblichen) Geschlechts im optischen Medium. Sigrid Schade: „Charcot und das Schauspiel des hysterischen Körpers. Die ‚Pathosformel‘ als ästhetische Inszenierung des psychiatrischen Diskurses – ein blinder Fleck in der Warburg-Rezeption“, in: Silvia Baumgart u.a. (Hrsg.): Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft. 5. Kunsthistorikerinnentagung in Hamburg, Berlin 1993, S. 461-484, hier S. 466. Ebd., S. 461. Grundlegend dazu Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot [1982], München 1997.
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all die Wildnis von Lähmungen, Zuckungen und Krämpfen, […] 23 die […] ins Unbestimmte ausliefen.
Charcots Talent bestand demzufolge in der Sichtung und Typisierung von Krankheits-Bildern nach deren fotografischer ‚Evidenz‘; seine „Verfügung über ein großes Material an chronisch Nervenkranken“24 gestattete es ihm, ‚Fakten‘ zu isolieren und durch Benennung zu verobjektivieren. In seinen suggestiven Vorlesungen wurde „[d]as ‚Rätsel Frau‘ […] gleichsam als lebendes Präparat […] vorgeführt“,25 wurden „[m]ediale Frauen im fotografischen Setting“26 generiert, die sich effektvoll auf den Blick des Anderen hin entwarfen. Die Salpêtrière blieb nicht länger nur Heilanstalt, sondern avancierte zu einer wahren Brutstätte der Hysterie, war doch Repräsentation […] zugleich Einschreibung von Geschlechtscodierungen. Charcot konstruierte sein Krankheitsbild aus den Fotos, er glaubte, über ihren Vergleich und ihre Serialisierung die versteckte 27 Logik […] der Hysterie […] enthüllen zu können. Damit aber bezeichnet sie [die Hysterie] genau die Grenze jenes Repräsentationssystems, das die hysterische Symptomologie nicht nur zu klassifizieren sucht, sondern auch selbst produziert. […] sie existiert genau deswegen, weil sie den blinden Fleck oder die Un28 möglichkeit des ärztlichen Repräsentationsaktes markiert.
Bald gerieten physiognomische Codes für das Entziffern solcher Körpersemiotiken in Umlauf, welche – im „Zirkelschluß“ freilich „vom traditionellen Pathosformel-Reservoir der Kunstgeschichte“29 – die Medizin als die moderne Machttechnologie inaugurierten, deren Kernkompetenzen und Definitionshoheiten bis heute im Untersuchen und Überwachen lie23 Sigmund Freud: „Charcot“ [1893], in: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Anna Freud (Hrsg.), London 21964, Bd. 1: Werke aus den Jahren 1892-1899, S. 21-35; hier S. 22f. (kursiv im Original). 24 Ebd., S. 22. 25 Silvia Eiblmayr: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993, S. 196. 26 Schade 1993, S. 472. 27 Baxmann 1999, S. 217. 28 Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin 1998, S. 110f. (Kap. I: „Der Hysterieroman der Medizin – Geschichte oder Märchen?“). 29 Schade 1993, S. 472. Die Autorin verweist beispielsweise auf die kompositorische Nähe des Enthüllungsgestus in Brouillets Bild (Abb. 1) zum Gemälde Jean-Léon Gérômes, Phryne vor ihren Richtern (1861; reproduziert ebd., S. 477).
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gen. Im hysterischen Körperalphabet schien sich eine Schrift abzuzeichnen30 – „eine Schrift, die man nur noch richtig zu lesen brauchte, um in ihr Ordnung, Sinn und Botschaft zu erkennen.“31 Verleugnet wurde bei diesem therapeutischen Fehlschluss allerdings, daß sich die hysterische Symptomatik […] der Eindeutigkeit der Interpretation durch den Arzt entzieht. Der Arzt ist nicht länger Herr des Sinns der Symptome. […] Der hysterische Körper tritt aus der Eindeutigkeit der Repräsentation heraus […]: die Hysterika begehrt auf gegen eine repräsentationistische Verfaßtheit ihres Kör32 pers.
Abbildung 1: André Brouillet: Leçon clinique du Docteur Charcot (1887), Radierung, Hôpital Neurologique, Lyon
Gleich einem zweiten Charcot, der als nur vermeintlich kompetenter Leser von Krankheitssymptomen auftritt, tatsächlich aber einer grundlegen-
30 Vgl. hier die Beobachtungen Georges Didi-Hubermans zum Dermatografismus als einem Phänomen der medizinischen Be-Schreibungskultur, bei dem sich Muster in Form einer Körper-Schrift (Zuckungen etwa oder Grimassen) in die Haut der Probandinnen aus der Salpêtrière einritzten. Ders.: „Graphische Ekstase“, in: Silvia Eiblmayr u.a. (Hrsg.): Die verletzte Diva. Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 2000, S. 288-301. 31 Schade 1993, S. 472. 32 Schuller 1982, S. 183f. Kulturgeschichtliche Subversionen des logos durch das Hysterische untersucht Christina von Braun: Nicht ich. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt a.M. 21988.
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den Verkennung aufsitzt, gebärdet sich in „The Yellow Wallpaper“ John, ebenfalls Arzt – „ein namhafter“ (GT, 35) noch dazu – und in Personalunion zugleich Ehemann der namenlosen Protagonistin bzw. Ich-Erzählerin. Ganz wie die Frauen in der Salpêtrière findet auch sie sich – auf Anraten ihres Mannes – interniert und von der Außenwelt isoliert hinter den verschlossenen Türen und vergitterten Fenstern eines Krankenzimmers, das im Verlauf der Geschichte seine zusehends beklemmende Wirkung entfaltet. Mehr und mehr gewinnt man beim Lesen des Textes den Eindruck, dass John es ist, der seine Frau erst zur Patientin werden lässt, indem er sie buchstäblich ‚krank schreibt‘ und medikalisiert. In klarsichtigen Momenten erkennt dies auch sie, die Entmündigte und ans Bett Gefesselte selbst. Ihr stummes Aufbegehren entlädt sich daraufhin in allzu oft ohnmächtigen Gesten des Widerstands: der heimlichen Verbotsübertretung des Schreiben(-Wollen)s, das John im Verbund mit seiner Schwester und Helfershelferin bei jedem neuen Versuch alsbald zu unterbinden weiß; dem sehnsüchtig aus dem Fenster über den weitläufigen Garten schweifenden Blick; der Abneigung gegen die scheußlich gemusterte gelbe Tapete, die sich von Mal zu Mal steigert bis hin zur veritablen Obsession; in unterdrückter Wut schließlich auf ihren ‚Wohltäter‘ und unerfüllten Wünschen nach einem Beruf, die vor dem Hintergrund ihrer Lebenssituation als frisch gebackene Mutter um 1900 unbotmäßig erscheinen mussten. Gefangen im Trauma ihrer postnatalen Depression, scheitert die Frau an den Anforderungen ihrer neuen sozialen Rolle33 und regrediert selbst zum hilflosen Kind34 – wobei Disziplinierung und Bevormundung durch John zu ihrer Infantilisierung ein Übriges beitragen. Die nachgerade klaustrophobische Enge ihrer vier Wände gerät zur Metonymie für innere Dispositionen: Offensichtlich spukt es im Haus; ganze Tapetenbahnen verselbständigen sich und hängen lose von den Wänden herab. In unheimlicher Analogie dazu befindet sich auch die Psyche der Frau in einem Zustand der Zerrüttung und Dekomposition: Im Innern der einsturzgefährdeten Wand entäußert sich ihr rastloses und gleichfalls vielerlei Gefährdungen ausgesetztes Innenleben in Gestalt einer Wiederund Doppelgängerin, die hinter den durchscheinenden Formen der Tapete unausgesetzt entlang kriecht. Jene nur schemenhaft wahrnehmbaren anthropomorphen Umrisse bilden das Gegenüber einer kahlen Stelle über dem Kopfende des Bettes, „ungefähr so hoch, wie ich reichen kann“ 33 Foucault zufolge bildete die ‚Nervöse‘ um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert das „Negativbild“ der Mutter. Ders. 1977, S. 126. 34 Eine unter Hysterikerinnen offenbar verbreitete Reaktion, wie Smith-Rosenberg ausführt. Vgl. dies. 1981, S. 278f., 287 u. 294.
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(GT, 37), die also eine Leere markiert, wo eigentlich eine Frau sein sollte. Symptomatisch für die Hysterikerin sind vorübergehende Wahrnehmungsstörungen wie Taubheit, Absencen, Lähmungserscheinungen und Anästhesien. Als hysterisch kann demzufolge auch die weibliche Hauptperson des Textes von Gilman durchgehen, welcher man(n) denn in der Tat gönnerhaft „eine leichte Neigung zur Hysterie“ (GT, 35) bescheinigt. Und wirklich verursacht die flirrende Ornamentik des sie umgebenden Wanddekors ihr ein konstantes nervöses Augenflimmern: … wenn man diesen lahmen, unsicheren Kurven ein Stück weit mit den Augen nachgeht, dann begehen sie plötzlich Selbstmord … fallen in unmöglichen Winkeln ab, zerstören sich selbst in den seltsamsten, widersprüchlichsten Gegenlinien. (GT, 38)
Das jähe Abbrechen der Linien, ihr Übergang in einen anderen Zustand, lässt sich, begreift man die Tapete als Chiffre für die Frau dahinter, lesen als Prozess einer Autodestruktion. Diese Lesart kann sich stützen auf eine Hysterisierung auch der Tapete als solcher, deren undefinierbar zwischen blassen Gelb- und schreienden Orangetönen changierende Farbe35 im Text als „seltsam fahl“, „fast zum Erbrechen“, als „ein kränklicher Schwefelton“ beschrieben wird (ebd.). Im synästhetischen Erleben der Protagonistin verströmt die vergilbte, pilzbefallene Tapete gar einen muffigen „gelbe[n] Geruch“ (GT, 50) nach Verwesung und Moder. Das Muster, heißt es, wackelt […] wie ein gebrochenes Genick, und zwei Glotzaugen starren mich verkehrt herum an. […] Das krabbelt hinauf und hinunter, kreuz und quer; diese grotesken blinzelnden Augen sind überall. An einer Stelle […] stehen die Augen schief, eins ein Stück höher als das andere. (GT, 40f.)
Nicht nur starrt die Frau also wie gebannt immerzu auf die Tapete, sondern aus dieser starrt es zurück – der weibliche Blick im Text ist ein doppelter, den das Medium der Wand endlos widerspiegelt: Subjekt und Objekt dieses Blicks lassen sich nicht eindeutig zuordnen; Betrachtende und zu Betrachtende treten zueinander in eine Beziehung des Austauschs und
35 Gelb steht nicht nur für Krankeit, sondern auch für yellow press und Dekadenz (engl. Yellow Decade) – zeitgenössische Phänomene, welche die hartnäckige Persistenz dieser Farbe fiktionsintern zu einem Modernitätssignal werden lassen.
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der wechselseitigen Spiegelung.36 Mit sich selbst allein und zurückgeworfen auf ihre Einbildungskraft, halluziniert die Protagonistin im Delirium. Zugleich jedoch versucht sie, den internalisierten Warnungen des strengen Zensors John Folge leistend, ihre rege Phantasietätigkeit im Zaum zu halten oder doch zumindest in geregelte Bahnen zu lenken. Die verhasste Tapete wird zur stillen Mitwisserin geheimer Gedanken, die sich trotz des ärztlich verordneten Denkverbots immer wieder einstellen; sie ist nicht tote Materie, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Handlungs-Trägerin, ein Behältnis gleichsam für „Dinge, von denen niemand weiß oder jemals wissen wird – nur ich.“ (GT, 45) Vom dead paper der Seiten ihres Tagebuchs, dem sie anfangs in unbeobachteten Momenten gelegentlich noch verstohlen ihr Seelenleben anvertraute, verlagert sich die Aufmerksamkeit der Protagonistin auf das tableau vivant der Wandverkleidung; ihre Tätigkeit nimmt den Weg vom einsamen Schreiben zum interagierenden Lesen, vom Versuch der Repräsentation eines Abwesenden zu leibhaftiger Präsenz. Bei Einfall des Mondlichts nämlich nimmt die Ich-Erzählerin hinter dem „blöden aufdringlichen Vordergrundmuster“ ein verblichenes „Untergrundmuster“ (GT, 42) wahr und vermutet in dessen konturloser Gestalt eine gebückte Frau, die aus den undefinierbaren Formen und Linien der Tapete auszubrechen scheint: „Es war, als ob die verschwommene Gestalt an dem Muster rüttelte – als ob sie herauswollte.“ (GT, 46) Dieser zunächst flüchtige Eindruck steigert sich immer mehr zur fixen Idee: In quälenden Stunden der Schlaflosigkeit versucht das erzählende Ich zu ergründen, „ob das vordere und das hintere Muster zusammen- oder auseinanderliefen.“ (GT, 47) Die ‚Bewohnerin‘ der Tapete – so eine häufige Beobachtung – packt […] die Streifen wie Gitterstäbe und rüttelt mit aller Kraft. Und ständig versucht sie, durch das Muster zu klettern. Aber da kommt keiner durch – es zwängt so ein; ich glaube, daher kommen die vielen Köpfe. Die gehen zwar zuerst hindurch; aber dann würgt das Muster sie ab und dreht sie um, und ihre Augen werden ganz weiß. (GT, 51)
Um die in den Tiefen der Tapete beheimatete Frau zum Vorschein zu bringen und ihr bei ihrem Ausbruchsversuch zu helfen, beginnt die Prota36 Vgl. hierzu bereits die frühen Studien von Elisabeth Lenk: „Die sich selbst verdoppelnde Frau“, in: Ästhetik und Kommunikation (1976), Nr. 25: Frauen, Kunst, Kulturgeschichte sowie Sigrid Weigel: „Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis“, in: Inge Stephan/dies.: Die verborgene Frau, Berlin 1983.
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gonistin, die Oberflächenstruktur der Wand einzureißen. Von beiden Seiten der Tapete nähern sich die Frauen in einer gemeinsamen Anstrengung einander an, um schließlich zu einer Person zu verschmelzen: „Ich zog, sie rüttelte[, ich rüttelte, sie zog]37; und noch bevor der Morgen dämmerte, hatten wir mehrere Meter von der Tapete abgelöst. Einen Streifen, […] etwa in Kopfhöhe“ (GT, 53). Im Innenraum der Wand kommt es zu einer Begegnung der Erzählerin mit sich selbst, sieht sie sich ihrem auf das Schreibpapier der Tapete (engl. wallpaper) projizierten Ich gegenüber bzw. geht darin ein. Denn hat sie auch dem Schreiben scheinbar entsagt, so ist ihr doch das deutende Lesen dessen geblieben, was im labyrinthischen Wuchern der Ornamente auf dem Jugendstilmuster der Tapete verzeichnet ist. Ihr dekonstruktives Lektüremodell der Krankheit konkurriert mit dem des Empirikers und Hermeneutikers John,38 dessen beschwichtigendes Vorlesen ihr nichts als Müdigkeit verursacht (vgl. GT, 45). „Ich bin schließlich Arzt, Liebling, und ich weiß es besser“ (GT, 46), verteidigt er, ganz Vertreter einer professionellen Rationalitätskultur, seine fatale Fehldiagnose ihres Gesundheitszustandes, in deren Rahmen nicht sein kann, was nicht sein darf. Mit vergleichbarer Vehemenz beansprucht auch sie das alleinige Interpretationsprivileg über die hieroglyphischen Signale, die ihr Körper aussendet: „außer mir soll niemand etwas wissen, auf keinen Fall!“ (GT, 49) Hierzu fügt sich die triumphierende Ironie des Schlusses, bringt die Hauptfigur doch am Ende der Geschichte John, der ihre veränderte Symptomatik endgültig nicht mehr in eindeutige Begriffe zu fassen weiß, buchstäblich aus der Fassung, als der sie am Boden umher kriechend antrifft, wie sie mit gekrümmtem Rücken Kreise zieht und eine Rinne entlang der Tapete nachfährt. Nun ist er es, der angesichts ihrer KörperSchrift einen hysterischen Zusammenbruch erleidet und in Ohnmacht fällt. Kaum hat sie es aus der Umklammerung durch die Tapetenbahnen befreit, bindet sie ihr alter ego jedoch alsbald mit einem Strick an, damit es nicht in den Garten entweichen kann, der inzwischen von Scharen kriechender Frauen bevölkert ist. Auch sie erliegt somit letztlich dem 37 Dieser Passus fehlt in der zugrunde gelegten Textausgabe, ist im englischen Original jedoch enthalten (Anm. d. Vf.in). 38 Zu beider gegeneinander geführten poetologischen Programmen vgl. ausführlicher Gabriele Rippl: „Interieurs: ‚Heruntergekommene Romanesken‘ im Delirium tremens – Charlotte Perkins Gilmans ‚The Yellow Wallpaper‘“, in: Susi Kotzinger/dies. (Hrsg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Konferenz des Konstanzer Graduiertenkollegs „Theorie der Literatur“. Veranstaltet im Oktober 1992, Amsterdam/Atlanta, GA 1994, S. 271287; bes. S. 276ff.
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Wunsch, die vormals flottierenden Bedeutungen fixieren zu wollen, erkauft also ihren Gewinn an Einsicht damit, dass sie sich schließlich doch noch ‚verliest‘: Dora rundet hier gleichsam nachträglich ihre eigene Geschichte ab, schmückt „Bruchstücke“ mit einer Stringenz aus, die ihnen zuvor abging und leistet auf diese Weise selbst jene (Rück-)Übersetzung hysterischen Stammelns in sinndurchwaltete Sprache, die, folgt man Freud, allein dem Analytiker zukam.39 Mit dem Schluss von „The Yellow Wallpaper“ scheint daher eine Umkehr der Rollen von Patientin und Therapeut angedeutet, die bestehende Geschlechterarrangements als Konstruktionen entlarvt. Die Rezeptionsgeschichte des Textes weist ihn als privilegierten Untersuchungsgegenstand, nachgerade Klassiker einer feministischen interpretive community (Begriff nach Stanley Fish) aus,40 die ihn, nachdem er bei seinem Erscheinen mangels geeigneter LeserInnen zunächst in eine „literarische Sackgasse“ geführt hatte,41 im Laufe der 1970er Jahre als Befreiungsutopie neu entdeckte. Mehr noch: unter anderem an seinem Beispiel entwickelte eine imposante Riege von Kritikerinnen ihre Theorien und Schlüsselbegriffe einer weiblichen Ästhetik. Gilman’s story is not simply one to which feminists have ‚applied‘ ourselves; it is one of the texts through which white, American aca42 demic feminist criticism has constituted its terms.
So gibt die Protagonistin der Erzählung – „a paradigmatic tale which […] seems to tell the story that all literary women would tell if they could speak“43 – für Sandra Gilbert und Susan Gubar eine geradezu mustergül39 Zum ‚Fall Dora‘ vgl. Sigmund Freud: Bruchstücke einer Hysterie-Analyse. Krankengeschichte der „Dora“ [1901], Frankfurt a.M. 1981. 40 Vgl. Randi Gunzenhäuser: Horror at Home. Genre, Gender und das Gothic Sublime, Essen 1993, S. 155 (zu „The Yellow Wallpaper“, S. 155-173). 41 Annette Kolodny: „Neu lesen – erneut lesen – (Ge-)schlecht lesen. Eine Landkarte“ [1980], in: Aleida Assmann (Hrsg.): Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1996, S. 247-268; hier S. 254. Einen Ausweg aus diesem Dilemma zeigt Wai-Chee Dimock unter Hinweis auf die – bereits von Gilman selbst angedachte – (noch) virtuelle Figur einer impliziten Leserin auf. Vgl. dies.: „Feminism, New Historicism, and the Reader“, in: American Literature, Jg. 63 (1991), Nr. 4, S. 601-622; bes. S. 609ff. 42 Susan S. Lanser: „Feminist Criticism, ‚The Yellow Wallpaper,‘ and the Politics of Color in America“, in: Feminist Studies, Jg. 15 (1989), S. 415-441; hier S. 415. 43 Sandra M. Gilbert/Susan Gubar: The Madwoman in the Attic. The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination, New Haven/London 1979, S. 89 (kursiv im Original).
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tige „Verrückte auf dem Dachboden“ ab, den sie auf allen Vieren durchmisst, während sie sich im palimpsestischen Schreiben übt, bei dem unter einer Oberfläche affirmativer Aussagen („the facade of the patriarchal text“44) untergründige Gegentexte als verschlüsselte Botschaften weiblichen Begehrens lesbar werden,45 „zugänglich und entzifferbar nur für andere Frauen.“46 Die feministische Standardlesart wirkte demnach in den Anfangsjahren der Bewegung identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend.47 Für eine gender-basierte Theorie des Lesens, die mit zweierlei Maß Texte von Autoren widerständig, solche von Autorinnen jedoch emphatisch liest, wurde Gilmans Geschichte darüber hinaus auch von Judith Fetterley fruchtbar gemacht.48 Seit Mitte der 80er Jahre wiederum wird jene frühe feministische Revision über Jahrzehnte vergessener Texte wie „The Yellow Wallpaper“ einer erneuten Re-Vision aus den eigenen Reihen unterzogen, d.h. die literarische Kritik kritisiert und korrigiert sich auf einer Metaebene selbst – zu nennen wären hier etwa die Interventionen von Paula Treichler,49 Janice Haney-Peritz,50 Mary Jacobus,51 Richard Feldstein,52 Jeannette King und Pam Morris53 oder die Susan Lan-
44 Ebd., S. 90. 45 Zur terminologischen Einführung und Definition des Palimpsests als spezifisch weiblicher Schreibweise vgl. ebd., S. 73. 46 Kolodny 1996, S. 259. 47 So der Grundtenor von Jean E. Kennard: „Convention Coverage or How to Read Your Own Life“, in: New Literary History, Jg. 13 (1981), S. 69-88; bes. S. 86. 48 In ihrem Aufsatz Judith Fetterley: „Reading about Reading: ‚A Jury of Her Peers,‘ ‚The Murders in the Rue Morgue,‘ and ‚The Yellow Wallpaper‘“, in: Elizabeth A. Flynn/Patrocinio P. Schweickart (Hrsg.): Gender and Reading. Essays on Readers, Texts, and Contexts, Baltimore/London 1986, S. 147-164. 49 Paula A. Treichler: „Escaping the Sentence. Diagnosis and Discourse in ‚The Yellow Wallpaper‘“, in: Tulsa Studies in Women’s Literature, Jg. 3 (1984), S. 62-78. Mit ihrem Wortspiel um das engl. sentence hat Treichler unter den InterpretInnen der GT als Erste auf das performative, d.h. realitätsgenerierende Potential des Diskurses hingewiesen. Vgl. ebd., S. 71. 50 Janice Haney-Peritz: „Monumental feminism and literature’s ancestral house: Another look at ‚The Yellow Wallpaper‘“, in: Women’s Studies, Jg. 12 (1986), S. 113-128. 51 Mary Jacobus: „An Unnecessary Maze of Sign-Reading“, in: dies: Reading Woman. Essays in Feminist Criticism, London 1986, S. 229-248. 52 Richard Feldstein: „Reader, Text, and Ambiguous Referentiality in ‚The Yellow Wall-Paper‘“, in: ders. (Hrsg.): Feminism and Psychoanalysis. Ithaca/London 1989, S. 269-279. Der Autor befragt das Spiel der Signifikanten in Gilmans Originalmanuskript, das changierende Schreibweisen für „the word(s) wall(-)paper“ in sich vereint. Ebd., S. 270 (kursiv im Original).
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sers. Jene InterpretInnen werfen ihren Vorgängerinnen aus den unterschiedlichsten Gründen Formkonservatismus vor, da ihre Aufmerksamkeit zu einseitig nur der offenkundigen Viktimisierung der Frau auf der Inhaltsebene des Textes gegolten habe. Allzu wortwörtliches Lesen ließ sie in die gleiche Falle tappen wie die Protagonistin der Geschichte selbst – kann doch die Identifikation mit einem spiegelbildlichen Gegenüber immer nur phantasmagorischer Natur sein und bleibt angewiesen auf symbolisch vermittelte Figurationen bzw. Diskurs-Gestalten: ‚The Yellow Wallpaper‘ […] offers only the illusion of feminine discourse. What confronts us in the text is not the female body, but a figure for it. […] Attempts to read it therefore involve the (re54 pressive) substitution of something – a figure – for nothing.
Wie dem auch sei: Die anhaltende und produktive Interpretationsgeschichte rechtfertigt es, „Charlotte Perkins Gilmans The Yellow Wallpaper als Paradigma feministischer Literaturtheorie“ zu lesen,55 an dem verschiedene Generationen von LiteraturwissenschaftlerInnen sich mit ungebrochener Faszination stets aufs Neue abarbeiteten. In „The Yellow Wallpaper“ finden sich die sexual politics, die in der herkömmlichen gothic novel implizit am Werke sind, expliziert und am Leib einer hysterischen Frauenfigur dezidiert ausgetragen. Für ihre Selbstinszenierung wählt die Ich-Erzählerin ein morbides und somit klassisch ‚gotisches‘ Ambiente – einen abgeschiedenen Herrensitz auf dem Lande, mit einem Spukhaus, in dem merkwürdige Begebenheiten sich zutragen. Die Gattungskonventionen der romantischen Schauergeschichte Poe’scher Prägung sehen – zumindest auf den ersten Blick – eine rigide Geschlechterkonstellation aus männlichem Täter und weiblichem Opfer vor.56 Die Protagonistin von „The Yellow Wallpaper“ indes nimmt diese Rolle auf sich, setzt sich der Situation aus, erzählt jedoch zugleich darüber. In dem gefährlichen Spiel auf Leben und Tod pokert sie mit sich selbst als Einsatz. Dass wir den Text als luzides Dokument ihrer Kran53 Jeannette King/Pam Morris: „On Not Reading Between the Lines: Models of Reading in ‚The Yellow Wallpaper‘“, in: Studies in Short Fiction, Jg. 26 (1989), Nr. 1, S. 23-32. 54 Jacobus 1986, S. 244 u. 246. 55 So geschehen im Rahmen eines gleich lautenden Vortrags von Gabriele Rippl (Konstanz), der am 24. Januar 2001 an der Universität Siegen gehalten wurde. 56 Eine dekonstruktive Lesart dieser zunächst scheinbar eindeutigen Konfiguration nimmt Nanette Rißler-Pipka vor. Vgl. hierzu das Poe-Kapitel in ihrer Dissertation Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion, München [2005].
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kengeschichte in Händen halten, zeugt von ihrem Überleben, obwohl der Bericht medias in res plötzlich abbricht. Die Erzählerin scheitert letztlich an einem traditionellen Autorschaftsmodell – und in gewisser Weise an Johns Lektüremodus –, indem sie versucht, aus den verschlungenen Ornamenten der Tapete einen einsinnigen, kohärenten Textfaden zu rekonstruieren, führt dieses gleichsam notwendige Scheitern jedoch im Text selbst vor. Hierin unterscheidet sie sich von ihren frühen feministischen Interpretinnen, die jene komplexitätsreduzierende Lesweise des pars pro toto zwar nachvollzogen, d.h. ebenfalls versuchten, eine einzige ‚große Erzählung‘ vom Wahn-Sinn aus dem Text zu extrapolieren, diese allerdings in die Erfolgsgeschichte einer geglückten Subjektwerdung umdeuteten57 und bei jener Umwertung der Werte ins Positive stehen blieben. Die Geschichte nahm damit ihre eigene Interpretationsgeschichte gleichsam vorweg, und die feministischen Lektüren bestätigten sich in immer neuen Anläufen endlos selbst.58 Als mise en abyme des Textes „The Yellow Wallpaper“ bleibt der dem Tapetenmuster eingeschriebene Text im Text im Grunde unlesbar,59 lässt vertraute und einlinige, jedoch kontextblinde Interpretationsansätze beinahe zwangsläufig fehlgehen – man möchte hierin Susan Lanser Recht geben, wenn sie schreibt: „no such reading is either possible or desirable and […] one important message of ‚The Yellow Wallpaper‘ is precisely that.“60 Ein authentisches weibliches Selbst, das hinter seinen patriarchalen Überformungen und Deformierungen lediglich freizulegen wäre, kann nicht aufgefunden und dingfest gemacht werden. Text und Kontext, Vordergrund und Hintergrund der Tapete sind unentwirrbar verflochten wie Fäden aus den unterschiedlichsten „Stätten der Kultur“.61 Wenn der Text eine Botschaft hat, so ist es die der Unmöglichkeit einer präzise greifbaren Aussage. 57 So noch Gabriele Michel: „Charlotte Perkins Gilman: Die gelbe Tapete. Schreiben als eigenwilliger Prozeß – Wahn als Vision“, in: Helga Grubitzsch u.a. (Hrsg): Frauen – Literatur – Revolution, Pfaffenweiler 1992, S. 271-281, bes. S. 275. 58 Vgl. Lanser 1989, S. 420. 59 Vgl. Jacobus 1986, S. 245. 60 Lanser 1989, S. 424. 61 Roland Barthes: „Der Tod des Autors“ [1968], in: Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-193; hier S. 190. Mit Fragen nach den Beziehungen zwischen Text und Kontext, (literarischem) ‚Vorder-‘ und (historischem) ‚Hintergrund‘ befasst sich die usamerikanische Strömung des New Historicism; Näheres hierzu vgl. Vf.in: „Gender Studies und New Historicism – (k)eine produktive Allianz? Gedanken zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften“, in: Walburga Hülk (Hrsg. unter Mitwirkung von Dietmar Frenz und Tanja Schwan): Spektrum. Siegener Perspektiven einer romanischen Literatur-,
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Nach der Geburt ihrer Tochter Katharine im Jahre 1885 erlitt Charlotte Perkins Gilman einen Nervenzusammenbruch, durchaus vergleichbar dem, der innerhalb des fiktionalen Rahmens von „The Yellow Wallpaper“ ihre Protagonistin ereilt. Sie begab sich in Behandlung bei dem anerkannten Spezialisten für Neurasthenie als spezifischer Form einer American Nervousness, Dr. Silas Weir Mitchell, der ihr weitestgehende Untätigkeit verordnete und jegliche geistige Anstrengung untersagte. Wie unschwer zu erkennen ist, trägt die Figur John Züge des Mediziners, der in der Erzählung auch namentlich erwähnt wird (vgl. GT, 42); insbesondere teilen beide einen kalkulierten Paternalismus, der sich duldsam gibt gegenüber den Kaprizen der Patientin/Ehefrau – sinnigerweise schloss Mitchell seine Abhandlung Doctor and Patient (1887) „mit der Bemerkung […], Ärzte, die all die kleinen Schwächen der Frauen kennen und verstehen, sie lenken und ihnen vergeben könnten, würden die besten Ehemänner abgeben.“62 Nach dem Zeugnis von Gilmans Autobiografie entließ der Nervenarzt die literarisch ambitionierte junge Mutter schließlich mit folgenden Empfehlungen: „‚Live as domestic a life as possible. Have your child with you all the time. […] Have but two hours’ intellectual life a day. And never touch pen, brush or pencil as long as you live.‘“63 Sie entschied sich dagegen: „Charlotte Perkins Gilman […] lived to tell the tale“.64 Anders als ihrer Protagonistin gelang es ihr, die Mitchell’sche rest cure in eine writing cure, ein therapeutisches Schreiben zu transformieren und ihrem eigenen Ehemann zu trotzen, der sich despektierlich über die so entstandene Geschichte geäußert haben soll. In einem Brief an ihre Freundin Martha Lane jedenfalls berichtet sie: „Walter [Stetson, Maler und erster Ehemann Gilmans] […] thinks it [‚The Yellow Wallpaper‘] the most ghastly tale he ever read. […] But that’s only a husband’s opinion.“65 Sie sollte Recht behalten, denn tatsächlich bildete „Die gelbe Tapete“ für Gilman das Sprungbrett zum Erfolg als
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Kultur- und Medienwissenschaft, Siegen 2003, S. 207-221. Ein (feministisch relativiertes) ‚neohistoristisches‘ Lektüreangebot der GT bietet Dimock 1991. Smith-Rosenberg 1981, S. 293. „From The Living of Charlotte Perkins Gilman“ (1935), in: Charlotte Perkins Gilman: The Yellow Wallpaper. Dale M. Bauer (Hrsg.), Boston/New York 1998, S. 334-344; hier S. 342. Jacobus 1986, S. 203. Zit. n. Greg Johnson: „Gilman’s Gothic Allegory: Rage and Redemption in ‚The Yellow Wallpaper‘“, in: Studies in Short Fiction, Jg. 26 (1989), Nr. 4, S. 521-530; hier S. 528.
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Literatin.66 Dennoch handelt die Erzählung nicht nur vom Aufbruch einer Frau und ihrem Durchbruch als Autorin, sondern sie ‚weiß‘ (und verrät) in ihrer textuellen Überdeterminiertheit mehr und anderes als ihre Urheberin selbst beabsichtigt haben mochte.67 Obwohl Gilman stets behauptete, ihre Geschichte verfolge dezidiert aufklärerische Absichten, sie sei „definitely written ‚with a purpose‘“,68 entgeht Einiges in ihr dieser erklärten Intentionalität, entzieht sich wohlfeilen Zuordnungen. Wo Schließung intendiert war, bleibt ein unauflösliches Paradox widerstreitender Bedeutungen.
II. Frauen-Bilder Über den Hysterie-Diskurs führt eine Brücke zum Surrealismus.69 Ähnlich wie Edgar Allen Poe in seinem Essay „The Philosophy of Composition“ (1846) den Tod einer schönen Frau als das „poetischste Thema der Welt“ empfahl,70 huldigten die Surrealisten Breton und Aragon 1928 in La Révolution Surréaliste der Hysterie anlässlich ihres „50. Jubiläums“ als der „größten poetischen Erfindung am Ende des 19. Jahrhunderts“ (vgl. Abb. 2a u. b).71
66 „Gilman’s classic feminist tale can be read as a springboard for her subsequent career as a cultural critic.“ Dale Bauer: „About This Volume“, in: Gilman 1998, S. viii-xi; hier S. ix. 67 Vgl. Jacobus 1986, S. 233. 68 Charlotte Perkins Gilman: „On the Reception of ‚The Yellow Wallpaper‘“ (1935), in: dies. 1998, S. 349-351; hier S. 351. Der Hauptzweck erschien ihr erfüllt, nachdem Mitchell – angeblich im Anschluss an die Lektüre – seine Behandlungsmethoden revidiert hatte: „If that is a fact, I have not lived in vain.“ Vgl. auch die Apologie „Warum ich ‚Die gelbe Tapete‘ geschrieben habe“ (1913), in: Gilman 1985, S. 56f. 69 Zu dieser Verbindung siehe auch Isabel Maurer Queipo: „A la recherche d’images susceptibles de nous extasier – das Universum der Extase des Salvador Dalí“, in: dies./Nanette Rißler-Pipka/Volker Roloff (Hrsg.): Die grausamen Spiele des Minotaure. Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift, Bielefeld [2005]. 70 Zit. n. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik [1992], München 1994, S. 89. 71 Louis Aragon/André Breton: „Le Cinquantenaire de l’hystérie (18781928)“, in: La Révolution Surréaliste, Jg. 4 (1928), Nr. 11, S. 20. Zit. n. Peter Gorsen: „Die stigmatisierte Schönheit aus der Salpêtrière. Kunst und Hysterie im Surrealismus und danach“, in: Eiblmayr u.a. 2000, S. 43-60; hier S. 45.
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Abbildungen 2a u. b: „Le Cinquantenaire de l’hystérie“ (1878-1928), Les attitudes passionnelles en 1878, aus: La Révolution Surréaliste, 15.3.1928
Ich möchte an dieser Stelle einen Medienwechsel vollziehen von der Literatur zur Malerei, vom Text zum Bild, und mich in der nun folgenden Passage mit Dorothea Tannings Jeux d’enfants (Abb. 3) befassen. Bereits der Titel des Gemäldes – Kinderspiele – kündigt auch hier ein Verwurzeltsein des Gegenstandes in einer kindlichen Umgebung an und evoziert überdies die surrealistische Vorliebe für die femme-enfant, die Kind-Frau. Exakt fünfzig Jahre nach „The Yellow Wallpaper“ treffen wir hier erneut auf eine unheimliche und, wenn man so will, ‚hysterische‘ Szene: Kleine Lolitas oder Püppchen „in Victorian dress“72 – mit Rüschen, aufreizendem Rückendekolleté bis zum Po und schwarzen Lackstiefelchen –, deren wild wuchernde, gleichsam elektrisierte Haarmähnen Feuer gefangen zu haben scheinen, reißen in einer kollektiven Anstrengung gewaltsam die Textur einer Wand nieder und sprengen so scheinbar die Grenzen des Bildraums.
72 Mary Ann Caws: „Person: Tanning’s Self-Portraiture“, in: dies.: The Surrealist Look. An Erotics of Encounter, Cambridge, Mass./London 1997, S. 61-93; hier S. 64.
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Abbildung 3: Dorothea Tanning: Jeux d’enfants (1942), Öl auf Leinwand, 32 x 14 cm, Collection Grimberg, Dallas
Der Einschluss der Mädchen in einem engen Korridor, ihr verzweifelter Ausbruchsversuch, dem eine der drei bereits zum Opfer gefallen zu sein scheint, erinnert an das lebendige Begrabensein als spezifischen Existenzmodus der Protagonistinnen von gothic novels.73 Wie die ‚spielenden‘ Kinder in Tannings Bild sowohl (zwei) Täterinnen als auch (ein) Opfer sind, so können diese entweder den Part der guten Viktorianerin,
73 Dawn Ades zufolge soll Tanning in ihrer Jugend eine eifrige Leserin solcher Schauermärchen gewesen sein. Vgl. dies.: „Surrealism and the Representation of the Female Subject in Mexico and Postwar Paris“, in: Whitney Chadwick (Hrsg.): Mirror Images. Women, Surrealism, and Self-Representation, Cambridge, Mass./London 1998, S. 106-127; hier S. 116.
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des angel in the house übernehmen oder in die Rolle des perversen Monsters bzw. Dämons schlüpfen (als exemparisch für diese beiden antagonistischen, gleichwohl aber komplementären Positionen können die Titelheldin in Charlotte Brontës Jane Eyre und ihre ‚dunkle‘ Doppelgängerin Bertha Mason gelten). Und wie schon anhand Gilmans „Yellow Wallpaper“, lässt sich auch bei Dorothea Tanning eine Verdoppelung der Perspektive beobachten: Richtete sich bei Poe ebenso wie bei den männlichen surrealistischen Künstlern der Blick von außen auf den weiblichen Körper, an dessen Objekt grundlegende Mechanismen der Symbol-Bildung ausgetragen und verhandelt werden, so sind hier weibliche Figuren als Handelnde und Behandelte zugleich in den Vorgang der Symbolisierung involviert. Auf diese Weise umgangen wird ein Verdikt, das die gängige Sehordnung nachhaltig bestimmt, denn nur wer nicht selbst Objekt des Blickes ist, kann und darf sich zum Subjekt des Schauens, Betrachtens und Träumens machen. Diese geschlechtertypologisch ‚saubere‘ Trennung in Subjekte und Objekte, Sehen und Gesehenwerden wird eben durch den Pol 74 männlicher Heterosexualität bestimmt.
Um die künstlerische Repräsentation im Medium der Kunst adäquat darzustellen, bediente sich René Magritte der Chiffre eines weiblichen Torso, den er in einen die fragmentierten Körperkonturen umspielenden Rahmen spannte und La représentation betitelte (Abb. 4). Abbildung 4: René Magritte: La représentation (1937), Öl auf Leinwand auf Karton, 48,5 x 44 cm, Scottish Gallery of Modern Art, Edinburgh
An dieser Symptom- oder Krisenfigur ließ sich der illusionistische Charakter der bildenden Künste und speziell des Tafelbildes ablesen: Kunst stellte sich hier als Kunst aus und machte ansonsten verdeckte Verfahren 74 Wagner 2000, S. 177.
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ihrer Herstellung offenkundig in Form einer Ent-Täuschung des Auges. Erstmals „steht bei Magritte die Kategorie des Bildes zur Disposition. Mit illusionistischen Mitteln unterläuft Magritte den Illusionismus des Bildes“.75 Er befindet sich damit am äußersten Endpunkt einer Entwicklung hin zu einem immer präziseren In-Augenschein-Nehmen, DurchSchauen und Vermessen des weiblichen Körpers im Interesse wirklichkeitsgetreuen Ab-Bildens, deren Auftakt Albrecht Dürers Zeichner des ligenden Weibes (Abb. 5) bilden mag – einer Entwicklung, die Körperbild und Bildkörper zu austauschbaren Parametern werden ließ.76 Abbildung 5: Albrecht Dürer: Der Zeichner des ligenden Weibes (1538), Holzschnitt, aus: Unterweysung der Messung/mit dem Zirckel und richtscheyt…
Die materiellen und ästhetischen Dimensionen des Bildes, das gleichzusetzen ist mit dem Weiblichen in seinem Status als Bild, sehen sich – durchaus im Anschluss an Magritte – im Gemälde Tannings dadurch herausgefordert, dass zwei Mädchen innerhalb eines Bildes den Bild-Körper als solchen attackieren. Der Bildraum wird somit zum Schau-Platz umkämpfter Bedeutungen. Auf dem (Kinder-)‚Spiel‘ steht dabei nichts weniger als die herrschende Geschlechterordnung, in der das Bild des 75 Eiblmayr 1993, S. 113. 76 Zu den Schlitzungen und Perforierungen der Leinwand, die Lucio Fontana rund ein Vierteljahrhundert nach Magritte vornehmen sollte, vgl. (nebst den entsprechenden Abbildungen im dortigen Anhang) ebd., S. 100f. Fontanas ikonoklastischer Akt des Schnitts in den Bildträger – etwa in Durchbruch (1962) oder im Concetto spaziale von 1968 – ließ in dessen Mitte ein nach den Rändern hin ausfransendes Loch klaffen, das auf eine Sexualisierung des solcherart penetrierten Raumes schließen lässt. Schon die panoptisch organisierte Zentralperspektive jedoch kann mit Linda Hentschel als „Deflorationstechnik“ bzw. „Raumpenetrierungsmaschinerie“ gelesen werden – so deren These in Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg 2001; hier S. 9 u. 13.
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Weiblichen, auf Leinwand gebannt, als Nahtstelle oder suture zu dienen hatte: schloss diese doch gemeinhin „den symbolischen Riß, der quer durch jedes scheinbar vollkommene Repräsentationssystem geht“77 und ermöglichte so das Phantasma eines ganzheitlichen Körpers. Schien die symbolische Lücke in der traditionellen mimetischen Kunst solcherart zugedeckt und der zu überbrückende Mangel fiktiv behoben, haben die Surrealisten „gerade diese ‚suture‘ einer permanenten Zerreißprobe ausgesetzt“78 und sie als Leerstelle bzw. Unterbrechung jenes vermeintlich kohärenten Körperbildes sichtbar gemacht: Der „Riß im Zentrum“ des metaphorischen Room of One’s Own79 im Ich wird nicht länger gnädig abgeschirmt und verdunkelt, sondern ans grelle Licht gezerrt. Es verblüfft daher wenig, dass hinter den teils verkohlten Fetzen herabhängender (Lein-)Wand in Tannings Gemälde ein Bildausschnitt zum Vorschein gelangt, der Magrittes weiblichem Schoß täuschend ähnelt. Die Bruchkanten zwischen den abgelösten Tapetenbahnen und den darunter freigelegten anthropomorphen Umrissen jedoch sind hier deutlich exponiert, und es entfällt jegliche Rahmung, wie sie sich bei Magritte harmonisch abgerundet den entsprechenden Körperpartien anschmiegte. Das kleine Mädchen vorne rechts im Bild scheint in der Eigendynamik, die das grausame Spiel entfaltet, gar an den Haaren von der Wand aufgesogen und in sie hineingezogen zu werden. Einer ähnlichen Metapher bedient sich das Bild Relâche (Heute keine Vorstellung) von Toyen (Abb. 6), das nur ein Jahr nach dem Tannings (1943) entstand und ebenfalls einen im Verschwinden begriffenen weiblichen Körper, hier kopfüber an einer Art Ballettstange hängend, inszeniert – blicklos vor bzw. mit den Füßen zuerst schon teils in einer Wand.
77 Eiblmayr 1993, S. 40. 78 Ebd., S. 92. 79 Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein [1928], Frankfurt a.M. 1981, S. 84.
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Abbildung 6: Toyen: Relâche (Heute keine Vorstellung) (1943), Öl auf Leinwand, 110 x 53 cm, Galerie Alsová, Südböhmen/Tschechien
Tanning und andere, so ließe sich schlussfolgern, setzen mit dieser Darstellung einer Sogwirkung der (Lein-)Wand geradezu virtuos den Prozess der Bild-Werdung des Weiblichen ins Bild. Dieses kann im vorgeführten ‚Puppenspiel‘ allerdings kaum mehr als heimlicher Garant einer präetablierten Ordnung fungieren, sondern ent-puppt sich als Risikofaktor ersten Ranges für eine prekär gewordene Repräsentation der Geschlechter. Das Jahr 1942 als Entstehungszeitraum der Kinderspiele setzt diese in enge Beziehung zum Selbstbildnis Tannings unter dem – von ihrem Geliebten Max Ernst inspirierten – Titel80 Birthday (ebenfalls 1942),81 auf dem sie sich an ihrem Wirkungsort, dem New Yorker Atelier, vor 80 Die ‚Geburt‘ dieses Titels aus der spontanen Benennung des noch unfertigen Gemäldes durch Max Ernst zeichnet Dorothea Tanning in ihrer Autobiografie nach, der sie signifikanterweise den gleichen Titel gegeben hat: Birthday. Lebenserinnerungen von Dorothea Tanning [1986], Köln 42000, vgl. S. 17. 81 Vgl. Abbildung IX, in: Die unheimliche Frau. Weiblichkeit im Surrealismus (Ausstellungskatalog der Kunsthalle Bielefeld). Angelika Lampe (Hrsg.), Heidelberg 2001, S. 41.
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einer ins Ungewisse sich öffnenden Türenflucht porträtiert hat. Birthday bezieht sich somit auf den „Geburtstag ihrer selbst als Künstlerin“82 – eine ‚zweite Geburt‘, die die erste, natürliche, ablösen sollte: „I think everything we do is autobiographical. So one of my reasons for painting was really to escape my biography.“83 Liest man das Selbstporträt zusammen mit Jeux d’enfants, so markiert das Gemälde zugleich jedoch das Geburtsdatum einer Ambiguität – Ambiguität der als Malerin erhofften Kreativität, die sich im hochgradig selbstreflexiven Bildraum der Kinderspiele als Schöpfungs-Gewalt manifestiert und sich – auf der Folie oder Einschreibematrix der (Lein-)Wand – gegen den weiblichen Körper selbst richtet. In diesem Zusammenhang verdient ein bisher vernachlässigtes Detail des Gemäldes Beachtung: Ganz am Ende des lang gestreckten Flurs nämlich, in der hintersten Ecke der Wand, findet sich auch in Jeux d’enfants ein heller Türausschnitt, der nach draußen, ins Freie weist. Damit scheint ein Ausweg angedeutet, den die eingeschlossenen Mädchen offenbar jedoch ignorieren. Was diese ‚Lichtung‘ konkret zu sehen gibt, vermag der Betrachter des Bildes nahezu nicht zu erkennen. Mary Ann Caws spricht von einer Frau, die eine Landschaft gebiert,84 was auf einen ‚anderen‘ weiblichen Lebensentwurf hindeuten könnte: ein befreites, mit sich selbst identisches Subjekt Frau, wie es der frühe Feminismus zu rekuperieren hoffte. Offensichtlich ist das Zurück hinter die symbolische Ordnung allerdings kein gangbarer Weg, den auch nur eines der Mädchen einschlagen könnte: stellt er doch keine wählbare Subjektposition dar, da eine solche sich nicht außerhalb der (Bild-)Sprache ansiedeln kann – vielmehr würde er zurückführen in althergebrachte Mythisierungen des Weiblichen, die es zu dekonstruieren gilt. *** Einschlägige Selbstinszenierungen von Künstlerinnen gegen Ende des 20. Jahrhunderts weisen denjenigen der Avantgardistinnen z.T. vergleichbare Verortungen gegenüber den gewohnten Repräsentationsstrukturen auf. Im genannten Sinne exemparisch wäre etwa die 16-teilige Fotoserie Tela habitada (Bewohnte Leinwand) der Portugiesin Helena Almeida (Abb. 7).85
82 Christiane Heuwinkel, in: ebd., S. 130. 83 Dorothea Tanning im Interview mit Alain Jouffroy, in: Dorothea Tanning (Ausstellungskatalog der Malmö Konsthall), Malmö 1993, S. 49. Zit. n. Ades 1998, S. 116 (kursiv im Original). 84 Vgl. Caws 1997, S. 84. 85 Vgl. hierzu Eiblmayr 1993, S. 149f.
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Abbildung 7: Helena Almeida: Tela habitada (Bewohnte Leinwand) (1976), Fotoarbeit (s/w), 16 Teile, Gesamtgröße 160 x 120 cm, Fondaçao Gulbenkian, Lissabon
In den hier versammelten Fotografien wird das ältere Medium der Malerei reflektiert, gleichsam recycled: Ein mit dünnem Stoff bespannter Rahmen erweckt den Eindruck einer transparenten Leinwand, die im ersten und letzten Bild sozusagen ‚jungfräulich‘ ihrer Bemalung harrt. Dazwischen erscheint das verschwommene Bild der Künstlerin hinter der ‚Leinwand‘, die es wie ein Fenster rahmt. Die Serialität der Bilder erinnert – neben den überdeutlichen Reminiszenzen an Charcots Iconographie photographique de la Salpêtrière – an eine Filmsequenz, in deren Verlauf die durch den Vorhang verhüllte weibliche Figur diesen mit Kopf und Händen zu durchzustoßen sucht. Das drittletzte Foto hält denn auch den jetzt leeren und durchlöcherten, infolge des Abdrucks von Gesicht und Händen porös gewordenen Schleier fest; auf dem vorletzten sieht man die Gestalt scheinbar aus ihrer Umhüllung hervortreten, bevor sie zuletzt wieder ganz verschwunden ist, als wäre da nie eine Frau gewesen – und die soeben beobachtete Szene folglich ein Trugschluss. Beinahe wie eine Illustration zum hysterischen ‚Frauenzimmer‘ in „The Yellow Wallpaper“ liest sich Francesca Woodmans Arbeit House #3 (Abb. 8),86 die einmal mehr weibliches Körper-Gehäuse und Tapete 86 Vgl. hierzu – mit weiteren anschaulichen Fotos wie Self-Deceit #1 (1978), das die Künstlerin nackt auf dem Boden vor einem an die Wand gelehnten zerschlagenen Spiegel entlang kriechend und ein Versteckspiel mit dem eigenen Spiegelbild treibend zeigt – Helaine Posner: „Negotiating Boun-
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überblendet. Die zweidimensionale Bildfläche erfährt hier scheinbar eine Verräumlichung durch die Ummantelung der nurmehr schemenhaft wahrnehmbaren Silhouette einer Frau mit der Wand-Verkleidung, in die sie, in geduckter Haltung vor dem Fenster kauernd, zurückweicht, während man rings um sie herum Zerstörung am Werk sieht. Abbildung 8: Francesca Woodman: House #3 (Providence, 1975/76), Fotografie (s/w), 10 x 8 inch, Collection of Betty and George Woodman, New York
Das (zuerst bei Dorothea Tanning beobachtete) Motiv der gespaltenen Wand schließlich, die Feuer fängt und nach und nach in Flammen aufgeht, während sie eine weibliche Figur in sich aufnimmt, findet sich wieder in Werner Schroeters Verfilmung (D/A 1991)87 von Ingeborg Bachmanns Malina (Abb. 9a u. b). Die Frau (verkörpert von Isabelle Huppert) versucht in diesem Fall, den sich auftuenden Riss notdürftig mit Klebeband zu kitten – allerdings vergeblich.
daries in the Art of Yayoi Kusama, Ana Mendieta, and Francesca Woodman“, in: Chadwick 1998; S. 156-171; Abb. siehe S. 168. 87 Siehe auch die Drehbuchvorlage Isabelle Huppert in Malina. Ein Filmbuch von Elfriede Jelinek. Nach dem Roman von Ingeborg Bachmann, Frankfurt a.M. 1991.
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Abbildungen 9a u. b: Screenshots aus Werner Schroeter: MALINA (1991)
Es ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen Parallelen einzugehen, die Bachmanns hoch komplexe Romanvorlage aus dem Jahre 1971 – ebenso übrigens das als Teil des unvollendeten Todesarten-Projekts konzipierte Franza-Fragment – zweifelsohne auch zu „The Yellow Wallpaper“ unterhält.88 Lohnend könnte darüber hinaus ein Vergleich des Textes von 88 Zu Bachmann, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der Feuerthematik, vgl. demnächst ausführlich Vf.in: „‚… die allertraurigste Geschichte‘. Ingeborg Bachmanns Prosazyklus Todesarten im Zerrspiegel von Ga-
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Gilman mit Marlen Haushofers Romanen Die Tapetentür (1957) und/oder Die Wand (1963) ausfallen. Mit jenen kursorischen Hinweisen seien an dieser Stelle abschließend lediglich Perspektiven aufgezeigt, die den hier angedachten Parcours durch die Kunst- und Literaturgeschichte vom späten 19. zum ausgehenden 20. Jahrhundert weiter zu erhellen imstande wären.
Fazit Der Hysterikerin bietet „die öffentliche Selbst-Zurschaustellung ihre einzige Möglichkeit […], ihr wahres Selbst zu artikulieren, auch wenn ihr völlig klar ist, daß es sich dabei um eine Inszenierung handelt.“89 Die maladie par représentation (Pierre Janet, 1894), wie die Hysterie auch genannt wird, übersetzt Unaussprechliches in körperliche Reaktionen, in ein pantomimisches Spektakel der Weiblichkeit, das an die Stelle des Nicht-Ausgesprochenen tritt. Literarisch oder künstlerisch tätige Frauen, die dies in ihren Werken reflektieren und inszenieren, treiben ihr „AufBegehren“90 gegen gängige Repräsentationsmechanismen an die Grenzen des Darstellbaren – und noch über sie hinaus: Weder Tapete noch Leinwand bleiben als Orte der Einschreibung bzw. Medien der Darstellung des weiblichen Körpers intakt und unversehrt. Spätestens seit der vorletzten Jahrhundertwende bröckeln sie vielmehr ab und werden durchlässig: Mit den glatten Oberflächen schwinden auch die glatt erfüllten Repräsentationsfunktionen des Weiblichen.
briele d’Annunzios Roman Il fuoco“, in: Marijana Erstiü/Gregor Schuhen/dies.: Spektrum reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, Bonn [2005]. 89 Bronfen 1998, S. 136. 90 Schuller 1982, S. 183.
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MATHEMATISCHE PEEPSHOW UND MEDIALES PANOPTICON – DAS ‚WELTWISSEN‘ IM MÖBEL- UND MEDIENDESIGN VON CHARLES UND RAY EAMES Das Design von Charles und Ray Eames gilt gerade heute wieder als Inbegriff von ‚guter Form‘, d.h. als ästhetisch gelungene wie funktional angemessene Gestaltung. Tatsächlich hatte das amerikanische Designerpaar seit den 40er Jahren das Bild vom modernen Gestalter maßgeblich geprägt: Sie entwickelten nicht nur neue Produktions- und Herstellungsmethoden für Möbel, sondern entwarfen auch eine neue Arbeitsphilosophie, die den Designer als Gestalter von Kommunikationen aller Art definiert. Er ‚stylt‘ nicht nur die Oberfläche der Gegenstände, sondern greift durch seine Konzeptionen tief in unseren Alltag und unsere Weltsicht ein. Zu internationalem Ruhm gelangten die Eames in der Nachkriegszeit mit dem Durchbruch der organischen Ästhetik, die sie maßgeblich mitgestalteten (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Stühle aus der Eames Collection, Aufnahme von 19531
1 Vgl. Neuhart, John/Neuhart, Marilyn/Eames, Ray (Hrsg.): Eames Design. The work of the Office Charles and Ray Eames, New York/Berlin 1989, S. 179.
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Weniger bekannt ist hingegen, dass sie auch ein umfangreiches Werk an Dokumentar-, Lehr-, und Experimental-Filmen hinterlassen haben.2 Im Rahmen der pädagogischen Lehrfilme, die als klar definierte Auftragsarbeiten entstanden, erarbeiteten sie nicht nur die visuelle Gestaltung, sondern formulierten auch die jeweiligen Inhalte. Ganz gleich, ob es dabei um Wissensvermittlung in einem festgelegten Rahmen ging, oder ob die Poesie der Alltagsästhetik in eher künstlerisch angelegten Arbeiten im Zentrum stand, das Werk der Eames erweist sich als von einem charakteristischen Medieneinsatz geprägt. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, gehen die Produkte ihrer Gestaltung – Filme, Ausstellungen wie Möbel – durch ihre spezifische Medialität auf eine Naturphilosophie mit quasireligiösen Zügen zurück, die wiederum stark geprägt ist von der Frage nach der amerikanischen Identität. Die Unverkennbarkeit der eamesschen Handschrift geht somit weit über das Phänomen des visuellen Stils hinaus. Sie schaffen in ihrer Art, die Dinge abzubilden, ein Wissen über die Welt, das, selbst wenn es ausschließlich durch Design, Fotografie und Film vermittelt wird, eine fast schon kosmologische Meta-Erzählung bildet: Ihre Strategie besteht vor allem darin, im scheinbar unbedeutenden Abschildern des Alltags eine allumfassende Vision entstehen zu lassen, die von Natur und Kultur, von Herkunft und Zukunft erzählt. Neben ihrem Schwerpunkt im Möbeldesign, das die Eames vor allem in Kooperation mit dem Fabrikanten Hermann Miller produzierten, standen auf Seiten der narrativen Film- und Ausstellungsproduktion zwei Themenschwerpunkte im Zentrum ihrer Arbeit: die Geschichte des Wissens und die Mythen der Nation. Ihre Hauptkunden waren dabei der Computerhersteller IBM und die amerikanische Regierung, für erstere produzierten sie vor allem Lehrfilme und Ausstellungen über die Geschichte der Naturwissenschaften und die Prinzipien der Mathematik, so wie sie für den Staat Filme und Ausstellungen über die Geschichte Amerikas konzipierten und die Selbstdarstellung der USA nach außen gestalteten. Als das Land zum Beispiel 1959 im ersten Tauwetter des Kalten Krieges zu einer „National Exhibition“ nach Moskau eingeladen war, um sich dort im Stil der alten Weltausstellungen zu präsentierten, gestalteten die Eames eine Multivision mit Parallelprojektionen über sieben Leinwände. Die Dia-Show „Glimpses of the USA“ sollte einen Tag im Le-
2 Einen guten Überblick gibt dazu die mehrbändige Video-Collection THE FILMS OF CHARLES AND RAY EAMES, 4 Vol., Pyramid Home Video, Santa Monica, 1989 – 1993.
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ben der USA durch eine Vielzahl scheinbar willkürlich aneinander gereihter Einzelbilder sinnlich erlebbar machen (vgl. Abb. 2). Abbildung. 2: Multivision „Glimpses of the USA“, Moskau (1959)3
Über sein neuartiges mediales Konzept schwärmte Charles Eames, dass gerade die Nachdrücklichkeit dieser Simultanbilder die Geschichte Amerikas so glaubwürdig mache.4 Jack Masey, der damalige Leiter der Design-Abteilung der US-Information Agency erinnert sich wie folgt an die erste Aufführung in Moskau. Man sah: Aufnahmen aus den frühen Morgenstunden von den Milchflaschen vor den Haustüren Amerikas; Luftaufnahmen von Wüsten, Bergen, Ebenen; Autobahnkreuze voll gepackt mit Autos; Wolkenkratzern, nächtlich beleuchtet; und dann die Schlussszene: ein Strauß Vergissmeinnicht – überall auf der Welt ein Symbol der Freundschaft – als Einzelbild auf dem mittlere Schirm. [...] und allen standen die 5 Tränen in den Augen.
Wie können nun eigentlich Nationalparks, Autobahnen und Milchflaschen in so rührender Weise für die Geschichte einer Nation stehen? Das rein visuelle Bilderbuch stellt hier offenbar auch ohne Handlung, bzw. durch das gezielte Einfrieren des Alltags in einer Nicht-Erzählung, die Geschichte der Nation zusammen. In diesem spezifisch narrativen Blick der Eames versteckt sich ein diskursives ‚Weltwissen‘, das ich im Fol3 Vgl. Neuhart 1989, S. 238. 4 Vgl. dazu Albrecht, Donald: „Design ist etwas, was man tut“, in: Murphy, Diana (Hrsg.): Die Welt von Charles und Ray Eames, Berlin 1997, S. 18 – 43, hier S. 33. 5 Zitiert nach Murphy 1997, S. 181.
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genden zunächst auf seine Herkunft aus dem Universalismus der Aufklärung beschreiben und anschließend mit Blick auf die gender-spezifischen Folgen dieser Philosophie für die Zusammenarbeit von Charles und Ray Eames betrachten möchte. Angesichts der Formensprache der Eamsschen Möbelentwürfe, scheint man sich in der Designgeschichte einig, dass durch die organischen Formen, die sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs in der Alltagskultur durchsetzten, ein popig-leichtes bis kindlich-naives, aber stets ,friedliches‘ und demokratisches Design geschaffen wurde, das sich von der monumentalen Kälte des Art Deco oder der Streamline-Bewegung ebenso absetzte wie von der streng rationalistischen Rechtwinkligkeit der klassischen Moderne. Verbesserte Biegeverfahren für Sperrholz und neue Verarbeitungsformen für Kunststoff erlaubten nun auch die preisgünstige Serienproduktion von ausgefallenen Formen. Kostensenkung war von nun an mit Design vereinbar: Das ökonomische Diktat der Massenproduktion musste der Kreativität nicht mehr widersprechen und eröffnete dem Designer den Zugang zum massenhaften Absatz, sofern er die materiellen wie ästhetischen Bedürfnisse der entstehenden Konsumgesellschaft zu berücksichtigen wusste. Der Wunsch, die schwere, sperrige und ornamentreiche Einrichtung der Vorkriegszeit gegen ein funktionales, zukunftsweisendes und vor allem ,bedeutungsloses‘ Design einzutauschen, war für alle Industrienationen gleichermaßen prägend. Gerade das Eames-Design gilt in diesem Zusammenhang bis heute als liberal, a-politisch und ideologiefrei. An diesen Absichten sei hier auch nichts ausgesetzt, nur mag man an der Realisierbarkeit zweifeln. Abgesehen von dem grundsätzlichen Einwand, dass es überhaupt keine ‚bedeutungslose‘ Gestaltung geben kann, sondern jede noch so funktional bzw. neutral gefasste ästhetische Position immer auch eine mehr oder minder reflektierte Anschauung über die Verfasstheit und Bedürfnislage der jeweiligen Gesellschaft enthält, so zeigt sich gerade bei den Eames besonders deutlich, wie sie in ihren Entwürfen auf die ideologischen Fragen ihrer Zeit zu antworten suchten.
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Abbildung 3: Diashow Lecture I (1945)6
Betrachten wir die Hintergründe der Eamesschen Arbeitsphilosophie zunächst etwas näher: Charles und Ray hatten sich um 1940 an der Cranbrook Academy of Art (Michigan) kennengelernt. Der Geist dieser Schule, im Design stets auch eine Ethik zu sehen, hatte sie nachhaltig beeinflusst. So hält Donald Albrecht fest: „Die Grundlehre von Cranbrook, der Glaube an ein besseres Leben durch besseres Design, sollte die Eames zeitlebens prägen.“7 Tatsächlich betonte Charles in seinen Vorlesungen und Aufsätzen 6 Vgl. Neuhart 1989, S. 51. 7 Zitiert nach Albrecht in: Ebd., S. 14.
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beharrlich, dass im Design das Nützliche und das Gute zusammenfallen müssten, ganz gleich ob es sich um einen technisch komplexen Gegenstand oder um einen schlichten Eierbecher handelt. So bemerkte er zum Beispiel 1941: „Beim Flugzeug spürt man deutlich das Angemessene der Stromlinienform, hier sieht man, dass sie etwas Gesundes, Gutes ist.“8 Sein Designbegriff umfasste also die gesamte Welt des Gestaltbaren, vom Kinderspielzeug zum High-Tech-Produkt, von der Zirkusvorstellung zum wissenschaftlichen Modell. Als Charles 1945 am Institute of Technology in Pasadena seinen ersten Vortrag über Designphilosophie als eine kombinierte Text- und Dia-Show hielt, zeigte er ein scheinbar wirres Bilder-Sammelsurium aus einem Elefant, einem Baugerüst, einem Clown, einer Spielzeugeisenbahn, einem Hochhaus, einem Felsblock, Schreibmaschinentasten, abstrakten Zahlen, Mosaiksteinchen und Menschenansammlungen. Gesellschaft, Natur und Technik, Kultur und Natur, Mikro- und Makrokosmos bilden also ein zusammenhängendes Universum, das keineswegs chaotisch, sondern nach Charles einer ,schönen‘ Ordnung entspreche (Abb. 3). Die Rekonstruktion dieser sinnstiftenden Ordnung und deren anschauliche Darstellung bildet demnach die eigentliche Aufgabe des Designers, der nach Charles’ Definition daher gleichzeitig Menschenkenner, Wissenschaftler, Ökonom und Ingenieur zu sein habe.9 Die Arbeitsphilosophie der Eames begründet sich also in einer ästhetisierenden Sicht des Alltags, die trotz ihrer Offenheit für alle Arten von Gegenständen jedoch keineswegs in Willkür oder Beliebigkeit verfällt – im Gegenteil, gerade die Abwendung von den ,Schönen Künsten‘ verlangt wiederum die Rechtfertigung und Legitimation der entsprechenden Entwurfsstrategien. Wie Beatriz Colomina treffend anmerkt, geht es dabei für den Designer nicht um subjektive Selbstverwirklichung, sondern um objektiv nachvollziehbare Selbstbeschränkung.10 So erwähnte Charles in diesem Zusammenhang gerne sein großes Vorbild, den Zirkus: Der Zirkus ist eine nomadische Gesellschaft, die reich und farbenfroh, an der Oberfläche aber augenscheinlich zügellos ist.... Alles im Zirkus hebt das Mögliche über seine eigenen Grenzen hinaus.... Doch hinter dieser scheinbar ungehemmten Zügellosigkeit liegt eine Disziplin verborgen, die schier unglaublich ist. Es herrscht dort eine strikte Hierarchie der Ereignisse. Und jede Möglichkeit, 8 Ebd. 9 Vgl. Ebd., S. 47. 10 Vgl. Colomina, Beatriz: „Gedanken zum Eames-Haus“, in: Murphy (Hrsg.) 1997, S. 126-149, hier S. 128.
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frei zu entscheiden, ist ganz ausgeschlossen, so dass jeder Vorgang dem anderen automatisch folgt. Die Anlage des Zirkus’ unterm 11 Zelt ist dem Plan der Akropolis ähnlicher als irgend etwas sonst.
Wie die Eames jene ästhetischen und damit für sie ethischen Prinzipien der Welt durch die genaue Beobachtung des Alltags zu erkennen meinten, kann ihr erster Film BLACKTOP von 1952 verdeutlichen: Der experimentelle Kurzfilm zeigt zu J. S. Bachs Goldberg Variationen wie ein Schulhof gesäubert und mit Putzwasser abgespritzt wird. Die Handlung beginnt also mit einem unbedeutenden, alltäglichen Ereignis, das rasch in eine abstrakte Logik überführt wird. Die Kamera zoomt sehr nah an das Wasser heran und zeigt, wie sich die Wasserbahnen in Strudeln, Strömen und schönsten organischen Formungen ihre Wege über den Asphalt suchen. Durch die filmische Inszenierung und die musikalische Untermalung werden die verschiedenen Temperamente des Wassers herausgearbeitet und fast schon vermenschlicht, hier kriecht es träge vor sich hin, dort spielt es tanzend mit dem gefallenen Laub usw. (Abb. 4.) Abbildung 4: Filmstills aus dem Film BLACKTOP (1952)12
Der Film belegt also, wie die liebevolle Naturbeobachtung in jedem noch so banalen Thema einen ästhetischen Wert gewinnen kann. Und mehr noch: Das Plätschern des Wassers fasziniert visuell durch seine Würde, der Zuschauer ist hingerissen von den Mustern, die die Natur von sich aus zu gestalten mag. Der als bescheiden suggerierte Designer hat an keiner Stelle eingegriffen oder manipuliert, er folgt nur mit seinem Auge
11 Ebd. 12 Vgl. Neuhart 1989, S. 163.
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bzw. dem der alles erfassenden Kamera. Kurzum: Die ganze Schönheit der göttlichen Schöpfung zeigt sich in diesem schlichten Film über den Lauf von Putzwasser. Durch diese meditativen Aspekte scheint mir eine quasi-religiöse Komponente unübersehbar. Aber es kommt auch eine rational-aufgeklärte Sicht hinzu, denn die Logik der Eames steht stets auf Seiten der Wissenschaft: Die Natur gestalte hier keine Zufälle, die nur einem Unwissenden als Willkür erscheinen. Sie ist vielmehr aufgrund ihrer physikalischen Gesetze stets ästhetisch. Wie sehr dieser universalistische Blick das Denken der Eames prägte, zeigt vor allem auch ihre Interpretation der Geschichte der Naturwissenschaften. Die vor allem pädagogisch ausgerichteten Projekte entstanden fast alle im Auftrag von IBM, das heißt als PR-Arbeit für das breite Publikum, als Demonstration des sozialen Engagements des Konzerns. Die Themen der Filme und Ausstellungen reichen dabei von den Gesetzen der Mathematik und Physik über die Himmelsmechanik zur Welt der Meerestiere, von der Geschichte des Computers bis zu den Modellen des Pflanzenwachstums, so wie die Eames auch das Leben und Werk der großen Forscher von Kopernikus, Kepler, Newton u.a. in Bild und Text lebendig inszenieren. Ihrer gestalterischen Strategie blieben sie hierbei über Jahrzehnte treu: Der Betrachter unternimmt jeweils Spaziergänge durch Welten, die keine Spezialisierung kennen. Philosophie, Naturbeobachtung und Technik bilden stets ein unteilbares Universalwissen. Ihre wohl erfolgreichste Ausstellung „Mathematica. A World of Numbers... and Beyond“ von 1961 zeigt deutlich, wie die chronologisch trockene Wissenschaftsgeschichte zu einer Art Wunderkammer und Kuriositätenkabinett ausgeweitet wird: Es entsteht ein spielerisch kreatives Durcheinander, das bewusst mit einem Überfluss an Information arbeitet. Der Betrachter wird nicht linear geführt, sondern ist selbst der Entdecker, der sich frei zwischen den visuell faszinierenden Tafeln und Modellen bewegt (Abb. 5).
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Abbildung 5: Graphik und Modelle der Ausstellung „Mathematica: A World of Numbers...and Beyond“, 196113
13 Ebd., S. 258.
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Ganz im Sinne der Philosophie der frühen Neuzeit wird dabei das Sammeln selbst zu einer Ethik. Der Spaziergang durch eine Welt voller Wunder weckt die pure Schaulust, die den pädagogisch erwünschten Wissensdrang nach sich ziehen soll. Vor dem Aspekt der Unterhaltung bzw. einem regelrechten Spektakel des Wissens haben die Eames dabei keine Scheu: In der Ausstellung zur Geschichte des Computers, „A Computer Perspective“ von 1971, wird die Darstellung eines chronologischen Zeitstrahls zu einer regelrechten Multi-Tasking-Performance, die an das Wirrwarr heutiger CD-Rom-Verästelungen erinnert (Abb. 6). Abbildung 6: Zeitleiste zur Ausstellung „A Computer Perspective“ (1971)14
14 Ebd., S. 367.
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Alles wird mit allem verlinkt, so dass der Betrachter nur noch zirkulär lesen kann. In diesen Wunderkammern scheint eigentlich jede ordnende Struktur verloren. Spektakel und Hochkultur, Zirkus und Wissenschaft bilden für die Eames dabei keinen Widerspruch. Beide Seiten zeugen jeweils von ein und derselben Zivilisation, die wiederum als eine Art ‚Natur‘ angesehen werden muss. Der Betrachter, der sich hier einer Geschichte des Wissens zu nähern sucht, studiert diese weniger als Produkte bzw. Konstrukte seines eigenen Geistes, denn als Hervorbringungen einer Art Naturgeschichte, die sich verzweigt, vererbt, verliert und wieder auflebt, etc. Diese Naturalisierung von Kultur, der unterstellt wird, sie entwickle sich ebenso evolutionär wie die Biologie, hat zwar durch seine universalistische Fundierung eine scheinbar teleologie- bzw. ideologiefreie Komponente, aber sie birgt natürlich auch einen unweigerlichen Drang zur Essentialisierung: Es wird suggeriert, dass die Wissenschaft durch eine immer neu ansetzende Naturbeobachtung schließlich zu einer Kenntnis über die wahre Natur der Dinge gelangen kann. Die Eames berichten in ihren Darstellungen nicht von der Relativität des Wissens, sondern von der Sicherheit jener Erkenntnisse, die sich aus der Natur ableiten. Wie wir noch sehen werden, wirkt sich dies ebenso auf die Konstruktion nationaler Mythen wie auf die von Geschlechterrollen aus. Zunächst sei jedoch die Medialität der jeweiligen Narrations- und Darstellungstechniken genauer betrachtet: Wie mit der Metapher des Kuriositätenkabinetts bereits festgehalten, brauchen die visuellen Strategien der Eames keine Erzählung im Sinne einer Handlung, sie sprechen vielmehr über das alleinige Prinzip des Sammelns. Die angebliche Unschuld dieses Verfahrens, dass nämlich naiv gesammelt werde, was sich visuell als reizvoll erweist, gilt es jedoch zu überprüfen. In den Objektreihen, die jeweils gebildet werden, mag man noch die größtmögliche Zurückhaltung der Designer erkennen, aber der Medieneinsatz greift doch stark inszenierend ein. Die mediale Strategie der Eames zieht neben der Beschleunigung der Bilderabfolge und ihrer Parallelprojektion zu simultanen Darstellungen vor allem zwei Verfahren heran: die extreme Großaufnahme und die extreme Entfernung vom Gegenstand. In beiden Fällen entstehen abstrakte Bilder oder Strukturen. Das wohl berühmteste Beispiel hierfür ist sicherlich der Film THE POWERS OF TEN von 1968 bzw. in der erweiterten Farbversion von 1977 (Abb. 7). Der Film beginnt mit der Aufnahme von einem liegenden Mann auf einer Picknickdecke aus zehn Metern Entfernung. Immer eine Null hinzunehmend von Zehn auf Hundert, auf Tausend und schließlich
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bis auf 1018 Meter entfernt sich die Kamera quer durch die Milchstraßen und Galaxien bis in den entlegensten Winkel unseres Kosmos’. Daraufhin kehrt sie um, zoomt in ebensolchen Schritten wieder heran, dringt dem liegenden Mann in dem Chicagoer Park schließlich durch die Hand in die Haut und in die kleinsten Mikropartikel und Moleküle seines Körpers bei 10–16 Meter. Es ist offensichtlich: Neugier und Schaulust werden hier maximal befriedigt. Die Distanz von Betrachter und Betrachtetem scheint zu verschwinden. Das Auge der Kamera scheint omnipotent, Mikro- und Makrokosmos liegen ihm gleichermaßen zu Füßen. Das Medium deutet Überblick und Macht an, der Rundumblick des Panopticons wird gesteigert zu einem Sehen, das selbst die Materie und die weitesten Entfernungen zu durchdringen scheint.15 Die Eames nutzen damit die Faszination des medialen Sehens in ihrer ureigensten Funktion: Die Vogelflugperspektive aus dem fernen Weltraum wie auch das körperliche Eindringen durch die mikroskopische Aufnahme bilden gewissermaßen die beiden Urszenen der technischen Medien als Überwindung und Entgrenzung des menschlichen Sehvermögens. Wie das Naturalienkabinett fallen auch diese Erfindung von Fernrohr (der Blick in den Kosmos) und Mikroskop (der Blick in die Mikrostrukturen der Materie) wiederum in die frühe Neuzeit – es scheint, als ob die Eames in ihren Arbeiten eine regelrechte Archäologie der Medien16 betrieben, um zu deren Ur-Funktionen und -Faszinationen zurückzufinden. Im Hinblick auf die Popularisierung von Wissenschaft und Geschichte mag all dies nicht weiter erstaunen, aber die Eames gingen nicht anders vor, wenn sie ihre Möbel vorführten. So filmen sie in dem Präsentationsfilm KALEIDOSCOPE JAZZ CHAIR von 1960, der eine Stuhl-Kollektion vorstellen sollte, nicht einfach die aufgestellten Stühle, sondern zerlegen diese durch den Einsatz von Spiegeln in entsprechende Kaleidoskop-Effekte, die schließlich nur noch abstrakte Muster bildeten (Abb. 8).
15 Der hier gewählte Aufsatz-Titel „Mathematische Peepshow und mediales Panopticon“ spielt auf einen (noch unveröffentlichten) Vortrag von Matthias Weiß an, der vor allem auf die architektonische Ähnlichkeit beider Anordnungen verwies: Das Hineinsehen auf die Bühne der Peepshow ähnelt in umgekehrter Blickrichtung dem vom Mittelpunkt in die Zellen sehenden panoptischen Blicks der bei Michel Foucault beschriebenen Gefängnis-Architektur. Eine ähnliche Umkehrbarkeit der Blickrichtung nutzten auch die Eames in ihren Verwirrspielen von extremer Großaufnahme bzw. dem visuellen Eindringen in die Materie und der extremen Entfernung, die als Vogelflug das allwissende und allsehende Auge suggeriert. 16 Vgl. auch „Einleitung“ in diesem Band.
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Abbildung 7: Filmstills aus THE POWERS OF TEN (1977) (links)17 Abbildung 8: Filmstills aus KALEIDOSCOPE JAZZ CHAIR (1960) (rechts)18
Die Poetik dieser abstrakten Formationen, die sich im Film zu jazziger Musik wie tanzende Splitter verhalten, spielt wiederum deutlich mit der Ästhetik des Organischen: Die beweglichen Muster erinnern stark an Prozesse der Zellteilung (wie man sie z.B. aus mikroskopischen Aufnahmen kennt) und so präsentiert sich der stapelbare Plastikstuhl letztlich als eine Art DNA-Spirale, die sich formiert und wieder auftrennt. Kurzum: Aus jeder noch so gegenständlichen Vorlage erarbeiten die Eames durch ihren spezifischen Medieneinsatz ein regelrechtes Fest des Sehens. Es ist offensichtlich, dass diese Filme zu einer Zeit entstanden, als die sich formierende Medienkritik noch nicht in das öffentliche Bewusstsein gedrungen war. Die Eames arbeiteten in einem gänzlich ungebrochenen Verhältnis zu ihrer Kamera. Die Faszination für medialen Fortschritt und gestalterische Machbarkeit kannte hier weder Technik-Kritik noch andere Formen der Entfremdung oder der unrechtmäßigen Simulation. Im Weltbild der Eames bilden Natur- und Kulturgeschichte vom Einzeller bis zur (Seh-)Maschine noch eine harmonische Einheit. Die Distanzlosigkeit dieser Art von Schaulust wurde aber wenig später als Voyeurismus und Überwachung angeprangert, so wie z.B. Jean Baudrillard festhielt, dass jede Großaufnahme per se schon pornographisch sei. Bei den Eames müsste er jedenfalls nicht lange suchen: Um die bereits erwähnte Ausstellung „Mathematica“ zu begleiten, drehten die beiden 17 Ebd. S. 441. 18 Vgl. Neuhart 1998, S. 250.
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Designer 1961 fünf pädagogische Zeichentrick-Filme zur Erklärung von mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Diese wurden in der Ausstellung als so benannte „Peep Shows“ in eigens dafür angefertigten Sehapparaten gezeigt (Abb. 9). Abbildung 9: Präsentationsapparate „Peep Show“( 1961)19
19 Ebd., S. 261.
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Der ‚trockene‘ Stoff der Mathematik wird durch die Schlüsselloch-Perspektive interessant gemacht, Kinder wie Erwachsene befriedigen allem voran ihre visuelle Neugier und lernen dabei – gewissermaßen beiläufig – noch etwas über die mathematischen Gesetze. Geht es hier also um eine Erziehung zum Voyeurismus? Wird in Filmen wie THE POWERS OF TEN die panoptische Überwachung verherrlicht? Werden hier gar Allmachtsphantasien entworfen und gefördert, die man im Rahmen der Gender Studies als ‚männliche‘ Blickstrategien qualifizieren müsste, da sich eine Vielzahl von Penetrationsmotiven aufdrängen? Die feministische Forschung hat immer wieder versucht, den Mediengebrauch einer Kamera aufgrund der Symbolik von Schuss und Eindringen als ‚männlich‘ zu beschreiben.20 Dies mag metaphorisch eine hohe Überzeugungskraft haben, birgt aber methodisch wiederum die Gefahr einer essentialistisch verfahrenden Zuschreibung. Die Medien werden gewissermaßen naturalisiert, d.h. ihr Gebrauch könne nur so erfolgen, wie es die spezifische Medialität vorschreibt. Ein subversiver Medieneinsatz wäre dann per Definition nicht denkbar – eine Annahme, der man gerade vor dem Hintergrund der vielfältigen künstlerischen Praktiken wohl widersprechen muss.21 Auch das Beispiel der Eames zeigt in diesem Zusammenhang wie differenziert der mediale Diskurs doch ausfallen kann: In ihrem Falle wäre die Unterstellung einer generell ‚männlichen‘ Kamerarhetorik kaum haltbar, gerade auch im Hinblick auf ihre zahlreichen Spielzeug- und Experimentalfilme, bei denen eine wohl eher als ‚weiblich‘ konnotierte Bauchnabelperspektive dominiert (vgl. z.B. TOCATA FOR TOY TRAINS von 1957). Die ‚kleine‘ Welt der Kinder aus Miniatur-Eisenbahnen, -Automobilen und –Spielfiguren so zu filmen als wäre sie ‚groß‘, zeugt von jener ethisch-motivierten 20 Die feministische Film- und Bildwissenschaft vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass der männlichen Blick in den Medien der Moderne von der Zentralperspektive bis zur Fotografie und Film das Sehen bestimme. Die Geometrie der Zentralperspektive gilt in diesem Rahmen als phallisch oder phallozentrisch, da mit der Konstruktion des Sehkegels ein Eindringen in den Raum erfolge. Das mediale Sehen wird somit als Erobern, Öffnen und Besetzen von Räumen verstanden. Die Geschichte der Medien lasse sich folglich als das räumliche Hineingehen in den weiblichen Körper lesen. Zum Überblick vgl. Hentschel, Linda: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg 2001. 21 Vgl. dazu meinen Beitrag „Zeitlichkeit in den Filmen Andy Warhols – ‚weibliche‘ Kamera und Gilles Deleuzes ‚L’image temps‘“, in: Karin Gludovatz/Martin Peschken (Hrsg.), Momente im Prozess. Zeitlichkeit in der künstlerischen Produktion, , Berlin 2004.
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Beobachtungshaltung, die schon für den Film BLACKTOP erwähnt wurde. Der mediale Blick wirkt daher weder voyeuristisch noch erobernd oder gar kolonialisierend, er zielt vielmehr auf eine behutsame Bewunderung jedes noch so banalen Gegenstandes. Tatsächlich scheint mir der Vergleich zum kindlich-naiven Blick im Fall der Eames-Ästhetik treffender: Wir alle sollen durch die eamesschen „Peep-Shows“ wieder zu unserer angeborenen Neugier zurückfinden. Die pure Lust am Sehen soll aus jedem Kind und aus jedem Erwachsenen wieder einen Naturforscher machen, der seine Umwelt begierig auseinander nimmt. Es scheint als werde damit eher an einen archaischen Blick appelliert, der die voyeuristischen Umtriebe des neurotischen Subjekts noch nicht kennt. Selbst wenn die Psychoanalyse vielleicht bestreiten würde, dass es diesen Blick überhaupt gibt, zielt die mediale Strategie der Eames auf eine (zumindest angenommene) vor-erotische bzw. vor-geschlechtliche Neugier des Kindes, in der Hoffnung, dass auch der erwachsene Betrachter diese als imaginäres Konstrukt noch nachempfinden kann. Vor einer essentialisierenden Geschlechtersymbolik bei der Beschreibung von medialen Strategien sei also gerade vor diesem Hintergrund gewarnt – künstlerische Positionen wie die der Eames haben stets die Tendenz, Alltagsperspektiven zu sprengen und damit auch Geschlechterdichotomien zu unterlaufen. Trotz aller Naivität und Unschuld dieses medialen Blicks, dessen erfolgreiche Wirkung ich hier tatsächlich nicht in Frage stellen würde, weist die Strategie der Eames auch ideologische Implikationen auf, vor allem durch die Art und Weise wie sich der jeweils geführte Diskurs im Namen der Natur bzw. einer entsprechenden Natur-Konstruktion selbst Autorität zuschreibt. Dies wird insbesondere an den nationalen Mythen deutlich, zu deren Schaffung die Eames maßgeblich beigetragen haben. Der allgegenwärtige Rückgriff auf das Ideal des aufgeklärten Naturforschers, so meine These, kann in ihrer Arbeit als politische Autoritätsstrategie für das moderne Nachkriegsamerika verstanden werden. Den wohl größten Regierungs-Auftrag ihrer Karriere erhielten die Eames anlässlich der Zweihundtertjahrfeier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die 1976 anstand. Dem Leben und Werk der beiden Verfasser, Benjamin Franklin und Thomas Jefferson, sollte eine Ausstellung mit entsprechendem Begleitprogramm gewidmet werden. Die Eames arbeiteten mit großem Mitarbeiterstab fünf Jahre lang an Ausstellung, Katalog und Filmen. Insbesondere der Film zur amerikanischen Ausstellungsvariante, THE WORLD OF FRANKLIN AND JEFFERSON, der sich durch seinen Patriotismus von dem Begleitmaterial zur weltweiten Wanderausstellung erheblich unterscheidet, vermag in unserem Kontext
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zu zeigen, wie sich die amerikanische Geschichte der Eames zusammensetzt und autorisiert. Mit der beeindruckenden Stimme von Orson Wells wird zu einem bunten Bilderbogen das Leben und Werk der beiden Männer erzählt, die die Vereinigten Staaten ‚erfanden‘. Auch hier gerät der Zuschauer zunächst in die Wunderkammer von zwei Universalgelehrten und Alleskönnern: Naturforscher waren sie, dazu Philosophen, Techniker, Erfinder, Verleger und natürlich erfolgreiche Geschäftsmänner und all dies im Self-made-man-Verfahren. Sie gründeten Societies und Netzwerke und gelangten so zu Macht und Einfluss. Von Zweifeln und Rückschlägen ist dabei an keiner Stelle die Rede, die grenzenlos bewundernde Aufzählung ihres Forscher- und Wissensdrangs erinnert wohl deshalb auch etwas an die Sammelsurien von Flauberts Bouvard und Pécuchet – allerdings ohne jede Ironie. Die Ethik, für die hier geworben wird, scheint mir offensichtlich: Ihre Kraft schöpften die beiden Geistesgrößen aus dem festen Glauben an eine natürliche Ordnung der Dinge, die sich durch ihren göttlichen Ursprung als unerschütterlich erweist. Dabei war es für die Eames zentral, dass Franklin und Jefferson keine Revolutionäre waren, die etwas Selbsterdachtes oder subjektiv Gefolgertes einforderten, sie beobachteten vielmehr die Gesetze der Natur und leiteten daraus eine neue Gesellschaftsordnung ab. Die französische Revolution, so könnte man diesen Diskurs zusammenfassen, schlug fehl, weil ihre Anführer nicht mehr der Natur gehorchten, sondern sich selbst bzw. ihren egoistischen Interessen. Die Amerikaner hingegen brauchten keine Revolution, sie führten nur fort, was ihnen die Natur gebot. Ihre pragmatische Vorgehensweise, so der Eames-Film, setzte dabei allein auf das Prinzip von ‚Trial and Error‘: Nur die besten Wege und Methoden wurden jeweils beibehalten, alle anderen sortierte eine quasi-biologische Selektion aus. In dem Film sieht man an dieser Stelle Schachspieler, die ihre Figuren gegenseitig aus dem Feld werfen. Überträgt man dieses Modell auf eine Gesellschaftsordnung, würden wir sie heute wohl als sozial-darwinistisch bezeichnen. Aber für die Eames bleibt es eine unerschütterliche Grundannahme, dass die Geschichte Amerikas in der Natur begonnen und als ungebrochene Fortsetzung derselben ihren Lauf genommen hat.22 Auch die Ausstellung „The World of Franklin and Jefferson“ muss in diesem Rahmen eher als Naturereignis denn als Wissensvermittlung 22 Man mag an dieser Stelle auch an das „Naturdenkmal“ des Mount Rushmore denken, jenem nationalen Monument, bei dem die Köpfe der amerikanischen Präsidenten als Halbreliefs in den Fels gehauen wurden. Ihr Leben und Werk erwächst damit buchstäblich der Ewigkeit der Natur. Zum Zusammenhang von nationaler Identität und Natur- bzw. Landschaftsphänomenen siehe Schama, Simon: Landscape and Memory, London 1996.
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verstanden werden: Die Eames mischten wiederum nach dem Wunderkammer-Prinzip möglichst viel Alltagskultur des 18. Jahrhunderts unter die historischen Fakten. An Porzellan, Manuskripte, Flaggen, Tintenfässer und Schreibfedern mag man in einem Museum noch gewohnt sein, aber auffällig scheint mir doch der hohe Anteil an Grünpflanzen, der die Ausstellung begleitete. Die größeren dreidimensionalen Gegenstände aus der damaligen Zeit – Maschinen, Musikinstrumente, Kostüme und sogar ein ausgestopftes Bison! – wurden mit einem Kranz aus Blumentöpfen mit Farnkraut und Ficus-Büschen umgeben (Abb. 10) Abbildung 10: Ausstellung „The world of Franklin and Jefferson“, New York (1976) (links)23 Abbildung 11: Abbildungen aus dem Buch Images of Early America (1976) (rechts)24
Geschichte und Natur sind damit sprichwörtlich eins. Erstere muss für die Eames wieder zu Natur werden, damit sich ihre wahren Gesetze dem beobachtenden Forscher und Betrachter zeigen. Mitte der 70er Jahre, zu Zeiten des Vietnam-Kriegs und der Watergate Affäre, ging dies aber auch dem Publikum zu weit: Man warf den Eames ihre allzu patriotische 23 Vgl. Neuhart 1989, S. 421. 24 Vgl. Neuhart 1989, S. 432.
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Regierungstreue schließlich vor.25 Zudem kannten die Eames, indem die Vereinigten Staaten ihrer Vision nach direkt der Natur entwachsen waren, auch keine fremde bzw. ‚andere‘ Herkunft mehr, indianische Ureinwohner, Einwanderer und Sklaven kamen in dieser Ausstellung als Mitbegründer der USA schlichtweg nicht vor. Ebenfalls zur Zweihundertjahrfeier realisierten die Eames 1976 für ihren Möbelproduzenten Hermann Miller die Ausstellung und das Buch Images of Early America, das den ästhetischen Geist des 18. Jahrhunderts durch Innen- wie Außenaufnahmen und entsprechenden Detailstudien von Kirchen, Farmen, Landhäusern, Colleges, Regierungsgebäuden und dem jeweiligen Mobiliar festhält. Auch hier finden sich immer wieder zahlreiche Aufnahmen von Wäldern, Naturparks und Landschaften eingestreut (Abb. 11). Gerade an diesen Fotos wird deutlich, wie sehr die Eames die Ursprünge ihrer eigenen Arbeit bzw. die Wurzeln des amerikanischen Designs auf den puritanischen bzw. pietistischen Geist ihrer Vorfahren zurückführen.26 Das Buch dokumentiert nicht einfach den Baustil einer vergangenen Epoche, es erklärt über die Kontinuität von Natur und Landschaft eine legitimierende Realpräsenz bis heute. Vom Erbe des 18. Jahrhunderts werden nicht jene Seiten gezeigt, die noch dem monumentalen Klassizismus oder dem verspielten Rokoko verhaften waren, sondern die eigenen Ursprünge der amerikanischen Designtradition, die allem voran auf religiöse Gemeinschaften wie z.B. die Shaker zurückgehen.27 Einfachheit, Rationalität und ornamentlose Funktionalität, also die ästhetischen Leitbilder der modernen Gestaltung überhaupt, galten den 25 Siehe dazu Lipstadt, Hélène: „,Eine natürliche Überschneidung‘ Charles und Ray Eames und die amerikanische Regierung“, in: Murphy (Hrsg.) 1997, S. 151-177, hier S. 170. 26 So berichtet zum Beispiel ein Mitarbeiter über die Arbeitsatmosphäre, die Charles für das Büro festlegte: „His standards for the staff were straight out of the Puritan ethic: no radio playing, no socializing, no whistling or gum chewing.“ Zitiert nach Neuhart et al. (Hrsg.) 1989, S. 9. 27 Die Shaking Quakers (benannt nach ihrer spirituellen Trancepraxis des Sich-Schüttelns) waren seit 1700 in Großbritannien aktiv und bildeten nach ihrer Verfolgung und Emigration die damals größte Sekte der USA. Sie lebten ohne Privateigentum und in strengem Zölibat in ländlichen Gemeinschaften, die sich vor dem Hintergrund ihrer protestantischen Wirtschaftsethik der Technisierung bzw. beginnenden Industrialisierung jedoch nicht verschlossen. Vgl. dazu Kirk, John T.: The Shaker world: art, life, belief, New York 1997. Die Möbelentwürfe der Shaker sind als Nachbauten auch heute wieder in spezialisierten Fachgeschäften erhältlich und erfreuen sich offenbar als wertekonservativer Widerstand zur Wegwerf- und Konsumgesellschaft zunehmender Beliebtheit.
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Shakern als Zeichen ihrer Demut und Bescheidenheit. Als eine sich selbst versorgende und streng ländlich lebende Gemeinschaft, die weder auf Kunstgegenstände, noch auf Bücher zurückgreifen konnte (auch bedingt durch das Analphabetentum vieler Gründer, z.B. der Mother Ann), lag es nahe, die religiösen Überzeugungen in den Gegenständen des täglichen Lebens auszudrücken. Als pragmatisch-schlichte und stets auf Langlebigkeit ausgerichtete Konsumgüter bildeten die Shaker-Produkte visuell erlebbare Dokumente ihrer Lebens- und Arbeitsethik. Jeder noch so einfache Gegenstand konnte damit zum kommunikativen Träger ihres Glaubens werden. Die zahlreichen Erfindungen und Patente der Shaker, von der Wäscheklammer bis zur Kreissäge, zeugen dabei von einer protestantischen Wirtschaftsethik, die Gewinnmaximierung und Zeitersparnis im Wirtschaften als Erfüllung des göttlichen Auftrags wertet. Gute Produkte und sinnvolles Design, so die Grundüberzeugung, vermögen Gott in der Welt sichtbar zu machen. Die mit dieser Designethik verbundene Bilderfeindlichkeit, die jede mimetische Abbildung von Pflanzen, Blüten, Wellen oder anderen Ornamentstrukturen untersagte, zeugt letztlich von einem Abstraktionsniveau, das als Absage an Repräsentation und Bedeutung in der Gestaltung den Medienumbruch zum Design der Moderne markiert. In diesem Sinne stehen auch die Eames noch klar in dieser Tradition. Gerade der Band Images of Early America macht deutlich, wie sehr die Eames ihre eigene Gestaltungsphilosophie und die Geschichte Amerikas als untrennbar empfinden. Ihr Ideal von Amerika waren sie letztlich selbst: Unermüdliche Forscher und tüchtige Handwerker aus puritanischem Geist, sowie mündige Bürger, die für jedes Kommunikationsproblem eine Lösung finden.28 Abschließend sei nun nach den gender-spezifischen Implikationen dieser Arbeits- und Gestaltungsphilosophie gefragt: Welche Rolle sieht eine derart naturalisierte Kulturphilosophie für die Frau in der Gesellschaft bzw. in der gestalterischen Arbeit vor? Die Shaker, so sei hier zunächst erwähnt, lebten und arbeiteten im Rahmen ihres Zölibats nach 28 So fasst Hélène Lipstadt dies zusammen: „Die Eames, eher Designer als Historiker, sahen die Vergangenheit mit dem Augen ihrer Gegenwart. Ihr Begriff von der Entstehung Amerikas, der amerikanischen Regierung und der modernen amerikanischen Gesellschaft war bestimmt von der Regierung, die sie selbst erfahren hatten, und von ihrem eigenen Standort in der Gesellschaft.“ Ihr Ideal war geprägt von der „Vorstellung von Amerika als einer spontanen Demokratie, in der eine direkte Verbindung zwischen Regierung und Bevölkerung bestand – hergestellt nicht zuletzt von Charles und Ray Eames.“ Zitiert nach Lipstadt in: Murphy (Hrsg.) 1989, S. 155.
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dem strengen Grundsatz der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Überkommene Rollenvorstellungen und -klischees würden sich aus dieser Tradition demnach nicht ableiten lassen. Welche Rolle sah also Ray Eames für sich vor und wie inszenierte sie diese in ihrem Leben und Werk? Zunächst sei angemerkt, dass sie neben den Frauen aus dem Bauhaus-Umkreis und einigen Architektinnen (von Julia Morgan und Eileen Gray zu Zaha Hadid) generell zu den wenigen Gestalterinnen gezählt werden kann, die es im 20. Jahrhundert zu einem internationalen Namen geschafft haben.29 Von einer Benachteiligung Rays innerhalb der Bürogemeinschaft war (nach Aussagen der Mitarbeiter) nichts zu spüren:30 Sie arbeitete als seine gleichberechtigte Partnerin, war stets mit ihm präsent, ihr Name ist allerorts genannt, wenn auch an zweiter Stelle. Der Gleichheitsgrundsatz schien sich hier also weit gehend zu erfüllen, allerdings hatten die Eames (und nicht anders würde es die pietistische Tradition handhaben) ihre Aufgaben und Zuständigkeiten entsprechend ihrer Fähigkeiten auch aufgeteilt:31 Charles war stets der Initiator und Leiter der Projekte, er erarbeitete die technischen Lösungen und sorgte für Innovationen in der Produktentwicklung. Rays Rolle war demgegenüber ungleich diffuser: Als Einzelarbeiten sind von ihr nur Musterentwürfe bekannt, vor allem im Textilbereich (diese Trennung von Technischem und Dekorativem entspricht wiederum dem Rollenverständnis des Bauhauses, einem der ersten Orte, an dem Frauen überhaupt eine Ausbildung in Gestaltungsberufen erhielten). Trotz allem hatte Ray mehr Einfluss als es auf den ersten Blick scheinen mag: Ihr Beitrag lag vor allem auf der künstlerischästhetischen Seite. Als studierte Bildhauerin und Absolventin der New Yorker Hans Hofmann School, die viele der wichtigsten amerikanischen Nachkriegskünstler ausgebildet hatte, prägte und überwachte sie den
29 Vgl. dazu Kuhlmann, Dörte: „Gender in der Kunst- und Architekturwelt“, in: Annette Geiger/Barbara Schrödl (Hrsg.): Gestaltung, Geschichte, Geschlecht, Sonderausgabe des Genderzine der Universität der Künste Berlin. Mai 2003. Einsehbar unter www.gendernet.udk-berlin.de. Vgl. außerdem Dörhöfer, Kerstin: Architektinnen von Eileen Gray bis Zaha Hadid, Berlin 1996 sowie Ricon-Baldessarini, Sonia: Wie Frauen bauen. Architektinnen von Julia Morgan bis Zaha Hadid, Berlin 2001. 30 Zu den Mitarbeiter-Aussagen vgl. u.a. die Einleitung in Neuhart et al. (Hrsg.) 1989. 31 Ich beziehe mich im Folgenden auf Giovanni, Joseph: „Das Büro von Charles Eames und Ray Kaiser. Den Dingen auf der Spur“, in: Murphy (Hrsg.) 1997, S. 45-71.
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„Eames-Stil“32. Sie entwickelte die charakteristische Formensprache des Büros und sorgte für die visuelle Kohärenz der Corporate Identity. Ray Eames hielt gewissermaßen das ästhetische Formen-Archiv bereit, aus dem Charles und die Mitarbeiter im Entwurfsprozess schöpfen konnte. Ein wichtiges Ausdrucksmittel für die Kommunikation des charakteristischen Eames-Stils findet man auch in der Selbstinszenierung des Künstlerpaars. In dem Sinne, dass für die Eames alles zu einem Träger ihrer Philosophie werden konnte, war auch ihre Kleidung stets ausgewählt und aufeinander abgestimmt. Beatriz Colomina schreibt dazu: Die Eames achteten sehr darauf, wie sie sich anzogen und ließen sich viele ihrer Kleider von Dorothy Jeakins anfertigen, einer Oscar-Preisträgerin, die die Kostüme zahlreicher Filme entwarf. >...@ Mit ihrer Kleidung traten die Eames als professionelles Paar auf, als ein Set, wo eines zum anderen passt, genau positioniert, so wie jeder andere Gegenstand in ihren Entwürfen. Die uniforme Klei33 dung verwandelte das Paar in ein Designobjekt.
Als interessant erweist sich dabei vor allem die Entwicklung, die ihr Stil über die Jahrzehnte durchmachte. In den 40er Jahren präsentierten sich die Eames in einem Partnerlook, der ihre Körper mit den Formen ihres Designs gleichzusetzen scheint: Es dominieren abstrakte Formen, Linien und Volumen, deren Schauspieler sie eben selbst sind (Abb. 12). Abbildungen 12-13: Charles und Ray Eames34
32 Vor allem das Organische am Eames-Look dürfte auf ihre bildhauerische Sprache zurückgehen, die sie im Stil von Joan Miro, Henry Moore, Alexander Calder und anderen organischen Formgebungen der 40er und 50er Jahre von der Kunst auf das Design übertrug. Vgl. auch Giovanni in: Murphy (Hrsg.) 1997, S. 47ff. 33 Colomina in: Murphy (Hrsg.) 1997, S. 128f. 34 Vgl. Neuhart 1989, S. 432 und Murphy 1997, S. 129.
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Andernorts legten sie sich wie die Versuchstierchen eines Naturforschers selbst vor das Objektiv der Kamera, hier fixiert durch die eigenen Stuhlgestelle (Abb. 13). Aber was bedeutet dieses von beiden gleich getragene Karohemd eigentlich bei Mann und Frau? Für ihn ist das bunte Herrenhemd eine recht sportive, legere Kleidung. Ohne Krawatte getragen, sieht man ihm den kreativen Beruf gewissermaßen an. Aber an ihrem Körper, gepaart mit dem glockigen Rock, wirkt das Ensemble eher bieder. Auch auf anderen Bildern gibt Ray sich zunehmend streng und gut verpackt. Eine Tendenz, die sich mit der Zeit zu verhärten scheint: Sie kreiert sich eine fast schon mönchische Arbeitskleidung, die vor allem durch das charakteristische und eigens für sie entworfene Schürzenkleid geprägt ist, mit dem man sie nun stets sieht (Abb. 14, 15). Stets hochgeschlossen wirkt sie in diesem durchaus funktionalen Arbeitsdress doch etwas kindlich oder gar bigott. Ein Altersfoto, das aus der Zeit der Franklin-undJefferson-Ausstellung stammen dürfte, macht die Herkunft dieses Stils noch deutlicher (Abb. 16): Charles präsentiert sich in der nachlässig geknöpften Cordweste als amerikanischer Farmer-Typ, sie steht daneben, ordentlich zugeknöpft, mit Schleife im Haar, wie eine demütige Pietistin auf dem Weg ins Gotteshaus. Seine Haltung wirkt durch die verschränkten Arme entschlossen und kräftig, sie steht in einer Art Andachts- oder Gebetshaltung daneben. Eine Hommage an die Shaker bzw. die pietistischen Ursprünge der amerikanischen Design-Tradition scheint mir hier unübersehbar. Abbildung 14-16: Charles und Ray Eames35
35 Vgl. Murphy 1997, S. 2; vgl. Neuhart 1989, S. 156; vgl. ebd., S. 3.
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Betrachtet man das Bild aber genauer, so stechen aber über die Ohrringe, die Brosche und dem Schmuck an ihren Handgelenken Details ins Auge, die an einer Shaker-Tracht natürlich keinen Platz gefunden hätten. Diese feinen und wohl sehr persönlichen Subversionen des pietistischen Kanons sollte man auch in Rays Arbeit berücksichtigen: Selbst wenn sie nach außen hin das patriotische Theater mitgespielt oder gar selbst entwickelt hat – ihre künstlerische Arbeit war trotz allem nicht bieder oder konservativ, sondern stets auf der Höhe der Zeit. Selbst wenn die mönchische Schürze sie zu ,entweiblichen‘ scheint, war ihre Kunst stets sinnlich und durch die organischen Formen auch sehr körperlich. Rays Rolle im Gestaltungsprozess möchte ich durch einen abschließenden Blick auf die Schreibtische der beiden Designer zusammenfassen, selbst wenn dies wohl mehr suggeriert als beweist: Die Fotografien von Charles Arbeitsplatz weisen eher auf seine ordnenden und organisierenden Managementfunktionen hin, es sieht aus wie in einem modernen bzw. bereits postmodernen Kreativ-Büro (Abb. 17). Rays Schaffensbereich hingegen gleicht jener Vorstellung, die wir uns vom kreativen Künstler in seinem Atelier machen (Abb. 18) . Abbildung 17-18: Charles Eames’ Arbeitsplatz36
Bezogen auf die oben beschriebene Methodik und Pädagogik ihrer Filme und Ausstellungen könnte man hier folgern, dass das beschriebene Prinzip der Wunderkammer eher aus ihrem Labor stammt als aus seinem. Sie 36 Vgl. ebd., S. 9 und 10.
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bildet gewissermaßen das kreative Archiv der Formensprache: Bei ihr wird die Kultur zur Natur und umgekehrt. Denkt man diese Arbeitsaufteilung hinsichtlich der Genderfrage weiter, ergibt sich ein Diskurs, der wiederum gut zur eamesschen Gestaltungs- und Naturphilosophie passen könnte: Ray hat als Archiv der Formen zwar keine eigene Sprache bzw. führt keine eigenen Entwürfe zur Produktreife, weil sie stets mit der Natur verbunden bleibt. Sie liefert aber damit die Grundvoraussetzung für die Arbeit ihres Mannes. Er erkennt als Forscher in ihrem Kosmos die Gesetze der Natur wie der Kunst und kann diese im zwei- oder dreidimensionalen Entwurf gewissermaßen versprachlichen bzw. in ein Produkt überführen. Sie schweigt, ist aber diejenige, die als stumme Hintergrunds-Autorität alles ermöglicht. Die in diesem ,Weltwissen‘ genannte Quelle der Kreativität, die Natur, wird mit der Frau gleichgesetzt. Im medial wahrnehmbaren Endprodukt scheint sie nicht mehr vorzukommen, aber die Autorität des Mannes gründet sich in ihr. Vielleicht sollte Rays gezügelt-mönchische Kleidung genau diese Zurückhaltung ausdrücken, keine eigenen Sprache zu formulieren bzw. sich in die amerikanische Erzählung einzupassen und dabei trotz allem jene Ur-Natur zu bleiben, aus der sich alles ableitet.
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1956, 1953, 1965 – ÜBERLEGUNGEN ZUR ARCHÄOLOGIE ELEKTRONISCHEN LÖSCHENS Wein floß über den Tisch, und sie, mit zierlichem Finger, Zog auf dem hölzernen Blatt Kreise der Feuchtigkeit hin. Meinen Namen verschlang sie dem ihrigen; immer begierig Schaut’ ich dem Fingerchen nach, und sie bemerkte mich wohl. Endlich zog sie behende das Zeichen der römischen Fünfe Und ein Strichlein davor. Schnell, und sobald ich’s gesehn, Schlang sie Kreise durch Kreise, die Lettern und Ziffern zu löschen. Johann Wolfgang von Goethe, Römische Elegien, 1795.1 D = 20 lg (U0/U1) DIN 33858, Löschen von schutzbedürftigen Daten auf magnetischen Datenträgern, Punkt 2.3: Maß der Löschdämpfung, 1993.
Bei der (Aus-)löschung zumal von Bildern denkt man unweigerlich an religiöse oder politische Fanatiker: Doch hier soll der politisch oder religiös motivierte Ikonoklasmus2 nicht das Thema abgeben. Vielmehr soll eine Entwicklung diskutiert werden, die etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts stattfand, quer zu bekannten Unterscheidungen wie ‚analog‘ und ‚digital‘ liegt, wenig beachtet ist und dennoch in ihrer Bedeutung schwerlich überschätzt werden kann: die Erfindung elektronischer Löschung. 1 Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 1: Gedichte und Epen 1, München 1998, S. 168. 2 Vgl. Gamboni, Dario: Zerstörte Kunst: Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert, Köln 1998.
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*** Im Falle des erwähnten Ikonoklasmus waren die Bildinformationen auf Dauer angelegt, verschwanden aber, weil ihre Träger unachtsamer- oder gewaltsamerweise zerstört wurden. Es gab aber schon lange Träger, die zum Aufzeichnen nicht nur von (einfachen) Bildern, sondern vor allem auch von Schrift keineswegs für lange, sondern für kurze Zeit gedacht waren – Medien der Notiz, der Skizze, der Gedächtnisstütze. Also genauer: Es gibt eine Differenz zwischen Speichern und dem Archiv.3 Die gegenüber dem Archiv temporären Speicher4 können mit exzessiver Verschwendung billigen Trägermaterials arbeiten – man denke an die allgegenwärtigen Post-Its; oder sie benötigen das Löschen, um Platz zu machen für neue Notizen. Das Löschen hat eine lange Geschichte: So entstand schon in Griechenland etwa in der Mitte des ersten Jahrtausends die Wachstafel: In der Vertiefung dünner Holzplatten war mit Ruß geschwärztes Bienenwachs eingelassen, in das mit einem Stilus die Schrift eingeritzt wurde. Mit einem spachtelartig verbreiterten Ende des Schreibwerkzeugs konnte die Einschreibung wieder gelöscht werden. Tafeln und Griffel wurden in den Schulen beider Deutschlands noch bis etwa in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts benutzt; Tafeln, Kreidestifte und Lappen werden noch bis heute verwendet.5 Ein weiteres sehr bekanntes, aber deutlich jüngeres Beispiel ist natürlich der ab Ende des 19. Jahrhunderts industriell gefertigte Radiergummi, der die auf Papier verteilten Spuren von Grafit (und ähnlichen Materialien) wieder weit gehend und unter reduzierter Beschädigung des Trägers zu entfernen im Stande ist.6 Am relativ weichen Grafit, an der noch weicheren Kreide und an der Tafel aus Wachs wird ersichtlich, dass das Löschen nur mit mehr 3 Diese simple Unterscheidung entgeht gerade elaborierten philosophischen Rekonstruktionen etwa des Archiv-Begriffs bei Foucault, die trotz angeblichen Bezugs auf ‚die Medien‘ in ihrem fundamentalistischen Anspruch nicht einmal die basalsten Fakten der tatsächlichen Mediengeschichte wahrzunehmen fähig oder gewillt sind, vgl. Skrandies, Timo: Echtzeit – Text – Archiv – Simulation. Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft, Bielefeld 2003, S. 177-206. Es geht mitnichten immer um die „Möglichkeit dauerhafter Archivierung“ (S. 191). 4 Natürlich können einstmals temporäre Speicher, etwa die Skizzen eines Künstlers oder die Notizen eines Schriftstellers, im Laufe der Zeit selbst zu permanenten Archiven umgewidmet werden. 5 Vgl. Müller, Klaus: Tafel und Griffel. Geschichte und Entwicklung einer fast vergessenen Schreibtechnik, Landau 1997. 6 Vgl. die schönen Anmerkungen zum Radiergummi bei Holbein, Ulrich: Samthase und Odradek, Frankfurt a.M. 1990, S. 54-58. Er erwähnt im Folgenden auch den – wunderbar so bezeichneten – ‚Tintenkiller‘.
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oder minder viskosen Substanzen möglich ist – wie auch dem Wein in Goethes Elegie –, also solchen, die wieder in ihren amorphen Zustand versetzt werden können. D.h. solche Träger dürfen nicht so fluid sein, dass Formen sofort zerfließen (Goethes Wein operiert daher nur auf einer einigermaßen horizontalen Tischplatte). Sie dürfen die Formen aber auch nicht so festhalten, dass sie nicht wieder des-informiert werden könnten. Eine gewisse Ähnlichkeit zu Luhmanns Medium/Form-Unterscheidung drängt sich auf. Offenkundig ist jedenfalls, dass seit dem Wein Goethes offenbar neuartige Substanzen aufgetreten sind, deren Formungs- wie Löschungsprozesse nicht durch physische Eingriffe (sei es durch ‚zierliche Mädchenfinger‘, einen spatelförmigen Stilus, das mühselige Radieren oder den Schwamm bei der Kreide-Tafel), sondern durch die Einwirkung elektromagnetischer Felder vollbracht werden: Ein neues temporäres Speichermedium – eine neue Differenz zwischen Speicher und Archiv.7 Denn in der Moderne sind nicht bloß technische Speicher erfunden worden, die bestimmte Aspekte des Realen in seiner kontingenten Streuung permanent aufzeichnen: wie z.B. die unlöschbaren Fotografien8 und Filme oder die ebenso unlöschbaren Walzen, Schellack- und später Vi-
7 Deren Ursprung man letztlich bei Hans Christian Oersted ansetzen kann, der 1820 – also 25 Jahre nach Goethes Elegie – mithilfe eines Kompasses den Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus entdeckte. Diese Entdeckung liegt bei allen Wandlungen letztlich Tonbändern, Videotapes und – über den Bruch analog/digital hinweg – Disketten und Festplatten zu Grunde. Vgl. auch Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 35: „[D]ie technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet.“ 8 Vgl. Hagen, Wolfgang: „Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung“, in: Herta Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2002, S. 195-235, hier S. 233: „Unmöglich, einen bereits belichteten Film wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Nicht also am ‚Referenten‘ des Bildes, sondern an der Irreversibilität belichteten Materials haftet das ‚Es-ist-so-gewesen‘ der Fotografie, ein Strukturverlust, fixiert durch die ‚Entwicklung‘ des Bildes“. Am Rande ist bemerkenswert, dass das größte Problem der Fotografie in ihrer Frühzeit gerade war, fixiert werden zu können – und so dem Verblassen zu entgehen (nur wäre dies kein Löschen im eigentlichen Sinne gewesen, da das verblasste Fotomaterial nicht hätte wieder beschrieben werden können. Außerdem erfolgt das Verblassen/Löschen unabsichtlich und ist nicht gewünscht).
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nylplatten des Phonographen, Grammophons und Plattenspielers.9 Es hat – mit einer gewissen, zunächst oft technisch bedingten Verzögerung10 – die massive Entwicklung von (potenziell) temporären Speichern gegeben: Tonband, Video etc. und später die löschbaren digitalen Aufzeichnungsmedien (wie z.B. Disketten, Streamer, CD-RWs, etc.).11 Und auch zwischen der Schreibmaschine und jeder Version von Microsoft Word klafft die Differenz, dass wir im ersten Fall bei jedem Fehler umständlich mit TippEx herumfuchteln müssen: Vor allem deswegen ist ein Rechner unter Word – frei nach einem Wort Kittlers – die bessere Schreibmaschine. Jedes unlöschbare technologische Medium scheint ein löschbares Double zu besitzen und: Die Unterscheidung permanent/löschbar steht offenbar quer zu der analog/digital. Jedenfalls hat es wohl noch nie so viele löschbare Medien, d.h. temporäre Speicher, wie im 20. Jahrhundert gegeben – mit Martin Warnke könnte man das viel beschworene Internet als Apotheose gerade nicht des Archivs, sondern des temporären Speichers ansehen.12 Und im 20. Jahrhundert zeigt sich dann auch die Relevanz des Löschens – z.B. in der Psychoanalyse: Noch vor der Erfindung der elektromagnetischen Speicher bezog sich Freud 1925 in seiner, bezeichnend so genannten, Notiz über den Wunderblock13 auf eine heute nicht mehr sehr verbreitete – aber mir aus dem Kinderzimmer noch bekannte – Aufzeichnungstechnik als Modell des psychischen Apparats. Der Wunderblock, eine von mehreren Folien bedeckte Wachstafel, ermöglicht die Speicherung von Information, er ist sofort wieder löschbar – und das ist die Pointe an Freuds Überlegungen, er lässt Spuren der Aufzeichnung trotz der Löschung zurück. Für Freud konnte dieses Phänomen der Remanenz als Metapher des Unbewussten operieren – Derrida pointiert dies in seiner 9 Vgl. Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 35173. Auf S. 162-171 thematisiert Kittler zwar das Tonband, ohne jedoch seine gegenüber fonografischen Walzen oder Schallplatten fundamentale Eigenschaft der Löschbarkeit zu erwähnen. 10 Z.B. mussten erst so verschiedene Entwicklungen wie neuartige Trägermaterialien (Acetylzellulose, 1928), der ringförmige Magnetkopf (1933) und die Hochfrequenz-Vormagnetisierung (1940) zusammenkommen, um funktionsfähige Tonbandgeräte zu entwickeln. 11 Es gibt auch unlöschbare digitale Medien, wie CD-Roms und andere ‚gebrannte‘ Speicher, die wieder mit einer irreversiblen physischen Veränderung des Trägermaterials arbeiten. 12 Vgl. Warnke, Martin: „Digitale Archive“, in: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hrsg.): Archivprozesse: Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 269-281, insb. S. 271-273. 13 Freud, Sigmund: „Notiz über den Wunderblock“, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 11, Nr. 1 (1925), S. 1-5.
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Freud-Lektüre mit dem Satz: „Die Wachstafel stellt in der Tat das Unbewußte dar.“14 Zwar hatte schon Sokrates in Platons Dialog Theaitetos die Wachstafel als Metapher des Gedächtnisses bemüht,15 doch könnte die Wiederaufnahme dieser Metapher im 20. Jahrhundert mit der gleichzeitigen Akzentverlagerung auf die Dialektik von Löschen (im Theaitetos ist eher vom Verblassen der Spuren die Rede) und Bewahren symptomatisch sein.16 Denn die von Freud als Charakteristik des Unbewussten angegebene Remanenz von eigentlich gelöschten Spuren ist das zentrale Problem jeder Löschung, welches heute ganz neuartige Behörden und Industrien der Datenrettung (data retrieval oder data recovery) bzw. Techniken wirklich vollständiger Löschung hervorbringt.17 Daher spezifiziert 14 Derrida, Jacques: „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 51992, S. 302-350, hier S. 341 und auch S. 338. 15 Vgl. Platon, Theaitetos, 191c, d (Platon: Phaidros. Theaitetos, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. VI, Karlheinz Hülser (Hrsg.), Frankfurt a.M./ Leipzig 1991, S. 307). 16 So bemerkt Aleida Assmann in Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (München 1999, S. 158): „Noch nachhaltiger gibt die exakte Korrespondenz von Technikgeschichte und Gedächtnistheorie zu denken. Solange die Analogmedien Photographie und Film ihre Bilder über Spuren in materielle Träger eingravierten, dominierte in der Gedächtnistheorie von Proust bis Warburg bis Freud die Auffassung von der Festigkeit und Unauslöschbarkeit der Gedächtnisspuren. Im Zeitalter der digitalen Medien, die in nichts mehr gravieren, sondern Schaltungen koordinieren und Impulse fließen lassen, erleben wir bezeichnenderweise ein Abrücken von solchen Gedächtnistheorien. Gedächtnis wird nun nicht mehr als Spur und Speicher, sondern als eine plastische Masse betrachtet, die unter wechselnden Perspektiven der Gegenwart immer neu geformt wird.“ Zu diesen wichtigen und richtigen Anmerkungen seien drei Ergänzungen erlaubt: Erstens ‚gravieren‘ manche digitale Medien sehr wohl noch – etwa in CD-Roms. Zweitens wichtiger noch endet die ‚Unauslöschbarkeit‘ eben lange vor den Computern in Tonbändern und Videotapes. Und drittens sei die theoretische Anmerkung gemacht, dass von ‚Unauslöschbarkeit‘ bei Freud, der das Gedächtnis ja in gewisser Weise durchaus als ‚plastische Masse‘ sah, allein nicht die Rede sein kann – die Metapher des Wunderblocks dient ja genau dazu, Bewahrung und Löschung gleichzeitig zu denken. 17 Vgl. Schmundt, Hilmar: „Verräterische Magnetspuren. Speicher von Computern, Digitalkameras oder Kopierern werden meist unzureichend gelöscht – vertrauliche Daten lassen sich leicht rekonstruieren“, in: Spiegel, Nr. 52, 20.12.2003, S. 144/145, hier S. 145: „‚Um einen Datenträger richtig zu löschen [...] müsste man die Festplatte tiefenlöschen.‘ Tiefenlöschen bedeutet, dass Festplatten mit eigens errechneten Zufallszahlen überschrieben werden – ‚über 30-mal‘, so Pfitzner. Andere Experten meinen, dass auch zehn
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die als Motto zitierte DIN-Norm so peinlich genau die Löschdämpfung18 zu löschender schutzbedürftiger Daten: Wird wirklich gelöscht, was gelöscht werden soll? Gerade darauf wird zurückzukommen sein. Aber auch in Turings Gedankenexperiment einer universellen Rechenmaschine von 1936/37 als logischem Urmuster aller digitalen Computer zeigt sich die Bedeutung des Löschens. Die Maschine schreibt nicht nur Zeichen: „In anderen Zuständen tilgt [...] sie das Symbol“19 – freilich ohne gleich das als Medium zu Grunde liegende Papierband zu vernichten. Diese logische Struktur gilt auch für heutige Computer: Register und Speicherplätze müssen auch wieder freigeräumt werden können – andernfalls sind algorithmische Operationen nicht ausführbar. Ein weiterer namhafter Diskurs, dem man die implizite Verbindung mit löschbaren Speichern nachrechnen könnte, ist, wie schon angedeutet, die Systemtheorie: Luhmann, der die Medium/Form-Unterscheidung 1986 in sein Modell einführt,20 beschreibt das ‚Medium‘, welches „eine gewisse Viskosität“21 aufweist und so temporär Formen aufnimmt, expli-
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Löschvorgänge reichen würden. Unstrittig ist: Eine solche Prozedur kann bei großen Festplatten mehrere Tage dauern. Wenn es um wirklich wichtige und sensible Daten geht, raten Experten daher zu anachronistisch anmutenden Brachialmethoden: physische Vernichtung durch Zerschneiden, Verbrennen, Schreddern.“ Mit Dank an Nicola Glaubitz. Es gibt allerdings auch Autoren, die hervorheben, dass eine einmalige, vollständige Überschreibung der Festplatte z.B. mit Nullen völlig ausreichend ist, vgl. Bremer, Lars/Vahldiek, Axel: „Auf Nimmerwiedersehen. Dateien richtig löschen“, in: c’t, Heft 5 (2003), S. 192/193. Mittlerweile existieren ganze Industrien, die sich auf die – u.U. extrem kostspielige – Rekonstruktion scheinbar unwiederbringlich verlorener oder vorsätzlich in vertuschender Absicht gelöschter Daten spezialisiert haben, vgl. etwa http://www.datarecovery.net/, 25.12.2003. Vgl. auch Ahrendt, Jens: „Ausgedreht. Hardwarenahe Datenrettung in Speziallabors“, in: c’t, Heft 5 (1997), S. 208-217 und Rabanus, Christian: „Die Profis. Datenrettung in Speziallabors“, in: c’t, Heft 6 (2000), S. 130-137. D.h. in diesem Beispiel das Verhältnis des Wiedergabepegels des voll ausgesteuerten Magnetbandes zu dem des gelöschten Magnetbandes. Turing, Alan: „Über berechenbare Zahlen mit einer Anwendung auf das Entscheidungsproblem“ [1937], in: ders.: Intelligence Service. Schriften. Bernhard Dotzler/Friedrich Kittler (Hrsg.), Berlin 1987, S. 17-60, hier S. 21, siehe auch S. 27, 29 und insbesondere 35, wo es explizit heißt: „Die Maschine [...] löscht alle x- und y-Buchstaben.“ Vgl. Luhmann, Niklas: „Das Medium der Kunst“, in: Delfin, Jg. 4, Nr. 1 (1986), S. 6-16. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 53.
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zit mit der „Metapher der Wachsmasse [...], auf der Einzeichnungen möglich sind und gelöscht werden können“22. So scheint es ohne Löschen nicht nur bestimmte Aspekte der Psychoanalyse nicht zu geben, sondern auch keine Computer und (einige Facetten der) systemtheoretischen Medientheorie. Vielleicht ist das Löschen eine zentrale epistemische Figur des 20. Jahrhunderts, was man nicht nur in den allzu vielen ‚ausgelöschten‘ Völkern und ‚ausradierten‘ Städten bestätigt finden mag: In Foucaults ebenso viel zitierter wie ominöser Ankündigung am Schluss der Ordnung der Dinge (1966), wird ‚der Mensch‘ mit einem vielleicht bald ausgelöschten Bild eines Gesichts im Sand am Meeresufer verglichen.23 Wie dem auch sei: Ausgehend von diesen Beobachtungen, müsste eine Geschichte des Löschens eine Reihe komplexer Fragen adressieren: Was kann zu einem gegebenen Zeitpunkt temporär gespeichert werden und was nicht? Welche Regeln bestimmen die Notiz, das Löschen und die Remanenz – was also gilt als notizwürdig, wer hat Zugang zu temporären Speichern, wer darf was wann löschen, was bleibt zurück, was darf nicht zurückbleiben?24 Was wird wie vorsätzlich unlöschbar gemacht?25 22 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 166. In Descartes Meditationes de prima philosophia von 1641 hatte die Wachsmasse noch eine völlig andere Bedeutung – dort geht es nicht um ihr Potenzial, löschbare Aufzeichnungen zu ermöglichen, sondern vielmehr um die substanzielle Identität des Wachses über alle Wandlungen hinweg (vgl. Descartes, René: Meditationes de prima philosophia. Lateinisch – Deutsch, Hamburg 1992, S. 52/53). 23 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1993, S. 462. Der Sand spielt auch für Luhmann, der das Medium als etwas beschreibt, was nicht nur eine gewisse Viskosität, sondern auch eine „gewisse Körnigkeit“ (Luhmann 1998, S. 53) aufweisen muss, eine Rolle: Jedenfalls ist ein beliebtes Beispiel für Luhmanns Medium/Form-Differenz der Fußabdruck (oder eben ein gezeichnetes Gesicht) des Menschen im Sand. Und Sand besteht nun (wie viele Gesteine) vorwiegend aus Siliziumdioxid (SiO2), also einem Rohstoff, aus dem jenes Silizium gewonnen wird, was den späteren (eingeschränkten) Realisationen von Turings Maschine in Form von Halbleitern – also fast allen heutigen Computern – zu Grunde liegt. Und gerade das Auftauchen digitaler Medien wird (ob nun zu Recht oder nicht) immer wieder mit dem ‚Verschwinden des Menschen‘ verbunden (z.B. bei Kittler, Friedrich: Die Nacht der Substanz, Bern 1989, S. 32). So schließt sich der Kreis. Vgl. auch Balke, Friedrich: „Celluloidbälle, Sand, Messer. Zur Bewirtschaftung des Medialen bei Fritz Heider und Niklas Luhmann“, in: Jörg Brauns (Hrsg.): Form und Medium, Weimar 2002, S. 21-38. 24 Vgl. Foucault, Michel: „Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie“, in: ders.: Schriften in vier Bänden, Bd. 1, Daniel Defert/François Ewald (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2001, S. 887-931,
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Wie wirkt das historisch auszuarbeitende Verhältnis zwischen Speicher und Archiv genau auf die Ökonomien des Diskurses und des Gedächtnisses? Wie hängt dieses Gefüge wiederum mit den herrschenden sozioökonomischen Formationen zusammen? Was passiert, wenn sich die Formen temporärer Speicher vervielfachen und überdies immer mehr Menschen zugängig sind, wie das im 20. Jahrhundert geschah? Hier kann nur eine Annäherung an eine Antwort – oder vielleicht besser: die Präzisierung einiger Fragen – gegeben werden. Es wird um ein Medium gehen (1956), dessen Bilder von vornherein auf Löschbarkeit angelegt waren: Video; es wird um ein Kunstwerk gehen (1953), das manche Fragen schon thematisiert hat. Und es wird um die Ausweitung des Löschens auf die Technik der Texterstellung gehen (1965). Eine gewisse Heterogenität scheint angesichts der weiten Frage nach dem Löschen unvermeidbar. *** Die ersten elektromagnetischen Speichermedien dienten der Aufzeichnung von in elektrische Ströme umgewandelten Luftschwingungen, also Tönen. Ein auf einem magnetisierten Draht basierendes Verfahren dafür wurde 1898 von Valdemar Poulsen patentiert und immerhin 1900 auf der Pariser Weltausstellung prämiert. Doch das Verfahren war von geringer Klangqualität. Nach der Entwicklung des mit magnetisierbaren Emulsionen beschichteten Bandes und eines neuen Aufzeichnungskopfes konnte 1935 AEG auf der Funkausstellung in Berlin sein Magnetophon K-1 vorstellen. 1940 wurde die Hochfrequenz-Vormagnetisierung erfunden, die erst die Aufzeichnung in heute üblicher Klangqualität ermöglichte. Nach 1945 und dem Erlöschen aller deutschen Patente erfuhr die zuvor in den USA eher stiefmütterlich behandelte Entwicklung der Tonbandtechnik einen Aufschwung. Major Jack Mullin ließ bei Kriegsende im geschlagenen – ‚(aus)gelöschten‘ – Tausendjährigen Reich vier Tonbandgeräte K4 beschlagnahmen. So verfügte bald die damals noch kleine Firma Amhier S. 902: „Ich werde als Archiv nicht die Totalität der Texte bezeichnen, die für eine Zivilisation aufbewahrt wurden, noch die Gesamtheit der Spuren, die man nach ihrem Untergang retten konnte, sondern das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und das Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung [...] bestimmen“ (Hervorhebung J.S.). Vgl. auch „Einleitung“ in diesem Band. 25 Hier müsste man das Geflecht von Techniken und Diskursen entwirren: So könnte man einerseits auf die von Audio-, Videocassetten und Disketten bekannten Löschschutzlaschen verweisen. Andererseits auf all die Regeln – bis hin zu polizeilich durchgesetzten Verboten – die ein vielleicht mögliches Löschen schlicht verbieten.
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pex über das notwendige Wissen, um praktikable Tonbandgeräte zu entwickeln. Die Aufzeichnung elektronischer Bildinformation ist auf Grund des hohen Frequenzumfangs (der Bandbreite) von Videosignalen schwieriger als die von Tönen. Aber mit der Expansion der Fernsehindustrie – zwischen 1948 und 1955 sprang der Anteil der amerikanischen Haushalte, die einen Fernseher besaßen, auf über fünfzig Prozent – wurde die elektromagnetische Aufzeichnung von Bildern immer dringlicher: Die Fernsehproduzenten benötigten ein Medium, mit dem man Sendungen aufzeichnen konnte, um sie zeitverzögert zu senden; mit dem es möglich war, Berichte vom Tage einzuspielen26 etc. Zunächst wurde dafür Film (‚Kinescope recording‘27) genutzt. Abbildung 1: Kinescope vs. Elektromagnetische Aufzeichnung. Das unten stehende Bild zeigt den auf Film basierenden Prozess. Ohne technische Details erläutern zu müssen, ist offenkundig, dass der unten dargestellte videografische Prozess erheblich einfacher ist.
Doch die Entwicklungszeit der Filme kollidierte mit den Aktualitätsforderungen des Fernsehens. Und die Tatsache, dass man Filme, die etwa 26 Vgl. auch den Beitrag von Joseph Garncarz in diesem Band. 27 Es gab eine eigenartige Technik, der „Zwischenfilmsender“ der Fernseh AG von 1933, in der man versuchte, Filmmaterialien durch Löschung zu sparen. Der Film war in der Apparatur als Endlosschleife angeordnet. Nachdem er seinen Zweck als Zwischenspeicher von Bildern erfüllt hatte, wurde die Emulsion vom Zelluloid automatisch abgewaschen (!), das Trägermaterial dann neu beschichtet und der Film konnte wieder eingesetzt werden. Dieses Verfahren vergeudete aber noch immer Emulsion und lieferte zu schlechte Bildqualität, um für die amerikanische Fernsehindustrie brauchbar zu sein. Vgl. Zielinski, Siegfried: Zur Geschichte des Videorecorders, Berlin 1986, S. 62/63.
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für ein aktuelles Ereignis genutzt worden waren, nicht mehr wiederverwenden konnte, trieb die Kosten in die Höhe. Um 1954 verbrauchten die Fernsehanstalten mehr Film als Zwischenspeicher als alle HollywoodStudios für ihre Spielfilme. Unlöschbarkeit ist teuer. Nicht verwunderlich daher, dass die Bing Crosby Enterprises, die BBC, RCA und andere seit etwa 1948 forciert versuchten, ein magnetisches Bildaufzeichnungsverfahren zu entwickeln. Es gelang schließlich Ampex: Am 14. April 1956 enthüllten sie den Ampex Mark IV, der dank zweier neuer Verfahren28 der erste brauchbare Videorecorder der Welt war. Abbildung 2: Das Entwicklerteam von Ampex mit dem Mark III, 1957
Der Markterfolg war durchschlagend. *** Benjamin sah in den technischen Reproduktionsmedien bekanntlich revolutionäre und demokratisierende Potenziale angelegt, die die Zwangsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft aufzulösen im Stande seien. 28 Diese Verfahren waren erstens die Querspuraufzeichnung, d.h. die Aufzeichnung der Signale nicht längs der Bandrichtung, was angesichts des Frequenzbereichs von Bildsignalen unglaublich hohe Bandgeschwindigkeiten erfordert hätte, sondern – durch eine rotierende Kopftrommel, auf der mehrere Schreibköpfe sitzen – quer zum Band. So kann ohne extremen Bandverbrauch eine ausreichend hohe relative Schreibgeschwindigkeit zwischen Kopf und Band erzielt werden (später wurde die Quer- durch die Schrägspuraufzeichnung abgelöst, die es ermöglicht, pro Spur einen Frame aufzuzeichnen, z.B. um saubere Standbilder zu erzeugen). Zweitens nutzten die Ampex-Ingenieure eine neuartige Frequenz-Modulation. Vgl. zu den technischen Details der Videoaufzeichnung Webers, Johannes: Handbuch der Film- und Videotechnik, Poing 2000, S. 424-531; zum Löschvorgang vgl. S. 440-442.
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Doch schon Adorno argumentierte in einem Briefwechsel mit Benjamin,29 dass die Reproduktionstechniken selbst im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsform entstanden waren – die von den Fernsehanstalten aus ökonomischen Gründen nachgerade erzwungene Entwicklung von Video scheint das zu bestätigen. So kann man die Geschichte der technologischen Bildmedien auch als zunehmende Industrialisierung des visuellen Feldes beschreiben,30 die zunächst in der Emanzipation der visuellen Information von ihren materiellen Referenten besteht: Sir Oliver Wendell Holmes schrieb schon 1859 über seine Erfahrungen mit der stereoskopischen Wiedergabe fotografischer Bilder: Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt. [...] Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – mehr brauchen wir nicht. Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will. [...] Materie in großen Mengen ist immer immobil und kostspielig; Form ist billig und transportabel.
Das heißt auch: die Ansicht ist nun abgelöst von ihrer trägen Materialität und kann auf dem Markt zirkulieren: „Schon reist ein Arbeiter mit Stereo-Bildern von Möbeln durch die Lande, die die Kollektion seiner Firma zeigen und holt auf diese Weise Aufträge ein.“31 Doch die Fotografie liefert selbst noch materielle Bildobjekte, die – wie Holmes’ Verweis auf den reisenden Vertreter zeigt – von Reisenden an Zielorte transportiert werden müssen. Durch Abtastung in elektrische Signale transformierte Bilder umgehen dieses Problem: Sie sind (im Prinzip) überallhin übertragbar. So ist es wohl kein Zufall, dass die ver-
29 Abgedruckt in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I, 3, Frankfurt a.M. 1974, S. 1000-1006. 30 ‚Industrialisierung des visuellen Feldes‘ kann zweierlei bedeuten: Erstens die industrialisierte Herstellung von Bildträgern, die so z.B. bestimmte gespeicherte Ausschnitte des Visuellen reproduzierbar und distribuierbar machen. Zweitens bedeutet diese Entwicklung die Standardisierung bestimmter Wahrnehmungsformen. Ich blende im Folgenden die drittens ebenso wichtigen Funktionen technologischer Bilder für Disziplinartechniken im Sinne Foucaults aus. 31 Holmes, Sir Oliver Wendell: „Das Stereoskop und der Stereograph“, in: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie, Bd. I 1839-1912, München 1983, S. 114-122, hier S. 119. Der Text erschien erstmals als: „The Stereoscope and the Stereograph“, in: Atlantic Monthly, No. 3 (1859), S. 733-748, hier S. 747/748 (gilt auch für das eingerückte Zitat). Die Stereoskopie war etwa zwischen 1850 und 1880 eine der dominanten Weisen, in denen fotografische Bilder rezipiert wurden. Auf die besonderen Implikationen des Stereoskops kann hier nicht eingegangen werden.
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schiedenen Entwicklungen im Bereich der Telefonie, Telegrafie und Bildtelegrafie (Abb. 3) in der Zeit des europäischen Imperialismus – den sie einerseits ermöglichten, von dem sie andererseits aber auch begünstigt wurden – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden.32 Abbildung 3: Bakewells Bildtelegraf, 1851. Das erste praktikable Verfahren zur telegrafischen Übertragung von Bildinformation, d.h. ihrer Umwandlung in elektrische Signale33
D.h. die Industrialisierung des Sehens trennt nicht nur die visuelle Information vom Referenten, sondern zunehmend auch vom Träger. Sie wird, um ihrer letztlich totalen Mobilmachung willen, dematerialisiert. Mit Video werden die Bilder überdies direkt in einer übertragbaren, elektromagnetischen Form erzeugt und gespeichert. Und sie sind seitdem auch löschbar: Man spart Bildträgermaterial und kann es vermeiden, ‚nutzlose‘ Archive anzuhäufen (obwohl es natürlich allen freisteht, auch 32 Vgl. Neuburger, Albert: Von Morse bis Marconi: die Telegraphie und ihre Rolle im Dienste der Weltwirtschaft und Weltpolitik, Berlin 1920. Vgl. dazu noch immer Innis, Harold: Empire and Communications, Oxford 1950. 33 Spätere Verfahren zur Umwandlung von Bildinformation oder Licht (was keineswegs das Gleiche ist, wie gerade Bakewells Dispositiv sehr deutlich zeigt) in Strom (Videoröhren, CCDs) arbeiten natürlich völlig anders. Bakewells Bildtelegraf ist einfach das erste praktikable Verfahren (1843 hatte Bain bereits einen Vorläufer vorgestellt), welches diese Transformation leistete. Vgl. zur Bildtelegrafie generell noch immer Korn, Arthur: Bildtelegraphie, Berlin/Leipzig 1923. Zu anderen Bildwandlern vgl. Webers 2000, S. 143-150. Zur Genealogie der CCDs vgl. auch Hagen 2002.
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löschbare Speichermedien zu gigantischen Archiven aufzutürmen – nur dafür ist Video auf Dauer nicht wirklich geeignet). Die Bilder sollen rasch verwertbar sein, ohne Altlasten zu hinterlassen; an sich scheinen sie keinen Wert mehr zu haben, sie sind so austauschbar wie das Geld, mit dem Sir Oliver Wendell Holmes explizit bereits die Fotografie verglich.34 Eine Funktion des Löschens von Bildern kann also sein, neuem Bilderkonsum Platz einzuräumen. Entgegen Benjamins Medienoptimismus drängt sich der Verdacht auf, als kämen die von ihm so genau beobachtete Reproduzierbarkeit und „Flüchtigkeit“35 der technologischen Bilder einer zunehmenden Anpassung der ehemals so auratischen und materiell trägen Bilder an den von Marx und Engels präzise beschriebenen Zwang des Kapitalismus, „alle festen“ Zustände „aufzulösen“ und zu „verdampfen“,36 gleich. Schon deswegen dürfte der Markterfolg der Videotechnik nicht überraschen. Und diese Verdampfung bedeutet zugleich die Löschung von Arbeit: Mit Video (und auch in einigen Formen der späteren digital-elektromagnetischen Speichermedien) wird die Arbeit der Löschung auf ein Minimum reduziert. Keine quälende Radiererei. Es bedarf bei Video im Prinzip nur eines einzigen Löschkopfes, die magnetisierbaren Teilchen in der Emulsion wieder in ihren ungeordneten Zustand zurückzuversetzen, während das Schreiben des Bildes mehrere Köpfe auf der Kopftrommel benötigt.37 Man könnte formulieren, dass das Videobild der Vernichtung von Arbeit zumindest dienen kann – denn wie mühe- und liebevoll der Dreh auch war, eine neue Aufnahme genügt und alles ist gelöscht. So gesehen ist die Löschung der Arbeit (zu Gunsten der Wiederverwendbarkeit des Trägers) eine Arbeit aller löschbaren Medien.38
34 Vgl. Holmes 1983, S. 120. 35 Vgl. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Zweite Fassung“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I, 2, Frankfurt a.M. 1974, S. 471-508, hier S. 479. 36 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, Peking 1970, S. 36/37 (ursprünglich 1848 erschienen). 37 Bei aufwändigeren Videorecordern gibt es mehrere Löschköpfe auf der Kopftrommel, was einen sauberen Insert-Schnitt ermöglicht. 38 Es ist am Rande bemerkenswert, dass die Veränderung des Wertes der Arbeit auch in den frühen Texten zur – natürlich unlöschbaren – Fotografie eine Rolle spielten, vgl. Talbot, William Henry Fox: „Some Account of the Art of Photogenic Drawing, or, The Process by Which Natural Objects May Be Made to Delineate Themselves without the Aid of the Artist’s Pencil“ [1839], in: Beaumont Newhall (Hrsg.): Photography: Essays and Images. Illustrated Readings in the History of Photography, New York 1980, S. 2331, hier S. 24: „[F]or the object which would take the most skilful [sic] ar-
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Abbildung 4: Eggleston, William, ein Foto aus The Louisiana Project (1980) 39
William Burroughs schildert in seiner wunderbaren Erzählung Die letzte Vorstellung von 1976 eine Stadt, die aus abgenutzten Fotos errichtet ist: Bei näherem Zusehen erweist sich, daß auch die Häuser aus alten Fotos bestehen, die zu Blöcken gepreßt sind und einen violetten Dunst verströmen, der die Räume und Straßen und Terrassen dieser toten Müllkippe der Vergangenheit erfüllt – eine statische Welt, schal und abgestanden wie das Gras und der Himmel auf einer al40 ten abgegriffenen Ansichtskarte.
Die so beschworene Anhäufung von industriell produzierten Bildern hat Kracauer schon 1927 als Bedrohung für das kollektive Gedächtnis beschrieben. In Bezug auf den Anspruch von Fotografien in illustrierten Zeitschriften, an die abgebildeten Gegenstände, Personen und Ereignisse, ihre „Urbilder“ also, zu erinnern, schrieb er: In Wirklichkeit aber wird der Hinweis auf die Urbilder von der photographischen Wochenration gar nicht bezweckt. Böte sie sich tist days or weeks of labour to trace or to copy, is effected by the boundless powers of natural chemistry in the space of a few seconds.“ 39 Egglestons Arbeit passt im Ganzen kaum zu einer Genealogie des Löschens – das Bild sei hier nur gestattet, weil es so wunderbar den im Folgenden andiskutierten ‚Foto-Müll‘ zum Thema macht. 40 Burroughs, William S.: Die alten Filme, Frankfurt a.M. 1983, S. 106.
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dem Gedächtnis als Stütze an, so müßte das Gedächtnis ihre Auswahl bestimmen. Doch die Flut der Photos fegt seine Dämme hin41 weg.
Möglich wäre, dass das analog-elektromagnetische, löschbare Bild nicht nur eine weitere Stufe der Industrialisierung des Sehens, sondern auch schon eine Antwort auf die mit den fotografischen Massenmedien verbundene Anhäufung von Bildern und Bildermüll – der ‚toten Müllkippe der Vergangenheit‘ – darstellt. Man muss die Zeichen auch wieder loswerden können. Videobilder kann man nicht nur löschen, ihr Träger ist auch weniger haltbar als der fotografischer Bilder, weswegen Videos sich zur Errichtung permanenter Archive nicht wirklich eignen.42 Generell ist zu beobachten, dass die Lebensdauer der Träger in vielen Fällen abnimmt, während die Datendichte der Speicher und damit das Risiko von Datenverlust zunimmt.43 Die Flüchtigkeit der Aufzeichnungen und d.h. auch der aufgezeichneten Bilder scheint parallel zu ihrer schieren Menge, Wiederholbarkeit, Erreichbarkeit, Verfügbarkeit zu steigen – vielleicht einfach deshalb, weil sonst ein Kollaps der Gedächtnis-Ökonomie droht. Schon Nietzsche warnte in diesem Sinne vor einer alles erstickenden ‚antiquarischen Geschichtsschreibung‘.44 Mindestens in diesem Sinne könnte man sagen, dass „Entropie [...] die andere Seite des Archivs“45 ist. Das Hauptproblem ist gerade im Zeitalter digitaler Netze, dass unter der Flut verfügbarer Daten relevante Information kaum noch zu finden ist.46 Das (ob nun beabsichtigte oder versehentliche) Löschen und/oder der Zerfall von Information hätten sozusagen eine gedächtnis41 Kracauer, Siegfried: „Die Photographie“ [1927], in: ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1963, S. 21-39, hier S. 34. 42 Wie man etwa auch an den Diskussionen um die Musealisierung der Videokunst sehen kann. 43 Vgl. Zimmer, Dieter E.: „Das große Datensterben. Von wegen Infozeitalter: Je neuer die Medien, desto kürzer ist ihre Lebenserwartung“, in: Die Zeit, Nr. 47, 18. November 1999, S. 45f. Ein anderes Problem ist gerade bei digitalen Daten, dass die Datenformate und die Lesegeräte mit der Zeit veralten – wer kann heute noch eine 5 1/4-Zoll-Diskette lesen? 44 Vgl. Nietzsche, Friedrich: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ [1874], in: ders.: Unzeitgemässe Betrachtungen (Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Bd. 2), Stuttgart 1964, S. 95-196, insb. S. 123. 45 Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002, S. 126. Vgl. auch Richards, Thomas: The Imperial Archive, Knowledge and the Fantasy of Empire, London/New York 1993, S. 73-109. 46 Vgl. Vf.: „8448 verschiedene Jeans. Zu Wahl und Selektion im Internet“, in: Friedrich Balke/Gregor Schwering/Urs Stäheli (Hrsg.): Paradoxien der Entscheidung. Wahl/Selektion in Kunst, Literatur und Medien, Bielefeld 2004, S. 117-138.
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ökologische Funktion – Winkler hat folglich ein Äquivalent zum Vergessen, also: Verdichtung und Verschiebung, für die Datennetze gefordert.47 Angesichts der Inflation verschiedenartigster Bilder und ihrer immer geringeren Haltbarkeit wird die Arbeit der Historiker und Archivare immer schwieriger und immer teurer. Aber was bleibt, was wird gelöscht und was zerfällt? So mag die Flüchtigkeit direkt in eine Art marktgesteuerten Darwinismus der Bilder münden. Ich verweise nur auf eine Untersuchung Geoffrey Batchens, der – auch unter Bezug auf Benjamin – vor einer Monopolisierung des visuellen Teils der politischen Geschichte und der Kunstgeschichte in ihrer elektronischen Web-Form durch Konzerne wie Corbis warnt.48 Folglich taucht unvermeidlich die Frage wieder auf, wer über das Archiv gebietet, wer Löschung verhindern, gestatten oder gar befehlen kann (die nationalsozialistische Bücherverbrennung ist ein ebenso barbarisches, wie gegenüber dem Stand der Medientechniken schon damals fast atavistisches Beispiel). Und genauer noch: Wer entscheidet, welche löschbaren und/oder zerfallenden Bilder in unlöschbare überführt werden sollen und welche nicht? Diese Frage würde detaillierte Analysen entsprechender Diskurse und Institutionen voraussetzen. Das kann hier nicht geleistet werden. Man sollte sich aber keinesfalls mit dem stillen Verlöschen, einem marktgesteuerten Darwinismus der ‚schwachen‘ Bilder begnügen. Man könnte dem die (dann doch Benjamin’sche) Utopie einer anders organisierten Löschung, Bewahrung und Umordnung des visuellen Archivs entgegenstellen, die eine andere Gedächtnis-Arbeit mit den Bildern betriebe. Diese Alternative könnte sich in der Kunst zeigen.49 Doch hier ist das Thema nicht das (wenn möglich) auf unlöschbaren Medien50 beruhende Archiv als solches. Thema ist das Löschen, welches die Frage, was zum Archiv gehören kann und soll, mit neuer Dringlichkeit stellt.
47 Vgl. Winkler, Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München 1997, S. 172-184. 48 Vgl. www.corbis.com, 15.3.2004 und dazu Batchen, Geoffrey: „Photogenics/Fotogenik“, in: Camera Austria, Nr. 62/63 (1998), S. 5-16. 49 So hat sich etwa Gerhard Richter in seinem Atlas mit den Problemen von Fotografie, Archiv und Gedächtnis auseinander gesetzt, vgl. Buchloh, Benjamin H.D.: „Gerhard Richters Atlas: Das anomische Archiv“, in: Herta Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2002, S. 399-427. Es sei offen gehalten, ob sich nicht auch in anderen – z.B. populären Praktiken – widerständige Formen des Archivierens oder des Löschens etabliert haben könnten. 50 Das Archiv kann auch auf löschbaren Medien beruhen, deren Löschung jedoch verboten ist.
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Aber wie sollte sich die Kunst mit dem Löschen beschäftigen? Als erstes Problem drängt sich auf, dass etwas Gelöschtes ja verschwunden ist und als aisthetisches Phänomen gerade nicht mehr thematisiert werden kann. Und so erscheint es sofort als schwierig, ein Beispiel aus der Videokunst zu finden, was nach dem bisher Gesagten nahe liegend wäre. Denn die Remanenzen elektronischer Löschung bei Video sind – außer für data retrieval-Experten – schlechthin unwahrnehmbar. Vielleicht muss man erstens gerade da nach einer Reflexion des Löschens suchen, wo die Remanenzen noch nicht die Wahrnehmung der Leute unterlaufen; oder dort, wo das Gelöschte als Loch in einem Gefüge ex negativo anschaulich wird.51 Aber es könnte noch einen anderen Grund geben, warum sich aus der Videokunst kein gutes Beispiel empfiehlt – jedenfalls ist mir keines eingefallen: Das zwingende Bemühen jener KünstlerInnen, die mit dem flüchtigen Videobild arbeiten, muss es sein, ihre Aufzeichnungen in die Permanenz des musealen Archivs zu überführen.52 Gerade der Druck des Kunstsystems führt bei Video zur Verdrängung der medienspezifischen Löschbarkeit. Eine künstlerische Selbstreflexion dieses Aufzeichnungsmodus scheint es kaum geben zu können (obwohl Video von manchen frühen Videokünstlern wegen seiner Flüchtigkeit gerade als Affront gegen die ‚auratisierte‘ Kunst begrüßt wurde – aber in dem Moment, zu welchem sie vom musealen Diskurs heimgeholt werden, kann es zu einem Imperativ werden, den Videotapes Haltbarkeit zu verleihen). Vielleicht muss man zweitens da nach einer Reflexion des Löschens suchen, wo sie sich nicht als Medienspezifik, und damit als Problem des muse-
51 Hier könnte man an die, einem ständigen Prozess des Ausradierens und Neuüberzeichnens unterliegenden, Zeichnungen-für-Projektion von William Kentridge denken, vgl. Krauss, Rosalind: „The Rock. William Kentridges Drawing’s Drawings for Projection“, in: October, Nr. 92 (2000), S. 3-35. Und mehr noch drängt sich die Arbeit von Paul Pfeiffer auf, der in jüngster Zeit Videofilme von wichtigen Boxkämpfen Muhammad Alis herstellte, auf denen Ali und seine Gegner vollständig wegretuschiert wurden. Der Vf. bereitet darüber einen weiteren Aufsatz vor. 52 Auf ein Beispiel, bei dem zwar nicht mit Video, jedoch mit löschbarem Tonband gearbeitet wird, hat mich Claire Zimmer hingewiesen. Christine Kozlov nutzte bei ihrer Arbeit Information: No Theory (1970) ein Tonbandgerät, auf dem eine Endlos-Bandschleife läuft, dazu, alle Geräusche im Ausstellungsraum aufzuzeichnen. Die aufgenommenen Geräusche werden durch die neuen Aufnahmen gelöscht und überschrieben („The nature of the tape loop necessitates that new information erases old information“), vgl. Goldstein, Ann/Rorimer, Anne (Hrsg.): Reconsidering the Object of Art, Los Angeles 1995, S. 154/155.
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alen Archivs, aufdrängt. Es gibt ein schönes Beispiel, welches beide Bedingungen erfüllt. *** Einem Fanal gleich radierte Robert Rauschenberg 1953, also am Vorabend des Auftauchens der elektromagnetisch-löschbaren Bilder, eine Zeichnung von Willem de Kooning aus – und nimmt dadurch manche Fragen, die erst mit den löschbaren Bildern entstehen werden, vorweg. Abbildung 5: Rauschenberg, Robert: Erased de Kooning Drawing (1953)
Zunächst scheint es sich schlicht um einen archiv-kritischen Akt zu handeln, war de Kooning doch einer der führenden Vertreter des so genannten ‚abstrakten Expressionismus‘, den junge Künstler wie Rauschenberg respektvoll zu überschreiten – oder zu überschreiben – suchten. Doch Rauschenberg bemerkte in einem Interview von 1976: „It wasn’t a gesture, it had nothing to do with destruction.“53 Zumal die Zerstörung des Bildes viel einfacher (etwa durch Verbrennen des Papiers) hätte durchgeführt werden können. Doch vier Wochen Arbeit investierte Rauschenberg, um die Bildinformation ohne Zerstörung des Trägers bis auf wenige Spuren zu löschen.54 Das unterscheidet Rauschenbergs – bezeich-
53 Zitiert unter: http://www.art.a.se/artvandals/08.html, 25.12.2003. 54 Vgl. Gamboni 1998, S. 278/279.
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nend so genannte – Arbeit nicht nur von jeder Übermalung (im Stile etwa Ad Reinhardts), sondern erst recht von der Negation der Arbeit im Videobild, obwohl seine Betonung der Differenz von Bildinformation und Träger wiederum auf die löschbaren Bilder vorauszuweisen scheint. So unterstreicht er zunächst, dass es an materiellen Eingriffen und nicht bloß an einem ‚natürlichen‘ (lies heute: marktförmigen) Prozess der Durchsetzung liegt, was gelöscht wird und woran wir uns in Zukunft überhaupt werden erinnern können. Doch das Erased de Kooning Drawing zeigt noch mehr: Durch eine sehr aufwändige Arbeit des Löschens erzeugt Rauschenberg Wert – eben ein ‚Werk‘ – auf der Basis der Transformation von Arbeit, eines Werkes (der de Kooning-Zeichnung). Unterstrichen wird dies durch den auffälligen, da mit Blattgold beschichteten und so Wert konnotierenden Rahmen, der laut einer Inschrift auf der Rückseite der Arbeit zum Werk dazugehört und nicht entfernt werden darf.55 So wird gerade der Wert der Arbeit bei der Transformation vergangener Arbeit thematisiert – etwas, das bei Wegwerfbildern zu leicht aus dem Blick gerät. Damit diese These stimmt, müsste allerdings sichergestellt sein, dass Rauschenberg wirklich eine de Kooning-Zeichnung ausradiert hat. Das kann einem fast leeren Blatt jedoch kaum angesehen werden; es könnte – allen Interviews zum Trotz – auch irgendetwas anderes gewesen sein. Doch: auf der Rückseite des Blattes befindet sich noch eine andere de Kooning-Zeichnung, die laut der Website des MoMA eben diese Herkunft verbürgen soll. Gerade das Nichtgelöschte gehört nicht zum Archiv, dokumentiert aber, dass das Gelöschte und Abwesende Teil desselben ist. Doch zugleich läuft ein Verdacht mit: Könnte nicht gerade das ausradierte Blatt ursprünglich die Rückseite des ‚eigentlichen‘ Werks gewesen sein, welches sich nun auf der anderen Seite befindet? Rauschenberg verwirrt die standardisierte Logik des Archivs, in das normalerweise gerade das Nichtgelöschte und/oder die ‚Vorderseite‘ eingehen.
55 Information laut: http://www.sfmoma.org/MSoMA/artworks/93.html, 15.3.2004.
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Abbildung 6: Rauschenberg, Robert: Erased de Kooning Drawing, 1953, Rückseite der Zeichnung.56
Bei der näheren Betrachtung des Erased de Kooning Drawing (Abb. 5) zeigt sich überdies, dass das Blatt eben nur fast leer ist. Bei Rauschenbergs Anwendung der Logik der flüchtigen Vorzeichnung oder der Notiz auf ein ‚Werk‘57, das übrigens selbst eine Zeichnung war, bleiben immer noch remanente Spuren zurück. Blassgraue, schemenhafte, verschlungene Linien suggerieren, Überreste der verschwundenen Zeichnung zu sein. Der Betrachter wird angehalten, nach Spuren de Koonings zu suchen, mithin wie die späteren data retrieval-Spezialisten Gelöschtes zu rekonstruieren. Und das wirft eine Frage auf: Was sind die minimalsten Spuren, die notwendig sind, um einen ‚de Kooning‘ zu bezeichnen? Das (künstlerische) Bild wird hier an den Rand seiner Existenzbedingungen geführt. Doch die Remanenzen zeigen noch mehr: Die weißliche ‚Wolke‘ auf dem Papier, eine kaum anwesende Spur, die das Abwesende bezeichnet, zeugt einerseits davon, welchen Strapazen das Trägermaterial ausgesetzt war: auch bildlich wird so die Arbeit des Löschens dokumentiert. Andererseits zeigt sie, dass mindestens eine minimale Remanenz vorlie56 Vgl.: http://www.sfmoma.org/MSoMA/artworks/93.html, 15.3.2004. 57 Die man vielleicht auch an Cy Twomblys palimpsestischen Überschreibungen und Radierungen ablesen könnte, vgl. Barthes, Roland: Cy Twombly, Berlin 1983, S. 19.
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gen muss, das Gelöschte als Loch auffallen muss, damit der Akt des Löschens und somit das Gelöschte als Gelöschtes überhaupt wahrgenommen werden kann. D.h. nur indem sie misslingt, kann die Löschung erscheinen. Dies demonstrieren auch die schwärzlichen und bräunlichen Flecken insbesondere am rechten Bildrand: Es ist schwer, alles Aufgezeichnete gründlich und vollständig zu löschen – es gibt also immer auch Spuren, die gewissermaßen ungewollt in das Archiv übergehen. Auf diese Weise thematisiert Rauschenberg einerseits in Minimalform die Ökonomie des Gedächtnisses. Denn dieses operiert, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene, gerade durch die Verschränkung der Verfahren der Notiz/Skizze, des Temporären, des Speichers, des Kurzzeitgedächtnisses und des Werkes, des Permanenten, des Archivs, des Langzeitgedächtnisses. Rauschenberg evoziert jene Verknüpfung des Löschens, der Remanenz und des Archivs, und die damit gegebene Torsion von Vorder- und Rückseite, die – wenn man so will – schon Freud in seiner Diskussion des Unbewussten und in den Metaphern des Wunderblocks unterstrichen hat.58 Andererseits deutet Rauschenberg – sicher in dieser Weise unintendiert – kaum 20 Jahre nach der Erfindung des Tonbands und am Vorabend des Auftauchens elektromagnetischer Bildspeicher auf jene Probleme der Datensicherheit voraus, die gerade dadurch auftreten, dass kaum eine Löschung wirklich alles löscht, mithin das Löschen ein Denunziatorisch-Unbewusstes hat. *** Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass bald danach – 1965 – das elektronische Löschen auch in die Organisation von Texten einzog. Dazu ist es notwendig, auf die Uranfänge der elektronischen Datenverarbeitung einzugehen. Im Juni 1945 erschien im Heft Nr. 176 des Atlantic Monthly Vannevar Bushs Aufsatz As We May Think. Bush koordinierte im Zweiten Weltkrieg die Nutzung der Wissenschaften für die Kriegsführung und stand dabei zeitweise mehr als 6.000 Wissenschaftlern vor. Dabei kam es genau zu den Problemen des Zugriffs auf Wissen und der Kommunikation zwischen Wissenschaftlern, für die Bush Lösungen vorzuschlagen sucht. Sein Ausgangsproblem bestand darin, inwiefern Wissenschaftler noch effektiv arbeiten können, wenn einerseits eine ständig wachsende
58 Vgl. Hombach, Dieter: „Katastrophentheorie und Psychoanalyse. Zur Topologie des Entzugs“, in: Georg Christoph Tholen/Michael O. Scholl (Hrsg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 137-156.
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Menge an Wissen und andererseits der Zwang zu immer größerer Spezialisierung zusammenkommen. Bush beklagt, dass die Methoden der Übertragung, Speicherung, Ordnung und Selektion des Wissens alt und inadäquat seien. Gegen diese traditionellen Methoden hält er die Technikfiktion MEMEX. An dieser – mit auf Mikrofilm gespeicherten Daten operierenden Anordnung – sollen hier nur zwei Aspekte herausgestellt werden. Erstens bemängelt Bush, dass die traditionelle Ordnung des Wissens vor allem durch die künstlichen und ineffektiven Indizierungssysteme geprägt sei. Dagegen hält er die ‚natürliche‘ Ordnung des menschlichen Denkens: It [= „human mind“] operates by association. With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of the brain [...]. The first idea, however, to be drawn from the analogy concerns selection. Selection by associa59 tion, rather than by indexing, may yet be mechanized.
Gegenüber der Selektion aus einem z.B. alphabetisch organisierten Archiv, in welchem inhaltlich völlig disparate Materialien in einer Kategorie verbunden sind, ist im MEMEX-Konzept entscheidend, dass jeder Benutzer eigene Querverbindungen zwischen Materialien aufbauen kann, indem auf den entsprechenden Mikrofilmvorlagen Markierungen aufgebracht werden. Die so entstehenden Vernetzungen sind auch für andere Benutzer des Archivs einseh- und ergänzbar. So soll im Laufe der Zeit eine völlig neue Form der Enzyklopädie entstehen, in der zusammengehörige Daten assoziativ verknüpft, mithin leicht auffindbar sind. Das menschliche Bewusstsein ist aber zweitens für Bush nicht nur Vorbild – es hat auch Mängel. Insbesondere das Vergessen, das Verblassen der einmal verknüpften Pfade (trails) zwischen verschiedenen Informationen soll im MEMEX (= Memory Extender) überwunden werden. So bahnt sich das Phantasma an, alles müsse auf immer in den assoziativ organisierten „Superenzyklopädien“ gespeichert werden. So spricht Bush am Schluss seines Aufsatzes vom anzustrebenden „world’s record“60, der alles Wissen umfassen soll. Jedoch ist weniger klar, wie die dann entstehenden gigantischen Archive beherrscht werden können. Denn in Bushs mentalistischem Konzept wird übersehen, dass das Vergessen in der Ökonomie des menschli59 Bush, Vannevar: „As We May Think“, in: Atlantic Monthly, Nr. 176 (1945), S. 101-108, hier S. 106. 60 Ebd., S. 108.
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chen Gedächtnisses eine wichtige Funktion erfüllt. Vergessenes wird nicht einfach gelöscht, sondern wird – wie die Psychoanalyse gezeigt hat – in Form von Verdichtung und Verschiebung aufgehoben: Die Vorstellung, praktisch unbegrenzte Quantitäten mit Hilfe einer neuen Zugriffstechnik dennoch beherrschen zu können, lebt von der Utopie, vollständig ohne Verdichtung auszukommen, ja, sie ist 61 ein Gegenmodell zu Verdichtung selbst.
Außerdem führt Bushs Idee, dass die einmal erstellten Verknüpfungen zwischen verschiedenen Dokumenten nicht verlöschen sollen, was schlicht auf der Tatsache beruht, dass Bush über ein auf Mikrofilm beruhendes Dispositiv schreibt, in dem trails auch gar nicht gelöscht werden können, dazu, dass die entstehenden, assoziativen Vernetzungen starr sind. Sie können kaum noch verändert werden – z.B. wenn sich irgendwann herausstellen sollte, dass einige der in einer gegebenen Assoziationskette befindlichen Dokumente im Lichte neuerer Ergebnisse fehlerhaft sind. Bush kommt in seinem späteren Essay Memex Revisited selbst auf dieses Problem zu sprechen: Another important feature of magnetic tape, for our future memex, is that it can be erased. [...] When we take a photograph we are stuck with it; to make a change we must take another whole photo62 graph.
Die Lösch- und Änderbarkeit der Verknüpfungen ist erst dann möglich, wenn sie, statt irreversible Inskriptionen in fotografischen Emulsionen zu sein, zu löschbaren elektronischen Aufzeichnungen oder gar Software werden. Den letzten Schritt geht in den 60er Jahren Ted Nelson. Er diskutiert im Unterschied zu Bush keine maschinellen Vorrichtungen, sondern eine bestimmte „information structure, a file structure, and a file language“63. Aus den bei Bush vom User erzeugten trails, die nicht verlöschen, werden von der Software verwaltete links, die ebenso wie die verlinkten Files löschbar sind. Folglich ist in Nelsons Konzept bereits die heute aus jedem heutigen Textverarbeitungsprogramm bekannte „Undo“61 Winkler 1997, S. 174. 62 Bush, Vannevar: „Memex Revisited“, in: ders.: Science is Not Enough, New York 1969, S. 75-101, hier S. 88. 63 Nelson, Ted: „A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate“, in: Proceedings of the 20th National Conference of the Association for Computing Machinery (Cleveland, Ohio, 24-26 August 1965), New York 1965, S. 84-100, hier S. 84.
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JENS SCHRÖTER
Funktion enthalten.64 Damit beginnt nicht nur eine Vorgeschichte des WWW, sondern auch die langsame Ablösung und Verdrängung des TippEx – allerdings sollte es noch bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, bis die Schreibmaschine von ihrem Löschbarkeit erlaubenden Double – der Textverarbeitung – ersetzt werden würde. *** Es konnte nur skizziert werden, welche zentrale Rolle das Löschen in ebenso verschiedenen wie wesentlichen Phänomenen des 20. Jahrhunderts einnimmt: In der Psychoanalyse, der Fernsehindustrie, dem Computer, der Textverarbeitung, dem Video, (mit Einschränkungen) der systemtheoretischen Medientheorie. Ja, wie das Löschen generell die gesamte Ökonomie des Archivs und des Gedächtnisses umformatiert – und das jenseits der Unterscheidung analog/digital! Es wird gerade erst denkbar, welche Forschung noch zu leisten wäre, um seiner Rolle präzise nachzuspüren. Man müsste zum Beispiel archäologisch rekonstruieren, wie sich die epistemische Figur des Löschens mit der Entwicklung je spezifischer löschbarer Speichermedien verändert hat.65 So bezog sich Freud mangels Alternativen selbstverständlich noch auf die Wachstafel bzw. ihre zeitgenössische und signifikant modifizierte Neuauflage als Wunderblock. Turing hätte das Tonband vielleicht schon kennen können, bleibt aber in der vielleicht wichtigsten Dissertation aller Zeiten noch am Radiergummi orientiert – was allerdings für das logische Design keinen Unterschied macht.66 Dann drängt sich aber die Frage auf, warum das Paradigma der Wachstafel in Theorien, die lange nach dem Tonband und Video, ja den digitalen Speichern folgen, immer noch so zentral ist, wie 64 Ebd.: S. 94/95. 65 Vgl. Kümmel, Albert/Löffler, Petra (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933, Frankfurt a.M. 2002. Diese schöne Sammlung früher proto-medientheoretischer Texte zeigt, dass das Löschen vor der Entwicklung des Magnetofons 1935 im Mediendiskurs – nahe liegend – keine Rolle spielte. 66 Turings Gedankenexperiment folgte zeitlich allerdings sehr knapp nach der Vorstellung des Magnetofons 1935. Turing (1987, S. 20) beruft sich explizit auf einen rechnenden Mann als Vergleich zu seiner Papiermaschine – die Tilgung von Symbolen auf dem Papierband (S. 21) ist also nach dem Modell des Radiergummis gedacht. Jeder Mensch (auch Sie werte Leser/innen) kann mit einem Bleistift, einem Radiergummi, einem langen Papierband und einer Zustandstabelle zur Turingmaschine werden. Turingmaschinen als logisches Konzept können – im Prinzip – in jeder Materie aktualisiert werden. Vgl. auch Kittler (1986, S. 164/165), der bemerkt, dass Turing später im Rahmen seiner militärischen Arbeit erwog, „ein erbeutetes Wehrmacht-Magnetophon als Datenspeicher in seinen projektierten Großcomputer einzubauen“.
ZUR ARCHÄOLOGIE ELEKTRONISCHEN LÖSCHENS
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das Beispiel Luhmann zeigt. Denn in der systemtheoretischen Medientheorie (zumindest ab der 1986 erfolgten Einführung der Differenz von Medium/Form) tauchen erst sehr spät neben der Wachsmasse digitale Medien – nicht als Gegenstand, sondern als theoriereflexive Metapher – prominent auf.67 Es sollte deutlich geworden sein, dass die Frage nach dem Löschen uns alle ganz konkret angeht: Wer bestimmt, was von den temporären Speichern zum Archiv gehen darf? Was bleibt bestehen und was zerfällt? Hätten wir die flüchtigen Notizen: wie Klänge, Schriften oder Bilder nicht sorgfältiger aufbewahren müssen? Und selbst, wenn wir sie hätten löschen wollen, bleibt noch Ungewissheit: Ist die Löschung denn tief genug? Bleiben nicht noch remanente Spuren, wenn wir sensible Daten löschen? Spuren, die uns vielleicht verraten – wie ein am Meeresufer achtlos hingezeichnetes Gesicht im Sand?68
67 So schreibt Niklas Luhmann in seinem Opus Magnum, zugleich seinem letzten Werk (Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 199), über die für seine Gesellschaftstheorie fundamentale Medium/FormKopplung: „Dieser zeitliche Vorgang des laufenden Koppelns und Entkoppelns dient sowohl der Fortsetzung der Autopoiesis als auch der Bildung und Änderung der dafür nötigen Strukturen – wie bei einer von NeumannMaschine.“ In der Tat scheint nichts (außer vielleicht der Wachstafel) Luhmanns Begriff des Mediums, das ohne Form nichts ist, so zu entsprechen wie die (im Rahmen des Formalisierbaren und der Grenzen der Rechnerressourcen) universelle und daher frei programmier-, d.h. ‚formbare‘ Turing/von Neumann-Maschine. 68 Ich danke Bernhard Ebersohl für Recherchen und Dagmar Wawrok für detaillierte Korrekturen. Gedankt sei Christian Spies für wichtige Hinweise. Und ebenso Nicola Glaubitz für kritische Lektüren – ihr sei der Text gewidmet.
Lazlo Moholy-Nagy, EM 3, 1922, Parzellanemaille auf Metall, 47,5 x 30,1 cm, The Museum of Modern Art New York
CHRISTIAN SPIES
NACHRICHT, SCHILD UND BILD. LASZLO MOHOLY-NAGYS TELEFONBILDER 1969 fand im Museum of Contemporary Art in Chicago eine Ausstellung unter dem Titel Art by Telephone statt. Damals waren 36 Künstler gebeten worden, ihre Ausstellungsbeiträge per Telefon in Form einer mündlichen Beschreibung an das Museum zu übermitteln. Diese wurden dann von den Museumsmitarbeitern ausgeführt. Meist wird diese Ausstellung – nicht zuletzt bedingt durch die Künstlerauswahl – im Rahmen der Konzeptkunst der 1960er Jahre rezipiert. Dafür war nicht nur die Idee ausschlaggebend, dass der Herstellungsprozess einer künstlerischen Arbeit vollständig von der direkten – handschriftlichen – Ausführung durch den Künstler abgelöst ist. Genauso fasziniert war man von der Bedingung, eine künstlerische Arbeit über eine Distanz zu übermitteln. Indem man sie in Sprache übersetzt, kann sie mit dem Telefon1 übertragen werden. Der damals erschienene Ausstellungskatalog ist äußerst bezeichnend: Er besteht aus einer Schallplatte, auf der die telefonischen Anweisungen und Beschreibungen der einzelnen Künstler zu hören sind. Und in seiner Einleitung spricht der Kurator der Ausstellung, Jan van der Marck, von den ungemeinen ästhetischen Möglichkeiten einer „remote-controle creation“: „Making the telephone ancillary to creation and employing it as a link between mind and hand has never been attempted in any formal fashion.“2 So gilt diese Ausstellung gemeinhin als einer der Meilensteine, an dem sich eine neue künstlerische Arbeit mit technischen Übermittlungsformen als ein Bruch zu den herkömmlichen künstlerischen Verfahren 1 Das künstlerische Interesse an der technischen Übermittlung war in den 1960er Jahren freilich keineswegs auf das Telefon beschränkt. Genauso ließe sich etwa zur gleichen Zeit die Faszination an den real-time Möglichkeiten des Videos im Closed Circuit anführen. 2 Zit. nach Kac, Eduardo: „Aspekte einer Ästhetik der Telekommunikation“, in: Zero – The Art of Being Everywhere, (Ausstellungskatalog Steirische Kulturinitiative), Graz 1993, S. 29.
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abzeichnet. Nun wird die Maschine zum zentralen Bestandteil. Sowohl der Herstellungsprozess als auch das Ergebnis sind durch ihre Strukturbedingungen mitbestimmt. Die künstlerische Arbeit muss in den jeweiligen Strukturbedingungen des technischen Übertragungsmediums abbildbar sein. Genauso kann das Ergebnis nur eine Zusammensetzung aus diesen spezifisch strukturierten Informationspartikeln sein. Die Maschine – hier speziell das Telefon – wird zum Interface, indem es die künstlerische Arbeit und deren Herstellungsprozess durch die Bedingungen der fernmündlichen Sprachübertragung bestimmt. Bereits im Zusammenhang mit der Ausstellung in Chicago wird auf ein weiteres historisches Vergleichsbeispiel rekurriert, das bis heute noch einmal sehr viel stärker als ein universeller Ausgangspunkt für die Vielzahl unterschiedlicher Medien- und Netzkunststrategien verstanden wird: Gemeint sind Lazlo Moholy-Nagys sog. ‚Telefonbilder‘ von 1922.3 Fast emblematisch haben sich die drei bekannten Bilder mit den lakonischen Titeln „Em 1“, „Em 2“ und „Em 3“ als eine der ersten Realisationen einer bildkünstlerischen Arbeit mit den Mitteln der Telekommunikation etabliert. Sie gelten nicht nur gemeinhin als die ersten Multiples oder auch als Ausgangspunkt der Mail-Art4. Oftmals werden ihnen aus heutiger Sicht sogar verblüffende Gemeinsamkeiten mit künstlerischen Prozessen in der aktuellen Medien- und Netzkunst nachgesagt. Tatsächlich handelt es sich bei den Telefonbildern bereits insofern um Embleme im direkten Sinne des Wortes, als sie zeitgenössischen Straßenschildern und Werbetafeln sowohl in ihrem Material als auch in ihrer Herstellungsweise nicht unähnlich sind. Es handelt sich um hochrechteckige, dünne Metalltafeln, die mit Porzellanemaille überzogen sind und die auch tatsächlich in einer Fabrik für Emailleschilder hergestellt wurden. Dem gegenüber wird jedoch meist der Ablauf ihrer Fertigung hervorgehoben. Dieser war in erster Linie ausschlaggebend dafür, dass die Bilder in der daran anschließenden Debatte dann auch tatsächlich zu Wegweisern bestimmt werden konnten, die sowohl die Entwicklungslinie in die Konzeptkunst wie auch in die unterschiedlichsten Ausprägungen der künstlerischen Arbeit technischen Übertragungsmedien anzeigen. Dass ihr tatsächlicher historischer Stellenwert dafür letztlich nicht einmal unumstritten ist und das Telefon in den Telefonbildern oft
3 Moholy Nagys Telefonbilder waren bezeichnenderweise kurz vor „Art by Telephone“ in einer Moholy-Nagy Retrospektive in Chicago gezeigt worden. 4 Severin, Ingrid: Systemsplitter. Technische Vernetzungen und ihre Auswirkungen auf zeitgenössische Kunst, Berlin 1993, S. 8.
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freimütig für unterschiedliche – technikgeschichtliche ebenso wie künstlerisch programmatische – Argumentationsstränge herhalten muss, bleibt dabei oft unbeachtet. Deshalb soll im Folgenden diese wegweisende Stellung von Moholy-Nagys Telefonbildern nochmals im Kontext ihrer oftmals paradoxen Position diskutiert werden. Welchen Stellenwert nimmt das Telefon hier überhaupt ein? Genauer: Welche Auskunft geben die Bilder über ihrer Positionierung im theoretischen Diskurs über die künstlerische Arbeit mit technischen Übermittlungsmedien selber – gerade dann, wenn man sie ansieht. In 1922 I ordered by telephone from a sign factory five paintings in porcelain enamel. I had the factory’s colour chart before me and I sketched my paintings on graph paper. At the other end of the telephone the factory supervisor had the same kind of paper, divided into squares. He took down the dictated shapes in the correct position. (It was like playing chess by correspondence.) One of the pictures was delivered in three different sizes, so that I could study the subtle differences in the colour relations caused by the enlargement 5 and reduction.
So lautet der Bericht, den Moholy-Nagy in seinem Abstract of an Artist über die Herstellung seiner Telefonbilder gibt und der gemeinhin auch als der entscheidende Impuls für ihre prominente Positionierung zu verstehen ist. In einigen Punkten ist Moholy-Nagys Kommentar sogar mit der Provokation vergleichbar, die 1915 von Marcel Duchamps Readymades ausgegangen war.6 Moholy-Nagy präsentiert sich hier nicht mehr nur als ein Künstler, der gegenüber neuen, industriellen Materialien und aktuellen technischen Entwicklungen äußerst aufgeschlossen ist und der diese für eine künstlerische Verwendung nutzbar zu machen sucht. Nun handelt es sich um eine künstlerische Arbeitsweise, in der die technischen und industriellen Entwicklungen Bildwerten zu einer weiter reichenden Konsequenz geführt haben. Zu der Möglichkeit einer industriellen Fertigung nach normierbaren Bildwerten, die auf der Basis des karierten Notizpapiers und der industriellen Farbskala besteht, kommt nun
5 Moholy-Nagy, Laszlo: The New Vision and Abstract of an Artist, New York 1947, S. 79. 6 Dass Moholy-Nagy die Herstellung der Telefonbilder auch mit einem Schachspiel über Distanz vergleicht, mag angesichts des Wandels vom Künstler zum Schachspieler, den Marcel Duchamp im Anschluss an seine Readymades etwa zur gleichen Zeit inszeniert, ebenfalls eine bezeichnende Feststellung am Rand sein. Vgl. dazu auch: Kaplan, Louis: Laszlo MoholyNagy. Biographical Writings, Durham/London 1995, S. 122.
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noch das Telefon hinzu.7 Dieses steht nun für eine Distanz zwischen dem Künstler und dem Ausführenden seiner Bilder, die durch die direkte Übermittlung qua Sprache überbrückt wird. Auf der Basis eines Rasters mit normierten Farbwerten ist die Loslösung des Herstellungsprozesses von der Person des Künstlers möglich. Das Telefon markiert dabei den Weg vom Bild über die Sprache und wieder zurück zum Bild im Sinne eines prototypischen Sender-Empfänger Modells. Die dazwischen geschaltete Leitung für den unmittelbar übertragbaren elektronischen Impuls steht für eine verbleibende Bindung zwischen den beiden Polen.8 „Die Herstellung von Kunstwerken ist nun einsichtigerweise so erleichtert und vereinfacht, dass man seine Werke am besten telephonisch, vom Bett aus, bei einem Anstreicher bestellt.“9 Erst im Rückblick wird so deutlich, wie Moholy-Nagy diese Forderung aus Richard Huelsenbecks Dada-Almanach von 1920 nun mit allen Konsequenzen zu realisieren scheint. Ob dies jedoch auch tatsächlich der Fall gewesen ist, darüber besteht Uneinigkeit: Die erwähnte Beschreibung, dass die Emaillebilder 1922 tatsächlich am Telefon bestellt worden seien, stammt aus dem Jahr 1946 und ist also fast 25 Jahre später entstanden. An sich würde dies noch keinen Grund zum Zweifeln an der autobiographischen Beschreibung MoholyNagys geben. Wären da nicht noch die beiden weiteren persönlichen Berichte seiner beiden Ehefrauen, von denen eine die Äußerung des Künstlers deutlich in Frage stellt: Lucia Moholy-Nagy versucht in ihrem 1972 7 Hier ist es ebenfalls nur zu bezeichnend, wie Moholy-Nagy im Rückgriff auf die industriell normierte Farbskala dem Readymade-Konzept Duchamps auch insofern nochmals nahe kommt, als dieser schließlich jedes gemalte Bild zu einem Readymade erklärt, seit die verwendeten Farben industriell hergestellt sind. „Since the tubes of paint used by the artists are manufactured and ready-made products we must conclude that all paintings in the world are ‚readymads aided‘ and also works of assemblage.“ Vgl. dafür: De Duve, Thierry: „The Readymade and the Tube of Paint“, in: ders.: Kant after Duchamp, Cambridge 1996, S. 159ff. 8 Insofern ist es auch nur bedingt gerechtfertigt, die Telefonbilder als Vorläufer der Mail Art zu verstehen. Gegenüber dem ebenfalls möglichen Verschicken der Instuktionen per Post bleibt im Telefongespräch die Unmittelbarkeit der Übertragung mit einer direkten zeitlichen Bindung zwischen Sender und Empfänger. 9 Zit. n. Kaplan 1995, S. 206. Ob Moholy-Nagy den Dada-Almanach bis 1922 gelesen hatte, ist unklar. Lucia Moholy bezweifelt dies aufgrund der Sprach- und Existenzschwierigkeiten, die Moholy-Nagy 1920 bei seiner Übersiedlung nach Berlin hatte. Moholy, Lucia: Marginalien zu Moholy Nagy/Moholy-Nagy, Marginal Notes. Dokumentarische Ungereimtheiten…/Documentary Absurdities…, Krefeld 1972, S. 33.
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erschienenen Buch Marginalien zu Moholy Nagy. Dokumentarische Ungereimtheiten die historischen Fakten über die Entstehung der Telefonbilder richtig zu stellen. Sie bezweifelt bereits die gebräuchliche Bezeichnung als ‚Telefonbilder‘. Mehr noch liegt es ihr daran, die Äußerung des Künstlers, er habe die Bilder per Telefon an den Vorarbeiter der Emaillefirma ‚durchgegeben‘, zu korrigieren. Dabei habe es sich ‚nur‘ um eine rückblickende Verdichtung einer Vorstellung in eine Realität gehandelt, schreibt sie.10 Tatsächlich sei der Vorgang in einem gravierenden Detail anders abgelaufen: Kurz nach seiner Berufung ans Bauhaus habe Moholy-Nagy die Idee zu einer Serie von Emaillebildern entwickelt. In dieser Zeit sei er primär daran interessiert gewesen, wie in seiner neuerdings konstruktiven Malerei, Bildgröße und Farbwert einander bedingen. Deshalb habe er nach einer Möglichkeit gesucht, dieselbe Komposition in verschiedenen Größen aber mit jeweils identischen Farbwerten auszuführen. Übliche handwerkliche Mittel – selbst Millimeterpapier und Farbskala – hätten ihn nicht befriedigen können. So habe er dann die schon länger bestehende Absicht konkretisiert, seine Bilder maschinell und mit industriellen Methoden fertigen zu lassen. Moholy-Nagy sei mit dem entstandenen Ergebnis aus der Emaillefabrik vollends zufrieden gewesen. Erst hier kommt nach Lucia Moholys Bericht das Telefon tatsächlich mit ins Spiel. Sie ist sich vollkommen sicher, dass der Maler erst im Zuge seiner Begeisterung über die Emailletafeln geschlussfolgert habe: „Das hätte ich sogar telephonisch machen können!“11 Erst später – nach vielfältigen weiteren Experimenten mit neuen industriellen Materialien und Fertigungsmethoden und dann auch mit der reelleren Kenntnis der Äußerung im Dada Almanach von 1920 – habe sich daraus die Überzeugung entwickelt, dass dies tatsächlich der Fall gewesen sei. Anfänglich sei es ihm weder um die telefonische Bestellung noch in erster Linie um die Entbehrlichkeit einer künstlerischen Handschrift gegangen. Am Ausgangspunkt seiner Überlegungen habe nur das Experiment zu den unterschiedlichen Bildformaten bei gleich bleibender Komposition und Farbwerten gestanden. Die industrielle Fertigung war nur das Mittel, nicht aber der eigentliche Antrieb. Erst die Ergebnisse, die den unmittelbaren Anteil des maschinellen Herstellungsprozesses offen legen konnten, sollten – so Lucia Moholy – „in der Anrufung des Telefons gipfeln“12, der dann im Folgenden jene prominente Bedeutung in konzeptioneller Hinsicht beigemessen werden sollte. 10 Moholy 1972, S. 34. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 35.
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Auch der dritte Bericht, den Moholy-Nagys zweite Frau, Sibyl Moholy-Nagy in ihrem Buch Lazlo Moholy-Nagy. Ein Totalexperiment gibt, kann den Widerspruch zwischen den beiden anderen Aussagen über den tatsächlichen Stellenwert des Telefons in den Telefonbildern nicht eindeutig klären. „Als Höhepunkt dieser persönlichkeitsverleugnenden Objektivität malte Mohloy drei Bilder per Telephon“13 schreibt sie 1948 und folgt damit zunächst direkt den wenige Jahre früher entstandenen Selbstzeugnissen ihres Mannes. Zugleich lassen sich in Sibyl Moholy-Nagys Beschreibung jedoch auch bereits die beiden Hinweise finden, die Lucia Moholy dann später als Ungereimtheiten präsentieren wird: „Er mußte sich selbst den Über-Individualismus der konstruktivistischen Konzeption beweisen, die Existenz objektiver visueller Werte, unabhängig von der Eitelkeit des Künstlers und seiner speziellen peinture. Er diktierte seine Bilder dem Werkmeister einer Schilderfabrik, deren numerierte Farbmusterkarte er auf ein gleichfalls numeriertes Millimeterpapier übertrug. Die Anordnung der Formelemente und ihre exakte Färbung wurden so spezifiziert. Der übermittelte Entwurf wurde in drei verschiedenen Größen ausgeführt, um durch Modifikation der Dichte- und Raumbeziehungen die Bedeutung der Struktur und ihre verschiedene emotionale Aus14 sage zu demonstrieren.“
Sie sieht im Verweis auf das Telefon in den Emaillebildern ebenfalls primär eine stark an Moholy-Nagy selbst gerichtete Konkretisierung des eigenen künstlerischen Programms. Genauso weist sie auf die primäre Bedeutung der Tafeln als formale Anschauungsexperimente hin. Freilich könnte man wieder – wie meist geschehen – über diese ‚biographischen Ungereimtheiten‘ hinwegsehen. Ob die Emaillebilder tatsächlich per Telefon bestellt worden sind oder ob Moholy-Nagy dies erst später so beschrieben hat, ist für die Feststellung unerheblich, „daß der Künstler die Möglichkeiten der telefonischen Übertragung erkannt hatte“15. In beiden Versionen des Berichts wird das Potential des neuen technischen Mediums Telefon erkannt und somit auch für die vielfachen künstlerischen Experimente mit Telekommunikationsmedien – wie etwa die berühmte Ausstellung in Chicago – verfügbar gemacht. In diesem Sinne können die Telefonbilder problemlos als ‚Embleme‘ und ‚Wegweiser‘ für die sich verzweigende und vervielfachende Entwicklungslinie 13 Moholy-Nagy, Sibyl: Laszlo Moholy-Nagy. Ein Totalexperiment, Mainz 1972. S. 39. 14 Ebd., S. 39. 15 Kac 1993, S. 68.
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einer Konzeptionalisierung und auf technischen Übertragungsmedien basierenden Kunst verstanden werden, für die Moholy-Nagy seit jeher als Pionier gilt.16 *** Dennoch bleiben die ‚dokumentarischen Ungereimtheiten‘ bezüglich der Telefonbilder auch unabhängig von der Frage nach der historischen Tatsache weiterhin bedeutsam: Dann nämlich, wenn man sie nicht allein als ein medienarchäologisches Fundstück, d.h. als ein prototypisches Relikt aus der Vorgeschichte der Konzept-, Medien- oder Netzkunst verstehen möchte, sondern, wenn man die diskursiven Widersprüche, die angesichts der Telefonbilder entstanden sind, im Hinblick auf eine produktive Lesart der Bilder ernst zu nehmen sucht. Gerade in dieser Widersprüchlichkeit können sie die Bruchstelle, die sich mit dem künstlerischen Einsatz der mechanischen und elektronischen Übertragungstechnologie ergibt, sowohl als Phänomen wie auch angesichts des daran anschließenden Diskurses exemplarisch markieren. Ein äußerst begrüßenswertes Beispiel für eine solche Herangehensweise stellt das Buch Laszlo Moholy-Nagy. Biographical Writings dar, in dem es Louis Kaplan darum geht, Moholy-Nagys Biographie, im Fokus seiner autobiographischen Schriften und den biographischen Zeugnissen seiner Umgebung zu lesen. In einer dekonstruktivistischen Vorgehensweise stellt er die Telefonbilder dabei als ein interferierendes System zwischen Selbstproduktion und Reproduktion unter dem Titel „The Anonymous Hand“ dar. Kaplan fragt dabei vor allem nach der eigentümlichen Paradoxie, die zwischen den Bildern als Ausweis des distanziert Maschinellen und ihrer dennoch unauflöslichen Bindung an die Persönlichkeit des Künstlers besteht:
16 Diese Überlegung wird freilich schon in Sibyl Moholy-Nagys Buchtitel Laszlo Moholy-Nagy. Ein Totalexperiment deutlich. Angesichts der Menge von neuerer Literatur zur Position Moholy-Nagys im Fokus von medientechnischer Entwicklung und bildender Kunst sei hier nur exemplarisch hingewiesen auf Sasse, Rolf: „Telephon, Reproduktion und Erzeugerabfüllung. Der Begriff des Originals bei László Moholy-Nagy“, in: Gottfried Jäger/Gudrun Wessing (Hrsg.): über moholy-nagy, Bielefeld 1997, S. 7386; Fiedler, Jeannine/Buschfeld, Ben: „Von der Virtualität der Wahrnehmung im 20. Jahrhundert – Ein Gespräch zwischen László Moholy-Nagy und Marshall McLuhan“, in: Jäger/Wessing (Hrsg.), S. 181-188; Daniels, Dieter: Vom Readymade zum Cyberspace. Kunst/Medien Interferenzen, Ostfildern-Ruit 2003, hier insb. Kap. 1 „Interferenz und Konkurenz von Kunst und Medien im 20. Jahrhundert“.
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CHRISTIAN SPIES If these paintings do instruct, it is through the gaps, the holes, the patterns of interference they leave between the author and the work, between both of these and their significance, or between the ‚I‘ who writes and the ‚I‘ who is written – through the insertion of an anonymous hand dialing or a coin placed in a slot of a ma17 chine.
In den Telefonbildern ist Moholy-Nagys Interesse an einer Distanzierung zwischen Künstler und Bild einerseits auf einen ersten Höhepunkt getrieben und doch bleibt die Person des Künstlers noch unmittelbar in den Entstehungsprozess eingebunden. Der Künstler ist derjenige, der auf der einen Seite des Telefons diktiert und sich zugleich durch die fernmündliche Übermittlung von seinem Bild, das am anderen Ende der Leitung entsteht, loszulösen sucht. Aber, fragt Kaplan: „Who is on the other end of the line if the ‚I‘ is put on the line?“18 Ungleich schwieriger wird diese Frage nochmals, wenn man Lucia Moholys Version hinzuzieht, die die Bestellung am Telefon nur als ein hypothetisch konstruiertes Szenario ausmacht. Ihre Version, „Das hätte ich sogar telephonisch machen können!“, bezieht sich nicht auf die tatsächliche Ablösung von seinem Bild, sondern nur auf die hypothetische Ablösung. Die Bilder machen nur den Eindruck, als sei hier das Band zwischen der Person des Künstlers und dem Bild gelöst,19 obwohl dies tatsächlich nicht einmal der Fall gewesen sein muss. So schreibt dann Kaplan am Ende seiner Überlegungen zu den Telefonbildern: This scenario posits a world where an anonymous phone call, a telephone painting or a biographical experiment in defamiliarization – and the risks they pose to authority – would not automatically be called a practical joke nor considered obscene. It resembles the H-U-M of a dial tone, of an anonymous phone call, 20 Hanging Up Moholy.
Es war gerade diese Frage nach einem anonymen Anruf, der die Debatte um Moholy-Nagys Emaillebildern seit jeher insofern bestimmt hat, als hier das Telefon – paradoxerweise – zum maßgeblichen Parameter des Bildes stilisiert worden war. Damit wurde die Telefonleitung, die nur akustische Signale in einer sukzessiven Abfolge transportieren kann, 17 Kaplan 1995, S. 125. 18 Ebd., S. 122. 19 Kaplan weist in diesen Zusammenhang auf Derridas Modell der Signatur hin, in dem das Subjekt an die materiale Basis der Sprache über ihre graphische Einschreibung als Signatur zurückgebunden wird. Vgl. Kaplan 1995, S. 5. 20 Ebd., S. 128.
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auch zum Maßstab für den Blick auf die Bilder. D.h., sie wurden wie durch eine Telefonleitung hindurch angeschaut. Oder: Da Anschauen dann nicht einmal mehr möglich ist, wurden sie wie durch eine Telefonleitung ‚abgehört‘ und ‚befragt‘. Dann bleiben allein in den Fakten des Telefonats: Moholy-Nagy auf der einen Seite, der Vorarbeiter der Schilderfabrik auf der anderen; die mit Porzellanemaille überzogenen Metallplatten unterschiedlicher Größe; die festgelegte Farbskala; das karierte Papier und schließlich die darin mit eindeutigen Koordinaten positionierten Bildelemente. Sofort lassen sich Widersprüche gegen eine solche eindeutige Lesart der Bilder anführen: Eigentlich habe es sich bei den Emailletafeln doch um solche Bildexperimente gehandelt, die im Rahmen der konstruktivistischen Gemälde und Zeichnungen in der ersten Hälfte der 1920er Jahre stehen, schreiben sowohl Lucia Moholy als auch Sibyl Moholy-Nagy. Genauso weist auch Kaplan darauf hin, dass die Bilder zwar einerseits über das Telefon vom Künstler losgelöst seien, andererseits bleibe das Ich, als derjenige, der die Bilder als Künstler diktiert habe und an den auch die Kritik daran gerichtet sei, unausweichlich anwesend.21 Die Telefonbilder gehen eben nicht in der anonymen Übertragung von elektronischen Impulsen durch die Telefonleitung auf. Angesichts eines dezidierten Gestaltungsprozesses bleiben sie weiter an das sehende Auge des Betrachters gerichtet. Erst in diesem Paradox eines gestalteten künstlerischen Bildes, das jedoch zugleich auch dem Prozess einer Distanzierung durch das Telefon anheim gegeben wird, gewinnen Moholy-Nagys Emaillebilder ihr eigentliches Potential. Hier kommt jene – wie Moholy-Nagy in seinem Bauhausbuch Malerei Fotografie Film schreibt – Trennung zwischen farbiger und darstellerischer Gestaltung, die in der Entwicklung des Tafelbilds begründet sei,22 wieder auf eine spezielle Weise zusammen: Auf der einen Seite steht die Komposition mit wenigen, streng geometrischen Flächeformen und Linienelementen auf weißem Grund, die im Kontext
21 Kaplan diskutiert dieses Paradox ausgehend von der entsprechenden Passage in Moholy Nagys Abstract of an Artist. „I was not afraid of losing the ‚personal touch‘ so highly valued in previous painting.“ Warum spricht hier ein identifizierbares Individuum selbst von der Sorge anonym zu werden, fragt darauf Kaplan. Oder: „I often hear the criticism that because of this want of the personal touch, my pictures are ‚intellectual‘“. Wer sieht sich hier kritisiert, wenn er doch eigentlich bereits seine Persönlichkeit der Anonymität des Bildes anheim gegeben hat? 22 Moholy-Nagy, Laszlo: Malerei Fotografie Film. Neue Bauhausbücher, Mainz 1976, S. 17.
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der Malerei als einer ‚reinen Gestaltung mit der Farbe‘ zu verorten sind. Auf der anderen Seite befindet sich die Idee der telefonischen Übertragbarkeit des Bildes durch Sprache, seine Normierung durch eine Farbskala und das Raster und mithin auch die Möglichkeit einer industriellen Fertigung. Hier wird „das mechanische Darstellungsverfahren mit seinen heute noch unübersehbaren Erweiterungsmöglichkeiten“23 als künstlerisches Verfahren antizipiert, jedoch ohne dabei die Malerei als ‚absolute Gestaltung‘ aufgeben zu müssen. Damit kommt schließlich auch Lucia Moholys Bericht nochmals ein besonderer Stellenwert zu, indem hier das Paradoxon einer zugleich malerisch individuellen und technisch übertragbaren Gestaltung unmittelbar zum Ausdruck kommt. Laut ihres Berichts habe Moholy-Nagy die Bilder persönlich in Auftrag gegeben, womit letztlich doch die direkte Bindung des Künstlers an das Bildergebnis aufrechterhalten bleibt. Zugleich jedoch macht der von ihr erwähnte Kommentar Moholy-Nagys „Das hätte ich sogar telephonisch machen können!“, diese Bindung wieder brüchig. In dem Augenblick, in dem Moholy-Nagy die Bildereignisse sieht, ist er davon überzeugt, dass seine Künstlerposition auf das Diktat am Telefon reduziert werden könne. Die Bilder – und darin liegt der eigentliche Stellenwert in Lucia Moholys Bericht – weisen somit als anschauliche Phänomene darauf hin, dass hier ein Umbruch von einem unmittelbar durch den Künstler gesteuerten Herstellungsprozess zu einer künstlerischen Arbeit mit technischen Übertragungsmedien stattgefunden hat. Selbst wenn er nicht tatsächlich vollzogen worden sein muß, ist er doch zumindest potentiell nachvollziehbar geworden. So muss im Folgenden noch einmal genau dieser Frage nachgegangen werden, die in den meisten Überlegungen zu den Telefonbildern unbeachtet bleibt: Welchen Aufschluss könnten die Bilder selber über ihre Position zwischen einen traditionellen künstlerischen Herstellungsprozess und der Arbeit mit technischen Übertragungsmedien geben? Und wie ist dann noch einmal ihre entwicklungsgeschichtlich wie medientheoretisch bedeutsame Position als emblematischer Wegweiser für die spätere Ausprägung einer Konzept-, Medien- und Netzkunst zu bewerten?
23 Ebd., S. 13.
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Die drei Stahltafeln „Em 1“, „Em 2“ und „Em 3“ haben die Maße 94x60 cm, 47x30 cm und 23,5x15 cm.24 Ihre Maße beziehen sich aufeinander, beide Seitenlängen sind im jeweils kleineren Bild um den Faktor 2 verkürzt. Die Bildfläche von „Em 2“ beträgt folglich nur ein Viertel von „Em 1“. „Em 3“ verhält sich entsprechend zu „Em 2“ und beträgt nur ein Sechzehntel der größten Tafel. Inwiefern diese Maße mit den üblichen Standardmaßen der beauftragten Produktionsfirma einhergehen, konnte hier leider nicht rekonstruiert werden. Deutlich ist jedoch die Relation zu einigen Formaten der Ölbilder und Papierarbeiten des gleichen Entstehungszeitraums. Hier verwendet Moholy-Nagy ebenfalls überwiegend Hochformate, deren Verhältnis zwischen Höhe und Breite zwar tendenziell geringer differiert, die sich aber – zumindest versuchsweise – analog zu den drei Metalltafeln in drei Formatgruppen – groß, mittel und klein – einteilen lassen. Aufgrund dieser Formatrelationen und der fortlaufenden Nummerierung sind die drei Bilder dann auch immer wieder als eine Serie bezeichnet worden. Eduardo Kac weist diesen Begriff jedoch deutlich ab. Er bezeichnet sie als „Kopien ohne Original“25 und weist damit – angesichts der Tatsache, dass es sich um reproduzierbare Schemata handelt – auf die konstante Struktur hin, die den drei Bildern zugrunde liegt. Diese lässt sich vergleichsweise schnell und einfach beschrieben. Ihre Ausgangsbasis ist die hellweiße Fläche, die hier im Emaillebild anders als auf der Leinwand oder dem Papier nicht bereits im neutralen Ausgangsmaterial vorliegt, sondern, die bereits als eine weiße Schicht die dunkle Metallplatte überzieht. Das Weiß ist in der linken Bildhälfte von einem breiten, schwarzen Vertikalstreifen durchbrochen, der die gesamte Bildhöhe, vom unteren bis zum oberen Bildrand durchzieht. Der schwarze Streifen ist geringfügig schmaler als der weiße Streifen, der links davon noch bis zum linken Bildrand frei bleibt. Im Bereich rechts von dem schwarzen Balken finden sich zwei weitere Elemente. Dabei handelt es sich um zwei Kreuzformationen aus zwei sich horizontal und vertikal kreuzenden Balken, die deutlich dünner und kürzer sind als der große schwarze Balken. Im Vergleich dazu wirken sie eher wie starke Linien; gesondert betrachtet, handelt es sich um kleine eigenständige Flächenformen. Im unteren Bilddrittel sitzt ein vertikaler roter Balken nur wenig rechts von der vertikalen Mittellinie des Bildfeldes und gleichzeitig so eng parallel zu dem schwarzen Balken, dass dazwischen eben24 „Em1“ befindet sich in einer Privatsammlung in Chicago, „Em2“ und „Em3“ befinden sich beide in der Sammlung des Museum of Modern Art New York. 25 Kac 1993, S. 66.
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falls nur ein schmaler weißer Streifen bleibt. Dieser rote Balken kreuzt einen kurzen horizontalen Balken, der in sich nochmals in drei horizontale Streifen gegliedert ist, mittig einen breiteren gelben, jeweils oben und unten einen roten. Mit seinem Linken Ende überschneidet dieser kurze horizontale Balken etwa genauso viel von der schwarzen Vertikalfläche, wie an der anderen Seite von dem roten Balken abgetrennt wird. Hier gehen also der große schwarze Balken und die eine Kreuzform eine Verbindung ein, die sich – zumindest auf den ersten Blick – auch genau in ihrer Figur-Grund Relation bestimmen lässt. Zuunterst liegt der schwarze Streifen, darauf der kurze dreifarbige, und als oben aufliegendes Element folgt der rote vertikale Streifen. Gegen eine solche Relationsbeziehung in die Bildtiefe hinein spricht jedoch bereits der identische Rotton des vertikalen, kleinen Balkens und den äußeren Rändern des horizontalen Streifens. Hier werden beide Elemente auf einer Ebene miteinander verbunden, und so könnte man auch die Verbindung zu dem großen schwarzen Streifen in ähnlicher Weise als zweidimensionale Verbindung oder gar Verzahnung von Streifenformen beschreiben. Ohne eine weitere Verbindung zu den anderen Bildelementen findet sich im rechten Bildteil oberhalb der Bildmitte die zweite Kreuzform. Hier handelt es sich annähernd um ein griechisches Kreuz aus zwei kurzen, gleichlangen Streifenelementen. Diese sind ebenfalls farblich unterschieden. Bei der Horizontalen handelt es sich um den gleichen Schwarzton wie in der breiten Vertikalen. Wegen seiner sehr viel geringeren Ausdehnung innerhalb der Weißfläche nimmt man ihn jedoch tendenziell heller oder sogar bläulicher wahr. Diese schwarze Linie wird von der anderen, gelben mittig überschnitten. Hier handelt es sich wieder um den gleichen Gelbton, der auch in der anderen Kreuzform vorkommt. Dort erscheint er jedoch tendenziell dunkler und kräftiger, weil er zum Weiß nochmals durch die schmalen roten Streifen abgegrenzt ist. So wird deutlich, dass die Bildstruktur, die Moholy-Nagy seinen drei Emaillebildern zugrunde legt, sowohl durch Formrelationen und -verbindungen als auch stark durch markante Farb- und Hell-Dunkel Relationen bestimmt ist und dass die zunächst eher stark vereinzelt wirkenden drei Bildelemente sich bei näherem Hinsehen deutlich miteinander verbinden. Die drei stark unterschiedlichen Formate bedingen – wie intendiert – nochmals eine weitere Variation in dieser Grundstruktur. Die jeweiligen Relationsverhältnisse, etwa der jeweilige Anteil einer Farbe an der Gesamtbildfläche ist zwar in jedem der drei Bilder identisch, unterschiedlich ist der davon ausgehende Eindruck; vor allem hinsichtlich der Wahrnehmung als Fläche oder als Linie. Während der schwarze Vertikalstreifen auf allen
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drei Bildern ähnlich als Flächenform, d.h. als markante Negativform innerhalb der weißen Fläche gesehen wird, sind die kleineren und schmaleren Streifenformen jeweils stärker hinsichtlich ihrer absoluten Größe zu werten. Nimmt man sie in den beiden größeren Formaten stärker als Farbflächen mit zweidimensionaler Ausdehnung wahr, wo dann auch noch die untere Horizontalform deutlich dreigeteilt bleibt, so handelt es sich im kleinsten Bild sehr viel stärker um Linienelemente ohne eigene Flächenausdehnung. Deutlich wird dies etwa auch an der gelben Vertikale des rechten oberen Kreuzes. Je kleiner ihre absolute Größe wird, umso weniger sticht sie in der hellen Weißfläche hervor. Angesichts dieser kurzen Bestandsaufnahme der Bildstruktur der drei Emaillebilder könnte man zunächst den Eindruck haben, als unterschiede sie wenig bis gar nichts von den übrigen Gemälden oder auch den Collagen und der Temperamalerei, an deren Moholy-Nagy zur gleichen Zeit gearbeitet hat. Darüber hinaus kommt jedoch ein weiteres Detail hinzu, angesichts dessen der Besonderheit zu den übrigen Gemälden und Papierarbeiten doch deutlich wird und der dann auch nochmals im Hinblick auf die gestellte Frage nach dem sichtbaren Verhältnis von unmittelbarer Handschriftlichkeit und telefonischer Übertragung von grundlegender Bedeutung ist: Gemeint ist dabei die Oberfläche der drei Bilder. Moholy-Nagy hat sich für das Verfahren der Porzellanemaille entschieden. Dabei werden zunächst analog zu anderen Mal- oder Lackierverfahren pulverisierte Porzellanpigmente auf eine Metallplatte aufgetragen, die jeweils entsprechend des gewünschten Farbwerts mit metallischen Farbpigmenten versetzt sind. In einem weiteren Arbeitsschritt wird dann das gesamte Werkstück einem Brennvorgang unterzogen. Dabei schmelzen und verflüssigen sich die einzelnen Pigmente und verbinden sich zu einer festen und vor allem äußerst gleichmäßigen und glatten Schicht. Jede Unregelmäßigkeit im Auftrag, d.h. weitgehend jede malerische Handschriftlichkeit, die sonst mit der aufgetragen Farbe auftrocknet, verschwindet nun in dem umgekehrten Vorgang des Verflüssigens in der glatten Fläche. Man erhält eine stark reflektierende, teils sogar spiegelnde Oberfläche, in der jeder einzelne Farbwert in einer einheitlich brillanten Leuchtkraft neutralisiert ist. Die Intention Moholy Nagys, mit dem für ihn neuen Verfahren eine möglichst einheitliche und vergleichbare Ausführung der unterschiedlich großen Bilder zu erreichen, lässt sich so bestens nachvollziehen. Hier kommt Marcel Duchamps Folgerung, dass seit der industriellen Herstellung von Farbe jedes Bild ein Readymade
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sein könne, zum Ausdruck.26 Der ‚individual touch‘ ist zugunsten der anderweitig hergestellten perfekten Oberfläche und dem jeweils normierten Farbwert eingetauscht. Trotzdem handelt es sich bei dem Emailleverfahren keineswegs um ein neues Bildverfahren. Es ist sogar um ein Mehrfaches älter als die Ölmalerei, die Moholy-Nagy hier wohl am ehesten im Sinn hat, wenn er selbst von individueller Handschriftlichkeit spricht. Und doch erweist sich die Emaille hier insofern äußerst aktuell, als sie sich geradezu perfekt in Moholy-Nagys Experimente zugunsten eines Bildverfahrens auf Distanz einfügt. Sie stellt sich als eine ideale Oberfläche für ein technisch übermitteltes Bild heraus. Einerseits ist die Emaille nun als ein Verfahren aus der industriellen Massenproduktion genutzt. Andererseits wird es hier möglich, dass die Handschriftlichkeit und die Unregelmäßigkeiten der fremden, ausführenden Person im Verflüssigen der glatten Fläche neutralisiert werden. Hier kommen sie mit den seriellen Fertigungsmethoden auf der Basis von vorstrukturierten und normierten Bildschemata zusammen. So wird dann schließlich auch konkret sichtbar, wie groß die Gemeinsamkeiten des alten Emailleverfahrens mit den neuen Bildtechniken sind, die seit jeher mit Moholy-Nagys Telefonbildern kurzgeschlossen worden waren: Nämlich die verschiedenen künstlerisch genutzten, mechanischen Bildverfahren, begonnen bei der Fotografie bis hin zu den unterschiedlichsten Formen von Bildschirmbildern. Auch dort handelt es sich jeweils um eine spezifisch strukturierte Tonwert- und Farbinformation – Lichtstrahlen sowie elektromagnetische und digitale Bildsignale –, die dann in einer glatten, neutralen Oberfläche, zur Anschauung gebracht werden. Jeweils handelt es sich um Displays für unterschiedlich strukturierte Bilddaten. Umgekehrt könnte man deshalb auch für Moholy-Nagys Emailletafeln fragen, inwiefern es sich auch hier um Displays handelt: Handelt es sich bei den Emailletafeln um eine ‚Mattscheibe‘, in der eine normierte und auf Distanz übermittelte Bildinformation anschaulich gemacht werden kann? Es handelt sich um Darstellungsstrukturen, die denjenigen technischer Bilddisplays – allem voran dem Monitor – nahe kommen, obwohl sie natürlich im engeren medientechnischen Sinne nichts damit zu tun haben? So weisen die Bilder zugleich wieder auf ihre Differenzen zum elektronischen Display hin und markieren damit nochmals prototypisch das Paradox eines Telefonbildes, bei dem das Telefon möglicherweise 26 Vgl. De Duve 1996, S. 159ff.
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gar nicht zum Einsatz gekommen ist. Einerseits fällt es keinesfalls schwer, zu glauben, das die Metalltafeln genau nach den von MoholyNagy telefonisch diktierten Vorgaben – Format, standardisierte Farbwerte und genaue Lage und Größe der Flächenformen – gefertigt worden sein könnten. Gerade in der modularisierten Ausführung der gleich bleibenden Grundstruktur legen die Bilder eine solche Herstellungsweise sogar sehr nahe. Anderenfalls muss sie jedoch keinesfalls nur durch das Telefon bedingt sein: Vielmehr war die Rasterung und die Übersetzung in normierte Farbwerte für die industrielle Fertigung ohnehin notwendig. Und selbst in diesem vermeintlich genau steuerbaren und normierten Fertigungsverfahren sind die Metalltafeln in dem weiteren Arbeitsschritt – zumindest auf mikrostruktureller Ebene – wieder einem teils zufälligen Prozess ausgesetzt. Die vorher kristallin aufgetragenen Pigmente werden geschmolzen, sie verbinden sich eher willkürlich miteinander und bilden schließlich eine glatte Oberfläche: Hier ist sowohl die Option der telephonischen Übertragung und die industrielle Fertigung als auch jede Handschriftlichkeit und Irregularität vollkommen miteinander verschmolzen. Damit müssen Moholy-Nagys Telefonbilder im Hinblick auf ihre Aussagekraft über den ihnen zugrunde liegenden Entstehungsprozess letztlich unentschieden bleiben. Sie vermitteln genau jenes Paradox, das sich in der technischen Übermittelbarkeit des künstlerischen Bildes per Telefon ergeben muss: Auf der einen Seite steht die Loslösung vom Künstler und die Zurichtung des Bildes zwecks technischer Bildübertragung auf ein Display. Auf der anderen Seite markiert die Telefonleitung dennoch eine verbleibende Bindung des Bildes an den Künstler. Deshalb können die Emaillebilder, auch angesichts des direkteren Blicks darauf, weiterhin als ein historischer Ausgangs- und Vergleichspunkt – als emblematischer Wegweiser – für aktuelle Verfahren der Medien- und Netzkunst herangezogen werden, ohne darin aufgehen zu können: Einerseits kann sich der Einsatz des Telefons und mithin der Umbruch von einem direkten Herstellungs- zu einem apparativen Übermittlungsprozess in ihrer displayartigen Emailleoberfläche abzeichnen. Andererseits weisen die Bilder an der gleichen Stelle ebenso deutlich auf ihre Bindung an herkömmliche künstlerische Bildverfahren hin, in denen der Pinsel eben nicht vollständig gegen die Telefonleitung austauschbar ist.
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VON DER BILDERSCHAU ZUR NACHRICHTENSENDUNG Der Wandel der TAGESSCHAU in den 50er Jahren Die TAGESSCHAU wurde ab dem 26. Dezember 1952 regelmäßig vom bundesdeutschen Fernsehen ausgestrahlt. Nach vorangegangenen Versuchssendungen etablierte sich ein fester Sendeplatz zur Eröffnung des Abendprogramms um 20.00 Uhr. Entgegen weit verbreiteter Annahmen war sie jedoch zunächst keine Nachrichtensendung, sondern eine Bildercollage im Stil der Kino-Wochenschau. Erst ab 1959 wurden erstmals Nachrichten unmittelbar vor der TAGESSCHAU gesendet, und 1960 wurde aus der TAGESSCHAU selbst eine Nachrichtensendung. Im Folgenden geht es darum, diese Entwicklung, die bisher kaum beachtet wurde, zu rekonstruieren und zu erklären.1 Da nur einzelne Bildberichte, aber keine vollständigen Sendungen erhalten sind, beruht dieser Beitrag überwiegend auf einer Auswertung schriftlicher Quellen, die in der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main überliefert sind. Die wichtigsten Quellen sind die Sitzungsprotokolle der Entscheidungsgremien der ARD und eine Vielzahl verschiedener Dokumente aus der TAGESSCHAU-Redaktion. Hinzugezo1 Erstveröffentlichung in RuG Jg. 28, H. 3/4 (2002), S. 122-128. – In den veröffentlichten Interviews und Beiträgen der ehemaligen TAGESSCHAU-Redakteure, Martin S. Svoboda, Horst Jaedicke und Hans-Joachim Reiche, ist die Entwicklung der TAGESSCHAU von einer Bilderschau zur Nachrichtensendung präsent. Der akademische Diskurs hat dies bisher nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Die Ausnahme ist Drengberg, Joachim: „Die Tagesschau der fünfziger Jahre. Auf dem Weg zu einer täglichen Nachrichtensendung“, in: Mitteilungen StRuG, Jg. 12, H. 2 (1986), S. 128-134. Literatur zur TAGESSCHAU findet sich bei Ludes, Peter: „Vom neuen Stichwortgeber zum überforderten Welterklärer und Synchron-Regisseur. Nachrichtensendungen“, in: ders. et al. (Hrsg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3: Informations- und Dokumentarsendungen, München 1994, S. 17-90, siehe dort das Literaturverzeichnis: S. 80-90.
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gen wurden auch Artikel aus Fachzeitschriften und demoskopische Untersuchungen sowie Erinnerungen der TAGESSCHAU-Mitarbeiter, wenn sie sich durch zeitgenössische Quellen bestätigen lassen.
Die TAGESSCHAU als unterhaltende Bilderschau (1952-1959) In den überlieferten Quellen wird die TAGESSCHAU der 50er Jahre nicht als Nachrichtensendung bezeichnet. Für die Entscheidungsträger und die Macher der Sendung stand fest: „Die ‚Tagesschau‘ soll keine Nachrichten enthalten.“2 Dass die TAGESSCHAU keine Nachrichten enthält, ist für heutige Fernsehzuschauer, die die TAGESSCHAU als die Nachrichtensendung des deutschen Fernsehens schlechthin identifizieren, ein Paradox. Um dieses scheinbare Paradox aufzulösen, muss man zunächst den Begriff der Nachricht rekonstruieren, wie er in den 50er Jahren allgemein verwendet wurde, um dann die Sendeform der TAGESSCHAU zu analysieren. Nachrichten sind durch das Wort vermittelte Informationen über Ereignisse, die zwei Kriterien erfüllen müssen. Die Informationen müssen innerhalb einer Kommunikationsgesellschaft von Machern und Zuhörern bzw. Zuschauern aktuell sein und als relevant eingestuft werden. In den 50er Jahren gab es zwei zentrale Nachrichtenmedien: den Hörfunk und die Tageszeitung. Der Hörfunk war auf Grund der drahtlosen Übertragung das schnellste und daher nachrichtlich bedeutendste Medium der Zeit.3 Misst man die TAGESSCHAU der 50er Jahre an den Kriterien für den Nachrichtencharakter einer Information, die sich bis heute nicht verändert haben, kommt man zu dem Schluss, dass die TAGESSCHAU in der Tat keine Nachrichtensendung war. Die Macher der TAGESSCHAU, die vom Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) produziert wurde, hatten den Anspruch, in ihrer Berichterstattung aktuell zu sein, waren sich aber bewusst, dass sie den Vorsprung der Tageszeitung (geschweige denn den des Rundfunks) nicht einholen konnten. Ein Rückstand in der Berichterstattung von ein bis zwei Tagen gegenüber der Tagespresse galt als besondere Leistung: „Gerade die schnelle Film-Berichterstattung 24 oder 2 Ständige Programmkonferenz (13.09.1957); vgl. etwa auch: Ständige Programmkonferenz mit Fernseh-Beirat (10.01.1958) Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt a.M. (DRA Ffm) ARD-Registratur (ARD-Reg.) 6-58. 3 Vgl. Hagemann, Walter: Grundzüge der Publizistik, Regensburg/Münster 1947.
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48 Stunden später, wenn man es eben erst in der Zeitung gelesen hat [!], wird für manchen ein Anreiz sein, sich einen Fernsehempfänger zu kaufen,“ formulierte der erste Leiter der TAGESSCHAU, Martin S. Svoboda, 1952.4 Der Transport der Bilder war langwieriger, weil der Träger (also das Filmmaterial) physisch per Auto, Bahn oder Flugzeug von einem zum anderen Ort gebracht werden musste, während die Tageszeitung sich der Telegraphie und der Hörfunk sich des drahtlosen Funks bediente. Aber auch als 1959 die Technik (Richtfunknetz, Ampex-Magnetbandaufzeichnung) so weit entwickelt war, dass tagesaktuell berichtet werden konnte, erreichte die TAGESSCHAU die Aktualität des Hörfunks nicht, weil sie noch nicht täglich, geschweige denn mehrmals täglich wie die Hörfunknachrichten produziert wurde.5 Auf Grund der bis 1956 technisch unumgänglichen, langen Umschaltpausen zwischen den Landesrundfunkanstalten der ARD, vermied man, ein Abendprogramm von mehreren Sendern bestreiten zu lassen, so dass die TAGESSCHAU zunächst nur an den Abenden gesendet wurde, die vom NWDR getragen wurden. So wurde die TAGESSCHAU zunächst nur drei Mal wöchentlich – montags, mittwochs und freitags – und erst ab dem 1. Oktober 1956 an allen Tagen außer sonntags ausgestrahlt. Die Themenauswahl der TAGESSCHAU erfolgte in den 50er Jahren nicht in erster Linie nach dem Kriterium der Relevanz der Information, sondern nach Kriterien wie Sensation und Unterhaltung. Svoboda erläuterte dies 1953 so: [Die TAGESSCHAU] muß überzuckert sein mit Unterhaltung, Sport. Darum bemüht sich – genau wie das ganze Fernseh-Programm – auch die ‚Tagesschau‘. Darum kann sie für den ‚Tagesschau‘-Kuchen nicht auf die Rosinen und den Zucker verzichten. Sie benötigt die meist aus dem Ausland kommenden Modeschauen, Badeszenen, Pferderennen, usw. genau so bitter notwendig wie eine Wochenschau selbst. Ohne diese leichten und vom Publikum so gern gesehenen Zutaten können wir die Politik und Kultur nicht lange verkaufen. Dann schauen die Leute nämlich weg oder schalten sich erst später ein. Es heißt dann schnell: nicht interes6 sant, langweilig.
4 Svoboda, Martin S.: „Was kostet die Tagesschau ab Januar 1953?“, (16.09.1952) DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 5 Vgl. Svoboda, Martin S.: „Aktiv-Posten in der Jahresbilanz der Tagesschau“, in: Fernseh-Informationen, Jg. 11, H. 1 (1960), S. 3-4, hier S. 3. 6 Martin S. Svoboda an Intendant Werner Pleister (16.01.1953), S. 3. DRA Ffm ARD-Reg. 6-541.
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Die TAGESSCHAU hatte einen der Wochenschau vergleichbaren Anteil an Soft-News, Svobodas „Modeschauen, Badeszenen, Pferderennen“. Einzelanalysen aus den Jahren 1952 und 1953 verweisen auf einen SoftNews-Anteil der TAGESSCHAU von 40 bis 48 Prozent, während 55 Prozent der Wochenschau-Beiträge dieser Zeit aus vergleichbaren SoftNews bestanden.7 Die TAGESSCHAU vom 19. Oktober 1953 zum Beispiel präsentierte u.a. folgende Filmbeiträge: Dänisch-deutsches Pressefest, Kleingärtnerstadt Dortmund erhält goldenen Erntekranz, Gitarrenbau Bologna, Pferdeauktion in Deutsch8 land, Deutsche Fechtmeisterschaften.
Misst man die Relevanz der Berichte innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft am Standard der regionalen und überregionalen Tagespresse, so waren diese Berichte der TAGESSCHAU irrelevant: Von den genannten Soft-News der TAGESSCHAU wurde nur eine einzige in der Tagespresse überhaupt erwähnt.9 Gemessen am Nachrichtenbegriff brachte die TAGESSCHAU der 50er Jahre also tatsächlich keine Nachrichten, da ihre Berichte im Vergleich zu denen des Hörfunks und der Tagespresse weder aktuell noch durchweg relevant waren. Auch hinsichtlich der im Hörfunk und in der Tagespresse etablierten Präsentationsform von Nachrichten zeigt sich ein klarer Unterschied zur TAGESSCHAU. Nachrichten im Hörfunk und in den Tageszeitungen wurden so präsentiert, dass die Zuhörer bzw. Leser sich selbst ein Urteil bilden konnten, was voraussetzt, dass Bericht und Meinung getrennt wurden. Die TAGESSCHAU der 50er Jahre, die nicht den Anspruch hatte, Nachrichten zu vermitteln, vermischte Bericht und Kommentar. Die Kommentare, die ausschließlich von einem Sprecher im Off 7 Vater, Karlheinz: „Der Aufbau der Wochenschau“, in: Hagemann, Walter (Hrsg.): Filmstudien. Beiträge des Filmseminars im Institut für Publizistik an der Universität Münster, Emsdetten 1952, S. 61-68, hier S. 65. 8 Claßen, Elvira/Leistner, Annegret: „Probleme bei der Inhaltsanalyse von Fernsehnachrichtensendungen aus den 40er bis 60er Jahren. CBS Evening News und Tagesschau“, in: Georg Schütte (Hrsg.): Fernsehnachrichtensendungen der frühen Jahre. Archive, Materialien, Analysen, Probleme, Befunde, Siegen 1996, S. 70-84, hier S. 82. 9 Da der 19.10.1953 ein Montag war und die letzte TAGESSCHAU am Freitag ausgestrahlt wurde, muss man auch die Zeitungen vom Wochenende auswerten. Als Stichproben habe ich den Kölner Stadtanzeiger und die Frankfurter Allgemeine gewählt. In den Ausgaben beider Zeitungen vom 19.10.1953 wird als einziges der genannten Themen die Fechtmeisterschaft jeweils auf der Sportseite erwähnt (S. 5 bzw. S. 8). Die Samstagsausgaben (17.10.1953) enthalten keine der erwähnten Meldungen. Sonntags erschienen die Zeitungen nicht.
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(Cay Dietrich Voss) vorgetragen wurden, waren wie die der NEUEN DEUTSCHEN WOCHENSCHAU „pointiert und oft witzig“10. Die Sprechweise unterschied sich jedoch zunehmend vom rhetorisch groß angelegten Stil der Wochenschau, da nicht ein Publikum in einem großen Kino, sondern die Familie im eigenen Wohnzimmer angesprochen wurde. Da Unterhaltung ein hoher Wert war, dramatisierte die TAGESSCHAU der 50er Jahre zudem Ereignisse durch die Montage der Bilder und eine musikalische Untermalung aller Berichte. Die TAGESSCHAU wurde von den Programmverantwortlichen nicht als Nachrichtensendung konzipiert, weil sie von einer funktionalen Arbeitsteilung der Medien ausgingen. Nachrichten gab es über den Rundfunk und die Tageszeitung; die Bilder dazu wurden in der TAGESSCHAU des Fernsehens gezeigt. Horst Jaedicke, der ab Oktober 1952 Mitarbeiter der TAGESSCHAU war, beschrieb das Phänomen aus der Position der Macher retrospektiv so: Wir haben morgens eine Zeitung gekauft, ich habe die in der UBahn gelesen, und kam dann in die Redaktion und fragte: Was machen wir denn eigentlich? Dann hat man aus diesen Zeitungen heraus seine ‚Tagesschau‘ gestaltet, um sie am Abend in einigermaßen enger Anlehnung zu dem, was die Zuschauer am Tag schon 11 konsumiert haben, loszulassen.
Svoboda analysierte als Zeitgenosse dasselbe Phänomen aus der Position der Zuschauer: Die meisten Zuschauer hörten vor der ‚Tagesschau‘ Rundfunknachrichten, und die ‚Tagesschau‘ ergänzte diese Meldungen. In England sei die neue Form der ‚Tagesschau‘ (mit Kommentar, Nachrichten usw.) erst eingeführt worden, seitdem Hunderttausende von Zuschauern nur noch fernsehen und keinen Rundfunkapparat mehr haben. Die jetzige deutsche ‚Tagesschau‘ müsste als 12 Zugabe zu den Rundfunkmeldungen betrachtet werden.
In der TAGESSCHAU sah man also in Bewegung, was man vorher bereits gelesen oder gehört hatte – es sei denn die TAGESSCHAU brachte Bilder zu Ereignissen, die für die Nachrichtenmedien überhaupt keinen Wert hatten.
10 Vater 1952, S. 68. 11 Joachim Drengberg im Gespräch mit Horst Jaedicke, in: Mitteilungen StRuG, Jg. 12, H. 2 (1986), S. 136-139, hier S. 138. 12 Ständige Fernsehprogrammkonferenz (16. und 17.02.1956) DRA Ffm ARD-Reg. 6-541.
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Da die TAGESSCHAU als eine visuelle Ergänzung zu den Hörfunknachrichten konzipiert wurde, wurde eine Verdoppelung des Programmangebots vermieden. Für eine solche Konzeption gab es nur ein adäquates Vorbild, die Wochenschau, die über Jahrzehnte die gleiche Aufgabe erfolgreich erfüllt hatte.13 Die Wochenschau war in der Bundesrepublik der 50er Jahre so beliebt, dass 76 Prozent aller Zuschauer es bedauerten, wenn sie sie ganz oder teilweise versäumten.14 Die Pioniere des deutschen Fernsehens verstanden das neue Medium zudem als ein Bildermedium, für das es nur ein visuelles Modell gab: „Unser einziges Modell für das optische Nachrichtenwesen war die Wochenschau“, formulierte Jaedicke, der selbst vom Hörfunk kam, retrospektiv: Jedes bewegte Bild war im Grunde die Gestaltungsmöglichkeit der damaligen ‚Tagesschau‘. [...] Sie werden es heute für merkwürdig empfinden, aber der Vorwurf: Was Ihr macht, ist ja eigentlich Hörfunk, saß so tief in unseren Köpfen, daß wir versucht haben, jedes 15 sprechende Gesicht [...] zu vermeiden.
Die TAGESSCHAU übernahm jedoch nicht nur die Funktion und Struktur der Wochenschau, sondern bezog auch ihr Material von der NEUEN DEUTSCHEN WOCHENSCHAU, bis sie ab Mitte der 50er Jahre zunehmend auf Eigenproduktionen setzte. Bei aller Ähnlichkeit zwischen der TAGESSCHAU und der Wochenschau der 50er Jahre gab es doch zwei Unterschiede, die mit den unterschiedlichen Erscheinungsrhythmen zusammenhängen. Die TAGESSCHAU lieferte aktuellere und mehr Filmbilder als die Kino-Wochenschau, da sie anders als die Wochenschau nicht nur einmal, sondern, wie bereits erwähnt, zunächst drei Mal wöchentlich und ab dem 1. Oktober 1956 an allen Werktagen gezeigt wurde. Auf Grund der im Vergleich zur Wochenschau größeren Aktualität wurde die neue Fernsehsendung TAGESSCHAU genannt, neun Jahre bevor sie erstmals ab dem 3. September 1961 auch sonntags und damit täglich ausgestrahlt wurde. Jede TAGESSCHAU dauerte zudem 15 bis 25 Minuten, während eine Wochenschau nur etwa zehn Minuten lang war. Zudem mussten nicht wie bei der Wochenschau viele Kopien für den Kinoeinsatz gezogen und verbreitet werden; stattdessen wurde die Arbeitskopie gesendet, was der TAGES13 Vgl. Hagemann, Walter: Filmbesucher und Wochenschau, Emsdetten 1959. Hagemann geht daher davon aus, dass die „meisten Erkenntnisse, die eine solche Wochenschauuntersuchung vermitteln kann, [...] auch für die ‚Tagesschau‘ des Fernsehens“ gelten. (S. 2). 14 Vgl. ebd., S. 13. 15 Drengberg im Gespräch mit Jaedicke (wie Anm. 11), S. 138, 136.
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einen zusätzlichen Aktualitätsvorsprung gegenüber der Wochenschau einbrachte.16
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Nachrichten vor der TAGESSCHAU (1959/60) Die TAGESSCHAU mit Bildern zu Ereignissen, die den Zeitungslesern und Rundfunkhörern bereits bekannt waren, war bei den Zuschauern eine der beliebtesten Sendungen des Deutschen Fernsehens der 50er Jahre.17 Nur von einer kleinen Minderheit der Programmverantwortlichen wurde Kritik an diesem Konzept der Sendung laut. Clemens Münster vom Bayerischen Rundfunk kritisierte bereits 1956 intern scharf „das kleine Format [der TAGESSCHAU] und den kleinen Horizont der Hamburger Redaktion“18. Er verlangte Nachrichten und ihre angemessene Präsentation und stellte in einer Sitzung der ständigen Programmkonferenz fest: daß in der ‚Tagesschau‘ die umfassenden Informationen über das fehlten, was in der Welt geschehen ist. [...] [Er] spricht sich für den Verzicht auf ‚auflockernde Stories‘ aus [...] [und] äußert sich sodann kritisch zu den begleitenden Texten. Er lehnt die seiner Meinung nach häufig gebrauchten Kurzkommentare ohne Begründung, 19 die Informationen mit generalisierendem Urteil ab.
Münster forderte, „daß eine Vermengung von Bericht und Stellungnahme vermieden werden sollte“20. Nach längerer Diskussion wurde im Dezember 1957 bei den Intendanten Einigkeit darüber erzielt, dass „Nachrichten und ‚Tagesschau‘ untrennbare Bestandteile einer aktuellen Information im Abendprogramm des Deutschen Fernsehens sein müssen“21. Dieser Standpunkt war in den Entscheidungsgremien der ARD nicht zuletzt deshalb lange strittig, weil 16 Svoboda, Martin S.: „Vom Standfoto zur Tagesschau“, in: Fernseh-Informationen, Jg. 31, H. 3-5 (1980), S. 59-61, 86-88, 111-113; wiederabgedruckt in: Reimers, Karl Friederich et al. (Hrsg.): Von der Kino-Wochenschau zum aktuellen Fernsehen, München 1983, S. 125-140. 17 Bold, Hilde: „Daheim sehen ist bequemer. Welche Sendung gefällt dem Fernseher am besten?“, in: Kölner Stadtanzeiger (11.09.1956), S. 4; Noelle, Elisabeth/Neumann, Erich Peter (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958 – 1964, Allensbach/Bonn 1965, S. 118. 18 Clemens Münster an Hans-Joachim Lange (06.02.1956) DRA Ffm ARDReg. 6-541. 19 Ständige Fernsehprogrammkonferenz, 16. und 17.02.1956, ebd. 20 Ständige Fernsehprogrammkonferenz, 29.11. bis 01.12.1956, ebd. 21 Protokollnotiz zu einem Gespräch zwischen den Intendanten Eberhard Beckmann, Fritz Eberhard und dem Programmdirektor Hanns Hartmann als Intendantenvertreter am 19.12.1957, DRA Ffm ARD-Sitzungsprotokolle.
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man auf der Basis der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur „Befürchtungen vor jeder zentralen Nachrichtengebung“22 hatte. Die Nachrichten des Rundfunks wurden von den verschiedenen Landesrundfunkanstalten eigens produziert, so dass man in den verschiedenen Sendegebieten unterschiedliche Nachrichten hörte. Wegen der Skepsis gegenüber einem zentralen Angebot etablierten sich die ersten Nachrichtensendungen des Deutschen Fernsehens in den vor 20.00 Uhr gesendeten Regionalprogrammen. Am 2. März 1959 wurde erstmals vom Deutschen Fernsehen eine zentrale Nachrichtensendung ausgestrahlt. Vor der TAGESSCHAU wurden um 20.00 Uhr fünf Minuten Nachrichten verlesen, illustriert mit Standfotos. Dabei war der Nachrichtensprecher im Bild zu sehen; mehrere Sprecher wechselten sich im Wochenrhythmus ab. Für diese Nachrichtensendung vor der TAGESSCHAU stand als Modell die Nachrichtensendung im Hörfunk zur Verfügung, die in den 50er Jahren zu den beliebtesten Radiosendungen zählte. 64 Prozent aller erwachsenen Deutschen gab 1956 an, „fast täglich bzw. mehrere Male am Tag“ Nachrichten im Rundfunk zu hören.23 Die Hörfunknachrichten berichteten sachlich-distanziert über Ereignisse, die aktuell und gesellschaftlich relevant waren.24 Dass sich die Nachrichtensendung des Fernsehens an den Nachrichten des Hörfunks orientierte, war nahe liegend, weil Radio und Fernsehen von derselben Institution, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, produziert wurden. Die Nachrichten, die vor der TAGESSCHAU verlesen wurden, stammten daher auch konsequenterweise aus der Nachrichtenredaktion des NDR-Hörfunks.25 Die Gründe, weshalb die traditionelle Bilderschau durch Wortnachrichten im Fernsehen ergänzt wurde, wurden von den Programmverantwortlichen so formuliert: Der Beirat habe hier den in München bereits gefaßten Beschluß erneuert, dass im Interesse des Zuschauers auf die Dauer auf einen Nachrichtendienst zur Eröffnung des Abendprogramms nicht ver22 Ständige Programmkonferenz mit Fernseh-Beirat (21.05.1958) DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 23 Noelle, Elisabeth/Neumann, Erich Peter (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, Allensbach 1957, S. 79. 24 Stichproben bei Hörfunknachrichten: WELTNACHRICHTEN (HR, 25.07.1954 um 19.40 Uhr); (07.01.1955 um 19.42 Uhr); (06.01.1956 um 19.42 Uhr); (10.11.1956 um 19.41 Uhr), Hessischer Rundfunk – Historisches Archiv, Film-Nr. 2601, 2610. 25 Vgl. „Der neue Nachrichtendienst des Deutschen Fernsehens“, in: FUNKKorrespondenz, Jg. 7, H. 10 (1959), S. 1-2.
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zichtet werden könne. [...] Der normale Zuschauer würde kaum mehr den Rundfunknachrichtendienst hören, er sei deshalb auf Nachrichten im Fernsehen angewiesen. [...] Die Fernsehzuschauer würden ja keine Nachrichten mehr hören, man müsse aber für die 26 politische Orientierung sorgen.
Der Vorsitzende der ARD, Franz Stadelmayer, hielt in seiner Vorlage für die Entscheidung der Intendanten am 3. Dezember 1958 fest: Zentrale Nachrichten im Fernsehen, und zwar im Zusammenhang und im Anschluss an die ‚Tagesschau‘ sind notwendig, weil der überwiegende Teil der Fernsehzuschauer keinen Rundfunk mehr hört, infolgedessen ohne Nachrichten bliebe, wenn das Fernsehen 27 ihn nicht mit Nachrichten versorgt.
Der Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die Mediennutzer zu informieren, schien gefährdet, weil sie statt Rundfunknachrichten zu hören nur noch die Bilderschau des Fernsehens sahen. Aus einer Erhebung des Allensbacher Instituts für Demoskopie, die vom SDR in Auftrag gegeben wurde, ist zu ersehen, dass die Hörbeteiligung an den abendlichen Nachrichtensendungen des Rundfunks (um 19.30 Uhr, seit 1963 um 19.00 Uhr) nach Aufnahme der TAGESSCHAU kontinuierlich sank (von knapp 40 Prozent 1953 auf gut 20 Prozent 1958, auf gut 15 Prozent 1963, unter 10 Prozent 1968, auf unter 5 Prozent 1971).28 Diesem Rückzug der Hörer stand eine konstante Popularität der TAGESSCHAU gegenüber: Nach der Stichtaguntersuchung der NWDR-Hörerforschung im Winter 1954 sahen etwa zwei Drittel der Zuschauer in den wenigen Fernsehhaushalten der ersten Stunde im NWDR-Gebiet gestern die ‚Tagesschau‘ um 20.00 Uhr. Ähnliche Reichweiten für die inzwischen zahlreicher gewordenen potentiellen Fernsehzuschauer ergaben sich für die ARD-Hauptnachrichten an allen Wochentagen aus 29 der Stichtaguntersuchung des Jahres 1960.
Die Ausstattung der Haushalte mit Fernsehgeräten nahm in den 50er Jahren stetig zu (4 Prozent 1956, 9 Prozent 1957, 11 Prozent 1958, 16 26 Ständige Programmkonferenz mit Fernseh-Beirat (21.05.1958) DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 27 Franz Stadelmayer an die Intendanten der ARD, 3.12.1958, ebd. 28 Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.): Der Süddeutsche Rundfunk und seine Hörer. Stichtagkontrollen und Trends 1968-1971 (unveröffentlicht), S. 61-69, hier: Schaubild 22, S. 62. 29 Bessler, Hansjörg/Frank, Bernward: „Fernsehnachrichten im Spiegel der kontinuierlichen Zuschauerforschung“, in: Publizistik, Jg. 22, H. 4 (1977), S. 371-383, hier S. 371.
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Prozent 1959, 24 Prozent 1960), wobei die Nutzung u.a. durch Nachbarn und Verwandte größer war, als es diese Zahlen erwarten lassen. Daher musste man davon ausgehen, dass immer mehr Menschen die TAGESSCHAU sahen, statt die abendlichen Rundfunknachrichten zu hören. Die Entscheidungsträger reagierten also auf einen signifikanten Wandel im Nutzungsverhalten der Medien Rundfunk und Fernsehen, indem sie die Hörfunknachrichten zur Eröffnung des Abendprogramms ins Fernsehen brachten. Die Programmverantwortlichen haben den Mediennutzungswandel – immer mehr Menschen sahen die TAGESSCHAU, während immer weniger die abendlichen Hörfunknachrichten hörten – jedoch missverstanden, indem sie das veränderte Verhalten der Mediennutzer als zunehmendes Desinteresse an politischen Informationen interpretierten. Tatsächlich war das Informationsbedürfnis der Mediennutzer von den 50er zu den 60er Jahren ungebrochen: Zum einen wurden die Hörfunknachrichten zu anderen Zeiten, insbesondere morgens früh (um 7.00 Uhr und um 8.00 Uhr) regelmäßig gehört, ohne dass sich das Nutzungsverhalten in diesem Zeitraum in dieser Hinsicht gewandelt hätte.30 Zum anderen hat sich auch das Verhalten, wie die Tageszeitungen genutzt wurden, nicht verändert. 1956 gaben 71 Prozent der erwachsenen Deutschen an, „täglich“ oder „beinahe täglich“ eine Zeitung zu lesen. 1965 lasen an einem durchschnittlichen Werktag 77 Prozent aller Erwachsenen eine regionale bzw. überregionale Tageszeitung.31 Da sich die Bevölkerung über die Tageszeitung und zu veränderten Zeiten im Hörfunk über die relevanten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignisse informierte, kann von einem generellen Rückgang des Informationsbedürfnisses nicht die Rede sein. Die Programmverantwortlichen haben ihre Entscheidung, die TAGESSCHAU durch eine vorhergehende Nachrichtensendung zu ergänzen, also auf Grund einer Missinterpretation des Hörfunknutzerverhaltens getroffen. Entgegen ihrem eigenen Handlungsmotiv, den Fernsehzuschauern zu bringen, wovor diese zu fliehen schienen – nämlich Nachrichten –, lag der Ausbau der TAGESSCHAU zu einer Nachrichtensendung genau auf der Linie der Zuschauernachfrage, wie nun zu zeigen sein wird.
30 Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.) (wie Anm. 28), S. 62. 31 Noelle/Neumann (Hrsg.) 1957, S. 50-51; dies. (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-1967, Allensbach 1967, S. 105.
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Die TAGESSCHAU als Nachrichtensendung (ab 1960) Das Konzept der TAGESSCHAU blieb in der ersten und zweiten Phase im Grundsatz unverändert. Erst in der unmittelbaren Abfolge von Nachrichten und TAGESSCHAU wurde konsensfähig, dass die TAGESSCHAU nicht einfach eine Schau lebender Bilder zu den Ereignissen des Tages war, sondern hinsichtlich der Themenauswahl nicht dem Rundfunkjournalismus, sondern der Boulevardpresse folgte. Galten die Wortnachrichten als Inbegriff der Seriosität, so erschien die TAGESSCHAU dem Fernsehbeirat im Juni 1959 nun als unseriös: Erneut wurde das starke thematische Durcheinander der ‚Tagesschau‘ moniert, die vor allen Dingen jetzt zu einem Zeitpunkt, bei dem die vorhergehenden Nachrichten noch nicht in ein organisches Miteinander zur ‚Tagesschau‘ getreten sind, immer mehr zum Charakter der Bildzeitung zu werden droht, die nach den seriösen 32 Tagesnachrichten zu sehen ist.
Auf Grund dieser Kritik wurde die bloße Aufeinanderfolge von Nachrichten und TAGESSCHAU nach knapp zwei Jahren aufgelöst, um die TAGESSCHAU selbst zu einer Nachrichtensendung zu machen: Die Nachrichten zu Beginn des Abendprogramms, für die bisher die Nachrichtenredaktion des NDR zuständig war, sollen Bestandteil der gesamten ‚Tagesschau‘ werden, da die jetzige Trennung von Wort- und Bildnachrichten nicht für tragbar gehalten wird; in Zukunft wird der Wert der Nachricht allein über ihren Platz inner33 halb der ‚Tagesschau‘ entscheiden.
Am 1. Dezember 1960 wurde nach einigen Versuchssendungen die erste reguläre TAGESSCHAU ausgestrahlt, die den Anspruch hatte, eine Nachrichtensendung zu sein. Die neue Form der TAGESSCHAU basierte auf verbal vermittelten Nachrichten, die von einem im Bild sichtbaren Sprecher, Karl-Heinz Köpcke, vorgetragen wurden.34 Indem die TAGESSCHAU zu einer Nachrichtensendung umgestaltet wurde, wurden die Hörfunknachrichten zu ihrem Modell. Aktualität und Relevanz der Informationen waren nun die Kriterien für die Selektion der Ereignisse, über die berichtet werden sollte. Die TAGESSCHAU war nun keine visuelle Ergänzung zu den Hörfunknachrichten mehr, sondern eine Alternative. Seit dem 3. Januar 1961 wurde zudem eine Spätausgabe der TAGESSCHAU ge32 Fernseh-Beirat, 11. und 12.06.1959, DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 33 Ständige Programmkonferenz, 22. bis 24.04.1960, ebd. 34 Vgl. „Man wird ihn vermissen. Köpcke und die Tagesschau waren für viele eins“, in: Allensbacher Berichte, H. 22 (1987), S. 2.
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sendet, so dass das Abendprogramm nicht nur mit einer Nachrichtensendung begann, sondern auch endete. Die TAGESSCHAU baute eine eigene Nachrichtenredaktion auf, die sich im Wesentlichen aus erfahrenen Mitarbeitern des NDR-Hörfunks rekrutierte. „Meine Absicht läuft darauf hinaus“, schrieb der Intendant des NDR am 17. Februar 1960 an den Vorsitzenden der ARD, „die ganze ‚Tagesschau‘, also gesprochene Nachrichten und Filmberichte, als eine Nachrichtenschau in Zusammenarbeit mit dem Nachrichtenapparat des NDR zu entwickeln und die Verantwort35 lichkeiten entsprechend zu verteilen.“
Hans-Joachim Reiche, seit 1947 beim NWDR-Hörfunk und auf aktuelle Berichterstattung spezialisiert, wurde am 1. September 1960 neuer Leiter der TAGESSCHAU und mit der Ausarbeitung eines Konzepts betraut. Mitarbeiter der Nachrichtenabteilung des NDR und andere Mitarbeiter verstärkten seinen Stab, so dass die vorgesehene Umstellung bewältigt werden konnte.36 Ziel war die Entwicklung einer fernsehspezifischen Form der Nachrichtenpräsentation. „Nachrichten sollen in wirklich fernsehgerechter Form vermittelt werden“, forderte der Fernsehprogrammbeirat im Oktober 1960, „und zwar soll eine Verflechtung von Film- und Wortberichten erfolgen.“37 Die von einem Sprecher verlesenen Nachrichten bildeten die Grundstruktur der Sendung, die gegebenenfalls mit Filmberichten und Standfotos angereichert wurde. Da die neuen Redakteure der TAGESSCHAU in der Mehrzahl vom Hörfunk kamen, war der Umgang mit Bildern für sie neu. „Wir mußten Bild dazu lernen“38, formulierte Reiche retrospektiv. Obwohl die Nachrichtensendung der BBC, die einige Jahre vorher entwickelt worden war, ein Vorbild hätte abgeben können, beschrieb Reiche die Entwicklung des neuen Sendekonzepts der TAGES39 SCHAU als ein „learning by doing.“
35 Walter Hilpert an Friedrich Bischoff, 12.02.1960, DRA Ffm ARD-Reg. 6541. 36 Vgl. Hanns Hartmann und Walter Hilpert an Eberhard Beckmann, 06.10.1960, ebd. 37 Fernseh-Beirat, 14. und 15.10.1960, ebd. 38 „Entwicklungskontexte bundesdeutscher Fernsehnachrichtensendungen. Ein Interview mit Hans-Joachim Reiche, ehemaliger Leiter der Redaktion Tagesschau und des ZDF-Studios Bonn“, in: Peter Ludes (Hrsg.): Informationskontexte für Massenmedien. Theorien und Trends, Opladen 1996, S. 96-105, hier 98. 39 Ebd., S. 100.
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Da primär informiert werden sollte, änderte sich die Präsentationsweise der Nachrichten: Bilder von Ereignissen hatten in der neuen TAGESSCHAU nur noch einen zweitrangigen Status, da sich die Selektion der Nachrichten nach ihrem Nachrichtenwert und nicht mehr nach der Verfügbarkeit der Bilder richtete. Daher berichtete die TAGESSCHAU der 60er Jahre auch von Ereignissen, von denen es (noch) keine Bilder gab bzw. für die Bilder keinen besonderen Informationswert hatten. Konsequent sank der Anteil der Filmbeiträge, der in der ersten Phase 100 Prozent betrug, auf 56 Prozent im Jahr 1963.40 Nachricht und Meinung oder Kommentar wurden streng getrennt, und die Sprechweise war nun sachlich-distanziert. Der Sprecher war größer im Bild zu sehen, aber noch nicht so groß wie wir das heute von der TAGESSCHAU gewohnt sind. Der Hintergrund, vor dem der Sprecher zu sehen war, wechselte entsprechend der jeweiligen Nachricht, wobei erstmals visuelle Mittel wie Landkarten oder Schautafeln systematisch eingesetzt wurden, um ergänzende Informationen zu geben. Zudem wurde auf eine Dramatisierung der Ereignisse zunehmend verzichtet: Die begleitende Musik wurde zunächst auf sportliche Ereignisse beschränkt, bevor sie völlig wegfiel. Die TAGESSCHAU als Nachrichtensendung war bei den Programmverantwortlichen kein Streitthema mehr, und die Zuschauer schätzten die neue Sendeform sehr. Gegenüber der älteren TAGESSCHAU wurde die Bewertung durch die Zuschauer deutlich positiver: Sie stieg auf einer Skala von -10 bis +10 von +3,5 für die TAGESSCHAU ohne Nachrichten auf +5,6 für die TAGESSCHAU als Nachrichtensendung.41 Das Konzept der TAGESSCHAU, bei dem ein im Bild sichtbarer Sprecher Nachrichten verliest, die durch Filmberichte ergänzt werden, wurde vom Grundsatz her seit den 60er Jahren nicht mehr geändert, was Neuerungen gewiss nicht ausschloss. Die Aktualität wurde durch technische Neuerungen wie die Satellitenübertragung weiter optimiert, die Internationalität der Berichterstattung im Rahmen der Eurovision ausgeweitet, das Kriterium der Nachrichtenrelevanz in der TAGESSCHAU-Redaktion diskutiert und an der Präsentation der Nachrichten immer wieder gearbeitet.42 40 Claßen 1996, S. 40-69, hier S. 56. 41 Durchschnittswerte der TAGESSCHAU laut Infratest, Stichproben 07.12.1959-31.01.1959; 04.12.1960-07.01.1961. 42 Abend, Michael: „Die Tagesschau. Zielvorstellungen und Produktionsbedingungen“, in: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 22, H. 2 (1974), S. 166187; ders.: „Ein kleiner Schritt auf einem langen Weg. Was sich ein Tagesschau-Redakteur von der Forschung verspricht“, in: Publizistik, Jg. 22, H. 4 (1977), S. 419-436.
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Zusammenfassung Die Analyse hat verdeutlicht, wie sich die TAGESSCHAU zu einer Nachrichtensendung in drei Phasen entwickelt hat. In der ersten Phase ab 1952 war die TAGESSCHAU eine unterhaltende Bilderschau vergleichbar der Kino-Wochenschau. In der zweiten Phase, die am 2. März 1959 begann, wurden um 20.00 Uhr unmittelbar vor der TAGESSCHAU fünf Minuten Nachrichten verlesen, die von der Hörfunk-Nachrichtenredaktion des NDR stammten, woran sich die traditionellen Filmberichte der TAGESSCHAU im Wochenschaustil anschlossen. Die dritte Phase begann am 1. Dezember 1960, indem die TAGESSCHAU selbst zu einer Nachrichtensendung umgebaut wurde, die sich primär am Modell der Hörfunknachrichten orientierte und die Filmberichterstattung funktional integrierte – ein Konzept, das sich bis heute erhalten hat. Das Deutsche Fernsehen der ARD-Rundfunkanstalten produzierte Anfang der 50er Jahre keine Nachrichtensendung, weil die Bevölkerung bereits aus dem eigenen Haus über den Hörfunk mit Nachrichten versorgt wurde. Um eine Verdoppelung des Programmangebots zu vermeiden, konzipierte man die TAGESSCHAU als eine visuelle Ergänzung zu den Hörfunknachrichten. Die Wochenschau bot sich als adäquates Vorbild der TAGESSCHAU an, weil sie eine solche Arbeitsteilung der Medien bereits seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert hatte. Zudem definierten die Pioniere des Fernsehens das Medium als ein Bildmedium, für das es als visuelles Modell einer aktuellen Filmberichterstattung nur die Wochenschau der Kinos gab. Erst als die Programmverantwortlichen die rückläufige Einschaltquote der abendlichen Hörfunknachrichten bei steigender Nutzung der TAGESSCHAU als zunehmendes politisches Desinteresse der Bevölkerung interpretierten, brachten die Verantwortlichen Nachrichten ins Fernsehprogramm, weil sie den Programmauftrag hatten, die Zuhörer und Zuschauer zu informieren. Die Entscheidung der Programmverantwortlichen beruhte jedoch auf einer Missinterpretation der Fakten. Tatsächlich schätzten die Zuschauer Nachrichten sehr und bewerteten daher die zur Nachrichtensendung umgebaute TAGESSCHAU positiver als die unterhaltende Bildercollage im Stil der Boulevardzeitungen.
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ZÄSUREN IM NORMALISIERUNGSPROZESS SPANISCHER REGIONALSPRACHEN AM BEISPIEL DES RADIOS Die Tatsache, dass politische Grenzen nicht mit sprachlichen Grenzen korrespondieren, trifft auf die meisten europäischen Staaten zu. Lediglich Portugal und Island stellen eine Ausnahme dar und können als relativ monolinguale Staaten angesehen werden. Ist nun die Situation gegeben, dass sich eine Gesellschaftsgruppe über ein und dieselbe Sprachvarietät definiert und ihre kulturelle und sprachliche Anerkennung einfordert, so kann der jeweilige Staat auf diese Forderung in Form von sprachpolitischen Maßnahmen reagieren. Für die Existenzbedingung von Sprachgemeinschaften ist besonders der durch politische Reglementierungen festgelegte Status der jeweiligen Sprache relevant. Eine grundlegende Entscheidung, die jeder Staat treffen muss, falls der sprachlichen Heterogenität Rechnung getragen werden soll, besteht darin, festzulegen, welchen Sprachen nun der offizielle Status zuerkannt wird. Außerdem stellen die Determination des geographischen Raumes, in der die Sprache offiziellen Status genießt und die Festlegung des funktionellen Geltungsbereichs zwei weitere bedeutsame Aspekte im Rahmen der Sprachpolitik dar. Ein einzelstaatliches Beispiel für regional-sprachliche Vielfalt ist Spanien. Auf dem Territorium des heutigen Spaniens koexistieren neben der offiziellen Staatssprache Kastilisch weitere romanische und eine nicht-romanische Sprache. Ingesamt leben über 40%1 der Bevölkerung Spaniens in einer zweisprachigen Region, in der neben Kastilisch die jeweilige autochthone Sprache gesprochen wird. In ihrer geographischen Ausbreitung sind diese von West nach Ost: Galizisch in der Autonomen Gemeinschaft Galizien mit einer Sprecherzahl von ca. 2.2 Mio. (ca. 80% der Bevölkerung Galiziens); Asturianisch (von den Sprechern allgemein 1 Prozentzahl nach Siguan, Manuel: España plurilingüe, Madrid 1992.
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als bable bezeichnet) in Asturien mit ca. 600.000 Sprechern; Aragonesisch in der Autonomen Gemeinschaft Aragonien, das von ca. 8-12.000 Sprechern beherrscht wird (ca. 1% der Bevölkerung Aragoniens); weiter östlich in einem Tal der Zentralpyrenäen, dem Val d’Aran mit der zahlenmäßig kleinsten Sprechergruppe von ca. 4000 Sprechern;2 ebenfalls in den Pyrenäen angesiedelt ist das Baskische als einzige nicht romanische Sprache3 in der Autonomen Gemeinschaft Baskenland (Autonym: Euskadi ) mit ca. 550.000 Sprechern4; die wohl stärkste Regionalsprache Spaniens, was die Sprecherzahl betrifft, ist Katalanisch in den Autonomen Gemeinschaften Katalonien, Valencia und den Balearen mit insgesamt ca. 7 Mio. Sprechern.5 Die bereits angesprochene Existenzbedingung hat Spanien durch seine postfranquistische Sprachpolitik den Regionalsprachen gewährleistet. In der im Jahre 1978 in Kraft gesetzten Verfassung referiert Artikel 3 auf die sprachliche Situation Spaniens. Absatz 1 deklariert das Kastilische als offizielle Sprache des Staates:6 „El castellano es la lengua española oficial del Estado […].“ Die Existenz anderer Sprachen neben dem Kastilischen wird in Artikel 2 anerkannt: „Las demás lenguas españolas serán también oficiales en las respectivas Comunidades Autónomas de acuerdo con sus Estatutos.“ Obwohl die sprachliche Vielfalt verfassungsrechtlich verankert wird, steht außer Frage, dass dem Kastilischen ein besonderer Status zugesprochen wird. Als lengua oficial del Estado erstreckt sich der Kommunikationsraum der kastilischen Sprache über das gesamte spanische Staatsgebiet, während die Offizialität und somit der kommunikative Aktionsradius der anderen spanischen Sprachen – die übrigens nicht namentlich erwähnt werden – auf ihre jeweilige Region limitiert bleiben. Gemäß Absatz 2 erhalten sie außerdem erst dann ihren offiziellen Status, wenn dieser in den jeweiligen Autonomiestatuten expliziert wird. Aus Perspektive der Regionalsprachen lässt sich eine gewisse Hierarchisierung konstatieren, denn wie bereits erwähnt, sind alle nicht-kastilischen Sprachen nur in einem bestimmten Territorium mit
2 Vgl. Kattenbusch, Dieter: „Zum Stand der Kodifizierung von Regional- und Minderheitensprachen in Spanien, Frankreich und Italien“, in: Staib, Bruno (Hrsg.): Linguistica romanica et indiana. Festschrift für Wolf Dietrich, Tübingen 2000, S. 207-227, hier S. 215ff. 3 Die definitive Provenienz des Baskischen konnte bisher noch nicht geklärt werden. 4 Vgl. Haarmann, Harald: Kleines Lexikon der Sprachen. Von Albanisch bis Zulu, München 2001, S. 77. 5 Vgl. Lüdtke, Jens: Die katalanische Sprache, München 1984, S. 16. 6 Folgende Gesetzesartikel zitiert aus: Siguan 1992, S. 75.
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dem Kastilischen kooffiziell. Außerhalb dieser Territorien verlieren sie ihren offiziellen Charakter. Auf regional-politischer Sicht herrscht somit eine institutionelle Symmetrie vor, während aus gesamtstaatlicher Perspektive die Sprachensituation als asymmetrisch definiert werden kann. Spanien lässt sich dementsprechend nicht als mehrsprachiger Staat kategorisieren, sondern als einsprachiger Staat mit regionaler Zweisprachigkeit.7 Nach 1975 wurden die Autonomiestatute der einzelnen Regionen verabschiedet. In sechs dieser Regionen bestätigen diese Verfassungen die Kooffizialität der eigenen Sprache neben dem Kastilischen: Katalonien, Valencia und die Balearen erklären Katalanisch zur kooffiziellen Sprache, das Baskenland und Navarra heben Baskisch in diesen Status und in Galizien fungieren Galizisch sowie Kastilisch als offizielle Sprachen. Außerdem gilt laut Autonomiestatut Kataloniens von 1979 das Aranesische als Unterrichtssprache und genießt Schutz und Achtung.8 Nach der Gesetzesänderung von 1990 wird schließlich das Aranesische in den Status einer Amtssprache gehoben. In Artikel 7 des Autonomiestatuts von Aragonien werden die sprachlichen Eigenheiten Aragoniens zwar als historisches und kulturelles Erbe geschützt, genießen aber keinen offiziellen Status. Asturianisch soll laut Gesetzestext in Asturien ebenfalls geschützt werden, aber die territoriale Offizialität wird der autochthonen Sprache nicht zuerkannt. Auch wenn das Kastilische überregional dominiert, stellt die verfassungsrechtliche Anerkennung der sprachlich-kulturellen Vielfalt Spaniens einen radikalen Umbruch zur Vergangenheit dar und gehört sicherlich zu den bedeutendsten Leistungen im spanischen Demokratisierungsprozess. Die spanischen Regionalsprachen blicken allerdings auf eine recht bewegte Vergangenheit zurück, was ihr Recht auf Gebrauch in der Öffentlichkeit anbetrifft. Höhepunkt der repressiven Sprachpolitik stellt die Franco-Diktatur von 1939-1975 dar. Franco zielte auf eine Vereinheitlichung Spaniens in sprachlichethnischer Hinsicht: ‚con una sola lengua, el castellano, y con una sola personalidad, la española‘. Die zentralistische Sprachenpolitik Francos vertritt die Anschauung, dass sich eine Nation nur über eine Sprache definieren kann, und dass das Nationalgefühl ausschließlich mit dem Ge7 Vgl Kremnitz, Georg: Die Durchsetzung der Nationalsprachen in Europa, Münster, New York, München, Berlin 1997, S. 14. 8 Regional-politisch gehört das Val d’Aran zur Provinz Lleida, die wiederum Teil der Autonomen Gemeinschaft Katalonien darstellt.
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brauch einer einzigen Sprache ausgedrückt werden kann. Diese Funktion wird allein dem Kastilischen zugesprochen.9 Die Durchsetzung des Kastilischen auf gesamtstaatlicher Ebene und die daraus resultierende Verbannung der anderen Sprachen geschahen mittels Gebrauchsverboten, die bei Missachtung Strafmaßnahmen mit sich zogen. Die seitens Francos intendierte Nivellierung der katalanischen Sprache umfasste unter anderem das Verbot sämtlicher Medien auf Katalanisch. Bibliotheken mussten schließen und den Buchbestand vernichten. Die katalanische Presse wurde verboten und ebenfalls die Verwendung des Katalanischen im Fernsehen und Radio.10 Die Repressionspolitik betraf natürlich auch die anderen nicht-kastilischen Sprachen. Baskische Radiosender existiereten zwar noch bis Anfang der 60er Jahre,11 allerdings unterlagen die Moderationen der franquistischen Zensur. In ihrer freien Meinungsäußerung waren die Basken folglich radikal eingeschränkt und konnten das Radio nicht als Sprachrohr ihrer sprachlichen sowie kulturellen Eigenständigkeit verwenden. Letztendlich konnten sich diese Radiosender, die zwar unter der Protektion der katholischen Kirche standen, nicht mehr halten. Bis 1975 verschwand die baskische Sprache vollständig aus dem Radiosektor bzw. aus dem gesamten Medienbereich. Nicht zuletzt ist eine Pluralisierung des Medienangebots ein Indiz für den Demokratisierungsstand einer Gesellschaft. Gerade in Bezug auf Regional- oder Minderheitensprachen zeichnen sich die Massenmedien durch verschiedene Funktionen aus. Die Präsenz dieser Sprachen in den Medien trägt zur Wahrung der kulturellen und sprachlichen Identität bei. Massenmedien, deren spezifisches Charakteristikum darin besteht, ein breites Publikum zu erreichen, können somit einen Beitrag zur Integration und Identitätsstiftung leisten. Hinzu kommt die Komponente der interkulturellen Kommunikation. Die Präsenz der Minderheitensprachen in einem Massenmedium macht diese auch für die Sprecher der Mehrheitssprache sicht- bzw. hörbar.
9 Brumme, Jenny/Bochmann, Klaus: Sprachpolitik in der Romania: zur Geschichte sprachpolitischen Denkens und Handelns von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Berlin, New York 1993, S. 394ff. 10 Vgl. Puschmann, Claudia: „Zur historischen Dimension der Sprachunterdrückung in Europa vom 18. bis 20. Jahrhundert“, in: Bott-Bodenhausen, Karin: Unterdrückte Sprache: Sprachverbote und das Recht auf Gebrauch der Minderheitensprachen, Frankfurt a.M., Berlin, New York, Paris, Wien 1996, S. 15-31, hier S. 25. 11 Segura Irratia, Herri Irratia-Radio Popular de Pamplona, Arrate Irratia en Eibar, Radio Popular de Bilbao, Radio Popular-Herri Irratia de Loiola, Radio Popular-Herri Irratia de San Sebastián.
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Die repressive Sprachpolitik Francos trug außerdem dazu bei, dass die Regionalsprachen bei ihren Sprechern ihr Prestige verloren. Mit dem Prestigeverlust ging das Phänomen der Sprachilloyalität einher: Viele Sprecher gaben ihre eigene Sprache zugunsten der dominierenden Sprache Kastilisch auf. Begünstigt wurde diese Tendenz in Katalonien und im Baskenland durch die zunehmende Urbanisierung und Industrialisierung, die viele Arbeitskräfte aus dem kastilischsprachigen Raum mit sich zog. Im Falle der Balearen spielte die Einführung des Tourismus in den 50er eine tragende Rolle. Für viele Festlandspanier boten sich neue Arbeitsmöglichkeiten in den touristischen Zentren. Auch die einheimische Bevölkerung findet im Tourismus und den damit verbundenen Branchen, wie z.B. im Baugewerbe neue Erwerbsquellen. Die Immigranten kommen zwar aus sozial schwachen Regionen und haben meistens ein niedrigeres Bildungsniveau, sprechen aber die Sprache mit dem höheren Prestige und somit sehen sie die Notwendigkeit nicht, die autochthone Sprache zu lernen.12 Einziges Kommunikationsmittel zwischen einheimischer Bevölkerung und den sich ansiedelnden kastilischsprachigen Arbeitskräften in den wirtschaftlich geprägten Zentren auf den Balearen sowie auf dem Festland (Katalonien und im Baskenland) war Kastilisch. Die Folge daraus war der Verlust der Sprachkompetenz in der eigenen Sprache. In Katalonien beispielsweise waren 1939 95% der Bevölkerung katalanischsprachig. 1975 waren es nur noch 74,3%. Auf den Balearen fiel der Prozentsatz von 90% auf 75% ab.13 Auf Grundlage der Autonomiestatuten, die die juristische Gleichstellung der Regionalsprache mit dem Kastilischen definiert haben, wurde in in den Jahren 1982 bis 1986 der Normalisierungsprozess eingeleitet. Der Terminus ‚Normalisierung‘ ist in diesem Kontext ursprünglich von der katalanischen Soziolinguistik geprägt worden und bezeichnet mittlerweile in der Linguistik jegliche institutionalisierte Maßnahmen, die die Verbreitung und die Förderung einer Regional- oder Minderheitensprache in allen gesellschaftlichen Kommunikationssituationen zum Ziel haben. Sprachliche Normalisierung kommt erst dann zum Tragen, wenn sie praktisch umgesetzt bzw. institutionalisiert wird. Diese Funkti12 Vgl. Berkenbusch, Gabriele: „Mallorkinisch oder Katalanisch? Standard oder Varietäten? Auf den Spuren von Pep Gonella“, in: Berkenbusch, Gabriele/Bierbach, Christine: Soziolinguistik und Sprachgeschichte: Querverbindungen, Tübingen 1994, S. 81-97, hier S. 91. 13 Prozentangaben aus: Vallverdú, Francesc: „Los medios de comunicación en el proceso de normalización lingüística: El impacto de los medios audiovisuales en Cataluña.“, in: Hintz, Susanne (Hrsg.): Essays in honor of Josep M. Solà-Solé. NewYork u.a. 1996, S. 123-142, hier S. 123.
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on übernehmen Ministerien, Behörden oder auch private Einrichtungen. Galizien, Katalonien, die Balearen und das Baskenland haben zur Umsetzung der Normalisierung ein eigenes Ministerium eingerichtet. Vorraussetzung für einen Normalisierungsprozess ist eine Sprachpolitik, die den Status einer Sprache reglementiert. Hinter dem Schutzschild der Sprachpolitik kann sich nun der Prozess der Normalisierung entfalten. In spezifischen Sprachgesetzen werden Richtlinien für die praktische Umsetzung der Normalisierung festgelegt. Galizien verabschiedete 1983, das Baskenland und Katalonien14 1982 und schließlich 1986 die Balearen Normalisierungsgesetze. Schwerpunkte dieser Gesetzesvorlagen liegen auf den Bereichen Verwaltung, Bildungswesen und Medien. Eines der Hauptanliegen der Normalisierungsgesetze ist jedoch die Präsenz der jeweiligen Regionalsprachen in den Kommunikationsmedien. Beispielsweise verpflichten die Artikel 27-32 des Normalisierungsgesetzes der Balearen die autonome Regierung dazu, den Gebrauch des Katalanischen in staatlichen und privaten Radio- und Fernsehsendern zu unterstützen, allen Bürgern die Möglichkeit zu bieten, sich auf Katalanisch durch die Medien zu informieren, den Empfang katalanischer Fernsehsender anderer autonomer Gemeinschaften zu ermöglichen, Bücher, Zeitungen, Theateraufführungen, kulturelle Organisationen, die Produktion, sowie die Ausstrahlung synchronisierter oder untertitelter Filme auf Katalanisch zu fördern und allen Medien finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, die beabsichtigen, Katalanisch zu verwenden. Hindernisse, mit denen allgemein der Normalisierungsprozess konfrontiert wird, sind in erster Linie die folgenden zwei Aspekte: 1. der jeweilige Kodifizierungsstand der Regionalsprache und 2. die unzureichende Kenntnis seitens der Bevölkerung von der durchzusetzenden Sprache. Eine Sprache kann erst dann in allen Gesellschaftsbereichen ‚normalisiert‘ werden, wenn Referenzformen in der Orthographie, Phonetik, Morphologie, Syntax und in der Lexik vorliegen. Mitunter wird die Kodifizierung dadurch verzögert, dass man sich nicht auf eine verbindliche Referenzform einigen kann. Besonders in Gebieten, in denen verschie-
14 An die Stelle des Sprachnormalisierungsgesetzes in Katalonien tritt das Gesetz zur Sprachpolitik (Llei de política lingüístisca), das am 7. 1. 1998 verabschiedet wurde. Das Gesetz enthält unter anderem eine Reihe von Bestimmungen, die technische Neuerungen wie Privat-, Kabel-, oder Satellitenfernsehen und Computertechnologien etc. betreffen.
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dene diatopische Varietäten existieren, ist es ein schwieriges Unterfangen eine sprachliche Varietät auszuwählen, die als Normvariante gelten soll. Der aktuelle Stand der Kodifizierung der spanischen Regionalsprachen fällt sehr unterschiedlich aus. Die Kodifizierung des Katalanischen hat einen solchen Fortschritt erlangt, dass dem Katalanischen unter den Regionalsprachen eine gewisse Vorbildfunktion zukommt. Wenn auch das Galizische seit 1982 über einen Vorschlag zur Normierung der Orthographie und Morphologie (Normas ortográficas e morfolóxigas do idioma galego) verfügt, wird die Orthographie bis in die Gegenwart immer noch diskutiert. Als weitestgehend kodifiziert in allen Bereichen gilt das Asturianische, während für das Aragonesische bisher noch kein Referenzwörterbuch vorliegt. Noch weniger Erfolge im Kodifizierungsprozess kann das Aranesische aufweisen. Bisher gilt nur die aranesische Orthographie als normiert.15 Die baskische Einheitssprache (Euskara Batua) setzt sich zwar allmählich durch, ringt aber noch um die Anerkennung der gesamten baskischen Bevölkerung, da Euskara Batua nur auf der Grundlage von zwei baskischen Sprachvarietäten basiert und die anderen außer Acht lässt.16 Bezüglich der mangelnden Sprachkompetenz, die ein weiteres Hindernis im Normalisierungsprozess darstellt, konnte nach Francos Tod eine positive Entwicklung konstatiert werden. In den 80er und 90er Jahren nahmen die Sprachkenntnisse wieder zu: 1986 stieg z.B. die Zahl der Katalanischsprachigen in Katalonien auf 90% an. Vallverdú macht in erster Linie die audiovisuellen Medien als „motor principal“ für den Anstieg der Sprachkompetenz in Katalonien verantwortlich.17 Wenn sich auch gegenwärtig die Sprachkenntnisse der Bevölkerung in Bezug auf ihre eigene Sprache durch den Einsatz der audiovisuellen Medien im Normalisierungsprozess wieder stabilisiert haben, so gibt es immer noch starke Divergenzen zwischen der Lese- und Verstehenskompetenz wie die folgenden Angaben illustrieren: 72,3% der Bevölkerung in Katalonien gibt an, Katalanisch lesen zu können, während 94,9% Katalanisch verstehen kann. In Galizien sind es 91,2 %, die Galizisch verstehen, aber nur 46,9% können ihre Sprache lesen. Aranesisch wird von 90% der aranesischen Bevölkerung verstanden und 59,3% besitzen eine Lesekompetenz.18
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Vgl. Kattenbusch 2000, S. 216f. Vgl. Haarmann 2001, S.81. Vgl. ebd, S. 131f. Angaben basieren auf dem Zensus von 1991.
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Wie aus den statistischen Angaben ersichtlich ist, ist der Anteil der Regionalsprachen verstehenden Bevölkerung in Relation gesehen groß, während die Lesekompetenz wesentlich niedriger ist. Verschärft formuliert kann man bei großen Teilen der regionalen Bevölkerung von Analphabeten in ihrer autochthonen Sprache ausgehen. Die vergleichsweise geringe Lesekompetenz schließt nicht nur die Bevölkerungsmehrheit von der Rezeption der Printmedien aus, sondern droht auch den Normalisierungsprozess in gewisser Weise einzudämmen. In einer solchen Situation fällt dem audiovisuellen Sektor, bei dem die Verstehenskompetenz erforderlich ist, eine herausragende Stellung zu. Innerhalb der audiovisuellen Medien ist vor allem dem Radio die Chance vorbehalten, einen zusätzlichen Umbruch in der Normalisierung zu markieren. In diesem Zusammenhang soll auf drei Aspekte hingewiesen werden, die die Relevanz des Radios als Medium im Normalisierungsprozess hervorheben: x Konsumquantität x Verwendung des mündlichen Registers x Interaktion Im Gegensatz zum Fernsehen, besteht beim Radio die Möglichkeit, dieses Medium in wesentlich mehr Lebenssituationen zu konsumieren, sei es im Auto, bei der Arbeit oder bei Freizeitaktivitäten im Freien etc. Das Radio kann hier als passiv rezipiertes Medium aktiv in den Normalisierungsprozess eingreifen. Das Ziel die Regionalsprachen in allen Lebensbereichen zu etablieren, lässt sich durch das Massenmedium Radio besser umsetzen, denn im Gegensatz zum Fernsehen können mehr Menschen über mehrere Stunden täglich erreicht werden. In vielen Regionalsendern lässt sich die Tendenz beobachten, dass Radiosprecher die Verwendung der Normsprache vermeiden und sich eher an dem mündlichen Register orientieren: „Sie verzichten häufig auf jegliche sprachpflegerische Intention und beschränken sich darauf, die Umgangssprache wiederzugeben.“19 Dieses Phänomen trifft z.B. in vielen Lokalsendern Mallorcas zu, die in ihren Moderationen den mallorquinischen Dialekt verwenden und nicht die beiden Normsprachen Katalanisch oder Kastilisch. Regionalsprachen wie bspw. das Aragonesische oder Aranesische, deren Kodifizierung noch nicht zum definitiven Abschluss gekommen ist, können mittels des Rundfunks dennoch medial präsent sein. Dadurch 19 Siguan, Miquel: Die Sprachen im vereinten Europa, Tübingen 2001, S. 107.
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wird natürlich auch das Bewusstsein der jeweiligen Sprechergemeinschaft geschärft, dass ihre Sprache einen medialen-öffentlichen Wert besitzen kann und nicht nur auf privat-informelle Kommunikationssituationen beschränkt bleiben muss. Dieses Bewusstsein erhöht schließlich das Prestige der Sprache. Ein Aspekt, der unabdingbar für eine erfolgreiche Normalisierung ist. Das Medium Radio bietet oft den Rezipienten die Möglichkeit zur aktiven Beteiligung innerhalb der einzelnen Programme. Diese Interaktion als Moderationskonzept schlägt eine Brücke vom Massenmedium zum Sprecher einer Minderheitensprache und trägt ebenfalls zur Prestigeaufwertung der Sprache bei. Sprecher von Regional- oder Minderheitensprachen erleben, dass ihre Sprache – wie schon angesprochen – auch als Mediensprache fungieren kann und nicht nur als Kommunikationsmittel in der Privatssphäre. Ein Blick auf den aktuellen Normalisierungsprozess verdeutlicht die Relevanz der audiovisuellen Medien bzw. des Radios. Bei allen spanischen Regionalsprachen ist zu beobachten, dass die jeweiligen autonomen Regierungen ihren Schwerpunkt im Normalisierungsprozess auf audiovisuelle Medien bzw. auf den Hörfunksektor setzen. Printmedien spielen zunächst eine sekundäre Rolle. Mit der Verabschiedung des Autonomiestatuts Kataloniens im Jahre 1983 ist eine „revolución cultural“ verbunden: Die autonome Regierung Kataloniens (Generalitat) richtete im gleichen Jahr die Corporació Catalana de Ràdio i Televisió (CCRT) ein, die als einzige Mediensprache das Katalanische einsetzte. Die CCRT rief gleich vier verschiedene Radiosender ins Leben: Catalunya Ràdio, Catalunya Informació, Catalunya Música und Catalunya Cultura. Alle Sender strahlen ihre Programme täglich 24 Stunden lang ausschließlich in katalanischer Sprache aus. Einzigartig in Spanien zum Zeitpunkt der Entstehung war das Konzept des Senders Catalunya informació. Der Akzent der Programmgestaltung lag in erster Linie auf politischer und lokalspezifischer Berichterstattung. Das Programm von Catalunya Cultura wurde erstmalig am 02.05.1999 gesendet. Wie der Name des Senders anzeigt, zielt Catalunya Cultura auf eine kulturelle Berichterstattung ab. Die beiden Sender Catalunya Informació und Catalunya Cultura setzen einen neuen Akzent im Normalisierungsprozess. Ihre themenspezifischen Programme etablieren das Katalanische als Kultursprache und Kommunikationsmittel in den öffentlichen Bereichen wie z.B. der Politik. Die Relevanz dieses Aspekts wird besonders vor dem historischen Hintergrund deutlich.
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Gegenwärtig gibt es ca. 183 Radiosender auf lokaler Ebene, deren Mehrheit in katalanischer Sprache senden. Bei den Sendern der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten konzipieren 49% der Radiosender ihre Programme ausschließlich in katalanischer Sprache. Nur 29% der Sender greift auf eine zweisprachige Moderation zurück.20 Im Gegensatz zu Katalonien hat die autonome Regierung der Balearen bisher keine eigene Fernseh- und Rundfunkgesellschaft gegründet. Jedoch wird der Empfang von katalanischsprachigen Festlandsendern ermöglicht, aber sie stehen eher nicht in der Gunst der Hörer. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass das Normkatalanische von der Bevölkerung der Balearen abgelehnt wird. Der Sprachkonflikt Normkatalanisch und den diatopischen Varietäten des Katalanischen stellt eine zusätzliche Hürde im Normalisierungsprozess der Balearen dar. Mit der Einführung des Radiosenders SOM Ràdio21 am 1. September 2000 ist zum ersten Mal von balearischer Seite ein großer Schritt in Richtung Normalisierung der katalanischen Sprache getan worden. Von großer Relevanz ist die Tatsache, dass die Programmgestaltung von SOM Ràdio für die Balearen konzipiert ist und als Moderationssprache das Register der Regionalen Norm verwendet wird. Als ‚Motor‘ im baskischen Normalisierungsprozess werden analog zu Katalonien die audiovisuellen Medien eingesetzt. 1982 gründete die autonome Regierung eine Fernseh- und Rundfunkgesellschaft (Euskal Irrati Telebista). Ihr primäres Ziel besteht darin, die baskische Kultur und Sprache zu verteidigen und zu fördern. Im Bereich des Hörfunks hat sich in den letzten Jahren viel getan. Baskischsprachige Radiosender können einen stetigen Hörerzuwachs verzeichnen. Die aktuelle Zahl der Radiosender Radio Irratia, Radio Euskadi (auch via Satellit weltweit mit einem halbstündigem Programm zu hören) sowie dem Jugendsender Euskadi Gaztea liegt bei ca. 340.000 Hörern täglich.22 Analog zu Katalonien und dem Baskenland ermöglichte die autonome Regierung Galiziens den Empfang einer eigenen Radiostation. Radio Galega, das täglich von 152.000 Hörern konsumiert wird, sendet ausschließlich in galizischer Sprache. Außerdem gibt es in Galizien eine Vielzahl von lokalen Sendern in den einzelnen Provinzen.23
20 21 22 23
Vgl. http://cultura.gencat.net/llengcat, 24.03.2004 Verwaltet wird SOM Ràdio von dem multimedialen Konzern Grupo Serra. Persönliche Mitteilung der Autonomen Regierung am 22.01.2004. Vgl. http//uoc.edu/euromosaic/web/document/gallec, 24.03.2004.
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Die Autonome Gemeinschaft Asturien, die zwar ihr bable nicht offizialisiert, setzt im Normalisierungsprozess auf den Hörfunksektor und nicht auf die Printmedien. 3 Jahre nach Verabschiedung des Normalisierungsgesetzes wurden zwei Radiosender (Radio Sele und Radio Kras) geschaffen, deren ausschließliches Kommunikationsmittel das Asturianische darstellt. Die öffentlich-rechtlichen Sender Spaniens Onda Cero und Ser y Cope senden zwar Nachrichten in der Regionalsprache, aber diese sind auf wenige Minuten in der Woche begrenzt. Erst relativ spät, im Jahre 1996, kommt eine Tageszeitung (Les Noticies) als ‚Konkurrenz‘ zu den kastilischsprachigen Zeitungen auf den Markt. Die Präsenz von Medien in aragonesischer Sprache sieht recht dürftig aus. Lediglich ein Radiosender (Huesca) strahlt wöchentlich dreißig Minuten eine Sendung auf Aragonesisch aus. Die geringe Existenz des Aragonesischen hängt damit zusammen, dass das Autonomiestatut dem Aragonesischen keine Offizialität zuerkennt. Abschließend sollte noch ein Blick auf die Kompatibilität des Radios mit den neuen Medien geworfen werden. Sicherlich stoßen Regional- oder Minderheitensprachen auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn es darum geht, ihre kommunikative Nützlichkeit im Internet unter Beweis zu stellen. Allerdings machen der Aspekt der Globalisierung und die ansteigende Anzahl der Nutzer das Internet und die damit verbundenen Dienste zu einem wichtigen Faktor in der Normalisierung einer Sprache. In Anbetracht der Tatsache, dass immer mehr Menschen das Internet – sei es als Informationsquelle oder Kommunikationsmittel – nutzen, könnte es langfristig sogar bedeutender für den Normalisierungsprozess werden, als die traditionellen Medien. Jedoch bleibt in diesem Kontext dem Radio die Möglichkeit zu einer erneuten Zäsur vorbehalten. Radioprogramme können über das Internet distribuiert werden und sind somit live hörbar. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass das Radio sich von einem eindimensionalen Medium zu einem multimedialen virtuellen Medium entwickeln kann. Neben Ton können weitere multimediale Inhalte wie Text und Bild angeboten werden. Möglichkeiten, die das Radio zum ‚motor digital‘ im Normalisierungsprozess spanischer Regionalsprachen werden lässt.
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Abbildung 1: Die spanische Gliederung der Iberischen Halbinsel24
24 Adaptiert nach H. Berschien u.a., Die spanische Sprache, München 1987, S. 41.
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„FIND THE ANSWER WITHIN.“ SOFTWARE ENTWICKLUNG IM GLEICHGEWICHT ZWISCHEN IMPLEMENTIERUNG UND DOKUMENTATION Die Entwicklung komplexer Softwaresysteme hat in den letzten Jahrzehnten manche Softwarekrise durchgemacht. Die zunehmende Komplexität der Anforderungen auf der einen und der Technik auf der anderen Seite führt zum Scheitern etlicher Softwareprojekte. Die notwendigen Methoden und Verfahren konnten mit der rasanten Entwicklung der technischen Möglichkeiten und den immensen Anforderungen, diese im Kontext konkreter Geschäftsprozesse einzusetzen, oft nicht Schritt halten. Ausgehend von diesen misslichen Erfahrungen und der Suche nach möglichen Lösungen, ist es in der Informatik zu Lösungen gekommen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite erhöht man die Abstraktionsebene immer weiter, um die Realisierung von Softwaresystemen auf Geschäftsprozessebene anzugehen und durch automatische Transformationen in technikbasierte Modelle das Risiko zu senken. Doch trotz aller Modelle und Transformationsschritte, das Ergebnis ist am Ende wieder die Umsetzung innerhalb einer Programmiersprache – Quelltext. Und hier kommt der andere Ansatz ins Spiel: Statt mit einem abstrakten Modell zu beginnen, wird in agilen Entwicklungsprozessen der Quelltext als der Mittelpunkt sämtlicher Realisationen und Dokumentationen eines Softwaresystems angesehen. Radikaler kann eine mediale Zäsur in der Informatik kaum sein: Wo vorher Dokumente und Diagramme den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Quelltextes gebildet haben, startet man – mit nichts, außer der programmatisch zu lösenden Aufgabe. Somit wird die sprachliche Abstraktion dessen, was in letzter Instanz als Softwaresystem realisiert werden soll, durch die Konkretisierung in maschinell verarbeitbaren Quelltext ersetzt. Doch wie passt es zusammen, dass diese Konzentration
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auf die Implementierung die Entwicklung vereinfacht und das Softwaresystem als Ganzes gleichzeitig robuster und wartbarer macht? Im Folgenden werden wir deshalb diskutieren, wie dieses Paradox aufgelöst werden kann und welche Veränderungen und Konsequenzen diese mediale Zäsur in der Informatik hervorruft.
Kurze Einordnung der Vorgehensmodelle Die Konzentration agiler Prozesse auf die eigentliche Anwendung führt dazu, dass das ausführbare Softwaresystem und damit der Quelltext eine wichtige Rolle innerhalb des Softwareentwicklungsprozesses spielt. Das Agile Manifest bringt dies auf den Punkt: „Working Software over Documentation“1. Aber man darf agile Prozesse nicht auf den Aspekt des eigentlichen Programmierens reduzieren: Die zentrale Rolle spielt die Einbindung des Kunden und damit dessen Anforderungen an die Software, die bei der Entwicklung umgesetzt werden sollen. Doch wie lässt sich der Widerspruch erklären, dass dabei die Dokumentation nur eine untergeordnete Rolle spielt und nicht mehr Mittler zwischen Kundenanforderungen und Software ist? Dazu muss man kurz auf die Historie der Softwareentwicklungsprozesse eingehen. Ende der neunziger Jahre brachten agile Prozesse frischen Wind in die Softwareentwicklung. Extreme Programming als der bekannteste Vertreter agiler Prozesse polarisierte schon früh durch seine unkonventionellen Vorgehensweisen die Entwicklerlandschaft. Zusammen mit anderen Prozessmodellen wie Scrum oder Adaptive Development mündeten die Ideen und Konzepte im Agile Manifesto, das in vier prägnanten Aussagen die Grundprinzipien agiler Vorgehensmodelle zusammenfasst: x x x x
Individuals and interactions over processes and tools Working software over comprehensive documentation Customer collaboration over contract negotiation 2 Responding to change over following a plan
Diese Prinzipien stehen in krassem Widerspruch zu den klassischen dokumentenbasierten Entwicklungsprozessen, die auf klar strukturierten und vollständig dokumentierten Prozessen aufsetzen. Die Entstehung der Software ist dabei von Anfang bis Ende in unterschiedliche Phasen separiert, die durch begleitende, qualitätssichernde Maßnahmen Fehlentwick1 Beck, Kent et al.: http://www.agilemanifesto.org (Mai 2004). 2 Ebd.
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lungen verhindern und technische Risiken reduzieren. Die bekanntesten Vertreter für klassische Entwicklungsprozesse sind dabei das ergebnisorientierte Phasenmodell als Weiterentwicklung des Wasserfallmodells, das Spiralmodell oder das V-Modell. Allen klassischen Modellen ist gemein, dass sie einen großen Zeithorizont umfassen, auf einer sehr detaillierten Planung aufsetzen und der Prozess sowie die Prozessergebnisse im Mittelpunkt stehen. Ein vorgegebenes Vorgehensmodell dient als Grundlage, um es an die Anforderungen des konkreten Projektes anzupassen. Dabei sind die elementaren Bereiche Systementwicklung, Projektmanagement und Qualitätssicherung mit eingeschlossen. Mit diesem Startgepäck steht man vor der Frage des „Wie“ und „Wann“: Es wir definiert, was im Rahmen einer Aktivität zu geschehen hat. Dies wird ergänzt durch die Anleitung, wie dies umzusetzen ist und wann es zu geschehen hat, wobei zumeist ein streng sequenzielles Vorgehen zugrunde liegt. Jede Aktivität wird dabei durch spezielle Vorlagen und Checklisten dokumentiert sowie die Ergebnisse per Review bewertet. Die erstellten Dokumente dienen auch zur Projektverfolgung und Ergebniskontrolle. In der Praxis bedeutet dies, dass zum Beispiel in der Analysephase mehrere Fachszenarien als Anwendungsfälle dokumentiert werden. Dies geschieht durch Verwendung von Sprache innerhalb von formalisierten Textdokumenten. In der Designphase werden beispielsweise Systemverhalten und Funktionalitäten als sprachliche Beschreibung und Implementierungsmodelle definiert. Die Implementierungsphase arbeitet auf Objektszenarien, die ebenfalls oft als Modelle erstellt und erst anschließend in Quelltext umgesetzt werden, oft unterstützt durch spezielle Programmgeneratoren zur maschinellen Erzeugung von Quelltext. Nach erfolgreicher Integrations- und Testphase wird das Softwaresystem an den Kunden ausgeliefert. Dieses Vorgehen hat den klassischen Softwareentwicklungsprozessen auch das Attribut „schwergewichtig“ eingebracht. Von der Aufnahme der Kundenanforderung bis hin zu den ersten Implementierungsschritten wird Dokumentation erzeugt. Dabei dominiert zu einem hohen Grad vor allem die sprachliche Beschreibung über formalisierte Textdokumente. Ein Problem besteht darin, dass Probleme, die in einer späteren Phase erkannt werden, Auswirkungen auf die vorherige Phase haben können und Änderungen bedingen. Dies kann zur Folge haben, dass bereits erzeugte Arbeitsergebnisse und damit Dokumente oder Modelle obsolet werden und diese Phase zumindest in Teilen neu durchlaufen werden muss.
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Ein anderes Problem ergibt sich, wenn Verzögerungen auftreten. Diese führen dazu, dass Folgeaktivitäten und damit möglicherweise komplette Entwicklungsphasen verschoben werden müssen. Steht ein Endtermin für das Projekt bereits fest, so ist offensichtlich, dass jede Verzögerung direkte Auswirkungen auf den Zeitrahmen der späteren Phasen hat. Wird ein Projekt vor oder in der Implementierungsphase gestoppt, so erhält man zwar eine umfassende Dokumentation über das System an sich, der praktische Nutzen ist jedoch gering, da kein lauffähiges Softwaresystem vorliegt. Den Schwächen der klassischen Vorgehensweisen steht mit dem Rational Unified Process (RUP)3 ein Entwicklungsprozess gegenüber, der viele der aufgeführten Schwachpunkte angeht und den Fokus mehr auf die eigentliche Systementwicklung legt. Allerdings ist RUP sehr stark werkzeugbasiert: Die formalisierte sprachliche Dokumentation wird hier durch eine Reihe von Entwicklungswerkzeugen aus dem Hause Rational ergänzt. Diese formalisieren einerseits die Dokumentation und konzentrieren sie auf technische Dokumente, erhöhen dadurch aber andererseits sogar noch deren Stellenwert und forcieren zudem den zugrunde liegenden, komplexen Prozessgedanken. Und hier schließt sich der Kreis: Ausgehend von den bereits vorgestellten vier Grundprinzipien lösen sich agile Prozesse nicht nur vom allumfassenden Dokumentations- sondern auch vom werkzeugzentrierten Prozessansatz, um die Kommunikation und Interaktion aller Beteiligten an der Softwareentwicklung in den Vordergrund zu stellen. Und dabei ist auch und vor allem der Kunde ein wichtiger Beteiligter, dessen Anforderungen und Ziele berücksichtigt werden. Dadurch steht die Konzentration auf die agile Umsetzung der Anforderungen des Kunden, die sich zu beliebigen Zeitpunkten im Laufe der Entwicklung ändern können, im Mittelpunkt, und nicht der von Anfang bis Ende geplante Entwicklungsprozess. Damit dieser Ansatz trotz aller Flexibilität und der damit verbundenen Unplanbarkeit trotzdem erfolgreich verläuft, definieren agile Prozesse ein Geflecht aus Praktiken, die dieses Vorgehen auf der einen Seite steuern, aber auf der anderen Seite trotzdem genügend Freiheiten lassen, um die vorgestellten Prinzipien umsetzen zu können. Die zugrunde liegenden Praktiken bilden dabei einen flexiblen Rahmen, innerhalb dessen ein Softwaresystem entwickelt und die Risiken minimiert werden.
3 Vgl. Kroll, Per/Kruchten, Philippe: The Rational Unified Process Made Easy, Addison Wesley 2003.
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Agile Prozesse in der Praxis Das Dilemma zwischen dokumentenzentrierten Entwicklungsprozessen und agilen Vorgehensmodellen wird im Folgenden an einem einfachen Beispiel aufgezeigt. Dafür diskutieren wir den Entwurf eines Zeiterfassungssystems, wie es in vielen Firmen zum Nachweis der vom Mitarbeiter geleisteten Stunden eingesetzt wird. Diese kurze Beschreibung reicht in agilen Modellen schon aus, um als Metapher4 für das zu entwerfende System zu dienen und eine grundlegende Vorstellung von der Zielrichtung der Software zu bekommen. Die konkrete Ausprägung ist dadurch allerdings noch nicht vorgegeben. Ein Zeiterfassungssystem kann darüber hinaus die unterschiedlichsten Ausprägungen haben. Je komplexer das System ist, umso höher ist auch der Realisierungsaufwand, unabhängig vom verwendeten Vorgehensmodell. Beispielsweise sind folgende Anforderungen denkbar: x Erfassung der Arbeitszeiten pro Mitarbeiter, nach Projekt qualifiziert. x Bereitstellung der Arbeitszeiten aller Mitarbeiter in einem zentralen Datenpool. x Nutzung einheitlicher, projektweiter Schlüssel. x Realisierung eines Rollenkonzepts mit unterschiedlichen Berechtigungen. x Erstellung von Controlling Auswertungen. x Integration in die bestehende IT-Infrastruktur des Unternehmens. x Verwendung für Außendienstmitarbeiter, beispielsweise mit PDA Anbindung und Offline Synchronisation. x Erfassen der Arbeitszeiten externer Mitarbeiter. x Anbindung an Fremdsysteme. Diese Anforderungen lassen sich noch beliebig fortsetzen, aber bereits hier wird deutlich, dass es sich bei der zu entwickelnden Software um eine komplexe Aufgabe handelt. Um die Umsetzung anzugehen, betrachten wir nun die zwei unterschiedlichen Ansätze agiler und dokumentenzentrierter Entwicklungsprozesse im direkten Vergleich. Startet man mit dokumentenzentrierten Softwareentwicklungsprozessen, so nimmt die Vorarbeit schon einen Großteil der Zeit in An4 Hiermit ist der Begriff der Metapher gemeint, wie er innerhalb von Extreme Programming verwendet wird: Dort gibt die sog. Metapher (engl. Metaphor) einen kurzen Überblick darüber, was ein Softwaresystem leisten soll (vgl. http://www.c2.com/cgi/wiki?SystemMetaphor, Mai 2004).
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spruch: Man beginnt in der Analysephase damit, die Anforderungen an das Softwaresystem sprachlich zu beschreiben, um alle Benutzungsmöglichkeiten zu erfassen. Es werden so genannte Use Case Dokumente geschrieben, die die Grundlage für die folgenden Schritte legen. Als Medien kommen dabei Sprache als Text sowie erste Modelle beispielsweise in Form von UML-Diagrammen zum Einsatz. Zentraler Punkt dabei ist aber fast immer die Beschreibung des Use Case innerhalb einer formalisierten Dokumentstruktur als Prosa: „A use case is a prose essay.“5 Über das Design der Software wird im nächsten Schritt die grundsätzliche Implementierung festgelegt, wobei ebenfalls die modellbasierte Darstellung im Vordergrund steht. Das Design betrachtet das zu entwickelnde Softwaresystem dabei als Ganzes und schließt alle bekannten Anforderungen an das Softwaresystem ein, um Konflikte in späteren Phasen schon im Vorfeld auszuschließen. Erst wenn das Design entwickelt wurde, kann die eigentliche Implementierung des Softwaresystems auf Quelltextebene erfolgen. Sobald diese vollständig abgeschlossen ist, findet der Systemtest statt, der die Umsetzung der Anforderungen durch das Softwaresystem sicherstellen soll. Eine Konsequenz aus diesem Vorgehen ist, dass eine große Menge an Dokumentation und Modellen entwickelt wird, bevor die erste Codezeile der eigentlichen Anwendung geschrieben wird. Bis dahin vergeht Zeit – Zeit, die Ressourcen verschlingt und Geld kostet. Wird während dieser Zeit das Projekt gestoppt, so liegt nur die Dokumentation vor, aber keine Anwendung, die einsetzbar ist. Agile Modelle verzichten als „leichtgewichtige“ Prozesse auf diese umfangreichen Vorarbeiten und starten hingegen damit, dass zunächst die wichtigsten Benutzungsszenarien informell im Planungsspiel6 gemeinsam mit dem Kunden als User Stories identifiziert werden. Dann werden die in den User Stories skizzierten Anforderungen priorisiert und es werden Schätzungen für die höchst priorisierten Aufgaben gemacht – und schon geht es ans Werk: Das eigentliche Softwaresystem wird implementiert. Die Implementierung geschieht in so genannten Iterationen, die zwei bis drei Wochen dauern. In einer Iteration werden die höchstpriorisierten User Stories und damit die wichtigsten Kundenanforderungen implementiert. Dadurch hat man bereits nach der ersten Iteration ein System, das für den Kunden wichtige Teilfunktionalitäten abdeckt und auch 5 Cockburn, Alistair: Writing Effective Use Cases, Reading, Massachusetts 2000. 6 Beck, Kent: Extreme Programming Explained, Reading, Massachusetts 2000, S. 55.
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eingesetzt werden kann. Es steht kontinuierlich ein lauffähiges Softwaresystem zur Verfügung, das jederzeit vom Kunden verwendet werden kann. Das Softwaresystem wird schrittweise erweitert und stellt damit gleichzeitig auch die Basis für die Kommunikation zwischen Kunde und Entwickler dar. Jede Entwicklungsstufe wird vom Kunden dahingehend genutzt, ob die besprochenen Benutzungsszenarien den Vorstellungen entsprechen oder ob in einer der nächsten Iterationen Änderungen daran notwendig sind. Durch die im Vergleich zu dokumentenzentrierten Prozessen radikale Konzentration auf das Softwaresystem an sich findet eine mediale Zäsur statt: Die Kommunikation zwischen Entwickler und Anwender erfolgt nicht mehr über sprachliche Use Case Dokumentation, sondern über die ausgeführte Anwendung. Doch damit nicht genug: Um den Entwicklungsprozess kalkulierbar und beherrschbar zu machen, führen agile Prozesse Praktiken ein, die klare Richtlinien für die Entwicklung geben. Orientierten sich Entwickler in klassischen Entwicklungsprozessen bei der Realisierung des Quelltextes an der Designdokumentation und der modellhaften Beschreibung der Umsetzung, so bilden in agilen Prozessen die Quelltext-zentrierten Techniken wie beispielsweise Refactoring und Unit Test selbst den Rahmen für die Umsetzung. Somit ist auf Entwicklerseite ebenfalls eine mediale Zäsur zu verzeichnen: Die Implementierung und das Design der Anwendung wird nicht über sprachliche Beschreibung festgehalten, sondern durch den strukturierten Quelltext selbst und die dazu gehörigen Tests.
Kommunikationsformen innerhalb agiler Prozesse: Von der sprachlichen Beschreibung der Implementierung zum Quelltext Um die Konzentration auf die Softwareentwicklung effektiv und erfolgreich umzusetzen und die bereits angesprochenen Ziele wie Risikominimierung und Zielorientierung zu garantieren, geben agile Prozesse einen flexiblen, aber nichtsdestotrotz umfassenden Rahmen vor. Erst dieser Rahmen ermöglicht, basierend auf alternativen Kommunikationsformen wie Quelltext und Software, ein gemeinsames Verständnis und Vorgehen zu definieren. Dieses Selbstverständnis agiler Prozesse spiegelt sich auch darin wider, dass sie trotz Wegnahme der traditionellen Kontrollmechanismen einen stabilen Rahmen für die Projektdurchführung sowohl für
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die Entwicklungs- als auch für die Managementebene schaffen, eben das „Chaos kontrollieren“.7 Das grundsätzliche, iterative Vorgehen agiler Prozesse ist in Abbildung 1 am Beispiel von Extreme Programming dargestellt, da es einen klar definierten Rahmen für die Softwareentwicklung vorgibt. Die gezeigten Konzepte lassen sich allerdings im Großen und Ganzen auch auf andere agile Prozesse übertragen, auch wenn teilweise andere Schwerpunkte gesetzt werden. Abbildung 1: Iteratives Vorgehen innerhalb Agiler Prozesse
Wie schon aus dem agilen Manifest ersichtlich, bildet Kommunikation ein zentrales Fundament für agile Prozesse. Extreme Programming definiert in diesem Rahmen vier Werte, die bei der Softwareentwicklung im Mittelpunkt stehen: x
Kommunikation
x
Einfachheit
x
Rückmeldung
x Mut8 Diese Werte bilden auch die Grundlage, warum eine mediale Zäsur stattfindet: Sie erfordern, dass traditionelle, formalisierte Vorgehen vereinfacht werden. Dies gilt für die Abstimmungen zwischen Kunden und 7 Vgl. http://www.controlchaos.com, Juli 2004. 8 Kent 2000, S. 29.
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Entwicklungsteam, um die zu realisierenden Ziele zu vereinbaren. Dazu gehören Vorgaben zur Funktionalität der Software genauso wie der Zeitrahmen bis zum Produktionsstart, als auch das zur Verfügung stehende Budget. Genauso müssen sie innerhalb des Entwicklungsteams umgesetzt werden, um die Realisierung der Software als solche effektiv durchzuführen. Und genau diese Werte erfordern auch eine mediale Zäsur innerhalb des Entwicklungsprozesses: Beispielsweise setzt Kommunikation und Rückmeldung einen kontinuierlichen Austausch zwischen Kunden und Entwicklern voraus. Einfachheit schlägt sich darin nieder, dass die Kommunikation unter Verwendung der bereits vorhandenenen Ergebnisse erfolgt und nicht über zusätzliche Artefakte. Und schlussendlich ist Mut beispielsweise dann erforderlich, wenn klassische Rollenverteilungen zu überwinden sind, um dieses Vorgehen in der Praxis umsetzen zu können. Wir stellen dieses Beispiel für eine mediale Zäsur im Folgenden exemplarisch anhand zweier Szenarien vor: Zum einen wird die Abstimmung zwischen Kunden und Entwicklungsteam betrachtet, zum anderen wird das Zusammenspiel im Entwicklungsteam untersucht. Abschließend wird gezeigt, wie sich beide, in klassischen Softwareentwicklungsprozessen sowohl zeitlich, als auch von den beteiligten Personen streng getrennte Szenarien gegenseitig ergänzen und wie diese Kombination in agilen Prozessen die Grundlage für einen harmonischen Gesamtprozess legt.
Transparente Ziele zwischen Kunden und Entwicklungsteam Der erste Punkt, die Kommunikation zwischen Kunden und Entwicklungsteam, stellt die Brücke zwischen Anforderungen und Umsetzungen dar und wird deshalb von agilen Prozessen, besonders betont: Ziel ist es, anders als in schwergewichtigen Prozessen keine bis in alle Details ausgearbeiteten Dokumente einmalig zu erstellen, sondern durch eine kontinuierliche Kommunikation den Kurs gemeinsam zu bestimmen und jederzeit korrigieren zu können.9 Um dieses Vorgehen zu forcieren und abzusichern, sind in Extreme Programming eine Reihe von Praktiken definiert (vgl. Abb. 2):
9 Alistair Cockburn: Agile Software Development, Pearson Education Inc., Indianapolis 2002, S. 48f.
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x Short Releases: Das Prinzip der kurzen Releasezyklen unterstützt ein iteratives und damit schrittweises Vorgehen, das zum Ziel hat, in möglichst kurzer Zeit eine funktionierende Softwareversion zu erstellen. x On Site Customer: Die Einbindung des Kunden in den täglichen Entwicklungsprozess wird dadurch forciert, dass ein Vertreter des Kunden zu jeder Zeit als Ansprechpartner zur Verfügung steht. x Metapher: Um nach der Entscheidung zur Umsetzung einer Produktidee die Abstimmung zwischen Kunden und Entwicklungsteam sowie im Entwicklungsteam selber zu vereinfachen und Sprachverwirrungen auszuschließen, dient die Metapher als kurze, prägnante und durchgängige Beschreibung des Softwaresystems. x Planning Game: Der Einstieg in die kurzen Releasezyklen geschieht über das Planungsspiel, das zur Definition von Kundenanforderungen und zur Abstimmung zwischen Kundenvorgaben und technischer Umsetzung durch das Entwicklungsteam dient.
Abbildung 2: Kernpraktiken für Kommunikation mit dem Kunden
Das Planungsspiel nimmt bei der Definition der Ziele zwischen Kunden und Entwicklungsteam einen zentralen Platz ein und dient kontinuierlich über den Entwicklungszeitraum hinweg als Forum zwischen den Beteiligten: Es werden dazu alle Funktionalitäten definiert, die der Kunde umgesetzt haben möchte, und in Form kurzer Notizen auf Karteikarten als User Story festgehalten. Um die Gewichtung der Funktionalitäten zu erhalten, priorisiert der Kunde die Wichtigkeit, die jede einzelne Funktionalität und damit User Story für ihn hat. Die Aufwände zur Umsetzung
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der gewünschten Funktionalität werden ebenfalls pro User Story durch das Entwicklungsteam geschätzt. Ausgehend davon wird die konkrete Planung erstellt, welche Funktionalität innerhalb einer Iteration und damit eines Zeitraums von zwei bis drei Wochen umgesetzt werden kann. Somit entsteht der Entwicklungsplan gemeinsam durch mündliche Kommunikation zwischen Kunden und Entwicklern. Nach Abschluss des Planning Game kann nun bereits die Programmentwicklung starten und die Umsetzung der User Stories in Quelltext geschehen. Da die User Stories nur kurze Notizen enthalten, ist während der Entwicklung ein Repräsentant des Kunden immer als Ansprechpartner für das Entwicklungsteam verfügbar, um Detailfragen in einem direkten Gespräch klären zu können. Dabei erfolgt die Diskussion direkt am Programm, zum Beispiel, wenn es darum geht, welche Eingabefelder in einer Maske benötigt werden. Am Ende einer Iteration wird dem Kunden das Ergebnis der Entwicklungstätigkeiten dadurch vorgestellt, dass die Software übergeben wird und der Kunde selbst durch Ausführung der Anwendung testen kann, ob die vereinbarten User Stories umgesetzt sind. Dabei führt der Kunde Akzeptanztests durch, die zum einen die korrekte Umsetzung der besprochenen User Stories sicherstellen, zum anderen den Kunden aber bereits aktiv mit dem Softwaresystem arbeiten lässt. Dadurch erhält der Kunde Rückmeldung, ob die in der User Story beschriebene Funktionalität für ihn benutzbar umgesetzt wurde; das Entwicklungsteam wiederum erfährt, ob die User Story aus Sicht des Kunden korrekt und vollständig implementiert ist. Die direkte Kommunikation zwischen Kunden und Entwicklungsteam mithilfe des Softwaresystems sorgt dafür, dass die aktuelle Version neben den User Stories als Input für das nächste Planungsspiel dient: Auf Grundlage der bereits realisierten Funktionalität und mit den bisher noch nicht umgesetzten und damit offenen sowie möglicherweise neuen User Stories vergibt der Kunde die Prioritäten, was als Nächstes zu tun ist. Darauf basierend wird, wie schon beschrieben, im nächsten Schritt unter Berücksichtigung der Aufwandschätzungen des Entwicklungsteams der Inhalt für die nächste Iteration festgelegt. Missverständnisse bei der Umsetzung der User Stories aus der vorherigen Iteration können direkt korrigiert werden, beispielsweise, wenn eine vom Entwicklungsteam abgelieferte Funktionalität nicht den Erwartungen des Kunden entspricht. Darüber hinaus können so auch neue Funktionalitäten als User Story durch den Kunden definiert und angefordert werden, wenn beispielsweise auf Grundlage des aktuellen Software-
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systems Funktionen identifiziert werden, die in den vorhergehenden Planning Games vergessen wurden. Der Umfang der umzusetzenden Anforderungen ist jeweils durch die Länge einer Iteration mit ca. drei bis vier Wochen vorgegeben, sodass wiederum die Priorisierungen des Kunden und die Aufwandschätzungen des Entwicklungsteams den Umfang der nächsten Programmversion bestimmen. So wird sichergestellt, dass die Kommunikation zwischen Kunden und Entwicklungsteam auf Grundlage des Softwaresystems hochgehalten wird. Zurück zu unserem Beispiel: Aus Kundensicht stellen alle oben beschriebenen Anforderungen eine wichtige Eigenschaft an das Zeiterfassungssystem dar. Eine Priorisierung scheint zunächst wenig sinnvoll: Das Softwaresystem soll schließlich nach erfolgreichem Abschluss alle Punkte umsetzen. Auch die Metapher „Zeiterfassungssystem“ hilft dabei noch nicht richtig weiter. Innerhalb des Planning Game kristallisieren sich mehrere Punkte heraus: Die gewünschten Funktionen erhalten durch User Stories einen verbindlichen Charakter und einen Preis, der den Aufwand für die Umsetzung angibt. Der Kunde kann mit diesen beiden Informationen seine Wichtigkeit bestimmen. Durch die Beschränkung einer Iteration auf einen kurzen, festen Zeitraum wird zudem klar, dass nicht alle Anforderungen gleichzeitig umsetzbar sind. Der Kunde möchte in erster Linie Zeiten erfassen, diese dauerhaft speichern und später über Auswertungen die Aufwände für ein geleistetes Projekt klassifizieren. Mitarbeiter sollen dazu pro Tag die Stunden erfassen, die sie für ein bestimmtes Projekt arbeiten, und diese Daten sollen permanent gespeichert werden. Damit der Kunde einen Eindruck davon bekommt, ob die gespeicherten Daten seinen prinzipiellen Vorstellungen entsprechen, sollen alle verfügbaren Daten in Listenform ausgegeben werden (vgl. Abbildung 3). Damit die Mitarbeiter die Daten erfassen können, soll eine grafische Benutzeroberfläche auf allen Arbeitsplatzrechnern zur Verfügung stehen. Diese Anforderung wird als eine zusätzliche User Story festgehalten. Außerdem werden weitere User Stories für die zusätzlichen Anforderungen des Kunden erstellt.
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Abbildung 3: Beispiel für eine User Story
Im nächsten Schritt schätzt das Entwicklungsteam den Aufwand für die Umsetzung der einzelnen User Stories. Hier wird der Fokus bereits auf die User Stories gelegt, die der Kunde von vorneherein als besonders wichtig ansieht. So wird für die Umsetzung der Datenverwaltung und -speicherung vom Entwicklungsteam ein Aufwand von 15 Tagen geschätzt, wenn die Daten direkt auf der Kommandozeile eingegeben werden und eine zentrale Datenhaltung mit einer einfachen Mitarbeiterverwaltung implementiert wird. Die Bereitstellung eines grafischen Front Ends wird mit zusätzlich zehn Tagen bewertet. Da beide User Stories nicht in der ersten Iteration umzusetzen sind und die Erfassung und Speicherung der Daten für den Kunden wichtiger ist, wird diese User Story mit der höchsten Priorität 1 bewertet. Die Umsetzung des GUI erhält die Priorität 2. Da in dieser Iteration kein Platz mehr für die Umsetzung weiterer User Stories ist, wird das Planungsspiel für diese Iteration beendet. Das Entwicklungsteam startet entsprechend mit den Arbeiten, die ausgewählte User Story zu implementieren.
Transparente Techniken zwischen Entwicklern Neben der Änderung in der Kommunikation zwischen Entwicklungsteam und Kunde, die im vorherigen Abschnitt beschrieben wurde, bringen agile Prozesse auch grundlegende Verschiebungen im Entwicklungsalltag mit sich. Der Quelltext, also die maschinenlesbare und ausführbare Abstraktion des Softwaresystems, bildet eine zentrale Stelle für die Kommunikation der Entwickler untereinander: Sie konzentriert sich in agilen Prozessen weitaus mehr auf den Quelltext, als es in klassischen Soft-
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wareentwicklungsprozessen der Fall ist. Es wird auf abstrakte Architektur für die Anwendungsarchitektur verzichtet und gleich nach der ersten Aufnahme der Kundenvorgaben mit der Anwendungsimplementierung gestartet. Die Architektur und das Design der Anwendung kristallisieren sich dabei während der Implementierung konkreter Funktionalitäten heraus. Damit diese Art der Architektur- und Designfindung in der Praxis überhaupt erst zu verwendbaren Ergebnissen führt, gibt Extreme Programming eine Reihe von quelltextzentrierten Praktiken vor (vgl. Abbildung 4). Dazu zählen in erster Linie: x Continuous Integration, um das Softwaresystem jederzeit zum Laufen zu bringen, x Pair Programming, um Quelltext zu optimieren und Wissenstransfer zu ermöglichen, x Unit Tests, um die implementierte Funktionalität umfassend und in kleinen Schritten zu sichern, sowie x Coding Standards, damit durchgängig die gleichen Formatierungen für den Quelltext verwendet werden. x Refactoring stellt sicher, dass der Quelltext in Form bleibt und von jedem Entwickler verstanden und bearbeitet werden kann, x Collective Ownership, um das Verständnis und die Verantwortung aller am Projekt Beteiligten für das Gesamtsystem zu forcieren. Aufgrung dieses Rahmens spricht man beim Anwenden von Extreme Programming auch von Emergent Design, was einen klaren Kontrapunkt zum Upfront Design in klassischen Prozessen setzt: There are many well-known modeling and design techniques that can be used to bring about a „good design“. An incremental process may limit the applicability of these techniques, which are most powerful when applied and committed to „up front“. Test everything; eliminate duplication; express all ideas; minimize entities: These few simple rules, applied locally, can help a high quality 10 global design to emerge.
10 Jeffries, Ron: Essential XP, http://www.xprogramming.com/xpmag/, Mai 2004.
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Abbildung 4: Kernpraktiken für Kommunikation im Entwicklungsteam
Dieser starke Fokus auf den Quelltext zeigt sich aber nicht nur in der Art und Weise, dass sich die Programmstruktur während der Implementierung kontinuierlich weiterentwickelt, sondern auch darin, dass die Kommunikation der Entwickler untereinander über den Quelltext stattfindet. So dienen die Unit Tests auch dazu, die Anwendung der öffentlichen Schnittstellen der entwickelten Komponenten zu dokumentieren. Der große Vorteil zur klassischen Programmdokumentation in Form von Entwicklungshandbüchern liegt dabei darin, dass Unit Tests sich immer auf die aktuelle Implementierung beziehen. Jede Änderung in einer Komponente spiegelt sich ebenfalls in der passenden Anpassung der Unit Tests wider. Durch einen hohen Automatisierungsgrad bei der Durchführung der Unit Tests können anders als bei gedruckten Entwicklungshandbüchern fehlende Anpassungen schonungslos aufgedeckt werden. Ein anderer Punkt ist ebenfalls offensichtlich: Dadurch, dass für die Implementierung der Unit Tests die gleiche Programmiersprache verwendet wird wie für die Umsetzung des Softwaresystems, ist das gewählte Medium für Dokumentation, Test und Implementierung, nämlich der Quelltext des Softwaresystems, uniform. Somit finden alle Aktivitäten in einem gemeinsamen Medium zur gleichen Zeit statt, was die Praktikabilität und Akzeptanz dieses Ansatzes im Vergleich zu den klassischen, phasenzentrierten Ansätzen stark erhöht. Entwicklungsbegleitende Dokumentation wie UML Modelle haben bei Extreme Programming temporären Charakter, da sich das Programmdesign zusammen mit der Weiterentwicklung des Softwaresystems verändert. Sie dienen somit lediglich als Ergänzung zu dem, was in Form von Quelltext festgeschrieben ist. Somit ist in jeder Situation sicherge-
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stellt, dass die Kommunikation auf dem Status quo des Softwaresystems beruht und nicht auf einer Annahme basiert, die aus einer fehlerhaften Dokumentation abgeleitet wurde. Dazu formalisiert Extreme Programming an anderer Stelle: Damit im gesamten Entwicklungsteam ein einheitliches Bild auf das Softwaresystem besteht, werden in Form von Coding Standards einheitliche Formatierungen für den Quelltext festgelegt. Benötigt ein Kunde Dokumentation in Form von Benutzerhandbüchern oder Betriebsdokumentation, so werden diese bei Extreme Programming als normale User Stories aufgenommen, geschätzt und zusammen vom Kunden priorisiert. So wird anders als in klassischen Entwicklungsprozessen für den Kunden deutlich, dass die Erstellung dieser Dokumentation kein Nebenprodukt der Entwicklung ist, sondern es sich um eine eigenständige Aktivität handelt, die Kosten erzeugt und Ressourcen belegt. In unserem Beispiel zeigt sich die Fokussierung auf den Quelltext darin, dass ausgehend von der beschriebenen User Story „Verwaltung der Projektzeiten pro Mitarbeiter“ direkt mit der Umsetzung begonnen wird. Ausgehend von der technisch vagen Beschreibung werden mehrere Technical Tasks abgeleitet: Zum einen ist dies die Verwaltung aller Mitarbeiter, zum anderen die Verwaltung der Arbeitszeiten pro Mitarbeiter. Die Konzentration erfolgt im ersten Schritt darauf, welche Daten dabei von Bedeutung sind und wie diese programmatisch umgesetzt werden. Die dauerhafte Speicherung der Daten wird dabei zunächst gemäß der Vorgabe Simple Design so einfach wie möglich umgesetzt, z.B. durch Speicherung in eine Datei. Wenn es später sinnvoll erscheint, auf eine datenbankbasierte Lösung umzusteigen, so wird dies mit Hilfe von Refactoring leicht ermöglicht. Bei der Entwicklung spielt der Test eine bedeutende Rolle: Jegliche Implementierung wird durch Unit Tests dahingehend verifiziert, ob das tatsächliche auch dem erwarteten Verhalten entspricht. Die testgetriebene Entwicklung stellt somit zum einen sicher, dass die Softwarequalität sehr hoch ist; zum anderen führt dieser Ansatz dazu, dass die Anforderungen an die Software durch Testcodes klar ausgedrückt werden, was neben einer klaren Zielausrichtung zusätzlich zu einer umfassenden, quelltextzentrierten Dokumentation führt. Die existierenden Unit Tests stellen zudem sicher, dass bei Änderungen am Quelltext das Verhalten des Softwaresystems gleich bleibt. Dadurch unterstützen sie kontinuierliche Erweiterungen und Änderungen am Softwaredesign. Die regelmäßige Integration führt dazu, dass das Gesamtsystem aus den Entwicklungen der Pair Programming Teams regelmäßig zusammengeführt wird und somit das Gesamtsystem miteinander harmoniert. Dies
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ist die Voraussetzung, um die kurzen Releasezyklen einhalten zu können, um den Kunden ein funktionierendes Teilsystem zur Verfügung zu stellen. Da alle Entwickler Zugriff auf das Gesamtsystem haben, sind Anpassungen und Refactoring an allen Systemteilen möglich. Pair Programming, Unit Tests und Coding Standards garantieren, dass das Gesamtsystem dabei kontinuierlich verbessert wird und nicht zu einem unwartbaren, komplexen Monolithen wird.
The whole is more than just a sum of its parts Wir haben bisher die Kernpraktiken ausschließlich unter dem Aspekt der medialen Zäsur innerhalb der Entwickler-Kunden- sowie der EntwicklerEntwickler-Kommunikation betrachtet. Damit der quelltextzentrierte Ansatz zur Kommunikation der Entwickler untereinander im Einklang mit den Anforderungen des Kunden und der Umsetzung des Softwaresystems stehen, bilden beispielsweise die Extreme Programming Kernpraktiken ein ausgewogenes Gleichgewicht, das über die hier vorgestellte Argumentation hinaus geht (vgl. Abb. 5).11 Ein gutes Beispiel für das Gleichgewicht ist der Test, der in Extreme Programming in zwei Ausprägungen umgesetzt wird: Zum einen gehören dazu die Unit Tests, die zur Verifikation der technischen Programmumsetzung und zur Kommunikation der Entwickler untereinander dienen. Zum anderen gehören dazu die im vorigen Abschnitt beschriebenen Akzeptanztests, die von Seiten des Kunden beigesteuert werden. Diese stellen wiederum die Kommunikation zwischen Kunden und Entwicklungsteam auf Basis der aktuellen Version des Softwaresystems sicher. Fehlfunktionen können so klar kommuniziert werden, neue Funktionalitäten durch Spezifikation neuer Akzeptanztests motiviert werden sowie Erweiterungen und Korrekturen durch die automatisierte Durchführung der Akzeptanztests verifiziert werden. Diese gegenseitige Beziehung zwischen den vorgestellten Praktiken aus unterschiedlicher Sicht bildet ein wichtiges Mittel in agilen Prozessen, wie wir im abschließenden Kapitel noch zeigen werden.
11 Eine vollständige Vorstellung sprengt den Rahmen dieses Artikels, deshalb sei an dieser Stelle auf die weiterführende Literatur verwiesen: Jeffries, Ron: Extreme Programming Installed, Addison Wesley, Reading Massachusetts 2000.
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Abbildung 5: Kernpraktiken in Extreme Programming
Greifen wir wieder unser Beispiel auf: Ausgehend von der User Story „Verwaltung der Projektzeiten pro Mitarbeiter“ implementiert das Entwicklungsteam die gewünschte Funktionalität. Dabei werden während der Implementierung zahlreiche Architektur- und Designentscheidungen getroffen, beispielsweise die, wie die Mitarbeiterverwaltung implementiert wird, welche Daten erfasst werden und wie die Daten gespeichert werden. Bei allen Fragen, die das Entwicklungsteam nicht alleine lösen kann, wird der On-Site Customer in die Pflicht genommen: So weiß nur der Kunde, welche Daten erfasst werden sollen, damit später die passenden Auswertungen implementiert werden können. Das Softwaresystem selber wird mit Hilfe von Unit Tests implementiert. Alle Komponenten werden kontinuierlich integriert und das Gesamtsystem durch Refactoring und Code Standards in Form gehalten, um die Grundlage für die kontinuierliche Weiterentwicklung zu schaffen. Am Ende einer Iteration wird ein funktionierendes Teilsystem dem Kunden zur Verfügung gestellt, der auf Grundlage dessen selber ausprobieren und mit Hilfe von Akzeptanztests sicherstellen kann, dass die für diese Iteration abgesprochene Funktionalität vollständig, korrekt und in seinem Sinne implementiert wurde. Abweichungen vom Zeitplan werden ebenfalls deutlich und können durch korrigierte Schätzverfahren in den folgenden Iterationen vermieden werden.
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Die Erfahrungen, die der Kunde mit dem zur Verfügung gestellten Softwaresystem gemacht hat, fließen wiederum in das nächste Planning Game ein. So kann der Kunde kontinuierlich Änderungen an der Ausprägung des Softwaresystems und damit aktiv die Entwicklung des Softwaresystems steuern. Das Ergebnis entspricht somit genau seinen Vorstellungen; Missverständnissen und Fehlentwicklungen kann frühzeitig gegengesteuert werden.
Ein Schritt zurück – und zwei Schritte vor? Durch die starke Konzentration auf den Quelltext, auf leichtgewichtige sowie zielgerichtete Verfahren und damit auf das Softwaresystem an sich brechen agile Prozesse radikal mit gängigen, traditionellen Verfahren zur Softwareentwicklung. Der Kunde findet die Antwort auf seine Fragen in der aktuellen Version des Softwaresystems. Entwickler konzentrieren sich auf den Quelltext und finden alle notwendigen Informationen dort in Form von Implementierung und Unit Tests. Niemand vermittelt zwischen Idee und Umsetzung – alleine die direkte Kommunikation zwischen Kunden und Entwicklungsteam sorgt dafür, in welche Richtung sich das Gesamtkonstrukt bewegt. Dieser Ansatz stellt neue Anforderungen an alle Beteiligten, so dass man diese Art, Softwaresysteme zu implementieren, durchgängig adaptieren und umsetzen muss, um einen Eindruck von ihrer Leistungsfähigkeit zu bekommen. Erst die konkrete Umsetzung vermittelt die Stärken und Schwächen, die diesen Ansatz ausmachen. Dies erfordert allerdings auf vielen Seiten ein Umdenken: Dem Kunden muss klar sein, dass er aktives Mitglied eines Entwicklungsteam ist. Er ist permanent in der Verantwortung, die Marschroute für die Software vorzugeben. Der Entwickler muss sich an neue Aufgaben gewöhnen: Sein Dokumentationsmittel ist der Quelltext. Intention und Verwendung muss aus dem Quelltext und den begleitenden Unit Tests hervorgehen. So erscheint die Maxime „Find the answer within“ in einem neuen Licht: Softwaresystem und Quelltext tragen direkt zur Kommunikation bei der Erstellung der Software bei. Kurz zusammengefasst kann man die Kommunikationsbeziehungen auf folgenden Nenner bringen: Communication and Collaboration between: x management and developers x customer and developers x product and customer x developers and developers
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x code and developers12 Damit diese radikalen Zäsuren nicht im Chaos enden, sondern strukturiert und geradlinig zu den gewünschten Ergebnissen führen, definieren agile Prozesse Verfahren, Praktiken und Best Practices, um diese Art der Softwareentwicklung zu stärken. Extreme Programming ist dabei einer der radikalsten Vertreter: Durch die Definition von zwölf Kernpraktiken wird ein kompletter Rahmen vorgegeben, in dem Softwareentwicklung durchzuführen ist. Andere Ansätze wie Adaptive Software Development oder SCRUM legen den Fokus eher auf die Management Ebene, um einen stabilen Rahmen für die Softwareentwicklung zu schaffen, ohne die Software Entwicklungsprozesse bis ins kleinste Detail vorzugeben. Allen Prozessen ist dabei eins gemeinsam, dass sie eine andere Kommunikation verlangen, als man es bisher bei der Softwareentwicklung gewohnt war: Direkte Kommunikation zwischen Kunden und Entwicklern, kurze Iterationen mit festem Inhalt und Konzentration auf das Softwaresystem an sich als Hauptbestandteil eines Vorgehensmodells zur Softwareentwicklung bilden dabei einen Rahmen, der ein Umdenken in vielerlei Hinsicht bedeutet. Mitten im zweiten Medienumbruch der digitalen Medien wird wieder auf mündliche und persönliche Kommunikation gesetzt – gemeinsam mit dem neuen Medium Quelltext. Die schriftlich aufgezeichnete Dokumentation wird dabei übergangen und als unpassendes Medium betrachtet.
12 Beedle, Mike/Schwaber, Ken: Agile Software Development with SCRUM, 2002.
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„YOU’VE GOT MAIL“ – LIEBE IM ZEITALTER TECHNISCHER REPRODUZIERBARKEIT In der Hochzeit der Short Messages und der elektronischen Post wird in den USA ein Film auf die Kinoleinwände gebracht, der genau diese Art der Kommunikation zu verlangsamen scheint, ja, geradezu deren Störanfälligkeit betont. Es geht um einen Mann, der zwei Flaschen mit Botschaften – daher auch der Titel MESSAGE IN A BOTTLE – ins Meer wirft, mit unbekanntem Bestimmungsort.1 Es gibt einen Adressanten, aber keinen Adressaten. Der Inhalt der Flaschenpost ist, wie könnte es anders sein, eine Botschaft der Liebe. Und wer fühlte sich nicht angesprochen, wenn es heißt, ‚ich liebe Dich‘?2 Wenn im Folgenden von Medien und medialen Zäsuren die Rede ist, so ist der Begriff des Mediums als operationaler Begriff zu verstehen, der, wie Dirk Baecker schreibt, darauf ausgerichtet ist, „ein Medium auf den Unterschied hin zu explizieren, den es macht“3. 1 Der Film MESSAGE IN A BOTTLE wurde von Luis Mandoki gedreht. Er kam am 12. Februar 1999 in die amerikanischen Kinos. Das Drehbuch zu dem Film verfassten Nicholas Sparks und Gerald Di Pego. Sparks hatte 1998 auch den gleichnamigen Roman geschrieben, auf dem der Film basiert. In einem Prolog, den Sparks seinem Roman voranstellt und der ein kurzer historischer Abriss der Flaschenpost ist, heißt es: „Die Flasche [...] konnte Hurrikane und tropische Stürme überstehen oder auf den gefährlichsten Strömungen schaukeln. Sie war in gewisser Weise das ideale Behältnis für die Nachricht, die sie beförderte, eine Nachricht, die verschickt worden war, um ein Versprechen einzulösen. [...] Es ist unmöglich vorherzusagen, wohin eine solche Flasche reist, und das ist Teil ihres Geheimnisses.“ (Sparks, Nicholas: Message in a Bottle. Weit wie das Meer, München 1999, S. 9). 2 Wie durchsetzungsfähig ein solcher Satz ist, bei dem scheinbar jeder sich adressiert fühlte, zeigte vor einigen Jahren der Internet-Wurm I LOVE YOU (vgl. Schabacher, Gabriele, „Adressenordnungen: Lokalisierbarkeit – Materialität – Technik“, in: Stefan Andriopoulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hrsg.): Die Adresse des Mediums, Köln 2001, S. 19-24). 3 Baecker, Dirk: „Beobachtung mit Medien“, in: Claudia Liebrand/Irmela Schneider (Hrsg.): Medien in Medien, Köln 2002, S. 12-24, hier S. 13.
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Es geht daher vor allem um die Beschreibung von Medieneffekten, aber auch von Zuschreibungen wie Hoffnungen und Ängsten, die mit medialen Zäsuren und einem daran gekoppelten kommunikativen Dispositiv in diskursiven Formationen verbunden sind. In MESSAGE IN A BOTTLE wird eine Vielzahl unterschiedlicher Arten aufgerufen, miteinander zu kommunizieren und in Kontakt zu treten. Die Fragen, die im Folgenden als Subtext mitreflektiert werden, sind die nach der ‚Adresse des Mediums‘, nach öffentlicher vs. privater Kommunikation, nach der Inszenierung von Räumen und distanzüberbrückenden Medien. Die Ausführungen bewegen sich im Spannungsfeld von Nähe/Distanz, Intimität/Anonymität, Virtualität und Aktualität. Dahinter steht die Überlegung, dass Adressen nicht einfach als raum-zeitliche Koordinaten zu verstehen sind, die naturgemäß gegeben wären, sondern dass sie im Medium der Kommunikation konstituiert werden. Die Adresse bestimmt wesentlich den Text mit, den es zu lesen gilt. Somit wird das Verfügen oder Nichtverfügen über eine Adresse „als Kriterium erkennbar, anhand dessen über Inklusion und Exklusion im Kommunikationsprozess“4 entschieden wird. Ein Kriterium mithin mit weitreichenden sozialen, kommunikativen und kulturellen Implikationen. Die folgenden Ausführungen bewegen sich immer auch im Spannungsfeld der zwei konträren Auffassungen Derridas und Lacans. Dem Dictum Lacans, dass jede Sendung ihren Bestimmungsort erreicht (nur vielleicht nicht den intendierten),5 steht die Überlegung Derridas gegenüber, dass keine Sendung je ankommt.6 Da Filme immer auch Reflexionsmedien aktueller Vorstellungen und Ängste sind, werden die folgenden Ausführungen sich daher vornehmlich auf drei Filme konzentrieren. In MESSAGE IN A BOTTLE wird die Liebesbotschaft in einer Flasche expediert. Der Inhalt des Mediums Flaschenpost ist ein Brief, gerichtet
4 Dotzler, Bernhard/Schüttpelz, Erhard/Stanitzek, Georg: „Die Adresse des Mediums. Einleitung“, in: Andiopoulos/Schabacher/Schumacher (Hrsg.) 2001, S. 11. 5 Lacan, Jacques: „Das Seminar über E.A. Poes ‚Der entwendete Brief‘“, in: ders.: Schriften I. Herbert Haas (Hrsg.), Olten/Freiburg i.B. 1973, S. 9-60, S. 41: „Ihr [der Formel intersubjektiver Kommunikation] zufolge, sagen wir, empfängt der Sender seine Botschaft vom Empfänger in umgekehrter Form wieder. Somit will ‚entwendeter‘, eben ‚unzustellbarer Brief‘ besagen, ein Brief (eine Letter) erreiche immer seinen (ihren) Bestimmungsort.“ 6 Vgl. Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. Erste Lieferung, Berlin 1983, S. 39.
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an eine abwesende Tote.7 In dem Brief bittet der Adressant um Verzeihung dafür, dass er zu wenig auf das Objekt seiner Liebe aufgepasst hätte. Er schreibt damit die Geschichte einer Verfehlung und eines Verlustes. Gleichzeitig ist der Brief eine Form der Selbstgewissheit des Liebenden, dass er liebt.8 Das Erstaunliche ist, dass die Botschaft, obwohl sie vergleichsweise ungerichtet ins Meer geworfen wurde, dennoch ihren Empfänger erreicht. Es ist eine junge Frau, die bei einem ebenfalls nicht auf ein festes Ziel ausgerichteten Strandspaziergang plötzlich die Flasche entdeckt und die Botschaft liest. Hier zeigt sich, was Althusser bereits über „die praktischen Telekommunikationen der Anrufung“, d.h. mündliche Kommuniktationsformen gesagt hat, dass, ganz gleich, ob es sich dabei um einen mündlichen Zuruf oder ein Pfeifen handelt, „der Angerufene“ immer genau erkennt, „daß gerade er es war, der gerufen wurde.“9 Dies deckt sich mit den Beobachtungen des Ethnologen Edmund Carpenter, nach dessen Erfahrungen sich Menschen von Medien ansprechen ließen, ohne dass irgendeine Botschaft – außer dem Medium selbst – ihnen galt.10 Läutet ein Telefon in einer öffentlichen Kabine, nimmt man ab, ebenso wie heute fast alle zu ihren Handys greifen, sobald ein Klingelton zu vernehmen ist – daran vermag auch die Vielzahl individueller Klingeltöne scheinbar nichts zu ändern. Hinzu kommt in diesem konkreten Fall, dass sich der Effekt noch dadurch verstärkt, dass es sich bei der Botschaft um eine Nachricht der Liebe handelt, gerichtet an eine Abwesende, unterzeichnet nur mit dem Initial „G“. Signifikant ist nun, dass die Empfängerin diese nicht etwa wie eine vertrauliche Nachricht behandelt und für sich behält, sondern sie weitergibt an Dritte. Theresa Osborne, die als Rechercheurin bei der Chicago Tribune arbeitet, erzählt ihren Kolleginnen und ihrem Chef von der Nachricht, ja, liest ihnen die Flaschenpost sogar vor. Aus einem Adressaten werden so gleich mehrere. Damit aber scheint der Film zugleich auf einen Veränderungsprozess des Verständnisses von Öffentlichkeit und Privatheit zu verweisen, den Caja Thimm mit der Formel „Ver-
7 Vgl. dazu das Diktum Marshall McLuhans, „daß der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist.“ So schrieb er 1964: „Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist.“ (Marshall, McLuhan: Die magischen Kanäle, Frankfurt a.M. 1970, S. 17f.). 8 Vgl. Derrida, S. 16. 9 Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Westberlin 1977, S. 142f. 10 Vgl. Dotzler/Schüttpelz/Stanitzek 2001, S. 9-15 und 11f.
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öffentlichung des Privaten und der Privatisierung des Öffentlichen“11 beschreibt. Der Chef liest die Botschaft nicht als an ihn gerichteten Beweis der Liebe einer Person zu einer anderen, sondern wittert hier vor allem eine leserträchtige Story, setzt demnach bereits mehrere potentielle Adressaten voraus. Er veröffentlicht daraufhin einen Artikel über die geheime Botschaft in seinem Blatt und macht sie so der Öffentlichkeit, das heißt präziser der Leserschaft seiner Zeitung, zugänglich. Massenkommunikation ist nun aber der Ort, an dem sich, wie Albert Kümmel konstatiert, „diskursive Interferenzen jeder Art ereignen können“12. Die Veröffentlichung setzt eine landesweite Suche nach dem Verfasser der Flaschenpost in Gang. Nach Eingang all der Hinweise aus der Leserschaft, die in der Redaktion als Reaktion auf die Veröffentlichung in kaum zu bewältigender Anzahl eingehen, kommt es zunächst zu einem veritablen délire d’interprétation. Anschließend wird eine computergestützte Suche nach dem Verfasser der Flaschenpost in Gang gesetzt. Das Gebiet, in dem der Adressant wohnt, wird so weiter eingegrenzt. Die Materialität der Botschaft selbst gibt weitere entscheidende Hinweise. Es wird nach einem Hersteller einer bestimmten Art von Briefpapier, nach einer Schreibmaschine mit einer bestimmten Type und nach einem Produzenten des Briefkopflogos – es ist bezeichnenderweise ein Segelboot, doch dazu später – gefahndet. Der entscheidende Hinweis auf den Adressanten des Mediums kommt jedoch von einer der insgesamt drei angelandeten Flaschenbotschaften selbst. So ist in der Botschaft, die zuletzt gefunden wird, der Hinweis auf die Outer Banks von North Carolina enthalten. Die Rechercheurin avanciert zu einer Detektivin, die alle Hinweise wie in einem Puzzle als Netzkarte zusammensetzt.13 Da sie aus der 11 Vgl. Thimm, Caja: „Medienkultur und Privatheit: Privatheit und Öffentlichkeit im medialen Diskurs“, in: Winfried Lenders (Hrsg.): Medienwissenschaft. Eine Herausforderung für die Geisteswissenschaft, Frankfurt a.M. 2004, S. 51-68, hier S. 51. 12 Kümmel, Albert: „Marskanäle“, in: Claudia Liebrand/Irmela Schneider (Hrsg.): Medien in Medien, Köln 2002, S. 67-88, hier S. 72. 13 Zur Raummetapher der Medien vgl. Schäffner: „Denn Punkte oder Orte sind Effekte von Medien, die sich bei der Landkarte, bei der Post oder in elektrischen Schaltungen aus jeweils spezifischen Operationsformen herausbilden. Deshalb führt die Frage nach der Räumlichkeit und Adressierbarkeit von Medien auf eine doppelte Schwierigkeit. Denn einerseits ist schon die Adressierung, die ein Medium herstellt, kein topographischer Ort, sondern ein Prozess; und andererseits ist die Räumlichkeit eines Mediums selbst nur als die Gesamtheit all seiner Operationen und Operationsmöglichkeiten bestimmbar.“ (Schäffner, Wolfgang: „Topologie der Medien. Descartes, Peirce, Shannon“, in: Andriopoulos/Schabacher/Schumacher (Hrsg.), S. 82-93, hier S. 82.
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ersten Flaschenpost, die sie selbst gefunden hat, weiß, dass der Adressant ein Bootsbauer ist, bittet sie nun ihren Chef und Vertrauten Brian, vor Ort selbst nach ihm suchen zu dürfen. In einem kleinen Fischerdorf begegnet sie daraufhin erneuten Hinweisen auf den Bootsbauer. Der Mann, den sie zunächst trifft, erscheint ihr jedoch zu alt und deshalb als Verfasser der Liebesbotschaft nicht in Frage zu kommen. Erleichtert stellt sie fest, dass er einen Sohn hat, Garret Blake, den sie am Strand aufsucht. Zwischen dem Bootsbauer und der Journalistin entwickelt sich – trotz der andauernden Liebe Garrets zu seiner verstorbenen Frau Catherine, der ursprünglichen Adressatin seiner Flaschenpost – eine Liebesbeziehung, die wie die Expedierung der Botschaft selbst von An- und Abstoßung gekennzeichnet ist. Signifikant ist nun, dass nach einem Wechselspiel gegenseitiger An- und Abstoßung Garret Theresa in Chicago besucht. Eines Morgens öffnet er die Schublade der Schlafzimmerkommode und findet darin die Flasche und ihren Inhalt, den Brief. Daneben den Zeitungsartikel, in dem über die Flaschenpost berichtet wird. So erfährt er, dass Theresas Aufenthalt in North Carolina kein Zufall, sondern das Ergebnis einer zielgerichteten Suche nach ihm war. Er beschließt, sofort abzureisen. Als er erfährt, dass Theresa bei einer landesweiten Suche nicht zwei, sondern drei Flaschenbotschaften gefunden hat, beschwört er sie, ihm die Briefe zu zeigen. Nun stellt sich heraus, dass die dritte Flaschenpost nicht von ihm, dem zugeschriebenen Adressanten stammt, sondern von seiner Frau. Die Botschaft, die als eine der letzten ihr Ziel erreichte, ist in Wahrheit die, die zuerst abgeschickt wurde, die von Catherine kurz vor ihrem Tod dem Meer übergeben wurde. Es ist dies der Text, der gerichtet ist nicht an einen bestimmten Empfänger, sondern an alle. Verfasst im Stil eines Gebets. Es ist somit ein Brief aus dem Jenseits, last words einer Toten. Hieran akzentuiert sich, was Avital Ronell in ihrem Telephone Book (1989) und Derrida im Modell der Postkarte aufgezeigt haben: Dass gerade weil es Adressanten und Adressaten gibt, immer auch die Möglichkeit der Abweichung, des Abfangens und Fehlgehens von Sendungen impliziert ist, ja, dass dies sogar der Normalfall sein könnte. Lektüre wird damit nicht als passive Rezeption begriffen, sondern als aktiver Vorgang. Dies haben bereits Autoren von Briefromanen wie Choderlos de Laclos erkannt, die gerade mit dieser Beobachtung ein doppelbödiges Spiel im Medium des Briefromans inszeniert haben. Der Film führt verschiedene Thematiken zusammen. Zum einen ist da die Frage, inwieweit ein Brief immer seinen Bestimmungsort erreicht oder nie. Zum anderen die Frage nach dem Status von Liebesdiskursen, die hier eng mit der ersten verknüpft ist. Darüber hinaus die Frage nach
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dem Medium, genauer nach einer medialen Zäsur, der sich hier in zwei konkreten Personen, Garret und Theresa manifestiert. An beiden zentralen Figuren lassen sich nicht nur unterschiedliche Lebensweisen aufzeigen, sondern auch unterschiedliche Arten, die Distanz zu überbrücken und den anderen zu adressieren. Des Weiteren haben wir es hier zweimal mit einer Botschaft aus dem Jenseits zu tun. Wie schon Friedrich Kittler konstatierte:„Das Totenreich ist ebenso groß wie die Speicher- und Sendemöglichkeiten einer Kultur.“14 Signifikant ist, dass hier wie im Briefroman des 18. Jahrhunderts einmal mehr die Vermitteltheit der Kommunikation thematisiert wird. Der Film stellt auf den Unterschied zwischen scheinbar unvermittelter und vermittelter Kommunikation scharf, in der im Gegensatz zur Face-to-Face-Kommunikation die räumliche und zeitliche Distanz bewusst bleibt. Damit geht es auch hier einmal mehr um die häufig beschworene ‚Mediatisierung des Alltags‘, die Durchdringung des alltäglichen Lebens mit Medien der interpersonalen Kommunikation, scheinbar geeignet, eine ‚geschwätzige Gesellschaft‘ zu bedienen. Diese Veränderung, die deutlich macht, dass „noch nie so viele Medien zur Verfügung standen, um mit anderen in Kontakt zu treten“, könne, so Höflich, zugleich „als Metaprozess sozialen Wandels überhaupt verstanden werden“.15 „Epoche, das heißt Halt und Post“, schreibt Derrida in seinem Buch Die Postkarte.16 In diesem Liebesbriefroman, der als allgemeine Theorie der Korrespondenz gelesen werden kann, kreuzen sich die Sendungen von Postkarten an die Geliebte mit Notationen von Telefonaten. Beide Formen medialer Korrespondenz zeigen dabei, wie Bickenbach und Fliethmann konstatieren, dass die Macht der Sendung, die nicht allein in ihrer Ankunft liegt, sondern auch in ihrem Schicksal, der Kontingenz der Sendung, welche die Adressenordnung stört. Die philosophische Frage lautet hier: 17 Was heißt ankommen? Was macht ankommen?
14 Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter, München 1986, S. 24. 15 Höflich, Joachim R.: „Einleitung: Mediatisierung des Alltags und der Wandel von Vermittlungskulturen“, in: ders./Julian Gebhardt (Hrsg.): Vermittlungskulturen im Wandel. Brief – E-Mail – SMS, Frankfurt a.M. 2003, S. 720, hier S. 7. 16 Derrida 1983, S. 79. 17 Bickenbach, Matthias/Fliethmann, Axel: „Bilderzeit – Korrespondenz – Textraum“, in: dies. (Hrsg.): Korrespondenzen: Visuelle Kulturen zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Köln 2002, S. 14.
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In diesem Film werden nun genau diese Fragen, Ängste und Hoffnungen verhandelt. Zunächst wird hier einmal mehr der topische Gegensatz Stadt – Land diskursiviert. Garret wohnt in der Provinz und hat sich ganz bewusst für dieses Leben entschieden. Dies wird gleich mehrfach im Film immer in Verbindung mit seiner ersten Frau thematisiert. Sie als Malerin hatte das Dorf verlassen, um in der Stadt ihr Glück zu suchen. Garret war ihr nachgereist, aber schon bald wieder in die Provinz gegangen – vordergründig, weil er seinen zu der Zeit noch alkoholabhängigen Vater nicht allein lassen wollte, tatsächlich jedoch, so stellt es der Film dar, weil er das Landleben vorzieht. Theresa dagegen lebt in der Stadt. Obwohl auch sie gegenüber Garret die Vorzüge des Landlebens betont, versucht sie immer wieder, ihn zu bewegen, sie in der Stadt aufzusuchen, um dort zu sehen, wie sie lebt. Der Film führt gerade am Beispiel des Mikrokosmos Redaktion vor, dass hier ein Miteinander, eine gelungene Kommunikation eher zu funktionieren scheint als in Garrets Provinzstädtchen. Beide favorisieren unterschiedliche Arten medial vermittelter Kommunikation. Garret wählt eines der ältesten Mittel medialer Kommunikation, die Flaschenpost. Zudem tritt er über sein Lebensprojekt, das Segelboot, mit Theresa in Kontakt. Das Boot, das er bereits zu Lebzeiten seiner verstorbenen Frau bauen wollte und das er noch mit ihr konstruiert hat, avanciert zum Symbol seiner Verbindung zur Außenwelt. Zu Beginn des Films ist es verborgen in einer alten Scheune. Alle Pläne liegen vor, aber da die eigentliche Empfängerin dieser Liebesbotschaft, seine Frau, gestorben ist, gerät auch die Arbeit am Boot ins Stocken, wie auch die Kommunikation mit seiner Umwelt ins Stocken gerät. Mit seinem Vater kann er nicht über den Verlust der geliebten Frau sprechen, seine Umwelt, insbesondere die Familie seiner verstorbenen Frau, lehnt ihn ab. Es kommt wiederholt zum Austausch verbaler und auch körperlicher Aggressionen. Dies ändert sich erst, als Theresa in sein Leben tritt. Die Empfängerin seiner Liebesbotschaften, die er zunächst an seine Frau adressiert hatte, aber als Übermittlungsmedium der Flaschenpost anvertraut hatte, löst die Stockung. Garret lässt Theresa zwar abreisen, baut aber an dem Boot weiter. Er berichtet ihr sehr kurz nur – widerwillig diesen Weg der fast simultanen Übermittlung nutzend – am Telefon von der Fertigstellung des Boots. Angesichts des Mediums, das eine Zwischenstellung im mediatisierten Diskurs einnimmt, weil es auf mündliche Kommunikation umstellt und, wie Marcel Proust 1907 bemerkte, „Realpräsenz – dieser so
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nahen Stimme – in tatsächlicher Getrenntheit“18 ist, verstummen die Liebenden. Auch Theresa, gewohnt, das Telefon als Instrument für ihre Recherchen zu nutzen, gibt zu, nicht zu wissen, was sie sagen könnte. Stattdessen avanciert das von Garret konstruierte und mit dem Namen seiner verstorbenen Frau versehene Segelboot zum Träger der Botschaft. Das Problem ist nur, dass das Boot wie zuvor die Flaschenpost gerichtet und ungerichtet zugleich ist. Es ist gerichtet, weil es sich an Theresa und Catherine, die tote und doppelt abwesende Frau zugleich richtet, sowie stellvertretend an deren Familie. Theresa, die nur die Gerichtetheit an die Tote erkennt, und an die Dorfgemeinschaft, aber die Botschaft an sie selbst nicht zu dekodieren vermag, reist wieder ab. Garret hingegen macht das Boot erneut und nun sehr offensichtlich zum Transportmedium seiner Botschaft. Garret segelt noch einmal mit dem Boot hinaus, um dort die Flaschenpost für Theresa ins Meer zu werfen. Doch unterwegs will er anderen Personen, die in Seenot geraten sind, helfen. Garret ertrinkt. Die Flaschenpost, die nie abgeschickt wurde, erreicht ihren Empfänger nur umso sicherer. Die Botschaft, die nun wie zu Beginn des Films erneut eine aus dem Jenseits ist, wird auf dem Boot gefunden und von Dritten Theresa übermittelt. Damit ist sie erneut ein Symbol für die Nachträglichkeit einer Sendung, für Aufschub und Ungewissheit. Sie ihrerseits findet die Flaschenpost und weiß sie sowohl richtig zu adressieren als auch zu dekodieren. Gleichzeitig ist sie es, die zunächst das kleinstmögliche Networking des Kollegen-Chats nutzt. Indirekt adressiert sie so ihren Chef, der wiederum das Medium der Zeitung einsetzt, die Information breit zu streuen. Als Rechercheurin ist sie es gewohnt, via Telefon die nötigen Daten zunächst zu sammeln und dann zu katalogisieren. Nur angesichts der Liebe, gibt sie der direkten Face-toFace-Kommunikation eindeutig den Vorzug. Theresa steht für gelungenes Networking, für eine Verortung der Daten, Systematisierung und Katalogisierung. Am Computer erstellt sie auf der Basis der gewonnenen Daten eine Netzkarte, auf der dann die zentralen Punkte eingetragen werden. So wird der Kreis des Adressanten immer enger gezogen. Dies trägt gleichzeitig der Überlegung Rechnung, dass mit der Entstehung neuer Kommunikationsmedien auch der Bedarf für Adressen als Garanten der Lokalisierung in einem global orientierten Kommunikationssystem steig. Auffällig ist nun, dass die Adressierung, die Zurückverfolgung der Botschaft auf den Adressanten, die Kommunikation erst zurechnungsfähig macht, hier nicht mit Hilfe des alten postalischen Systems funktioniert, 18 Proust, Marcel: „Tage des Lesens“, in: ders.: Essays, Werke I, Bd. 3. Luzius Keller (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1992, S. 306-314, S. 308f.
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sondern ausgerechnet mit Hilfe des Mediums zuallererst konstruiert wird, das gerade nicht die feste Lokalisierbarkeit ermöglicht, sondern die Globalität und Ubiquität der Kommuniktaion betont – und dies unter Rekurs auf eine Netzkarte, auf ein Netzwerk: Präzise Adressierung geht immer einher mit einer Lokalisierung des Adressaten an einer spezifischen und identisch bleibenden Stelle im Raum. Die Ortsunabhänigkeit von Adressen ist die Innovation, die hier hervorzuheben ist. [...] Für Medien wie Mobiltelefone und E-Mail gilt, dass die Erreichbarkeit des Adressaten unabhängig von seiner Bewegung im Raum gesichert werden kann. Globale Konstanz der Adresse bei präziser Lokalisierbarkeit des Adressaten – und zwar an beliebigen Stellen im Raum – ist die 19 strukturelle Leistung.
Und diese Leistung wird nun in Anspruch genommen, wenn es gilt, die Flaschenpost, die ohne geregelte Postwege vermittelt wird, präzise zu lokalisieren. Auf der Basis des Materials – die Sendungen geben durch ihre Materialität (Briefpapier, Stempel) und ihren Inhalt Aufschluss über den Adressanten – wird nun versucht, die Spur des Adressanten zurückzuverfolgen. Der Computer avanciert hier zum unterstützenden Medium und auch das Telefon nimmt eine untergeordnete Stellung ein. Telefoniert wird, wenn überhaupt, über Festnetz. Der Film rückt mediale Differenzen und Interferenzen in den Blick. Matthias Bickenbach schreibt in Anmerkungen zu „Korrespondenz und Epoche“: Weder ist zu allen Zeiten alles möglich, noch ist eine bestimmte Epoche von der Kultur eines einzigen Mediums bestimmt – wenn auch die Gesellschaft auf monomediale Attributionen abstellt (ora20 le, literale, visuelle Kultur).
Briefkultur, Internetkultur möchte man ergänzen. Dabei ist auffällig, dass es zunächst einmal ohne Bedeutung ist, in welchem Zwischenraum der Bruch zu lokalisieren ist. In dem Film, in dem vermittelte Kommunikation eine entscheidende Rolle spielt, geht es auffälligerweise nie um elektronische Post. Dennoch könnte gerade die Tatsache, dass zu einer Zeit, in der Kommunikationstechnologien wie E-Mail, Mobiltelefon und Short-Message-Service besonders stark diskutiert werden, ein Film in die Kinos kommt, der eine ganz andere Form der Korrespondenz inszeniert, von zentraler Bedeutung für die Fokussierung medialer Umbruchsituatio19 Stichweh, Rudolf: „Adresse und Lokalisierung im globalen Kommunkationssystem“, in: Andriopoulos/Schabacher/Schumacher (Hrsg.) 2001, S. 25-33, hier S. 30f. 20 Bickenbach/Fliethmann 2002, S. 7f.
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nen sein. Die Tatsache, dass gerade der virtuelle Raum der so genannten neuen Medien Anonymität und Beliebigkeit zu beinhalten scheint, führt scheinbar auch zu neuen Formen der personalen Identität und der kommunikativen Vernetzung von Personen. Christiane Funken schreibt: Die notwendige und hinreichende Bedingung für funktionierende Kommunikation wäre erstens nicht länger eine fixe Adresse des Kommunikationspartners, die Ort, Zeit sowie Merkmale personaler Unverwechselbarkeit des je anderen vermerkt, und zweitens wäre die notwendige Bedingung nicht länger die Kopplung der einzelnen Kommunikationsakte durch eine Art der Hermeneutik (Verstehenslehre), die auf Geltungsansprüche dieser Akte rekurriert (z.B. Wahrheit, Sprecherwahrhaftigkeit, normative Richtigkeit). An deren Stelle träte vielmehr im ersten Fall ein frei flottierendes ‚Selbst‘ als kommunizierender Akteur und im zweiten Fall eine medial gewährleistete Form des Anschlusses von Mitteilungen oder Informationen, die sich situativ aufgrund von technischen Schaltungen er21 gibt, die für die Beteiligten intransparent sind.
Der Film scheint eben dieses Unbehagen zu reflektieren, könnte mithin als ein Bild für die elektronische Post gelesen werden. Für das Unbehagen, dass Daten im weiten Datenmeer verloren gehen könnten oder unbeabsichtigterweise an Dritte gelangen. Dass sie Spuren hinterlassen, die man nicht hinterlassen möchte. Gleichzeitig verbindet sich damit ein Versprechen auf eine gelungene Liebeskommunikation, auf amouröse Diskurse, deren ganzes Ausmaß noch nicht abzusehen ist. Bemerkenswert in dem Kontext ist, dass fast zeitgleich Hollywood einen anderen Film auf die Kinoleinwand brachte, in dem die Liebe virtuell ist, ja, sich zunächst im Cyberspace konstituiert. Es ist dies der Film YOU’VE GOT MAIL/E-MAIL FÜR DICH.22 Der Film, der selbst wiederum das Remake des Ernst-Lubitsch-Klassikers THE SHOP AROUND THE CORNER/RENDEZVOUS NACH LADENSCHLUSS (USA 1939) ist, spielt auf zwei Ebenen, einer virtuellen und einer aktuellen. Joe Fox (Tom Hanks), Inhaber einer großen Buchhandelskette, und Kathleen Kelly, die den kleinen Buchladen um die Ecke von ihrer Mutter geerbt hat, wohnen nur einige Blocks voneinander entfernt an der Upper West Side in New York. Beide leben im aktuellen Leben mit ihren jeweiligen Partnern scheinbar in harmonischen Zweierbeziehungen. Auffällig 21 Funken, Christiane: „Zur Topographie der Anonymität“, in: Andriopoulos/Schabacher/Schumacher (Hrsg.) 2001, S. 64-81, hier S. 64f. 22 Der Film lief am 18. Dezember 1998, also rund zwei Monate vor MESSAGE IN A BOTTLE in den USA an, Regie führte Nora Ephron. Die beiden Chattenden wurden dargestellt von Hollywoods Dreamteam Tom Hanks und Meg Ryan.
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ist, dass Kathleens Lebensgefährte in seiner täglichen Kolumne vor den Gefahren moderner Technologien warnt (die Texte tippt er denn auch auf einer mechanischen Schreibmaschine), während Kathleen sich mehr und mehr in eben diese modernen Welten begibt. Im Chatroom begegnet sie eines Tages NY152, mit dem sie einen regen E-Mail-Austausch beginnt. Unter ihren elektronischen Pseudonymen NY152 und Shopgirl tauschen Joe Fox und Kathleen Kelly fortan Vertraulichkeiten aus. In der Intimität des Cyberspace kommen sie sich näher, während in der aktuellen Welt der Kampf des Print-Supermarkts gegen den Laden um die Ecke tobt. Signifikant ist, dass sich an diesem Film gleich mehrere Parameter aufzeigen lassen. Da ist zum einen die Frage der Adressierung. Die jeweiligen Namen inszenieren zum einen ein Spiel der Maskerade, zum anderen halten sie die Fiktion persönlicher Anschriften bei: „Wie die Post braucht auch ein Netzwerk den Namen und die Adresse des Empfängers, um den richtigen Zielort für die Pakete zu kennen.“23 Somit wird die Illusion von Personen, die an einem bestimmten Ort erreichbar sind, aufrechterhalten. Gleichzeitig jedoch „vollzieht sich in ihrem Rücken eine sowohl technoals auch epistemologische Verschiebung von der Relevanz des Subjekts zu der des Mediums.“24 Als Birdie, Freundin und Mitarbeiterin, ihre Chefin, die ihr von ihrer Internet-Affäre berichtet, fragt, ob sie sich bereits auf Cybersex eingelassen habe, antwortet diese: „Nein, aber er wollte mir einen Strauß angespitzter Bleistifte schenken.“ Dieser bewusste Anachronismus bezeichnet bereits das Programm des Films. Zum einen ist auffällig, dass, obwohl sich beide Korrespondenten Pseudonyme zugelegt haben, die ihre aktuelle Identität in einem Spiel der Maskerade schützen sollen, diese in Wahrheit sprechend sind. NY152 deutet bereits auf die Serialität der Bookstores hin, in der jeder eine Nummer in einer ganzen Reihe anderer identischer Stores ist, während „Shopgirl“ mit dem Bezug zum Prätext Lubitschs spielt und Ausdruck ihrer romantischen Neigung ist, gleichzeitig aber auch Aufschluss über ihre reale Tätigkeit gibt. Er ist Wunschprojektion und Realität zugleich. Die beiden Namen verweisen auf die meist als fest und etabliert angesehenen Regeln im Internet, an die sich die Teilnehmer halten. Laut Nora Ephron gehört dazu, dass man seinen Namen nie verrät: Auf diese Weise fühlt man sich sicher und äußert sich ganz ohne Hemmungen. [...] Das Internet scheint grenzenlos zu sein. Aber 23 Dertouzos, Michel: What will it be? Die Zukunft des Internetzeitalters, Wien/New York 1999, S. 481. 24 Dotzler/Schüttpelz/Stanitzek 2001, S. 13.
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KIRSTEN VON HAGEN wie eine Großstadt besteht es tatsächlich aus einem System von Dörfern, in denen sich Menschen mit ähnlichen Interessen finden 25 und Kontakt aufnehmen.
Das Bild Marshall McLuhans vom globalen Dorf aufnehmend, entwickelt Nora Ephron hier eine Internetphilosophie, die mit den Möglichkeiten der Cyber-Romanze doch nur sehr verhalten spielt. Der Unterschied virtuell-aktuell wird hier weniger deutlich thematisiert als in dem Vorgänger von 1939. Denn die meisten Begegnungen der Protagonisten spielen im aktuellen Raum: Der Stadtteil Upper West Side ist Metropole und Kleinstadt zugleich. Der Film führt vor, dass wie Žižek schreibt, die inzwischen fast vierzig Jahre alte These, der Cyberspace bringe „uns alle in einem globalen Dorf zusammen“, längst widerlegt sei: „Anstelle des globalen Dorfes und des großen Anderen erhalten wir eine Vielzahl von ‚kleinen anderen‘, von partikulären Stammesidentifizierungen.“26 Im Internet ist dies der Raum, in dem sich Shopgirl und NY152 begegnen, in der Realität ist dies die Upper West Side von New York. Gleichzeitig spiegelt der Film jedoch scheinbar unbewusst, was Netzforscher in den letzten Jahren verstärkt betonen: dass die zunächst immer wieder behauptete vermeintliche Entkörperlichung im Netz nicht mit der Auswertung empirischer Befunde zu Chat-Kommunikation und Rollenspielen im Internet übereinstimmten, die zeigen, dass Körperlichkeit als Fluchtpunkt kommunikativer Addressierung von den Teilnehmern geradezu verlangt wird. Christiane Funken beschreibt diesen paradoxalen Prozess folgendermaßen: In der realweltlichen Interaktion gilt der Körper wegen seiner sinnlichen Präsenz als unhintergehbare, identitätsstiftende Adresse (Zeichen) und die physisch festgemachte Geschlechtlichkeit als Orientierungsmerkmal des Handelns. In einem interaktiven Medium, das genau diese Zugriffsmöglichkeiten kassiert, müssten sich [...] völlig neue Kommunikationsformen herauskristallisieren, die den Körper als naturalisierte Zeichen für Geschlecht überflüssig machen. Durch die Kombination der physischen Abwesenheit und der unendlichen (Ver)Formbarkeit des Körpers hin zum Phantasma eröffnet sich im Prinzip ein Raum, der die beliebige, körperverfremdende oder –entkoppelte Imagination des Selbst und des anderen ermöglicht. Dennoch kommt es bei den empirisch erfassbaren Usern nicht zu einem Austausch von Zeichen, der von jeder Refe25 Ephron, Nora in: „Produktionsnotizen zu E-Mail für Dich“, URL: http://www.cyberkino.de/entertainment/kino/110/110339pr.html, 05.05.2004. 26 Žižek, Slavoj: „Matrix oder die zwei Seiten der Perversion“, in: ders.: Lacan in Hollywood, Wien 2000, S. 43-77, hier S. 52.
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renz auf Körperlichkeit frei wäre. Im Gegenteil: Der Körper wird durch Zeichen, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen (Text27 körper/Körpertext) zur medialen Dauerpräsenz verurteilt.
Bei Kommunikationsformen wie dem Chat, der wie im konkreten Beispiel mit dem Reiz des Virtuellen spielt, indem die User sich im körperlosen Netz scheinbar mit ihren Pseudonymen neu konstruieren, heißt das, dass meist nach kurzer Zeit doch wieder Dinge ausgetauscht werden, die den Kern der Persönlichkeit ausmachen. Man liefert sich nicht nur Kurzbeschreibungen des Äußeren, die zumeist heute schon über konventionalisierte Zeichen repräsentiert werden,28 sondern tauscht auch andere Informationen aus. So weist sich Shopgirl bereits nach kurzer Zeit als Romantikerin aus, die ihrem Gegenüber gesteht, Jane Austens Pride and Prejudice zu ihrer Lieblingslektüre erkoren zu haben – ein Titel, der indes auch viel über ihre eigene charakterliche Disposition und ihre Vorteile verrät. Nach einiger Zeit schließt sich dem zumeist der Wunsch an, das Gegenüber persönlich kennenzulernen – auch wenn dann im letzten Moment häufig versucht wird, vor diesem entscheidenden Schritt zurückzuweichen, der die Imaginationsräume auf die Realität einschränkt. Dies ist bei Nora Ephron der Fall, aber auch bereits im Film von Lubitsch, in dem es fast noch deutlicher formuliert wird: Was, so sinniert der männliche Protagonist, ist, wenn sie herausfindet, dass ich ein Durchschnittsmann, schlimmer noch, ein ganz gewöhnlicher Verkäufer bin? Auf der virtuellen Ebene kommen sich die beiden Protagonisten näher. Unter ihren jeweiligen Pseudonymen, in der Maske ihrer InternetIdentitäten können sie ihre wahren Gefühle offenbaren, ohne auf gesellschaftliche Konventionen Rücksicht zu nehmen. Nora Ephron erschien die Konstellation der Virtuell-Aktuell-Begegnung im Cyberspace und den Straßen New Yorks besonders geeignet, der Komödie von Ernst Lubitsch Aktualität zu verleihen. In der Komödie hat Mr. Kralik, erster Verkäufer eines Budapester Gemischtwarenladens, Ärger mit seiner Kollegin Clara. Beide tauschen Briefe mit einem unbekannten Partner aus. Das Spiel der Maskerade, das Nora Ephron ins Internet-Zeitalter übersetzt, wird hier in Form von unter Pseudonym ausgetauschten Briefen inszeniert. Auch hier gibt es das Spiel virtuell – aktuell, nur dass sich die beiden Protagonisten nicht im Chatroom begegnen, sondern unter einem Kennwort Briefe austauschen, die sie in einem Postfach hinterlegen.
27 Funken in: Andriopoulos/Schabacher/Schumacher (Hrsg.) 2001, S. 64-81, hier S. 76. 28 Zur Repräsentation in Form von Körpermetaphern vgl. ebd., S. 70.
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Sprechend ist in diesem Kontext das Filmplakat von YOU’VE GOT MAIL. Groß sind auf dem Plakat Tom Hanks und Meg Ryan zu sehen. Sie blickt ihn skeptisch an, während er ihr versöhnend die Hand reicht. Davor ist der Bildschirm eines aufgeklappten Notebooks zu sehen, der das Paar zeigt, wie es sich leidenschaftlich küsst: Liebe in den Zeiten des Internet. Das Zauberwort lautet „You’ve got Mail“ – „Liebe ist nur einen Mausklick entfernt“. Dennoch spielt auch YOU’VE GOT MAIL hauptsächlich auf der aktuellen Ebene. Die im Internet ausgetauschten Nachrichten dienen nur dazu, dem Film die romantische Spannung zu verleihen. Das neue Kommunikationsmittel fungiert nur als Movens der Handlung. Der Film spielt mit dem Gegensatz zwischen dem virtuellen und dem aktuellen Raum. Als Lauren Shuler Donner das Remake der Ernst-Lubitsch- Komödie THE SHOP AROUND THE CORNER (RENDEZVOUS NACH LADENSCHLUSS, 1939) plante, schlug sie vor, den Dreh- und Angelpunkt der Story ins Internet zu verlegen. Korrespondieren James Stewart und Margaret Sullivan im Original per Post, war sie der Ansicht, die moderne Variante des anonymen Briefwechsels müsse per E-Mail über das schnellere Cyber-Postamt abgewickelt werden. Sie begründete dies mit den Worten: Im Internet gestatten wir uns große Offenheit und Intimität. Peinlichkeiten und Scham gibt es einfach deswegen nicht, weil man das Gegenüber nicht persönlich kennt. Ich bin überzeugt davon, daß man im Austausch über das Netz spontan sehr viel intimere Dinge von sich preisgibt, als man das von Angesicht zu Angesicht wagen 29 würde.
Bemerkenswert ist nun, dass bereits der Film von Lubitsch mit den gleichen Ängsten und Hoffnungen spielt. Der Film, der sich am Übergang einer primär postalischen zu einer telefonischen Kommunikation angesiedelt ist, spielt bewusst noch einmal mit dem amourösen Briefdiskurs. Bei Lubitsch sind Mr. Kraliks Tage erfüllt von seiner Arbeit und dem Briefaustausch mit einer Unbekannten, die ihm Briefe unter dem Kennwort „Guter Freund“ am Postamt 15, Fach 237 hinterlegt. Wie sehr das Medium auch hier die Botschaft ist, zeigt sich an einem der ersten Briefe, die er seinem Kollegen Mr. Pirovitch vorliest: „Mein Herz schlug höher, als ich zum Postamt ging. Da lagst du drin im Postfach 237. Ich nahm
29 Shuler Donner, Lauren in: „Produktionsnotizen zu E-Mail für Dich“, URL: http://www.cyberkino.de/entertainment/kino/110/110339pr.html, 05.05.2004.
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dich dann und las dich – oh, mein guter Freund.“30 Sinnfällig die Szene, als Lubitsch die Kamera an der Rückseite der Postfächer anbringt und wir so eine Hand sehen, die ins Leere greift, gefolgt von einem enttäuschten Gesicht der Frau. Lediglich der Weg der Vermittlung der Korrespondenz ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungleich komplizierter als fast 50 Jahre später. So berichtet er seinem Kollegen auch, wie er rein zufällig auf der Suche nach einem günstigen Lexikon in einem „falschen Blatt“ (die Scham, sich öffentlich dem Konsultieren gewisser Foren zu bekennen, ist offenbar stets dieselbe), auf eine Anzeige gestoßen sei: „Modernes Mädchen wünscht Korrespondenz über kulturelle Themen, anonym, mit einem klugen, sympathischen jungen Mann.“31 Er lobt ihre Klugheit, habe sie sich doch zunächst für einen rein virtuellen Austausch entschieden: „Sind sie groß oder klein, ihre Augen blau oder braun? Ich will’s nicht wissen. Ist es nicht besser, wir lassen nur unsere Gemüter sprechen?“32 Auch hier geht es demnach um einen Austausch im virtuellen Raum. Die Seelen sollen einander finden, ohne dass die schnöde Wirklichkeit dazwischen kommt. Liebe in den Zeiten postalischer Kommunikation. Als Pirovitch ihn eines Tages fragt, ob denn die Adressatin des kulturellen Briefaustausches auch hübsch sei, muss er zugeben, dies nicht zu wissen. Die Erklärung fällt ähnlich aus wie in Nora Ephrons Filmromanze rund 60 Jahre später. Auch hier geht es um den Aufschub des Begehrens, den Niklas Luhmann ins Medium des Wortes verlegt hat33: „Immer und immer wieder verschiebe ich es. Ich habe solche Angst. Sie denkt sicher, ich sei der wundervollste Mann der Welt – vielleicht enttäusche ich sie.“34 Er erklärt seine Angst sinnfällig mit einer Situation, die auch dem Kollegen bekannt ist. Der monatliche Gehalts-
30 Lubitsch, Ernst: SHOP AROUND THE CORNER/RENDEZVOUS NACH LADENSCHLUSS, USA 1939, 00 05 06-00 05 20. 31 Ebd., 00 05 53-00 06 00. 32 Ebd., 00 06 16-00 06 25. 33 Vgl. Luhmann, Niklas: „Das Wesen selbst der Liebe, der Exzeß, ist der Grund für ihr Ende; und umgekehrt [...]. Fast ist die Erfüllung schon das Ende, fast muß man sie fürchten und hinauszögern oder zu vermeiden suchen. Als Unbedingtheit verträgt sie keine Repetition. [...] Eben deshalb muß der Widerstand, der Umweg, die Verhinderung geschätzt werden, denn dadurch allein gewinnt die Liebe Dauer. Als Medium dieser Dauer dient das Wort. Worte trennen stärker als Körper, sie machen die Differenz zur Information und zum Anlaß der Fortsetzung der Kommunikation.“ (ders.: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1994, S. 89.) 34 Lubitsch, SHOP AROUND THE CORNER, 00 21 18-00 21 28.
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brief, den er immer zögert, zu öffnen: „So lange der Brief zu ist, sind sie Millionär.“35 Zu einer Zeit, in der das Telefon dabei ist, immer stärker auch den privaten Raum zu erobern, wird filmisch noch einmal der Brief als amouröses Medium inszeniert. All die Ängste, Täuschungsmanöver, Einbruch des öffentlichen ins private Leben werden auf das Medium des Telefons projiziert. Bis es rund 60 Jahre später verheißungsvoll heißt: „You’ve got Mail.“
35 Lubitsch, SHOP AROUND THE CORNER, 00 21 52-00 21 54.
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VON FANTÔMAS ZU KILL BILL – ZWISCHEN KULT UND ÉLECTROCHOC Am Anfang des 20. Jahrhunderts begeisterten zunächst die Romanhefte Fantômas1 von Marcel Allain und Pierre Souvestre, dann die daran angelehnte gleichnamige Stummfilmserie von Louis Feuillade2 das französische Publikum. Beide Fantômasversionen rekurrierten einerseits auf klassische Vorgänger und die damit verbundenen Regelsysteme, brachen jedoch in Form einer Zäsur andererseits mit den verschiedenen etablierten sowohl figuralen als auch wahrnehmungsästhetischen Strukturen der damaligen Zeit. Wie auch Lacassin hervorhebt, sind es besonders die an die écriture automatique der Surrealisten erinnernden défauts, die fauxpas, die den Reiz ausmachten und kurz nach dem Medienumbruch um 1900, der Entdeckung des Kinematographen, einen wahren électrochoc beim Publikum auslösten.3 Méthode proche de l’écriture automatique des surréalistes. Elle explique les répétitions et incantations, la composition invertébrée, les interjections, les pataquès, le style oral et antilittéraire, l’emphase du ton, la fièvre du récit: tous les défauts qui en font le charme à nos yeux. La suite est connue. Le premier volume, sorti le 15
1 Souvestre, Pierre/Allain, Marcel: FANTÔMAS (Le Train perdu, Les Amours d’un prince, Le Bouquet tragique, Le Jockey masqué), Paris 1987 (im Folgenden abgekürzt mit Le train), dies., FANTÔMAS (Le cerceuil vide, Le faiseur de reines, Le cadavre géant, Le voleur d’or), Paris 1988 (im Folgenden abgekürzt mit Le cerceuil), dies., FANTÔMAS (La série rouge, L’hôtel du crime, La cravate de chanvre, La fin de Fantômas), Paris 1989 (im Folgenden abgekürzt mit La série), mit einem Vorwort von Francis Lacassin. 2 FANTÔMAS À L’OMBRE DE LA GUILLOTINE (1913); JUVE CONTRE FANTÔMAS (1913); LE MORT QUI TUE (1913); FANTÔMAS CONTRE FANTÔMAS (1914), LE FAUX MAGISTRAT (1914). 3 Vgl. Auch Hickethier, Knut: „Die ersten Filme und die Idee des Fernsehens – am Beginn der Elektrifizierung der Kultur“, in: Harro Segeberg (Hrsg): Die Mobilisierung des Sehens, München 1996, S. 357-375 (Mediengeschichte des Films, Bd. 1).
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ISABEL MAURER QUEIPO février 1911, produit sur le public de la Belle Époque un véritable 4 électrochoc.
Nicht umsonst bezeichnete Guillaume Apollinaire Marcel Allain als einen ,König des Surrealismus‘5 und deutet damit auf sein umstürzlerisches Potential hin, das sich vor allem auch in dem intermedialen Umgang mit seinen Vorbildern zeigt. Dabei rekurrierte die literarische Vorlage sowohl auf damalige authentische Fälle (Überfall auf die Bank Rothschild, Der Mord an der Baronesse Dellard, „Le crime de Monte Carlo“, „Le Crime de Couville“, etc.)6 als auch auf berühmte fiktive kriminalistische Modelle und ihre Figuren des 19. Jahrhunderts: Artème Fayard (Le Livre Populaire), Maurice Leblanc (Arsène Lupin), Emile Gaboriau (Monsieur Lecoq) Gaston LeRoux (Rouletabille, The mystery of the yellow room), Eugène Sue (Le Juif errant (1844-1845), der mit Les Mystères de Paris (1842-1843). Letzterer gilt zudem als Begründer des Fortsetzungsromans in Zeitungen (vgl. Abb. 1a/b). So wird die Literatur grausamer Mime der Realität, die durch die Fiktionalisierung und Transposition ihren Wahrheitsgehalt anscheinend verliert. Abbildung 1a/b: Ausschnitte aus Le petit journal
Der neben seinen tragisch-komischen Elementen zum Krimigenre, zum conte policier, zählende Fantômas greift des Weiteren auf zahlreiche antike und mittelalterliche Prätexte zurück, um jedoch auch sie an Grausamkeit, Innovation und Humor zu überbieten: Perfides magiciennes de L’Énéide et de l’Odyssée, mauvais génies des contes orientaux, enchanteurs capricieux des romans de la 4 Le train, S. 24. 5 Paul Gilson (Lettre à Marcel Allain, sans date), zit. in: Le cerceuil, S. 1203. Vgl. dazu auch Vf., „Fantômas – eine Ikone der Performance?“, in: Marijana Erstiü/Gregor Schuhen/Tanja Schwan (Hrsg.): Avantgarde – Medien – Performativität, Bielefeld 2005, S. 99-116. 6 Vgl. Zusatzmaterial der DVDs.
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Table Ronde, ogres voraces et fées vindicatives, apaches du Paris mystérieux d’Eugène Sue, il les dépasse tous. Par sa démesure, 7 dans la cruauté, l’invention ou l’humeur.
Mit diesen Brüchen entgegnet Fantômas der moralisierenden Einstellung seiner intermedial integrierten Vorbilder, der letztlichen Wiederherstellung der Ordnung, dem Sieg des Guten, und entwindet sich zudem – vor allem zur Freude der anarchistisch geprägten Surrealisten – den damals etablierten Regeln: Mais Fantômas les surclasse sous le masque et la cape que Rastignac eû aimé porter pour vaincre ce Paris que le monstre légendaire tient sous son pied comme un dragon qui terrasserait Saint 8 Georges. (Le Figaro Littéraire, 22.7.1961)
In dieser soziokulturellen Zäsur, dieser „rupture avec un contexte historique“9, manifestiert sich gleichsam das moderne Moment Feuillades: les novations de ce dernier [Feuillade] s’affirmère en dépit d’une moralité édifiante, du respect scrupuleux des conventions sociales 10 et des émois religieux et patriotiques de nombreux de ses films.
Damit trifft Feuillade im Anschluss an Allain/Souvestre den Nerv der Zeit, zur Freude des Publikums und widersetzt sich den klassischen Literaturverfilmungen. *** Fantômas brach somit auf inhaltlicher Ebene mit bekannten Erzählmustern und etablierte mit seiner Neigung zum Grausam-Triebhaften und zum Morbiden zwischen Genie und Wahnsinn eine neue Mythologie der Grausamkeit, die sich in eine Genealogie sowohl eines französischen düsteren Symbolismus als auch des deutschen Frühexpressionismus einreiht. Il lui proposait toute une mythologie nouvelle, hanté par des dieux déconcertants et cruels, avides de sacrifices sanglants et nombreux, 11 érigeant en culte la poursuite et l’effroi.
Le train, S. 7. Ebd., S. 1009. Booklet des Films, S. 9. Booklet des Films, Dominique Païni (Directeur général de la Cinémathèque Francaise), „Moderne Feuillade Quelques notes sur le cinéma de Louis feuillade en forme d’épisodes“, S. 8-14, hier S. 8. 11 Le train, S. 24. 7 8 9 10
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Was auch immer geschah, Fantômas – berühmt durch seine schwarze Uniform – gelang es, seinen Häschern wundersam zu entkommen, sich anschließend an ihnen zu rächen und das Böse triumphieren zu lassen. Seine performativen Verwandlungskünste, mit denen er die Stereotypen der Gesellschaft darstellt, wenden sich gegen die sozialen Konventionen und durchbrechen den normierten Regelbereich – „le recours fréquent au maquillage et au travestissement traduit l’imminence des brusques basculements sociaux, moraux et affectifs.“12 Fantômas besaß jede und keine Identität, spielte mit ihr, dekonstruierte sie, führte uns, so Allain selbst, eine endlose Reihe typologisierter Figuren vor. Fantômas, roi de l’art en se grimer, incarne tous les personnages qu’il lui plaît d’incarner. Il peut être par exemple ou un infâme voyou, ou un gros négociant, ou un riche banquier protestant, etc. Dans chacune de ces incarnations il doit être dessiné sans aucune hésitation sous la forme typique du personnage représenté. Il sera 13 donc un voyou type, le banquier type, le négociant type, etc.
Er entzog sich dadurch nicht nur den gesellschaftlichen Regeln, sondern auch jeglicher Verantwortung und näherte sich an ein existentialistisches Prinzip an, performativ während des Handelns seine Existenz, seine Maske zu erschaffen. Er wählte eigenwillig die verschiedenen Rollen und verneinte damit, wie erwähnt, die Vorstellung einer starren Identität. Die Polyphonie der Identitäten, die das Karnevaleske14 zitiert, dieses Spiel der Identitäten, Maskeraden und Theatralität fand einen seiner Höhepunkte in der Folge FANTÔMAS CONTRE FANTÔMAS, in der auf einem Maskenball gleich drei Personen als Fantômas auftreten, Juve selbst die Rolle des Fantômas spielt und schließlich als Fantômas inhaftiert wird. Dass der Tod eines Menschen anstandslos toleriert wird – im Heft sogar bis zur letzten Konsequenz15 – verdeutlicht die Grausamkeit und Skrupellosigkeit Fantômas’. Er benutzt in LE MORT QUI TUE für seine Un12 Booklet des Films, S. 10. 13 Allain zit. in: Le train, S. 1018. 14 Vgl. zum Karnevalesken besonders Bachtin, Michail, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M. 1987. 15 So wird der Schauspieler Gurn zum Opfer der perfiden Pläne Fantômas’: Er wird in der literarischen Vorlage guillotiniert, im Film jedoch in letzter Sekunde gerettet. In einer Version Claude Chabrols (FANTOMAS: VERHÄNGNISVOLLES RENDEZVOUS, 1979) verliert beispielsweise der Schauspieler ebenfalls seinen Kopf. Inspektor Juve bemerkt nach der Köpfung anhand der durch die Theaterschminke unveränderten Gesichtsfarbe den tödlichen Fehler (zu spät). Das Spiel der Maskerade fordert seine Opfer.
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taten einen makabren Handschuh, den er aus Handhaut eines Getöteten anfertigen lässt, um falsche Fingerabdrücke zu hinterlassen, mauert einen Toten in der Wand ein, die durch das herausfließende Blut aufgefunden wird, tötet in LE FAUX MAGISTRAT einen Komplizen und lässt ihn zum lebendigen Glockenknüppel werden, der durch das Läuten während der Totenmesse entdeckt wird. Diese Gräuel ordnen sich in die Reihe authentischer morbider Fälle und Personen jener Zeit ein wie die späteren Fälle der Violette Nozière und der Geschwister Papin, denen besonders die Avantgardisten huldigen.16 Deutlich kristallisiert sich hierbei die stetige Auflösung der Grenze von Mythos und Authentizität heraus, ja letztlich das Unvermögen zwischen Realität und Fiktion unterscheiden zu können, bzw. zu wollen: Toutes les grandes affaires passionnelles et criminelles, de Cartouche à Fualdès, à Soleilland et à Violette Nozière, suscitent des complaintes, tous les grands thèmes affectifs et „mysthiques“ (la misère du Juif errant, de Bélisaire, des filles séquestrées, etc.), trou17 vent dans la complainte leur forme légendaire.
So setzten nachfolgend auch Robert Desnos in seiner Gemeinschaftsproduktion mit Kurt Weill und Alejo Carpentier mit La Complainte de Fantômas dem ,Bösen der Menschheit‘ abermals ein Denkmal. Und auch Michel Boujut besingt mit seinen Verweisen auf Père Ubu, Gilles de Rais, Lautréamont und Prometheus die Malignität und die Ambivalenz dieser faszinierenden, surrealen Figur: […] Mon beau saigneur // mon mort qui tue mon Jésus cru // mon métro neuf mon illusion // ma Mélusine mon alcool rare // mon train perdu je te salue en Père Ubu […] mon Gilles de Rais d’avant le déluge Mon voleur d’or // ma table de dissection ma machine à découdre mon Prométhée de la Grand-Ville
16 Vgl. u.a zur Faszination am Wahn und Verbrechen z.B. die Studien von Jacques Lacan über das Verbrechen der Schwestern Papin, „Motifs de crimes paranoiaques“, in: Minotaure 3-4 (Dez. 1933), S. 25-28, reprinted in: De La Psychose Paranoiaque dans ses Rapports avec la Personnalité suivi de Premiers Acrits sur la Paranoia, Paris 1975) und das davon inspisierte Stück Jean Genets, Les Bonnes, Paris 1947. 17 Deharme, Paul, „Fantômas à la radio“ (Le Petit Journal, 3.11 1933), zit. in: Le cerceuil, S. 1221/1222, hier S. 1221.
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Die Dualität von Gut und Böse, die auch den Kampf von Unbewusstem und Bewusstem, von Es und Über-Ich verdeutlicht, findet in FANTÔMAS ihre prominente Inkarnation in Juve und Fantômas. Dass, wie im großen finalen Geständnis erklärt wird, beide letztlich Geschwister sind, steigert den psychoanalytischen Aspekt der Doppelexistenz und des Doppelgängermotivs, des Wahns und der Schizophrenie, der z.B. in der phantastischen, romantisch-verklärten Erzählung Stevensons THE STRANGE CASE OF DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1886) so bekannt geworden ist – „Juve, tu n’as jamais pu me tuer, parce que tu es mon frère!“19 Es sind die formalen und inhaltlichen Kombinationen und Verknüpfungen, die (anscheinende) Improvisation als filmische écriture automatique, die Irrationalität, die unmotivierte Gewalt und makabren Aktionen, die alogische Stringenz, die beeindruckenden Bilder und kriminalistische Spannung, der Traum, die Realität und Begierden, die faszinieren und die das Kino so beeindruckend darzustellen vermag: Il y avait dans Fantômas un défi insolent aux tabous esthétiques et sociaux, une démystification grinçante, une constante référence à ce qu’André Breton appela l’humour noir, un affleurement du fantastique jusque dans le quotidien dont il apercevait la parenté avec les préoccupations surréalistes. Et, surtout, le hasard objectif cher à André Breton, ordonnateur de quiproquos et malentendus, avait compté pour beaucoup dans le succès d’un personnage composé 20 avec autant de désinvolture qu’un „cadavre exquis“!
*** Die Figur des Fantômas kreierte einen neuen Mythos dieses Genres, dem zahlreiche mediale Varianten nachfolgten. So erschienen neben den expliziten Remakes21 auch andere Filme im Zeichen der maskierten Einzel18 Zit. in: Le cerceuil, S. 1202 (La Tour de Feu, n° 87-88, 12. 1965). 19 Interessanterweise konnte der skrupellose Fantômas in FANTÔMAS CONTRE JUVE seinerseits sehr wohl Mordanschläge auf seinen Bruder verüben, als er beispielsweise das Haus, in dem sich Juve befindet, in die Luft sprengt. Vgl. zum Doppelgängermotiv bei Freud Elisabeth Bronfens Analyse „Erschreckende Bilder“, besonders S. 113/114 (in: Lampe, Angela [Hrsg.]: Die unheimliche Frau. Weiblichkeit im Surrealismus, Bielefeld 2001.) 20 Le train, S. 12. 21 Vgl. z.B. die amerikanische aus 20 Episoden bestehende Version (FANTÔMAS, 1920), Paul Féjos’ FANTÔMAS (1932), MR. FRANTÔMAS (1937) von Ernst Moerman, FANTÔMAS (1964), FANTÔMAS SE DÉCHAÎNE (1965), FANTÔMAS CONTRE SCOTLAND YARD (1967) von André Hunebelle, FANTÔ-
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gängerInnen zwischen Gut und Böse wie Fritz Langs DR. MABUSE, DER SPIELER (1922), und M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (1931), BATMAN (Teil 1 und Teil 2, 1943) von Lambert Hillyer, TennesseeWilliams-Adaption CAT ON A HOT TIN ROOF von Richard Brooks (1976), IRMA VEP (1996) von Olivier Assayas. Dabei vermischen sich die kriminologischen Elemente der durch Hitchcock – dem Meister der Spannung – besonders populär gewordenen Psychothriller. Dass die Faszination für Fantômas fortbesteht, bezeugen schließlich die jüngsten Werke wie SPIDERMAN I/II (2003/2004), CATWOMAN (2004) und eben KILL BILL I/II (2003/2004) – zur Zeit des Medienumbruchs um 2000, der von einer technologischen und ökonomischen Zäsur in den Bereichen der Information und Unterhaltung eines homogenisierten Publikums begleitet wird.
KILL BILL – der weibliche Fantômas? Revenge is a dish best served cold. – 22 Old Klingon Proverb
Neben den kontinuierlichen Verfilmungen zeigt sich die Faszination an Fantômas besonders aber auch an der jüngsten Ausstellung im Centre Pompidou in Paris 2002 als gebührende Hommage an Fantômas und symptomatischerweise als Echo der Surrealismusausstellung „La Révolution surréaliste“ (2003).23 Ein Jahr später präsentiert uns Quentin Tarantino, dessen Werk PULP FICTION bereits zum Kultfilm avanciert ist, in Zusammenarbeit mit Uma Thurman einen Film, der abermals mit MAS JE PENSE À VOUS (1979) von Marc Christian, LE TRAMWAY FANTÔME (1980) von Claude Chabrol, LE MORT QUI TUE (1980), L’ETREINTE DU DIABLE (1980) von Juan-Luis Buñuel, O FANTASMA (2000) von Jâo Pedro Rodrigues. Die meisten der hier genannten Filme wurden 2002 im Zusammenhang mit der Ausstellung „Cycle Fantômas et Compagnie“ (24.4 – 27.5 2002) im Centre national d’art et de Culture Georges Pompidou gezeigt. Vgl. auch die „Mini Site Fantômas“: http://www.centrepompidou.fr/cinemas/fantomas/index_ok.htm/ (6.7.2004). 22 Zitat aus KILL BILL. 23 „Le Centre Pompidou présente, en écho à l’exposition ‚La Révolution surréaliste‘, différentes versions des Fantômas, génie maléfique créé par Pierre Souvestre et Marcel Allain en 1911 publié en feuilletons, des Louis Feuillade aux Claude Chabrol, ainsi que les films des enfants naturels ou illégitimes du Maître de l’Effroi, tels Fritz Lang, Georges Franju ou Olivier Assayas. Tous illustrent la représentation des héros du mal au cinéma.“ Vgl. die „Mini Site Fantômas“ (Zugriff am 6.7.2004): http://www.centrepompidou.fr/cinemas/fantomas/index_ok.htm/
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seinem électroshock-Potential das Publikum in Begeisterung und Entsetzen versetzt – dieser Fähigkeit, das Publikum emotional zu fesseln, zu elektrisieren – und eine extravagante Zäsur in der Filmgeschichte bedeutet: Es ist das kreative Potential Tarantinos (und Thurmans), nach zahllosen medialen Transformationen dennoch eine neuartige Version dieses Stoffes zu liefern, eine in der heutigen Zeit ,nach der Orgie‘24 beachtliche Leistung: U&T [Uma & Tarantino], wie es im Abspann heißt, brechen, wie schon Fantômas, mit ihren Vorbildern wie DR. MABUSE, IRMA VEP, 007, CAT ON A HOT TIN ROOF und präsentieren ein originelles Hybridprodukt internationaler Elemente. *** KILL BILL ist in zwei Teile aufgegliedert. Beide episodenartig aufgebauten Filme erzählen eine kohärente Geschichte, bleiben autonom, unterscheiden sich aber in ihrer Machart. Jedes einzelne Kapitel, das wie in FANTÔMAS in Stummfilmmanier durch Tafeln eingeteilt ist („Chapter Two The blood-splattered BRIDE“, „Four years later“, „Chapter Three The Origin of O-Ren“, etc.). ES ist die im brechtschen Sinne epische Geschichte einer jungen Frau, „Black Mamba“ bzw. „The Bride“, die sich an ihren Peinigern – drei Frauen und zwei Männern (darunter Bill) – rächen wird, die während ihrer Hochzeit die gesamte Gesellschaft – einschließlich sie selbst – niedergemetzelt hatten. Durch einen Insektenstich wacht sie jedoch wie durch ein Wunder aus einem mehrjährigen Koma wieder auf. Der puzzleartig aufgebaute Film über Mutterschaft, Wiedergeburt und Rache gelangt nach einem reizvollen crescendo bis zum seinem Höhepunkt – dem Mord an Bill, ihrem Ex-Mann. Trotz des Rachemotivs der Braut, das ironischerweise dem alten klingonischen Sprichwort „Revenge is a dish best served cold“ folgt, bleibt wie bei Fantômas auch hier die Gewalt unangemessen, manifestiert sich eine übermäßige Freude an der sinnlosen Gewalt, deren Ursprung in asiatischen Splatterfilmen und anderen Vorbildern zu finden ist – Fujita Toshiyas LADY SNOWBLOOD (Japan 1973) mit seinen Rückblicken im Manga-Stil, den Blutfontänen, der Musik, dem Hintergrund beim Kampf mit O-Ren Ishii, John Flynns ROLLING THUNDER (USA 1977), John Woo‘s THE KILLER (China 1989), Robert Clouses GAME OF 24 Vgl. das von Jean Baudrillard so bezeichnete postorgiale Stadium, dem Moment der Simulation und der Simulakren, des Leerlaufs und der Befreiung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Baudrillard, Jean, La Transparence du mal Essai sur les phénomènes extrêmes, Paris 1990, hier besonders das Kap. „Après l’Orgie“, S. 11-21.
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DEATH (China 1973/77), in dem Bruce Lee einen gelben Motorradanzug – die ,Uniform‘, die Uma Thurman auch trägt – so populär gemacht hatte. Die Braut wird wie Fantômas zum „génie maléfique“, zum „héros du mal au cinéma“. Neben zahlreichen Parallelen und Differenzen im Vergleich mit FANTÔMAS inkarniert Uma Thurman hier eine weibliche Variante der in einer Genealogie stehenden Reihe verschiedenster Figuren von der femme fatal über FANTÔMAS bis hin zu CATWOMAN, die hier in dem berüchtigten ,cat fight‘ zwischen Elle Driver and The Bride ihren prominenten Ausdruck findet. *** Bereits der erste Teil bricht durch das Verwenden althergebrachter und neuster filmischer Methoden mit gängigen Sehmustern und deutet mit dieser wahrnehmungsästhetischen Zäsur auf die aktuellen medialen Möglichkeiten hin, die am Rande des zweiten Medienumbruchs von analog/digital besonders auffällig ist. Diese Brüche manifestieren sich in besonderer Weise in den Anime-Sequenzen und den intermedialen Versatzstücken, die neben den asiatischen Rekursen persiflierend auf das amerikanische und europäische Kulturgut zurückgreifen. So spielen U&T mit den Medien, indem einerseits die Killermaschine im naiven Schulmädchenlook Go Go Yubari, die einem Comic entsprungen zu sein scheint, in einer hagiographisch-blasphemischen Szene, die an die tränenreiche Santa Macarena erinnert, ihren Tod findet (Abb. 2). Hierbei vermischen sich die Techniken des Manga und des Comic. Anderseits wird durch die Interpolation einer 10-minütigen AnimeSequenz abermals deutlich, wie sehr U&T die verschieden filmästhetischen Ebenen vermischen und damit neue Brüche in den gewohnten Sehweisen produzieren. Abbildung 2: Screenshot aus KILL BILL
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U&T persiflieren eine ,Ästhetik der Splatter- und Blutorgien‘, die die Shaw Brothers in ihren klassischen Kampfkunstfilmen anschaulich dargestellt hatten, indem unzählige Körperfragmente und fontainenartig spritzendes Blut die Bildfläche füllen (Abb. 3). Während bei Fantômas die grausamen Spiele noch relativ ungesehen blieben, werden sie hier in aller Offenheit visualisiert. *** In einer Genealogie des Bösen, des ,mal au cinéma‘, führt Tarantino in Zusammenarbeit mit Thurman die Zäsur des Blicks von Anfang an ins Geschehen mit ein, indem er das vorhandene Medienrepertoire auf ungewohnte Weise dekonstruiert. Die ersten comicartigen Szenen in schwarzweiß weisen nicht nur auf alte Kinotraditionen, auf alte Verfahrensweisen hin. Denn die erste, verharmlosende Sequenz in schwarz-weiß ist für den westlichen Zuschauer (USA, Europa) gedreht worden, während das anscheinend ,blutgewohnte‘ japanische Publikum die Ouvertüre in Farbe sehen durfte. Mit einem einfachen Trick wird nicht nur eine kinematographische Mentalitätsdifferenz zwischen den westlichen Ländern und Asien aufgedeckt, sondern auch die Wahrnehmung der Zuschauer manipuliert, indem ihnen ein Bild vorgegaukelt wird, dass trotz Farbe oder Farblosigkeit doch genau die selbe Brutalität wiedergibt, die man tatsächlich sieht. Denn auch hier vermag das manipulierte Bild die Wahrheit wie Fantômas als grausamer Mime der Realität nicht herabzusetzten. Die synästhetischen Farbspiele, die an die Bedeutung der Farbe im Stummfilm (vgl. FANTÔMAS) erinnern, werden als spielerisches Stilmittel eingesetzt: Blau, Rot, Gelb, Schneeweiß verbindet das ganze Œuvre zu einem Orchester der Atmosphären, der Trauminszenierung (vgl. Abb. 4), das mit der martialischen Action kontrastiert und immer wieder in einer chromatischen Sinfonie, einem Traumballett kulminiert.
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Abbildung 3/4: Screenshots aus KILL BILL
Während Künstler wie Alain Robbe-Grillet, der im Zusammenhang mit FANTÔMAS unter dem Titel La belle captive eine Serie von Bildern des belgischen Künstlers Magritte in ein Zusammenspiel von Bild/Text gebracht hat (vgl. Abb. 6/7), und Julio Cortázar, der in Comicform die Vorlage FANTÔMAS als soziokulturelles Vehikel in Fantômas contra los vampiros multinacionales25 genutzt hat, beweisen auch Thurman und Ta25 Joachim Paech, „La belle captive (1983) Malerei, Roman, Film (René Magritte/ Alain Robbe-Grillet)“, in: Albersmeier, Franz-Josef/Roloff, Volker (Hg.), Literaturverfilmungen, Frankfurt a.M 1989, S. 409-436. Mit diesem Werk bricht Robbe-Grillet mit den klassischen Prämissen des Kriminal-
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rantino ihre Freude an Bild/Text-Experimenten, deren ,électroshock‘-Potential als mediale Zäsur der Wahrnehmungsästhetik trotz Übersättigung des Konsummarktes gerade durch kreative Kombinationen doch noch nicht ausgeschöpft zu sein scheint. KILL BILL präsentiert sich als neuer eklektischer Kultfilm, der chinesische Kungfu- und japanische SamuraiFilme mit Elementen des Grindhouse und der Beijing-Opera kombiniert. Er präsentiert einen Gattungsmix, dessen verwendete Techniken zwischen rückbezogener traditioneller Martialkunst und phantastischer zukunftsorientierter Akrobatik das Theatralische und Artifizielle der digitalen Filmkunst des 21. Jahrhunderts entlarvt.26 Abbildung 5 (links): Screenshot aus LE MORT QUI TUE (1913) Abbildung 6 (rechts): René Magritte, L’assassin menacé (1926)
stückes. Er bricht mit den Wahrnehmungsperspektiven, mit dem, was Magritte mit seinem berühmten Bild La trahison des images 1929 so bemerkenswert demonstriert hat und Michel Foucault zu seiner Analyse (Ceci n’est pas une pipe. Deux lettres et quattres dessins de René Magritte, Montpellier 1973) inspiriert hat. Vgl. Alain Robbe-Grillet(/René Magritte), La belle captive, Lausanne u.a 1975. Julio Cortázar, Fantômas contra los vampiros multinacionales, Barcelona 2002. 26 Vgl. auch die durch die ästhetisch-phantastischen Kampfszenen berühmt gewordenen Filme TIGER AND DRAGON (Ang Lee, Hongkong / Taiwan / USA 2000) und HERO (Zhang Yimou, China 2002).
ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN Marijana Erstiü: Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Zadar und Siegen. Zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Aufsätze zur Performativität der Pathosformel in der italienischen Medienkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts (D’Annunzio, Futurismus) sowie zur Intermedialität im Film (Benigni, Lang). Herausgeberin der literarischen Anthologie Zagreb erlesen, Klagenfurt 2001. Dissertationsvorhaben zum Thema des Verhältnisses zwischen den bildenden Künsten und dem Film am Beispiel der Familienbilder bei Luchino Visconti. Joseph Garncarz: Privatdozent für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität zu Köln und wissenschaftlicher Mitarbeiter am von der DFG geförderten Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Autor des Buches Filmfassungen (1992) und hat zahlreiche Artikel zur Mediengeschichte in Fachzeitschriften wie Film History, Cinema & Cie, Hitchcock Annual, Rundfunk und Geschichte und KINtop sowie internationalen Sammelbänden veröffentlicht. Annette Geiger: Studium der Kunst-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften in Berlin, Grenoble und Paris. Wissenschaftliche Koordinatorin am Zentrum für Kulturwissenschaften der Universität Stuttgart, Dissertation in Kunstgeschichte: Urbild und fotografischer Blick. Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts (München: Fink, 2004). Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin, Habilitationsprojekt zur Anthropologie und Ästhetik des Design, weitere Forschungsschwerpunkte zur biologischen Metapher in den Künsten und den Gender- und Mediendiskursen in der Gestaltung. Kirsten von Hagen: Studium der Komparatistik, Romanistik, Anglistik und Germanistik in Bonn. Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Intermedialität“ der Universität Siegen. Dissertation zum Thema Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses, Tübingen 2002. Habilitationsprojekt zur Figur der Zigeunerin in Literatur, Oper, Film. Artikel zu intermedialen Themen und
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zu Fragen des Medienwechsels bei Ophüls, Chaplin, Laclos, Proust, Oscar Wilde, Jean-Pierre Jeunet, Alejandro Amenábar. Sandra Herling: Studium der Romanistik und Angewandten Sprachwissenschaft in Siegen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Romanischen Sprachwissenschaft an der Universität Siegen. Dissertationsprojekt über die soziolinguistische Situation der balearischen Inseln. Artikel zur Mehrsprachigkeit auf Mallorca. „Brigitte-Schlieben-Lange“-Preisträgerin 2002. Isabel Maurer Queipo: Studium der französischen und spanischen Literaturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften in Siegen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Theater und Theatralität im Film. Französische Theater/Filme von 1930-60“, dann im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Dissertation zum Thema Die Ästhetik des Zwitters in den Filmen Pedro Almodóvars (Frankfurt a.M.: Vervuert, 2005); Habilitationsprojekt zur Ästhetik und Theorie des Traums in den Medien. Wietere Forschungsschwerpunkte: Intermedialität in der Romania; europäische und lateinamerikanische Avantgarden, Gender Studies. Nanette Rißler-Pipka: Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Romanistik und Wirtschaftswissenschaften in Siegen und Orléans. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Dissertation zum Thema Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion (München: Fink, 2005); Habilitationsprojekt unter dem Arbeitstitel „Passagen zwischen Bild und Text: von Góngora zu Picasso“; verschiedene Artikel zu intermedialen Themen bei Chabrol, Rohmer, Rivette, Zola/Manet, Poe, Jean Renoir, Jean Epstein, Picasso und Meret Oppenheim. Jens Uwe Pipka: Studium der Technischen Informatik mit Schwerpunkt Programmiersprachen in Siegen. Anschließend Tätigkeit als Softwareingenieur. Seit 1999 beratender Ingenieur bei der Daedalos Consulting GmbH in Witten. Leitung von internationalen Softwareprojekten für Konzerne aus den Bereichen Finanzwesen, Versicherungen und Automobilbau. Veröffentlichungen und Vorträge auf Fachkonferenzen zu
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Softwareentwicklungsprozessen, agilen Methoden und objektorientierten Technologien, visit www.jup-net.de Jens Schröter: Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Bochum, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Virtualisierung von Skulptur. Rekonstruktion, Präsentation, Installation“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Letzte Publikationen: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld: Transcript 2004; Hrsg. [zusammen mit Alexander Böhnke]: Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum, Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld: Transcript 2004. Zahlreiche Aufsätze zur Theorie und Geschichte digitaler Medien, Bildtheorie zwischen Kunst- und Medienwissenschaft, Theorie und Geschichte der Fotografie, visit www.theorie-der-medien.de. Tanja Schwan: studierte Romanistik, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Heidelberg, Nancy und Siegen. Arbeitet an einer Dissertation über die ré-écritures französischer Autorinnen des 16. Jh.s unter gender- und kulturhistorischer Perspektive. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen, zunächst am Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung (Hrsg. Renate Kroll), Stuttgart/Weimar 2002; derzeit im Teilprojekt „Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“ des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Diverse Veröffentlichungen zu Gender Studies, New Historicism, Mittelalter und Früher Neuzeit (Querelle des Femmes) sowie den Avantgarden der Romania (Futurismus, Surrealismus). Mitherausgeberin von Avantgarde – Medien – Performativität, Bielefeld 2005, (Post-)Gender. Choreographien/Schnitte, Bielefeld [2005] und Spektrum reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, Bonn [2005]. Christian Spies: Studium der Kunstgeschichte, Kunstpädagogik und Germanistik an den Universitäten Siegen, University of Florida, Gainesville, Basel und Frankfurt; Stipendiat im Graduiertenkolleg „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung“ an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt; Mitarbeiter im Teilprojekt „Virtualisierung von Skulptur“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche; Dissertationsprojekt: „Zur Trägheit des Bildes. Bildlichkeit und Zeit zwischen Malerei und Video“; Arbeitsschwerpunkte
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und Veröffentlichungen: Bildtheorie und Bildgeschichte der der Moderne und der technischen Medien. Marion Tendam: 1996 bis 2003 Studium der Komparatistik, der französischen Philologie und der neueren deutschen Literaturwissenschaft in Bonn und Paris; Magisterarbeit über literarische und filmische Berlinund Parisdarstellungen zu Beginn der 30er Jahre. Seit Ende 2003 Dissertationsprojekt – im Rahmen des Gießener Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ – über frühe Tonfilme zwischen Medienrevolution und Transnationalen Medienereignissen. In der Arbeit werden medienimmanente Ereignisstrategien früher Tonfilme und Stimmen der zeitgenössischen Tonfilmdebatte medienkomparatistisch analysiert.
Die Titel dieser Reihe:
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Die grausamen Spiele des »Minotaure« Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift Mai 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-345-3
Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) (Post-)Gender Choreographien / Schnitte April 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,00 €, ISBN: 3-89942-277-5
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 März 2005, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-278-3
Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit
Ralf Schnell (Hg.) Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik Neurobiologie und Medienwissenschaften März 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-347-X
Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hg.) Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000 März 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-346-1
Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie März 2005, 546 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-280-5
März 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-341-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Titel dieser Reihe: Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2004, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-182-5
Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft 2004, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-276-7
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus
Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3
Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-254-6
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7
2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1
Uta Felten, Volker Roloff (Hg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus 2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-184-1
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de