Zwischen den Kulturen - zwischen den Künsten: Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec [1. Aufl.] 9783839409091

Theaterkünstler wie Robert Lepage oder Denis Marleau zählen zu den renommiertesten Vertretern einer Theaterästhetik, die

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German Pages 390 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
Kulturelle Hybridität – mediale Hybridität?
Die Theaterwissenschaft zwischen Kultur- und Medienwissenschaft
Forschungsansatz und Zielsetzung
Zum Inszenierungskorpus
Theater und (neue) Medien
Medien im Theater: Zukunft oder drohendes Ende einer Kunstform?
Theater und (Medien-)Technik in historischer Perspektive
Von der Medienkonkurrenz zum medialen Dialog
Intermedialität als ästhetische Praxis
Intermedialität als Forschungsperspektive
Theater – ein Medium?
The medium is the message – Zum Verständnis von Medien
Spuren und Apparate - Zum Medienbegriff
Medien als Welterzeuger - Zur Konstitutionsleistung von Medien
Verkörperung und Transformation - Zur Funktionsweise von Medien
Medien, Medialität, Intermedialität - Zum Medienbegriff des Theaters
Technik vs. Kultur – Mediengebrauch als kulturelle Praxis
Kulturraum Québec
Das québecer Theater - eine Geschichte der Hybridisierung
Québec als kulturelles Feld
Medienästhetik als Kulturtechnik
Intermedialität und Theater
Was heißt hier Intermedialität?
Intermedialität als Analyseinstrumentarium
Intermedialität als (theatraler) Wahrnehmungsmodus
Intermedialität im québecer Theater
Robert Lepage – „le médium sera le message“
Vinci
Les Aiguilles et l’Opium
Elsinore
La face cachée de la lune
Le projet Andersen
Das Theater als Rahmenmedium
Gilles Maheu – der Körper als Medium
Rivage à l’abandon
Peau, chair et os
Das Spiel mit dem Rahmenmedium
Marie Brassard – die Stimme als „extension of men“
Jimmy – créature de rêve
The Darkness
Peepshow
Das Theater als Klangraum
Denis Marleau – „penser le théâtre plutôt que d’y jouer“
Les trois derniers jours de Fernando Pessoa
Les Aveugles – une fantasmagorie technologique
Das Theater – eine „machine de la pensée“
Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten: Intermedialität als kulturelle Praxis
Abbildungen
Literatur
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Zwischen den Kulturen - zwischen den Künsten: Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec [1. Aufl.]
 9783839409091

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Julia Pfahl Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten

T h e a t e r | Band 2

2008-05-14 10-58-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714524628|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 909.p 178714524636

Julia Pfahl (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren Arbeitsgebieten zählen Theater- und Mediengeschichte, Interkulturalität, Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters sowie Kulturphilosophie.

2008-05-14 10-58-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714524628|(S.

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) T00_02 seite 2 - 909.p 178714524652

Julia Pfahl Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten. Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec

2008-05-14 10-58-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714524628|(S.

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) T00_03 titel - 909.p 178714524732

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT sowie der Gesellschaft für Kanada-Studien e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: www.photocase.de Lektorat & Satz: Julia Pfahl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-909-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-05-14 10-58-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714524628|(S.

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) T00_04 impressum - 909.p 178714524764

INHALT

Vorwort 9

Kulturelle Hybridität – mediale Hybridität? 11

Die Theaterwissenschaft zwischen Kultur- und Medienwissenschaft 13

Forschungsansatz und Zielsetzung 16

Zum Inszenierungskorpus 18

Theater und (neue) Medien 21

Medien im Theater: Zukunft oder drohendes Ende einer Kunstform? 22

Theater und (Medien-)Technik in historischer Perspektive 23

Von der Medienkonkurrenz zum medialen Dialog 26

Intermedialität als ästhetische Praxis 30

Intermedialität als Forschungsperspektive 32

Theater – ein Medium? 36

The medium is the message – Zum Verständnis von Medien 48

Spuren und Apparate - Zum Medienbegriff 51

Medien als Welterzeuger - Zur Konstitutionsleistung von Medien 57

Verkörperung und Transformation - Zur Funktionsweise von Medien 62

Medien, Medialität, Intermedialität - Zum Medienbegriff des Theaters 64

Technik vs. Kultur – Mediengebrauch als kulturelle Praxis 69

Kulturraum Québec 70

Das québecer Theater - eine Geschichte der Hybridisierung 74

Québec als kulturelles Feld 84

Medienästhetik als Kulturtechnik 93

Intermedialität und Theater 101

Was heißt hier Intermedialität? 102

Intermedialität als Analyseinstrumentarium 107

Intermedialität als (theatraler) Wahrnehmungsmodus 115

Intermedialität im québecer Theater 125

Robert Lepage – „le médium sera le message“ 127

Vinci 133

Les Aiguilles et l’Opium 148

Elsinore 165

La face cachée de la lune 179

Le projet Andersen 194

Das Theater als Rahmenmedium 210

Gilles Maheu – der Körper als Medium 217

Rivage à l’abandon 223

Peau, chair et os 242

Das Spiel mit dem Rahmenmedium 259

Marie Brassard – die Stimme als „extension of men“ 263

Jimmy – créature de rêve 268

The Darkness 283

Peepshow 296

Das Theater als Klangraum 308

Denis Marleau – „penser le théâtre plutôt que d’y jouer“ 313

Les trois derniers jours de Fernando Pessoa 319

Les Aveugles – une fantasmagorie technologique 337

Das Theater – eine „machine de la pensée“ 354

Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten: Intermedialität als kulturelle Praxis 359

Abbildungen 365

Literatur 367

VORWORT Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2007 von der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität in München als Dissertation angenommen. Die Verknüpfung einer theater- und medienwissenschaftlichen Fragestellung mit einer spezifisch kulturwissenschaftlichen Perspektive, nämlich dem Fokus auf die Theaterszene der frankophonen kanadischen Provinz Québec, machte es mir möglich, meine bisherigen wissenschaftlichen Schwerpunkte als Theaterwissenschaftlerin und Romanistin in einem Projekt zusammenzuführen: Der Kulturraum Québec hat sich mir bereits während meines Studiums im Kontext literaturwissenschaftlicher Arbeitsfelder erschlossen. Im Rahmen eines ersten interdisziplinären Forschungsvorhabens konnte ich 2002 während eines Studienaufenthaltes in Montréal/Québec auch die frankokanadische Theaterszene kennenlernen – eine Begegnung, die den Grundstein für die vorliegende Untersuchung legte. Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Prof. Dr. Christopher Balme für sein Interesse und seine uneingeschränkte Unterstützung, mit der er dieses Projekt von Beginn an gefördert hat, sowie Dr. Danielle Dumontet, durch die ich das frankophone Kanada überhaupt erst entdeckt habe. Ebenso danke ich Prof. Dr. Michael Gissenwehrer und Prof. Dr. Jens Malte Fischer, die das Zweit- und Drittgutachten übernommen haben, sowie Prof. Dr. Dr. Michael Rössner. Den Hauptteil der Quellenforschung konnte ich – mit Unterstützung eines DAAD-Reisestipendiums – am Centre de recherche interuniversitaire sur la littérature et la culture québécoises (CRILCQ) der Université de Montréal (UdM) leisten; für die freundliche Unterstützung von Micheline Cambron und ihren Kollegen bin ich sehr dankbar. Dank gilt auch den québecer Künstlern und Theaterkompanien für ihre Kooperation – insbesondere Micheline Beaulieu von ExMachina, Danièle de Fontenay von Carbone 14, Hanneke Marois-Ronken und Annick Huard vom Théâtre UBU sowie ganz herzlich Marie Brassard. Für die wertvolle Hilfe aus Québec während der editorischen Arbeit an diesem Buch danke ich vielmals Sylvain Lavoie. Besonders großer

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ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Dank gilt als Freundin und Kollegin Dr. Svenja Blume für viele Ratschläge und für die kritische Lektüre des Manuskripts. Ich widme dieses Buch meinen Eltern, die meinen Weg immer unterstützt und gefördert haben, und Henning, der mich auf diesem Weg schon so lange begleitet. Wiesbaden, im Januar 2008 Julia Pfahl

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K U L T U R E L L E H YB R I D I T Ä T – MEDIALE HYBRIDITÄT? Le théâtre a besoin de sang neuf [et] le pari que fait ExMachina est de devenir le laboratoire d’un théâtre qui puisse toucher les spectateurs du nouveau millénaire.1

Wenn der Radiojournalist Rolf Hemke im Theatermagazin des Hessischen Rundfunks verkündet, dass „die Zukunft des Theaters kanadisch [sei]“2, und damit auf die innovativen Theaterprojekte von québecer Künstlern wie Robert Lepage oder Marie Brassard anspielt, deren Produktionen zum wiederholten Male während der Berliner Festspiele präsentiert wurden,3 dann rückt er damit ein kulturelles Phänomen ins Blickfeld, das in zweierlei Hinsicht von Interesse ist. Die Inszenierungen, auf die hier verwiesen wird, zeichnen sich nicht nur durch die Gemeinsamkeit des Produktionsorts aus, sondern vor allem durch den Einsatz unterschiedlichster medialer Darstellungsformen im Dienste einer explizit intermedialen Theaterkonzeption. Auch Peter M. Boenisch nimmt mit einer kurzen Charakteristik des zeitgenössischen québecer Theaters dessen kreatives, noch zu entdeckenden Potential in den Fokus und hebt dabei gerade die geographische

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Vgl. die Internetadresse (2006-12-10). Abschrift eines Radiofeatures des Hessischen Rundfunk (HR 2) von Rolf C. Hemke: Theater in Québec, gesendet am 1.10.2002. Zu den Berliner Gastspielen zahlreicher Inszenierungen Robert Lepages und Marie Brassards vgl. (2006-7-8) bzw. (2006-7-8). Marie Brassard hat ihre erste Solokreation Jimmy, créature de rêve im Herbst 2002 in Berlin vorgestellt und auch in den folgenden Jahren mit The Darkness (2003) und Peepshow (2006) am Programm von spielzeiteuropa partizipiert. Lepage zeigte in Berlin u.a. seine Produktionen Kindertotenlieder (1999), The far side of the moon (2000), La trilogie des Dragons (2003) und Le projet Andersen (2006). 11

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

und kulturelle Randsituation der frankophonen kanadischen Provinz hervor: Ohne Robert Lepage, seit seiner legendären „Drachentrilogie“ von 1985 auf fast allen internationalen Theaterfestivals gefeierte kulturelle Visitenkarte des frankophonen Teils Kanadas, hätte sich wohl noch immer kaum ein ausländischer Kritiker in den Nordosten des amerikanischen Kontinents verirrt. Die ganze Vielfalt der dort vibrierenden Kultur- und vor allem Theaterszene harrt aber nach wie vor ihrer Entdeckung: eine Kultur zwischen Kulturen, die im Schatten jener dominanten Einflüsse aus den USA und dem englischen Landesteil einerseits und dem Vormachtsanspruch der Kulturnation Frankreich andererseits beinahe zu verschwinden droht – aber inzwischen gerade aus diesem Spannungsfeld heraus umso kreativer wirkt.4

In der Tat war es der inzwischen international anerkannte und gefeierte Theatermacher Robert Lepage, der das Interesse gerade der europäischen Theaterszene auf Québec lenkte, und das zunächst mit Inszenierungen, die immer wieder auch die kulturelle Situation der Provinz reflektieren. Lepage gilt als einer der wichtigsten Vertreter des interkulturellen Theaters5 und seine Inszenierungen verknüpfen die lokale Spezifität seiner Heimat und die Frage nach einer eigenen québecer Identität immer wieder mit einem grundsätzlichen Diskurs, der sich im Spannungsfeld von Begriffen wie dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘, von Nationalität und Globalisierung bewegt. Der transnationalen Thematik seiner Inszenierungen entspricht auf formaler Ebene eine vielschichtige Bildersprache, die die visuellen Zeichen der Bühne gegenüber dem Text privilegiert und das Theater Lepages so auch hinsichtlich der Rezeptionsbedingungen zu einem interkulturellen Theater par exellence macht. Diese besondere Ästhetik hat Lepage kontinuierlich weiterentwickelt und dabei seit geraumer Zeit immer mehr auch technische Medien in seine Darstellungsweisen integriert: Der kulturell-hybride Charakter seiner Stoffe wird immer stärker von einer auch medial-hybriden Ästhetik der formalen Ausdrucksmittel überlagert. So 4 5

Boenisch, Peter M. (2001): „Die kanadische Möwe.“ In: Süddeutsche Zeitung (16.11.2001). Pavis, Patrice (Hg.) (1996): The Intercultural Performance Reader. London/New York: Routledge, darin bes. ders.: „Towards a theory of interculturalism in theatre“, 8-21; Simon, Sherry (1998): „Robert Lepage and Intercultural Theatre.“ In: Tötösy de Zepetnek/Leung, Yiu-nam (Hg.): Canadian Culture and Literature and a Taiwan Perspective. Edmonton: Research Institute for Comparative Literature (University of Alberta), 123143; dies. (1999): Hybridité Culturelle. Montréal: L’Ile de la tortue, darin bes. 27-28. 12

KULTURELLE HYBRIDITÄT – MEDIALE HYBRIDITÄT

integriert er in viele seiner Inszenierungen nicht nur immer wieder Filmund Videotechnik, sondern verwendet deren spezifische Darstellungsmodi, wie z.B. die Projektion von Übertiteln, das ‚Heranzoomen‘ von Figuren oder den ‚Freeze‘, durch einfache theatrale Mittel wie Beleuchtungstechnik oder veränderte Körperpositionen. Aber nicht nur im Theater hat Lepage einen Ort gefunden, um mit unterschiedlichen Rezeptionsgewohnheiten zu spielen und zu experimentieren; er transponiert seine Stoffe auch in andere Medien, verfilmt seine Theaterprojekte und betrachtet seine multidisziplinäre Theaterkompanie ExMachina als ein Versuchslaboratorium für die Begegnung von Künsten und Technologie. Neben Robert Lepage machen gerade in jüngster Zeit auch andere québecer Theaterkünstler auf sich aufmerksam, deren Inszenierungen sich durch den Einsatz technischer Medien im Dienste einer intermedialen Theaterkonzeption auszeichnen. Denis Marleau und seine Truppe Théâtre Ubu haben die Verwendung von Videotechnik zum integralen Bestandteil ihrer Arbeiten gemacht; Marie Brassard, einstige Weggefährtin Lepages, überrascht mit mehreren Soloprojekten, in denen sie mittels eines Vocoders ihre Stimme in Realzeit verfremdet und vervielfacht, und auch Gilles Maheu und seine für ihre Körperarbeit bekannte Truppe Carbone 14 arbeiten vermehrt mit technischen Bildmedien, die sie mit der physischen Präsenz der Darsteller kontrastieren. Der Kulturraum Québec präsentiert sich so als ein Ort, an dem die „wechselseitige Befruchtung der Künste“6 im Theater auf einen idealen Nährboden trifft. Die kulturelle Hybridität der Künstler scheint sich in den hybriden medialen Formen ihrer Arbeiten zu spiegeln, mehr noch, und das ist die Ausgangsthese der vorliegenden Untersuchung, scheint die soziokulturelle Situation der frankokanadischen Provinz gerade ideale Voraussetzung und Bedingung für das fruchtbare intermediale Experimentieren und die Entwicklung einer ästhetisch neuen Form von Theaterkunst zu sein.

D i e T he a t e r w i ss e n s c h a f t z w i sc he n K u l tu r - u n d M e d i e n w i s s e n sc ha f t Angesichts der oben skizzierten Phänomene eröffnet sich für die Theaterwissenschaft ein vielschichtiges Forschungsfeld. Zum einen zeigt sich am Beispiel der angeführten ästhetischen Tendenzen zeitgenössischer 6

Zima, Peter (1995): „Ästhetik, Wissenschaft und die ‚wechselseitige Erhellung der Künste‘.“ In: Ders. (Hg.): Literatur intermedial: Musik-MalereiPhotographie-Film. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1-27, hier 1. 13

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Theaterproduktionen, für die der Kulturraum Québec als exemplarisches Untersuchungsfeld dienen kann, dass die Allgegenwart von Medien, die unseren Alltag strukturiert und unsere Sehgewohnheiten und Perzeptionsweisen beeinflusst, auch die Domäne der Kunst und damit auch das Theater erfasst hat. Wenn wir Medien als Vermittler zwischen Innen und Außen, zwischen Wahrnehmung und Realität begreifen, dann bleibt zu fragen, welche Funktionen sie im Theater des „nouveau millénaire“ übernehmen, wie sie das Theater strukturell, ästhetisch und funktionell verändern und welche kultursoziologischen sowie kunsttheoretischen Implikationen sich hieraus ergeben. Bedeutet der Einsatz technischer Darstellungsmedien im Theater das nahende Ende einer genuinen Theaterkunst oder eröffnet der Rückgriff auf die Ästhetik von Film oder Video eine bewusste medienreflexive Hinterfragung von Wahrnehmungstransformationen und Manipulationsmöglichkeiten überhaupt? Kann das Theater im Medienzeitalter noch als eigenständige Institution existieren oder werden medial-hybride Theaterprodukte wie die der genannten québecer Theaterkünstler im 21. Jahrhundert zum ästhetischen Standard? Bedeutet das gleichzeitig eine Nivellierung der Theaterkunst, die sich nicht mehr von massenkulturellen Darstellungsformen wie Videoclips oder Computerspielen unterscheidet? Oder kann aufgrund der sich rasant verändernden Rezeptionsmechanismen nur die bewusste und reflektierte Integration fremder medialer Techniken im Theater dessen Fortbestehen überhaupt sichern? Was implizieren diese neuen Theaterräume, die die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verwischen, und findet diese laut beschworene Grenzverwischung wirklich statt, oder wird nicht eher die „Disposition geschaffen, alles Wahrnehmen mit einem permanenten Zweifel zu belegen?“7 Für die Theaterwissenschaft bedeuten solche Phänomene intermedialer Theaterpraxis eine neue Herausforderung, der, so Christopher Balme, mit einem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel zu begegnen sei.8 Um die komplexen neuen ästhetischen und medialen Konfigurationen dieser hybriden Medienprodukte angemessen beschreiben und untersuchen zu können, bedarf es einer Betrachtungsweise, die nicht mehr die lange verfochtene mediale Spezifität des Theaters in den Mittelpunkt der Forschung stellt, sondern die mittels eines intermedialen Forschungsansatzes

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Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 405 (Hervorhebung im Original). Balme, Christopher (2004): „Theater zwischen den Medien. Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung.“ In: Ders./Moninger, Markus (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien. München: epodium, 13-31, hier 14. 14

KULTURELLE HYBRIDITÄT – MEDIALE HYBRIDITÄT

das Theater innerhalb eines größeren medientheoretischen Diskurses verortet. Die Theaterwissenschaft muss also an den inzwischen recht umfangreichen, jedoch im Bereich des Theaters noch wenig verfolgten Forschungsansatz der Intermedialität anknüpfen. Die Intermedialitätsdiskussion bildet den wissenschaftlichen Gegenpol zum Konzept der medialen Spezifizät, bei dem es sich, so Balme, um ein „wissenschaftliches Konstrukt handelt, das mit den eigentlichen ästhetischen Mechanismen von Medienprodukten wenig zu tun hat.“9 Während die Intermedialitätsdiskussion bisher in erster Linie im Kontext eines sich transkulturell verstehenden Medienbegriff geführt wurde,10 stellt sich im Anschluss der hier formulierten Ausgangsthese die Frage, ob und wie auch theoretisch eine direkte Verbindung zwischen

9 Ebd.: 19. 10 Zum Forschungsgebiet ‚Intermedialität‘ vgl. folgende Aufsätze und Monographien: Füger, Wilhelm (1998): „Wo beginnt Intermedialität? Latente Prämissen und Dimensionen eines klärungsbedürftigen Konzepts.“ In: Helbig (1998): 41-57; Helbig, Jörg (1998) (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin: Erich Schmidt; Mertens, Mathias (2000): Forschungsüberblick „Intermedialität.“ Kommentierungen und Bibliographie. Hannover: Revonnah; Müller, Jürgen E. (1996): Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster: Nodus; ders. (1998): „Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept.“ In: Helbig (1998): 31-40; Paech, Joachim (1994) (Hg.): Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität. Stuttgart/Weimar: Metzler; ders. (1998): „Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration.“ In: Helbig (1998): 14-30; Rajewsky, Irina O. (2002): Intermedialität. Tübingen: Francke (UTB); Spielmann, Yvonne (1995): „Intermedialität als symbolische Form.“ In: Ästhetik und Kommunikation 24, 112-117; Zima, Peter V. (1995) (Hg.): Literatur intermedial: Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Der Begriff ‚transkulturell’ meint hier, dass sowohl die Medientheorien als auch die daran anschließende Intermedialitätsdiskussion von einem Medienverständnis ausgehen, das unabhängig von bestimmten soziokulturellen Dispositionen konzipiert ist. Zwar unterscheiden einige Medientheoretiker wie beispielsweise Marshall McLuhan in kulturhistorischer Perspektive zwischen verschiedenen medialen Entwicklungsstufen, die den jeweiligen zeitlichen Errungenschaften der Technik und denen des Medialen Rechnung tragen, kulturelle Faktoren wie eine gesellschaftliche Prädisposition, die sich aus bestimmten sozioökonomischen Faktoren einer Kultur bzw. eines kulturellen Raums ergeben können, bleiben aber in der Medientheorie wie in der Intermedialitätsforschung durchgehend unberücksichtigt. 15

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

kulturellem Raum einerseits und intermedialer Theaterproduktion andererseits hergestellt werden kann. Wie können bestimmte soziokulturelle Diskurse in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Umgang mit Medien und Technik gestellt werden? Inwiefern kann die frankokanadische Provinz Québec aufgrund ihrer spezifischen historischen, geographischen und kulturellen Disposition als ein Kulturraum beschrieben werden, der andere Voraussetzungen für den Umgang mit Medien im Theater bietet, als das beispielsweise für die europäische Theaterpraxis der Fall ist? Es zeigt sich hier, dass die Fragestellungen der vorliegenden Studie nicht nur die Theaterwissenschaft im engeren Sinne betreffen, sondern sowohl kulturwissenschaftliche Diskurse als auch medienwissenschaftliche Perspektiven zur Untersuchung herangezogen werden müssen. Wie kann ein Medienbegriff formuliert werden, der das Verhältnis von Technik, Technikgeschichte und kulturellem Umgang mit Technik in ein nicht nur allgemeines Verhältnis setzt, sondern spezifische kulturelle Bedingungen mitreflektiert und darüber hinaus auch auf das Theater als Form künstlerischen und kulturellen Ausdrucks anwendbar ist? Der Versuch einer kulturwissenschaftlichen Medienperspektive muss also konsequenterweise auch auf das Untersuchungsfeld der Intermedialität übertragen werden. Denn nicht nur das einem solchen Intermedialitätsbegriff zugrunde liegende Medienverständnis als spezifische Kulturtechnik ist für die Beschreibung der medialen Interaktion von Bedeutung, sondern auch die Bedingungen und Mechanismen des intermedialen Austauschs selbst sollen mit kulturwissenschaftlichen Parametern beschreibbar gemacht werden. Um die intermedialen Theaterphänomene der québecer Künstler in der so kurz umrissenen Perspektive untersuchen zu können, bedarf es also eines theaterwissenschaftlichen Forschungsansatzes, der medienwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Analyseinstrumente vereint, ihr Erkenntnisinteresse miteinander verschränkt und ihre Ergebnisse in einem interdisziplinären Konzept von Intermedialität erfasst.

F o r sc h u n g sa n sa t z u n d Z i e l s e tz u n g Im Anschluss an die oben skizzierten Fragestellungen und die eingangs beschriebenen kulturellen und medialen Phänomene der aktuellen québecer Theaterszene verfolgt die vorliegende Studie ein doppeltes Ziel. Zum einen soll in einer Verschränkung von kultursoziologischer und medienwissenschaftlicher Perspektive herausgearbeitet werden, warum gerade das Theater der frankophonen Provinz Québec eine hohe Quantität und Qualitativ intermedialer Theaterinszenierungen aufweist. Zum anderen

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KULTURELLE HYBRIDITÄT – MEDIALE HYBRIDITÄT

soll mittels eines daran anschließenden kulturwissenschaftlichen Medienbegriffs untersucht werden, inwieweit Intermedialität als ein ästhetisches Verfahren zu definieren ist, das nicht nur die Integration und Realisierung bestimmter medialer Konventionen und Ästhetiken eines Mediums oder mehrerer Medien in einem anderen Medium beschreibt, sondern dessen Rezeption gerade im Theater ebenfalls auf kulturell bedingten Konventionen beruht. Um die bis hierher nur kurz skizzierten Fragestellungen der vorliegenden Studie in einen kulturellen, historischen und wissenschaftlichen Kontext zu stellen, bedarf es der Erläuterung der einzelnen Ausgangsphänomene. In einem ersten Schritt soll daher unter dem Titel Theater und (neue) Medien sowohl in historischer Perspektive geklärt werden, wie das Theater im Laufe seiner mehr als zweitausendjährigen Geschichte mit Technik umgegangen ist als auch kurz aufgezeigt werden, auf welche Weise das Theater auf die seit dem späten 19. Jahrhundert massiv auftretenden neuen Bildmedien reagiert. In diesem Zusammenhang werden auch die unterschiedlichen theaterwissenschaftlichen Positionen zu diesem Thema erörtert: Während die Vertreter der einen Seite sich vehement dagegen wehren, dem Theater den Status eines Mediums zuzuschreiben, argumentiert die andere Seite, das Theater sei schon immer ein Medium gewesen. Ausgehend von diesen sich diametral gegenüberstehenden theaterwissenschaftlichen Ansichten soll ein Medienbegriff erarbeitet werden, der sich aus kultursoziologischen und medienwissenschaftlichen Parametern zusammensetzt und geeignet ist, die gegensätzlichen Positionen zu vereinen. In einem zweiten Schritt soll die Darstellung der theaterwissenschaftlichen Ausgangssituation durch die Beschreibung der besonderen Bedingungen des Kulturraums Québec ergänzt werden, und das sowohl in historischer Perspektive als auch mit besonderem Fokus auf die Theaterszene der frankokanadischen Provinz. Im Anschluss an die Beschreibung der den Kulturraum prägenden kulturellen Hybridität soll mit Hilfe kultursoziologischer Überlegungen erklärt werden, warum diese kulturelle Hybridität zur Folie für eine sich intermedial verstehende Theaterkunst werden kann. Damit wird der Versuch unternommen, das Forschungsfeld der Intermedialität unmittelbar mit einer kulturwissenschaftlichen Forschungsperspektive zu verbinden. Darauf aufbauend wird ein Intermedialitätsbegriff erarbeitet, der schon bestehende theaterwissenschaftliche Forschungsansätze mit den Zielsetzungen der vorliegenden Studie verbindet. Dabei geht es um die Erarbeitung brauchbarer Analysekategorien, mit deren Hilfe die medialhybriden Theaterprodukte nicht nur des québecer Theaters untersucht und bewertet werden können, aber auch um eine Definition dieses media-

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ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

len Austauschs zwischen den Künsten im Theater, die sowohl den ästhetischen Verschiebungen gerecht wird als sie auch dem besonderen (medialen) Status des Theaters Rechnung trägt. Anhand der Analyse ausgewählter Inszenierungen von québecer Theaterkünstlern soll dann im zweiten Teil der Untersuchung die Tragfähigkeit des zuvor erarbeiteten Intermedialitätskonzepts überprüft werden. Ausgehend von den vielfältigen Manifestationen und Möglichkeiten, technische Medien in die Darstellungsweisen des Theaters zu integrieren, kann gezeigt werden, wie sich das québecer Theater im Verlauf der letzten zwanzig Jahre zu einer medial-hybriden Kunstsparte entwickelt hat und auf welch unterschiedliche Weise die verschiedenen Theatermacher mit den neuen Technologien umgehen. Die ausgewählten Inszenierungsbeispiele können dabei einerseits darlegen, inwieweit das Theater dazu in der Lage ist, die spezifische Wirkung von Medien, die in Kontexten, in denen das jeweilige Medium normalerweise auftritt, nur latent erfahrbar ist, aufzudecken und zu reflektieren (Medien als Kulturtechniken), und wie es gleichzeitig durch die Integration und Adaption medienspezifischer Ausdrucks- und Wahrnehmungsweisen diese für sein eigenes ästhetisches Potential nutzbar macht (Medien als Kunsttechniken). Schließlich soll gefragt werden, ob die Ergebnisse der exemplarischen Analysen von Theaterinszenierungen eines eng begrenzten kulturellen Feldes aufschlussreich sein können für eine generelle Beschäftigung mit Theater und neuen Medien und ob das zugrundeliegende Intermedialitätskonzept für die besonders im deutschsprachigen Theaterraum sehr hitzig geführte Auseinandersetzung über den Status von Theater als einem Medium einen konstruktiven Beitrag leisten kann.

Z u m I n sz e n i e r u n g s k o r p u s Die für die Analyse ausgewählten Regisseure und Theatermacher und ihre jeweiligen Inszenierungen präsentieren ein Panorama intermedialer québecer Theaterarbeit der letzten zwanzig Jahre. Ihre Arbeiten werden immer wieder im Kontext theaterwissenschaftlicher Forschung zitiert und analysiert und viele der Inszenierungen waren zu großen internationalen Festivals eingeladen, wo sie teilweise mehrfach ausgezeichnet und prämiert wurden. Aus diesem Grund stehen sie nicht nur repräsentativ für eine chronologisch breit angelegte Untersuchung der intermedialen Tendenzen des québecer Theaters, sondern auch in inhaltlicher und ästhetischer Hinsicht ist ihre Legitimation für eine wissenschaftliche Untersuchung unbestritten. Dass Gilles Maheu, Robert Lepage und Denis Marleau darüber hinaus für jeweils zwei Jahre künstlerische Leiter des Cent-

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KULTURELLE HYBRIDITÄT – MEDIALE HYBRIDITÄT

re National des Arts Dramatiques (CEAD) in Ottawa waren, belegt nicht nur die nationale Wertschätzung ihres künstlerischen Schaffens, sondern ist auch als politische Geste gegenüber der Provinz Québec zu sehen, deren innovative Theaterkunst so zum kulturellen und künstlerischen Botschafter Gesamtkanadas wird. Robert Lepage ist mit Sicherheit der bekannteste und renommierteste Theaterkünstler Québecs, und das sowohl im Bereich des interkulturellen Theaters als auch aufgrund der medial-hybriden Ästhetik seiner Inszenierungen. Er begreift Theater als einen Kreuzungspunkt zwischen Kulturen, Sprachen und Künsten, als ein Medium des Austauschs und der Transformation und verbindet das interkulturelle Thema des Reisens mit den vielfältigen Möglichkeiten der Erweiterung theatralen Ausdrucks durch technische Bildmedien. Diese Verbindung lässt sich am besten anhand seiner Solostücke nachvollziehen, die er in regelmäßigen Abständen zwischen großen Kollektivproduktionen realisiert. In jedem dieser Stücke steht ein künstlerisches Ausdrucksmittel im Fokus der Geschichte, das auch auf metareflexiver Ebene in seiner Ontologie und seiner Bedeutung für Wahrnehmung und Erkenntnis thematisiert und in seiner medialen Spezifik mit der Ästhetik des Theaters konfrontiert und darin integriert wird. Die Theaterarbeit von Gilles Maheu charakterisiert sich in erster Linie durch die dezidierte Betonung des körperlichen Ausdrucks seiner Inszenierungen und eine entschiedene Ablehnung von Text als einem bedeutungstragenden und -transportierenden Theaterzeichen. Diese Akzentsetzung resultiert aus seinem spezifischen Werdegang. Sowohl seine Ausbildung als Tänzer und Mime als auch seine Lehrjahre in Europa bei Etienne Decroux und Eugenio Barba haben seine Konzeption eines körperbetonten Ausdruckstheaters beeinflusst. Gleichzeitig betont Maheu immer wieder die Faszination, die das Theatermodell Antonin Artauds auf ihn ausübt und wie sehr dessen Idee eines sinnhaften Erlebens von Theater für sein eigenes Theaterverständnis prägend war. In den Texten Heiner Müllers fand Maheu den Rhythmus und die bildlichen Assoziationen, die seiner Vorstellung von theatraler Bildästhetik und durch den Körper vermittelbarer Energie entsprachen. Die sprachliche Dichte und Brutalität der Texte Müllers korrespondiert für Maheu mit der von Artaud formulierten körperlichen Schockwirkung und der collageartige Charakter der Texte Müllers inspiriert ihn zu einer Reihe von Inszenierungen, in denen er mittels der Kombination körperlicher und bildlicher Elemente dem textuell hybriden Universum Müllers eine ästhetisch hybride Bühnensprache gegenüberstellt. Marie Brassard war lange Jahre Schauspielerin und Co-Autorin vieler Produktionen Robert Lepages, bevor sie 2001 mit Jimmy, créature de

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ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

rêve ihr erstes Soloprojekt präsentierte, dessen ästhetisches Charakteristikum – die elektronische Manipulation und Verfremdung ihrer Stimme – seitdem zum Markenzeichen ihres Theater wurde. In bislang drei Produktionen hat sie diese Technik der Stimmtransformation durch eine Maschine, die in Realzeit ihre Stimme vervielfältigt, verzerrt und verfremdet, erforscht und auf unterschiedliche Weise und in verschiedenartiger Kombination mit anderen Theaterzeichen zum Einsatz gebracht. Damit hat sie eine Form von Theater geschaffen, die zwischen Hörspiel und Schauspiel oszilliert, und so das Hören als eine im Theater oft marginalisierte Dimension der Wahrnehmung in den Mittelpunkt gestellt. Denis Marleau ist neben Robert Lepage sicherlich der international renommierteste und ästhetisch herausragendste Theatermacher der aktuellen québecer Szene. Die Tatsache, dass sein Bekanntheitsgrad hinter dem Lepages zurücksteht, resultiert in erster Linie aus dem hohen intellektuellen Grad seiner Inszenierungen, die im Vergleich zu Lepages medialen Spektakeln sehr viel stilisierter und komplexer sind und das Publikum oft verstören, bevor sie begeistern. Denis Marleau hat lange Zeit in erster Linie Texte inszeniert, die nicht für das Theater geschrieben wurden. Seine Arbeiten waren vor allem der Ästhetik der Avantgarden verpflichtet und stellten eine multidisziplinäre Begegnung der verschiedenen Kunstformen auf der Bühne dar. Die darstellerische Herangehensweise seines Theaters charakterisiert sich vor allem durch stimmliche Virtuosität, physische Präzision und die Erforschung der Materialität von Sprache. Auf der anderen Seite stellt er dieser dezidiert textorientierten Arbeit eine spezifische räumliche Ästhetik gegenüber, die plastische und medial-visuelle Elemente in installationsartigen Gefügen vereint und so einen Brückenschlag zwischen dem Theater und den anderen Künsten leistet. Die für die Analysen ausgewählten Inszenierungen repräsentieren aber nicht nur das jeweilige künstlerische Credo der vier Künstler und die ästhetische Entwicklung ihres Schaffens, sondern sind für eine breite medienwissenschaftliche Untersuchungsperspektive dieser Studie repräsentativ: Aufgrund der unterschiedlichen intermedialen Ansätze der Theatermacher können so sowohl die theoretischen Prämissen einer Vielzahl im Theater zum Einsatz kommender Einzelmedien (Photographie, Film, Video, Fernsehen, digitale Bilder) reflektiert werden, als auch die dem Theater genuinen Zeichen (Körper, Stimme, Maske) auf ihren Status und ihre Funktion als Medien hin befragt werden.

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THEATER

UND

(NEUE) MEDIEN

[Q]ui nous montrera les liens entre l’homme et la technologie sinon le théâtre? Il est le seul lieu où l’humain et la technologie peuvent réellement interagir l’un avec l’autre, là, devant nous, avec nous.1

Das vorliegende Kapitel dient der Situierung des Spannungsfelds ‚Theater und (neue) Medien‘ in theaterhistorischer sowie theaterwissenschaftlicher Perspektive. In einem ersten Teil soll daher im Anschluss an eine kurze Skizzierung der aktuellen Debatte um die Verwendung technischmedialer Darstellungsformen im Theater das Verhältnis von Theater und Technik in einem allgemein historischen Rückblick und exemplarisch mit einem besondern Fokus auf das Konkurrenzmedium Film beleuchtet werden. Ausgehend von den ästhetischen Verschränkungen zwischen Theater und Film zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die intermediale Praxis des ‚media-crossing‘ dann sowohl in theaterpraktischer wie in theaterwissenschaftlicher Hinsicht zusammengefasst. Damit werden die für die vorliegende Untersuchung grundlegenden Eckpunkte des Themas ‚Theater und Medien‘ umrissen. Der zweite Teil des Kapitels präsentiert theaterwissenschaftliche Positionen hinsichtlich der Frage, ob das Theater als ein Medium bezeichnet werden kann, welche Argumente dagegen sprechen und wie der Terminus ‚Medium‘ zu präzisieren wäre, damit er dem ontologischen Status des Theaters als Live-Kunst gerecht wird. Davon ausgehend wird auf der Grundlage medientheoretischer und medienphilosophischer Überlegungen einen Medienbegriff diskutiert, der die zuvor erörterten Problemstellungen aufnimmt und damit als Basiskategorie für die Analyse intermedialer Theaterprodukte und als Grundlage für ein theaterwissenschaftliches Medienverständnis dienen kann.

1

Lefèbvre, Paul (2003b): „Trois Notes sur Marie Brassard.“ In: Les cahiers du théâtre français du Centre National des arts (Ottawa), Nov. 2003, 7. 21

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M e d i e n i m T h e a t e r : Z u k u n f t o d e r d r o he n d e s Ende einer Kunstform? Das „Theater darf alles“ titelte unlängst die Süddeutsche Zeitung2 und zitiert damit den Münchner Theaterwissenschaftler Christopher Balme, der dem Theater nicht nur absolute Freiheit im Umgang mit dem dramatischen Text zuspricht, sondern auch ästhetische Experimente und die Integration neuer Medien in die Darstellungsweisen des Theaters begrüßt. Wenn das Theater nur die literarische Tradition pflege, drohe es, museal zu werden, so Balme, Experimentierfreudigkeit und die Verwendung neuer Medien hingegen betrachtet er als wichtige Entwicklungstendenzen, nicht zuletzt deswegen, weil sie die entscheidende Frage nach der Bedeutung und den Potentialen der heutigen Theaterkunst aufwürfen. Während er mit dieser Einschätzung nicht nur sein persönliches Forschungsinteresse erläutert, sondern auch das Selbstverständnis der Theaterwissenschaft als einer interdisziplinären Kulturwissenschaft betont, scheinen Publikum und Fachpresse die intermedialen Experimente der Bühne nicht immer zu goutieren. So zeugt der Wunsch einer Berliner Theaterkritikerin, „die Volksbühne möge doch wenigstens ein einziges Mal auf eine Videoprojektion verzichten“3, von der verbreiteten Meinung, dass es sich bei technischen Medien wie Video- oder Filmprojektionen um Fremdkörper handelt, die das Theater verunreinigen. Frank Castorf dagegen, auf dessen Medieninszenierungen die Kritik anspielt, träumt von einem Theater, das seine ästhetischen Anleihen beim Kino sucht und sich dessen Mitteln, nämlich Soundtrack, Rhythmus, szenischen Überblendungen und des ständigen Spiels mit Zitaten und Klischees, bedient.4 Was der Theatermacher als ästhetische Inspiration versteht und mit wachsender Selbstverständlichkeit in seine Theatersprache integriert, wird von den Zuschauern allerdings oftmals als kultureller Verfall bewertet. Die medialen Wesensveränderungen des Theaters, so die gängige Meinung vieler Theaterbesucher, zielten auf ein Publikum, das aus dem Bereich der Unterhaltungsmedien komme, und die Annährung der Bühnenästhetik an die Ausdrucksmittel von Kino, Fernsehen oder Video habe langfristig nur eine Nivellierung der Theaterkunst zur Folge.

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4

Thurau, Martin (2006): „Theater darf alles.“ In: Süddeutsche Zeitung (5.4.2006). Diederichsen, Diedrich (2004): „Der Idiot mit der Videokamera. Theater ist kein Medium – aber es benutzt welche.“ In: Theater heute 4, 27-31, hier 27. Vgl. Balme (2004): 13. 22

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Im Zentrum dieser gerade in Deutschland immer wieder hitzig geführten Diskussion über die Verwendung technischer Medien im Theater steht also die Frage nach der kulturellen Wertigkeit und der Kunsthaftigkeit von ‚traditionellem‘ (Literatur-)Theater einerseits und technischen Darstellungsmedien andererseits. Während das Theater mit seiner mehr als zweitausendjährigen Geschichte als sozusagen letzte Bastion von Tradition und Kulturbewusstsein angesehen wird, tragen die sogenannten ‚neuen‘ Medien das Makel von Massenunterhaltung, oberflächlicher Effekthascherei und televisionärer Zerstreuungsindustrie. Das Theater, so die Kritiker der jüngsten medialen Inszenierungstendenzen, sei eine Kunst, die ohne Technik auskomme, und die Verwendung von Darstellungsformen aus anderen Medien bedrohe es in seiner künstlerischen Spezifität und Unmittelbarkeit. Wenn die neuen Technologien nun auch noch die Bühne eroberten, dann werde sich in einer ohnehin immer schnelllebiger werdenden Medien- und Informationsgesellschaft auch das Theater bald nicht mehr von den Videoclipkanälen wie MTV oder VIVA unterscheiden.

Theater und (Medien-)Technik in historischer Perspektive Aus theaterhistorischer Sicht können beide Aspekte einer solch kulturpessimistischen Haltung entkräftet und sogar widerlegt werden. Denn das Theater hat sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder technischer Errungenschaften bedient, um sein Illusionspotential zu vergrößern und seine Darstellungsmöglichkeiten zu optimieren. Schon das antike Amphitheater ist eine hochkomplexe technische Anlage, und das sowohl hinsichtlich der äußeren Bedingungen der Aufführungen als auch im Bereich der szenischen Darstellungsmittel.5 So erlaubt die architektonische Konstruktion schon der ersten griechischen Theater für alle Zuschauer ein uneingeschränktes optisches und akustisches Theatererlebnis, von dessen Perfektion mancher moderne Theaterbau weit entfernt ist. Auch 5

Zur Bauweise und Funktion des antiken Theaters vgl. Froning, Heide (2002): „Bauformen – Vom Holzgerüst zum Theater von Epidauros.“ In: Moraw, Susanne/Nölle, Eckehart (Hg.): Die Geburt des Theaters in der griechischen Antike. Mainz: Philipp von Zabern, 31-59; Latacz, Joachim (1993a): Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Lohmann, Hans (1998): „Zur baugeschichtlichen Entwicklung des antiken Theaters: Ein Überblick.“ In: Binder, Gerhard/Effe, Bernd (Hg.): Das antike Theater: Aspekte seiner Geschichte, Rezeption und Aktualität. Trier: WVT, 191-252. 23

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kennt die antike Bühne eine Reihe technischer Ausstattungsdetails, wie z.B. die ekkyklema, ein fahrbares Gestell, das zur Präsentation besonders wichtiger Szenen oder Ereignisse aus dem Proszeniumsgebäude herausgefahren werden konnte, oder die mechané, eine Art Flugkran mit einer Gondel, in der ein Schauspieler in die Höhe gehoben und mit dessen Hilfe Götterauftritte aus der Luft realisiert werden konnten (deus ex machina). Gleiches gilt für das mittelalterliche Theater mit seinen mobilen Schaugerüsten, für die Perspektiv- und Raumbühnen des Barocktheaters sowie die Maschinerie der italienischen Renaissancetheater mit ihren Verwandlungsbühnen und deren Weiterentwicklung als Kulissenbühne bis ins 18. Jahrhundert.6 Auch bestimmte Tendenzen des populären Theaters im 19. Jahrhundert, die durch den Einsatz visueller Medien und technischer ‚special effects‘ die Rolle des Schauspielers bzw. des gesprochenen Dialogs zugunsten aufwendiger Bühneneffekte wie beweglicher Kulissen, Wasserbassins für Seeschlachten, der Verwendung von Pyrotechnik oder Licht- und Spiegeleffekten zurückdrängten, sind unter dem Aspekt einer seit jeher auf Schaueffekte ausgerichten technischen Dimension von Theaer zu betrachten. Besonders die ästhetischen Strategien des Theaters des 19. Jahrhunderts zeigen, wie sehr das Theater unmittelbar auf die technischen Errungenschaften seiner Zeit reagiert und zahlreiche visuell-mediale Tricks in sein Ausdrucksrepertoire integriert. Die technologischen Phänomene gerade im Spektakeltheater haben dabei aber unterschiedliche Ursachen: Einerseits kommt es seit dem Ende der Aufklärung zu einem Gewichtsverlust des Sprechtheaters, andererseits bieten gerade die technischen Erfindungen der Industrialisierung eine Reihe von neuen Illusionsmechanismen, die in Form zahlreicher maschineller Effekte auch in das Theater integriert werden und so zu einer Aufwertung der bildhaften Elemente führen. Aber auch theaterpolitische Gründe zwangen die Volkstheaterbühnen in Frankreich und England zu einer Akzentverlagerung in ihren Darstellungsformen. Aufgrund monopolistischer Lizenzgesetzgebung und Zensurdrucks gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde diesen ‚illegitimen‘ Theatern die Aufführung reinen Sprechtheaters untersagt. Die Theater reagierten auf die Zwangslage mit der Entwicklung früher Formen des gothic-Melodramas, das durch pantomimische Szenenmontage mit Zwischentiteln und Musik gekennzeichnet ist und so das „Problem

6

Kühnel, Jürgen (2001): „Mediengeschichte des Theaters.“ In: Schanze, Helmut (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart: Kröner, 316346. 24

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der legal verordneten Stille in bestechend (stumm)filmähnlicher Weise löste.“7 Ralf Erik Remshard beschreibt die ausgeprägte Lust der Theaterzuschauer des 19. Jahrhunderts am Spektakulären als bedeutendsten Motor für die Entwicklung medial-visueller Elemente auf der Bühne: „Skopophilie – Schaulust – wurde zum Grundtenor des 19. Jahrhunderts.“8 Optische Tricks wie die Verwendung einer laterna magica, einer Art ‚Zauberlaterne‘, die auf eine bewegliche Glasplatte gemalte Zeichnungen oder Buchstaben mit Hilfe eines Spiegels und einer Sammellinse durch Sonnen- oder Kerzenlicht auf Wände oder Papier projizierte, bedienten in sogenannten Phantasmagorien die Vorliebe des Publikums für Geistergeschichten. 1822 erbaute der Bühnenmaler und Fotograf Louis Jacques Daguerre sein erstes Diorama, eine abgedunkelte Schaubühne mit halbdurchsichtigem, beidseitig unterschiedlich bemaltem Prospekt. Durch wechselnde Beleuchtung von Vorder- und Rückseite können damit zum Beispiel Bewegungen und Tageszeiten effektvoll simuliert werden. Mit der von ihm entwickelten Beleuchtungsmethode konnte er ein großflächiges Genregemälde plastisch erscheinen lassen und an ihm übergangslos Zeitverlauf und Lichtwechsel demonstrieren. Die Zuschauer saßen in einem zylinderförmigen, drehbaren Raum, der sie alle 15 Minuten an einer neuen Szene vorbeitrug.9

Sowohl die Technik der laterna magica und die mit ihr untrennbar verbundenen Geisterrevuen als auch Daguerres Dioramen fanden schnell nach ihren ersten einzelmedialen Erscheinungen Eingang in die Darstellungsmittel des Theaters. In thematischer und formaler Hinsicht hatte das Theater mit dem Melodrama eine offene Form geschaffen, der jeder Vorwand für das Bildhaft-Spektakuläre gelegen kam. Die Sensationsszenen dieser Theaterformen leben von ihrem autonomen Schauwert und „ersetzen in der dramatischen Struktur Kausalität durch Ikonizität.“10 Wie im frühen Film wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers hier besonders auf die technischen Möglichkeiten und Bedingungen der Darstellung und der Erzeugung einer Wirklichkeitsillusion gelenkt und weniger Wert auf in7

Remshardt, Ralf Erik (1998): „Als die Bilder laufen lernten. Dion Boucicault und das ‚vorfilmische’ Theater des 19. Jahrhunderts.“ In: Brandstetter, Gabriele/Finter, Helga/Weßendorf, Markus (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste. Tübingen: Gunter Narr, 77-87, hier 78. 8 Ebd.: 78. 9 Ebd.: 79. 10 Ebd.: 82. 25

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haltliche Kohärenz oder eine literarisch anspruchsvolle dramatische Handlung gelegt. Tatsächlich erinnern diese Maschineninszenierungen des Populärtheaters an die ersten filmischen Sujets und deren Dramaturgie. Der Prozess einer allgemeinkulturellen Schwerpunktverlagerung von sprachlichen zu visuellen Darstellungsformen im Theater wurde schließlich vom neuen Medium Film aufgenommen und durch dessen überlegenes Illusionspotential noch verstärkt.11 Die Verwendung technischer Hilfsmittel zur Optimierung des theatralen Ausdrucksvermögens lässt sich durch die gesamte Theatergeschichte verfolgen, der jeweilige Grund für die Veränderung der Bühnenmittel, sei es aus Gründen literarischer Zensurbestimmungen oder aufgrund eines sich verändernden Publikumsgeschmacks, scheint dabei eher zweitrangig, denn in beiden Fällen sicherte sie jeweils die Akzeptanz und den Fortbestand des Theaters. In der Tat lassen sich die meisten Veränderungen im Bereich der Darstellungsmittel aber als eine Steigerung des Illusionsvermögens kennzeichnen. Das Theater reagiert auf die technischen Entwicklungen seiner Zeit, indem es die Möglichkeiten der neuen Maschinen in seine eigene Ästhetik integriert und somit als Kunstform auf der Höhe der Zeit bleibt. So, wie die Verwendung von Filmsequenzen oder die Projektion von Videobildern in aktuellen Inszenierungen als eine Antwort des Theaters auf die Sehgewohnheiten und das Rezeptionsvermögen eines Publikums zu verstehen ist, das auch im Umgang mit den sogenannten ‚neuen‘ Medien geschult ist, hat das Theater auch in früheren Zeiten stets den Publikumsgeschmack seiner Zeit berücksichtigt.

Von der Medienkonkurrenz zum medialen Dialog Die ästhetischen Tendenzen des Theaters im späten 19. Jahrhundert und die technische Erfindung des Kinematographen erscheinen in vieler Hinsicht als eine Interdependenzbeziehung in Folge einer langfristigen mentalgeschichtlichen Entwicklung, die sich nach Harro Segeberg als eine „Mobilisierung des Sehens“12 beschreiben lässt. Ob sich das Aufkommen des Films aus einem „die Möglichkeiten des Theaters übersteigenden 11 Ebd.: 85ff. Vgl. weiter Maintz, Christian (2000): „Theater und Film: Historische Präliminarien.“ In: Ders./Möbert, Oliver/Schumann, Matthias (Hg.): Schaulust. Theater und Film – Geschichte und Intermedialität. Münster: LIT-Verlag, 5-36, bes. 8f. 12 Segeberg, Harro (Hg.) (1996): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. (Mediengeschichte des Films, Bd.1). München: Fink, 8f. 26

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Drang nach größerem bildlichen Realismus“13 genealogisch herleiten lässt, erscheint zwar fragwürdig, aus den bis hierher skizzierten Entwicklungslinien wird aber offensichtlich, dass die technischen und ästhetischen Ähnlichkeiten zwischen dem frühen Film und dem Spektakeltheater des 19. Jahrhunderts sehr groß sind. „Schon 1913 war die Veränderung, Mediatisierung der Wahrnehmung durch den Film derart fortgeschritten, dass das Theater als Medium auf Abschied, der Film als dessen legitimer Erbe erschien.“14 Die zunehmende Verbreitung des Kinos als Massenunterhaltungsmittel wird oft als erste große Konkurrenz und Bedrohung für das Theater beschrieben, und obwohl letzteres es nicht immer leicht hatte mit dem Aufkommen neuer Bildmedien, lässt sich das Verhältnis zwischen Film und Theater rückblickend nicht ausschließlich als Rivalität beschreiben.15 Im ersten Jahrzehnt öffentlicher Filmvorführungen war die kulturelle Funktion des neuen Mediums noch keineswegs fest definiert; diskutiert und praktiziert wurden vorwiegend industrielle, wissenschaftliche oder didaktische Verwendungen. ‚Film als Kunst‘ war hingegen zunächst eine eher fernliegende bzw. noch auf Jahre hinaus von Kritikern massiv in Frage gestellte Option.16

Die ersten zehn Jahre der Kinoproduktion wurden vornehmlich von reportageartigen Dokumentarfilmen oder nicht-fiktionalen Kurzfilmen, die Alltagsszenen darstellten, dominiert. Auch gab es noch keine eigenständigen Lichtspielhäuser und die ersten cinematographischen Arbeiten wurden auf Jahrmärkten, in Ladenkinos oder in Music-Halls gezeigt. Ihr Publikum war vorwiegend kleinbürgerlich-proletarisch und ist in keiner Weise mit dem der regelmäßigen Theaterbesucher gleichzusetzen. Das frühe Kino stellt also zunächst weder in inhaltlicher Hinsicht noch in Bezug auf seine Zielgruppe eine ernstzunehmende Konkurrenz für das Theater da. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es mit der ersten nachhaltigen Krise der Filmindustrie zu einer Überschneidung des Wirkungsbereichs von Kino und Theater. Aufgrund einer allgemeinen Wirtschaftsdepression aber auch eines Interesseverfalls der Zuschauer gegenüber den Kurzfilmen, deren Unterhaltungspotential sich schon nach kur-

13 Maintz (2000): 6. 14 Moninger, Markus (2004): „Vom ‚media-match’ zum ‚media-crossing’.“ In: Balme, Christopher/Moninger, Markus (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien. München: epodium, 7-12, hier 8. 15 Die folgenden Ausführungen zum Verhältnis zwischen Film und Theater am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beziehen sich auf Maintz (2000), bes. 10-24. 16 Ebd.: 10. 27

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zer Zeit als erschöpft erweist, gehen die Besucherzahlen der Kinos zurück. Um diese ästhetische und ökonomische Stagnation zu überwinden und um neue, auch bildungsbürgerliche Zuschauerkreise zu gewinnen, „sucht der Film nunmehr Anschluss an die Medien der traditionellen Hochkultur“17 und bedient sich inhaltlich und ästhetisch bei Literatur und Theater. Es entstehen erste Filmadaptionen von Theaterstücken, aber auch die aufkommenden fiktionalen Filme bedienen sich in Handlungsstruktur, Schauspielstil und Ausstattung der Vorlagen des Theaters.18 Diese Übertragung ästhetischer und formaler Konventionen des Theaters auf das Kino erscheint nur natürlich, denn viele prominente Theaterschauspieler, -regisseure und -autoren wurden durch die lukrativen Angebote der Filmindustrie dazu verleitet, die Seite zu wechseln, und setzten in Ermangelung eigener filmischer Gestaltungsprinzipien die ihnen vertrauten Inszenierungsformen des Theaters nun im Kino um. [D]er frühe Spielfilm [bleibt] den Formen und Strukturen des Theaters in vielerlei Hinsicht noch so stark verhaftet, dass man weithin von einem imitatorischen Verhältnis sprechen kann. Der filmische Raum entspricht zumeist der traditionellen Anordnung des Bühnenraums im 19. Jahrhundert, der ‚Guckkastenbühne‘: das Publikum blickt durch die fehlende vierte Wand in einen dreiseitig begrenzten Raum. Die Schauspieler spielen ihre Parts vor theaterhaften, oft gemalten Kulissen; nach Aktschluss verbeugen sie sich nicht selten zur Kamera hin. Diese zeigt das Handlungsgeschehen meist aus einer unbewegten, totalen bzw. halbtotalen Proszeniumsperspektive, was etwa dem Zuschauerblick von der Mitte einer vorderen Sitzreihe im Theater entspricht.19

Parallel zu dieser Theatralisierung des jungen Films institutionalisiert sich das Kino als eigenständiges Unterhaltungsgenre, es entstehen die ersten festen ‚Filmtheater‘ und der Kinobesuch wird in inhaltlicher wie formaler Hinsicht den „Normen des Theaterbesuchs“ angeglichen.20

17 Ebd. 18 Der Publizist Herbert Tannenbaum, der oft als der erste deutsche Filmtheoretiker bezeichnet wird, versucht zwar schon 1912 in seiner Schrift „Film und Theater“ eine erste ästhetische Abgrenzung zwischen dem Handlungsdrama Film und dem Wortdrama Theater‚ überträgt aber entscheidende theatrale Normen wie z.B. die Wahrung der drei aristotelischen Einheiten auch auf die Kinodramaturgie. Vgl. Maintz (2000): 18-20. 19 Ebd.: 11. 20 Albersmeier, Franz-Josef (1994): „Bürgerliche Kultur und Kino. Die Ermordung des Herzogs von Guise.“ In: Faulstich, Werner/Korte, Helmut (Hg.): Fischer Filmgeschichte. (Bd.1: 1895-1924). Frankfurt a. M.: Fischer, 135-149, hier 135, zitiert nach Maintz (2000): 11. 28

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Die immer größer werdende Konkurrenzsituation zwischen Kino und Theater löst in den 1910er Jahren eine breite gesellschaftliche wie fachspezifische Auseinandersetzung um das wirtschaftliche und ästhetische Primat des jeweiligen Mediums aus. Während Avantgardisten wie Guillaume Apollinaire und Antonin Artaud das Kino zur überfälligen Ablösung eines ästhetisch wie geistig bankrotten Theaters erklären, betonen Theaterregisseure, darunter besonders Max Reinhardt oder David Belasco, die Überlegenheit des Theaters als lebendige Kunstform. Angesichts eines massiven Rückgangs der Besucherzahlen in den Theatern und des Abwerbens prominenter Theaterkünstler durch die Filmbranche sehen sich die Vertreter der Theaterseite zunächst besonders in ökonomischer Hinsicht durch das Kino bedroht. Interessenverbände der deutschen Theater sowie eine Reihe von Künstlern, Theaterkritikern und Intellektuellen positionieren sich in dieser sogenannten Kinodebatte21 und versuchen, die wirtschaftliche Dominanz des Kinos durch eine Abwertung des künstlerischen Werts des Films zu schwächen. Sie bezeichnen das Kino als trivial, sensationslüstern und kunstfern und schmähen es als denaturiertes Theater. Dabei wird nicht nur der Kunstcharakter des neuen Mediums bestritten, sondern auch vor dem negativen Einfluss seiner Trivialität auf die Zuschauer gewarnt: Die Volksvergiftung des trivialen Films lenke das Publikum nicht bloß vom Theater ab, sondern mache es auch allmählich unfähig [...] Theaterpublikum zu sein.22

Argumente wie diese zeugen aber schon von einer nicht mehr rein polarisierenden Opposition zwischen Kino- und Theateranhängern und machen deutlich, dass man langsam der ästhetischen Differenz der beiden Medien gewahr wird. Während sich also der Film zunächst im Bemühen um seine Kunsthaftigkeit in inhaltlicher und formaler Hinsicht noch der Mittel des Theaters bedient, beginnt gleichzeitig die langsame Entwicklung filmspezifischer Darstellungsweisen wie Montageverfahren oder Zeitraffer und die Etablierung einer genuinen Kinoästhetik als Abgrenzung zum Theater. Im Gegenzug reagiert das Theater auf die Übernahme seiner Ausdrucksmittel durch den Film sowohl mit der Aufgabe naturalistischrealistischer Darstellungsformen und einer Hinwendung zu abstrakten ästhetischen Gegenkonzepten wie beispielsweise dem Surrealismus als 21 Vgl. dazu den Titel der umfangreichen Quellensammlung zu diesem Streit von Anton Kaes (Hg.) (1978): Kino-Debatte. Literatur und Film 19091929. München/Tübingen: DTV. 22 Maintz (2000): 16. 29

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auch mit einer Simulation und Integration der gerade neu entstehenden filmischen Mittel. Während der Film noch unter dem Ruf als „Kindertheater“ (!) litt, integrierten Regisseure wie Sergej Eisenstein, Wsewolod Meyerhold, Max Reinhardt Montagetechniken, Tempi und narrative Rhythmen des neuen Mediums. Das match der Medien um ihre Publika war charakterisiert von der wechselseitigen Adaption der Spielregeln ihres medialen Funktionierens: Während der Film sich als Medium durch die Überschneidung und Anlehnung an das Theater neu figurierte, entging das Theater dem drohenden Bedeutungsverlust durch seine ‚Erneuerung‘, die Remediatisierung mithilfe des Films.23

Langfristig gesehen erwies sich die Sorge der Kritiker des neuen Mediums Film, das Kino könne die Existenz des Theaters als eigene Kunstform gefährden, als unbegründet. Tatsächlich mussten nur einige Populärtheaterformen wie Music-Hall oder Spektakeltheater dem Film weichen, wobei Christian Maintz in diesem Zusammenhang bemerkt, dass „den meisten hochkulturell gestimmten Kinokritikern“ an diesen Theaterformen ohnehin wenig lag, und fasst deren Forderungen in der Kinodebatte in der antithetischen Formel „dem Kino die Schaulust, dem Theater die Kunst“24 zusammen. Franz-Josef Albersmeier weist in seiner Studie Theater, Film und Literatur in Frankreich25 nach, dass sich selbst in der Zeit der größten Kinoexpansion zwischen 1900 und 1950 die Zahl der Theater keineswegs verringerte, sondern diese in einigen Großstädten sogar leicht anstieg.

Intermedialität als ästhetische Praxis Aus dieser historischen Darstellung erweist sich, dass Theater und Film durchaus koexistieren können. Die Befürchtung, neue Medien könnten ihre traditionellen Vorgänger verdrängen bzw. ersetzen, wurde und wird zwar immer wieder diskutiert, hat sich aber in dieser Absolutheit nie bestätigt. Das erklärt sich zum einen aus den unterschiedlichen ästhetischen Prämissen und den damit verbundenen oft divergierenden Publika der jeweiligen medialen Form und zum anderen aus den künstlerischen Reflexions- und Wandlungsprozessen, die die Emergenz eines neuen, zu-

23 Moninger (2004): 8f. (Hervorhebungen im Original). 24 Maintz (2000): 16. 25 Albersmeier, Franz-Josef (1992): Theater, Film und Literatur in Frankreich. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, bes. 29f. 30

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nächst als Konkurrenz erscheinenden Mediums in der jeweils älteren Kunstform auslöst. Kulturelle Funktion und ästhetisches Selbstverständnis des zuerst da gewesenen Mediums werden neu bestimmt und nicht selten einer tiefgreifenden Revision unterzogen. So, wie sich in der Malerei im Moment des Aufkommens der Photographie eine Wandlung hin zu abstrakteren Darstellungsweisen verzeichnen lässt, ist dieses Prinzip der ästhetischen Abgrenzung auch zwischen Theater und Film zu beobachten. Die Entstehung des Kinos fiel in die Blütezeit naturalistisch-realistischer Darstellungsformen, und als der Film mit seinen überlegenen Illusionstechniken diese Bereiche besetzte, reagiert das Theater mit einer Abwendung von mimetisch-realistischen Techniken. Beispiele hierfür sind u.a. Brechts Modelle des Lehrstücks oder des epischen Theaters, das absurde Theater Becketts und Ionescos, aber auch eine Rückbesinnung auf archaische Formen wie Ritual, Tanz und Ekstase, wie sie Antonin Artaud in seinem Theater der Grausamkeit entwirft. Die Existenz des Films regte die Reformer des Theaters an, genuine Momente des eigenen Mediums wie die Unmittelbarkeit und Unwiederholbarkeit der Live-Performance und den direkten physischen Kontakt zwischen Darstellern und Zuschauern zu reflektieren und als unverwechselbare Charakteristika des Theaters herauszustellen.26 Im Zuge der Bewusstwerdung der jeweiligen medialen Spezifika von Film und Theater und der ästhetischen Differenz zwischen den Kunstformen wurde auch eine wechselseitige Beeinflussung der beiden Darstellungsformen möglich. Die Befürchtungen um ein Ende der Theaterkunst aufgrund der neuen Konkurrenz des Kinos waren zumindest in den Reihen der führenden Theaterreformatoren der Zeit gebannt und die Äußerungen Piscators bezüglich des – von ihm schon praktizierten – Dialogs zwischen den beiden Medien erscheinen fast schon visionär: Es ist falsch zu sagen, [der Tonfilm] wird die einzige Kunst sein. Die einzige und alleinige Kunst gibt es nicht. Ob Pinsel, Feder, Meißel, Note, Optik oder Akustik, das Mittel tritt stets zurück vor dem, was gesagt werden soll, und das, was gesagt werden soll, schafft sich auch die Form, wie es am besten gesagt werden kann. [...] Auf jeden Fall ist mit dem Tonfilm eine Annäherung beider Kunstelemente eingetreten, deren Wechselwirkung noch gar nicht abzusehen ist. [...] Die technischen Erfindungen aber kommen beiden zugute und bieten beiden ungeheure Möglichkeiten.27

26 Maintz (2000): 24. 27 Piscator, Erwin (1980): Theater, Film, Politik. Ausgewählte Schriften. Berlin: Henschel, 82-111; zitiert nach Maintz (2000): 17. 31

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So zitiert Moninger den Theaterkritiker Monty Jacobs, der Piscators Theaterästhetik als „Kino im Theater“ bezeichnet und damit auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Theaters verweist, „Medien unter Beibehaltung ihrer jeweiligen Wahrnehmungsmodi und technischen Repräsentationsbedingungen“28 in seine eigene Ästhetik zu integrieren. Solche frühen Formen von Intermedialität im Theater beweisen, dass es sich schon bald nach dem Aufkommen des Kinos nicht mehr um eine mediale Konkurrenzsituation zwischen Film und Theater handelt, sondern dass besonders das Theater beginnt, sich mit den Möglichkeiten des Kinos für seine eigene Ästhetik auseinanderzusetzen. Bei diesen und ähnlichen Versuchen, die Konventionen eines Mediums in einem anderen zu reflektieren, steht gerade der fruchtbare Dialog zwischen den Darstellungsformen der verschiedenen Künste im Vordergrund. Das Überleben des einen oder anderen Mediums wird nicht mehr in Frage gestellt; vielmehr eröffnet die „wechselseitige Befruchtung“ der verschiedenen Künste neue Sichtweisen und ästhetische Erfahrungen.

Intermedialität als Forschungsperspektive Während also das Theater schon früh auf die medialen Einflüsse der ihm verwandten Kunstformen reagiert, hat sich die Theaterwissenschaft erst recht spät mit den Phänomenen ästhetisch-medialer Überkreuzungen beschäftigt. Im Gegensatz zur Theaterpraxis hat sich wissenschaftstheoretisch sehr lange das Paradigma der medialen Spezifität der verschiedenen Kunstformen bewahrt, nach dem jedes Medium über eigene Gesetze verfügt, die seine ästhetische Gestaltung normativ prägen.29 Auf das Theater angewandt, so führt Christopher Balme in seiner Perspektivierung theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung aus, „bedeutet mediale Spezifität entweder eine Konzentration auf die theatrale Grundsituation, die die Anwesenheit eines Live-Publikums hervorhebt, und/oder eine Spielästhetik, die ohne moderne Technologie auskommt.“30 Die Verwendung von medialen Darstellungstechniken ist also in dieser Definition von Theater nicht vorgesehen. Zwar findet sich in Susan Sontags Aufsatz „Theater und Film“31 von 1965 eine frühe Infragestellung der unüberbrückbaren Differenz zwischen Theater und Film, gleichwohl aber auch,

28 29 30 31

Moninger (2004): 9. Balme (2004): 14f. Ebd.: 15. Sontag, Susan (1965): „Theater und Film.“ In: Dies.: Kunst und Antikunst: 24 literarische Analysen. München: Hanser, 177-195. 32

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wie Balme herausstellt,32 eine von Sontag zwar nicht bewusst thematisierte, aber doch deutlich beschriebene Tendenz „der Akzentuierung der Eigenart jeder einzelnen Kunstgattung.“33 Sontag verfolgt in ihrer Argumentation ästhetische Tendenzen wie die des wagnerschen Konzepts des Gesamtkunstwerks, Marinettis Vorstellung vom Theater als letzter Synthese aller Künste oder die multimedialen Happenings John Cages, nennt aber auch die radikale Gegenposition zu dieser Vision von Theater als totaler Kunst: Die andere [Position] empfiehlt eine Beibehaltung und Klärung der Barrieren zwischen den einzelnen Künsten durch die Akzentuierung der Eigenart jeder einzelnen Kunstgattung.34

Tatsächlich lässt sich, wie Balme ausführt, sowohl die Theaterpraxis seit der Mitte der 1960er Jahre als auch die Selbstbestimmung der Theaterwissenschaft als eine ästhetische wie wissenschaftspragmatische Umsetzung dieses Postulats der medialen Spezifität beschreiben.35 In seinem Aufsatz „Theaterwissenschaft als Lehre vom theatralischen Handeln“ aus dem Jahr 1970 fordert der Berliner Theaterwissenschaftler Arno Paul, die Theaterwissenschaft solle sich auf „ihren wesenseigenen Kern konzentrieren“36 und „gezielt und systematisch nach dem konstitutiven Moment des Theaters [...] fragen.“37 Konstitutiv ist für Paul die besondere Face-to-face-Kommunikation, die er zwar als Anbindung der Theaterwissenschaft an die Kommunikationsforschung, nicht aber für eine interdisziplinäre Öffnung des Fachs im Sinne einer Medienwissenschaft propagiert. „Die Essentialisierung der Face-to-faceKommunikation bedeutet für ihn eine klare Abgrenzung des Theaters gegenüber anderen, vor allem den neuen technischen Medien.“38

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Balme (2004): 17f. Sontag (1965): 192. Ebd. Als Beispiele für die theaterästhetische Umsetzung des Postulats der medialen Spezifität nennt Balme Peter Brooks ‚unmittelbares‘ oder Jerzy Grotowskys ‚armes‘ Theater. Beide Regisseure verfolgen eine „Konzeption, die das Theater auf seine Wesenhaftigkeit oder Essenz reduzieren will.“ (Balme (2004): 18) 36 Paul, Arno (1970): „Theaterwissenschaft als Lehre vom theatralischen Handeln“. In: Klier, Helmar (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 208-237, hier 216. 37 Ebd.: 222. 38 Balme (2004): 18. 33

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Erst in den 1990er Jahren ist in der Theaterwissenschaft eine ernstzunehmende Hinwendung zu intermedialen Fragestellungen zu verzeichnen, der Begriff der Intermedialität selbst sowie eine Beschäftigung mit intermedialen Phänomenen in anderen geistes- und medienwissenschaftlichen Disziplinen existiert aber schon länger.39 Vor dem Hintergrund der amerikanischen Happening- und Performancebewegung der 1960er Jahre hat der Filmemacher, Komponist, Fluxus-Aktivist und Kunsttheoretiker Dick Higgins den Begriff intermedia in die Diskussion gebracht. Higgins verlieh seinem intermedia-Konzept den Stellenwert eines Fanals, das die künstlerische Abwehr gegen Medienpuristen und Grenzziehungen traditioneller Künste programmatisch betonen sollte.40

Dabei fokussiert sein Verständnis von Intermedialität eine künstlerische Haltung und einen „Zugang und Zugriff auf zeitgenössische Materialien“ in einem „Raum zwischen den traditionellen Medien“41, in dem bekannte und eingefahrene Wahrnehmungsfähigkeiten erkundet und verändert werden sollen. Der Ansatz der Intermedialitätsforschung geht davon aus, dass es sich bei medialer Spezifität im oben erläuterten Verständnis um ein „wissenschaftliches Konstrukt handelt, das mit den eigentlichen ästhetischen Mechanismen von Medienprodukten wenig zu tun hat.“42 Unter Intermedialität im engeren Sinn versteht Balme den Versuch, „in einem Medium die ästhetischen Konventionen und/oder Seh- und Hörgewohnheiten eines anderen Mediums zu realisieren.“43 Als künstlerische Strategie bezeichnet Intermedialität die gezielte Arbeit mit der wahrnehmungsrelevanten Differenz verschiedener medialer Systeme, die in einem konzep39 Vgl. dazu ausführlich das Kapitel ‚Intermedialität und Theater‘ der vorliegenden Untersuchung. 40 Moninger (2004): 9. 41 Büscher, Barbara (1998): „InterMedia – Material. Zur Verbindung von performativen Künsten und audio-visuellen Medien.“ In: Brandstetter, Gabriele/Finter, Helga/Weßendorf, Markus (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste. Tübingen: Gunter Narr, 113-125, hier 114. 42 Balme (2004): 19. 43 Ebd. Balme erläutert an dieser Stelle verschiedene Begriffsbestimmungen von Intermedialität, wobei er Phänomene des Medienwechsel und eine Definition von Intermedialität als besonderer Form von Intertextualität aus seinem Verständnis des Terminus ausklammert, weil beide den formalen Aspekt der Transformation, also der Realisierung bestimmter medialer Konventionen in einem bzw. mit den Mitteln eines anderen Mediums, zu wenig berücksichtigen. Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel ‚Intermedialität als Analyseinstrumentarium‘. 34

THEATER UND (NEUE) MEDIEN

tionellen Miteinander neue Dimensionen des Erfahrens und Erlebens eröffnen. Der wissenschaftliche Fokus liegt somit einerseits auf den spezifischen Mechanismen der medialen Interaktion und andererseits auf der Frage, wie sich Wahrnehmung und Bedeutungskonstitution innerhalb dieser Transformationsprozesse verändern. Um die jeweiligen fremdmedialen Ästhetiken und Codes angemessen analysieren und beurteilen zu können, bedarf es einer interdisziplinären Öffnung der jeweiligen fachlichen Perspektive, aber auch einer begrifflichen Klärung, was genau unter Medien bzw. dem Begriff ‚Medium‘ zu verstehen ist. Neben einer Verschränkung mit Analysemethoden benachbarter Disziplinen müssen also die beteiligten Fachrichtungen ebenso einen terminologischen Anschluss an eine allgemeine Medienwissenschaft suchen, die eine „Brücke zwischen den benachbarten Disziplinen bilden [kann].“44 Trotz einer inzwischen recht breiten medienwissenschaftlichen Theoriebildung in den Kunstwissenschaften ist aber zu beobachten, dass der Begriff unterschiedlich akzentuiert wird und in der Tat, wie Kati Röttger bemerkt, kein allgemein operabler Medienbegriff zur Verfügung steht, weil die „teilweise synonyme Verwendung der Begriffe Technologie und Medien einerseits und die Verflechtung unterschiedlicher Kunstgattungen bzw. die in jeder symbolischen Repräsentation mehr oder weniger wirksame Wechselbeziehung unterschiedlichster Zeichensysteme andererseits es schwer machen, zwischen Apparaten, Kunstformen und Medien genaue Unterscheidungen zu treffen.“45 Während z.B. der Film durchaus als Apparat, Kunstform und/oder Medium zu beschreiben wäre, stellt sich darüber hinaus die Frage, wie im Kontext theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung mit dem Theater in begrifflicher Hinsicht umzugehen ist. Ist das Theater selbst ein Medium, das mit anderen medialen Darstellungsformen interagiert, oder ist es aufgrund seines LiveCharakters eine eher nicht-mediale Kunstform, die aber in der Lage ist, unterschiedlichste Fremdmedien in seine Darstellungsweisen zu integrieren? Nicht nur der Medienbegriff ist vage und verweist auf ein sehr disparates Forschungsfeld, auch ein Verständnis von Theater als einem Medium bedarf einer genaueren Untersuchung der verschiedenen For44 Hickethier, Knut (1988): „Das ‚Medium‘, die ‚Medien‘ und die Medienwissenschaft.“ In: Bohn, Rainer/Müller, Eggo/Ruppert, Rainer (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft. Berlin: Edition Sigma Bohn, 51-74, hier 72. 45 Röttger, Kati (2004): „F@ust vers. 3.0: eine Theater und Mediengeschichte.“ In: Balme, Christopher/Moninger, Markus (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien. München: epodium, 33-54, hier 34f. 35

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schungsmeinungen und Definitionsansätze. Im Folgenden soll daher zunächst die aktuelle theaterwissenschaftliche Diskussion um eine Begriffsbestimmung des Theaters als Medium skizziert werden, um daran anschließend ein von medientheoretischen Überlegungen ausgehendes Medienverständnis zu beschreiben, das der besonderen Ontologie der Kunstform Theater Rechnung trägt und als terminologische Grundlage für die vorliegende Untersuchung dienen kann.

T h e a te r – e i n M e d i u m ? Das „Theater ist kein Medium – aber es benutzt welche!“46 – so titelt Diedrich Diederichsen in einem Vortrag auf der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft und bringt damit den Kern der aktuellen theaterwissenschaftlichen Intermedialitätsdebatte auf den Punkt: Das Problem der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit technischen und elektronischen Darstellungsformen im Theater liegt nicht so sehr in der vehementen Ablehnung dieser zunehmenden Medieninvasion auf der Bühne. Dass sich das Theater seit jeher den technischen Möglichkeiten seiner Zeit bediente und bedient, ist unbestritten und zumindest für die Fachvertreter kein Problem der kulturellen Wertigkeit ihrer Kunstform. Nun sind alle Beteiligten [...] an Diskussionen über neue Medien gewöhnt und können oft auf eine besonders reiche Erfahrung an Diskussionen über den Zusammenhang von neuen Medien und Theater zurückgreifen, der mindestens bis an die Anfänge der Avantgarden des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Ebenso alt sind alle möglichen Versuche, den Gebrauch der unterschiedlichsten neuen Medien in die Theaterpraxis zu integrieren: wirklich verschiedenartig sind indes die Register, in denen diese Versuche bemerkt, benannt und diskutiert werden.47

Die Schwierigkeit eines theaterwissenschaftlichen Anschlusses an die Intermedialitätsforschung liegt in einer terminologischen Unsicherheit hinsichtlich ihres zentralen Gegenstands, nämlich des Theaters. Der Begriff ‚Intermedialität‘ verweist auf eine Vermischung oder Interaktion unterschiedlicher Medien bzw. medialer Ästhetiken oder Darstellungskonventionen in einem anderen Medium. Auf das Theater und die aktuellen Beispiele medial-hybrider Inszenierungen angewandt stellt sich also die Frage, „ob sich das Theater selber als ein Medium verstehen will, das sich gegen andere verteidigen oder von ihnen ergänzen lassen will“, oder aber 46 Diederichsen (2004). 47 Ebd.: 28. 36

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„welchen Status Medien – alte wie neue – eben genau dann im Theater haben, wenn es sich [...] gerade nicht als ein Medium versteht oder verstehen sollte.“48 Ursache dieser Auseinandersetzung über den Medienstatus des Theaters ist die gerade in den letzten Jahren rasante Zunahme vielfältiger, besonders elektronischer und digitaler Medien sowie eine sich immer stärker ausdifferenzierende medienwissenschaftliche Theoriebildung und die damit unweigerlich verbundene Diffundierung des Medienbegriffs. Der „konstituierende Begriff des ‚Mediums‘ [erweist] sich immer deutlicher als eine erst noch zu bestimmende Kategorie [...] – auch wenn alle glauben zu wissen, was damit gemeint ist.“49 Das Bedeutungsspektrum des Terminus ‚Medium‘ reicht vom Verbreitungs- oder Hilfsmittel und Werkzeug bis hin zur spezifischen Materialität von Geräten oder Apparaten im Hinblick auf die Mechanismen der Übertragung, Speicherung und Bearbeitung von Informationen.50 Medien werden hinsichtlich ihres Einflusses auf die Art der Darstellung und die daraus resultierende Wahrnehmungsmanipulation und in Bezug auf die kulturellen Implikationen von Technologien thematisiert. Obwohl der Begriff gerade in jüngster Zeit eine große Popularität erfährt und auf der Basis eines weiter gefassten Medienverständnisses auch vom Medium ‚Literatur‘ oder ‚Sprache‘ die Rede ist und ebenso Kunstformen wie beispielsweise Film und Photographie als Medien bezeichnet werden, versteht man gemeinhin unter dem Begriff vor allem technische Massenkommunikationsmittel wie Fernsehen, Rundfunk oder Presse. Unter Massenkommunikation verstehen wir jene Form der Kommunikation, bei der Aussagen öffentlich (also ohne begrenzte und personell definierte Empfängerschaft), durch technische Verbreitungsmittel (Medien), indirekt (also bei räumlicher oder zeitlicher oder raumzeitlicher Distanz der Kommunikationspartner) und einseitig (also ohne Rollenwechsel zwischen Aussagenden und Aufnehmenden) an ein disperses Publikum [...] gegeben werden.51

Knut Hickethier stellt diesen kommunikationssoziologischen bzw. publizistisch orientierten Definitionsansatz für eine Begriffsbestimmung des Mediums als „Basiskategorie“ in Frage, denn aus den so gesetzten Bedingungen fallen eine Reihe anderer Medien wie z.B. das Theater, aber 48 Ebd.: 29. 49 Hickethier (1988): 51. 50 Vgl. dazu ausführlich Knilli, Friedrich (1979): „Medium.“ In: Faulstich, Werner (Hg.): Kritische Stichwörter zur Medienwissenschaft. München: Fink, 230-251. 51 Hickethier (1988): 52. 37

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auch Sprache oder Literatur heraus, „weil ihnen letztlich die Technizität der Vermittlung bestritten werden kann.“52 Im Anschluss an die Etymologie des Terminus ist ein ‚Medium‘ ein Informationsträger bzw. –vermittler, der die verschiedenen Informationen von einem ‚Erzeuger‘ zu einem ‚Empfänger‘ transportiert.53 Dieser Fokus auf die Funktionsweise von Medien könnte zwar als kleinster gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen medienwissenschaftlichen Teildisziplinen benannt werden, erfasst aber nicht die wesentlichen Dimensionen der jeweiligen Fragestellungen. Denn, so fasst Hickethier zusammen, „die technische Vermitteltheit interessiert nur dort, wo sie Auswirkungen auch auf die ästhetische Struktur des Vermittelten, auf die ästhetische Bedeutungsproduktion und die Wahrnehmung von Medien hat.“54 So beschäftigt sich die Medienwissenschaft in kommunikationssoziologischer Perspektive mit den instrumentell-technischen Aspekten von medialer Vermittlung und deren Auswirkung auf die Struktur und die Funktion von Kommunikation, während eine kunst- und kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft nach den Implikationen und Folgen von Mediatisierung bzw. deren Auswirkung auf kulturelle und ästhetische Praktiken fragt.55 Zwar interessiert sich die Theaterwissenschaft in erster Linie für die besondere Ästhetik medialer Phänomene und deren Bedeutung für die Darstellung und Rezeption im Theater, aber auch kommunikationstechnische Aspekte im Hinblick auf die Veränderung der intratheatralen Kommunikationssituation spielen eine Rolle.56 Dementsprechend bestimmen alle der hier nur kurz umrissenen Aspekte des Begriffsfelds ‚Medium‘ auch die theaterwissenschaftliche Diskussion um ein Verständnis von Theater als Medium.

52 Ebd.: 53. 53 Vgl. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (Kluge), bzw. einschlägige Lexika (Brockhaus Enzyklopädie; Meyers Enzyklopädisches Lexikon). 54 Hickethier (1988): 53. 55 Ebd.: 62f. Vgl. weiter Karpenstein-Eßbach, Christa (2004): Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. München: Fink (UTB), darin bes. 7-12. 56 Das Spektrum der aktuellen theaterwissenschaftlichen Forschungsinteressen in diesem Bereich präsentiert beispielsweise der Sammelband der Hellerauer Akademie „Theater und neue Medien. Interaktion und Wirklichkeit“ vom Sommer 1999: Leeker, Martina (Hg.) (2001a): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag. 38

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So schlägt Petra Maria Meyer vor, die „Theaterwissenschaft als Medienwissenschaft“57 zu etablieren, weil sie eine Disziplin sei, die schon immer in plurimedialer Perspektive betrieben wurde, und hebt mit dem Verweis auf die besondere „Mobilität der Zeichen“58 im Theater im Vergleich zu anderen Medien das medienwissenschaftliche Potential der Theaterwissenschaft hervor: Im Gegensatz zu den Medien ‚Photographie‘ und ‚Film‘ nehmen ins ‚Medium‘ Theater transformierte Zeichen oder Texte anderer Medien nicht eine gleiche materielle Oberfläche an, so dass im Medium ‚Theater‘ die Differenzen der Medien und materiellen Zeichenträger betont werden, während sich in anderen Medientransformationen die Differenzen der Materialität und Eigenarten auflösen. [...] Nicht zuletzt durch geradezu selbstreflexive plurimediale Theatertexte wurde das Theater zu einem besonderen Medium der Auseinandersetzung mit den Neuen Medien, denn gerade solche Transformationen von einem Medium ins andere eröffnen neue Reflexionsmöglichkeiten medienspezifischer Darstellung und Wahrnehmung.59

Meyer versteht die im Theater zum Einsatz kommenden Zeichen der Bühne wie beispielsweise Stimme, Körper oder Licht im Sinne eines erweiterten Verständnisses des Begriffs als ‚Medien‘, und sieht somit den Einsatz neuer, oft elektronischer Technologien lediglich als eine Erweiterung der theatralen Darstellungsmittel. Weil diese unterschiedlichen, im Rahmen des Theaters zum Einsatz kommenden Medien aufgrund der besonderen Ontologie des Theaters ihre Eigenarten beibehalten und nicht, wie beispielsweise im Film, ihre spezifischen Materialitäten von einer Apparatur absorbiert werden, weist sie dem Theater einen besonderen Status innerhalb der medienwissenschaftlichen Reflexion zu. Ihre Suche nach einem intermedial nutzbaren Analyseinstrumentarium führt sie über die etymologische Reflexion des Begriffs ‚Medium‘ als Mittel der Übertragung oder Verwandlung, die sie als „Bewegung der Zeichen von einem Medium ins andere“60 betrachtet, zu einem semiotischen Ansatz der Medientransformation. Hierfür bedient sie sich der poststrukturalistischen Begriffe écriture und texte,61 mit deren Hilfe sie die plurimedialen, 57 Meyer, Petra Maria (1997): „Theaterwissenschaft als Medienwissenschaft.“ In: Forum Modernes Theater 12/2, 115-131. 58 Ebd.: 120. 59 Ebd.: 120f. 60 Ebd.: 117. 61 Zu den Begriffen ‚écriture‘ und ‚texte‘ vgl. u.a. Barthes, Roland (1953): Le degré zéro de l’écriture. Paris: Gallimard (dt. Am Nullpunkt der Literatur. Hamburg: Claassen, 1959); ders. (1973): Le plaisir du texte. Paris: Gallimard (dt. Die Lust am Text. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974) sowie Derri39

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aus heterogenen Zeichensystemen zusammengesetzten Theateraufführungen einer semiotischen Lektüre unterziehen will. Indem sie aber die zunächst als differentia specifica herausgestellte „Mobilität der Zeichen“62 in dieser semiotischen Herangehensweise unter einen Textbegriff subsumiert, löscht sie die materielle Differenz der im Theater wirksamen Einzelmedien durch ihr Analysemodell geradezu aus und kann daher, wie Kati Röttger hervorhebt, „Theater nur als Textmedium bestimmen.“63 Meyers Rückgriff auf die Semiotik erweist sich somit zwar als den spezifischen Eigenschaften der jeweiligen Theatermedien nicht angemessen, hervorzuheben bleibt aber ihr grundsätzliches Verständnis von Theater als einem plurimedialen Zeichensystem. Ein gänzliches anderes Verständnis von Medien hat dagegen Joachim Fiebach, wenn er dem Theater den Medienstatus abspricht, weil es sich seiner Meinung nach um eine „grundsätzlich andere Realität als ein Medien-Ereignis handelt.“64 Fiebach negiert keineswegs eine enge Verbindung zwischen der Entwicklung medialer Kommunikationstechniken und einer zunehmenden Technologisierung der Theaterkunst, die er in erster Linie seit der Jahrhundertwende konstatiert.65 Unter medialen Ereignis-

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da, Jacques (1967): L’écriture et la différence. Paris: Gallimard (dt. Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1972). Fischer-Lichte, Erika (1983): Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen: Gunter Narr; zitiert nach Meyer (1997): 120. Röttger (2004): 36. Fiebach, Joachim (1998): „Kommunikation und Theater. Diskurse zur Situation im 20. Jahrhundert.“ In: Ders.: Keine Hoffnung, keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität. Berlin: Vistas, 85-181, hier 167. Fiebach zeichnet das Abhängigkeitsverhältnis von sozialen Kommunikationsformen und theatralen Darstellungsformen anhand dreier historischer Etappen nach, nämlich der Theatralität oraler Kulturen, des Verhältnisses zwischen theatraler Darstellung eines seit der Renaissance quasi sakralisierten literarischen Dramentexts und des Paradigmenwechsels im Theater zur Zeit der historischen Avantgarden. Jedem dieser Kommunikationsumbrüche entspricht ein künstlerischer Paradigmenwechsel, worin er die Bedeutung einer Geschichte der Medien für die Entwicklung des Theaters nachweist (Fiebach 1998: 103ff.). Trotzdem wehrt er sich dagegen, diese historischen Interdependenzbeziehungen als eine Mediengeschichte des Theaters zu betrachten, weil er Theater als ein kulturelles Phänomen betrachtet, „das gerade in/aus oralen Gesellschaften erwächst“ und dadurch „wesenhaft mit Oralität verflochten ist“ (vgl. Fiebach, Joachim (2001): „Ausstellen des tätigen Darstellerkörpers als Keimzelle von Theater oder Warum Theater kein Medium ist“. In: Leeker, Martina (Hg.) (2001a): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen 40

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sen versteht er kommunikative Vorgänge, in denen Produktion und Rezeption nicht zeitlich simultan, sondern vermittelt verlaufen und durch auf beliebigen Materialien angebrachte Zeichen wie Schrift oder BildTon-Manifestationen übertragen werden. Als interpersonale, kommunikative Tätigkeit, in der Körper kommunizieren, ohne dass sich Apparate zwischen sie setzen, ist das Theater hingegen ein „Ereignis, in dem etwas produziert wird, was zugleich als Produktion wahrgenommen, unmittelbar rezipiert, erfahren, daher nicht vermittelt wird.“66 Wie keine andere heute denkbare Kunst ist Theater letztlich an das Organische der lebendigen Körper gebunden, an seine Bewegungsmöglichkeiten, damit an jeweils „schwerfällige“ Materialität. [...] Die gleichsam erdverhaftete Körperlichkeit, die Tätigkeit im Theater bestimmt, schafft eine wesentlich andere kommunikative Situation und vermittelt andere Erfahrungen als Mediatisierung. [...] Unter diesen Umständen könnte Theater eine vielleicht unersetzliche kulturelle Funktion erhalten – als unmittelbare interpersonale Tätigkeit, als Gesellung lebendiger Körper, die kommunizieren, ohne dass sich jene Apparate zwischen sie setzen [...].67

Fiebachs Medienverständnis lässt sich so als ein instrumentell-technisches herausarbeiten, das Medien als Apparate oder technische Maschinen auffasst und dabei die genuin theatralen Mittel wie Stimme, Gestik oder Körper im Gegensatz zu Petra Maria Meyers Terminologie gerade nicht unter dem Begriff Medien subsumiert. Dieser eingeschränkte Medienbegriff basiert auf seiner theaterhistorischen Perspektive, in der er die Genese des Theaters als „eine ausdifferenzierte ‚spezialistische‘ Tätigkeit“68 in oralen Kulturen verortet, in der besonders dem Körper eine komplexe, nicht nur vermittelnde, sondern gerade auch ausstellende Rolle zukommt, die Fiebach als eben nicht medial bezeichnet: In diesem Grundvorgang gibt es einen Kern: den Darstellerkörper. Es handelt sich um den Darstellerkörper allgemein, d.h. nicht nur um den Körper, der etwas „mimetisch“ zeigt („abbildet“), sondern um den Darstellerkörper, der ausstellend handelt, sich ausstellend bewegt und in diesem Sinne sich gleichsam zunächst als solcher handelnder Körper präsentiert. [...] Entscheidend ist, dass Welten. Berlin: Alexander Verlag, 493-499, hier 493; Hervorhebung im Original). Diese orale Form der Kommunikation ist für ihn „wesentlich nicht mediatisiert, das heißt durch keine Apparaturen vermittelte Begegnung der Körper und ihres potentiell ganzheitlichen Aufeinanderwirkens“ (Fiebach 1998: 105). 66 Fiebach (2001): 493 (Hervorhebungen im Original). 67 Fiebach (1998): 137, 167, 162. 68 Fiebach (2001): 493. 41

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diese Körper in ihren ausstellenden Bewegungen produzieren, sich selbst und dann auch etwas anderes, eben die gedeuteten mimetischen, „fiktiven“ Gebilde. Da das ein Vorgang ist, in dem die Produktion dieser Körper und deren Wahrnehmung, Erfahrung, daher Aufnahme durch andere (Zuschauer) gleichzeitig, in einer gemeinsam gestalteten und erfahrenen Raum-Zeit verläuft, ohne dass etwas dazwischen geschaltet ist, habe ich Schwierigkeiten, hier insgesamt von einem medialen Ereignis zu sprechen.69

Anders als zum Beispiel Petra Maria Meyer70 oder Alexander Roesler71, die den Körper im Theater insofern als Medium betrachten, als er als Teil des Mediums Theater zwischen Zuschauer und Rollenfigur tritt, also vermittelnd wirkt, stellt der Körper für Fiebach ein sehr viel differenzierteres Phänomen innerhalb der theatralen Kommunikationssituation dar. Seine Argumentation zielt auf die unauflösbare Doppelcodiertheit des Darstellerkörpers im Theater, der einerseits repräsentiert, andererseits aber auch sich selbst dabei immer mit präsentiert. Diese Ambivalenz zwischen Mimesis und Performanz sieht er sowohl in den oralen Erzählperformances der afrikanischen Gesellschaften als auch in der Performance-Art gegeben, in denen jeweils der Akt der Hervorbringung und die Art und Weise der Darstellung zentral sind.72 Die ausstellende Tätigkeit, die im Moment des Tätigseins, also der Produktion oder Hervorbringung, wahrgenommen und erfahren wird, ist für ihn der zentrale Aspekt der für das Theater konstitutiven, interpersonalen Face-to-faceKommunikation, die weder ein Medium benötige, noch selbst als medial bezeichnet werden könne. In einer Gesprächsrunde zwischen Theater- und Medienwissenschaftlern während der Sommerakademie ‚Theater und neue Medien‘ in Hellerau greift der Theaterwissenschaftler Christian von Herrmann genau dieses von Joachim Fiebach problematisierte Phänomen des Körpers auf. Von Herrmann legt nahe, dass das theaterwissenschaftliche Problem eines medientheoretischen Forschungsansatzes auf dem konsequenten Beharren auf „einem körperlichen und nichtliterarischen, oralen Theater“ beruhe und dass die Theaterwissenschaft „gewissermaßen eine Gegengeschichte des Theaters“ schreibe.73 Diese theaterhistorische Sichtweise

69 Ebd.: 493f. (Hervorhebungen im Original). 70 Meyer (1997). 71 Leeker, Martina (2001b): „Hellerauer Gespräche: Theater als Medienästhetik oder Ästhetik mit Medien und Theater?“ In: Dies. (Hg.): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 405-433, hier 405. 72 Ebd.: 405-408. 73 Ebd.: 410-412. 42

THEATER UND (NEUE) MEDIEN

negiere die „medientechnische Verstellung des Staatstheaters“74, die Tatsache also, dass das Theater über Jahrhunderte eine in erster Linie mimetisch-repräsentative Kunstform gewesen sei, und blende damit die zweitausendjährige Geschichte des europäischen Sprechtheaters von der Antike bis zum Theater des 19. Jahrhunderts aus ihren medientheoretischen Reflexionen vollständig aus. Stattdessen fixiere sich die Theaterwissenschaft in ihrer anti-medialen Haltung auf rituelle Darstellungsformen und sehe sich in dieser Perspektive in der Wiederentdeckung des nichtliterarischen, körperbetonten Theaters durch die historischen Avantgarden ab 1900 bestätigt. Es scheint, dass hier sowohl auf der Seite der historischen Avantgarde als auch auf der Seite der Theaterwissenschaft ein Theater ins Spiel gebracht wird, das angeblich unmittelbar körperlich präsent ist und diese medientechnische Verstellung des Staatstheaters gewissermaßen nicht kennt.75

Nach von Herrmann ist es aufschlussreich, dass die Wiederentdeckung eines körperlichen und literarischen Theaters genau in dem Moment geschieht, in dem auch die neuen Medien Einzug auf die Theaterbühne erhalten und „genau diese Körperlichkeit speichern.“76 Mit Film und Grammophon werden Bewegung und Stimme, die angeblich vom Gegentheater wiederentdeckt wurden, speicherbar, und dieses zeitliche Zusammentreffen scheint mir nicht zufällig zu sein. Man behauptet in einem Moment eine körperliche Unmittelbarkeit eines präsenten Körpers, in dem es medientechnisch möglich ist, ihn audiovisuell zu archivieren und damit zu objektivieren.77

Zwar betont das Theater der historischen Avantgarde die unmittelbare Präsenz des Körpers, greift aber gleichzeitig auf die neuen technologischen Bild- und Tonspeichermedien wie Film oder Tonträger zurück und schafft sich so, wenn auch auf einer anderen Ebene, ein neue Form von körperlicher Medialität und Repräsentanz. Wenn die Theaterwissenschaft in historischer Perspektive und mit ihrem derzeitig aktuellen Blickwinkel auf den Körper als das Zentrum theatraler Performance zurückgreift, dann hält sie konsequent an einer nichtmedialen Definition ihres Gegenstands fest, den von Herrmann bis zu Lessings Begriff der Transitorik, wie dieser ihn im Laokoon und in der Hamburgischen Dramaturgie dargelegt

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Ebd.: 410. Ebd. Ebd.: 411. Ebd. 43

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hat, zurückverfolgt.78 In diesem Zusammenhang gibt von Herrmann zu bedenken, dass die Theaterwissenschaft als eigene Disziplin aber gerade in einer Zeit gegründet wurde, in der die ‚neuen‘ Medien die Bühne erobern, und dass diese Perspektive eine Gegenlesart der amedialen Wissenschaftstradition ermöglichen könnte, die ausgehend vom medientechnischen Stand um 1900 Theatergeschichte als Mediengeschichte rückwärts schreibt. Wie Fiebach geht von Herrmann von einem technizistischen Medienbegriff aus, versucht aber durch eine andere theaterhistorische Perspektive, den Körper als Mittel der Speicherung und Übertragung zu lesen. Christopher Balme stellt dieses technische Medienverständnis von Theater insofern in Frage, als es seiner Meinung nach nicht so sehr um eine Definition des Theaters als Medium geht, sondern um die Frage des Verhältnisses zwischen Theater und Medien bzw. deren Ästhetiken. Ich kenne keine Mediendefinition, die nicht auf das Theater passt. Man findet immer irgendwie eine Möglichkeit, sie auf das Theater anzuwenden. [...] Ich glaube, wir haben uns sehr lange mit einem eher technizistischen Medienbegriff beschäftigt, der Medien als Mittel der Speicherung und Übertragung von Informationen definiert. [...] Demnach hätte sich Theater mit dem Problem zu beschäftigen, wie Informationen gespeichert werden. Diese Speicherung läuft etwa über die Schauspieler. Sie kann sich auf die Speicherung der nötigen Informationen für eine Aufführung beziehen oder aber auf die Speicherung von Informationen, von Wissen über Generationen hinweg, wie wir es beispielsweise aus fernöstlichen Theatertraditionen kennen.79

Balme problematisiert diesen technizistischen Medienbegriff besonders im Hinblick auf das Verhältnis von Distanz und Unmittelbarkeit im Theater, weil im Theater, anders als bei den Medien Rundfunk oder Fernsehen, kein vorab gespeichertes Produkt rezipiert werde, sondern der Moment der theatralen Aktion und seiner Wahrnehmung simultan verlaufe. Trotzdem, so Balme, werde man immer Vergleichspunke zwischen Theater und Medien finden, auch wenn es schwierig sei, Theater in Reinform als Medium zu definieren. Andererseits gibt er zu bedenken, dass es auch das Theater in Reinform, wie es die theatrale Grundformel von Eric 78 Lessing formuliert in seiner Laokoon-Schrift die klassische Unterscheidung zwischen Raum und Zeitkünsten. Das Theater beschreibt er als Raum- und Zeitkunst, die sich dadurch auszeichnet, dass es selbst kein Medium hat, also transitorisch ist. „Das Theater ist bei Lessing das ‚Medium‘, das nirgendwo verzeichnet wird, sondern genau zwischen den skulpturalen und bildlichen Medien, den Medien, die den Raum fassen, und dem zeitlichen Medium der Literatur, liegt.“ (Leeker (2001b): 410-412, hier 411) 79 Ebd.: 406f. 44

THEATER UND (NEUE) MEDIEN

Bentley formuliert,80 nach der der Schauspieler A eine Figur B verkörpert, während C dabei zuschaut, und von der die Theatertheorie immer ausgeht, so nie gegeben habe.81 Stattdessen fordert Balme, „die Geschichte des Theater als Medium als eine relationelle Geschichte zu beschreiben“82, um so theaterhistorisch nachzuzeichnen, wie sich das Theater im Lauf seiner Geschichte mit Medien auseinandersetzte, wie es auf die mediale Konkurrenz reagierte, wie es von fremdmedialen Ästhetiken profitierte und in welchen historischen und kulturellen Kontexten diese Begegnungen stattfanden und -finden. Diese Perspektive erscheint insofern sinnvoll, als die Theaterwissenschaft immer schon die Eigenschaft des Theaters als multimediale Konstellation betont, dabei aber vor allem technische (Fremd)Medien aus ihrer Reflexion weitgehend ausgeschlossen hat. Balmes Vorschlag zielt also lediglich auf eine Öffnung der wissenschaftlichen Beschäftigung zu den neu in die theatrale Ästhetik hinzustoßenden bzw. diese beeinflussenden Medien. Dabei liegt der Akzent bei Balme auf einer theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den ästhetischen Auswirkungen auf das Theater und nicht so sehr auf den technisch-apparativen Bedingungen der jeweiligen Medien.83 An dieser Stelle wird deutlich, warum sich die Positionen der verschiedenen Fachvertreter so stark unterscheiden. Während Joachim Fiebach und auch Christian von Herrmann Medialität sehr eng mit der Frage nach einer spezifischen Kommunikationsform in Verbindung bringen und deshalb das Theater nur sehr bedingt als ein Medium betrachten wollen, zielt Christopher Balmes Interesse auf die mediale Ästhetik der Medien bzw. des Theaters, also auf die medienspezifischen Codes und Ausdrucks- bzw. Darstellungsformen, derer sie sich bedienen. In der Hellerauer Gesprächsrunde präzisiert Gabriele Brandstetter diesen eher kunst- als kommunikationstheoretischen Ansatz und fragt, was genau das Ästhetische des Theaters oder der Medien sei.

80 Bentley, Eric (1964): The Life of drama. New York: Atheneum (dt. Das lebendige Drama: Eine elementare Dramaturgie. Velber b. Hannover: Friedrich, 1967). 81 „Wir nehmen Theater [...] nie in Reinform war. Es ist immer etwas dazwischen. Meistens handelt es sich dabei um technologische Erfindungen. Diese technologischen Erfindungen gehören meines Erachtens zu einer Mediengeschichte des Theaters. Insofern, als jedes neue Medium, das aufkommt, wie z.B. der Buchdruck, eine Rolle spielt, spreche ich von einer relationellen Mediengeschichte des Theaters.“ (Leeker (2001b): 408, Hervorhebungen im Original) 82 Leeker (2001b): 407f. 83 Ebd.: 414. 45

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

[Ich] möchte nicht Theater und Medien gegeneinander ausspielen, sondern deren Verbund betrachten. Medien spielen in jeder Gesellschaft und in jenen Mediengeschichten, die technische Errungenschaften als Diskurse der Technikgeschichte mit einschließen, eine Rolle. Es ist aber meines Erachtens etwas Anderes, wenn eine Medienkonstellation in der Kunst – auch im Theater – eine Rolle spielt. [...] Was ließe sich als das Ästhetische von Theater oder anderen Medien benennen? Meine These ist, dass das Ästhetische an dem Punkt einsetzt, wo die Medien und das Theater nicht reibungslos funktionieren, sondern wo es Formen von Entzug oder von Widerständigkeit gibt.84

Mit dieser These akzentuiert Brandstetter genau jene Phänomene, die intermediale Theaterproduktionen ausmachen, nämliche die Interaktion unterschiedlicher medialer Darstellungsformen und -ästhetiken im Theater, die Brüche, Überschneidungen und ästhetischen Klüfte, die durch das intermediale Miteinander entstehen und so Anlass zu einer medienästhetischen Reflexion im Theater geben.85 Durch den Fokus auf die intermediale Theaterpraxis, in der klare ästhetische Zuschreibungen verunsichert und Wahrnehmungskonventionen irritiert werden, gelingt ihr so auch eine direkte Anbindung der medientheoretischen Debatte über das Theater an den Ausgangspunkt der Diskussion, nämlich an die konkreten medialhybriden Inszenierungen, mit der sich die Theaterwissenschaft auseinandersetzen muss. Der Medienwissenschaftler Derrick de Kerckhove unterstützt diese kunsttheoretische Anbindung an die Mediendebatte und gibt zu bedenken, dass die Ästhetik der Medien zwar auf deren technischen Verfahrensweisen gründe, Medienästhetik im hier verwandten Sinne aber „nicht durch die bloße Benutzung von Medien in der Kunst“ entstehe, sondern dass es die Aufgabe des Künstlers sei, die Auswirkung von Technik zu interpretieren und damit eine Brücke zwischen Technik und Psyche zu schlagen. Ich denke, wir sollten das Theater keinesfalls abschaffen, bloß weil wir nunmehr interaktive Medien haben und durch diese eine kulturelle Technik des Theaters, nämlich das In-Distanz-Treten, teilweise aufgeben. Ich glaube ganz im Gegenteil, dass Theater sehr wichtig ist, da es die Medien absorbieren kann. Theater erforscht und erkundet die Medien. Wir haben zwar eine Menge über Wagner und Brecht gesprochen, aber zu wenig über die Theatermacher, die Medien in ihre Arbeit integrieren, wie Bob Wilson oder Robert Lepage. [...] Heutzutage erproben sehr viele Künstler die Verbindung von Theater und Medien, indem entweder theatrale Elemente für das Internet benutzt werden oder aber Medien in Live-Performances auf der Bühne eingesetzt werden. [...] Für meine Begriffe beschränken sich Rolle und Bedeutung des Theaters in unserer 84 Ebd.: 409 (Hervorhebung im Original). 85 Vgl. dazu die ausführlich das Kapitel ‚Intermedialität und Theater‘. 46

THEATER UND (NEUE) MEDIEN

Zeit allerdings nicht auf das bloße Erproben von Medien. Das Theater hat, glaube ich, vielmehr die Aufgabe, eine Form von Wirklichkeit zu synthetisieren, an der alle „Betroffenen“ teilhaben können, die ihnen gemeinsam ist. [...] Die Essenz des Theaters besteht heute vielleicht darin, dass nur das Theater noch dazu fähig sein wird, die Virtualität zu „erden“, sie in der Materialität von Ereignissen zu verankern.86

De Kerckhove betont so das produktive Verhältnis von Theater und Technik, das er schon im griechischen techné-Begriff, mit dem in der Antike sowohl Kunst als auch Technik bezeichnet wurden, begründet sieht, und versteht die intermedialen Begegnungen zwischen Theater und Technik bzw. Theater und Medien als wichtige, kulturell bedeutsame Faktoren „für Sozialisierungsprozesse und Bildungssysteme.“87 Angesichts der hier exemplarisch skizzierten Positionen innerhalb der theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung um den Medienstatus des Theaters lassen sich zwei grundlegend verschiedene Argumentationslinien herausarbeiten: Die Vertreter der einen Richtung gehen davon aus, dass sich das Theater zwar anderer Medien bedient und durch diese auch verändert wird, aber aufgrund seines Status als unmittelbare Live-Kunst selbst kein Medium ist. Gleichwohl ist es aufgrund seiner spezifischen Fähigkeit, medial-technische Darstellungsformen in seine Ausdrucksmittel zu integrieren, in der Lage, deren Codes und ästhetische Funktionsweisen sowie sich selbst als ästhetisches Verfahren zu reflektieren. Die andere Position dagegen versteht Theater als Teil einer Mediengeschichte, in deren Kontext es als Kunst- und Kommunikationsform überhaupt erst entstehen konnte. Vertreter dieser Argumentation wie z.B. der Medienwissenschaftler Derrick de Kerckhove oder der Theaterwissenschaftler Christopher Balme fragen demnach, ob man überhaupt von einer eigenständigen Theaterästhetik sprechen kann oder ob sich Theater vor allem als spezifische Form von Medienästhetik konstituiert. Das vorliegende Kapitel hat die Problematik des Medienbegriffs vor allem aus theaterwissenschaftlicher Blickrichtung erläutert und in Bezug auf die Frage, ob Theater als ein Medium bezeichnet werden kann, das jeweilige Verständnis von Theater in den Mittelpunkt gestellt. Hinsichtlich des jeweils zugrunde gelegten Medienbegriffs hat sich herauskristallisiert, dass ein kommunikationstheoretisches Medienverständnis in Bezug auf Theater zumindest problematisch ist. Als produktiv im Hinblick auf die zu analysierenden intermedialen Theaterinszenierungen hat sich dagegen die Frage nach einer Ästhetik der Medien erwiesen, die, wie 86 Leeker (2001b): 427f. 87 Ebd.: 428. 47

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Kerckhove hervorhebt, ja grundlegend mit deren technischen Funktionsweisen verbunden ist. Das folgende Kapitel erläutert daher an diese Frage anschließend den Begriff des Mediums aus medientheoretischer und -philosophischer Perspektive und erklärt die Funktions- und Wirkungsweisen von Medien mit einem Fokus auf theater- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen.

T he m e d i u m i s t h e m e ss ag e 88 Zum Verständnis von Medien Medien beherrschen unseren Alltag, dominieren unsere Wahrnehmung und haben in alle Bereiche des Lebens Einzug gehalten. Ob am Arbeitsplatz, in der Freizeit, in der Informationsbranche oder auch in künstlerischen Bereichen – Medien sind ubiquitär geworden und aus unserem täglichen Handeln nicht mehr wegzudenken. Trotzdem bleibt der Medienbegriff als solcher wenig greifbar. In Bezug auf das Theater hat sich gezeigt, dass in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen mit Medien in erster Linie zwar weniger die Massenmedien wie Zeitung, Fernsehen oder Rundfunk bezeichnet werden, trotzdem aber Uneinigkeit darüber besteht, was genau unter einem Medium zu verstehen ist. Grund für diese terminologische Unsicherheit, die nicht nur die Theaterwissenschaft, sondern alle geistesund kulturwissenschaftlichen Disziplinen betrifft, die eine medienwissenschaftliche Perspektive verfolgen,89 ist die Tatsache, dass hier zwei unterschiedliche Diskursfelder, nämlich Kunst- und Kulturwissenschaft einerseits und Technikgeschichte andererseits, aufeinanderstoßen, die in der wissenschaftlichen Praxis zunächst nur geringe Schnittstellen aufweisen.90 Zwar kommen in den darstellenden Künsten wie Theater oder Performance technische Medien und die damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über ihre Funktionsweisen und Ausdruckspotentiale zur Anwendung – z.B. computergesteuerte Lichtprojektionen 88 McLuhan, Marshall (1994): Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel: Verlag der Kunst, 21. 89 Vgl. Kloock, Daniela/Spahr, Angela (2000): Medientheorien. Eine Einführung. München: Fink, 6-7. 90 Vgl. Leeker, Martina (2001c): „Medientheater/Theatermedien. Beginn und Fortführung eines nachmodernen Diskurses zur Technikgeschichte des Menschen.“ In: Dies. (Hg.): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 374-403, hier 374. 48

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oder digitale Bildeinspielungen ebenso wie die Künste auch auf wahrnehmungspsychologische Wirkungsmechanismen der Medien Bezug nehmen – diese aber sollten Theater und Performance in ihrer genuinen Ästhetik nicht berühren. Andererseits gelten Naturwissenschaft und Technik gemeinhin als kulturelle Bereiche, „in denen ästhetische oder gar theatrale und performative Verfahrensweisen wie Inszenierung, Spektakularisierung oder die Betonung des Ereignishaften [...] gerade nicht zum Tragen kommen.“91 Angesichts von Inszenierungen wie denen der hier zu untersuchenden québecer Künstler oder digitaler Kunstprojekte, die das Internet als Bühne nutzen und die Benutzer zu interaktiven Teilnehmern dieser Performances machen, wird diese Einschätzung von künstlerischer Seite und von einer technikorientierten Kulturwissenschaft in Frage gestellt. In solchen Projekten kommt es zur Überlappung medialer und nicht-mediatisierter, körperlicher und technisch-medialer Darstellungsweisen, die die Grenzen zwischen Kunst und Technik sowie zwischen Mensch und Maschine verwischen. Durch solche Phänomene wird immer offensichtlicher, dass Kunst und besonders das Theater und die performance art an der Schnittstelle von Technikentwicklung und der Erprobung neuer, medialgestützter Wahrnehmungsweisen stehen. Paradigmatisch für das Bewusstwerden des Einflusses der Medien auf die Wahrnehmung und auf unser Weltbild ist die populäre These des kanadischen Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan the medium is the message. Medien werden nicht mehr nur als neutrale Träger oder Übermittler von Informationen angesehen, sondern als Techniken, die die Möglichkeiten der Kommunikation mitkonstituieren, die das, was sie übertragen, in seiner spezifischen Erscheinung auch mithervorbringen. In diesem Bewusstsein kommt es seit den 1960er Jahren zu einem Boom medienwissenschaftlicher Theoriebildung, wobei die Vielzahl der fachspezifischen Ansätze der jeweiligen Vertreter zu einer unübersichtlichen Menge konkurrierender und teilweise gar konträrer Begriffsbestimmungen, Fragestellungen und Methoden führt. Es kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht darum gehen, auch nur eine Auswahl der verschiedensten medienwissenschaftlichen Basistheorien zu referieren und diese auf ihr Potential für ein Verständnis des Medienbegriffs im Zusammenhang mit der theaterwissenschaftlichen Fragestellung dieser Arbeit hin zu untersuchen.92 Stattdessen soll mithilfe grundlegender medienphilosophischer Fragestellungen ein Medienverständnis skizziert werden, das den Terminus ‚Medien‘ und deren Funktions- und Wirkungsweisen unter Einbeziehung verschiedener theoreti91 Ebd. 92 Vgl. Weber, Stefan (2003): „(Basis-)Theorien für die Medienwissenschaft.“ In: Ders. (Hg.): Theorien der Medien. Konstanz: UVK, 11-48. 49

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scher Ansätze erhellen kann. Für eine Erörterung medialer Phänomene in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive bieten sich die Arbeiten der Berliner Philosophin und Medienwissenschaftlerin Sybille Krämer an, die in ihren Schriften geisteswissenschaftliche Ansätze aus den Bereichen Philosophie, Linguistik und Anthropologie mit medienwissenschaftlichen Überlegungen unterschiedlicher theoretischer Provenienz verknüpft.93 Krämer unterscheidet medientheoretische Ansätze im Hinblick auf deren Konzeption der Konstitutionsleistung von Medien und stellt dabei zwei sich diametral gegenüberstehende Ideologien heraus: Einerseits die Position des ‚Medienmarginalismus‘, den sie in den traditionell orientierten Geisteswissenschaften und in der frühen Kommunikationsforschung ansiedelt und der Medien lediglich als sekundäre Übertragungsvehikel konzipiert, die sich zum Gehalt der transportierten Botschaften indifferent verhalten. Andererseits die Position des ‚Medienapriorismus‘, der von der Annahme ausgeht, es gebe kein Außerhalb von Medien, weil alles, was wahrgenommen, kommuniziert und gedacht wird, mit Hilfe von Medien geschehe.94 Während die eine Richtung Medien also neutral konzipiert, setzt der Gegenpol die Konstitutionsleistung der Medien so hoch an, dass sie die Schemata und Strukturen menschlicher Kommunikation, Kognition und Interaktion vollständig dominieren und somit das intentionale Handlungspotential des Menschen in Frage gestellt wird. Obgleich die Position des Medienmarginalismus innerhalb der aktuellen medientheoretischen Forschung eine kaum relevante Rolle spielt, ist auch der medienapriorische Pol für eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Medienphänomenen wenig aufschlussreich, da er das „innovative Potential des Medienbegriffs, welches in der Erschließung einer Perspektive jenseits der Alternative zwischen der unmittelbartransparenten Gegebenheit von Sinn und dem radikalen Apriorismus zur Geltung kommt“95, verschenkt. Krämer geht es vielmehr darum, die „Scylla des Medienmarginalismus“ und die „Charybdis des Mediengene-

93 Zum Arbeitsfeld und zu den Veröffentlichungen Sybille Krämers vgl. (2006-9-20). 94 Krämer, Sybille (2003): „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren.“ In: Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hg.): Medienphilosophie: Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt/M.: Fischer, 7890. 95 Lagaay, Alice/Lauer, David (Hg.) (2004): Medientheorien. Eine philosophische Einführung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 25 (Hervorhebung im Original). 50

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rativismus“96 zu vermeiden und Medien als Vermittler von etwas zu begreifen, das sie zwar nicht selbst erzeugen, im Vollzug der Übertragung aber gleichwohl mitkonstituieren.97 Damit fokussiert sie jene zentralen Fragen, die für das zuvor erläuterte theaterwissenschaftliche Medienverständnis von Interesse sind: Um innerhalb des Spannungsfelds ‚Theater und Medien‘ zu entscheiden, was genau der Begriff des ‚Mediums‘ benennen soll, bedarf es einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Medientechnik im Sinne von technischen Instrumenten, wie etwa der Übertragung von Ton oder Musik mittels CD-Player und Lautsprecheranlage, und technischen Apparaten, wie Film oder Video, die nicht nur Bilder vermitteln, sondern durch diese Bilder eine besondere Form von Wahrnehmung ermöglichen können, die eine gewöhnliche Beobachterperspektive nicht realisieren kann. In einem zweiten Schritt kann der Frage nachgegangen werden, wie die allgemeine medienwissenschaftliche Annahme, dass Medien als Faktoren der Konstitution von Selbst, Gesellschaft und Kultur zu begreifen sind, näher untersucht und erläutert werden kann. Daran anschließend soll gefragt werden, wie genau Medien wirken, wie also genau diese Mechanismen der Welterzeugung, die den Medien inhärent zu sein scheinen, funktionieren und auf welche Art und Weise die Medien das, was sie übertragen, auch hervorbringen.

Spuren und Apparate – Zum Medienbegriff Ist das Theater ein Medium, ist es eine technische Apparatur oder lediglich eine Kunstform? Was genau ist der Unterschied zwischen den Begriffen, die im Kontext der theaterwissenschaftlichen Diskussion um den Medienstatus des Theaters immer wieder gegenübergestellt werden? Zieht man zur Beantwortung dieser Frage die etymologische Bedeutung des Begriffs ‚Medium‘ heran, die soviel wie ‚Mittler‘, ‚Vermittler‘ oder ‚Transportstruktur‘ lautet, dann wird offensichtlich, dass das Theater mit allen drei Begriffen fassbar ist, die genaue Bedeutung des Terminus ‚Medium‘ aber so nicht wirklich klarer wird. Denn sowohl das Theater als technische Apparatur als auch als Kunstform vermittelt etwas, und 96 Krämer, Sybille (2004a): „Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‚Aisthetisierung‘ gründende Konzeption des Performativen.“ In: Dies. (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink, 13-32, hier 24. 97 Vgl. hierzu auch Mersch, Dieter (2004): „Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‚negative‘ Medientheorie.“ In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink, 75-95. 51

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zwar unabhängig davon, ob der Fokus auf technologische Faktoren wie beispielsweise Lichtprojektionen oder Musikeinspielungen oder nichtmediale Elemente wie die generelle Aussage einer Inszenierung oder die Vermittlung eines dramatischen Texts gerichtet wird. Der Kern der Problematik eines operablen Medienbegriffs, der sowohl erklärt, wie Medien wirken, als auch Klarheit darüber verschafft, was genau unter einem Medium zu verstehen ist, liegt in der spezifischen Ontologie der Medien: Sie wirken in Latenz. Wir sind zwar ununterbrochen von Medien umgeben, bedienen uns ihrer und können nur mit ihrer Hilfe wahrnehmen und kommunizieren, aber die Medien verbergen sich hinter dem, was sie vermitteln oder transportieren. Sie bleiben der „blinde Fleck in unserem Wahrnehmen und Kommunizieren“ [...] und kommen damit „einer Reflexionsfigur entgegen, die, was ‚Vermittlung‘ ist, so entfaltet, dass dabei der Eindruck einer ‚Unmittelbarkeit‘ entsteht.“98 Dieser Eindruck der Unmittelbarkeit bedingt die scheinbar neutrale Haltung, die Medien gegenüber den Botschaften, die sie übertragen, einnehmen. Sichtbar oder erfahrbar aber werden die Medien nur in Momenten der Störung ihrer Funktion, wenn also der Vermittlungsakt nicht reibungslos verläuft und die spezifische Wirkungsmodalität des Mediums im Moment der Übertragung neben der Botschaft wahrnehmbar wird. Medien wirken wie Fensterscheiben: Sie werden ihrer Aufgabe umso besser gerecht, je durchsichtiger sie bleiben, je unauffälliger sie unterhalb der Schwelle unserer Aufmerksamkeit verharren. Nur im Rauschen, das aber ist in der Störung oder gar im Zusammenbruch ihres reibungslosen Dienstes, bringt das Medium sich selbst in Erinnerung. Die unverzerrte Botschaft hingegen macht das Medium nahezu unsichtbar.99

Krämer diagnostiziert so einerseits eine Alltagserfahrung, nach der Medien in ihren spezifischen Wirkungsweisen aus der Wahrnehmung verschwinden, während sich andererseits die aktuelle medientheoretische Debatte um die Frage nach der Konstitutionsfunktion der Medien dreht. In dieser kontrapunktischen Konstellation zwischen Alltag und Diskurs sieht sie die zentrale Frage medienphilosophischer Reflexion, nämlich zu erörtern, wie über die sinnstiftende Rolle der Medien so aufgeklärt werden kann, dass dabei gleichzeitig nachvollziehbar wird, warum sich diese

98 Krämer (2003): 81 (Hervorhebungen im Original). 99 Krämer, Sybille (1998a): „Das Medium als Spur und als Apparat.“ In: Dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 7394, hier 74; vgl. hierzu auch Mersch (2004): 80f. 52

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Konstitutionsfunktion latent vollzieht, wir ihrer also in den seltensten Fällen gewahr werden.100 Dazu bedient sie sich zweier medientheoretischer Konzeptionen, der technik-theoretischen Überlegungen Marshall McLuhans und des systemtheoretischen Ansatzes Niklas Luhmanns, die hinsichtlich der Neutralitätsfrage der Medien eine gänzlich konträre Auffassung vertreten.101 Während McLuhans These, das Medium sei die Botschaft, die Vorstellung von der Indifferenz der Medien in Frage stellt, unterscheidet Luhmann zwischen Medium und Form als lose und rigide gekoppelten Elementen und versucht so zu zeigen, dass das Medium eben nicht die Form der Botschaft sei. Diese sich ausschließenden Ergebnisse medientheoretischer Reflexion basieren auf zwei vollständig verschiedenen Perspektiven der beiden Theoretiker: Auf der Basis eines anthropomorphen Technikverständnisses versteht Marshall McLuhan unter Medien nahezu alle kulturellen Artefakte wie Schrift, Kleidung, Geld oder elektrisches Licht, die er als künstliche Ausweitungen – als Prothesen – des menschlichen Körpers begreift, wobei das Auftauchen eines neuen Mediums jeweils in die Sinnesorganisation des Menschen eingreift, diese „amputiert“, und das technische Artefakt zur Prothese wird. Die Bedeutung seines berühmten Diktums the medium is the message liegt demzufolge in der Bedeutung der sich wandelnden technisch-medialen Artefakte für Kultur überhaupt, denn die ‚Botschaft‘ des Mediums ist für McLuhan nicht die jeweilige Kapazität der Technik oder Maschine, sondern ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung, auf das soziale Miteinander und auf die Gesellschaft im Allgemeinen.102

100 Krämer (1998a): 74f. 101 Vgl. exemplarisch McLuhan (1994); Luhmann, Niklas (1987): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 102 In diesem Kontext muss auch seine Einteilung der Geschichte in vier Epochen, nämlich in die orale Stammeskultur, die literale ManuskriptKultur, die Gutenberg-Galaxis und das elektronische Zeitalter verstanden werden. Für die Zäsur zwischen den Zeitabschnitten ist nach McLuhan jeweils das Auftreten eines neuen Mediums verantwortlich, die Schrift beendet die orale Phase, der Buchdruck und die Elektrizität revolutionieren anschließend Kultur und Gesellschaft. Auch seine Differenzierung zwischen heißen und kalten Medien zielt auf den unterschiedlichen Einfluss unterschiedlicher Medientypen auf die menschlichen Wahrnehmungsmechanismen, wobei besonders diese Kategorisierung oft in Frage gestellt wurde und für eine Begriffsdefinition im Kontext dieser Untersuchung nicht aufschlussreich ist. (Vgl. ausführlicher McLuhan (1994): 22f. und 44-61 sowie Schultz, Oliver Lerone (2004): „Marshall McLuhan – Medien als Infrastrukturen und Archetypen.“ In: Lagaay, Alice/Lauer, 53

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Niklas Luhmann hingegen teilt diese Auffassung von Technik „als der Urszenerie des Medialen“103 nicht, sondern begreift Medien vor allem als Kommunikationsmittel, deren grundlegende Form die Sprache ist. Kommunikation ist für Luhmann die Bedingung von Gesellschaft und kann ihre gesellschaftsbildende Funktion nur deshalb erfüllen, weil sich Information auf Distanz zuträgt. Zur Überwindung dieser Distanz bedarf es Medien, die diese Distanz aber nicht aufheben, sondern sie mittels Transformation ermöglichen. Luhmann unterscheidet in einer systemtheoretischen Perspektive zwischen lose und rigide gekoppelten Elementen. Lose verknüpfte Elemente, die faktisch unbestimmt, damit aber potentiell empfänglich für Strukturierungen sind, bezeichnet Luhmann als Medien, während er das, was diese losen Verknüpfungen zu strukturbildenden Mustern verdichtet, als Form benennt. Durch ihr hohes Auflösevermögen sind Medien aufnahmefähig für Formen, somit also ohneeinander nicht denkbar, stehen aber in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander: Während sich die Form durchsetzt, bleibt das Medium passiv, wird aber durch die jeweilige Formgebung nicht verbraucht, sondern erneuert, und ist damit wieder offen für weitere Formgebungen.104 Nach Luhmanns Theorie nehmen wir daher, wo immer wir Medien begegnen, nicht die Medien selbst, sondern nur ihre konkrete Form war. Krämer sieht in Luhmanns Begrifflichkeit eine Revision des Formbegriffs begründet, der Form nicht mehr als eine zu aktualisierende Struktur oder als zu implementierendes Regelwerk konzipiert, sondern in einem performativen Sinn als Vollzug denkbar werden lässt, wobei dieser Vollzug ohne Medien undenkbar ist.105 Damit ist ein Erklärungsansatz gegeben, der Medialität als Performativität konzipiert und der für die Frage nach der Wirkungsweise von Medien erhellend sein könnte.106

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David (Hg.) (2004): Medientheorien. Eine philosophische Einführung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 31-68.) Krämer (1998a): 76. Vgl. dazu ausführlicher: Luhmann, Niklas (1986): „Das Medium der Kunst.“ In: Delfin 7, 6-15; ders. (1987): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, darin bes. Kap. III: „Medium und Form“, 165-214; ders. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp; Krämer, Sybille (1998b): „Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form?“ In: (2006-10-8); zuerst erschienen in: Rechtshistorisches Journal 17, 558-573. Krämer (1998b): bes. 163. Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel ‚Verkörperung und Transformation – Zur Funktionsweise von Medien‘. 54

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Gleichzeitig kritisiert Krämer allerdings Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form insofern, als dieser Denkfigur unausgesprochen die semiotische Trennung von Zeichenträger und Zeichenbedeutung zugrunde liegt, „bei welcher der materielle Zeichenträger als arbiträres und äußerliches Vehikel der Zeichenbedeutung gilt.“107 Weil Zeichen Bedeutung aber immer aufgrund von Konventionen generieren, somit also einen intendierten Sinn transportieren, kann die Prägekraft des Mediums, der hier auf den Grund gegangen werden soll, mit Luhmanns funktionalistischer Medium-Form-Unterscheidung nicht hinreichend erklärt werden. Die Prägekraft eines Mediums – und das ist die Vermutung, auf die es hier ankommt – entfaltet sich in der Dimension einer Bedeutsamkeit jenseits der Strukturen einer konventionalisierten Semantik. Und es ist die Materialität des Mediums, welche die Grundlage abgibt für diesen „Überschuss“ an Sinn, für diesen „Mehrwert“ an Bedeutung, der von den Zeichenbenutzern keineswegs intendiert und ihrer Kontrolle auch gar nicht unterworfen ist. Kraft ihrer Materialität sagen die Zeichen mehr, als ihre Benutzer jeweils damit meinen.108

Krämer schlägt in Anschluss an McLuhan und Luhmann daher vor, den Begriff des Mediums durch seine Unterschiede zum Begriff des Zeichens einerseits und zum Begriff des technischen Instruments andererseits herauszuarbeiten. Den von ihr diagnostizierten „Überschuss an Sinn“ erläutert sie am Beispiel des Verhältnisses von Stimme und Rede und zeigt, dass die Stimme zwar das Medium der Rede ist, ihr aber nicht nur als Vollstreckerin oder als Werkzeug dient, sondern daneben selbst auch Aussagen macht, die das Gesagte sozusagen kommentieren: Die Stimme dient nicht nur den Vorgaben und Intentionen der Sprechenden, sondern handelt ihnen, nicht selten zu unserer Überraschung, manchmal peinlicherweise, oft aber auch zu unserem Vergnügen, zuwider. Was das manchmal konterkarierende Spiel der Stimme im Verhältnis zur Rede zu verstehen gibt, bleibt in der Perspektive der konventionellen Zeichenverwendung verhüllt. [...] Die Stimme verhält sich also zur Rede, wie eine unbeabsichtigte Spur sich zum absichtsvoll gebrauchten Zeichen verhält.109

Dieses Phänomen der Spur ist genau der Faktor, der die Konstitutionsfunktion von Medien im Unterschied zu Zeichen ausmacht, weil Spuren nämlich einen Interpretationsspielraum bereithalten, die zwar auch einen Sinn transportieren, jedoch als „prädiskursives, vorsemantisches Phäno107 Krämer (1998a): 77. 108 Ebd.: 78f. (Hervorhebungen im Original). 109 Ebd.: 79. 55

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men“ unbeabsichtigt und nicht-intentional entstanden sind. Krämer variiert so McLuhans These und kommt zu dem Schluss, dass das Medium zwar nicht die Botschaft ist, dass sich an der Botschaft aber die Spur des Mediums bewahrt.110 In einem zweiten Schritt unterscheidet Krämer zwischen Medien als „Mittler von etwas“ und technischen Instrumenten als „Mittel für etwas.“111 Durch diese Differenzierung gelingt ihr eine Unterscheidung zwischen technischen Medien wie etwa dem Telefon, dem Film oder dem Computer, die sie unter dem Begriff ‚Apparate‘ subsumiert, und technischen Instrumenten im Sinne von ‚Werkzeugen‘, unter denen sie „physische wie auch symbolische technische Artefakte“ versteht, die der von ihnen vermittelten Botschaft äußerlich bleiben. Im Gegensatz zu Medien als Werkzeugen, die ihrem Benutzer Arbeit ersparen und menschliche, körperliche Fähigkeiten ersetzen oder verstärken, effektivieren Medien als Apparate „nicht einfach das, was Menschen auch ohne Apparate schon tun, sondern erschließen etwas, für das es im menschlichen Tun kein Vorbild gibt“ und fungieren somit als Apparate zur „künstlichen Welterzeugung.“112 Dabei darf die Unterscheidung zwischen Technik als Werkzeug und Technik als Apparat aber nicht als antagonistisch im Sinne einer ontologischen Differenz verstanden werden, denn „beide Perspektiven spielen bei jedem technischen Artefakt zusammen“113, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht. So kann das Medium der Photographie sowohl unter instrumentalen als auch unter apparativen Aspekten betrachtet werden und dabei wahlweise der technische Akt der Hervorbringung eines Bildes fokussiert, oder nach den be110 Den Begriff der ‚Spur‘ verwendet auch Dieter Mersch in seiner Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Wahrnehmung des Mediums, die er wie Krämer in Momenten der Dysfunktionalität verortet: „[D]ie Materialität des Mediums, seine Ex-istenz als Spur [zeigt sich] im Augenblick des Ausfalls, anhand von Bruchstellen, Friktionen und Verwerfungen, die sich im Material manifestieren. [...] [E]s selbst macht sich sichtbar, zeigt sich, wo es zerbricht. Sein Zeigen ist an seine Negativität geknüpft.“ Vgl. Mersch (2004): 83 (Hervorhebungen im Original). 111 Vgl. Krämer (1998a): 79-83: „Wenn wir ein technisches Instrument einsetzen, so machen wir mit diesem Instrument etwas; ein Instrument wird gebraucht und zurückgelassen, es bleibt der zu bearbeitenden Sache durchaus äußerlich. Wenn wir hingegen eine Botschaft empfangen, so ist diese „in“ einem Medium gegeben. In einem Medium ist etwas eingetaucht und von ihm so durchdrungen, dass es außerhalb des Mediums überhaupt nicht zu existieren vermag.“ (83, Hervorhebungen im Original). 112 Ebd.: 84f. 113 Ebd.: 85. 56

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sonderen medialen Implikationen dieser Bilderzeugung gefragt werden, eben nach der Spur, die das Medium der Photographie auf dem Bild hinterlässt. Wenn Medien im Sinne von Apparaten eben nicht mit Artefakten gleichzusetzen sind, die die Produktivität des Menschen lediglich erhöhen, sondern dazu dienen, neue Welten und damit neue Wahrnehmungsweisen zu eröffnen, dann wird deutlich, wie sehr angesichts unseres Umgangs mit Medien – mit neuen Medien ebenso wie mit alten, tradierten Formen künstlicher Welterzeugung – Kultur und damit alle kulturellen und künstlerischen Manifestationen gerade an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, in der Begegnung zwischen medialen und nichtmedialen Darstellungsformen entstehen. Theaterproduktionen, die unmittelbare Ausdrucksmittel und Medientechnologie in ihrer Ästhetik kombinieren, können daher als eine exemplarische Form kultureller Performanz betrachtet werden, um eben jene Schnittstellen und Begegnungen zwischen Medien und Werkzeugen zu analysieren und zu reflektieren.

Medien als Welterzeuger – Zur Konstitutionsleistung von Medien Die Schwierigkeit der Reflexion über die Wirkungsweise von Medien liegt nach Krämers Diagnose und entsprechend unserer alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Medien darin, dass wir immer nur die Botschaft wahrnehmen, das Medium selbst aber nahezu unbemerkt bleibt. Ausgehend von der im vorangegangen Kapitel referierten Annährung Krämers an eine Begriffsbestimmung des Terminus ‚Medium‘ ist es aber möglich, die Wirkungsweise von Medien und die Annahme, dass Medien nicht nur Inhalte vermitteln, sondern an der Gestalt der Botschaft und damit an unserer Wahrnehmung und Erfahrung von Kultur entscheidend beteiligt sind, näher zu erläutern. Krämer distanziert sich in ihrem Verständnis von Medien nicht nur von der Annahme, Medien fungierten nur als Vermittlungsinstanzen, die den von ihnen transportierten Inhalten äußerlich blieben und damit implizit von der semiotischen Unterscheidung zwischen Zeichenträger und Zeichenbedeutung, sondern stellt damit auch grundsätzlich das „ZweiWelten-Modell“ der Geistes- und Kulturwissenschaften, nach dem die Welt in eine Tiefenstruktur der universellen Muster und ihre Oberfläche,

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die Konkretisierung mittels repräsentationaler Zeichen, aufgeteilt ist, in Frage.114 Kann nun eine Konzeption kultureller, also sinnhafter Phänomene entfaltet werden, die den Prämissen der „Zwei-Welten-Ontologie“ nicht verpflichtet ist? [...] Die Hypothese ist, dass für die sprachphilosophische Reflexion die Begriffe „Performanz“ und „Performativität“ eine methodische Neuakzentuierung jenseits des protestantischen Gestus eröffnen, durch welche Sprache als „verkörperte Sprache“ Gestalt gewinnen kann, ohne dabei ein magisches Identifikationsmodell wiederbeleben zu müssen.115

Anhand dieser Hypothese rekapituliert Krämer den Begriff der Performativität im Kontext sprachphilosophischer und sprachpragmatischer Überlegungen sowie der daran anschließenden Debatten in kunst- und kulturwissenschaftlichen Diskursen. Dabei fokussiert sie Austins Begriff der performativen Äußerung als einen Sprechakt, der das, was er benennt, im Moment der Äußerung auch mit konstituiert,116 und dessen Bindungsenergie gerade nicht auf einer sozialen Beziehung zwischen Sprecher und

114 Vgl. Krämer (1997): „Sprache-Stimme-Schrift: Sieben Thesen über Performativität als Medialität.“ In: Paragrana 7, 33-57, hier 33f. Krämer situiert die den Wurzeln der abendländischen Kultur zugrundeliegende Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem in der Antike in der Transformation ritueller Praktiken hin zu Institutionen wie Wissenschaft, Kunst und Philosophie und nennt als Beispiel die Geburt der antiken Tragödie aus dem Kult des Dionysos: „Der Priester, der die Maske des Dionysos aufsetzt, verkörpert Dionysos nicht mehr, sondern stellt ihn nur noch dar und wird damit zum Schauspieler“ (33). Diese Idee der Repräsentation, die sie den ‚protestantischen Gestus‘ der Geistes- und Kulturwissenschaften nennt, verfolgt sie bis in die zeitgenössische Sprachphilosophie und die Unterscheidung Peirces zwischen ‚type‘ und ‚token‘, die im Sinne einer Texthermeneutik nach „dem Geist, der hinter den Buchstaben liegt“ (34) fragt, und somit ihren wissenschaftlichen Akzent auf das Regelsystem von Sprache lenkt, auf die „Tiefenstruktur der universellen Muster“ (34). Einen Ansatz, dieses „Zwei-Welten-Modell“ aufzulösen, sieht sie im sprechakttheoretischen Begriff der Performativität begründet, den sie anhand verschiedener Ansätze nachvollzieht und für eine Betrachtung der Konstitutionsfunktion von Medien fruchtbar macht. 115 Ebd.: 34 (Hervorhebungen im Original). 116 Vgl. ausführlicher Austin, John L. (1979): „Performative und konstatierende Äußerungen.“ In: Bubner, Rüdiger (Hg): Sprache und Analysis. Texte zur englischen Philosophie der Gegenwart. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 140-153. 58

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Adressaten basiert, sondern im Aufführungscharakter und der Zitathaftigkeit des Sprachgebrauchs wurzelt.117 Der Akt der Wiederholung und des Zitierens birgt ein Moment der Verschiebung und damit, wie Derrida durch seinen Gedanken der Iterabilität hervorhebt, eine Veränderung und Unterminierung der Zeichenbedeutung, die die generative Kraft des Performativen ausmacht. Judith Butler hat Derridas These von der Produktivität der Iterabilität in ihrer Gendertheorie aufgegriffen und durch den Aspekt der Aufführung und Inszenierung der Sprechhandlung ergänzt,118 denn, wie Krämer bemerkt, die „Zitatförmigkeit ist nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die performative Macht des Sprechens.“119 Durch die ReZitation im Sinne einer Aufführung kann sich der Sprecher vom Zitierten gleichzeitig distanzieren und es eben dadurch auch um- oder neuinterpretieren. So erklärt ‚Performativität‘ nicht nur, wieso institutionell autorisierten Sprechhandlungen eine gesellschaftsgestaltende Kraft eignet, sondern auch, wie die im Sprechakt wirksame zwangsläufige Macht von Konventionen, Riten und Insti-

117 Krämer kritisiert dabei aber Austins Sprachverständnis aufgrund der zugrundeliegenden universalen Regelstruktur von Sprache, die das Sprechen nicht als raum-zeitlich situierte Äußerung begreift und demzufolge auch die spezifische Medialität des Kommunizierens verfehlt. (Vgl. Krämer (1997): 41 sowie dies. (2004a): 15.) Mit Rückgriff auf das poststrukturalistische Performativitätsverständnis Derridas und die jüngste kunstund kulturwissenschaftliche Debatte zu ‚performance‘ und ‚Performativität‘ präzisiert sie die Kraft des Performativs mit Derridas Gedanken der Iterabilität des sprachlichen Zeichens, der Sprache als Ort einer „strukturellen Differenz“ begreift, die das „Sprachgeschehen überhaupt erst in Bewegung setzt und hält, dieses aber auch den Intentionen und Vorsätzen bewusstseinsgesteuerter Subjektivität entzieht.“ (Vgl. Krämer (1997): 38 und ausführlich Derrida, Jacques (1988): Randgänge der Philosophie. Wien: Passagenverlag; darin bes. „Signatur – Ereignis – Kontext“, 291314.) Denn um überhaupt als Zeichen gelten zu können, muss die Marke aus ihrem Kontext herauslösbar und in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein. Diese Iterabilität birgt aber zugleich ein Moment der Alterität, denn der Akt der Wiederholung in einem anderen Kontext impliziert ein Anderswerden und damit das Entstehen von Differenz. 118 Vgl. Butler, Judith (1990): „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory.“ In: Case, Sue-Ellen (Hg.): Performing Feminism: Feminist Critical Theory and Theatre. London: John-Hopkins Press, 270-282; dies. (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 119 Krämer (2004a): 16. 59

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

tutionen gebannt, unterminiert und gebrochen werden kann, wie zum Beispiel die ursprünglich desavouierende Kennzeichnung ‚queer‘, sobald diese von den so Bezeichneten in einen neuen Kontext ein- und dort aufgeführt wird, zur avantgardistisch-subversiven Auszeichnung mutieren kann.120

Gleichwohl ist dieses von Krämer „iterabilisierend“ genannte Performativitätskonzept von Begriffen wie ‚Schrift‘, ‚Zeichen‘ und ‚Text‘ geprägt, weshalb die hier zum Tragen kommende Medialität immer noch eine sprach- und schriftzentrierte Medialität, also immer noch Attribut des Semiotischen ist. Um diesen Schriftzentrismus zu vermeiden, schlägt Krämer ein Verständnis von Performativität vor, das von den Erfahrungen künstlerischer oder theatraler Performances inspiriert wird und damit das Wechselverhältnis von Darstellung und Wahrnehmung fokussiert: Während die iterabilisierende Performativität ihren Ausgang nimmt vom reproduktiven Charakter als der definierenden Bedingung alles Semiotischen, gilt hier das Augenmerk umgekehrt dem Ereignischarakter und damit der Instabilität und Flüchtigkeit von Aufführungen, die in eben ihrem Ereignis- und Präsenzaspekt den Rahmen repräsentational fungierender Semiosis immer auch überschreiten.121

Im Gegensatz zu einem auf Mimesis basierenden Aufführungsverständnis konstituiert sich die performance art als genuin performative Kunstform durch das reziproke Verhältnis zwischen Akteur und wahrnehmendem und damit selbst produzierendem Zuschauer sowie der spezifischen Materialität des Darstellungsgeschehens, das den Körper des Darstellers nicht mehr als semiotisches Zeichen konzipiert, sondern sein materielles Eigengewicht im Moment der Aufführung in den Vordergrund rückt. Das Ereignishafte dieser Inszenierungen von Körpern und Sprache verweist auf die Unmöglichkeit der Reproduktion, die immer nur eine sich verschiebende, die performance alterierende Re-Zitation sein kann.122 Krämers Denkmodell zielt auf ein Verständnis von Performativität, das die Medien der Performanz, also die Art und Weise der Welterzeugung ins Blickfeld der Erörterung rückt. In diesem Sinn versucht sie, die oben skizzierten Konzeptionen von Performativität als eine genealogische Stufenfolge zu lesen, aus dessen Entwicklung sie eine auf Performativität basierende Konzeption von Medialität abzuleiten versucht. 123

120 121 122 123

Ebd.: 16f. Ebd.: 17. Ebd.: 18. Ebd.: 19. 60

THEATER UND (NEUE) MEDIEN

Jede Repräsentation wird grundsätzlich zunächst als Präsentation, als Aufführung, Inszenierung und Verkörperung verstanden. Durch die Hervorhebung des Akts des Vollzugs, der als Aufführung von Zeichen auch eine Verschiebung der Zeichenbedeutung impliziert, wird das kreative und subversive Potential der Performativität offensichtlich. Als operatives Geschehen liegt der Fokus nicht nur auf dem Inhalt der Botschaft, sondern auch auf der Art und Weise der Hervorbringung, was die spezifische Materialität des jeweiligen Mediums und damit auch die dem Medium anhaftende Spur ins Blickfeld rückt. Kulturphänomene werden also nicht nur durch Zeichen realisiert, sondern aufgrund ihrer konstitutiven Medialität auch mit konstituiert. Damit fokussiert Krämer das im gegenwärtigen medientheoretischen Diskurs vernachlässigte Charakteristikum des Mediums als Ver-Mittler im Sinne von „Distanzsetzung bzw. Distanzüberbrückung“, deren Elementarfunktion die Aisthetisierung, also das ‚Wahrnehmbar-Machen‘ und das zu Gesicht- bzw. zu Gehör-Bringen ist.124 Wenn also alles, was wir über die Welt sagen, erkennen und wissen können, mit Hilfe von Medien gesagt, erkannt und gewusst wird125 und wir Medien eben nicht nur als materielle, der Botschaft indifferente Zeichenträger konzipieren, dann kann der von Krämer so präzisierte Begriff der Performativität dazu dienen, die produktive und welterzeugende Kraft der Medien zu erklären.

124 Krämer, Sybille (2004b): „Über das Zusammenspiel von ‚Medialität‘ und ‚Performativität‘.“ In: Paragrana 13/1, 129-133. Krämer verwendet ‚Aisthetisierung‘ hier in der ursprünglichen griechischen Bedeutung des Terminus ‚aisthesis‘ (άίσθησις) als ‚sinnlich vermittelter Wahrnehmung‘. In einem postmodernen Verständnis des Begriffs verweist sie damit auf eine deskriptive, prozessorientierte Konzeption von Aisthetisierung in der Einsicht, dass „Erkennen und Wirklichkeit ihrer Seinsart nach ästhetisch sind“, dass es sich also beim Ästhetischen nicht um „sekundäre, nachträgliche Realitäten“ handelt, sondern „dass das Ästhetische schon zur Grundschicht von Erkenntnis und Wirklichkeit gehört.“ Vgl. dazu ausführlicher Barck, Karl-Heinz (2000): „Zur Aktualität des Ästhetischen.“ In: Ders. (et al.) (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB): Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart: Metzler, 308-317 (Bd. 1) sowie Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink. 125 Krämer (1998a): 73. 61

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Verkörperung und Transformation – Zur Funktionsweise von Medien Die vorangegangenen Überlegungen zur Ontologie der Medien und ihrer Konstitutionsfunktion können aufschlussreich sein im Hinblick auf den Umgang mit und für das Verständnis von Medien und Medialität, die unseren Alltag prägen und bestimmen. Die begriffliche Differenzierung zwischen Werkzeug und Apparat sowie das philosophische Modell der Performativität eröffnen einen Denkansatz, der die Welterzeugungskompetenz von Medien dahingehend erhellt, als somit sowohl eine definitorische Einschränkung im Vergleich zum kommunikationstheoretischen Medienverständnis möglich wird als auch der performative Aspekt der Medien im Unterschied zu rein semiotischen Zeichenträgern zutage tritt. Dabei wird offensichtlich, dass diese Charakteristika nicht absolut zu setzen sind, sondern dass im Kontext medientheoretischer Reflexion immer die jeweilige Perspektive ausschlaggebend ist, und ein Medium je nach Erkenntnisinteresse sowohl unter kommunikativ-semiotischen Gesichtspunkten als auch mit Fokus auf seine Konstitutionsfunktion betrachtet werden kann. Das Verständnis des Medialen bewegt sich also auf einer Skala zwischen ‚Übertragung‘ im Sinne einer Vehikelfunktion der Medien und ‚Erzeugung‘ im Sinne ihrer Konstitutionsfunktion.126 Während die Auffassung von der Sekundarität des Medialen vom transitorischen und vermittelnden Charakter der Medien ausgeht und demnach ein Außerhalb von Medien konzipiert, versteht eine kulturwissenschaftlich orientierte Medientheorie Medien als „Springquelle unseres Welt- und Selbstverständnisses“ und negiert gerade dieses „ZweiWelten-Modell“ der Geistes- und Kommunikationswissenschaften. Wenn aber im Rahmen der vorliegenden Studie und im Anschluss an Krämer Medialität nun als Performativität konzipiert werden soll und dabei davon auszugehen ist, dass „alles, was beim Sagen, Erkennen und Wissen ‚gegeben‘ ist, in Medien gegeben ist“, gleichzeitig aber ein Medienapriorismus, der jeglichen Handlungsspielraum und jegliche Bezugnahme auf das Mediale und damit auf unsere Welt unterbinden würde, im Verständnis von Medialität verhindert werden soll, dann gilt es, die „Konstitutionsfunktion der Medien so zu rekonstruieren, dass dabei die Dimension der Hervorbringung sichtbar wird.“127 Indem Medien das, was sie übertragen, gleichzeitig auch mit hervorbringen, vollziehen sie einen Akt der Verkörperung mittels dessen die Dinge, die sie übermitteln, erfahrbar und wahrnehmbar gemacht werden. Während Luhmann den Akt der Formgebung als Operation eines Sys126 Krämer (2003): 80. 127 Ebd.: 83ff. (Hervorhebungen im Original). 62

THEATER UND (NEUE) MEDIEN

tems bezeichnet, plädiert Krämer im Anschluss an ihre Konzeption von Medialität als Performativität für ein Verständnis von Formgebung als kulturelle Praxis.128 Diese kulturellen Praktiken entfalten sich im Spektrum zwischen Kunst und Kulturtechnik, wobei Krämer unter Kunst das Unerhörte, Überraschende und den Bruch mit Vertrautem und unter Kulturtechnik dagegen Veralltäglichung, Ritualisierung und Gewohnheitsbildung versteht. Formgebung als Phänomen medialer Performanz situiert sie in diesem Verständnis also zwischen dem innovativen Potential von Kunst und der Wiederholung in der Kulturtechnik, denn „[j]ede sich in Wahrnehmungsschemata sedimentierende Kunst zehrt von überkommenen Kulturtechniken und bildet sie zugleich um.“129 Die durch Formverdichtung entstehenden Medien begreift sie dementsprechend als „historische Grammatiken von Formen, Werken, Sinngehalten“130, die durch kulturelle Praktiken entstehen. Luhmanns Unterscheidung zwischen Medium und Form ist insofern hilfreich, als dabei offensichtlich wird, dass es auf den Beobachterstandpunkt ankommt, was als Medium und was als Form erfahren wird. Luhmann erklärt das Verhältnis von Medium und Form als ein wechselseitig bedingtes, in dem Formen immer nur als Form-in-einem-Medium wahrnehmbar werden. Das erklärt einerseits, warum wir immer nur Formen, nicht aber die Medien selbst wahrnehmen, andererseits aber auch, wie das „Prinzip der ästhetischen Neutralisierung“131 gebrochen werden und das Medium selbst auch beobachtbar werden kann: Nämlich dann, wenn ein Medium selbst wieder zur Form in einem anderen Medium wird, wenn beispielsweise Geräusche sich zu Worten verdichten und diese wiederum im Medium der Sprache zu Formen der Satzbildung werden.132 Das Moment der Transformation also, der Übergang von Formen zu Medien und wieder zu Formen ist das Moment im Prozess der medialen Performanz, das Bezugnahme ermöglicht. Der performative Vollzug der Medien impliziert dabei neben der Realisierung und Phänomenalisierung der Dinge aber immer auch ihre Veränderung und Unterminierung, durch welche das, 128 Diese Auffassung ist insofern begründet, als Luhmanns Form-Begriff nicht im Kontext des traditionellen ‚Zwei-Welten-Modells‘ zu verstehen ist, das Form als Form-ohne-Medium, als System oder Kompetenzrepertoire im Sinne einer universellen Tiefenstruktur konzipiert, sondern weil er Form als Vollzug in einem performativen Verständnis begreift, die immer nur als Form-in-einem-Medium gegeben ist. (Vgl. dazu ausführlicher Krämer (1998b): 163f.) 129 Krämer (2003): 86. 130 Ebd.: 81. 131 Ebd.: 82. 132 Luhmann (1987): 172. 63

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

was verkörpert wird, in andere Kontexte übertragen und somit neu oder anders konstituiert werden kann. Wenn die medientheoretische „Gretchenfrage“ die nach bloßer Sinnvermittlung oder sinnstiftender Konstitutionsleistung der Medien war, dann wird mit Rückgriff auf Luhmann erklärbar, dass Medien weder als nur sekundär im Sinne eines Zeichenapriori, noch als primär im Sinne eines Technikapriori aufzufassen sind. In einer kulturwissenschaftlichen Perspektive wird verständlich, dass sie „im Akt der Übertragung dasjenige, was sie übertragen, zugleich mitbedingen und prägen. Es ist die Idee der ‚Verkörperung‘ als eine kulturstiftende Tätigkeit, die es erlaubt, ‚Übertragung‘ als ‚Konstitution‘ auszuweisen und zu begreifen.“133 Verkörperung ist also immer als Transformation in eine andere Verkörperung zu verstehen, als Form der Inszenierung oder Umschrift, welche gerade erst aufgrund des spezifisch performativen Charakters der Medien möglich wird. Das heißt aber gleichzeitig auch, dass dem Medium etwas vorausgeht, das zwar in einem anderen Medium, nie aber ohne Medium gegeben sein kann. Demnach entpuppt sich die Annahme, es gebe Einzelmedien, als das Resultat einer Abstraktion und Intermedialität wird zur epistemischen Bedingung von Medienerkenntnis.134

Medien, Medialität, Intermedialität – Zum Medienbegriff des Theaters Beziehen wir Krämers Überlegungen zur Ontologie und Funktionsweise von Medien auf die Fragestellung, ob und wie das Theater als ein Medium bezeichnet werden kann, dann zeigt sich, dass eine solch kulturwissenschaftlich orientierte Konzeption von Medien und Medialität für die im Kapitel ‚Theater – ein Medium‘ aufgeworfenen Diskussionspunkte erhellend sein kann. Die theaterwissenschaftliche Debatte um den Medienbegriff hat ergeben, dass aufgrund der spezifischen Kommunikationssituation der Bühne und des Live-Status von Theater ein kommunikationstheoretisches Verständnis von Medialität für einen theaterwissen133 Krämer (2003): 82 und 84f. (Hervorhebungen im Original). 134 Ebd.: 85. Dieter Mersch bemerkt hierzu ergänzend, dass Medien immer der Bühne eines anderen Mediums bedürfen: „Wenn sich ihre Strukturen dem Wahrnehmen, Denken oder Verstehen immer schon imprägniert haben, dann lässt sich umgekehrt ihre Medialität im Sinne der Strukturalität dieser Strukturen nicht beschreiben oder analysieren – es sei denn, wir veranschlagten ein weiteres Medium, das diese sichtbar machte, dem wiederum seine eigene Strukturalität entgeht, was ein weiteres Medium erfordert usf.“ Mersch (2004): 79 (Hervorhebungen im Original). 64

THEATER UND (NEUE) MEDIEN

schaftlichen Diskurs problematisch ist, diese Perspektive gleichzeitig aber auch insofern einseitig ist, weil sich die theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Medien(technik) vor allem auf die durch mediale Ausdrucksformen veränderte Ästhetik ihres Gegenstands bezieht und die Art der Vermittlung, wie Knut Hickethier betont, nur dort von Interesse ist, „wo sie Auswirkungen auch auf die ästhetische Struktur des Vermittelten [...] und die Wahrnehmung von Medien hat.“135 Mit eben jenem Fokus auf die Welterschaffungskompetenz von Medien distanziert sich auch Krämer von einem rein semiotisch konzipierten Begriff des Mediums als bloßer Vermittlungsinstanz, die den transportierten Botschaften äußerlich bleibt, und versucht stattdessen, die Funktionsweise von Medien auf einer Skala zwischen Übertragung und Konstitution zu rekonstruieren. Grundlegend für ein kulturwissenschaftliches Verständnis für Medien und Medialität ist demzufolge der Aspekt der Phänomenalisierungsfunktion sowie der Konstitutionsleistung von Medien und die Erkenntnis, dass Intermedialität die epistemische Bedingung von Medialität ist. Im Anschluss an Krämers Apparatebegriff und das erläuterte Interdependenzverhältnis von Medialität und Performanz kann das Theater als eine Apparatur zur künstlichen Welterzeugung beschrieben werden, die das, was sie zeigt und vermittelt, gleichzeitig auch mitkonstituiert. Ausgehend von einem Verständnis von Theater als performativem Ereignis, das nicht nur repräsentiert, sondern das Gezeigte auch phänomenalisiert, also den Sinnen zugänglich macht, kann Theatralität als Medialität konzipiert werden, bei der es sich aufgrund des der Medialität innewohnenden performativen Überschusses an Sinn eben nicht nur um Darstellung im Sinne von Mimesis handelt, sondern um eine ‚Aufführung‘ oder Re-Inszenierung von etwas, das in diesem performativen Vollzug immer auch verschoben, verändert und unterminiert wird. Zwar argumentiert Kati Röttger, dass Krämer mit ihrer Idee der Spur des Mediums, die den übermittelten Botschaften anhaftet, den besonderen medialen Status des Theaters nicht zu fassen vermöge, weil „sich an den Botschaften des Theaters (als Medium) eben nicht die Spuren des spezifischen Mediums Theater, sondern vieler (jeweils auswechselbarer) Medien (wie Stimme, Klang, Bewegung, Sprache, Bild usw.)“ bewahrten und das Theater durchaus in der Lage sei, „verschiedene technische Apparaturen zur künstlichen Welterzeugung (Film, Fernsehen, Video, digitale Medien usw.) zu integrieren, ohne seinen Status als Theater zu ver-

135 Hickethier (1988): 51. 65

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

lieren“136, diese Perspektive lässt aber das von Krämer im Kontext ihres Performativitätsverständnisses erwähnte Moment der Aisthetisierung außer Acht. Röttger versucht, die für das Theater konstitutive Plurimedialität und die damit einhergehenden intermedialen Kompetenzen des Theaters im Anschluss an Jürgen E. Müller als ein konzeptionelles Miteinander verschiedener medialer Konventionen zu definieren, das gerade aus der Fähigkeit des Theaters resultiert, ein Medium in ein anderes zu überführen.137 Dafür bezieht sie sich auf McLuhans Grundfrage nach den Bedingungen des Austauschs und der Übertragung, für die dieser zwischen der Medialität menschlicher Sinne und der technischer Werkzeuge unterscheidet.138 Die menschlichen Sinne bilden nach McLuhan im Gegensatz zu den technischen Apparaturen keine geschlossenen Systeme, sondern sind offene, unabgeschlossene Konfigurationen, die mittels ihres Vernunftvermögens die Kapazität besitzen, „alle unsere Sinne gegenseitig ineinander zu übersetzen“139, die also die von Müller als Bedingung gesetzte Fähigkeit der Überführung zu leisten vermögen und so in einem intermedialen Miteinander wirksam sein können. Krämer berücksichtigt diese Bedingung der auf Wahrnehmung beruhenden Transformationsleistung in ihrer Konzeption von Medialität insofern, als sie das Verhältnis von Performativität und Medialität als eines auf Aisthetisierung basierendes beschreibt: Die Bedeutung von Performativität ist in einer zeitgenössisch interessanten und anschließbaren Weise gar nicht ohne einen Bezug auf Medialität zu begreifen. [...] Erst die dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit dem Performativen im Namen der Schrift einerseits und die kultur- und kunstwissenschaftliche Wiederentdeckung des Performativen andererseits hat das Nachdenken über Performativität bis zu jener Schwelle geführt, von der her Zusammenhänge zwischen Medien und Performanz hervortreten können. [...] Das Schwellenphänomen, um das es hier geht, ist der Sachverhalt der Aisthesis, verstanden als der bipolar strukturierte Vollzug eines Ereignisses und seiner Wahrnehmung, das auf ein (symbolisches) Ausdrucksgeschehen gerade nicht reduzierbar ist. [...] Dabei geht in den Begriff der ‚Aisthetisierung‘ ein, dass es sich im Wech136 Röttger, Kati (2003): Fremdheit und Spektakel. Theater als Medium des Sehens. Habilitationsschrift Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Manuskriptfassung): 175. 137 Jürgen E. Müller geht davon aus, dass „ein mediales Produkt dann intermedial [wird], wenn es das multimediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen.“ (Vgl. Müller (1998): 31) 138 Vgl. McLuhan (1994): 6. 139 Ebd. 66

THEATER UND (NEUE) MEDIEN

selverhältnis von Ereignis und Wahrnehmung um ein ‚in Szene gesetztes‘ Geschehen handelt, welches Akteur- und Betrachterrollen einschließt.140

Konstitutiv für das von Krämer hier skizzierte Verhältnis von Medialität und Performativität ist nämlich gerade das Moment der Wahrnehmung dieser medialen Performanz, das als duales Wechselspiel zwischen einem Ereignis und seiner Wahrnehmung die Konstitutionsfunktion eben nicht nur auf der Produktionsebene, sondern gleichermaßen auch beim Rezipienten lokalisiert. Aufgrund ihres Aisthetisierungspotentials phänomenalisieren Medien, machen also die Dinge wahrnehmbar, und im Akt der Wahrnehmung wiederum partizipiert auch der Rezipient aktiv am Moment dieser Inszenierung. Damit wird es möglich, Medialität in Krämers Verständnis auch direkt auf das Theater zu beziehen. Wenn man Theater als einen Ort betrachtet, der durch einen sowohl phänomenalisierenden als auch konstituierenden Darstellungsakt im Spannungsverhältnis von Repräsentation und Performanz gekennzeichnet ist, und sich diese Darstellung mittels Medien und vor den Augen des Publikums vollzieht, die Zuschauer also nicht nur passive Rezipienten bleiben, sondern aktiv an dieser medialen Übertragung und Verkörperung, die immer im Sinne einer performativ vollzogenen Inkorporation gedacht wird, teilnehmen, dann scheint es nicht nur möglich, Krämers Verständnis von Medien und Medialität auf das Theater zu übertragen, sondern es wird offensichtlich, dass das Theater als kulturelle Praxis geradezu exemplarisch das vollzieht, was Krämers Medienbegriff theoretisch zu fassen versucht.

140 Krämer (2004a): 13f. (Hervorhebung im Original). 67

TECHNIK MEDIENGEBRAUCH

VS.

KULTUR –

A L S K UL T U R E L L E

PRAXIS

[L]’histoire du Québec est depuis toujours une histoire d’hybridation. […] [L]’hybride déstabilise les certitudes et crée des effets de nouveauté et de dissonance. […] [Il] a le pouvoir de nous troubler et, ainsi, de nous transformer.1

Die Darstellung der theaterpraktischen wie theaterwissenschaftlichen Eckpunkte der Diskussion um den Einsatz neuer Medien im Theater hat sowohl offensichtlich gemacht, wie sehr öffentliche Rezeption und fachliche Auseinandersetzung zum Thema Theater und (Medien-)Technik auseinandergehen, als sie auch gezeigt hat, dass die Kontroverse über die Möglichkeiten und die Potentiale der Mediennutzung im Theater und die Auffassung von Theater als Medium weit in eine grundsätzliche medientheoretische Reflexion über den Umgang mit und das Verständnis von Medien hineinreichen. Dementsprechend skizzieren die medienwissenschaftlichen Teilkapitel ein Verständnis des Medialen, das die zentralen Fragestellungen und Diskussionspunkte in kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive aufgreift und so nachweist, wie sehr Technikund Kulturdiskurse miteinander verwoben sind und dass das Theater aufgrund seiner besonderen Ontologie zu einem interessanten Kristallisationspunkt dieser Interaktion werden kann. Die kulturwissenschaftliche Perspektivierung der hier skizzierten medienwissenschaftlichen Ansätze liefert gleichwohl für die zentrale Fragestellung der Studie, nämlich dem Zusammenhang zwischen der medialen Hybridität von Theaterprodukten und dem Produktionsort Québec, noch keine hinreichenden Erklärungsansätze. Das vorliegende Kapitel verknüpft daher kultursoziologische und medientheoretische Erklärungsmodelle, die den Zusammenhang zwischen der kulturellen Hybridität der kanadischen Provinz und ihren medial-hybriden Theaterprodukten plausibel machen und darüber hinaus den Umgang mit Technik nicht mehr nur in Opposition zu kulturellen 1

Simon (1999): 56; 27. 69

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Produkten wie Kunst oder Literatur beschreiben, sondern den Gebrauch von Medien (bzw. Medientechniken) als eine kulturelle Praxis auffassen, die kein ausschließlich québecspezifisches Phänomen darstellt, aber die Kulturproduktion in der frankokanadische Provinz in besonderer Weise prägt. Dazu werden zunächst die besonderen Bedingungen des Kulturraums Québec sowie die Entwicklung der québecer Theaterlandschaft präsentiert, bevor im Folgenden das Kapitel ‚Québec als kulturelles Feld‘ versucht, die soziokulturellen Dispositionen der Provinz auf die Feldtheorie Pierre Bourdieus zu übertragen und diese für eine kulturwissenschaftliche Perspektivierung innerhalb der Medienwissenschaft fruchtbar zu machen. Das daran anschließende Kapitel skizziert mit Rückgriff auf einen performativen Kulturbegriff ein Verständnis von Medien, das den Umgang mit Medientechniken als Kulturtechniken begreift und somit auch deren Wahrnehmung als ein kulturell codiertes Phänomen beschreibt.

K u l tu r r a u m Q u é b e c Die frankophone kanadische Provinz Québec ist geprägt von ihrer Geschichte und ihrer topographischen Lage innerhalb des nordamerikanischen Kontinents und den daraus resultierenden historischen und aktuellen Bedingungen für ihr kulturell-identitäres Selbstverständnis. Sie gilt als das Europa Nordamerikas und zeugt wie vielleicht kein anderer Ort des nordamerikanischen Kontinents intensiv von seinen europäischen Wurzeln, und das nicht nur aufgrund der Bilingualität der Provinz und dem Nebeneinander der anglophonen und frankophonen Bevölkerung, sondern auch aufgrund der zahlreichen französischen und britischen Spuren, die sich in den alltäglichen Lebensgewohnheiten, aber auch in der Architektur, der Kunst und der Literatur – kurz: in allen kulturellen Produkten der Provinz – manifestieren. Gleichzeitig ist Québec gerade in den letzten Jahrzehnten zu einem kulturellen Meltingpot geworden, der Migrationsethnien aus der ganzen Welt vereint. Diese soziodemographische Realität ist aber keineswegs ausschließlich das Ergebnis fortschreitender Globalisierung, sondern die Geschichte des heutigen Québecs war seit jeher, wie Sherry Simon konstatiert, eine „Geschichte der Hybridisierung“2, und das gesamte östliche Territorium Kanadas kann als ein Gebiet beschrieben werden, auf dem

2

Ebd.: 56. 70

TECHNIK VS. KULTUR

Zeit seiner Geschichte die verschiedensten Völker und Kulturen aufeinander trafen.3 Diese Geschichte der kulturellen Vermischung beginnt im 16. Jahrhundert mit der Inbesitznahme der Gebiete am Sankt-Lorenz-Strom durch Frankreich und setzt sich knapp hundert Jahre später mit der Niederlage Frankreichs gegenüber England und dem Verkauf des französischen Besitzes Kanadas an die britische Krone fort. Durch diesen Machtwechsel nach der für die québecer Geschichte schicksalsträchtigen Schlacht auf den Plaines d’Abraham wird für die in Kanada ansässig gewordenen Franzosen die Verbindung zum Mutterland mit einem Federstrich zerstört. Die französischen Siedler fühlen sich verraten und es entsteht ein Gefühl der Isolation, das bis weit ins 20. Jahrhundert das identitäre Selbstverständnis der Québecer prägt. Unter der britischen Kolonialverwaltung wird der Einfluss der frankophonen Minderheit stark eingeschränkt, viele der französischen Siedler wandern in die USA aus und die verbliebene frankophone Bevölkerung wird fast vollständig in ländliche Gebiete zurückgedrängt. Wirtschaft, Handel und Kultur werden von den neuen Kolonialherren dominiert und das Überleben der französischen Sprache und Kultur ist über lange Jahre hinaus vor allem dem katholischen Klerus zu verdanken.4 Der Religionsunterschied und das oft geringe Bildungsniveau der frankophonen Landbevölkerung verhindern konsequent eine Vermischung der anglophonen und frankophonen Bewohner Kanadas und die durch die englische Inbesitznahme erfolgte Umstrukturierung der einstigen französischen Kolonie beeinflusst bis weit ins 20. Jahrhundert die kulturelle und wirtschaftliche Situation sowie die demographische Verteilung Québecs. Aus den einstigen Eroberern Kanadas sind durch die Machtübernahme der britischen Krone selbst Kolonisierte geworden, die sich fortan gegen die Assimilationsbestrebungen der anglophonen Machthaber wehren und für die Bewahrung ihrer kulturellen, religiösen und sprachlichen Identität kämpfen müssen. Zwar gewährt die britische Kolonialverwaltung der frankophonen Minderheit gewisse Rechte, aber das identitäre Selbstbewusstsein der Frankophonen leidet unter der Dominanz der neuen Herrscher und führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen Selbstverteidigung und Selbst3

4

Zur historischen Entwicklung der Provinz Québec vgl. Durand, Marc (1999): Histoire du Québec. Paris: Editions Imago; Kolboom, Ingo (1998): „Le Québec: lignes de force et enjeux majeurs.“ In: Ders./Lieber, Maria/Reides, Edward (Hg.): Le Québec: Société et cultures: Les enjeux identitaires d’une Francophonie lointaine. Dresden: University Press, 13-26 sowie Tétu de Labsade, Françoise (1997): Le Québec: un pays, une culture. Montréal: Boréal, bes. 39-81. Vgl. Tétu de Labsade (1997): 159-175, bes. 166f. 71

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

abwertung. Das Festhalten an der französischen Sprache als bedeutendstem identitärem Faktor und die Hinnahme der ökonomischen Benachteiligung sind die entscheidenden Charakteristika der frankophonen québecer Gesellschaft, die sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bewahren.5 Erst mit der politischen Machtübernahme der Liberalen um Jean Lesage und René Levesque zu Beginn der 1960er Jahre setzt in Québec eine Autonomiebewegung ein, die das Startsignal für tiefgreifende Veränderungen im gesellschaftlichen Leben ist. Die Ziele dieses neuen Nationalismus der révolution tranquille sind dabei nicht als eine ausschließlich frankokanadische, sondern zunehmend als eine québecspezifische Bewegung zu verstehen, die zu einem Konfliktverhältnis zwischen einer bewussten Abgrenzung vom einstigen Mutterland Frankreich einerseits und der Bewahrung europäischer Traditionen gegenüber dem überwältigenden Einfluss der nordamerikanischen Massenkultur andererseits führt. Seinen Ausdruck findet das Bewusstwerden einer eigenen québecer Identität in einer radikalen Sprachpolitik, die mit der Loi 101 das Französische zur offiziellen Amtssprache Québecs macht,6 aber auch in der Thematisierung der eigenen Geschichte und der aktuellen Situation in Literatur, Theater und Kunstproduktion.7 Das identitäre Selbstverständnis Québecs situiert sich heute bewusst an einem Ort zwischen den Kulturen, auf einer Grenze zwischen Amerika und Europa, der sowohl europäische als auch nordamerikanische Charakteristika trägt und seit den 1960er Jahren im Zuge erhöhter Migration auch für Einflüsse fremder Kulturen offen ist. Im Zuge dieser soziokulturellen Verschiebungen wird der Kulturraum Québec auch im Kontext postkolonialer Begrifflichkeiten thematisiert und im Sinne Homi Bhabas als ein Ort des Dazwischen, als ‚third space‘ beschrieben.8 Dabei erhält der Terminus der Hybridität, der es erlaubt, ursprüngliche Konfliktlinien im Sinne einer produktiven Differenz zusammenzuführen, eine deskriptive Funktion, die im Kontext der Analyse sozio-demographischer Reali-

5

6 7 8

Zur linguistischen Situation und der für die ‚identité québécoise‘ bedeutenden Sprachpolitik Québecs vgl. Bollé, Annegret (1990): „Frankophonie IV. Regionale Varietäten außerhalb Europas. I. a) Kanada.“ In: Lexikon der romanistischen Linguistik (LRL) V, 1: 740-754. Vgl. Tétu de Labsade (1997): 83-110. Vgl. Point-Humbert, Catherine (1998): Littérature du Québec. Paris: Nathan. Vgl. Bachmann-Medick, Doris (1999): „1+1=3? Interkulturelle Beziehungen als ‚dritter Raum‘.“ In: Weimarer Beiträge 4, 518-531; Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg; Simon (1999): bes. 27-29. 72

TECHNIK VS. KULTUR

täten und in Bezug auf Identitätskonzepte und künstlerische Praktiken zur Anwendung kommt. L’hybridité culturelle rend compte de faits qui marquent le moment présent: elle décrit des réalités socio-démographiques, des identités, des pratiques artistiques. En cela elle remplit une fonction descriptive. Mais il s’agit aussi d’une valeur positive. Pourquoi? Parce qu’en imposant un défi aux catégories pleines et pures, l’hybride déstabilise les certitudes et crée des effets de nouveauté et de dissonance. L’hybridité produit un choc, nous étonne et oblige à replacer nos repères. Elle a le pouvoir de nous troubler, et ainsi, de nous transformer.9

Fragt man nach der Art und Weise der künstlerischen und kulturellen Manifestationen dieser Hybridität, so zeugen die literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen aus dem Bereich der Frankophoniestudien von einer in erster Linie inhaltlichen Umsetzung des québecer Identitätskonzepts.10 Literatur und Theater thematisieren die Bewusstwerdung einer ‚identité québécoise’ mittels der expliziten Verwendung des québecer Dialekts Joual als Bühnensprache oder der Reflexion über die Begegnung und den fruchtbaren Austausch zwischen Eigenem und Fremdem.11 Demgegenüber versucht die vorliegende Arbeit entsprechend ihrer Ausgangsthese, nach der die medial-hybride Ästhetik der zu analysierenden Inszenierungen ebenfalls im Zusammenhang zur kulturellen Situation ihres Produktionsorts zu sehen wäre, die Entwicklungsgeschichte des québecer Theaters auch auf formaler Ebene als eine Geschichte der Hybridisierung zu lesen. Ziel ist es dabei, plausibel zu machen, dass sich die historische Entwicklung der frankokanadischen Provinz nicht nur auf inhaltlicher Ebene in seiner Kulturproduktion spiegelt, sondern dass das europäische Erbe einerseits und die Nähe zum nordamerikanischen Kulturraum andererseits auch in formal-ästhetischer Hinsicht einen Ort des Dazwischen ermöglichen, der das québecer Theater aus seiner postkolonialen Nische heraustreten und die junge québecer Theaterszene zu einem fruchtbaren Laboratorium eines Theaters im Medienzeitalter werden lässt.

9 Simon (1999): 27. 10 Einen exemplarischen Überblick liefert hierzu der Sammelband von Dion, Robert (Hg.) (2002): Le Québec et l’ailleurs. Bayreuther Frankophoniestudien/Études francophones de Bayreuth. Bremen: Palabres Editions. 11 Vgl. dazu ausführlicher das folgende Teilkapitel. 73

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Das québecer Theater – e i n e G e sc h i c h t e d e r H yb r i d i s i e r u n g Das Theater hat in literarischer sowie ästhetischer Hinsicht erst sehr spät einen bedeutenden Platz im Feld der kulturellen Produktion Québecs eingenommen,12 und in der Tat zeugt die Mehrheit der wissenschaftlichen Untersuchungen zum québecer Theater davon, dass seine Wahrnehmung als eigenständiges Genre und als Kunstform erst in dem Moment einsetzt, in dem es besonders im Bereich der dramatischen Produktion die sozio-politische Situation der Provinz reflektiert und die Bühne zum Verhandlungsort einer eigenständigen québecer Identität wird.13 Das québecer Theater ist – plakativ formuliert – das Theater Michel Tremblays, Marcel Dubés oder Jean Barbeaus, die mit der Verwendung des Jouals als Bühnensprache die politische Machtlosigkeit, die kulturelle Entfremdung und die sprachliche Armut der québecer Arbeiterklasse zum Gegenstand ihrer Stücke machen. Zeitgleich mit der Entwicklung einer autochthonen Dramatik rücken auch formal-praktische Tendenzen wie das Experimental- und Improvisationstheater sowie zahlreiche Kollektivtheatertruppen der jungen québecer Theaterszene in den Fokus der wissenschaftlichen Wahrnehmung. Diese Theaterformen bilden neben dem literarischen Theater das zweite Charakteristikum der zeitgenössischen québecer Theaterpraxis und in der Verschränkung dieser formalen, ästhetischen und inhaltlichen Phänomene werden beispielsweise die frühen Theaterproduktionen von Robert Lepage oder Gilles Maheu be-

12 Der Begriff des kulturellen Felds wird hier in Anlehnung an die literatursoziologische Feldtheorie Pierre Bourdieus verwendet. Vgl. dazu Bourdieu, Pierre (1992): Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris: Editions du Seuil und ausführlicher das folgende Teilkapitel. 13 Vgl. dazu folgende Aufsätze und Monographien: Bednarski, Betty/Oore, Irène (Hg.) (1997): Nouveaux regards sur le théâtre québécois. Montréal: XYZ; Corzani, Jack/Hoffmann, Léon-François/Piccione, Marie-Lyne (1998): Littératures francophones. II. Les Amériques (Haïti, Antilles-Guyane, Québec). Paris: Bélin; Engelbertz, Monique (1989): Le théâtre québécois de 1965 à 1980: un théâtre politique. Tübingen: Niemeyer; GasquyResch, Yannick (Hg.) (1994): Littérature du Québec. Vanves: EDICEF; Usmiani, Renate (1985): „The Alternate Theatre Movement.“ In: Wagner, Anton (Hg.): Contemporary Canadian Theatre. Toronto: Simon and Pierre, 49-59; Vaïs, Michel (1985): „Québec.“ In: Wagner, Anton (Hg.): Contemporary Canadian Theatre. Toronto: Simon and Pierre, 118-127; Wagner, Anton (Hg.) (1985): Contemporary Canadian Theatre. Toronto: Simon and Pierre. 74

TECHNIK VS. KULTUR

schrieben.14 Dabei wird zwar in Bezug auf die jeweilige Arbeitspraxis der einzelnen Theatermacher deren Ausbildungsjahren bei europäischen Theaterkünstlern und -theoretikern Rechnung getragen, das Verhältnis zwischen der kulturellen Situation der frankophonen Provinz und deren Auswirkung auf die Art und Weise des Theaterschaffens aber meist nur auf die inhaltliche Ebene des Theaters bezogen. So wird beispielsweise die spezifische Arbeitsweise Robert Lepages mit dessen Ausbildung im Bereich des Kollektivtheaters und seinem tiefen Bewusstsein für die soziokulturellen Spezifika seiner Heimat erklärt, die in jüngster Zeit sich immer stärker manifestierende mediale Ästhetik seines Schaffens aber nicht in einen direkten Zusammenhang zu den kulturellen Implikationen Québecs gestellt. Um genau hier eine Interdependenzbeziehung nachzuweisen, greift eine theaterhistorische Perspektive, die die Anfänge des québecer Theaters erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts situiert, aber zu kurz. Natürlich gab es auch vor der Mitte des 20. Jahrhunderts in Québec Theater und ebenso selbstverständlich klammert die literaturwissenschaftliche und theatergeschichtliche Forschung diese noch nicht genuine québecer Theaterszene nicht vollständig aus ihrer Betrachtung aus.15 Das Theater in der Zeit der englischen Kolonialisierung sowie die Gastspiele amerikanischer Truppen werden aber in der Literatur nur kurz skizziert, um in Opposition zu diesem Theater nach europäischem Vorbild bzw. den amerikanisierten Formen des Spektakeltheaters die Suche nach eigenen Ausdrucksformen und die Entstehung einer eigenen québecer Dramatik zu erläutern.16 Für die Erklärung der jüngsten ästhetischen Tendenzen des québecer Theaters scheinen aber gerade auch die frühen nordamerikanischen Einflüsse auf das Bühnengeschehen in der Provinz von Bedeutung zu sein. Die folgende Darstellung der theaterhistorischen Entwicklung zielt daher darauf ab, nicht nur den inhaltlichen Dimensionen der québecer Theatergeschichte Rechnung zu tragen, sondern besonders die formalen Aspekte der jeweiligen theatralen Manifestationen mitzureflektieren. Dabei geht es nicht so sehr um eine lückenlose Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Theaters, sondern um die Skizzierung der 14 Borello, Christine (1994): „Entretiens avec Gilles Maheu et Robert Lepage.“ In: Théâtre/Public 117, 77-86; Hunt, Nigel (1989): „The global voyage of Robert Lepage.“ In: The Drama Review (TDR): A Journal of Performance Studies 33 (2), 104-118; Lavoie, Pierre (1995): „Coup de cœur: Les Vingt Ans de Carbone 14.“ In: Cahiers de Théâtre Jeu 77, 182186. 15 Vgl. Legris, Renée (1988): Le théâtre au Québec. Québec: VLB, darin bes. 15ff. 16 Vgl. Gasquy-Resch (1994): 176f. 75

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

inhaltlichen und formalen Kernetappen, die der dieser Studie zugrundeliegenden Fragestellung dienlich ist. Die Entwicklung einer professionellen Theaterlandschaft in Québec ist tatsächlich kaum zweihundert Jahre alt und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bot die kleinbürgerliche Bevölkerung der vor allem durch Landwirtschaft geprägten Provinz kein stabiles Publikum, das zur Etablierung einer regen Kultur- und Theaterproduktion hätte beitragen können. Le théâtre québécois, dans son développement professionnel, n’a pas deux cents ans. Son histoire, à l’instar de celle du pays et de ses habitants, est récente, influencée ou dominée par des modèles forts (essentiellement américains et français), constituant un double parrainage. Province française isolée en plein territoire américain, puis parcelle francophone insérée dans le vaste Canada anglophone: la pratique artistique est liée à l’évolution de la province, les nouveautés théâtrales, les innovations étant contemporaines des mutations sociologiques.17

Die einschlägigen Publikationen zur québecer Theatergeschichte situieren den Beginn einer sich institutionalisierenden Theaterpraxis im Jahr 1825 mit der Eröffnung des Théâtre Royal in Montréal, gleichwohl gab es aber sowohl unter den französischen Kolonialherren sowie unter dem englischen Regime Theateraufführungen in der Provinz.18 Diese fanden jedoch fast ausschließlich im Kontext diplomatisch-politischer Anlässe statt, dienten der Unterhaltung von Würdenträgern der Führungselite und bestanden meist aus Stücken des klassischen europäischen Repertoires (Molière, Shakespeare) oder kanadischen Dramentexten, die dem imperialistischen Gedankengut der Kolonialisten entsprachen.

17 Fouquet, Ludovic (2002): De la boîte à l’écran – le langage scénique de Robert Lepage. Thèse universitaire Paris X, 20. 18 Vgl. ebd. sowie Gasquy-Resch (1994): 176. Die Übernahme dieses Datums für die vorliegende Studie ist insofern sinnvoll, da das Theater der Kolonialzeit nur für Mitglieder der Führungsschichten gespielt wurde, von einer breiten Rezeption durch größere Bevölkerungsschichten also nicht gesprochen werden kann. Vor der Ankunft der europäischen Kolonisatoren am Ende des 17. Jahrhunderts haben auch die indianischen Ureinwohner Kanadas kulturelle Praktiken zelebriert, die als rituelle Formen in den Bereich theaterwissenschaftlicher Betrachtung fallen können, diese finden aber keinerlei Echo in der sich entwickelnden québecer Theaterpraxis des 19. und 20. Jahrhunderts, weshalb im Kontext dieser Studie darauf nicht weiter eingegangen wird. 76

TECHNIK VS. KULTUR

The nature of theatre designed for colonial officers [...] required that the plays produced in these countries be reproductions of imperial models in style, theme and content. Various elements of ‚local colour‘ were of course included, so that an early settler play might position a native character in the same way that the nineteenth-century British theatre figured the drunken Irishman: as an outsider, someone who was in some central way ridiculous or intolerable.19

Auch fanden diese Aufführungen nicht in eigenen Theaterbauten, sondern in großen Versammlungssälen oder anderen repräsentativen Gebäuden statt. Das Theater hatte also in keiner Weise einen festen Platz im gesellschaftlichen Leben – weder in dem der europäischen Machthaber und schon gar nicht in dem der ärmlichen, frankophonen Bevölkerung – und so ist die Erbauung des Théâtre Royal ein wichtiges Ereignis für die Zukunft des québecer Theaters. Trotzdem markiert dieses Datum noch nicht die Etablierung lokaler Theaterensembles, sondern Montréal wird in den Kreislauf amerikanischer Tourneetruppen aufgenommen und profitiert so bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von den großen amerikanischen Gastspielproduktionen, die nur kurze Zeit nach ihren Premieren in New York auch in Québec gespielt werden.20 Dieses Theater ist in der Mehrheit anglophon und die Quantität frankophoner Produktionen beläuft sich auf weniger als zehn Prozent der Aufführungen in Montréal, wobei die meisten der französischsprachigen Inszenierungen lediglich aus dem Amateurbereich stammen. Ab 1898 wird dieser amerikanische Markt durch die Entstehung einiger frankophoner Spielstätten erweitert, was nicht nur als sprachliche Ergänzung des Theaterangebots, sondern auch als (kultur)politische Antwort auf die Amerikanisierung des kulturellen Felds der Provinz gesehen werden kann. Das Repertoire der anglophonen Theater wird am Ende des 19. Jahrhunderts durch amerikanische Formen des Vaudeville dominiert, das das Nummerntheater mit zahlreichen technischen und maschinellen Effekten kombiniert und damit, ähnlich wie in Europa, die Schaulust des Publikums bedient. Demgegenüber versuchen die frankophonen Theater, ein Regietheater in Anlehnung an den klassischen französischen Kanon zu etablieren, dessen Inszenierungen über den Umweg der Vereinigten Staaten und oft in der französischen Rückübersetzung der amerikanischen Fassung nach Québec kommen, wobei aufgrund der Erwartungen des Publikums aber auch hier vor allem visuell-spektakuläre Effekte im Vordergrund stehen. 19 Gilbert, Helen/Tompkins, Joanne (1996): Post-Colonial Drama: Theory, Practice, Politics. London/New York: Routledge, 8. 20 Vgl. Larrue, Jean Marc (1983): „Montréal à la Belle Epoque.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 27, 13-17. 77

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Le public québécois répond massivement à ces spectacles au réalismes vertigineux, qui le sensibilisent profondément aux effets de machinerie, aux dispositifs imposants et surtout à une approche visuelle de la scène. […] La première veine du théâtre québécois exploite donc un théâtre à gros effets, un théâtre impressionnant, dans lequel le dispositif a plus d’importance que l’interprétation des comédiens ou la qualité de la fable.21

Die ersten hundert Jahre des institutionellen québecer Theaters sind also stark vom amerikanischen Theater- und Spektakelmarkt bestimmt, und zwar in inhaltlicher wie ästhetischer Hinsicht. Erst ab 1930 ist dieses tourende Maschinentheater nicht mehr die einzige dominante Theaterform in Québec. Es entstehen langsam neue, lokale Theaterkompanien, deren künstlerisches Credo sich an den Ideen der europäischen Avantgarden orientiert und die erstmals auch die Rolle des Regisseurs und die schauspielerische Ausbildung in den Vordergrund ihrer Arbeit stellen. Ab 1950 kommt es dann parallel zu diesen institutionellen Neuerungen zur Entwicklung eines eigenen québecer Dramenrepertoires, zu dessen frühen Manifestationen vor allem Autoren wie Gratien Gélinas und Marc Dubé zählen. Schlüsselmoment in der Entwicklung einer autochthonen Dramatik ist das 1968 entstandene Stück Les Belles Sœurs von Michel Tremblay, der zum ersten Mal den montréaler Dialekt des Joual als Bühnensprache verwendet und mittels dieser gleichsam authentischen wie armen Sprache die soziale Misere der québecer Arbeiterklasse und ihre kulturelle Entfremdung thematisiert. It was at this point in the late 1960s that Quebec dramatists, long intimidated by foreign masterpieces, decided it was time to create Québécois characters. [...] By adopting the daily parlance of Montreal’s poor east-end and using it in a more conscious and aggressive manner than their elders, young Québécois writers showed [...] that the speech of the Québécois, peppered as it is with archaic French terms and mangled English, displays a vigour, truth and, indeed, a harsh, unsettling beauty.22

Die Entstehung dieses und anderer das Joual verwendender Stücke fällt genau in die Zeit der révolution tranquille und des Bewusstwerdens einer eigenen québecer Identität. Angesichts der über lange Jahre von amerikanischen und europäischen Modellen geprägten Theaterpraxis fordert die junge Theatergeneration im Zuge der jüngsten politischen und soziokulturellen Entwicklungen nun eine politische und engagierte Dramatik

21 Fouquet (2002): 24. 22 Vaïs (1985): 120. 78

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und das „Recht auf freien Ausdruck für die Joual sprechende Minderheit.“ Der Gebrauch des Jouals bedeutet, sich gegen den kulturellen Kolonialismus zur Wehr zu setzen und das Recht auf eine Sprache zu erlangen, die Ausdruck der eigenen Kultur ist. [...] Die Durchsetzungskraft dieser unvollständigen und armen Sprache liegt in ihrer Authentizität als Gegenstück zu einem sterilen ästhetischen Puritanismus der französischen Hochsprache.23

Der Wille, mit imperialistischen Kulturmodellen zu brechen, betrifft aber nicht nur die Dramentexte, sondern manifestiert sich auch in der praktisch-formalen Theaterarbeit. Neben der Verarbeitung der eigenen Geschichte und Situation auf inhaltlicher Ebene, kommt es zu einer Enthierarchisierung in den administrativen und künstlerischen Strukturen der Theater, die bisher nach europäischem Vorbild organisiert sind, zu einer grundsätzlichen Infragestellung des Literaturtheaters und im Zuge der Entstehung des Improvisationstheaters zu einer Befreiung der Bühne vom schriftlich fixierten Text. Diese Tendenzen finden ihren Ausdruck in der Gründung zahlreicher Kollektiv- und Experimentaltheatergruppen und einer Umstrukturierung der künstlerischen Ausbildung an den Konservatorien. Cette décennie de changements voit l’apparition et le développement des créations collectives, expression la plus tangible d’une société en quête d’identité – avide d’affirmations et de prises de positions collectives, autour d’une volonté forte de décolonisation culturelle‘. Miroir particulier, le théâtre reproduit alors les troubles d’une société en mutation, tout en les amplifiant. Il incarne l’évolution de la société tout en la révélant à elle-même, par le détour d’une prise de parole populaire et égalitaire.24

Charakteristisch für die Kollektivtheaterarbeit ist die Aufwertung der Rolle des Schauspielers im künstlerischen Prozess, der nicht mehr nur als Interpret agiert, sondern gleichberechtigt mit allen Beteiligten zum Kunstschaffenden wird.25 Das Aufkommen der Kollektivtheatergruppen ist in engem Zusammenhang zu dem starken Willen der Theaterszene zu sehen, sich von allen Formen kultureller Kolonisierung zu lösen, was sich in einer Distanzierung vom kanonisierten Stückrepertoire und der Entwicklung eigener Stoffe mit starker politischer Akzentsetzung manifestiert. Diese Konzeption künstlerischen Arbeitens ist in der québecer 23 Engelbertz (1989): 360. 24 Fouquet (2002): 27. 25 Hébert, Lorraine (1977): „Pour une définition de la création collective.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 6, 38-46. 79

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Theaterszene noch heute von großer Bedeutung und Robert Lepage und seine auf der méthode repère beruhende Arbeitsweise sind das vielleicht renommierteste Erbe dieser Tradition.26 Parallel zu den in den 1960er bis 1980er zahlreich existierenden Kollektivtheatern wachsen am Rande des institutionalisierten Theaters die Experimentaltheatergruppen, die weniger in der sozio-politischen Auseinandersetzung verwurzelt sind und deren Schwerpunkt in der formalen Konzeption ihrer Arbeit liegt. Zu Beginn der 1970er Jahre finden die Theorien Craigs, Meyerholds, Appias, Artauds und Brechts ihren Weg nach Québec und inspiriert von der theoretischen Auseinandersetzung mit den europäischen Avantgarden verbringen zahlreiche Theaterschaffende Studienaufenthalte in Europa. Gilles Maheu beispielsweise, künstlerischer Leiter von Les Enfants du Paradis (später Carbone 14), studiert mehrere Jahre bei Etienne Decroux und Eugenio Barba, deren Theorien eines körperbetonten Ausdruckstheaters Maheu in seine eigene Theaterästhetik integriert hat.27 Das Experimentaltheater wird oft auch als jeune théâtre bezeichnet, was den Aspekt der ästhetischen Neuerungen und des formalen Experimentierens unterstreichen soll.28 Besonders die Erfor26 Während seiner Ausbildung am Conservatoire d’Art dramatique in Québec, wo er unter anderem bei Jacques Lessard studierte, hat Robert Lepage die Arbeit im Kollektiv und die von Lessard entwickelte méthode repère kennengelernt und später unter Verwendung eigener Ansätze zu einem workin-progress-Modell weiterentwickelt. Dieses Modell konzipiert die Herangehensweise an eine neue Produktion nicht anhand einer Idee oder einer Geschichte, sondern mittels der Suche nach einem konkreten Objekt, das zum Ausgangspunkt (ressource) der gemeinsamen Arbeit und des intuitiven Sammelns von Assoziationen wird. Selbst wenn diese Methode heute nicht mehr im Zentrum der Theaterarbeit Lepages steht, haben sich einzelne Aspekte bis in die jüngsten Produktionen bewahrt und zeugen auch nach mehr als zwanzig Jahren von den Strömungen der jungen, sich gerade formierenden québecer Theaterszene. Vgl. dazu ausführlicher: Mc Alpine, Alison (1996): „Robert Lepage in Conversation.“ In: Delgado, Marie M./Heritage, Paul (Hg.): In contact with the gods? Directors Talk Theatre. Manchester: Manchester University Press, 130-157; Lefèbvre, Paul (1993): „Coïncidences et l’intuition: Entretien avec Robert Lepage.“ In: Cahiers de la NCT 6, 17-19; Roy, Irène (1993): Le Théâtre Repère: du ludique au poétique dans le théâtre de recherche. Québec: Nuit Blanche. 27 Vgl. Vigeant, Louise (2001): „Gilles Maheu et le corps fictif: trajectoire d’un mime devenu écrivain scénique.“ In: Lafon, Dominique (Hg.): Le théâtre québécois 1975-1995. Montréal: Fides, 245-263. 28 Vgl. David, Gilbert (1985): „Un théâtre en plein dérive.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 36, 16-24; Fortier, Claire (1982): La création collective dans le mouvement du jeune théâtre québécois. Montréal: Univ. de Montréal; 80

TECHNIK VS. KULTUR

schung des Theaterraums, die Szenographie und die Begegnung unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen stehen im Zentrum der Arbeiten des jeune théâtre, das ein besonderes Faible für die Materialität der Bühne, die Möglichkeiten öffentlicher Orte als Theaterräume und das multidisziplinäre Experimentieren auf der Bühne entwickelt hat.29 Die Entwicklung dieser jungen, sehr lebendigen und experimentierfreudigen Theaterszene vollzieht sich in Québec seit Beginn der 1960er Jahre in sehr kurzer Zeit und viele der kleinen Kompanien und Truppen sind auch heute noch aktiv. Auffallend ist, dass die Entstehung dieser alternativen Theaterszene im Vergleich zu Europa oder Amerika, wo im gleichen Zeitraum ähnliche künstlerische Tendenzen zu verzeichnen sind, sehr viel selbstverständlicher und schneller vor sich geht, und dass die Theater auf eine breite öffentliche Resonanz stoßen. Die sehr junge und bisher wenig eigenständige Geschichte des Theaters in der frankophonen Provinz profitiert in dieser Hinsicht von dessen mangelnder Tradition, von der „légèreté de son poids culturel face à une Europe chargée d’héritages multiples.“30 Die größten und bedeutendsten Aktivitäten der jungen Theaterszene Québecs finden in der Zeit von 1967 bis 1980 statt. Die heute renommierten Theatermacher wie beispielsweise Robert Lepage oder Denis Marleau finden also im Moment der Beendigung ihrer Ausbildung am Konservatorium eine vielschichtige, innovative und inzwischen etablierte Theaterlandschaft vor, die in formal-ästhetischer wie inhaltlicher Perspektive einen eigenen Weg gefunden hat. Das Experimentaltheater ist in seiner größten Blüte, und obwohl die Kollektivtheatertruppen weniger werden, verschwinden sie nicht wie beispielsweise in Europa fast wieder vollständig aus der Theaterszene, sondern strukturieren ihre Methodik dahingehend um, dass die kollektive Arbeit fortan unter der Regie eines Initiators abläuft und dadurch die Effizienz der gemeinschaftlichen Produktionen optimiert wird.31 Das Aufkommen des

Hébert, Lorraine (1985): „Sauve qui peut le théâtre. Itinéraire d’un théâtre populaire.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 36, 25-31. 29 Experimentaltheatergruppen sind beispielsweise die Kompanie Omnibus, die Gruppe L’Eskabel, Maheus Les Enfants du Paradis, die sich ab 1980 Carbone 14 nennen, das Nouveau Théatre Experimental, die Truppe La Veillée, das Theâtre Hummm oder das ab 1987 von Robert Lepage mitgeleitete Théâtre Repère. Vgl. dazu ausführlicher Fouquet (2002): 30-37 und Larrue, Jean-Marc (2001): „La création collective au Québec.“ In: Lafon, Dominique (Hg.): Le théâtre québécois 1975-1995. Montréal: Fides, 151177, bes. 153-166. 30 Fouquet (2002): 27. 31 In die Zeit nach dieser Umstrukturierung fallen auch die Produktionen Lepages mit dem Théâtre Repère und später der Kompanie ExMachina sowie 81

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Bildertheaters mit Inszenierungen wie denen Lepages oder den späten Produktionen Gilles Maheus markieren nach 1980 und dem Scheitern des ersten Referendums für eine politische Unabhängigkeit der Provinz Québec auf der Seite des Theaters eine Abkehr von nationalen und identitären Bestrebungen hin zu einer Fortsetzung der formalen Exploration der Bühne. Le jeune théâtre a de moins en moins le cœur militant [...]. Dans les années soixante-dix, plusieurs ont cru changer le monde; depuis quelques temps, c’est plutôt le théâtre qu’on veut changer.32

In Bezug auf seine Geschichte scheint das Theater inzwischen eine gewisse Reife und ein stabiles Selbstbewusstsein erlangt zu haben und setzt die Suche nach einer eigenen québecer (Theater)Identität nun auf formaler Ebene fort. Die politische und identitäre Auseinandersetzung findet jetzt vor allem im Theater der Migranten ihren Verhandlungsort;33 die einheimischen Künstler dagegen thematisieren die Besonderheiten der québecer Geschichte und Kultur inzwischen weniger kämpferisch, dafür aber künstlerisch elaborierter mittels formaler Strategien in einem sich immer weiter ästhetisierenden Bildertheater.34 Seit Mitte der 1980er Jahdie Arbeiten der einstigen Weggefährtin Lepages, Marie Brassard. Der Kollektivgedanke bezieht sich bei diesen Künstlern nicht nur auf die an einer Produktion beteiligten Schauspieler, sondern umfasst auch die gesamte technische Mannschaft und ist vor allem bei Theatergruppen, die mit multimedialen Darstellungsweisen arbeiten, von großer Bedeutung. 32 Gilbert David zitiert nach Usmiani (1985): 58. 33 Vgl. Lazaridès, Alexandre (1994): „Ecritures de l’exil.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 72, 53-62; L’Hérault, Pierre (1997): „L’espace immigrant et l’espace amérindien dans le théâtre québécois depuis 1977.“ In: Bednarski, Betty/Oore, Irène (Hg.) (1997): Nouveaux regards sur le théâtre québécois. Montréal: XYZ, 151-168; Vaïs, Michel/Wickham, Philip (1994): „Le brassage des cultures: table ronde.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 72, 8-38. 34 Das beste Beispiel für eine solche Akzentverschiebung ist die Entwicklung der Theaterarbeit von Robert Lepage. Obwohl seine Geschichten immer wieder von einem québecer Künstler auf der Suche nach einem künstlerischen und identitären Selbstbewusstsein handeln, tritt der politische Gehalt im Laufe der Zeit zurück und lässt Platz für eine metatheatrale Reflexion über die Möglichkeiten des Theaters in einer immer mehr von elektronischen Medien beherrschten Welt. Diese Verlagerung vollzieht sich mittels der Enthierarchisierung von Sprache auch als politischem Mittel im Theater und der Aufwertung der visuellen Theaterzeichen im Sinne einer transnationalen Kommunizierbarkeit seiner Stücke. Während über Sprache zunächst auch die kulturelle Fremdheit der Québecer thematisiert wurde, ge82

TECHNIK VS. KULTUR

re werden diese formalen Tendenzen immer mehr auch durch die Begegnung unterschiedlicher Kunstformen und medialer Darstellungsweisen im Theater ergänzt. Dabei zeigt sich, dass im Vergleich zu Europa der Umgang mit den anderen Künsten und mit neuen Medien sehr viel produktiver, offener und neugieriger vonstatten geht und dass sich die Künstler des großen Potentials dieser fremdmedialen Darstellungsformen für ihr Theater bewusst sind. La vie artistique québécoise est ainsi marqué par un goût prononcé pour les rencontres artistiques [...]. Le métissage existe non seulement dans une rencontre préexistant au spectacle, mais devient aussi le fruit, l’enjeu même de ce qui est donné à voir en spectacle.35

Die québecer Theatergeschichte und ihre Suche nach einer eigenen Identität erweist sich also als ein Spiegel der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Provinz. Noch heute zeigen sich im Selbstverständnis zahlreicher Kompanien und in vielen Kreationen die Spuren dieser Geschichte, die als eine Hybridisierung der europäischen und amerikanischen Einflüsse beschrieben werden kann und die nicht nur auf inhaltlicher, kulturdiskursiver Seite, sondern auch in ästhetischer Hinsicht als eine Form des Dazwischen, als etwas Drittes bezeichnet werden kann. Aus der Verschränkung der unterschiedlichen Einflüsse aus der alten wie neuen Welt bewahren sich im Bereich des Spektakulären die Spuren der lingt durch ein Zurücktreten der Bedeutung sprachlicher Zeichen zugunsten der visuellen schließlich die Reflexion über die medialen Bedingungen von Wahrnehmung überhaupt. Ludovic Fouquet beschreibt die Parallelen und Bezugspunkte der québecer Theatergeschichte und der Theaterarbeit Robert Lepages wie folgt: „Lepage émerge en même temps que ces bouleversements qu’il traverse, dont il se nourrit et auquel il adhère. A bien des égards, il se pose en héritier de ces trois aspects et étapes du théâtre québécois: exploitant le spectaculaire, le collectif et l’expérimental, dans une pratique qui repense les notions mêmes tout en s’inspirant. Ce sont bien les modèles historiques qui serviront de base au spectaculaire lepagien, c’est dans le souvenir des expériences collectives qu’il établira sa propre pratique collective et c’est dans une droite filiation des pratiques expérimentales québécoises qu’il inscrit ses recherches. Le thème politique dans ce théâtre s’inscrit dans une dynamique historique. En cela, Lepage est bien un créateur québécois. De nombreuses références et expériences viendront cependant élargir son champ d’investigations, multipliant, troublant les influences et les héritages.“ (Fouquet (2002): 43.) Zur Entwicklung der Ästhetik Robert Lepages vgl. ausführlicher das Kapitel ‚Robert Lepage – „le medium sera le message“‘. 35 Fouquet (2002): 41. 83

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Amerikanisierung des québecer Theaters aus den ersten hundert Jahren seiner Geschichte sowie die Auseinandersetzung mit den Theorien der europäischen Avantgarden aus dem zweiten Teil seiner Geschichte.36 Dieses doppelte Erbe favorisiert ein Theater jenseits der dramatischen Literatur, jenseits der klassischen europäischen Kanones mit einem starken Akzent auf der Erforschung der Bühne als Spiel- und als Schauraum, der offen ist für die Begegnung unterschiedlichster Künste und Ausdrucksmittel. Aus der vormals konfliktuellen und identitär zerrissenen Situation der einstigen europäischen Kolonie ist nun ein kultureller Raum entstanden, der seine Hybridität produktiv nutzt und so zu einem der interessantesten Orte einer neuen Theaterkunst wird.

Québec als kulturelles Feld In der Entwicklung des québecer Theaters seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, wie sie im voranstehenden Kapitel skizziert wurde, lassen sich eine Reihe von Merkmalen herausarbeiten, die als direkte künstlerische Antwort auf den gesellschaftlichen Aufschwung der révolution tranquille gelesen werden können. Im Zuge der Bewusstwerdung einer eigenen québecer Identität thematisiert die dramatische ebenso wie die Erzählliteratur die Geschichte der frankophonen Provinz, die Misere der katholischen Landbevölkerung und die kulturelle Entfremdung einer Gesellschaft, die zerrissen ist zwischen den europäischen Wurzeln einerseits und der kulturellen wie sprachlichen Dominanz des sie umgebenden anglophonen Kulturraums andererseits. Diese prise de parole manifestiert sich sowohl auf inhaltlicher Ebene, als sie auch im Bereich des Theaters durch die Verwendung des québecer Dialekts Joual als Bühnensprache ihren Ausdruck findet. Daneben kann die formal-ästhetische Entwicklung des Theaters als eine Ablehnung des klassischen europäischen bzw. französischen Modells beschrieben werden, die sich in einer verstärkt experimentellen Ausrichtung der Theaterarbeit äußert. Die québecer Theaterkünstler der Generation des jeune théâtre reagieren sensibel auf 36 Davon zeugen neben der Theaterarbeit Robert Lepages beispielsweise die ästhetischen Konzeptionen Denis Marleaus und des Théâtre UBU sowie der Truppe Carbone 14 unter der Leitung von Gilles Maheu, wie sie im zweiten Teil dieser Studie beschrieben werden, aber auch die Inszenierungen der in Kanada lebenden Französin Brigitte Haentjens oder die unterschiedlichsten Produktionen junger québecer Theaterkünstler in der Usine C in Montréal, einem eigens für pluridisziplinäre Kreationen geschaffenen Kulturzentrum. Vgl. dazu auch (200610-31). 84

TECHNIK VS. KULTUR

die theoretische Reflexion der europäischen Avantgarden und nehmen deren Ansätze in ihre eigene Herangehensweise auf. Aufgrund der sehr jungen Tradition des eigenen Theaters und der Abwehrhaltung gegenüber einem kanonisierten Literaturtheater nach französischem Vorbild fallen diese ästhetischen Tendenzen auf einen sehr fruchtbaren Boden und werden, anders als in Europa, unmittelbar und dauerhaft in die breite Theaterpraxis integriert. Gleichzeitig können auch die ästhetischen Konventionen des amerikanischen Spektakeltheaters, das die ersten hundert Jahre der Theaterpraxis in Québec prägte, für die Erklärung der visuellen Tendenzen in der neuen Ästhetik des jeune théâtre dienen. Während das Maschinentheater nach amerikanischem Vorbild in Europa nur eine kurze Hochzeit erlebte und dabei immer mit dem kulturell höherrangigen Literaturtheater rivalisieren musste, war und ist der kulturelle Wert des kanonisierten Dramentheaters in Kanada und in Nordamerika sehr viel geringer und selbst heute erfahren solche Sensationsinszenierungen noch großen Zuspruch. So charakterisiert sich auch das québecer Theater der 1970er und 1980er Jahre durch eine Privilegierung der visuellen und körperlichen Ausdrucksmittel und eine Enthierarchisierung des Texts. Diese ästhetischen Tendenzen sind zwar in erster Linie im Zusammenhang mit den Theaterkonzepten der europäischen Avantgarden zu sehen, trotzdem ist gerade der Hang zum Spektakulären und zu visuellen Effekten in vielen Inszenierungen nicht von der Hand zu weisen und prägt bis heute die Bühnenästhetik zahlreicher québecer Regisseure: Le théâtre québécois offre la particularité de laisser encore visible, dans nombre de ses productions, les ‚traces de paternité‘: aux confluences du spectaculaire américain du début du siècle et des théories européennes, puis de mouvements contestataires des deux sphères. Le schéma le plus courant de partage des influences attribue aux Etats-Unis la dimension pratique et à l’Europe, auréolée par des siècles de cultures, la part théorique.37

Diese formale Entwicklung setzt sich seit der Mitte der 1980er Jahre mit der vermehrten Integration medial-technischer Darstellungsformen und der Erforschung einer intermedialen Theaterästhetik fort. Es scheint also, dass die relativ kurze Theatergeschichte und das damit verbundene Fehlen eines historischen Erbes sowie die Entstehung der institutionalisierten Theaterszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck des amerikanischen Maschinentheaters einerseits und der Theorien der europäischen Avantgarden andererseits diese formale Entwicklung mitbeeinflusst haben. 37 Fouquet (2002): 42. 85

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Während die Thematisierung der kulturellen Hybridität der québecer Gesellschaft in der Prosa- und Dramenliteratur in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis zu den soziokulturellen Gegebenheiten der frankophonen Provinz steht,38 lässt sich die medial-hybride Ästhetik einer Vielzahl von Theaterkünstlern aber nur ansatzweise durch die kulturelle Situation Québecs beschreiben. Zwar scheinen die genannten Entwicklungsschritte des québecer Theaters bestimmte ästhetische Tendenzen zumindest temporär favorisiert zu haben, um die mediale Hybridität in einen direkten Zusammenhang zur kulturellen Hybridität des Kulturraums zu stellen, bedarf es allerdings einer genaueren Untersuchung der Bedingungen kultureller Produktion überhaupt. Einen differenzierten Ansatz der Kulturbetrachtung, der Kunstwerke weder als allein singulären Ausdruck eines schöpferischen Individuums, noch als unmittelbare Wiederspiegelung einer gegebenen soziokulturellen Situation erfasst, sondern den zahlreichen Vermittlungsebenen zwischen Gesellschaft und Kulturproduktion Rechnung trägt, liefert die Theorie des literarischen Feldes des französischen Soziologen Pierre Bourdieu.39 Was Bourdieu für den kulturellen Teilbereich der Literatur beschreibt, kann, wie er zu Beginn seiner Theorie ergänzt, auf andere Kunstsparten übertragen und somit für den gesamten Bereich kultureller Produktion geltend gemacht werden.40 Bourdieu versteht Gesellschaft als einen sozialen Raum, der sich aus relativ autonomen, eigengesetzlich organisierten Feldern zusammensetzt, die ihrerseits eine dem Gesamtgefüge analoge Struktur aufweisen.41 Jedes dieser Felder strukturiert sich allerdings trotz der relativen Autonomie seiner internen Organisation in Abhängigkeit zu einem übergeordneten gesellschaftlichen Machtgefüge.

38 Vgl. Bernd, Zilà (1999): „Identités composites: Écritures hybrides.“ In: Andrès, Bernard/Bernd, Zilà (Hg.): L’identitaire et le littéraire dans les Amériques. Montréal: Les Editions Nota Bene, 17-29; Engelbertz (1989); Gasquy-Resch (1994); Sauer, Melanie (1995): Der Aufbruch des frankokanadischen Dramas im Umfeld der ‚révolution tranquille‘ in den 60er Jahren am Beispiel der Autoren Michel Tremblay, Anne Hébert, Marcel Dubé und Graten Gélinas. Frankfurt a. M.: Peter Lang. 39 Vgl. dazu folgende Schriften: Bourdieu (1992); ders. (1993): The field of cultural production. Essays on art and literature. Cambridge: Polity Press; ders. (1997): „Das literarische Feld.“ In: Pinto, Louis/Schultheis, Frank (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz: UKV, 33-147; Jurt, Joseph (1995): Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 40 Vgl. Bourdieu (1992): 299. 41 Vgl. Jurt (1995): 77. 86

TECHNIK VS. KULTUR

In fact, the invention of the writer, in the modern sense of the term, is inseparable from the progressive invention of a particular social game, which I term the literary field and which is constituted as it established its autonomy, that is to say, its specific laws of functioning, within the field of power.42

Das Funktionieren des Bereichs der kulturellen Produktion, der eines der Teilsysteme des Sozialen bildet, sieht Bordieu als „ein Zusammenwirken von Dispositionen, Akteuren und strukturellen Vorgaben eines Feldes“43, dessen innere Gesetzmäßigkeiten nicht autonom bestimmt sind, sondern in einem Interdependenzverhältnis zum Feld der Macht stehen. Die wissenschaftliche Betrachtung von Kunst- und Kulturprodukten darf sich somit nicht allein auf den ästhetischen Aspekt der Werke konzentrieren, sondern muss ihrer Funktion und Stellung innerhalb eines gegeben sozialen Systems Rechnung tragen. Nombre de pratiques et de représentations des artistes […] ne se laissent expliquer que par référence au champ du pouvoir, à l’intérieur duquel le champ littéraire occupe lui-même une position dominée. Le champ du pouvoir est l’espace des rapports de force entre des agents ou des institutions ayant en commun de posséder le capital nécessaire pour occuper des positions dominantes dans les différents champs.44

Die Kulturprodukte eines Feldes sind somit nicht autonom, sondern grundsätzlich heteronom bestimmt, wobei der Grad ihrer Autonomie bzw. Heteronomie gegenüber den feldexternen Instanzen variieren kann. Joseph Jurt hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die jeweilige Stellung und Bewertung der einzelnen Künstler und ihrer Werke nicht nur durch das übergeordnete Feld der Macht, sondern auch durch Kämpfe innerhalb des Feldes der kulturellen Produktion bestimmt werden. Die Felder der Kulturproduktion sind also fortwährend Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen zwei Hierarchisierungsprinzipien: dem heteronomen Prinzip, das diejenigen begünstigt, die das Feld ökonomisch und politisch beherrschen und eine ‚bürgerliche Kunst‘ vertreten, und dem autonomen Prinzip, das diejenigen Künstler favorisiert, die im Sinne des l’art-pour-l’art-Prinzips keinerlei Zugeständnisse an die ökonomische Rentabilität ihrer Kunst oder den Publikumsgeschmack machen.45 Das Ausmaß an Autonomie, das in einem Feld der kulturellen Produktion jeweils herrscht, zeigt sich in dem Ausmaß, in dem das Prinzip externer

42 43 44 45

Bourdieu (1993): 163. Jurt (1995): 96. Bourdieu (1992): 299f. Vgl. Bourdieu (1992): 301-308 und Jurt (1995): 90f. 87

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Hierarchisierung dem Prinzip interner Hierarchisierung untergeordnet ist. Je mehr Prestige oder je mehr Anerkennung einem Künstler zugesprochen wird, desto zentraler ist seine Position innerhalb des kulturellen Feldes. Diese Wertschätzung lässt sich anhand von Publikums- und Aufführungszahlen, positiven Kritiken, Auszeichnungen, Aufträgen oder dem Grad der Bekanntheit messen und entsteht auf der Basis eines Wertekanons, mit dessen Hilfe sich formale und inhaltliche Qualitätsurteile über schon bestehende und Normen für zukünftige Kunstprodukte fixieren lassen. Diese Positionen sind aber nicht als unverrückbar zu verstehen, sondern die dynamische Struktur des kulturellen Feldes birgt in sich die Möglichkeit der Neustrukturierung und Umakzentuierung der jeweiligen Normen, die Bourdieu als den „Raum des Möglichen“ benennt: La relation entre les positions et les prises de position n’a rien d’un rapport de détermination mécanique. Entre les unes et les autres s’impose, en quelques sorte, l’espace des possibles, c’est-à-dire l’espace des prises de position réellement effectuées tel qu’il apparaît lorsqu’il est perçu au travers des catégories de perceptions constitutives d’un certain habitus, c’est-à-dire comme un espace orienté et gros de prises de position qui s’y annoncent comme des potentialités objectives, des choses „à faire“, „mouvements“ à lancer, revues à créer, adversaires à combattre, prises de position établies à „dépasser“, etc.46

Die Möglichkeit und der Erfolg einer Neuordnung der ästhetischen Wertigkeit ist dabei umso größer, je mehr sie innerhalb des Systems bereits als „strukturelle Lücke“, als mögliche Alternative neben den aktuellen Positionen vorhanden ist. Pour que les audaces de la recherche novatrice ou révolutionnaire aient quelques chances d’être conçues, il faut qu’elles existent à l’état potentiel au sein du système des possibles déjà réalisés, comme des lacunes structurales qui paraissent attendre et appeler le remplissement, comme des directions potentielles de développement, des voies possibles de recherche.47

Neben dem Verhältnis des literarischen Feldes zum Feld der Macht besteht auch eine wichtige Relation zwischen den Positionen im Feld und den Dispositionen, die die Inhaber der Positionen einbringen. Die Positionen eines Feldes können nur entstehen, wenn es auch Akteure gibt, die über die notwendigen Dispositionen, also über bestimmte persönliche, intellektuelle Voraussetzungen verfügen oder eine gewisse Indifferenz gegenüber rein materiellen Profiten und den Mut zum Risiko aufweisen.

46 Bourdieu (1992): 326 (Hervorhebungen im Original). 47 Ebd.: 327 (Hervorhebung im Original). 88

TECHNIK VS. KULTUR

Dabei scheint die Entscheidung für eine riskante Position vom Besitz eines bedeutsamen ökonomischen und symbolischen Kapitals abzuhängen, der wiederum durch das soziale Gefüge mitbestimmt wird.48 Die kultursoziologische Herangehensweise Bourdieus unterscheidet sich von anderen soziologischen Konzepten vor allem dadurch, dass sie nicht auf einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft beruht, die diese als tendenziell ahistorische Größe voraussetzt, sondern dass das ‚Soziale‘ der zentrale Gegenstand der Untersuchung ist, dessen Dimensionen über empirische Untersuchungen in Teilbereichen ermittelt werden.49 Genau an diesem Punkt, nämlich der Untersuchung des das Feld der kulturellen Produktion umgebende Soziale, kann eine Funktionalisierung des sozialwissenschaftlichen Ansatzes Bourdieus für die vorliegende Untersuchung ansetzen. Betrachtet man die québecer Theaterszene als ein kulturelles Feld und das kulturelle Selbstverständnis der Provinz – also ihr postkoloniales Streben nach einer Abnabelung von der Kultur des einstigen Mutterlands Frankreich einerseits, ebenso wie andererseits den Willen, sich von der Dominanz des sie umgebenden anglophonen Sprachraums Nordamerikas abzuheben – als die entscheidenden Charakteristika des Feldes der Macht, so wird deutlich, wie sehr dieser Identitätsdiskurs auf die Kulturproduktion Einfluss nimmt. Bourdieu sieht die Stellung und Bewertung des einzelnen Künstlers und seiner Arbeit in Abhängigkeit von den Diskursen des Machtfeldes, aber auch von den internen Kämpfen des kulturellen Feldes bestimmt. Während diese internen Hierarchisierungsprozesse auf das symbolische Potential und den jeweiligen Autonomiegrad der Werke zurückzuführen sind, also auf Kunstwerke, die in erster Linie auf dem l’art-pour-l’artPrinzip basieren und unabhängig von Publikumsgeschmack oder ökonomischer Rentabilität entstehen, beruht die externe Hierarchisierung, also die vom Feld der Macht steuerbare Wertschätzung von Kunst, auf dem ökonomischen und kulturellen Kapital, das bestimmten Künstlern und ihren Kunstprodukten von außen zugeschrieben wird. Bezieht man dieses Modell auf die aktuellen intermedialen Theaterphänomene auf deutschen Bühnen und deren Rezeption, wie sie im Kapitel ‚Medien im Theater‘ skizziert wurde, so zeigt sich, dass ästhetische Tendenzen wie etwa die Medieninszenierungen eines Frank Castorf zwar innerhalb des Feldes des Theaters einen hohen Stellenwert haben, ihre Rezeption durch das breite Publikum und ihre Bewertung durch die Presse hingegen aber wenn nicht durchweg negativ, so doch sehr durchwach-

48 Vgl. Jurt (1995): 95. 49 Ebd.: 75f. 89

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

sen sind.50 Die Titulierung Castorfs als „enfant terrible“ der deutschen Theaterlandschaft, als „Klassik-Schänder“ und „Regie-Scharlatan“51 charakterisieren, in Bourdieus Termini gesprochen, die Positionen des Feldes der Macht, also beispielsweise der Kulturpolitik, die weniger in theateravantgardistischen als in kulturökonomischen Parametern denkt. Als Grund für die negative Resonanz auf intermediale Ästhetiken auf deutschen Bühnen kann die europäische Theatertradition mit ihren bis in die Antike zurückreichenden Wurzen genannt werden, die zumindest in der Perspektive des klassischen Theaterabonnenten eine Tradition des auf kanonisierten literarischen Texten basierenden Dramentheaters ist.52 Die kritische Haltung des Feldes der Macht bedeutet aber oft auch eine umgekehrt proportionale Wertschätzung im Feld der kulturellen Produktion, in Theaterfachkreisen beispielsweise, aber auch in der wissenschaftlichen Wahrnehmung des jeweiligen Künstlers, wie das im Kapitel ‚Medien im Theater‘ zitierte Gespräch mit dem Theaterwissenschaftler Christopher Balme belegt. Das Beispiel Castorfs kann zeigen, wie sehr die in Bourdieus Modell dargelegten Mechanismen zwischen den unterschiedlichen Akteuren eines sozialen Raums das ökonomische bzw. das symbolische Kapital eines jeweiligen Künstlers beeinflussen. Betrachtet man ästhetisch ähnlich innovative Inszenierungen im kulturellen Feld Québecs, wie beispielsweise die jüngsten Produktionen De50 Die Berliner Volksbühne zählt in Fachkreisen zu einer der derzeit interessantesten deutschen Bühnen, die Produktionen ihrer Hausregisseure wie des derzeitigen Intendanten Frank Castorf oder Christoph Schlingensief provozieren jedoch regelmäßig Publikum und Presse und ernten nicht nur Lob und Zustimmung. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass entgegen der teilweise sehr kontroversen Diskussionen um die jeweiligen Inszenierungen Frank Castorfs Regiearbeiten beispielsweise mehrfach von der Fachzeitschrift Theater heute zur Inszenierung des Jahres gewählt wurden. Diese auf den ersten Blick paradoxe Tatsache belegt das von Bourdieu beschriebene antagonistische Verhältnis zwischen feldinterner und feldexterner Hierarchisierung von Kunst- und Kulturprodukten. 51 Vgl. (2006-10-31). 52 Diese Wahrnehmung kann insofern als kulturhistorisch bedingt beschrieben werden, als, wie Joachim Fiebach darlegt, sich das „kulturell dominante europäische Theater“ [...] vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Folge der „Kommunikationsumwälzung durch den Buchdruck auf das geschriebene Werk, auf Drama als Literatur [...] fixierte“ und „jede als kulturvoll akzeptierte theatrale Produktion [...] nur noch als [...] einfache Darbietung“, als „kulturell relativ unwichtige Übersetzung des abstrakten literarischen Objekts in eine [...] sinnliche Erscheinungsform“ wahrgenommen wurde. Vgl. Fiebach (1998): 107f. 90

TECHNIK VS. KULTUR

nis Marleaus oder Robert Lepages, dann fällt auf, dass die Verteilung des externen und des internen Hierarchisierungsprinzips im Unterschied zu Deutschland bzw. Europa als weitgehend ausgewogen bezeichnet werden kann, die medial-hybriden Inszenierungen der genannten Künstler also nicht auf eine ablehnende Haltung seitens des Feldes der Macht stoßen, sondern umgekehrt ihre Arbeiten und Projekte schon im Vorhinein eine große Förderung und Unterstützung durch externe Feldinstanzen erfahren. Diese Förderung der Kultur- und besonders der Theaterszene durch staatliche Institutionen scheint in Québec in direktem Zusammenhang zu der soziokulturellen Situation und der Geschichte der Provinz zu stehen, denn das Feld der kulturellen Produktion kann geradezu exemplarisch den gesellschaftlich virulenten und politisch gewollten Akt der kulturellidentitären Selbstvergewisserung vollziehen. Eben weil sich die Suche nach einer québecer Identität, nach einer eigenen Sprache, einer autochthonen Dramatik und einer auch formal besonderen Art des künstlerischen Ausdrucks im kulturellen Bereich des Sozialen vollzieht und vollziehen soll, sind die Überschneidungen in der Bewertung zwischen Kulturproduktion und Kulturrezeption so groß. Der Kampf um eine eigene kulturelle Identität manifestiert sich im Feld des Theaters in einer ersten Phase – von 1968 bis etwa 1980 – in zahlreichen Versuchen, die Sprache der Provinz, das Québécois bzw. den montréaler Dialekt Joual, die sich in vielen Details vom Standardfranzösisch der Académie française unterscheiden, auch als Literatur- und Bühnensprache zu verwenden, ebenso wird das Thema einer eigenen – québecer – kulturellen Identität zum Inhalt zahlreicher Theaterstücke. Das Bestreben, die eigene kulturelle Situation in einer autochthonen Literatur- und Theatersprache zum Ausdruck zu bringen, ist dabei als Ablehnung des Feldes der französischen Literatur und Kultur zu verstehen, das als (fremdes) koloniales Erbe betrachtet wird und dem sich die Provinz nicht mehr verbunden fühlt. Während Frankreich die Werke der ehemaligen Kolonie zwar rezipiert, aber in einem Verhältnis von Zentrum und Peripherie behandelt und bewertet, ist es das Ziel der Künstler und Literaten Québecs, ihre kulturelle Spezifität in Werken zum Ausdruck zu bringen, die in einem eigenen und unabhängigen System produziert und rezipiert werden. Neben der Entstehung einer autochthonen Dramatik rücken zu Beginn der 1980er Jahre dann auch formale Fragen in den Fokus der jungen, sich noch suchenden Theaterszene. Ebenso wie mit dem Joual die arme, unzureichende und nicht-poetische Sprache der montréaler Arbeiterklasse anstelle des Hochfranzösisch der Académie française zur Theatersprache wird, kann auch die formale Entwicklung in Abgrenzung zu europäischen Bühnenästhetiken beschrieben werden. Während die Integ-

91

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

ration neuer Medien in die Darstellungsweisen des Theaters in Europa nur langsam vonstatten geht, weil der Publikumsgeschmack überwiegend konservativ ist und Kunst und Medien oftmals als antagonistisch betrachtet werden, können die québecer Theaterkünstler dieses neue Potential des Theaters nutzen, entwickeln und seine (noch) negative Wertung im europäischen Feld der Macht, von dem sie sich abgrenzen und emanzipieren wollen, sozusagen ex negativo für ihr kulturelles Identitätsstreben funktionalisieren. Die Tatsache, dass die Theaterarbeiten der québecer Künstler, die in ihren Inszenierungen das Zusammenspiel theatraler und fremdmedialer Darstellungsmittel erproben, durchweg positiv rezipiert werden und nicht nur national auf ein großes Publikumsecho stoßen, beweist die von Bourdieu herausgestellte dynamische Struktur der jeweiligen Feldpositionen, der sogenannte „Raum des Möglichen“, der eine Neustrukturierung und Umakzentuierung der jeweils bestehenden Normen und Werturteile möglich macht. Aufgrund der soziohistorischen Situation des Kulturraums Québec ist die Möglichkeit der Veränderung bestimmter für das Theater geltender ästhetischer Normen – also die von Bourdieu sogenannte „strukturelle Lücke“ – größer als etwa in Europa; begünstigt sowohl durch den Wunsch der Künstler nach einem inhaltlich wie formal eigenen québecer Theater wie auch durch die ökonomische und symbolische Förderung seitens des Feldes der Macht. Das vom Feld der Macht zu verteilende ökonomische und symbolische Kapital besteht in Québec beispielsweise aus der jeweiligen finanziellen Förderung zahlreicher Künstler und Theater durch staatliche Institutionen, wie den Conseil des Arts du Canada, den Conseil des Arts et des Lettres du Québec und das Ministère de la culture et des communications du Québec. Diese Unterstützung beschränkt sich aber nicht nur auf rein finanzielle Mittel, sondern beinhaltet auch eine durch die staatlichen Organisationen geförderte, breit angelegte nationale wie internationale Kooperation mit großen Kulturinstitutionen wie dem Centre national des arts in Ottawa oder internationalen Festivals wie dem Festival de Théâtre des Amériques, dem Festival des Francophonies en Limousin, den Berliner Festspielen oder dem Festival spielart in München. Neben dieser institutionellen Konsekration in Form ökonomischer Unterstützung findet die positive Resonanz auf die medialen Theaterprodukte ihren Ausdruck auch ideell durch die zahlreichen Theaterpreise und Auszeichnungen, die den Künstlern immer wieder zuteil werden und mittels derer ihre öffentliche Wahrnehmung begünstigt und ein bestimmtes ästhetisches künstlerisches Credo protegiert wird.53 Dass die jungen 53 Zu den Preisen und Auszeichnungen der in dieser Studie untersuchten Theaterkünstler vgl. folgende Internetadressen: Zu Marie Brassard http://www. 92

TECHNIK VS. KULTUR

Theatermacher wahrgenommen werden, und das nicht nur am Entstehungsort ihrer Produktionen, sondern durchaus auch international, beweist ihre regelmäßige Präsenz auf den großen europäischen Theaterfestivals, aber auch die Tatsache, dass ihr Schaffen immer mehr auch in den Fokus einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung gerät.54 Die noch junge Theaterszene der Provinz kann also die ursprünglich identitär zerrissene Situation ihres Kulturraums nutzen und für ihre eigenen Zwecke fruchtbar machen. Aus dem hybriden Dasein zwischen den Kulturen, zwischen Europa und Amerika erwächst eine produktive Differenz, die das Erbe der europäischen Theatergeschichte mit den vielfältigen medialen Einflüssen aus Nordamerika verknüpft.

M e d i e n ä s th e ti k a l s K u l t u r te c hn i k Das europäische Theaterverständnis, das bis heute für die Praxis der Mehrzahl der deutschen Stadt- und Staatstheater prägend ist, basiert auf dem Paradigma eines dramatischen Texttheaters und der Vergegenwärtigung von Reden und Taten durch das nachahmende Spiel der Darsteller.55 Entsprechend dieser Tradition, in der Theater ein unmittelbares, weil direktes und transitorisches Ereignis ist, wird der Einsatz von technischen Medien wie Video, Film oder digitalen Bildern als Verunreinigung der Theaterkunst und als Bedrohung des kulturellen Werts des Theaters betrachtet.56 Aber nicht nur die Last des historischen Erbes scheint die Ablehnung vieler Theaterbesucher zu bedingen, sondern auch der grundsätzliche Antagonismus zwischen Kultur einerseits und Technik

theatre-contemporain.net/auteurs/aut-marie-brassard-1316.html (2006-07-25), zu Denis Marleau (2006-07-25), zu Robert Lepage (2006-07-25) und zu Gilles Maheu (2006-07-25). 54 Vgl. hierzu die große Anzahl wissenschaftlicher Aufsätze und Rezensionen zu den Arbeiten der im Rahmen dieser Studie untersuchten Künstler im Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit, ebenso wie die Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte von wissenschaftlichen Einrichtungen wie der Ecole Supérieure de Théâtre an der Université du Québec à Montréal (Uqam) ( (2006-0725)) oder dem Centre de recherche universitaire sur la littérature et la culture québécoises (Crilcq) an der Université de Montréal (UdM) ( (2006-07-25)). 55 Vgl. Lehmann (1999): 20ff. 56 Vgl. Leeker (2001c): 374. 93

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

andererseits. Während unter dem Kulturbegriff in erster Linie die Bereiche Kunst, Musik oder Literatur subsumiert werden, Phänomene also, die in den Bereich des Ästhetischen fallen, werden Technik und Maschinen nur unter dem Aspekt ihres Funktionierens betrachtet, eine ästhetische Komponente aber wird ihnen oftmals abgesprochen. Diese allgemeingesellschaftliche Auffassung, die bis in die 1980er Jahre auch in die geisteswissenschaftliche Forschungspraxis hineinreichte, sehen Sybille Krämer und Horst Bredekamp im linguistic turn des 20. Jahrhunderts begründet, in der „Entdeckung der Sprache als [...] archimedische[m] Punkt unseres Welt- und Selbstverhältnisses“, die das Zusammenfallen von Kultur mit dem Symbolischen, mit „all dem, was semiotisch gegeben und interpretierbar ist“, besiegelte: Lange, vielleicht allzu lange galt Kultur als Text! Kaum eine andere Interpretationsfigur hat die kulturtheoretische Debatte so nachhaltig geprägt, wie diese semiologisch-strukturalistische Maxime. Die bis in die 80er Jahre dominierende Textmetapher verwandelte die Kulturwelt in eine Welt diskursiver Zeichen und Sinnbezüge. Und trug so dazu bei, den Graben zwischen den Natur- und den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften zu vertiefen.57

Diese Diskursivierung der Kultur versuchen Krämer und Bredekamp mit Rückgriff auf die historische Begriffssemantik, nach der das Wort ‚Kultur‘ ursprünglich im Kontext des „Umgang[s] mit und [der] Kultivierung von Sachen“ gebraucht wurde, zu dekonstruieren. Entgegen des heutigen Wortverständnisses verweise die Etymologie des Terminus nämlich auf ein Selbstverständnis von Kultur, „in welchem Techniken, Riten und Fertigkeiten im Zentrum stehen“, auf ein aktives Betreiben von Kultur also. Erst in der Evolution des Begriffs sei diese ursprüngliche Wortbedeutung verloren gegangen, „die Sach- und Technikdimension ins Hintertreffen geraten“ und der Kulturbegriff habe sich zu einer „‚cultura animi‘ veredelt“, die ihren Ausdruck bis heute in den „Bildungsgütern von Wissenschaft, Kunst und Philosophie findet.“ Als eine der Konsequenzen dieses veränderten Kulturverständnisses nennen Krämer und Bredekamp die „Verkennung der epistemischen Kraft der Bildlichkeit“ und die daraus resultierende Bedeutungshierarchie von Sprache und Bild, von textuellen und visuellen Kulturprodukten.58 Das hier analysierte Paradigma von Kultur als Text entspricht der eingangs skizzierten ablehnenden Haltung vieler Theaterzuschauer ge57 Krämer, Sybille/Bredekamp, Horst (2003): „Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die Diskursivierung der Kultur.“ In: Dies. (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München: Fink, 11-22, hier 11. 58 Ebd.: 11f. 94

TECHNIK VS. KULTUR

genüber Inszenierungen, die sich durch den vermehrten Einsatz technischer Medien auszeichnen und die aufgrund der konsequenten Enthierarchisierung des dramatischen Texts zugunsten einer plurimedialen Bildersprache sowie medialen Ästhetik kritisiert werden. Diese Kritik betrifft aber nicht nur die mediale Bilderflut im Theater, sondern ebenso andere Bildmedien wie Film, Fernsehen, Video oder Photographie: Je mehr das Visuelle in unsere Alltagswelt eindringt und unsere Wahrnehmung beherrscht, umso mehr scheint das Textuelle an kultureller Vormachtstellung zu gewinnen und dabei das kulturstiftende Potential gerade auch technisch-medial vermittelter Bilder ausgeblendet zu werden. Trotz des von Krämer und Bredekamp diagnostizierten Dogmas von Kultur als Text sehen die Autoren in einer Reihe jüngster wissenschaftlicher Tendenzen die Anzeichen für eine Wandlung des diskursiven Kulturverständnisses begründet. So zeuge beispielsweise der aus der Sprachtheorie in zahlreiche geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplinen hineinreichende Performativitätsdiskurs von einer Relativierung des Absolutheitsanspruchs der Sprache und von der „Entdeckung der Fluidität kulturstiftender Praktiken.“59 Kultur werde nicht mehr ausschließlich in Form von Texten, Werken und Dokumenten wahrgenommen und bewertet, sondern die Kulturwissenschaft entdecke auch in Handlungen, routinierten Praktiken, in Ritualen und in technischen und symbolischen Vollzügen die Signifikanz des Kulturellen. Diese Erkenntnis hat sich, wie das Kapitel ‚The medium is the message – Zum Verständnis von Medien‘ dargelegt hat, als besonders bedeutsam für den Umgang mit den neuen, unseren Alltag beherrschenden Medien herausgestellt, und scheint, wie die Diskussion um die Integration fremd-medialer Darstellungsweisen in die Ästhetik des Theaters zeigt, gerade im Theater einen interessanten Fokalisationspunkt zu finden. In eben jener Perspektive beschreibt auch Erika Fischer-Lichte den von Krämer und Bredekamp genannten performative turn in den Geistesund Kulturwissenschaften, den sie zwar einerseits parallel zur Entwicklung und Ausbreitung der neuen Medien beobachtet, vor allem aber als am Modell des Theaters orientiert beschreibt.60 Während die europäische Kultur des 19. Jahrhunderts ihr Selbstverständnis in Texten und Monumenten formuliert sah und dementsprechend der Kunstcharakter des Theaters sich ausschließlich durch den Bezug auf dramatische Werke, also auf Literatur definierte, sieht Fischer-Lichte um die Jahrhundertwende 59 Ebd.: 14. 60 Fischer-Lichte, Erika (2000): Theater als Modell für eine performative Kultur. Zum ‚performative turn‘ in der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Saarbrücken: Schriftenreihe Universitätsreden der Universität des Saarlandes Nr. 46. 95

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

eine neue Vorstellung von Kultur entstehen, die der Kultur des Geistes, und damit der Texte, eine neue Kultur des Leibes gegenüberstellt. Die Formen kultureller Performanz, die im 19. Jahrhundert vor allem den Festen, Riten und Zeremonien primitiver Kulturen zugeordnet wurden und in Form von Zirkusvorführungen und Völkerausstellungen zwar von der gesellschaftlichen Elite wahrgenommen, dabei aber als fremdartig und wild aus dem eigenen kulturellen Selbstverständnis ausgeschlossen wurden, finden nun durch die Aufnahme „primitiver“ Lebenskultur in den eigenen Alltag sowie im Rahmen des Theaters der historischen Avantgarden Eingang in die sogenannte hohe Kultur: Die Funktion der [...] Völkerausstellungen bestand vor allem darin, die Unterlegenheit der ‚unzivilisierten‘, ‚primitiven‘ Menschen, die sich in ihrer performativen Kultur zeigte, einem europäischen Publikum vor Augen zu führen und so ihre Kolonialisierung durch die ‚zivilisierten‘ Europäer zu legitimieren. [...] Insofern erscheint es durchaus folgerichtig, dass diese anderen und ihre Kultur nicht in Texten, sondern in Aufführungen repräsentiert wurden. Diese Dichotomie zwischen einer modernen elitären textuellen Kultur, die ihr Selbstbild und Selbstverständnis in Texten und Monumenten artikuliert, und einer ‚primitiven‘ performativen Kultur, die sich in Aufführungen repräsentiert sieht bzw. deren Bild als das des vollkommen anderen in Aufführungen repräsentiert wird, scheint um die Jahrhundertwende ihre Funktionsfähigkeit einzubüßen. Innerhalb der elitären Kultur formieren sich Bewegungen, die eine neue Vorstellung von Kultur erahnen lassen. Dazu gehören u.a. die Wandervogelbewegung, Körperkultur- und Lebensreformbewegung. Der Körper sollte von einengender und deformierender Kleidung befreit und in Bewegung versetzt werden. Der Kultur der Texte und Monumente, d.h. der Kultur des ‚Geistes‘, wurde jetzt eine Kultur des Leibes gegenübergestellt. [...] Die [...] allgemein dominierende Vorstellung vom Primat des Textes über die Aufführung, des Wortes (Geistes) über den Körper wurde zu Beginn des Jahrhunderts von zwei Seiten attackiert: von den Theateravantgardisten und von der sich neu formierenden Theaterwissenschaft. [...] Indem der Körper des Schauspielers zum wichtigsten Material und Mittel des Theaters erhoben wurde, sollte zugleich eine unmittelbare körperliche Wirkung auf den Zuschauer ausgeübt werden. [...] Theater wird damit als eine performative Kunst par excellence begriffen und definiert.61

In der durch die Ästhetik der historischen Avantgarden eingeleiteten Retheatralisierung des Theaters, die sich in den 1950er und 1960er Jahren in der performance art, aber auch in zahlreichen anderen Kunstbereichen, die nun die Prozesshaftigkeit und den Aufführungscharakter ihrer Werke herausstellen, fortsetzt, und die eine Sensibilisierung für allgemeinkulturelle performative Vorgänge in Gang setzt, sieht Fischer-Lichte 61 Ebd.: 6-10 (Hervorhebungen im Original). 96

TECHNIK VS. KULTUR

die zentrale Rolle des Theaters und der Theaterwissenschaft als einer „Wissenschaft vom Performativen“62 für einen gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Wandel zum Paradigma des Performativen begründet. Indem nun nicht mehr nur Texte und Artefakt Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Betrachtung sind, sondern gerade das Prozesshafte und damit die spezifische Art der Hervorbringung, nämlich die Materialität und Medialität kultureller Produkte in den Fokus der Wahrnehmung rücken, kommen Begrifflichkeiten wie Inszenierung, Verkörperung, Maskerade oder Spektakel ins Spiel, die die Bedeutung des Theaters für das performative Kulturverständnis belegen.63 Als Kunstform, die aufgrund ihrer Geschichte und Rezeption über Jahrhunderte vor allem in ihrer literarischen Form wahrgenommen wurde,64 die aber ursprünglich, wie schon der griechische Terminus ‚théatron‘, der soviel wie ‚Schaustätte‘ bedeutet,65 belegt, eine genuin visuelle Form kulturellen Ausdrucks war, die auf der Wahrnehmung performativer Ereignisse basierte und ihren Ursprung in den antiken Riten und Festen hat,66 erweist sich das Theater als prädestiniert für die Diskussion um die kulturelle Relevanz von Text und Bild und eines auf Handlungen und Techniken basierenden Kulturverständnisses. In der Perspektive einer Neuakzentuierung kulturwissenschaftlicher Forschung auf die materiellen, medialen bzw. technischen Implikationen kultureller Produkte definieren Krämer und Bredekamp Kulturtechniken 62 63 64 65

Ebd.: 11. Ebd.: 23. Vgl. Fiebach (1998): 107f. Vgl. Latacz, Joachim (1993): „Das Theater: Funktionsweise und Genese.“ In: Ders.: Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen, 17-50. 66 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (2001): „Zwischen ‚Text‘ und ‚Performance‘. Von der semiotischen zur performativen Wende.“ In: Dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen/Basel: Francke, 9-23. („Wenn die griechische Kultur, der Inbegriff unserer Zivilisation, das Modell einer idealen Kultur, beispielhaft in fast jeder Hinsicht, ihr Selbstbild und Selbstverständnis nicht nur in Texten artikulierte, sondern auch in unterschiedlichen Arten von Aufführungen wie z.B. in Ritualen, und wenn die so viel gerühmten und allgemein bewunderten Tragödien- und Komödientexte aus solchen Ritualen hervorgegangen sind, dann ließ sich die griechische Kultur nicht länger mehr als eine überwiegend textuelle Kultur begreifen, sondern musste als eine ebenfalls performative Kultur anerkannt werden. Wenn also die vorbildliche griechische Kultur wenigstens zum Teil, wenn nicht gar in hohem Maße eine performative Kultur war, dann konnte sich auch die moderne europäische Kultur zumindest in einzelnen Bereichen in eine performative verwandeln, ohne Gefahr zu laufen, ihre hohen Standards einzubüßen.“ (15)) 97

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

als „operative Verfahren mit Dingen und Symbolen“, die auf einer „Dissoziierung des impliziten ‚Wissen wie‘ vom expliziten ‚Wissen dass‘ beruhen“ und somit als ein „körperlich habitualisiertes und routiniertes Können aufzufassen sind, das in alltäglichen, fluiden Praktiken wirksam wird.“67 So geraten besonders solche Formen kulturellen Handelns in den Fokus, deren Art und Weise der Hervorbringung kulturell signifikante Episteme birgt, die aufgrund der Alltäglichkeit der jeweiligen kulturellen Praxis aber oft verborgen bleiben. Die durch das Bewusstmachen der Technizität kultureller Praktiken eröffneten neuen „Spielräume für Wahrnehmung, Kommunikation und Kognition“ treten genau dort in Erscheinung, wo die „Ränder von Disziplinen durchlässig werden“68, wo also Kultur und Technik zusammentreffen und demzufolge auch die jeweiligen Fachwissenschaften ihre Grenzen öffnen und der technischen Dimension der Hervorbringung und Konstitution ihres Gegenstands Rechnung tragen müssen. Dies offenbart sich etwa in den durch den Wandel von Kulturtechniken hervorgerufenen Medieninnovationen, die unsere Wahrnehmung von Realität verschieben, aber auch in der veränderten Wahrnehmung von Kunst, die durch die Integration technisch-medialer Darstellungsmittel auf eben jene verborgenen Mechanismen von Kulturtechnik verweisen. Die (plurimedialen) Bilderwelten, mit denen wir im Theater konfrontiert werden, rücken das Bild und seine spezifische Materialität und Medialität ins Zentrum der theatralen Wahrnehmung. Damit wird sowohl das Modell eines textbasierten (Dramen)Theaters in Frage gestellt als auch die hohe Erkenntnisdimension der Bildlichkeit unterstrichen, die oftmals nur als schmückendes, illustratives Beiwerk einer Textbedeutung angesehen und übersehen wurde. Um die Dimensionen einer Ästhetik zu erfassen, die diese Kulturtechniken in den Fokus rückt, bedarf es eines wissenschaftlichen Ansatzes, der den Signifikanten des kulturellen Artefakts ebenso wie den performativen Verfahren seiner Hervorbringung gerecht wird und kulturwissenschaftliche Forschung somit auf der Schwelle zwischen einem textuellen und einem performativen Kulturverständnis situiert. Denn, so hebt Fischer-Lichte hervor, [d]er Wechsel der Forschungsperspektive vom „Text“-Modell zum „Performance“-Modell ging bzw. geht [...] nicht als nahtlose Ablösung des einen Modells durch das andere vonstatten. Vielmehr führt er zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für die Beziehungen und Spannungsverhältnisse zwischen beiden Ordnungen. [...] Die längst etablierte Erforschung von Bedeutung sollte daher durch eine erhöhte Fokussierung auf das Performative ergänzt werden. Denn es 67 Krämer/Bredekamp (2003): 18. 68 Ebd. 98

TECHNIK VS. KULTUR

ist gerade das je besondere Austausch-, Spannungs-, und Oszillationsverhältnis, das von herausragendem Interesse ist.69

Beziehen wir das von Krämer propagierte Modell eines performativen Verständnisses von Kultur als Kulturtechnik auf die intermedialen Tendenzen des Theaters und deren jeweilige Emergenz und Rezeption in Europa bzw. in Deutschland und in Québec, dann ergeben sich daraus zwei Schlussfolgerungen: Zum einen lässt sich die durch Bourdieus Modell erläuterte spezifische kulturelle Situation des québecer Theaters auf der Basis des im vorliegenden Kapitel skizzierten performativ-technischen Kulturverständnis dahingehend ergänzen, dass der innovative Einsatz neuester medialer Darstellungsformen im Theater nicht nur in postkolonialer Abgrenzung zu den herrschenden ästhetischen Konventionen des europäischen Theaters geschieht, sondern dass das kulturelle Feld Québecs den Wandel von einer textuellen zu einer performativen Kultur im Rahmen seiner Suche nach eigenen Ausdrucksmitteln bereits vollzogen hat. Der Medieneinsatz in zahlreichen Inszenierungen der aktuellen québecer Theaterszene kann so als eine bewusst vollzogene Retheatralisierung des Theaters im Sinne einer performativen Kunstform beschrieben werden. Durch die Integration neuester Kulturtechniken wird die technische Dimension der Entstehung kultureller Produkte neu akzentuiert und die Auffassung einer ästhetischen Hybridisierung der Ausdrucksmittel des Theaters durch technische Medien dahingehend modifiziert, dass die Nutzung dieser neuen Darstellungsformen nicht mehr als verfremdend oder verunreinigend beschrieben werden muss, sondern sich als konsequente Weiterentwicklung einer an den technischen Möglichkeiten ihrer Zeit orientierten Theaterkunst erweist. Damit haben die québecer Theaterkünstler einerseits eine Ästhetik entwickelt, die sie von der europäischen Theaterwelt abgrenzt und die im Kontext der Suche nach einer eigenen kulturellen Identität konstitutiv sein kann, andererseits aber auch das künstlerische wie kulturelle Potential der Mediennutzung im Theater nachgewiesen: Das junge, zeitgenössische québecer Theater zeugt so nicht nur im Rahmen seiner kulturellen Situation von seiner Einzigartigkeit, sondern wird unter ästhetischen wie kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zum Fokalisationspunkt jüngster theaterwissenschaftlicher Forschungsinteressen. Denn die medialhybriden Inszenierungen der im Rahmen dieser Studie untersuchten Theaterkünstler können in kunstwissenschaftlicher Perspektive als wegweisend für eine Theaterkunst des 21. Jahrhunderts betrachtet werden und

69 Fischer-Lichte (2000): 23f. 99

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

beweisen gleichzeitig die relevante Rolle des Theaters im Kontext medienwissenschaftlicher Forschung. Zum anderen kann vor dem Hintergrund eines Medienverständnisses, das den Umgang mit Techniken als Formen kultureller Performanz konzipiert, auch die antagonistische Rezeptionssituation von medialhybriden Theaterprodukten in Deutschland oder Europa bzw. in Québec als kulturell codiert beschrieben werden. Aufgrund der unterschiedlichen soziokulturellen Disposition der québecer und der deutschen bzw. europäischen Theatertradition scheint auch die durchweg positive Kritik, mit der einheimische Presse und Fachpublikum auf die Arbeiten der québecer Künstler reagieren, im Kontext eines performativen Kulturverständnisses erklärt werden zu können. Wenn Krämer Performativität als Medialität konzipiert, weil Kulturphänomene gleich welcher Art nicht nur durch Medien realisiert, sondern durch diese auch mit konstituiert werden, und das Verhältnis von Performativität und Medialität auf der Grundlage von Prozessen der Aisthetisierung beschreibt, also die reziproke Hervorbringung und Wahrnehmung als einen bipolaren Akt versteht, der Produzenten- und Rezipientenrolle einschließt,70 dann wird offensichtlich, dass auch der Akt der Aisthetisierung auf der Basis kultureller Dispositionen geschieht. Für das Theater und seinen Umgang mit den Ästhetiken und Konventionen der neuen Medien muss das dann konsequenterweise heißen, dass auch Intermedialität als ein auf Wahrnehmungskonventionen beruhendes Phänomen zu beschreiben ist, welches beim Rezipienten die Fähigkeit der von Krämer genannten Transformationsleistungen, die im Prozess der medialen Performanz eine Bezugnahme möglich machen, voraussetzt.

70 Krämer (1997): 48. 100

INTERMEDIALITÄT

UND

THEATER

Il n’y a pas d’œuvre d’art qui n’ait sa suite ou son début dans d’autres arts.1

„Intermedialität ist in“2 – mit diesen Worten bringt Joachim Paech das Kernproblem der aktuellen Intermedialitätsdiskussion auf den Punkt. Denn mit der Popularität des Terminus, der inzwischen in beinahe allen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen beheimatet ist, aber auch die ästhetische Praxis einer Vielzahl von Kunst- und Kulturprodukten kennzeichnet, geht eine Pluralisierung seiner Bedeutung und seines Anwendungsgebiets einher. Daneben ist die definitorische Grenze zu verwandten Begriffen wie Multimedialität, Intertextualität, Medienwechsel oder Medientransformation nicht eindeutig und verweist auf die jeweilige einzelwissenschaftliche Perspektive bzw. das dieser zugrundeliegende Medienverständnis. Weil die Kontexte, in denen der Begriff zur Anwendung kommt, ebenso vielfältig und disparat sind wie die Diskurse, in denen er produziert wird, kann es niemals um eine integrale Definition von Intermedialität gehen, sondern um eine offene, weil genuin interdisziplinär angelegte Forschungsperspektive.3 Gleichwohl ist es möglich, einige grundsätzliche Prämissen und theoretische Ansätze zu skizzieren, die für ein allgemeines Verständnis von Intermedialität kennzeichnend sind und auf deren Grundlage die für diese Untersuchung relevanten Überlegungen für einen Intermedialitätsbegriff des Theaters aufbauen können. Im Anschluss an einen kurzen Überblick über die Ursprünge des Begriffs Intermedialität in praktischer sowie theoretischer Perspektive und die sich daraus ableitenden Grundprämissen der aktuellen Intermedialitätsforschung werden verschiedene Ansätze eines allgemeinen Inter1 2 3

Deleuze, Gilles (1986): „Le cerveau, c’est l’écran.“ In: Cahiers du Cinéma 380, 24-32, hier 28. Paech (1998): 14. Müller (1998): bes. 37; Schröter, Jens (1998): „Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs.“ In: montage/av 7 (2), 129-154, bes. 149-50. 101

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medialitätsverständnisses und deren Funktionalität als Analyseinstrumentarium diskutiert. Das daran anschließende Kapitel fragt darauf aufbauend, inwiefern diese Konzepte von Intermedialität auf das Theater übertragbar sind und formuliert unter Berücksichtigung der formulierten kulturwissenschaftlichen Perspektive und des besonderen medialen Status des Theaters einen Intermedialitätsbegriff, der den zuvor erarbeiteten Parametern Rechnung trägt und als Grundlage für die Analyse der medialhybriden Inszenierungen der québecer Theaterkünstler dienen kann.

W a s h e i ß t hi e r I n t e r m e d i al i tä t? 4 Der Terminus Intermedialität steht in jüngster Zeit im Zentrum der Diskussion um neue Forschungsperspektiven der Theaterwissenschaft. Er wird dabei im Zusammenhang mit Theaterinszenierungen gebraucht, die neueste Medien in ihre Darstellungsweisen integrieren, aber auch im Kontext ästhetischer Verfahren elektronischer Medien wie etwa des Internets, das sich umgekehrt theatraler Mittel bedient und den Cyberspace zu einer virtuellen Bühne werden lässt. Intermedialität beschreibt so ein wechselseitiges Verfahren, in dem ein Medium sich der Konventionen oder Mechanismen anderer bedient und damit seine eigenen ästhetischen Potentiale erweitert und verschiebt und durch diese Hybridisierung gleichzeitig einen kritischen Reflexionsraum auf seine eigene wie auch die Ontologie des fremden Mediums eröffnet. Obgleich die Popularität des Begriffs in direktem Zusammenhang zu den kontinuierlich steigenden illusionären Möglichkeiten elektronischer Medien steht, ist die Reflexion über Intermedialität in ästhetischen wie theoretischen Kontexten keineswegs nur ein Phänomen der letzten Jahre. In formaler Hinsicht hat das Theater, wie im Kapitel ‚Theater und (neue) Medien‘ dargelegt, schon immer auf die technisch-medialen Neuerungen seiner Zeit reagiert und spätestens mit dem Aufkommen des Films diese „wechselseitige Befruchtung der Künste“ und die ästhetischen Potentiale anderer Medien kontinuierlich genutzt und erforscht. In Folge der Aufweichung medialer Grenzziehungen, die in den 1960er Jahren im Zuge der performance art und der Happening-Bewegung vermehrt in den Blick geriet, hat der amerikanische Komponist, Filmemacher und Kunsttheoretiker Dick Higgins den Begriff ‚intermedia‘ in die

4

Vgl. den Titel des einführenden Textes von Thomas Eicher in den Band Ders./Bleckmann, Ulf (Hg.): Intermedialität. Vom Bild zum Text. Bielefeld: Aisthesis, 11-28. 102

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Diskussion eingebracht,5 um eine künstlerische Haltung zu bezeichnen, die „den Raum zwischen den traditionellen Medien“6 erforscht und durch die Fusion mehrerer Medien neue Formen der Wahrnehmung eröffnet. Der Begriff selbst ist mindestens bis 1812 bei Coleridge, auf den Higgins verweist,7 zurückzuverfolgen und erlebt in der Zeit der FluxusBewegung eine Wiederauferstehung.8 Im deutschen Sprachraum verwendet Hansen-Löwe den Terminus erstmals 1983 in einem Aufsatz zum Verhältnis von Wort und Bild in der russischen Kunst der Moderne.9 Dieses Verständnis von Intermedialität wurde in den siebziger Jahren im Anschluss an den von Julia Kristeva formulierten Intertextualitätsbegriff besonders von der Komparatistik entwickelt und bezieht sich in erster Linie auf Kunstprodukte wie Bild-Text-Collagen.10 Jenseits dieser Begriffsgeschichte reicht die Beschäftigung mit Phänomenen medialer Vermischungen aber weit über die bis hierher skizzierten Ansätze zurück und lässt sich, wie Jürgen E. Müller darlegt, bis in die Antike zurückverfolgen: Betrachten wir die Geschichte der audiovisuellen Künste unter der Perspektive ihrer medialen Dynamiken, dann wird deutlich, dass das ‚eindimensionale Kunstwerk‘ ein Konstrukt reduktionistischer Ästhetiken darstellt. Nicht erst die Postmoderne mit ihren Fragmentarisierungen, medialen Brüchen, Amalgamen, Synthetisierungen und Digitalisierungen hat uns vor Augen und Ohren geführt, dass audiovisuelle Werke aus medialen Überschneidungen, aus Kreuzungen un5

Higgins, Dick (1984): Horizons. The poetics and theory of the intermedia. Carbondale/Edwardsville: Southern Illinois University Press. 6 Büscher (1998): 113. 7 Higgins (1984): 23. 8 Vgl. Müller, Jürgen E. (1994): „Intermedialität und Medienwissenschaft. Thesen zum State of the Art.“ In: montage/av 3 (2), 119-138, hier 123; ders. (1998): 31; Schröter (1998): 129. Müller weist in Bezug auf die Begriffsverwendung bei Coleridge darauf hin, dass dieser mit dem Terminus ‚intermedium’ noch nicht die konzeptionelle Fusion unterschiedlicher Medien bezeichnet, sondern die Eigenschaften und narrativen Funktionen der Allegorie im Kontext einer Narratologie beschreibt (vgl. Müller (1998): 31). 9 Hansen-Löwe, Aage A. (1983): „Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne.“ In: Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien: Institut für Slawistik der Universität Wien (Wiener slawistischer Almanach, Sonderband 11). 10 Eine Auswahl solcher literaturwissenschaftlich geprägter Forschungsansätze findet sich bei Eicher/Bleckmann (1994). 103

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terschiedlicher medialer Konzepte, aus medialen Labyrinthen bestehen. Eine Spurensuche nach den poetologischen Ursprüngen führt vorläufig bis in die griechische Antike zurück.11

Müller zeichnet die poetologische Reflexion medialer Konzepte und Interdependenzbeziehungen von Simonides von Keos’ Auffassung von der Malerei als stummer Poesie über Giordano Brunos Abhandlung über das Verhältnis von Bild und Licht bis zu Lessings Auseinandersetzung mit dem antiken Laokoon nach. Dessen Unterscheidung zwischen Raumund Zeitkünsten, die die ut pictura poesis-Formel, nach der eine Kunstform zum Modell für alle anderen bestimmt wurde, die verschiedenen Künste also wechselseitig aufeinander Einfluss nahmen, demontiert, stellt, wie Christopher Balme darlegt, eine erste ästhetische Position einer Theorie der medialen Spezifität dar, die die Beurteilung medialer Produkte bis heute maßgeblich prägt und die Vorstellung von hermetisch voneinander getrennten Einzelmedien mitbedingt.12 Während Lessings Wesensbestimmung der Künste in normativer Hinsicht geradezu antiintermedial ist, bildet seine medienspezifische Differenzierung im 19. Jahrhundert den Ausgangspunkt für eine romantische Neuinterpretation der Wirkungshierarchie der Medien und Künste. Das romantische Kunstwerk, so Müller, „erreicht seine größtmögliche Wirkung durch das Überschreiten medialer Grenzen und durch das Verschmelzen unterschiedlicher Medien und Gattungen.“13 Damit hebt er besonders die Dimension der Rezeptionsebene dieser romantischen Poetik der Intermedialität hervor, die in gleichem Maße auch in Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks im Vordergrund steht und deren Akzentuierung sich oftmals, wie etwa im Fall Wagners, der direkten Verknüpfung zwischen Kunstpraxis und Kunsttheorie verdankt. Aus eben jener engen Verschränkung von konkreter künstlerischer Arbeit und theoretischer Auseinandersetzung, die die Wirkung und Wahrnehmung der intermedialen Kunstprodukte in der poetologischen Theoriebildung schon mitreflektiert, gehen nach Müller dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die profiliertesten Vorschläge für eine Theorie der Intermedialität hervor. So konkretisiert Sergeij Eisenstein seine frühen intermedialen Versuche einer Begegnung von Film und Theater in seiner Theorie der Montage der Attraktionen14 und Bertold Brecht verweist mit aller Deutlichkeit auf die „Avantgarde11 12 13 14

Müller (1994): 122f. (Hervorhebung im Original). Balme (2004): 15f. Müller (1994): 124. Eisenstein, Sergeij M. (1974): Schriften I. Streik. Hrsg. von Hans-Joachim Schlegel. München: Hanser. 104

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Funktion“ der „neuen Apparate“ für die „alten Künste“, die sich auf ihren „physischen Teil zurückzubesinnen hätten, um auch in der Literatur filmisch arbeiten zu können.“15 Die praktische Erfahrung der mit den neuen technischen Medien experimentierenden Künstler und das Wissen um die ästhetischen und kognitiven Potentiale sind die Basis dieser frühen theoretischen Reflexionen zu intermedialen Interdependenzen zwischen den Künsten. So zeugen auch die Überlegungen Higgins’ vom Einfluss des medienwissenschaftlichen Bewusstseins der sechziger Jahre auf die amerikanische Kunstszene, die die beispielsweise von McLuhan prognostizierten Veränderungen von Wahrnehmungs- und Kommunikationsstrukturen in ihren Arbeiten umsetzen.16 Higgins’ Reflexionen nähren sich ebenso aus der praktischen künstlerischen Arbeit, die im Zeichen des Aufbruchs aus institutionell festgelegten Kunstsparten steht, wie aus der theoretischen Reflexion über die ästhetischen Implikationen der materialen Eigenschaften der verwendeten Materialien und Medien. Wesentlich für weitere Arbeiten zum Verständnis von Intermedialität ist hierbei besonders seine Unterscheidung zwischen ‚mixed media‘ im Sinne einer multimedialen Ansammlung verschiedener Medien, „die [...] jederzeit vom Betrachter als getrennte begriffen werden können“ und ‚intermedia‘ als „konzeptionelle Fusion“, als Synthesen also, „in denen die eingehenden Formen aufgehoben werden.“17 Durch solche Formen intermedialer Kunstwerke entsteht nach Higgins eine Art kathartischer Grenzerfahrung, eine holistischmentale Erfahrung,18 die die Sinne neu sensibilisiert und so habitualisierte Wahrnehmungsformen durchbricht. Diese Differenzierung ist für eine Definition von Intermedialität insofern relevant, als die frühen Ansätze der Intermedialitätsforschung den Terminus heterogen verwenden und seine Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie ‚Multimedialität‘ und ‚Medienwechsel‘ nicht immer klar ist. Christopher Balme führt in seinem Aufsatz „Theater zwischen den Medien. Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung“ drei verschiedene Positionen auf, die er definitorisch voneinander abzugrenzen versucht: Während es sich bei dem Begriff des ‚Medienwechsels‘ oder der ‚Medientransformation‘ eher um eine „Transposition von Inhalten zwischen Medien“ handele, also beispielsweise um Literaturverfilmungen oder Fernsehfassungen von Theaterinszenierungen, 15 Vgl. Müller (1994): 125, sowie ausführlicher Brecht, Bertold (1967): Gesammelte Werke. Bd. 18. Schriften zur Literatur und Kunst I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 156f. 16 Büscher (1998): 114f. 17 Schröter (1998): 134; vgl. ausführlich Higgins (1984): 15f. 18 Vgl. Higgins (1984): 7ff. 105

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und auch die Untersuchung der Interdependenzbeziehungen zwischen Bildern und Texten streng genommen eher eine besondere Form der Intertextualität darstelle, versucht er Intermedialität in Higgins’ Sinn als die „Simulation oder Realisierung medialer Konventionen eines oder mehrerer Medien in einem anderen Medium“ zu definieren. Dabei hebt er besonders die „formale Dimension der Wahrnehmung“19 als entscheidendes Differenzkriterium zu einer nur inhaltlichen Referenzbeziehung hervor und akzentuiert so einen Teilaspekt intermedialer Forschung, den Karl Prümm 1988 noch als „kaum fassbar“ 20 bezeichnete. Tatsächlich muss dem Phänomen einer „rezeptiven Kompetenz“21 des Zuschauers bei der Definition von Intermedialität ebenso Rechnung getragen werden wie dem wechselseitigen Verhältnis von intermedialer Produktionsästhetik und der Wahrnehmung solcher hybriden Medienprodukte. Jens Schröter weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Higgins’ Konzept von Intermedialität gerade aufgrund dieser Interdependenzbeziehung zwischen der neuartigen Verwendung bestimmter Materialien im künstlerischen Prozess und ihrer Wahrnehmung „weniger im Intermedium selbst als in der perzeptiven und kognitiven Verarbeitung“ zu verorten sei, der Begriff der medialen Synthese bzw. Fusion also als raum-zeitlich simultane Präsentation und Rezeption verschiedener medialer Formen verstanden werden müsse.22 Damit rückt er wie Balme den Akt der Wahrnehmung medialer bzw. intermedialer Phänomene ins Zentrum der Intermedialitätsforschung, den Sybille Krämer schon in ihrer Annäherung an die Konstitutionsfunktion von Medien durch das Moment der Aisthetisierung zu fassen versucht.23 Wenn Jürgen E. Müller im Anschluss an seinen kurzen Überblick über die poetologischen Ursprünge der Intermedialität resümiert, dass angesichts der historischen Vielfalt der Reflexionen über

19 Balme (2004): 19f. 20 Prümm, Karl (1988): „Intermedialität und Multimedialität. Eine Skizze medienwissenschaftlicher Forschungsfelder.“ In: Bohn, Rainer/Müller, Eggo/Ruppert, Rainer (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft. Berlin: Edition Sigma Bohn, 195-200, hier 197: „Die von Brecht so eindringlich beschriebene revolutionäre Veränderung der Lektüre durch den Film, die durch ihn bewirkte Umwälzung literarischer Apperzeption und Wahrnehmung lässt sich rezeptionsgeschichtlich kaum fassen, es sei denn, man begreift den filmisch schreibenden Autor selbst als intermedialen Rezipienten [...] ebenso wie den vielleicht filmisch sehenden oder wertenden Kritiker.“ 21 Balme (2004): 14. 22 Schröter (1998): 135. 23 Vgl. das Kapitel ‚The medium is the message – Zum Verständnis von Medien‘ sowie Krämer (2004). 106

INTERMEDIALITÄT UND THEATER

mediale Dynamiken und Transformationen und der Vielzahl der interaktiven, sich historisch immer wieder verändernden Beziehungen zwischen den Künsten das „medienwissenschaftliche Paradigma“ von der „Reinheit“ der Künste zum „wissenschaftlichen Artefakt“ gerinnt,24 dann scheint der im Kapitel ‚Theater und (neue) Medien‘ im Anschluss an Sybille Krämer entwickelte Medienbegriff des Theaters mit den Grundüberzeugungen der Intermedialitätsforschung zu koinzidieren. Bevor das folgende Teilkapitel auf der Basis des bis hierher skizzierten Rahmens intermedialer Forschung nach einem Intermedialitätsbegriff fragt, der allgemein genug ist, um als interdisziplinär nutzbares Analysenstrumentarium zu fungieren, können zunächst zwei Grundüberzeugungen der Intermedialitätsforschung zusammengefasst werden: Zum einen wird Intermedialität als ein ontologisches Phänomen medialer Produkte begriffen und damit die Vorstellung isolierter Einzelmedien als das Resultat gezielter Ausschlussmechanismen aufgegeben, zum anderen die Wirkungs- und Wahrnehmungsdimension als elementarer Faktor intermedialer Ästhetiken in den Fokus genommen, und somit Mediengeschichte sowohl in Bezug auf das Verhältnis der Medien zueinander als auch hinsichtlich deren Wirkung auf den Rezipienten als eine auf doppelte Weise relationelle begriffen. Eine medienwissenschaftliche Perspektive, deren „Erkenntnis auf die medialen Dynamiken und Fusionen innerhalb einzelner Medientexte und zwischen verschiedenen Medientexten sowie auf deren historische Entwicklung“ zielt, stellt sich somit nicht allein den Herausforderungen einer zunehmenden Hybridisierung medialer Kunst- und Kulturprodukte, sondern „reperspektiviert zugleich breite Felder der traditionellen Medientheorie und Mediengeschichte.“25

I n t e r m e d i a l i t ä t a l s A n a l ys e i n st r u m e n t a r i u m „Wo beginnt Intermedialität?“ fragt Wilhelm Füger und setzt mit dieser Frage nicht erst bei den von der Forschung vorrangig betrachteten und auch im Kontext der vorliegenden Abhandlung zentralen Frage nach der Art und Weise medialer Transformationsverfahren an, sondern fügt den im vorangegangen Kapitel dargelegten Versuchen einer terminologischen Präzisierung des Intermedialitätsbegriffs einen bislang kaum beachteten Aspekt hinzu.26 Denn wenn Jürgen E. Müller in Folge seiner Relektüre historischer Poetiken von einer immer schon existenten inter24 Müller (1994): 126. 25 Ebd. 26 Füger (1998): 41. 107

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medialen Interdependenzbeziehung zwischen den Künsten ausgeht und Sybille Krämer Intermedialität zur epistemischen Bedingung von Medienerkenntnis überhaupt erklärt, dann stellen beide Intermedialität als ontologische Spezifität medialer Produkte dar, argumentieren dabei aber auf verschiedenen Ebenen dieser gegenseitigen Durchdringung. Mit Krämer verstehen wir Medien als konstitutive Faktoren für Kultur, Wahrnehmung und Kommunikation, die das, was sie übertragen, aufgrund ihrer spezifischen Materialität auch mit hervorbringen, wobei der Akt der Hervorbringung immer als Akt der Transformation in eine andere Form der Verkörperung aufzufassen ist. Denn obwohl dem Medium etwas vorausgeht, kann dieses nicht ohne Medium, sondern immer nur in einem anderen Medium gegeben sein. Die Vorstellung von Einzelmedien entpuppt sich im Anschluss an Krämers Annäherung an die Bedingungen medialer Wahrnehmung als das Produkt einer Abstraktion, und Intermedialität wird somit zur epistemischen Bedingung für Medienerkenntnis.27 Innerhalb der Intermedialitätsforschung trägt dieser Überzeugung das inzwischen zur Grundannahme gewordene Postulat Rechnung, nach dem die intermedialen Wechselspiele nicht mehr als intendierte Strategien im Dialog der Künste aufgefasst werden, sondern Medien immer schon in komplexen medialen Konfigurationen zueinander stehen und dadurch stets auf andere Medien bezogen sind.28 Denn, so argumentiert Müller, [w]enn Medien(-texte) in wechselnden medialen Relationen stehen, [...] wenn ein ‚Medium‘ Strukturen und Möglichkeiten eines anderen oder anderer Medien in sich birgt, dann impliziert dies, dass sich die Vorstellung von isolierten Medienmonaden oder Mediensorten nicht mehr aufrecht erhalten lässt.29

Während Müller von einer bis in antike Texte zurückzuverfolgenden Wechselbeziehung zwischen den Künsten spricht, also beispielsweise von ästhetischen Interdependenzen zwischen Musik und Poesie oder Bildern und Texten, zielt Krämers Intermedialitätsverständnis auf eine diesem Verhältnis vorgeschaltete Stufe medialer Interaktion. Denn nicht nur die Künste als Medien stehen in komplexen Austauschprozessen zueinander, sondern schon die diese Künste konstituierenden Medien selbst 27 Vgl. die Kapitel ‚Medien als Welterzeuger – Zur Konstitutionsleistung von Medien‘ und ‚Verkörperung und Transformation – Zur Funktionsweise von Medien‘ sowie ausführlich Krämer (2003). 28 Vgl. Schröter, Jens (2004): „Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Maschine.“ In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink, 385-411, bes. 385f, sowie ders. (1998): 129. 29 Müller (1994): 128. 108

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sind durch intermediale Transformationsprozesse gekennzeichnet. In Müllers Perspektive steht etwa die Sprache im Theater in einer komplexen Relation zu nichtsprachlichen Elementen des Bühnenraums, wie beispielsweise den visuellen Zeichen des Dekors oder der Musik. Sybille Krämers Gedanke setzt aber schon eine Ebene tiefer an. Mit Rückgriff auf die Binnendifferenzierung ihres Medienverständnisses können wir Sprache zwar als Medium des Theaters benennen, die gesprochene Sprache selbst ist aber schon das Produkt eines anderen Mediums, nämlich der Stimme, die dem Text nicht nur als Werkzeug dient, sondern das Gesagte durch die Art und Weise des Sprechens mitprägt, ihm also die Spur ihrer spezifischen Medialität hinzufügt. Diese unterschiedlichen Perspektivierungen des Phänomens der Intermedialität schließen sich zwar nicht aus, verweisen gleichwohl aber auf das bereits diskutierte Problem eines operablen Medienbegriffs.30 Jo-

30 Hinsichtlich der Problematik der unterschiedlichen Ebenen intermedialer Interaktion legt Wilhelm Füger ebenfalls die Frage nach dem Medienbegriff zugrunde. Mit McLuhan versteht er Medien als Ausweitungen des menschlichen Körpers und seiner Sinne, was die „technisch-apparativen Ausweitungen menschlicher Perzeptionsfähigkeiten [...] ebenso erfasst wie Repräsentationsmodi von Bewusstseinsprozessen und kommunikative Interaktionsstrukturen im Feld gesellschaftlicher Praxis.“ Damit werden Medien gleichzeitig im engeren Sinne [...] als spezifische Konstellationen bestimmter Wirkungsmomente im Spektrum der vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten dieser Extensionsverfahren“ beschreibbar (41). Fügers Interesse richtet sich dabei nicht auf die Resultate dieser Vernetzungen, sondern auf die Anfangsstadien der Mediatisierung, also im Umkehrschluss des mcluhanschen Diktums the medium is the message auf das Medium, das nicht mehr der Inhalt eines anderen Mediums ist. Im Anschluss an McLuhan, der den medialen Inhalt der Rede als einen „process of thought, which is itself non-verbal“ beschreibt und somit auf eine vorsprachliche Ebene verweist, begreift er den Übergang von bewusstseinsinternen Vorgängen zu deren verbalen Manifestationen als Grundstufe der Mediatisierung. Intermedialität beginne dann bereits dort, „wo diese (weithin unbewussten) Vorgänge [...] auf der nächsten Stufe der Informationsverarbeitung einem Begriffsbildungs- bzw. Verbalisierungsprozess unterzogen, d.h. bewusstseinsintern in Sprache umgesetzt werden“ (41f.). Somit schaltet Füger dem im vorangegangenen Kapitel skizzierten Verständnis von Intermedialität zwei Stufen vor: Eine zweite Ebene von Intermedialität wäre dann nach der bewusstseinsinternen Versprachlichung von Wahrnehmung der externe Niederschlag dieser Bewusstseinsakte etwa im Medium der Sprache und als dritte Ebene die Transponierung dieser Versprachlichung in einen anderen Ausdrucksbereich, wobei dieser dann wieder mit der jeweiligen Medialität des Ausdrucksmittels interagierte. Füger führt diese 109

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achim Paech kritisiert in diesem Zusammenhang den oftmals fließenden definitorischen Übergang der Begriffe Kunst und Medium, die oft parallel gebraucht oder in historischer Abfolge zwischen traditionellen Künsten und modernen technischen Medien ausgetauscht werden. „Aus der Erfahrung zunehmend technischer Bedingtheit künstlerischer Produktion“ werde „ein autonom gedachter ästhetischer Bereich der ‚freien‘ Künste [...] auch in seiner Geschichte ‚technisch-apparativ‘ implementiert.“ Intermedialität ließe sich somit als „gemeinsame Technikgeschichte der Künste“ verstehen und ihre gegenseitige Beziehung als „Gemeinsamkeit ihrer technischen Aufzeichnungs- und Darstellungsmedien.“ Eine solche Reduktion des Medienbegriffs auf seinen apparativ-technischen Teil und der künstlerischen Praxis auf ihre handwerklichtechnischen Bedingungen mache aber einen „intermedialen Zugang auch zur ästhetischen Erfahrung“ intermedialer Kunstprodukte schwer vorstellbar, weil ihre „spezifische Differenz“ damit nicht erfassbar sei.“31 Diese Unterscheidung zwischen Kunst und Medien wiederholt die schon diskutierte, diskursiv bedingte Opposition von Kultur und Technik, der Krämers Gedanke der Kulturtechnik als einer beide Bereiche verbindenden Konzeption von Medialität entgegensteht. Mit Krämer haben wir Medien als „historisch konfigurierte Potenziale für kulturelle Praktiken der Verkörperung“32 definiert, deren Aktionsraum genau zwischen jenen von Paech als antagonistisch beschriebenen Polen, nämlich zwischen Kunst und Kulturtechnik liegt. Medientechniken sind als Kulturtechniken Phänomene der Ritualisierung und Veralltäglichung ihrer Funktionen, zu Kunst werden sie dagegen in Momenten der Innovation, in denen sie durch neuartige Gebrauchsweisen Überraschungen und Brüche mit vertrauten Wahrnehmungsformen erzeugen. Das ästhetische Differenzial, das für Paech das entscheidende Merkmal der Künste im Gegensatz zur nur technisch-apparativen Dimension ihrer Medialität ist, lo-

Reflexion anhand der Frage weiter, ob unter der Berücksichtigung der Definition McLuhans, nach der Medien die Extensionen naturgegebener Fähigkeiten sind, das Sprechen (noch) als naturgegeben zu gelten habe und wie die verschiedenen Ebenen von Intermedialität dann näher zu bestimmen seien. Diese Perspektive wird hier nicht weiter verfolgt, weil für die Fragestellung der vorliegenden Studie und eine theaterwissenschaftliche Präzisierung des Begriffs erst die nach Fügers Schema dritte Ebene der Interaktion von Interesse ist. Sein Ansatz ist aber insofern erhellend, als er die unterschiedliche Akzentuierung des Intermedialitätsbegriffs im Medienverständnis von Sybille Krämer und in der Intermedialitätsforschung wie oben dargelegt erläutern kann. 31 Paech (1998): 17f. 32 Krämer (2003): 85. 110

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kalisiert sich demnach weniger in der medialen Form selbst, als im Kontext ihres Erscheinens und der damit verbundenen Rezeptionssituation. Der im Kapitel ‚Theater und (neue) Medien‘ erarbeitete Medienbegriff kann also die für Paech wesentliche Frage nach der definitorischen Abgrenzung zwischen Medium als Kunst und Medium als Technik beantworten. Gleichzeitig relativiert sich damit auch seine Kritik an Müllers Definitionsversuch, nach dem ein „mediales Produkt [...] dann intermedial [wird], wenn es das multimediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen.“33 Paech problematisiert hier die Idee von Intermedialität als einem „Behälter für mediale Elemente“, die durch ein „konzeptionelles Miteinander strukturiert“ werden,34 weil er darin die oben diskutierte Trennung zwischen Kunst(form) und Medium perpetuiert sieht. Dabei lehnt er eine solche Konzeption von Intermedialität, die die Basis der Untersuchungen Franz-Josef Albersmeiers und Peter Zimas bilde, insofern ab, als die genannten Autoren ‚Intermedialität‘ entweder als ästhetisches Programm ihrer untersuchten Autoren, als Thema oder als Ergebnis medialer Transformationen mit den ‚Inhalten‘ analysierter Werke und ihrer formalen Strukturen verbinden, ohne den Formwandel selbst als Inhalt des Medienwechsels in einem Transformationsverfahren anschaulich zu machen.35

Diese Ansätze rückten zwar die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Kunstformen als „materiale Kulturanalysen“ in den Fokus, wiederholten damit aber lediglich das Modell des Behälters als Hypermedium, in dem sich „verschiedene ältere Medien zu immer wieder neuen Mischformen unter jeweils einer Dominante“ verbänden.36 Paechs Kritik zielt also einerseits auf die terminologische Gleichsetzung von Kunst und Medium, die sich mit Krämers Medienbegriff auflösen lässt, andererseits, und in dieser Hinsicht erfasst er das grundlegende Problem der Intermedialitätsforschung, auf die in diesen Ansätzen ungelöste Frage nach einer systematischen formalen Analyse des von Müller präzisierten „konzeptionellen Miteinanders.“ Zwar ergänzt dieser seinen Definitionsversuch um die Dimension der Wahrnehmung, in dem er die Rezipientenperspektive durch den Zusatz der durch die intermediale Fusion er33 34 35 36

Müller (1998): 31f. Paech (1998): 17. Ebd.: 15. Ebd. 111

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zeugten „neue[n] Dimension des Erlebens und Erfahrens“ miteinbezieht; das Moment der von Higgins formulierten formalen Fusion verschiedener Medien zu einer neuen, synthetischen Form, die mehr ist „als die Summe ihrer Teile“, erfasst diese Definition aber ebenso wenig, wie sie systematische Kategorien für eine formale Analyse dieser hybriden Differenzformen bereitstellt. In eben jener Perspektive fragt Yvonne Spielmann nach der Art der Bezugnahme, durch die der Terminus Intermedialität „im Paradigmenfeld von Medialität und Kulturalität [...] das referentielle Netzwerk verschiedener audiovisueller Ausdrucksformen kennzeichnet“, und beklagt dabei die fehlende Spezifizierung dieser „Zitate oder Variationen, Nachahmungen oder Wiederholungen“, durch die sich die intermedialen Wechselspiele charakterisieren: Im Sog vielbeachteter Mediatisierung und voranschreitender Digitalisierungsprozesse wird einschlägig von einer komplex-komplizierten Vernetzungskultur gesprochen, vorzugsweise mit der Metapher des Inter. [...] Weniger Beachtung hingegen findet die Klebestelle, der Kitt, nämlich die Struktur des Inter, worin nicht zuletzt die ästhetischen Operationen in den [...] Medien eingelassen sind.37

Mit dem Ziel eines konkreten Analyseinstrumentariums versucht sie Intermedialität als ein formales Verfahren fassbar zu machen, das den spezifischen Modus des Dazwischen zum Ausdruck bringen kann, und bezieht sich dazu auf Marshall McLuhan, der Medien grundsätzlich in ein Netz von Transformationen eingebunden sieht, das an den Formwandel eines Mediums aus dem anderen gekoppelt ist. In diesem Medienverständnis sieht sie ein dynamisches Konzept wechselseitiger Durchdringung begründet, das es erlaubt, McLuhans Ansatz als Rahmen zu funktionalisieren und seinen Diskurs zur Intermedialität auf ästhetische Prozesse zu übertragen. Bedeutet Intermedialität die Struktur einer Transformation, dann bedarf es einer symbolischen Form, die selbst im Prozess der jeweiligen Aktualisierung wahrnehmbar wird. Damit wird sogleich evident, dass zwischen einem Medium und seiner Potenz als symbolische Form eine Darstellungsdifferenz klafft, die man in diesem Diskurs durchaus „Inter“ nennen könnte. Sicht- oder wahrnehmbar kann die symbolische Form überhaupt nur dann werden, wenn das Inter der Medialität zur Gestaltung kommt, beispielsweise in einer Collage oder Montage, und dies bedeutet zwangläufig, dass eine Differenz zwischen dem Medium (im Sinne einer Leerstelle) und seiner symbolischen Form (im Sinne eines „schöpferischen Augenblicks“ bei Lessing) auftritt. In der Form ihrer Symboli37 Spielmann (1995): 112 (Hervorhebung im Original). 112

INTERMEDIALITÄT UND THEATER

sierung gewinnt genau diese Spannung einen Ausdruck, das heißt, NichtSichtbares wird sichtbar. Man könnte also sagen: die Erfüllung der symbolischen Form aus einer intermedialen Gestaltung enthebt das Medium dem Strudel der Selbstreferentialität.38

Jenen von Spielmann avisierten Transformationsprozess, der das für intermediale Fusionen charakteristische Moment der Formumwandlung begreifbar macht, exemplifiziert Joachim Paech anhand einer Analyse des Verhältnisses zwischen Photographie und Film. Dabei versteht er die evolutionäre, intermediale Beziehung zwischen den beiden Medien nicht als Transformation des Inhalts des Mediums Photographie in das andere Medium des Films, sondern als „spezifische Form medialer Differenz“, die sich aus der medientheoretischen Konzeption der beiden Künste und der in der Formumwandlung von der Photographie zum Film vollzogenen Umkehrung von Medien- und Formseite ergibt.39 Aufgrund der Auf38 Ebd.: 113 (Hervorhebungen im Original). 39 Im Anschluss an McLuhan, nach dem ein Medium immer der Inhalt eines anderen Mediums ist, und mit Luhmanns Unterscheidung zwischen Medien- und Formseite beschreibt Paech die Formseite der Photographie als die „technisch-apparativ bedingte, perzeptiv intendierte Zeit-Differenz zwischen Dasein und Dagewesenem“ und das Medium, welches immer unsichtbar ist, als die Form dieser Differenz, als den Zeitspalt zwischen Vorbild und Abbild, zwischen vorphotographischer Realität und der repräsentativen Vergegenwärtigung durch die Photographie selbst. Analog zu dieser medientheoretischen Bestimmung der Photographie sieht er den Film als „spezifische Form einer Serienphotographie“, in der das Medium der Photographie, also ihre Zeit-Differenz zwischen Vorbild und Abbild, zum Medium derjenigen Form wird, in der der Film erscheint. Somit erweist sich nicht die Photographie als das spezifische Medium des Films, sondern der in der „Form der Bewegung beobachtbare Unterschied zwischen Photographie und Film.“ In der Konsequenz dieser Trennung von Medien- und Formseite, nach der das Medium immer nur als „Möglichkeit einer Form, zu deren Erscheinung es verhilft“, wahrnehmbar ist, muss Intermedialität nach Paech also als ein Phänomen beschrieben werden, das sich immer auf zwei Ebenen ereignet, die untrennbar miteinander verbunden sind: Für das Beispiel des Kinos bedeutet dies, dass der Betrachter entweder die Formseite wahrnehmen kann, also die figurativ beobachtbaren narrativen Ereignisse des Films und dabei seine Anordnung zum Medium selbst ausblendet, oder aber das Medium selbst, also die materiale Oberfläche der Projektion im Wahrnehmungsprozess fokussiert, die in dieser Perspektive wiederum zur Form gerinnen und beispielsweise die Materialität der Projektionsfläche, etwaige Bildstörungen oder einen asynchron laufenden Ton erfahrbar machen. Vgl. dazu ausführlicher Paech (1998): 19-26. 113

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spaltung intermedialer Interaktionsprozesse situiert Paech die intermediale Differenzform zwischen Photographie und Film auf zwei Ebenen, nämlich auf der konkreten materialen Ebene der Apparatur, die die Formen der Darstellung beobachtbar macht, und der Ebene der Wahrnehmung, die die dargestellten Formen wahrnehmbar werden lässt: Das Medium dieser Differenz zwischen dargestellten Formen und Formen der Darstellung kann immer nur auf der Seite seiner Formen beobachtet werden, entweder in der dargestellten Bildtiefe oder auf der Oberfläche filmischer Darstellung. [...] Auf beiden Ebenen bedeutet Intermedialität eine spezifische ‚Transformation‘, die erstens als Form der Differenz im Verhältnis von Medium und Form ein ‚Dazwischen‘ markiert und zweitens als Differenzstruktur dispositiver Anordnungen raumzeitliche ‚Stellen‘ transformativer Unterscheidungen (d.h. Beobachtungen) positioniert.40

Mit dieser doppelten Perspektive auf die intermedialen Interaktionsmechanismen rückt Paech einerseits das jeweilige apparativ-technische Verfahren und andererseits auch das Produkt der medialen Interaktion in den Fokus und trägt so sowohl dem von Higgins beschriebenen synthetisierenden und nicht lediglich rein additiven Charakter intermedialer Produkte Rechnung als er auch die durch diese provozierten veränderten Formen von Wahrnehmung berücksichtigt. Wie Paech situiert Spielmann die Basis intermedialer Austauschprozesse in der ontologischen „strukturellen Vernetzung distinkter Medien.“ Als gestalterische Form, als „Modus der Bearbeitung eines Mediums in einem anderen“ werden diese Verschiebungen, Zitate und Fusionen dabei besonders in den Künsten virulent, wo sie die Materialität und die Struktur des Medialen affizieren und die Lücke des „Inter“ als neue symbolische Form sicht- und erfahrbar werden lassen.41 Damit wird es möglich, Paechs Überlegungen, die zunächst von einer ontologischen, aus der historisch gewachsenen Beziehung zwischen Photographie und Film hervorgehenden Intermedialität ausgehen, auch auf nicht-verwandte Medien anzuwenden. Seine Schlussfolgerungen aus den Differenzqualitäten zwischen Photographie und Film beruhen nämlich nicht nur auf deren evolutionärer Beziehung, sondern auch auf der Beobachtung bestimmter formaler Konventionen. Paechs Vergleichskategorie ist die spezifisch photographische bzw. die spezifisch filmische Form des Bildes und die mit der formalen Transformation einhergehende Umkehrung von Medienund Formseite. Wenn wir davon ausgehen, dass diese medienspezifischen Annahmen hinsichtlich der Ontologie photographischer oder filmi40 Ebd.: 23 (Hervorhebungen im Original). 41 Spielmann (1995): 114. 114

INTERMEDIALITÄT UND THEATER

scher Bilder nicht nur durch die technischen Möglichkeiten des Mediums, sondern auch durch habitualisierte Verwendungsformen geprägt sind, dann kann Paechs Differenzgedanke auch auf solche Formen intermedialer Interaktion übertragen werden, die nicht auf einer gewachsenen Beziehung zwischen zwei medialen Darstellungsformen beruhen, sondern die im künstlerischen Prozess bewusst konfrontiert werden. Denn genau dort, nämlich in Zwischenräumen zwischen den traditionellen Medien verortet Paech diese Differenzformen, die in Momenten von Brüchen oder Lücken im habitualisierten Mediengebrauch erfahrbar werden, dort, wo Medienkonventionen überschritten und Überraschung, Innovation und Hybridisierung provoziert werden.42 Der Gedanke des Zwischenraums als Ort des Intermedialen offenbart, wie sehr eine intermediale Erfahrung einerseits von bestimmten habitualisierten und konventionalisierten Erwartungshaltungen mitbestimmt wird und andererseits intermediale Phänomene aufgrund ihrer Hybridisierung in Momenten der Transformation solche Mediendefinitionen als kanonisch bedingte Festschreibungen entlarven können. Gleichzeitig macht das oben beschriebene Konzept von Intermedialität deutlich, dass die reziproken Vernetzungs- und Interaktionsstrukturen auf verschiedenen Ebenen zu verorten sind und je nach Perspektive im Bereich der Darstellungsmittel oder aber in der Darstellung selbst zu beobachten sind, also auf Produktions- und Rezeptionsebene gleichermaßen erfahrbar werden. Auf der Basis dieser Grundüberlegungen versucht das folgende Kapitel, das bis hierher skizzierte Verständnis von Intermedialität auf die hybriden Wechselspiele des Theaters mit fremdmedialen Darstellungsformen zu übertragen und dabei so zu modifizieren bzw. zu ergänzen, dass es dem besonderen medialen Status des Theaters gerecht wird.

I n t e r m e d i a l i t ä t a l s ( th e a t r a l e r ) W a h r n e h m u n g sm o d u s Entsprechend der vorherrschenden Auffassung innerhalb der Intermedialitätsforschung, nach der Medien bzw. mediale Produkte immer schon in komplexen, reziproken Verhältnissen zueinander stehen und aufgrund dieser spezifischen Ontologie eher in Parametern des Austauschs und der Interaktion zu beschreiben sind, denn in solchen der Abgrenzung und Isolation, betrachtet auch die aktuelle theaterwissenschaftliche Forschung das Theater als eine genuin intermediale Kunstform. Diese Sichtweise basiert einerseits auf der historisch nachweisbaren Wechselbeziehung des 42 Paech (1998): 25. 115

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Theaters mit einer Vielzahl anderer Künste und Techniken und andererseits auf dem besonderen medialen Charakter des Theaters, das sowohl die zum System der theatralischen Zeichen gehörenden Einzelmedien wie Stimme, Musik, Körper etc. umfasst, als es auch in der Lage ist, sogenannte (technische) Fremdmedien wie beispielsweise Film oder Video in seine Ausrucksmittel zu integrieren. Mit dem Eintritt des Theaters in das Zeitalter der Medienkorrelation wurde seine Sonderstellung im Reich der multimedialen und intermedialen Wechselspiele bewusst [...], [nämlich seine (J.P.)] außergewöhnliche Fähigkeit [...], Medien unter Beibehaltung ihrer jeweiligen Wahrnehmungsmodi und technischen Repräsentationsbedingungen zu integrieren, [ohne] dass sich ihre Materialität in der Apparatur [des Theaters] verliert. Vermutlich ist diese Eignung Ursache dafür, dass die Bühne seit dem Beginn der Medienüberkreuzungen zum bevorzugten Schauplatz für intermediale Elemente avancierte und somit auch zur ‚Initiationsarena‘ für die theoretische Auseinandersetzung.43

Im Unterschied zu der in diesem Zusammenhang bereits mehrfach zitierten ablehnenden Haltung von Publikum und Theaterkritikern betrachtet die Forschung die zunehmende fremdmediale Ästhetik auch nicht als Verunreinigung der Theaterkunst, sondern als Bereicherung der Ausdruckspotentiale des Theaters und als Möglichkeit, die Strategien der Wirklichkeitserzeugung der sogenannten neuen Medien sowie der eigenen Illusionsmittel zu reflektieren und zu hinterfragen. Habitualisierte Wahrnehmungsmuster und konventionalisierte Erwartungsformen, die mit dem Theater bzw. den in ihm zum Einsatz kommenden anderen Medien und Künsten verbunden sind, werden durch die wachsende intermediale Interaktion irritiert und so neue ästhetische Sichtweisen eröffnet. Ebenso wie das Konzept der Intermedialität als Wissenschaftsparadigma die Vorstellung isolierter Einzelmedien als Konstrukt reduktionistischer Ästhetiken entlarvt hat, wird umgekehrt auch die bewusste Hybridisierung der theatralen Mittel weniger als bedrohliche Konkurrenz des Theaters betrachtet, sondern vielmehr als fruchtbare Form des Dialogs, der angesichts einer sich immer weiter diversifizierenden medialen Unterhaltungsbranche möglicherweise das Fortbestehen des Theaters im 21. Jahrhundert überhaupt erst garantieren kann. Aus einer theoretischen Perspektive stimmt diese Einschätzung mit der These des Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler überein, der ganz allgemein davon ausgeht, dass neue Medien alte nicht obsolet machen, sondern ihnen lediglich

43 Moninger (2004): 9 (Hervorhebung im Original). 116

INTERMEDIALITÄT UND THEATER

neue Systemplätze zuweisen,44 und aus der unmittelbaren theaterpraktischen Arbeit heraus ist Robert Lepage davon überzeugt, dass die neuen Technologien zur endgültigen Auflösung der Grenzen von Theater und Film führen werden, eine Vorstellung, die ihn nicht im geringsten beunruhigt.45 Unter der Berücksichtigung dieser Prämissen und der im vorangegangenen Kapitel präzisierten Analysekriterien lässt sich Intermedialität also als eine Formumwandlung medialer Produkte beschreiben, durch die neue ästhetische Wahrnehmungsformen entstehen, welche aufgrund der Irritation, Verzerrung oder Verschiebung spezifisch medialer Konventionen erfahrbar werden. Auf das Theater übertragen wäre dann zu präzisieren, was genau unter dem medialen Produkt, das dieser Formumwandlung unterzogen wird, zu verstehen ist. Ist es das Theater als plurimediales System, das durch die fremdmedialen Einflüsse in seiner Ästhetik hybridsiert wird, oder müssen in einer Mikroperspektive zunächst die das Theater konstituierenden Einzelmedien auf ihre Kontaminierung durch dem Theater fremde Elemente untersucht und die sich daraus ergebenden intermedialen Verschiebungen reflektiert werden? Wird das Theater durch die Integration technischer Darstellungsmittel oder fremder medialer Konventionen in seiner Gesamtheit einem intermedialen Transformationsprozess unterzogen, aus dem sich eine Differenzform ergibt, oder bleibt es aufgrund der von Moninger angesprochenen Sonderstellung nicht vielmehr immer Theater? Auf welche Art und Weise kann das Theater überhaupt mit anderen Medien und Kunstformen in Interaktion treten und wie genau manifestieren sich diese intermedialen Strategien? Bis zu welchem Grad gehört die 44 Kittler, Friedrich (1993): „Geschichte der Kommunikationsmedien.“ In: Huber, Jörg/Müller, Alois (Hg.): Raum und Verfahren. Basel: Stroemfeld/Roter Stern, 169-188, hier 178; zitiert nach Schröter (1998): 143. 45 Vgl. Balme (2004): 29. An anderer Stelle betont Lepage: „I think that twenty-first century theatre has to take into account the idea of crossbreeding. […] Th[e] new reality is a crossbreeding of multimedia, film, television without forcing it, but taking into account that all of these are going to have a great influence on the theatrical form of expression. […] To be a good observer, or a good user of this new phenomena, I’ve decided to create […] ExMachina. Of course the name indicates that we believe in the machine, that we believe that we can extract miracles out of technology, or extract miracles out of the machine. […] I hope by the time we get into the twenty-first century that people, theatre artists, will understand that we are part of a crazy form of art that has been liberated by film, that has been liberated by television, and not killed by film, not killed by television.” (Vgl. Bienen, Buchanan Leigh (1999): „Robert Lepage’s Theater.“ In: Triquarterly 104, 304-327, bes. 307-316.) 117

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Integration fremdmedialer Techniken zur spezifischen Ontologie des Theaters und wann muss von intermedialem Theater im Sinne einer ästhetischen Strategie gesprochen werden?46 Denn, so argumentiert Christopher Balme, „der Einsatz anderer Medien wie Film-, Video- oder Diaprojektionen im Theater ist allein noch kein Garant für Intermedialität“ und eine lediglich additive Verwendung fremder technischer Darstellungsmittel fällt eher unter den „bereits gängigen Begriff des multimedialen Theaters.“47 So wäre die Integration einer Filmprojektion, die lediglich als Hintergrundprospekt einer sich davor ereignenden Spielszene dient und somit als Element der Bühnendekoration fungiert, als ein multimediales Phänomen zu bezeichnen, die gleiche Sequenz kann aber beispielsweise durch die Interaktion von Bühnenfiguren mit dem Filmbild mit der Theaterszene synthetisieren und so zu einer intermedialen Nutzung des fremdmedialen Elements führen. Film wird in derartiger Verwendung als fremdes Medium im Theater repräsentiert und gleichzeitig mit genuin theatralen Ausdrucksformen verwoben. Eine andere, in den Inszenierungen Robert Lepages häufig zum Einsatz kommende intermediale Verfahrensweise ist das Zitieren und die Simulation bestimmter medialer Konventionen. Um einen Ortswechsel der Bühnenhandlung zu markieren, bedient er sich in Anlehnung an die fremdsprachige Untertitelung von Kinofilmen der Projektion eines Schriftzugs auf den oberen Bühnenrahmen oder eine Gazefläche, ebenso wie er viele seiner Stücke mit einer 46 Die hier angeführten Beispiele verweisen schon auf Elemente der im zweiten Teil der vorliegenden Studie analysierten Inszenierungen, thematisieren aber auch andere mögliche intermediale Strategien des Theaters. Dabei geht es in erster Linie um eine Andeutung der intermedialen Möglichkeiten des Theaters und weniger um eine detaillierte Erklärung der aus diesen Wechselspielen ableitbaren Implikationen für ein intermediales Verständnis von Theater. Eine systematische Untersuchung solcher Phänomene erfolgt im zweiten Teil dieser Arbeit. 47 Balme (2004): 20f. Balme weist an dieser Stelle auf die unterschiedliche Verwendung des Terminus ‚multimedial‘ im Sinne der Integration technische Medien und der Begriffsbestimmung der Theatersemiotik, die Theater auch in seiner technisch einfachsten Ausführung und ohne den Einsatz fremder Medien aufgrund der Vielzahl der im Theater interagierenden Zeichen bzw. Medien als multimedial bezeichnet, hin. (Vgl. dazu HessLüttich, Ernest W.B. (1984): „Multimediale Kommunikation als Realität des Theaters in theoriegeschichtlicher und systematischer Perspektive.“ In: Oehler, Klaus (Hg.): Zeichen und Realität. Tübingen: Gunter Narr, 915927.) Um diese terminologische Überschneidung zu umgehen, wird die besondere Ontologie des Theaters im Rahmen der vorliegenden Studie als ‚plurimedial‘ bezeichnet. Vgl. hierzu Meyer (1997). 118

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über eine vierte Wand ablaufenden Projektion der Namen der Schauspieler und Mitwirkenden der Produktion beginnen lässt. Die intermediale Bezugnahme des Theaters auf andere Medien und Künste wird oftmals auch über eine thematische Integration eines Fremdmediums in die Inszenierung realisiert, wie beispielsweise in Lepages erster Soloproduktion Vinci, in der das Medium Photographie sowohl inhaltlicher Bestandteil des Stücks ist als es auch durch Diaprojektionen in seiner spezifischen Materialität und seiner Beziehung zu anderen Künsten, wie in diesem Fall der Malerei, thematisiert wird.48 Die vielleicht spannendste und trickreichste Art intermedialer Verwebung im Theater beruht aber auf den besonderen Möglichkeiten des Theaters, die Konventionen und Sehgewohnheiten fremder Medien mit den eigenen Mitteln zu realisieren und so deren Verwendung im Theater nur zu simulieren. Balme zitiert in diesem Zusammenhang eine Szene aus Lepages Stück Polygraph, einer psychologischen Kriminalgeschichte, in der durch die Veränderung der Körperpositionen der Schauspieler und einen Lichtwechsel der Eindruck entsteht, man würde in der klassischen Kameraperspektive des ‚top shot‘ von oben auf die Szene schauen. Lepage realisiert hier mit theatralen Mitteln die Sehgewohnheit des Mediums Film im Theater ohne die Verwendung einer Filmprojektion.49 Die gleiche Intention steht auch hinter der Verwendung von Licht- und Schattenspielen, die mit Hilfe transparenter Gazevorhänge und Lichtprojektionen etwa das Flackern eines Feuers imitieren können und so metatheatral auf die Ursprünge des Theaters als Ritual verweisen. Die angeführten Beispiele intermedialer Verfahrensweisen des Theaters offenbaren, dass sich Intermedialität im Theater auf höchst unterschiedliche Art und Weise ereignen kann: Das Theater ist in der Lage, verschiedenste Medien und mediale Erscheinungsformen zu repräsentieren und diese dabei mit seinen eigenen Darstellungsformen zu verknüpfen, es kann sie intradiegetisch thematisieren oder auch mit seinen Mitteln realisieren und so deren Verwendung simulieren. Im Sinne eines definitorischen Intermedialitätsverständnisses für das Theater lassen sich die angeführten Bespiele in Abgrenzung zum multimedialen Theater unter dem Stichwort eines konzeptionellen Miteinanders der verschiedenen Medien und Kunstformen zusammenfassen. In all diesen Formen werden aber weder die jeweiligen Wahrnehmungsmodi der mit dem Theater interagierenden Medien noch der ontologische Status des Theaters in seiner Gesamtheit verändert, sondern es werden lediglich einzelne der es konstituierenden Teilmedien durch die intermediale Bezugnahme hybridisiert oder gebrochen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Schau48 Diese Inszenierung ab S. 129 ausführlich analysiert. 49 Vgl. Balme (2004): 27. 119

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spielerkörper mit einem filmischen Körperbild interagiert oder die Stimmen der Darsteller durch eine Maschine verzerrt oder mittels Lautsprechern von dem sie produzierenden Körper entfernt werden. Wenn das Theater die Sehgewohnheiten anderer visueller Ausdrucksformen imitiert und etwa durch Filmprojektionen bestimmte Konventionen des Kinos zitiert, dann provozieren diese Phänomene zwar eine Irritation der gewohnten theatralen Rezeptionssituation, gleichwohl bleibt sich der Zuschauer in diesen Momenten seiner Präsenz in einem Theater bewusst. Im Wechselspiel mit anderen Medien und Künsten bleibt das Theater also trotz all seiner Möglichkeiten der intermedialen Bezugnahme das diese Interaktionen in sich integrierende Medium, eine Tatsache, die Kati Röttger schon in Bezug auf die Anwendbarkeit des von Krämer entworfenen Medienbegriffs auf das Theater problematisiert hat.50 Balme führt hinsichtlich dieser besonderen Qualitäten des Theaters den Begriff des „Rahmenmediums“ im Sinne eines Hypermediums ein und versucht damit, die schon bei Higgins und auch in den oben skizzierten theoretischen Modellen eines Analyseinstrumentariums berücksichtigte Dimension der Wahrnehmung als Untersuchungskategorie zu funktionalisieren. Sowohl Higgins als auch Müller, Paech und Spielmann heben zwar die veränderte Form der Wahrnehmung hervor, können diesen subjektiven, weil ausschließlich beim Rezipienten verorteten Aspekt von Intermedialität jedoch nur schwer in systematische Untersuchungsparameter übersetzen. Mittels einer soziologischen Perspektive auf den Begriff des ‚Rahmens‘, wie ihn Erving Goffman für die Analyse von Organisationsprinzipien sozialer Ereignisse verwendet,51 gelingt es Balme, das von Müller genannte „konzeptionelle Miteinander“ bzw. das „ästhetische Differenzial“ und die an den „intermedialen Klebestellen entstehende neue symbolische Form“ in einer theaterwissenschaftlichen Herangehensweise an intermediale Phänomene fassbar zu machen. Dabei wird deutlich, dass der Terminus des Rahmens im Kontext theaterwissenschaftlicher Parameter eine mindestens doppelte Konnotation erhält: Der Rahmen kann einerseits den materiellen Rahmen der Proszeniumsbühne und die zum Zuschauer offene Seite des Guckkastens oder in einem dramentheoretischen Zusammenhang die narrativen Bedingungen einer Spielhandlung beschreiben, andererseits aber auch in einem allgemeinsoziologischen Verständnis den sozialen Raum des Theaters als Teilsys50 Vgl. das Kapitel ‚Verkörperung und Transformation – Zur Funktionsweise von Medien‘ sowie Röttger (2003): 175. 51 Goffman, Erving (1993): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. (orig. Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. New York (et al.): Harper & Row, 1974). 120

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tem von Gesellschaft benennen. Für seine Verwendung als Schlüsselbegriff intermedialer Austauschprozesse im Theater ist diese Doppeltcodiertheit des Begriffs als mediale, also in formaler Hinsicht auf das Theater bezogene Kategorie sowie als soziologische Demarkations- bzw. Definitionsgrenze von entscheidender Bedeutung: Der Begriff der Rahmung dient zur Erforschung des Verhältnisses von medienästhetischen Innovationen, insbesondere hinsichtlich des Theaters zu den [neuen] Bildmedien und der Reflexion und Thematisierung der Medialität in den Medien selbst, [...] sowie der Frage, wie der Akt der Rahmung und damit die Apparatur der ästhetischen Perzeption herausgestellt wird.52

Nach Goffman ist Rahmensetzung eine soziokulturell bedingte kognitive Aktivität, die soziale Interaktion durch die Bereitstellung bestimmter sozialer Parameter bzw. Regeln reguliert und es somit ermöglicht, menschliches Verhalten und Handeln „rahmenkonform“ zu organisieren. Wenn der einzelne in unserer westlichen Gesellschaft ein bestimmtes Ereignis erkennt, neigt er dazu, [...] seine Reaktion von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen [...]. Soziale Rahmen [...] liefern einen Verständnishintergrund für Ereignisse, an denen Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz [...] beteiligt sind. Der Handelnde ist „Maßstäben“ unterworfen, sozialer Beurteilung seiner Handlung auf Grund ihrer Aufrichtigkeit, Wirksamkeit, Sparsamkeit, Ungefährlichkeit, Eleganz, ihres Takts, guten Geschmacks usw. [...] Alle sozialen Rahmen haben mit Regeln zu tun.53

Auf das Theater angewandt bestimmt dessen Rahmen die in ihm wirksamen Regeln und schafft damit eine auf sozialen Konventionen beruhende Unterscheidung zwischen Theater- und Alltagssituation. Im Bewusstsein, dass eine bestimmte Wirklichkeit bzw. die Art und Weise ihrer Darstellung im Theater, also in einem vom Alltag abgegrenzten, besonderen Bezugssystem, wahrgenommenen wird, wird diese Erfahrung zunächst eng auf das jeweilige System, in diesem Fall den theatralen Kontext bezogen, kann aber, wie Klaus Schwind hervorhebt, aufgrund

52 Balme, Christopher (2001): „Pierrot encadré. Zur Kategorie der Rahmung als Bestimmungsfaktor medialer Reflexivität.“ In: Leeker, Martina (Hg.): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 480-492, hier 480f. 53 Goffman (1993): 31-34. 121

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der „dynamischen Organisationsqualität“ solcher Rahmensetzungen auch auf jeweils andere Wahrnehmungshorizonte übertragen werden.54 Erst die pragmatisch bedingte metakommunikative Setzung des Rahmens ermöglicht es, dass für die Wahrnehmung der Spielhandlungen innerhalb des Rahmens immer zuerst die Regeln des Spiels gelten und nicht diejenigen Regeln, die ansonsten außerhalb dieses Rahmens die Wahrnehmung von Wirklichkeit ordnen. [...] Die sowohl materiell als auch ideell verstehbaren räumlichen und zeitlichen Rahmen für das Spielen werden durch konstitutive ‚Spielregeln‘ begründet. [...] Der abgrenzende Rahmen wird von den Mitspielern vor allem dadurch vorausgesetzt und anerkannt, dass sie sich in einer bewussten Entscheidung eben auf das Spiel mit Bedeutungsebenen einlassen. [...] Paradoxerweise ist [...] dieses abgegrenzte System ‚Spiel‘ – gerade wegen seiner Abgegrenztheit – ein per definitionem offenes, weil es im Spielablauf von konkreten Spielern gefüllt werden muss, die stets Erwartungen, Intentionen und Erfahrungen von außen mit ins Spiel bringen. Aus diesem Grund sind und bleiben trotzdem fürs Spielen Bedeutungen ‚von außerhalb‘ immer als äquivalenter oder oppositioneller Bezugspunkt für gespielte Bedeutungen vorstellbar. Ein solcher Bezugspunkt kann von einem Spieler oder Betrachter, der entsprechende Relationen herstellen will, jederzeit aktiviert werden, wenn er eben AußenBedeutungen auf die Spiel-Bedeutung innerhalb des Rahmens beziehen will.55

Mit der Adaption der Rahmentheorie auf die konkrete Situation des Theaters sieht Balme eine „wahrnehmungsstrukturierende Kategorie“ begründet, die den Rahmen als einen Schlüsselbegriff für intermediale Austauschprozesse im Theater identifiziert: „Ersetzt man den Ausdruck „Regeln des Spiels“ durch „Regeln des jeweiligen Mediums“, so ist das medienästhetische Spielpotential [des Theaters, J.P.] erfasst, [denn] die Idee der visuellen Präsentation bzw. Ostension des Rahmens erfüllt die Funktion eines medienästhetischen, den Aspekt der medialen Reflexivität bezeichnenden Metakommentars.“56 Unter Berücksichtigung dieser soziologischen Präzisierung des Rahmenbegriffs erscheint also die Kennzeichnung des Theaters als Rahmenmedium nicht lediglich als indifferenter Behälter für eine Vielzahl in ihm zum Einsatz kommender Einzelmedien, sondern es wird möglich, das konzeptionelle intermediale Miteinander der verschiedenen medialen Darstellungsformen vor dem Hintergrund der medialen Konventionen des Theaters näher zu bestimmen. Dabei scheint es weniger relevant, ob 54 Schwind, Klaus (1997): „Theater im Spiel – Spiel im Theater. Theoretische Überlegungen zu einer theaterwissenschaftlichen Heuristik.“ In: Weimarer Beiträge 43 (3), 419-443, hier 422. 55 Ebd.: 423f. (Hervorhebungen im Original). 56 Balme (2001): 481f. 122

INTERMEDIALITÄT UND THEATER

Intermedialität sich als tatsächliche Fusion zweier medialer Darstellungsformen zu einer neuen Differenzform ereignet, wie es etwa im Fall der Simulation filmischer Wahrnehmungsmodi mit theatralen Mitteln der Fall ist, oder ob Film lediglich durch die Konfrontation lebendiger, dreidimensionaler Schauspielerkörper mit zweidimensionalen filmischen Körperbildern in ein Spannungsverhältnis zum Theater gesetzt wird und Intermedialität auf der Ebene der Rezeption dieses hybriden FilmTheater-Bildes zu lokalisieren ist, denn vor all jenen intermedialen Interaktionsprozessen steht das Theater mit seinen den Wahrnehmungsrahmen bestimmenden medialen Konventionen. Selbst wenn die Filmsequenz dieselbe ist, die wir etwa aus einem Spielfilm kennen, so bleibt der für die intermediale Wahrnehmung relevante Bezugspunkt das Theater, das auf unterschiedlichste Weise mit dem Film interagieren oder auf ihn Bezug nehmen kann. Es zeigt sich also, dass der Rahmen als Wahrnehmungskategorie sowie als Analysekriterium dazu geeignet ist, um die problematische, weil oft subjektive und somit formal kaum greifbare Dimension der intermedialen Rezeption zu erfassen. Dabei erweist sich der Begriff für eine theaterwissenschaftliche Analyse intermedialer Prozesse insofern als prädestiniert, weil mit ihm sowohl der Sonderstellung des Theaters im intermedialen Beziehungsgeflecht als auch dessen Funktion als Schauraum Rechnung getragen wird, und so sowohl die intermedialen Kompetenzen des Theaters als auch dessen selbstreferentielle Funktion als Hypermedium beschrieben werden kann. Das Theater und seine ihm eigenen Regeln für die Herstellung und die Rezeption von Wirklichkeit dienen als Apparatur ästhetischer Perzeption, durch die die jeweils in seinem Rahmen repräsentierten, thematisierten oder simulierten fremdmedialen Konventionen wahrgenommen werden. Dabei bilden die dem Theater eigenen Regeln für Darstellung und Wahrnehmung die Folie, auf der sich ein Reflexionsraum eröffnet, der in der durch die intermedialen Interaktionen provozierten Hybridisierung theatraler Konventionen den Akt des Betrachtens und die Situation der intermedialen Bezugnahme bewusst machen kann. In der Form des Theaters als spezifischem Wahrnehmungs- bzw. Schauraum offenbart sich seine metareflexive Situation sowohl in Bezug auf seine Ontologie als Medium und als Rahmenmedium als auch hinsichtlich seiner Sonderstellung in intermedialen Wechselbeziehungen. Das Theater zeigt, und zwar nicht nur das Was, sondern auch das Wie, und das nicht nur in Bezug auf seine eigenen Mittel, sondern auch auf die in ihm zur Anwendung kommenden Fremdmedien. Wenn Sybille Krämer Medialität als Performativität konzipiert, dann lässt sich das Theater als ein paradigmatischer Ort medialer Performanz kennzeichnen, der im Moment der (in-

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ter)medialen Interaktion die Art der Hervorbringung besonders herausstellen kann und so die unsichtbare Seite der Medialität bzw. die der Botschaft anhaftenden Spuren des Mediums in den Fokus rückt. Hier zeigt sich nicht nur, dass aufgrund der spezifischen Ontologie des Theaters der Denkansatz des Rahmens als Wahrnehmungskategorie für intermediale Phänomene für ein theaterwissenschaftliches Intermedialitätskonzept geeignet scheint, sondern die Idee des Rahmens erweist sich auch als adäquate Übersetzung des von Krämer beschriebenen Moments der Aisthetisierung als Kern des Wechselverhältnisses von Medialität und Performanz. In Krämers Ansatz wird die Konstitutionsfunktion von Medien eben nicht nur auf der Produktionsseite, sondern auch beim Rezipienten verortet, der im Moment der Wahrnehmung das, was er sieht, auch mit hervorbringt. Der Rahmen, wie ihn Balme im Anschluss an Goffman und in Bezug auf die theatrale Spielsituation konzipiert, schafft eine spezifische Situation von Aisthetisierung, die sowohl die jeweiligen im Theater zum Einsatz kommenden Einzel- und Fremdmedien unter Beibehaltung ihrer spezifischen medialen Konventionen wahrnehmbar macht, als auch gleichzeitig durch die besondere Ästhetik der theatralen Rahmung eine intermediale Erfahrung möglich wird. Mit Rückgriff auf das erarbeitete performative Medialitätsverständnis, in dem Intermedialität die epistemische Bedingung für Medienerkenntnis ist, und vor dem Hintergrund einer theaterwissenschaftlichen Konzeption von Intermedialität, die das Theater als Medium und als (intermediales) Rahmenmedium zugleich versteht, erweist sich das Theater als Ort einer auf Wahrnehmung fußenden Performanz als paradigmatisch für die Reflexion über die Ontologie von Medien und ihrer Fähigkeiten zur wechselseitigen Bezugnahme. Auf welch unterschiedliche Weise diese intermediale Interaktion im Rahmen des Theaters vonstatten gehen kann und welche Erkenntnisse sich daraus für die jeweiligen Fremdmedien, aber auch für das Theater selbst als Kunstform und als Kulturtechnik ergeben, zeigen die Inszenierungsanalysen im folgenden Teil dieser Untersuchung.

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INTERMEDIALITÄT

IM QUÉBECER

THEATER

Die im zweiten Teil dieser Studie zu untersuchenden Inszenierungen zeitgenössischer québecer Theaterkünstler präsentieren ein Panorama intermedialer Theaterarbeit der letzten zwanzig Jahre. Die Auswahl der Produktionen ist dabei chronologisch angelegt, um einerseits die durch die wachsenden technisch-apparativen Vorraussetzungen bedingte kontinuierliche Weiterentwicklung intermedialer Strategien aufzuzeigen, und andererseits durch eine die verschiedenen Arbeiten eines jeweiligen Künstlers übergreifende Analyse auch dessen künstlerisches Credo sowie die Weiterentwicklung der jeweiligen ästhetischen Strategie zu beschreiben. Anhand der verschiedenen Inszenierungen kann dargelegt werden, warum und wie das Theater in der Lage ist, die spezifische Wirkung von Medien – und zwar sowohl dem Theater genuiner als auch der in dessen Ästhetik integrierter neue ‚Fremdmedien‘ –, die in anderen Kontexten nur latent erfahrbar werden, aufzudecken und zu reflektieren. Medien werden in dieser Perspektive als kulturelle Techniken erfahrbar und das Theater kann in diesem Zusammenhang aufgrund seiner Selbstreflexivität als ein spezifischer Modus medialer Wahrnehmung verstanden werden. Aufgrund dieser Selbstreflexivität können im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Fokussierung medialer Phänomene im Theater gleichzeitig auch deren ästhetische Potentiale sowie ihre Bedeutung für das Theater als Kunstform untersucht werden. Unter Berücksichtigung des im voranstehenden Kapitel erarbeiteten Intermedialitätsverständnisses lassen sich die von den verschiedenen Theatermachern verfolgten intermedialen Strategien als eine künstlerische Umsetzung der Idee des Rahmens als intermediale Bezugskategorie (Robert Lepage), als Spiel mit dem Rahmenmedium (Gilles Maheu), als Erforschung des Theaters als Klangraum (Marie Brassard) und schließlich als eine durch die ultimative Extension medialer Möglichkeiten bedingte Infragestellung des theatralen Kommunikationsmodells (Denis Marleau) zusammenfassen. Um die Inszenierungen nicht nur auf ihre Funktion als Illustration des Intermedialitätsdiskurses zu reduzieren, sondern sie in der ihnen eigenen Ästhetik und im Kontext der gesamten Theaterarbeit der jeweiligen Künstler würdigen zu können, geht jedem 125

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

der Analysekapitel ein kurzes Portrait voran, das die Charakteristika des Schaffens der Künstler skizziert und die spezifischen Merkmale ihrer Ästhetik herausstellt. Die Soloproduktionen Robert Lepages bilden aus zwei Gründen den Auftakt der nun anschließenden Untersuchungen: Zum einen, weil Lepages intermediale Ästhetik die Idee des Theaters als Rahmenmedium auf paradigmatische Weise exemplifiziert und die Inszenierungsanalysen seiner Stücke somit den Ausgangspunkt für daran anschließende Ergänzungen der intermedialen Möglichkeiten des Theaters darstellen können, zum anderen, weil sich in allen fünf Inszenierungen entsprechend der Ausgangsthese der vorliegenden Studie die kulturell hybride Situation der Provinz Québec in der formalästhetischen Hybridität der Ausdrucksmittel spiegelt und Produktionsort sowie Produktionsästhetik so in ein wechselseitiges Verhältnis gesetzt werden können. Die den Inszenierungen von Robert Lepage und Marie Brassard zugrundeliegenden Texte stammen aus der Feder des jeweiligen Künstlers und existieren nur als Manuskriptfassungen. Die Stückfassungen sind Eigentum der Theater und nicht frei zugänglich, wurden von den Kompanien ExMachina und Infrarouge für diese Forschungsarbeit aber zur Verfügung gestellt. Alle zitierten Textstellen beziehen sich auf diese Fassungen und werden in den folgenden Kapiteln unter Angabe des abgekürzten Titels und der entsprechenden Seitenangabe belegt. Weitere Quellen für die Analysen sind die Videoaufzeichnungen aller Inszenierungen, die ebenfalls Eigentum der jeweiligen Kompanien sind, sowie Aufführungsprotokolle der Produktionen The Darkness, Peepshow, La face cachée de la lune und Le projet Andersen, die die Verfasserin während der Gastspiele in Berlin, Wien, Straßburg und Kopenhagen anfertigen konnte.

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ROBERT LEPAGE - „LE

MEDIUM SERA

LE MESSAGE“

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Robert Lepage ist unbestritten der bekannteste und renommierteste Theaterkünstler Québecs und seine Inszenierungen wurden zunächst in erster Linie aufgrund ihrer interkulturellen Thematik und der Thematisierung der für die Provinz Québec spezifischen Frage nach dem Eigenen und dem Fremden wahrgenommen. Seine Ästhetik ist dabei im Laufe von inzwischen mehr als zwanzig Jahren Theaterarbeit zum Kreuzungspunkt von Kulturen, Sprachen und Künsten geworden und Lepage hat die Vorstellung von Theater als einer mimetisch-repräsentativen und ergebnisfixierten Kunstform zugunsten der Idee des interaktiven Austauschs mit dem Publikum durch eine Sprache der Bilder verabschiedet. In seinem multimedialen Produktionszentrum, der Caserne Dalhousie in Québec, in der seine Truppe ExMachina ansässig ist, erforscht er in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren besonders die Möglichkeit der Integration technischer Medien und provoziert somit nicht nur eine vollständige Veränderung theatraler Wahrnehmung, sondern thematisiert auch grundsätzlich die Illusionsmechanismen dieser zumindest im Theater oft neu erscheinenden Darstellungsformen.2 1957 in Québec geboren beginnt Robert Lepage seine Ausbildung 1975 am Conservatoire d’art dramatique seiner Heimatstadt und studiert später u.a. bei dem Schweizer Regisseur Alain Knapp, dessen Methodik er als eine „approche globale du théâtre“3 bezeichnet und die die multifunktionale Rolle des Regisseurs als Autor und Darsteller betont. Nach Beendigung seiner Ausbildung kehrt er 1980 nach Québec zurück und arbeitet dort zunächst als Improvisationskünstler und ab 1982 gemeinsam mit Jacques Lessard in dessen Kollektivtheatergruppe Théâtre Repère. Aus dieser Zusammenarbeit resultiert das Arbeitsprinzip der méthode 1 2 3

Charest, Rémy (1995): Robert Lepage. Quelques zones de liberté. Québec: L’Instant même, 92. Vgl. hierzu auch die Internetseite der Kompanie ExMachina unter (2006-12-10). Crevier, Lyne (1993): „Robert Lepage et ses principaux spectacles.“ In: Cahiers de la NCT 6, 7-13, hier 7. 127

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Repère, die das gesamte theatrale Schaffen Lepages prägt und die eine Inszenierung als das Ergebnis eines work-in-progress versteht, in den alle Beteiligten – seien es Schauspieler, Musiker, Techniker, Bühnendesigner, aber auch das Publikum – gleichberechtigt integriert sind.4 Diese formale Konzeption lässt die literarische Basis des Autorentheaters hinter sich und entwickelt ausgehend von der freien Arbeit an einem konkreten Objekt eine visuelle Theatersprache, die an die Stelle einer speziellen Leitidee einer Inszenierung tritt und die künstlerische Botschaft vollkommen neuen semantischen Regeln unterwirft. Eine Vielzahl heterogener Elemente ergänzen sich zu einer Fülle multidimensionaler Bilder, zu einer „écriture scénique“5, die durch die Vielschichtigkeit ihrer Bedeutung eine interaktive Dynamik zwischen Bühne und Zuschauerraum eröffnet.

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Der Name Repère, der übersetzt soviel wie ‚Anhaltspunkt‘ oder ‚Markierung‘ bedeutet, steht als Akronym für die Anfangsbuchstaben der Begriffe, die die Grundprinzipien dieses Theatermodells skizzieren, nämlich: Ressource; Partition; Evaluation und Représentation. Diese vier Begriffe stehen für vier zyklisch angelegte Arbeitsphasen: Zu Beginn einer Produktion steht die Suche nach einer Quelle (ressource) oder einem Objekt, das zum Ausgangspunkt des Sammelns von Assoziationen wird. Alle am Schaffensprozess Beteiligten tragen ihre Gedanken, Emotionen und Erinnerungen, die sie mit dem konkreten Objekt verbinden, als Material zusammen. Eine ‚ressource‘ ist im Gegensatz zu einem ‚Thema’ etwas, das nicht auf intellektueller Basis diskutiert werden kann, sondern auf Intuition beruht. Im zweiten Schritt (partition) wird mit dem gesammelten Material gearbeitet, improvisiert und versucht, die Dimensionen der ‚ressource‘ im Gesamten zu erfassen. Die Ergebnisse dessen werden dann in der ‚évaluation‘ zusammengetragen, bewertet und nach Brauchbarkeit für den theatralen Prozess geordnet. Letzter aber prinzipiell auch wieder erster Punkt im Zyklus ist die ‚représentation‘, die Aufführung des fertigen Stücks, das in der Theorie möglicherweise wieder zum Ausgangspunkt für eine neue Suche nach Ressourcen werden und in die nicht verwendete Elemente der ersten Arbeitsphase Eingang finden können. Vgl. dazu auch: Lessard, Jacques (1985): „Une troupe de découverte.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 36, 229231; Manguel, Alberto (1989): „Theatre of the miraculous.“ In: Saturday Night (Januar), 32-42 und Roy (1993). Eine exemplarische Darstellung eines solchen Entstehungsprozesses liefert Pierre Lavoie am Beispiel der Trilogie des Dragons. Vgl. Lavoie, Pierre (1987): „Points de repère: Entretiens avec les créateurs.“ In: Cahiers de Théâtre Jeu 45, 177-208. Hébert, Chantal/Perelli-Contos, Irène (2001b): „L’Œuvre de Robert Lepage. Voyage(s) métaphorique(s) et décalage(s) perceptif(s).“ In: Lafon, Dominique (Hg.): Le théâtre québécois 1975-1995. Montréal: Fides, 265280, hier 265. 128

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

Malheureusement, le théâtre est régi par l’idée qu’un metteur en scène sait dès le départ où il s’en va et ce que ça va donner. Mais s’il en est ainsi, ce n’est pas intéressant, car l’aventure n’existe plus. Le théâtre, c’est l’art de la transformation à tous les niveaux, que ce soit un changement de décor, la chimie qui transforme les verbes en émotions, en sentiments, etc. Et le spectateur vient, consciemment ou inconsciemment, pour participer à cette métamorphose; il est aussi créateur. Il vient parce qu’il veut voir autrement.6

Mit dem Théâtre Repère, dessen künstlerischer Leiter Lepage später wird, kreiert er bis 1985 eine Reihe kleinerer Stücke,7 bis die Truppe und damit auch ihr Regisseur mit dem Erfolg der pankanadischen Saga La Trilogie des Dragons (1985-1987) weit über die Grenzen Kanadas hinaus bekannt und berühmt wird. Seitdem wechseln sich im Kollektiv erarbeitete Großprojekte mit kleineren und intimeren Solostücken ab. Dabei verknüpft Lepage das in der Arbeitsmethode repère verankerte Prinzip der Transformation und der semantischen Beweglichkeit der Theaterzeichen spätestens seit La Trilogie des Dragons auf inhaltlicher Ebene immer wieder mit der Frage nach einer spezifischen québecer Identität, den Themen Fremdheit und Migration in einer globalisierten Welt und der Möglichkeit interkultureller Kommunikation durch eine in erster Linie mit Bildern operierende Theatersprache.8 „L’arte è un veicolo”, sagt eine Figur in der ersten Soloproduktion Vinci (1986) und bringt damit ein Charakteristikum der Arbeiten Lepages auf den Punkt: Die Stücke des Frankokanadiers handeln immer wieder von québecer Figuren, die ihr persönliches und kulturelles Bewusstsein und Selbstbewusstsein erst durch die Konfrontation ihrer eigenen Kultur 6 7

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Hébert, Chantal/Perelli-Contos, Irène (1994a): „La tempête Robert Lepage.“ In: Nuit blanche 55, 63-66, hier 64. Für eine ausführliche Theatrographie bzw. ein Werkverzeichnis der Produktionen Robert Lepages vgl. Charest (1995): 209-222 und Fouquet, Ludovic (2005): Robert Lepage, l’horizon en images. Québec: L’Instant même, 343-349. Vgl. hierzu Pfahl, Julia (2005): Québec Inszenieren. Identität, Alterität und Multikulturalität als Paradigmen im Theater von Robert Lepage. Marburg: Tectum; Simon, Sherry (2000): „Robert Lepage and the Languages of Spectacle.“ In: Donohoe, Joseph I./Koustas, Jane M. (Hg.): Theater sans frontières. Essays on the Dramatic Universe of Robert Lepage. East Lansing: Michigan State University Press, 215-230 und Carson, Christie (2000): „From Dragons’ Triologie to The Seven Streams of the River Ota: The Intercultural Experiments of Robert Lepage.“ In: Donohoe, Joseph I./Koustas, Jane M. (Hg.): Theater sans frontières. Essays on the Dramatic Universe of Robert Lepage. East Lansing: Michigan State University Press, 43-78. 129

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

mit dem Fremden erlangen, und diese Begegnungen vollziehen sich oftmals mittels eines künstlerischen Wegs, der die Charaktere durch eine Reise mit den Werken und dem Denken fremder Künstler in Kontakt bringt. Die Metapher von der Kunst als Vehikel konkretisiert sich in eben jenem Motiv des Reisens, und das auf inhaltlicher Ebene, aber auch in formaler Hinsicht im Sinne einer Beschleunigung des theatralen Blicks und in der visuellen Transformation gewöhnlicher Gegenstände, die die Wahrnehmung verschieben und neue, vielschichtige Lesarten möglich machen. Dieser formale Aspekt seiner Arbeit wird in jüngster Zeit durch eine zunehmend intermediale Ästhetik ergänzt, die durch die Verwendung unterschiedlichster medialer Darstellungsformen im Theater besonders die Frage nach der Zukunft desselben in einer durch visuelle Medien beherrschten Kultur aufwirft. Dabei verbindet sich die Idee einer transnationalen visuellen Kommunikation mit der Orientierung des Theaters an Darstellungskonventionen des Kinos oder des Internets, und das im Bewusstsein, dass die Darstellungsmodi der sogenannten neuen Medien die Sehgewohnheiten einer zukünftigen Zuschauergeneration prägen und das Theater der Konkurrenz der elektronischen Medien nur dann standhalten kann, wenn es sich ästhetisch deren Ausdrucksformen anpasst. Im Zusammenhang mit dieser dezidiert zukunftsorientierten Arbeit an zeitgemäßen theatralen Darstellungsmitteln wird Lepage immer wieder vorgeworfen, sich an trivialen narrativen Erzählsträngen festzuklammern, die Klischees transportieren und deren Dialoge mit dem Format amerikanischer Serien oder gar der Lindenstraße zu vergleichen seien.9 Chantal Hébert und Irène Perelli-Contos sehen diese Kritik in einer grundsätzlich anderen Konzeption von Theater und Regiearbeit der jeweiligen Kritiker begründet, die die Arbeiten Lepages mit den literarischen Texten eines Dramentheaters vergleichen und dabei die Prozesshaftigkeit seiner Produktionen und seine visuelle Konzeption von Theater aus ihrer Beurteilung völlig ausklammern: Serait-ce la raison pour laquelle tous ceux qui persistent à évaluer et à critiquer ,à la pièce‘ les créations de Lepage se retrouvent dans l’embarras? Si les modes de création ont changé, n’est-il pas impérieux que les modes de réception, d’évaluation et de critique changent aussi?10

Indem sich Lepage von dem Imperativ einer rationalen Logik der Inszenierung befreit und auf die plurale Medienkompetenz seines Publikums 9

Vgl. Wille, Franz (1996): „Mit der Gießkanne im Regen stehen.“ In: Theater heute 8, 16-23, hier 22. 10 Hébert/Perelli-Contos (2001b): 273. 130

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sowie dessen Fähigkeit der freien Assoziation vertraut, kann er den ästhetischen Schwerpunkt seines Schaffens auf die Art und Weise des Geschichtenerzählens, auf die Frage nach dem Wie und weniger nach dem Was des Dargestellten legen. Dieses besondere Wie des Erzählens im Theater manifestiert sich in erster Linie in seinen fantastischen Bildern, die hinter ihrer ersten Aussage latente Botschaften und versteckte Hinweise enthalten und ihre Vielgestaltigkeit und Tiefe erst im Laufe des Stücks und unter dem individuellen Blick des einzelnen Zuschauers preisgeben. Dabei nutzt er die illusionären Möglichkeiten der neuen Medien auf höchst vielfältige Art und Weise, ohne dabei das Theater in seiner ursprünglichsten Form als Ort des rituellen Geschichtenerzählens, des gemeinsamen Wahrnehmens, der Kommunikation im Sinne einer Kommunion jemals in Frage zu stellen.11 Der Medieneinsatz im Theater Robert Lepages ist also niemals reiner Selbstzweck im Sinne einer Technisierung der Bühne durch fremdmediale Darstellungsweisen. Lepage beweist vielmehr ein feines Gespür für unterschiedliche mediale Konventionen, die er oft einfach mit rein theatralen Mitteln imitiert und so neuartige Wahrnehmungsformen eröffnet. Technik kann für Lepage auch schon ein Schattenbild sein, das durch die Projektion einer Kerzenflamme oder den Lichtschein einer Taschenlampe hinter einer Papierwand entsteht. Besonders das Licht als ältestes und urtheatrales Mittel ist für ihn ein potentielles Werkzeug der Illusionserzeugung und der Erschaffung von Bildern.12 Ganz im Geist der Renaissance, in der die Begriffe Technik und Kunst synonym verwandt wurden, sie sich gegenseitig durchdrangen und sich reziprok befruchteten, interessiert sich Lepage für die neuen Medien und ihr technisches Potential im Sinne einer Dienstbarmachung ihres Funktionierens für das Theater. Devant l’enfilade d’images aux structures spatiales inédites, aux textures nouvelles, aux perspectives éclatées, le regard est soumis pour ainsi dire à des déflagrations, à des décalages visuels, à des démantèlements perceptifs, qui

11 Im Unterschied zum rein linguistischen Aspekt des Kommunizierens im Sinne einer reziproken Transportstruktur liegt für Lepage das Besondere der theatralen Kommunikationssituation in der communion, im gemeinsamen Erleben von Zeit und der geteilten, weil wechselseitig bedingten Form von Wahrnehmung: „Il est évident que l’on cherche toujours à communiquer quelque chose, mais, au théâtre, l’attention est dans la communion. […] [L]a communion est ce qui envoûte, nourrit et attire les gens.” Vgl. Hébert/Perelli-Contos (1994a): 64f. 12 Zur Bedeutung des Lichts im Theater Lepages und dessen archaischer Verwendung als Mittel der Schattenerzeugung im rituellen Theater vgl. Fouquet (2005): 86-104. 131

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

sont autant d’épreuves visuelles ébranlant les modalités de la perception et les codes du visible qui ont prévalu jusqu’ici, autant d’épreuves remettant en question la notion traditionnelle de représentation en tant que copie plus ou moins conforme d’un réel conçu pendant longtemps comme stable et objectif, autant d’épreuves s’ouvrant sur des imaginaires nouveaux dont les logiques et les topologies nous sont encore peu familières. Il appert que la pertinence de l’image comme médium réside moins dans sa capacité de représenter que dans ses effets métaphoriques sur le regard, incitant le spectateur à voir ,autrement‘ et plus loin que l’œil ne voit.13

So wie das Feuer der archaischen Theaterformen und die mechanischen Geräte des antiken Theaters sind auch die filmischen Bilder, die Videoprojektionen, Soundmaschinen und Computer, die längst Einzug auf den zeitgenössischen Bühnen gehalten haben, nur Werkzeuge unserer Epoche, die die der Vergangenheit ersetzen und deren Benutzung weder das Theater noch die anderen Künste jemals gescheut haben. Ein Theater, das dieser Entwicklung Rechnung trägt, indem es neue Medien und ihre Darstellungsformen in seine Ästhetik integriert, ermöglicht aber auch eine kritische Infragestellung von Repräsentation, die Verschiebung von Perzeption, das Aufbrechen starrer Sichtweisen und die Dekonstruktion eines rationalen Diskurses. Au-delà de tout parti pris relatif à l’utilisation scénique de ces technologies, rappelons néanmoins que le théâtre a su, tout au long de son histoire, tirer profit des découvertes scientifiques et techniques. N’a-t-il pas toujours intégré la ,machinerie‘ du moment, dans la mesure où elle lui permettait non seulement de produire l’extraordinaire et l’inimaginable, mais aussi de toucher la sensibilité propre à chaque époque? Serions-nous plus ,purs‘ que le théâtre, cet art impur et hybride par excellence? Aurions-nous oublié que l’art et la technologie furent intimement liés à certains moments?14

Lepages Theater ist in diesem Sinn doppelt innovativ: Es reagiert in seiner Ästhetik auf die sich verändernden Wahrnehmungsgewohnheiten seines Publikums und garantiert damit die Konkurrenzfähigkeit seiner Kunstform gegenüber anderen Medien, aber es entlarvt auch das Machtpotential der technischen Illusionsmittel, indem es mit theatralen Mitteln deren Effekte realisiert und somit einen Blick hinter die medialen Kulissen erlaubt. Für eine Analyse dieser intermedialen Verfahrensweisen eignen sich besonders seine fünf Solostücke, deren Entstehung sich über den gesamten Zeitraum seines theatralen Schaffens erstreckt, und in denen jeweils 13 Perelli-Contos/Hébert (2001b): 277. 14 Ebd.: 278. 132

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ein technisches Bildmedium, nämlich die Photographie (Vinci, 1986), der Film (Les Aiguilles et l’Opium, 1991), Video (Elsinore, 1995), das Fernsehen (La face cachée de la lune, 2000) und schließlich digitale Bildwelten (Le projet Andersen, 2005), im Fokus steht. Zwar kommen im Rahmen der jeweiligen Inszenierung auch ästhetische Strategien und Wahrnehmungskonventionen anderer Medien zum Einsatz und zur Verhandlung, auf diese wird in den jeweiligen Teilkapiteln aber nur am Rande verwiesen, weil deren Spezifika in den anderen Produktionen im Vordergrund stehen. Gleichwohl soll die für Lepages Arbeit charakteristische Strategie der Verwendung des Theaters als Rahmenmedium inszenierungsübergreifend diskutiert werden, weil damit dem kontinuierlichen Fortschreiten der Illusionspotentiale der technischen Medien ebenso Rechnung getragen werden kann wie der sukzessiven Steigerung der intermedialen Bezugnahme durch das Theater.

Vinci Das 1986 entstandene Solostück Vinci ist die erste Ein-Mann-Produktion Robert Lepages und gleichzeitig, neben der im selben Jahr entstandenen ersten Version der Trilogie des Dragons, die erste Inszenierung, die international auf Tournee geht und für die Lepage zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhält. Vinci ist eine Reflexion über Kunst und deren Bedeutung und Funktion in der westlichen Gesellschaft, erzählt in Form von neun Bildern. Jedes Bild korrespondiert mit einer Etappe der Initiationsreise des jungen québecer Photographen Philippe. Nach dem Tod seines Freundes Marc, einem Filmemacher, der sich angesichts der Unmöglichkeit, seiner Kunst treu zu sein, das Leben genommen hat, fällt Philippe in eine Sinnkrise und stellt sein künstlerisches Selbstverständnis in Frage. Nach einer psychoanalytischen Sitzung beschließt er, eine Europareise zu unternehmen, die ihn von Québec über London, Paris und Florenz schließlich in das kleine italienische Dorf Vinci, den Geburtsort Leonardo da Vincis führt. Sein Weg bringt ihn zu den europäischen Ursprüngen seiner Kultur und zu den Meisterwerken der Kunst vom 20. Jahrhundert bis in die Renaissance zurück. Dabei begegnet er einer Reihe unterschiedlicher Figuren – einem Psychologen, verschiedenen Touristenführen, Persönlichkeiten der Kunstgeschichte – und findet durch diese Begegnungen zu sich selbst. In einer Art stummem Prolog wird der Zuschauer durch die Projektion kurzer Aphorismen und einer daran anschließenden graphischen Visualisierung der Kernbegriffe Veni – Vidi – Vinci, die sich aus den Kondensstreifen über dem Bild eines Radarschirms ergeben, in die Thematik

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des Stücks, nämlich die Verstörung durch den Tod und das Thema des Reisens als eine Form von Suche und Erkenntnis, eingeführt. tache sur l’œil laissée par la lumière jusqu’à oublier les contrastes plus loin que l’éblouissement tache sur l’âme laissée par la mort d’un ami jusqu’à en oublier le sens de sa vie plus loin qu’un simple bouleversement Voyager: Aller et venir à travers l’œil à travers l’âme Visiter: Voir et revoir tache sur l’œil tache sur l’âme Affronter: Vaincre ou périr avec l’œil avec l’âme Venir. Voir. Vaincre Veni Vedi VINCI15

Die ersten Zeilen erscheinen über dem auf eine Leinwand projizierten Bild Leonardo da Vincis, nach der Einblendung der französischen Verbformen erscheint das Bild eines Radarschirms, auf dem von einem Punkt aus kleine Flugzeuge starten, deren Fluglinien sich überkreuzen und schließlich wie ein Bild aus Kondensstreifen den Titel des Stücks Vinci ergeben. Lepage präsentiert hier in einem Wortspiel das berühmte CäsarZitat „veni, vidi, vici“, das auf die Initiation Philippes anspielt und aus dessen abgewandelter Konjugation schließlich statt ‚vici‘ Vinci entsteht, und verweist so auf den Renaissancekünstler Leonardo da Vinci und den Namen seines Geburtsorts, die in der Selbstfindung Philippes eine entscheidende Rolle spielen werden. Nach einem Black zeigt eine weitere Projektion den Satz „Art is a vehicle“ und ein kleiner Spielzeugzug dreht auf der Bühne seine Kreise. In dieser Eröffnungsszene betritt Lepage als blinder Erzähler mit weißem Stock die Bühne und hält in der Art eines Conférenciers einen Vortrag über das Thema Kunst und das Theater als eine besondere Form visueller Darstellung. Während der Text in italienischer Sprache gesprochen wird, erscheint je nach Version des Stücks die englische bzw. französische Übersetzung als Untertitel auf der Projektionsfläche: Good evening. It brings me great joy to realize that there are still people who, like me, are quite interested, or at least somewhat interested, in a phenomenon inherent to all societies: ART. The show you are attending this evening is part 15 Lepage, Robert (1986): Vinci, 1. (im Folgenden zitiert als ‚Vinci‘). Dieses und alle folgenden Textzitate des Stücks Vinci stammen aus einer nur fragmentarisch zugänglichen Skriptfassung des Théâtre Repère, weshalb einige Passagen in französischer, andere in englischer Sprache zitiert werden. 134

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of a very specific art form called: THEATRE. And the plot follows the creative evolution of a visual artist. In order to ensure a better understanding of the show, the artists responsible for the evening have invited me to hold forth on various aspects of the visual arts. I am not, however, a visual artist myself. Nor am I an eminent highly-qualified specialist from a prestigious academy wellknown for its innovative ideas on art and its many ramifications. In fact, I am a fictional character. But since I speak a foreign language and am played by an immensely talented actor, the production crew felt you would take their artistic preoccupations more seriously if they were exposed to you by someone speaking with an European accent. Now to get to the heart of the matter: WHAT IS VISUAL ART? As it is often simpler to describe one reality by opposing it to another, we shall attempt to define the visual arts by comparing them to another art form: LITERATURE. For example: the train which has been circling around since the beginning of the show is a visual means of communicating the notion that ART IS A VEHICLE. A sentence is composed of different words which are strung together, much like the cars of a train. At the outset, the cars of a sentence, like those of a train, are empty. They must then be loaded with meaning. And to transmit the sentence, it must be motivated. WHAT MOTIVATES THE ARTIST? WHAT LOCOMOTIVATES THE ARTIST? It’s a bit like what happens when you go to an Italian movie and a convoy of words strung together appears at the bottom of the screen in order to clarify what the characters in the film are saying. Since art also serves the function of casting light on the chaos of our society, it is, to a certain extent: A SUB-TITLE.16

Schon diese Rahmenszene verweist auf die thematische Verknüpfung zwischen Kultur und Kunst, die besondere Stellung des Theaters im System der Künste und die präsumtive kulturelle Überlegenheit Europas als Wiege der okzidentalen Kultur. In einer ersten Szene beschließt Philippe im Anschluss an eine psychoanalytische Sitzung, in der er seine persönliche Konfliktsituation nach dem Tod des Freundes und die dadurch ausgelösten Zweifel an der Sinnhaftigkeit seiner Arbeit als Photograph reflektiert hat, eine Reise nach Europa zu unternehmen. Im Verlauf des Stücks wird diese Reise metadiskursiv zu einer Reise durch die Kunstgeschichte und verbindet sich mit einer Reflexion über die kulturelle Wertigkeit der alten Künste und der neuen Medien, die sich in der Suche nach dem identitären Selbstverständnis Philippes als Québecer spiegelt. Ausgehend von Philippes Beruf des Photographen findet die medientheoretische Gegenüberstellung von alten und neuen Künsten anhand der Kontrastierung von Photographie und Malerei statt. Aufgrund der direkten inhaltlichen Anbindung an die Hauptfigur ist die Photographie das Medium, das den inhaltlichen wie formal-ästhetischen Mittelpunkt der 16 Vinci: 3-6. 135

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Inszenierung bildet und das Lepage intradiegetisch wie formal in seiner Ontologie untersucht und zu anderen visuellen Darstellungsformen ins Verhältnis setzt. Aus diesem Grund konzentriert sich die folgende Analyse auf Szenen, die im Hinblick auf die intermedialen Techniken und Möglichkeiten des Theaters relevant sind und dabei auch die spezifischen Konventionen der Photographie als Fremdmedium reflektieren.17 Je weiter sich Philippe von seiner Referenzwelt Québec entfernt, desto näher kommt er seiner inneren Wahrheit. Sein Weg führt ihn von seiner Heimat im Norden in den Süden, von der Kälte in wärmere Klimazonen und von Nordamerika über den anglophonen europäischen Sprachraum in die latinisierte Welt. Auf den ersten Blick scheint es zunächst verwunderlich, dass der Québecer nicht auf direktem Weg Frankreich ansteuert, das Land, das seiner Kultur offensichtlich am nächsten ist. In der Tat ist aber Großbritannien Québec nicht nur geographisch, sondern auch historisch näher, und diese Reisetappe trägt der Besetzung der ursprünglich französischen Kolonie der Nouvelle France im 18. Jahrhundert durch die britische Krone Rechnung. Diese doppelte Kolonialisierung Québecs, die der Grund für das bis heute problematische identitäre Selbstverständnis Québecs und für die offensive französische Sprachpolitik der Provinz ist, integriert Lepage in eine Szene, in der er einen englischen Fremdenführer spielt, der die Touristengruppe Philippes auf einer Sightseeingtour mit dem Bus begleitet. In imperialistischer Manier spricht der Guide die Reisenden als „little French-Canadians“18, an und behält in seinem Monolog gegenüber den frankophonen Besuchern konsequent seine Muttersprache bei. The […] disrespect is shown by the British guide’s linguistic attitude: ignoring the basic rule of guided touring where the guide must address the tourists in their native tongue, he addresses his Francophone tourists in his own language, English. This unexpected linguistic behaviour may be interpreted as an affirmation of cultural domination on the part of the English towards the ‚little FrenchCanadians‘.19

17 Für eine ausführliche Analyse der gesamten Inszenierung, vor allem im Hinblick auf Lepages Umgang mit den für die Cycles-Repère charakteristischen ‚objets-ressources‘ vgl. Lévesque, Solange (1987): „Harmonie et contrepoint.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 42, 100-108 und Hébert, Chantal/Perelli-Contos, Irène (2001a): La face cachée du théâtre de l’image. Québec: Les Presses de l’Université de Laval, darin bes. 45-133. 18 Vinci: 14 19 Bovet, Jeanne (2000): „Identity and Universality: Multilingualism in Robert Lepage’s Theater“, in: Donohoe, Joseph I./Koustas, Jane M. (Hg.): Theater sans frontières. Essays on the Dramatic Universe of Robert Le136

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

Das durch das sprachliche Verhalten des Fremdenführers transportierte Gefühl der kulturellen Überlegenheit Englands gegenüber den frankophonen Kanadiern manifestiert sich symbolisch in dessen Anspielungen auf das Unbehagen der Québecer, das er dem durch die Zeitverschiebung ausgelösten Jetlag und der Verwirrung im englischen Linksverkehr zuschreibt: Good afternoon, ladies and gentlemen. I am your guide. Welcome to the beautiful City of London. We shall be touring the city by bus. Now some of you may have already noticed that people in England drive on the other side of the street. This might give some of you French Canadians nausea and a strange sensation of being out of synch to add to the feeling of jetlag. That feeling of ‚décalage‘ as you say in French. To get rid of this feeling, just look in the mirror and if you’re really going to be sick, open the window.20

Ästhetisch wird die Szene mit einem einfachen, aber sehr effektvollen Licht-Schatten-Spiel realisiert: Mit einem Mikrophon und einer Baseballkappe als Attribute des Fremdenführers ausgestattet tritt Lepage hinter die von hinten hell erleuchtete Projektionswand, die nun wie ein zweiter, zurückgesetzter Bühnenrahmen aussieht. Über der schwarzen Schattensilhouette erscheint ein kleiner rechteckiger Kasten, der innerhalb des hellerleuchteten Rechtecks zum Rückspiegel des Sightseeingbusses wird.

Vinci (Abb. 1) Im Verlauf der Szene spricht der Guide von der Zerstörung zahlreicher Londoner Bauwerke während des Zweiten Weltkriegs, am unteren Rand der Bildfläche erscheint ein Schattenbild der Skyline von London, der

page. East Lansing: Michigan State University Press, 3-19, hier 7 (Hervorhebungen im Original). 20 Vinci: 13. 137

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

rechteckige Spiegel wird durch einen Handgriff in ein kleines Flugzeug transformiert und verwandelt sich so zum deutschen Kriegsbomber, der über der Stadt kreist. In formaler Hinsicht präsentiert sich die Sequenz auf den ersten Blick wie ein einfach gestalteter Trickfilm, was sich vor allem durch die extrem verkleinerte Schattensilhouette des Darstellerkörpers und die gleichmäßige Abfolge der Bilder, die die Kontinuität des Erzählens einer gleichmäßig ablaufenden Filmspur simuliert, erklärt. Aber auch die absolute Reduktion des Bildes auf Hell-Dunkel-Kontraste und die strenge Rahmung in einen rechteckigen Kasten erinnern an die ästhetischen Merkmale des Films. Auf narrativer Ebene fungiert die Sequenz gewissermaßen als Spiegelung der ersten Szene, indem nun die persönliche Situation Philippes zu der soziokulturellen Realität der québecer Identitätsproblematik ins Verhältnis gesetzt wird, und bildet gleichzeitig den Auftakt zu der nun anschließenden Auseinandersetzung mit den Meisterwerken der europäischen Kunstgeschichte, die Philippe mit einem Besuch in der National Art Gallery in London beginnt. Die Bedeutung, die der Besuch dieses Museums für Philippe hat, wird durch das beständige Klicken seines Photoapparats vermittelt. Ergriffen von der Aura des Ortes und einem Bild da Vincis, nämlich der Vorstudie zu La Vierge et l’enfant avec son père, versucht Philippe die Wirkung, die das Gemälde und das Museum auf ihn haben, photographisch zu konservieren. Die besondere Atmosphäre in der Kunstausstellung, die hallende Akustik der Räume, das nur dezente Hüsteln anderer Besucher, das Klappern ihrer Schritte und das beständige Klicken des Auslösers von Philippes Photoapparat werden durch ein kleines Mikrophon, das Lepage am Körper trägt, realisiert.21 21 Die Bühne Lepages ist zwar in erster Linie eine visuelle Oberfläche, die die unterschiedlichsten Formen ästhetischer Einschreibungen zulässt, trotzdem ist sein Theater auch als ein komplexer Klangraum zu begreifen. Sein Bewusstsein für das hohe emotionale und suggestive Potential manifestiert sich in seinen Inszenierungen auf unterschiedliche Art und Weise. Im Solostück, das immer auch eine Art Bekenntnis und intime Begegnung zwischen Darsteller und Publikum, aber auch zwischen Figur und Publikum ist, ermöglicht die technische Prothese des Mikrophons dem Darsteller die räumliche Distanz zum Publikum auch in leisen Repliken zu überwinden. Jeanne Bovet weist im Kontext ihrer Analyse von Vinci darauf hin, dass die vokalen Elemente hier eine in erster Linie didaskalische Funktion haben und dazu dienen, die verschiedenen Figuren auf symbolische Weise zu charakterisieren, und dass die jeweiligen Unterscheidungs- bzw. Ähnlichkeitsmerkmale dabei entlang einer Werteskala definiert sind. So untersucht sie exemplarisch sowohl die Art der Artikulation der Figuren als auch deren Sprechrhythmus, die in einer komplexen Relation zur Bedeutung der jeweiligen Szenen für Philippes Selbstfindung stehen. Vgl. dazu ausführli138

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

Im zweiten Teil der Szene befindet sich Philippe an der Bühnenrampe, wo er aus seinem Rucksack eine flache Glasschale herausnimmt, unter der er eine große Taschenlampe platziert. Er beginnt nun vor den Augen des Publikums die eben aufgenommenen Bilder zu entwickeln. Auf der hinteren Bühnenwand sieht man die mittels eines Spiegels projizierten, sich im Wasser brechenden Lichtstrahlen und nach und nach erscheint mit Hilfe eines Overheadprojektors das zuvor betrachtete Bild schemenhaft im Hintergrund. Es entsteht der Eindruck, es handele sich um die photochemische Entwicklung eines Negativstreifens. Voller Ehrfurcht betrachtet Philippe jedes Detail und erkennt darin die individuelle Spur des Künstlers, „a detail. Like a fingerprint. Da Vinci’s fingerprint. The mark of an artist.“22 Aus medienwissenschaftlicher Perspektive thematisiert die Szene geradezu paradigmatisch die Frage nach dem Wertigkeitsverhältnis zwischen traditionellen Künsten und neuen Medien und erscheint dabei als künstlerische Umsetzung des 1936 von Walter Benjamin veröffentlichten Texts Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.23 Benjamin beschreibt die durch die technischen Reproduktionsmittel ausgelöste Wesensveränderung der Künste als Verfall ihrer Aura, durch den die Originalität des Kunstwerks, seine „einmalige Erscheinung von Ferne“24, die den Betrachter auf Distanz halte, verloren gehe. Während sich das echte Kunstwerk durch sein Hier und Jetzt definiere, durch sein einmaliges Dasein an einem bestimmten Ort, lösten es die modernen Reproduktionsbedingungen aus dem ihm ursprünglichen Bereich von Tradition und Ritual ab, und an die Stelle des Kultwerts trete sein Ausstellungswert und sein Warencharakter.25 Benjamin sieht die Erschütterung dieser Traditionen und die damit verbundene Veränderung von

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cher Bovet, Jeanne (1990): „Le symbolisme de la parole dans ‚Vinci‘.“ In: L’Annuaire théâtral 8, 95-102. Die Bedeutung akustischer technischmedialer Interventionen wird im Kontext der Analyse der Inszenierungen Lepages nicht weiter verfolgt, weil für diesen Aspekt von Intermedialität im Theater die Arbeiten Marie Brassards besser geeignet sind. (Vgl. dazu das Kapitel ‚Marie Brassard – die Stimme als „extension of men“‘) Für eine ausführliche Analyse der letzten Szene, in der Lepage einen Octapad, eine Art Stimmtransformator, verwendet vgl. Hébert, Chantal (1994): „L’écriture scénique actuelle. L’exemple de Vinci.“ In: Nuit blanche 55, 54-58, hier 57f. Vinci: 16. Benjamin, Walter (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ebd.: 15. Ebd.: 18ff. 139

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Wahrnehmungsweisen besonders in den Massenbewegungen seiner Zeit begründet,26 deren Auswirkungen sich exemplarisch am Beispiel des Films, aber auch der Photographie studieren ließen. In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht aber nicht widerstandslos. Er bezieht eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz. Keineswegs zufällig steht das Portrait im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. [...] Wo aber der Mensch sich aus der Photographie zurückzieht, da tritt erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen entgegen.27

Aus der zunehmenden Bedeutung gesellschaftlicher Massenphänomene lassen sich für Benjamin zwei Tendenzen für die Wahrnehmung von Kunst ableiten, nämlich erstens der Wille, sich Dinge räumlich näher zu bringen, und zweitens die Tendenz der Überwindung von Einmaligkeit durch die Entstehung technischer Reproduktionen. Mit eben jenen ontologischen Differenzen zwischen Malerei und Photographie, die Benjamin nach Einmaligkeit und technischer Reproduzierbarkeit unterscheidet, spielt diese in der National Art Gallery situierte Szene. Während Benjamin allerdings die Unterscheidung zwischen auratischen und nicht-auratischen Kunstwerken relativ wertfrei trifft und als Konsequenz der gesellschaftlichen Umbrüche betrachtet, wird zumindest im ersten Teil der Sequenz die Photographie als eine der Malerei unterlegende Kunstform und der Akt des Photographierens als ungebührlich und dem Ort unangemessen dargestellt. Schon als Philippe seinen Photoapparat aus dem Rucksack hervorholt, geschieht das verschämt und in aller Heimlichkeit. Nach jedem Klicken des Auslösers verrät seine Körpersprache Unbehagen und Schuldbewusstsein ob dieser Regelverletzung im Museum. Gleichzeitig wird diese indirekt negative Wertung der Photographie gegenüber der Malerei insofern relativiert, als das Ablichten der 26 Der Text entstand im Pariser Exil Benjamins und ist zu verstehen als der Versuch einer Theorie des entmythologisierten Kunstwerks und als kommunistische Antwort auf die Ästhetisierung der Kunst durch den Faschismus. Weil nach Benjamin Begriffe wie ‚Schöpfertum‘, ‚Genialität‘ oder ‚Ewigkeitswert‘ für das Verständnis von Kunst unbrauchbar geworden seien oder im Kontext faschistischer Propaganda missbraucht würden, bedürfe es eines grundlegenden Wandels der Kunst, den er – ähnlich wie Brecht – in der Fundierung selbiger in der Politik statt im Ritual sieht. (Vgl. ebd.: 38-44). 27 Ebd.: 21. 140

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ausgestellten Kunstwerke Philippes Art und Weise der Rezeption dieser Kunst ist. Indem er sie mit seinem Medium einfängt, kann er einen Zugang zum Gehalt und zur Botschaft des Gemäldes finden, eine Interpretation, die durch den Fortgang der Szene im zweiten Teil bestätigt wird. Die Tatsache, dass Philippe die soeben aufgenommenen Bilder noch auf der Bühne entwickelt, erhält eine sowohl intradiegetische als auch medienreflexive Bedeutung. Zum einen ist diese Transformation der Bilder auf ein anderes Trägermedium im übertragenen Sinne als ein erster Schritt der persönlichen Progression Philippes zu sehen: Beim Entwickeln der Photos entdeckt er ein Detail des Gemäldes, die Spur des Künstlers, nämlich „da Vinci’s fingerprint“, die er zunächst nicht wahrgenommen hatte, die für seine persönliche Suche nach der Wahrheit der Kunst aber von großer Bedeutung ist. Ob bewusst oder unbewusst offenbart sich für Philippe hier die Bedeutung der Photographie für sein eigenes Kunstverständnis – es ist buchstäblich eine Kunstform, die er versteht, mit deren Codes er umzugehen weiß. Zum anderen ist dieses plötzliche Erscheinen der Botschaft da Vincis durch den Medienwechsel auch in medientheoretischer Perspektive relevant: Aufgrund der veränderten materialen Eigenschaft des Bildes verschiebt sich auch dessen Botschaft – die Konstitutionsfunktion von Medien im Sinne des Anhaftens ihrer spezifischen Spur an der Botschaft wird hier versinnbildlicht. Darüber hinaus wird ein Merkmal der medialen Spezifität der Photographie besonders hervorgehoben: Das individuelle Detail des Künstlers wird für Philippe erst im Medium der Photographie sicht- und erfahrbar. Es handelt sich um ein Detail, dessen Entdecken sowohl mit dem professionellen Blick Philippes als Photograph erklärt werden kann, als auch mit einem medienspezifischen Merkmal der Photographie, das Roland Barthes als das ‚punctum‘ bezeichnet: Barthes unterscheidet zwei Aspekte der betrachtenden Analyse von Photographien, nämlich das ‚studium‘, das eine „Art allgemeine Beteiligung [...] ohne besondere Heftigkeit“ kennzeichnet, und das ‚punctum‘, das den Betrachter in besonderer Weise „besticht“ oder gar verwundend „trifft.“28 Es ist nicht möglich, für die Beziehung zwischen studium und punctum (wenn letzteres auftritt) eine Regel aufzustellen. [...] Häufig ist das punctum ein ‚Detail‘, das heißt ein Teil des Abgebildeten. [...] So blitzartig das punctum auftauchen mag, so verfügt es doch, mehr oder weniger virtuell, über eine expansive Kraft. [...] Folglich ist das Detail, das mich interessiert, nicht oder wenigstens nicht unbedingt beabsichtigt, und wahrscheinlich darf es das auch gar nicht sein [...]. Die Wirkung ist da, doch lässt sie sich nicht orten, sie findet weder ihr 28 Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 35f. 141

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Zeichen noch ihren Namen; sie ist durchdringend und landet dennoch in einer unbestimmten Zone meines Ichs [...]. Es ist also nicht weiter erstaunlich, dass sich das punctum zuweilen, trotz all seiner Deutlichkeit, erst im Nachhinein offenbart [...]. Und noch ein Letztes zum punctum: ob es nun deutliche Konturen aufweist oder nicht, es ist immer eine Zutat: es ist das, was ich dem Photo hinzufüge und was dennoch schon da ist.29

Im ‚punctum‘ kommt die je persönliche Aura zur Geltung, die eine Photographie auszuüben vermag, das Detail also, das für Philippe die Faszination des Gemäldes ausmacht, die sich ihm aber erst im Moment des Medienwechsels offenbart und die auch nur für ihn selbst sichtbar ist – denn der Zuschauer kann den „fingerprint“ da Vincis, von dem Philippe spricht, nicht sehen. Dieses erste initiatorische Moment der Auseinandersetzung mit seiner Kunst findet seine Fortsetzung am nächsten Reiseziel Philippes, in Paris. Der Ortswechsel von England nach Frankreich findet auf akustische Art und Weise statt, indem Philippe ein kleines Papierschiffchen auf die Flüssigkeit der Entwicklerschüssel platziert, das untermalt von der englischen Nationalhymne vor der auf der Projektionsfläche erscheinenden Silhouette Londons schaukelt. Die Hymne verklingt und geht leise in eine Instrumentalversion des Chanson Sous le ciel de Paris von Edith Piaf über und auf der Bühnenrückwand werden die Seine-Brücken von Paris sichtbar. Mittels der filmischen Technik der Überblendung, die hier ohne die Verwendung einer Filmsequenz, sondern lediglich durch zwei Dias realisiert wird, entsteht ein fließender Übergang zwischen den beiden Szenen, ohne dass es weiterer Hinweise oder Hilfsmittel hinsichtlich Orts- oder Zeitangaben bedarf. Der Zuschauer hat verstanden, dass Philippe nun von London nach Paris weitergereist ist. Die erste Szene in Paris findet aber nicht vor der gezeigten Kulisse statt, sondern in einem Burger-King-Restaurant. Nach einem kurzen Black, während dem die Wasserschale von der Bühne entfernt wird, tritt die Mona Lisa auf. Der Szenenwechsel ist perfekt, realisiert durch die theatrale Simulation eines Schnitts, dem klassischsten aller Filmmittel. In Frauenkleidern und mit einem Pappbecher Cola in der Hand wird Lepage zu Mona Lisa, die mit überzeichnetem Pariser Akzent Philippe für die Sterilität seiner Photographien tadelt: You are a photographer?! What do you photograph? Comment?! Bazrooms? Why ze bazrooms? Eh ben! Dites donc! It’s very frrigid your treep. […] But zey are real icebergs, your photos, all toilettes and bidets! And in Canada, zey allow you to exhibit them? It’s absolutely ridiculous. It’s as if I decided to ex-

29 Ebd.: 52-65 (Hervorhebungen im Original). 142

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hebit zez ice cubes. […] All zese new techniques, so cold and esthétique, zey freeze our dreams. Anyway, I don’t like ze photography. All zese new techniques, so cold and esthétique, zey freeze our dreams. Me, I prefer a warm medium like ze painting. […] I am fed up wiz ze post-modernism.30

Als vielleicht bedeutendste Figur der europäischen Malerei verurteilt die Mona Lisa die Photographie hier als kaltes und ausdrucksloses Medium, und das mit einem Vokabular, das an McLuhans Klassifikation in heiße, also detailreiche Medien, die vom Betrachter nur eine geringe persönliche Partizipation erfordern, und kalte, detailarme, die wenig Material bieten, dem Rezipienten somit aber auch einen größeren Spielraum der aktiven Beteiligung ermöglichen, erinnert. Ihre Kritik kann als binäre Klassifikation der Kunstformen Photographie und Malerei aufgefasst werden, in der die Photographie als moderne Form visuellen Ausdrucks der neuen Welt, also Nordamerika bzw. in Bezug auf Philippe Québec zugeordnet wird, während sie selbst die traditionellen Künste Europas repräsentiert. Andererseits moniert sie das unreflektierte Gebaren der Museen, die Gemälde unter Sicherheitsglas verbergen und so eine wirkliche Wahrnehmung und Beschäftigung mit der Kunst verhindern: „A painting is not made so we can see our silly faces shining back, no, merde, we must penetrate, enter ze painting.“31 Angesichts ihrer Unzufriedenheit mit diesem Kunstverständnis und dem zeitgenössischen Umgang mit Kunstwerken, so erzählt sie Philippe weiter, habe sie versucht, sich in einer modernen Form ihren Betrachtern zu zeigen, nämlich in Form einer Nacktperformance vor einem Kulturzentrum in Lyon: I am so fed up wiz breaking my ass in zis stupide museum de merde à la con. Zere is nothing but marble and columns everywhere. […] Do you know what I did before? I paraded myself completely nude in front of ze cultural centre in ze suburbs of Lyon. […] Zis was my way of expressing zat an artist, a real artist, when he plunges into ze light, he plunges into infinity. Do you believe that one half hour later zey had the CRS on my back? […] I said to zem: Listen to me, messieurs les gendarmes, I am fighting for ze liberty of expression and I am stubborn. Alors attention! Fragile, work of art, handle wiz care. And zey zhrew me into ze jail.32

Auf der einen Seite vertritt die Mona Lisa also den Überlegenheitsanspruch der Malerei gegenüber Philippes Kunst, auf der anderen Seite kämpft sie für die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, für zeitgemäße künstlerische Ausdrucksmittel und damit letztendlich gegen eine Hierar30 Vinci: 19. 31 Ebd. 32 Ebd.: 20f. 143

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chisierung der Künste. Auf Philippes persönliche Situation bezogen relativiert sich ihre Kritik am Medium der Photographie insofern, als sie lediglich den Kunstcharakter des Gegenstands seiner Photographien bezweifelt und somit Philippes eigene Unzufriedenheit auf den Punkt bringt. Für ihn geht es nicht um die Frage, ob die Photographie sein Medium ist oder nicht, sondern um die Bedeutung seiner Arbeit für sein Selbstwertgefühl und sein identitäres Selbstverständnis. Es scheint die mangelnde Aura der Bilder zu sein, die ihn sein Tun in Frage stellen lässt, ein Aspekt, der ihm anhand des berühmten Lächelns der Mona Lisa während seines Besuchs im Louvre in der nächsten Szene verdeutlicht wird. Von deren Aura müsse sich Philippe inspirieren lassen, um erleuchtet zu werden: „You have to jump into ze light. Are you going to jump?“33, sagt die Stimme aus dem Off und verweist damit schon auf das letzte Bild der Inszenierung, in dem Philippe am Geburtsort des Künstlers ankommen wird. Befreit von all seinen Ängsten entschwebt Philippe dort mittels einer von da Vinci konzipierten Flugmaschine aus dem Bühnenraum – ein letzter Verweis Lepages auf die enge Verbindung von Kunst und Technik, die in der Renaissance ihren Ursprung hat. Formal und inhaltlich lässt sich Vinci vollständig in die für Lepage und sein Théâtre Repère typische Ästhetik künstlerischen Schaffens einordnen,34 die sich in erster Linie durch den Prozess der Cycles Repère sowie auf inhaltlicher Ebene durch die immer wiederkehrende Thematisierung der Frage nach einer québecer Identität charakterisiert. Philippes Weg durch Europa erscheint so als die schrittweise Rückkehr zu den historischen Wurzeln der Kultur Québecs und als Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle innerhalb dieser Geschichte. Philippes journey in Vinci is very much the journey of today’s Québecois. In the 1960s and ‘70s Quebec was resolutely insular and introspective, in reaction 33 Ebd.: 26. 34 Der Ausgangspunkt für die Entstehung von Vinci war eben jenes Gemälde, das in der National Art Gallery auf Philippe eine große Faszination ausübt. Lepage hatte es kurz nach seinem Abschluss am Konservatorium gesehen und war so nachhaltig beeindruckt, dass er sofort wusste, dass er eines Tages darauf zurückkommen würde: „Le point de départ de Vinci, c’est une toile que j’ai vue il y a très longtemps. […] Moi, la peinture ça ne me touche pas du tout, absolument pas. […] Mais là, c’était la première fois qu’un tableau me virait à l’envers. C’était la Vierge et l’enfant avec son père. Ce n’était pas vraiment un tableau, mais un croquis, dans le but de faire un tableau. C’est très particulier, parce que c’est un dessin technique mais, en même temps, c’est d’une rare sensualité.“ Vgl. Chamberland, Roger (1988): „La métaphore du spectacle. Entretien avec Robert Lepage.“ In: Québec français 69, 62-65, hier 64. 144

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against the cultural and economic domination by Canada’s English-speaking majority. By the ‘80s this struggle had largely paid off. Having fought to secure its own french identity, Quebec could now afford to look beyond its own borders with renewed interest.35

Gleichzeitig sind diese Ein-Mann-Stücke typisch für Lepages „Arbeitsrhythmus, nach gigantischen Großprojekten [...] in einer konzentrierten Soloarbeit die Kräfte zu sammeln und sich Rechenschaft abzulegen über Stand und Sinn seiner Theaterarbeit.“36 Dabei beweist er eine inhaltlich wie formal erstaunliche Kontinuität in der Entwicklung dieser Projekte, deren Handlung aus der Verschränkung zweier Welten, zweier Geschichten besteht, nämlich der intimen und persönlichen Geschichte einer fiktiven Figur und der einer historischen Persönlichkeit. Robert Lepage’s performances often feature the juxtaposition of two worlds: the world of historical characters – for instance Leonardo da Vinci, Jean Cocteau, Miles Davis and the Russian cosmonaut Leonov – and the world of a contemporary character, often a young man from Quebec as the director’s alter ego.37

In allen Stücken verkörpert Lepage eine Reihe unterschiedlicher Figuren und erforscht durch die Manipulation von Stimme, Körper und theatralem Raum die Grenzen des Mediums Theater. Wenn Lepage seine 1994 gegründete multidisziplinäre Kompanie ExMachina als ein Forschungszentrum für multimediale Theaterprojekte beschreibt, dann zeigt seine schon 1986 entstandene Inszenierung Vinci, dass dieses Interesse für die Grenzbereiche des Theaters und für die Erforschung einer medialhybriden Theatersprache schon in seinen frühen Arbeiten präsent ist.38 Obwohl die Integration technischer Medien in Vinci noch sehr sparsam ist und sich fast ausschließlich auf die Verwendung von Bildprojektionen beschränkt, zeugt das Stück sowohl auf narrativer als auch auf formaler Ebene von einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Künste untereinander im Medium Theater.

35 Hunt (1989): 110. 36 Klett, Renate (2005): „Das Märchen mit den Frevelhölzern. Robert Lepages Theaterprojekt über Hans Christian Andersen in Kopenhagen.“ In: Süddeutsche Zeitung Nr. 115 (21./22.5.2005). 37 Stjernberg, Mikkel (2004): „Robert Lepage receives HCA award.“ Vgl. (2005-5-25). 38 Vgl. Fréchette, Carole (1987): „L’arte è un veicolo. Entretien avec Robert Lepage.“ In: Cahiers de theâtre Jeu 42, 109-126, bes. 112. 145

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Plutôt que d’exploiter des effets grandioses pour leur polysémie anarchique, Lepage se concentre sur quelques images, simples, qu’il met au service de son propos; ce sera par son corps et sa voix, avant tout, qu’il établira – ingénieusement – la magie et le mystère, qu’il mettra de la chaleur au milieu de ses murs de verre et de ses écrans.39

Auf narrativer Ebene thematisiert die Geschichte Philippes die ästhetische Überlegenheit der alten Künste (Malerei) über das „kalte“ (Kunst-)Medium der Photographie und wird so mit der soziokulturellen Situation der frankophonen kanadischen Provinz verschränkt. Als Québecer repräsentieren Philippe als Photograph und sein toter Freund Marc als Cineast die sogenannten neuen Medien, deren zunächst fragwürdiger kultureller Wert als Kunstform durch die Begegnung mit der personifizierten Mona Lisa, die sich als Performancekünstlerin outet, und das Treffen mit dem großen Meister der Renaissance Leonardo da Vinci in einer Badeanstalt relativiert wird. In Analogie zu den auf narrativer Ebene thematisierten Kunstformen Photographie und Malerei beschränkt sich die Verwendung technisch generierter Darstellungsmedien auf die Projektion von unbeweglichen Bildern. Dabei werden aber nicht nur die medientheoretischen Implikationen der Photographie thematisiert, sondern auch die materialen Eigenschaften dieser Bilder, nämlich ihr Entstehen durch einen Lichtabdruck auf einem Zelluloidstreifen. Die Magie des Lichts als Ursprungstechnologie des Theaters kommt dabei auf unterschiedliche Weise zum Tragen: Zum einen, wie die Szene im Museum zeigt, um die Technik der Bildentstehung zu illustrieren, zum anderen aber, um mit Hilfe theatraler Mittel verschiedene Lichtbildformen zu evozieren und ihre Konventionen mit den Techniken des Theaters zu simulieren. Lepages tiefes Bewusstsein für die Potentiale dieser zwar archaischsten, aber vielleicht vielfältigsten Form visueller Illusionserzeugung manifestieren sich in den unterschiedlichen Formen seines Umgangs mit dem Licht. Auffällig sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Anspielungen auf Techniken und Charakteristika des Films, die vor allem, wie etwa die Sequenz im Sightseeingbus in London zeigt, durch die Imitation filmischer Charakteristika durch ein Spiel mit dem Licht erzeugt werden. Aber auch formal ist das Kino das wichtigste Referenzmedium in Lepages Theater, was sich in Vinci in erster Linie durch die Projektion von Ortsangaben als Untertitel, aber auch durch das Oszillieren des Bühnenraums zwischen Tiefe und Fläche offenbart. Ludovic Fouquet beschreibt in seiner Studie De la boîte à l’écran – le langage scénique de Robert Lepage die Geschichte des 39 Pavlovic, Diane (1987): „Du décollage à l’envol.“ In: Cahiers de theâtre Jeu 42, 86-109, hier 87. 146

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Theaters im 20. Jahrhundert als eine Reihe von Versuchen, aus dem Rahmen des Guckkastens auszubrechen und die Grenzen von Bühne und Rampe neu zu bestimmen.40 In Vinci bilden die mobilen Seitenwände im Zusammenspiel mit der als Projektionsfläche nutzbaren Bühnenrückwand den dreidimensionalen Raum einer klassischen Guckkastenbühne, in deren Innern sich ein entscheidender Teil der Handlung abspielt. Gleichzeitig wird die Bühne durch die bewegliche Projektionsfläche in ihrer Tiefe zeitweise soweit reduziert, dass der Zuschauer tatsächlich wie im Kino einer rein zweidimensionalen Bildfläche gegenüber sitzt. Durch die Konfrontation gespielter Szenen mit auf die Bühnenrückwand projizierten Bildern entsteht so ein konstant medial-hybrider Bildraum, der Film- und Theaterästhetik miteinander kombiniert. Schon die Eingangsszene der Inszenierung konfrontiert den Zuschauer mit einer Bildsequenz, die in keiner Weise auf ein traditionelles Theaterdispositiv verweist, sondern zunächst an den Vorspann eines Films und im weiteren Verlauf an die Bildästhetik der ersten Generation von Computerspielen erinnert. Nach der Projektion der einleitenden Textpassagen, die durchaus als filmisches Mittel zu interpretieren sind, entsteht wie auf einem Computermonitor durch die sich kreuzenden Kondensstreifen kleiner Flugzeuge der Schriftzug Vinci. Die Erzählerfigur beginnt nun ihren einleitenden Monolog in italienischer Sprache, um das Publikum auf die besondere Form visueller Kunst, die es erwartet – nämlich ein Theaterstück – vorzubereiten. Bereits in dieser ersten Szene offenbart sich dem Zuschauer ein visuell wie auch sprachlich höchst komplexes Informationsgefüge: Das Publikum, das hier zu einer Theateraufführung zusammengekommen ist, sieht Bilder, die es aufgrund ihrer Ästhetik und Materialität zunächst nicht dem Medium Theater zuschreibt. Gleichzeitig hört es einen fremdsprachigen Einleitungstext, in dem die Kunstform Theater thematisiert wird und der Kunst die gesellschaftliche Funktion eines Untertitels zuschreibt, während der Zuschauer die Übersetzung des Gesagten selbst als Untertitel präsentiert bekommt. Die Textprojektionen und die Untertitel, die die Rede des Erzählers übersetzen, verweisen zwar auf das Medium Film, sind aber Projektionen unbeweglicher Bilder. Auch im Hinblick auf alle anderen Inszenierungen Lepages lässt sich feststellen, dass Film diejenige Technologie ist, derer er sich am häufigsten bedient, und das, wie gezeigt, nicht nur durch den Einsatz filmischer Sequenzen, sondern vor allem im Dienste einer Erweiterung der Mittel theatralen Erzählens. Ohne eine einzige filmische Projektion zu verwenden betritt Lepage die Bühne mit dem Blick eines Filmregisseurs, und das, wie Fouquet zusammenfasst, lange bevor er seinen ersten Film realisiert.41 40 Fouquet (2002): 7f. 41 Ebd.: 17. 147

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Lepages Theaterkonzeption präsentiert sich als ein Versatzstück heterogener visueller Elemente, die, ohne sich der jeweiligen Medien selbst zu bedienen, auf verschiedene visuelle Darstellungsformen wie Photographie, Film, Video oder Malerei verweisen und diese in ihrer Ästhetik zitieren. In Vinci erprobt er diese genuin mediale Hybridität am Beispiel der Photographie, führt die Reflexion ihrer Spezifika aber mittels des Rückgriffs auf deren basales Funktionieren als Lichtspur auch in anderen Formen visueller Darstellung weiter. So fungiert das Theater nicht nur als Rahmenmedium für ein ästhetisches und narratives Spiel mit den Mechanismen technischer Bildmedien, sondern deren mediale Spezifik – in diesem Fall gezeigt anhand filmischer und photographischer Bildkonventionen – wird gerade erst durch die Mittel des Theaters hergestellt.

Les Aiguilles et l’Opium Wie schon in Robert Lepages erstem Solostück Vinci (1986) ist der zentrale Charakter in Les Aiguilles et l’Opium ein québecer Künstler, der sich in einer existentiellen Lebenskrise befindet. Während Philippe sich aber aktiv mit seinen beruflichen und identitären Selbstzweifeln auseinandersetzt und sich auf eine Art Initiationsreise nach Europa begibt, an deren Ende er schließlich zu sich selbst findet, versucht Robert den Schmerz einer zerbrochenen Liebe in einem einsamen Hotelzimmer in Paris, das schon Jean-Paul Sartre und andere bekannte Künstler bewohnt haben, zu überwinden. Die Geschichte dieser fiktiven Figur überkreuzt Lepage mit Anspielungen auf die Affäre zwischen Miles Davis und Juliette Gréco und der Hoffnungslosigkeit Jean Cocteaus nach dem Tod seines homosexuellen Freundes Raymond Radiguet. In der Suche nach dem Vergessen und dem Versuch des Betäubens aller Erinnerungen sowie der Flucht aus der schmerzlichen Realität haben die unglücklichen und schicksalhaften Liebeserfahrungen dieser Künstlerfiguren ihre Gemeinsamkeit: Robert versucht erfolglos mittels Hypnose und Akupunktur seine Krise zu überwinden, Cocteau stürzte sich in den Opiumrausch und Davis war heroinabhängig. Im Prolog erklärt Robert in einer direkten Ansprache an das Publikum die Funktionsweise der Akupunktur, die angeblich Krankheiten aller Art heilen kann, mit Ausnahme dreier Phänomene, nämlich des Verlusts des Lebensmuts, des Mangels an Selbstvertrauen und des Liebeskummers, also all der Leiden, die den Protagonisten quälen.42 Auf der Brust des Darstellers erscheinen während dieser ersten Replik leuchtende Li42 Vgl. Lepage, Robert (1991): Les Aiguilles et l’Opium : 2 (im Folgenden zitiert als ‚Aiguilles‘). 148

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nien, die alle in der Herzgegend aufeinander treffen und so die Geographie seines Leidens visualisieren. Sein Herzschmerz konkretisiert sich in diesen vibrierenden Linien auf seinem Körper, die gleichzeitig die Struktur des Nervensystems und die Akupunkturpunkte illustrieren. In der Verknüpfung von Text und formaler Gestaltung der Szene wird schon hier auf den Körper als den zentralen Gegenstand der Inszenierung verwiesen. Ob als Objekt der Visualisierung des körperlichen und seelischen Zustands Roberts, als traumhaft entmaterialisierter Körper, der sich frei im Raum bewegt, oder als Objekt der Synthese zwischen unterschiedlichen Bildräumen wird der Körper des Darstellers zum Medium der Transformation, der eine Reise zwischen zwei Epochen, zwischen Europa und Amerika und zwischen realen und virtuellen Welten ermöglicht. Le dernier spectacle de Robert Lepage, les Aiguilles et l’Opium, plus que tous ceux qui l’ont précédé, pose avec acuité le difficile partage qu’impose le théâtre entre le texte et l’image. […] Cette première métaphore du „cœur mis à nu“ [...] offre le corps du comédien et au delà, sa personne, comme objet scénographique. C’est avec le corps que s’écrira désormais le spectacle, corps bouleversé, déséquilibré, soumis à tous les vertiges.43

Robert befindet sich in Paris, wo er als Synchronsprecher für einen Dokumentarfilm über Miles Davis arbeitet, aber sein Liebeskummer stürzt ihn in eine existentielle Lebenskrise, in der ihm auch die Akupunktur nicht helfen kann. So bleibt ihm nichts als die traurige Musik des amerikanischen Jazzmusikers und die Literatur Jean Cocteaus, den er als „prince des poètes français“44 bezeichnet. Im Hotel de la Louisiane versucht er zunächst erfolglos, seine verflossene Liebe telefonisch in New York zu erreichen, als sie ihn endlich mitten in der Nacht zurückruft, verläuft das Gespräch knapp, unpersönlich und enttäuschend für Robert, der die Trennung nicht akzeptieren kann. Einsam und verzweifelt findet er keinen Schlaf und wird dazu von den lauten Geräuschen des Liebesspiels aus dem Nachbarzimmer gestört. Zwischen Wachen und Traum kommt es zu einer Begegnung mit Cocteau, der in verschiedenen Szenen Teile seiner Lettre aux Américains rezitiert, sowie mit Miles Davis und Juliette Gréco, die der Musiker während Dreharbeiten in Paris kennenlernte, hier realisiert durch die Projektion von Filmausschnitten aus Louis Malles Ascenseur à l’échafaud. Die Pariser Kunst- und Kulturszene der Nachkriegszeit dient Lepage als Referenzuniversum, in dem sich die Geschichte des Québecers spie43 Lafon, Dominique (1992): „Les Aiguilles et l’Opium.“ In: Cahiers de Théâtre Jeu 62, 85f. 44 Aiguilles: 3. 149

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gelt, ebenso wie der Text Cocteaus als Folie fungiert, vor der sich Robert mit seiner persönlichen Situation auseinandersetzt. Wie in Vinci durch den Besuch an Orten und durch Werke der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte dargestellt, sind Amerika und Europa hier die Angelpunkte, zwischen denen sich die Reflexionen des Québecers situieren und die jenseits der persönlichen Situation auch einen Diskurs über die Position Québecs und seiner Künste zwischen diesen kulturellen Polen zulassen. Cocteau steht für europäisches Avantgardedenken, für Paris als Zentrum der europäischen Kunst- und Theaterszene und damit auch für die Referenzkultur Québecs. Miles Davis repräsentiert das Amerika der 1950er Jahre, die Jazzmusik, Hollywood und dessen Kulturindustrie. Diese beiden Kulturen treten zueinander in Kontakt durch Miles Davis’ Aufenthalt in Paris und Cocteaus Reise nach New York. Während Cocteau seine kritische Reflexion über die amerikanische Kultur in seiner Lettre aux Américains während des Rückflugs nach Paris niederschreibt, erlebt Miles Davis in Paris eine kurze und leidenschaftliche, aber schließlich unglückliche Affäre mit Juliette Gréco. Wie in Vinci wird der Kontakt und die Auseinandersetzung zwischen den beiden Kulturen, die die Identität Québecs konstituieren, anhand der Geschichte eines fiktiven Charakters und dessen Begegnung mit historischen Persönlichkeiten realisiert. Mais, dans cette deuxième version de la même histoire, la référence est devenue rencontre, croisement inextricable et géométrique du narratif et du symbolique que l’histoire réelle garantit et dont la représentation dessine la carte. Il est vrai qu’au moment où Cocteau rentrait par avion de son séjour américain, Miles Davis regagnait par mer les Etats-Unis, laissant derrière lui Juliette Gréco avec laquelle il a connu une brève mais intense relation amoureuse.45

Der Diskurs über die kulturelle Identität Québecs wird hier, wie schon in Vinci, in einen direkten Zusammenhang mit der Diskussion über Kunst und Kultur gebracht, allerdings auf subtilere und weniger konkrete Art und Weise. Auch in Les Aiguilles et l’Opium sind alle Figuren Künstler, und bei genauer Betrachtung stellt sich heraus, dass alle im Zusammenhang mit ihrer Arbeit im Bereich der visuellen Künste zitiert werden: Miles Davis schrieb die Musik für Malles Film L’Ascenseur pour l’Echafaud, Cocteau war neben seinem Schriftstellerdasein auch Autor und Regisseur zahlreicher Filme und Robert arbeitet in Paris zwar als Sprecher für einen Dokumentarfilm, kommt aber ursprünglich aus dem Bereich des Theaters.46 Indem Cocteau und Miles Davis als Spiegel der 45 Lafon (1992): 87. 46 Dieser Verweis auf sein Arbeitsfeld findet sich in der 12. Szene des Stücks, in der Robert während einer Hypnosesitzung seiner Therapeutin sein man150

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Figur Roberts fungieren und so eine gewisse Analogie ihrer Vitae als gegeben dargestellt wird, findet die schon in Vinci vorhandene metareflexive Diskussion über die Qualität und die Bedeutung von Kunst in Les Aiguilles et l’Opium ihre Fortsetzung. Im Sinne eines intermedialen Verständnisses von Kunst (und Theater) scheint dabei gerade Cocteau und seiner Präsenz im Stück eine entscheidende Rolle zuzukommen: Als Autor, Cineast, Dramatiker, Poet und Graphiker vertrat er alle Kunstsparten und verkörperte sozusagen den Universalkünstler schlechthin. Wenn Lepage den zentralen Charakter seines Stücks in ein Spiegelverhältnis zu Cocteau setzt, und das nicht nur im übertragenen Sinne, sondern durch die formale Überlagerung der Figuren mit Hilfe von Projektionen und das Verschmelzen ihrer jeweiligen Reden diese Berührungspunkte ihrer Lebensgeschichten auch szenisch visualisiert, dann schreibt er seinem Theater und dessen Vertreter Robert (die Koinzidenz der Namen der Hauptfigur mit dem Lepages fällt auf47) genau jene Attribute eines intermedialen Kunstverständnisses zu. Schon der collageartige Charakter der Inszenierung, die Verwendung zahlreicher Filmdokumente, Bilder und Photographien sowie der direkte intradiegtische Bezug zu den verschiedenen historischen Künstlerfiguren verweist in thematischer wie formaler Hinsicht auf eine intermediale Konzeption von Theater. In Analogie zum professionellen Umfeld der Figuren ist in Les Aiguilles et l’Opium der Film das Medium, das Lepage in seiner Ontologie und seinen Funktionsweisen befragt und mit dem Theater konfrontiert. Der intermediale Bezug der Inszenierung zum technischen Fremdmedium beschränkt sich dabei nicht nur auf die Verwendung von filmischen Projektionen im Theater, sondern das Spiel mit der Ästhetik des Films lässt sich auf mehreren Ebenen untersuchen, nämlich in der Konzeption des Raums zwischen Tiefe und Flächigkeit, hinsichtlich der Imitation filmischer Ausdrucksmodi mit den Mitteln des Theaters und in Bezug auf den Körper als verbindendes Element zwischen Film und Theater. gelndes Selbstvertrauen offenbart: „Voyez vous, je souffre d’un très grand manque de confiance en moi, ce qui est un problème pour quelqu’un comme moi qui travaille en théâtre, c’est un domaine dans lequel l’opinion des gens a une très grande importance. Ça peut ou bien me donner une très grande énergie ou me démolir complètement.“ Vgl. Aiguilles: 20f. 47 Zu den autobiographischen Aspekten in den Soloproduktionen Lepages vgl. Bunzli, James (2000): „Autobiography in the house of mirrors: The paradox of identity reflected in the solo shows of Robert Lepage.“ In: Donohoe, Joseph I./Koustas, Jane (Hg.): Theater sans frontiers. Essays on the dramatic universe of Robert Lepage. East Lansing: Michigan University Press, 21-41. 151

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Bedingt durch die geringe Größe der quadratischen Spielfläche, die nach hinten durch eine ebenso große Projektionsfläche und seitlich durch zwei bewegliche Wände begrenzt ist, wird ein schneller Wechsel zwischen Bildraum und Bildfläche, zwischen Leinwand und Guckkasten möglich. L’écran pivotant, pièce maîtresse de cet appareillage, sert non seulement de toile pour la projection d’images, d’ombres et de séquences filmiques, mais constitue aussi un élément du décor de la fiction, tour à tour mur, plafond, plancher, ciel. D’une neutralité parfaite, il se révèle un objet idéal d’investissement scénique: dessus, dessous, devant, derrière et même dedans, pas une de ses facettes ne reste inexploré. Il permet la concrétisation d’un phénomène névralgique: la jonction des mondes visibles et invisibles, figurées par les superpositions et impressions d’images mentales à même la toile.48

Ergänzt wird diese Kastenkonstruktion durch ein über der Mitte der Spielfläche befestigtes Seilsystem, das den Darsteller vor die Projektionsfläche heben kann. Mittels dieser einfachen Ausstattung entstehen drei unterschiedliche, voneinander getrennte Spiel- bzw. Bildorte theatraler bzw. filmischer Provenienz: ein explizit theatraler Spielraum vor der Leinwand, der durch die drei ihn umgebenden Wände begrenzt und definiert wird, die filmische Bildfläche, die der Projektion von Bildern und Filmsequenzen dient und gleichzeitig rückwärtige Begrenzung der Spielfläche ist, mit der sie in Interaktion treten kann, und ein außerhalb dieses Kastens situierter Spielort über der Projektionsfläche oder schwebend in einer Art Zwischenraum vor der Leinwand. Dieser weder eindeutig der Spiel- noch der Projektionsfläche zuzuordnende Raum wird formalästhetisch zu einem tatsächlichen Ort des ‚Dazwischen‘, von dem aus der mittels der Zugmaschine in einen schwebenden Zustand versetzte Darsteller eine Synthese seines Körpers mit projizierten Bildern herstellen kann. Auch in Bezug auf die narrative Struktur des Stücks ist die räumliche Abgrenzung zwischen den einzelnen von Lepage gespielten Figuren und den Orten, an denen sie auftreten, nicht immer eindeutig zu unterscheiden und im Kontext der biographischen Ähnlichkeiten und der traumhaften Überlagerung der verschiedenen Sequenzen auch nicht gewollt. Weder Attribute wie Kleidung oder Sprachduktus, noch eine eindeutige Ortdefinition grenzen die einzelnen Szenen klar voneinander ab. So befindet sich Robert während des Prologs schwebend über der Leinwand und verweist, während er dem Publikum seine Situation erläutert, durch die konsequente Verwendung der ersten Person auf den intimen 48 Bovet, Jeanne (1992): „Robert Lepage: L’homme dans l’œuvre.“ In: Québec Français 85, 100-101, hier 100. 152

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und auch autobiographischen Charakter des Solostücks. Der Sprechort scheint also gewissermaßen der Ort der Rahmenhandlung zu sein, aber schon die nächste Szene zieht diese Annahme in Zweifel: Der Darsteller rezitiert jetzt vom gleichen Ort einen ersten Auszug aus Cocteaus Brief, der wie der Prolog in der Ich-Perspektive gesprochen wird. Hier wird die Position des Darstellers im Raum durch die Tatsache legitimiert, dass Cocteau diesen Text noch im Flugzeug während der Rückkehr aus Amerika verfasst und Lepage ihn seinem Publikum daher auch aus den Lüften herab und flankiert von drehenden Rotorblättern präsentiert. Die Konfusion ergibt sich hier also sowohl durch den identischen Spielort als auch durch die gleiche Redeform. Das Splitting der Hauptfigur in eine Erzählerrolle und den Charakter Roberts ist dabei aber durchweg besser unterscheidbar als die zeitweise Verschmelzung von Robert und Cocteau. In der Telefonszene, in der Robert versucht, seine verflossene Liebe in New York zu erreichen und dafür zuerst mit der Rezepzionistin seines Hotels, dann mit einem Operator in Kanada und schließlich mit dem Hotel in New York spricht, in dem seine Ex-Freundin wohnt, werden die Telefonsequenzen von den ans Publikum gerichteten Repliken durch das Spiel des Darstellers und durch technische Stimmmodulation deutlich unterschieden. When Robert is in his hotel room trying to reach his lost love by telephone, he addresses the audience directly while he waits for various telephone operators. When beginning a section to the audience, Lepage turns sharply, still speaking into the telephone, but with a different energy. The breaks are clear. […] There is a microphone in the telephone and Lepage uses it to amplify his voice whether or not he is also using the phone as a realistic prop.49

Die Verwischungen zwischen der Figur Roberts und den realen Personen des Referenzuniversums erklären sich nicht nur durch die Affinität ihrer Geschichten, sondern werden intradiegetisch durch die Schaffung eines Traumuniversums hergestellt. Die Szenen, die Robert im Hotelzimmer zeigen, dienen zur Verankerung der collageartig aufeinanderfolgenden Bild- und Filmzitate innerhalb des Plots. Die wiederholte ‚Rückkehr‘ in den geschlossenen Raum des Hotelzimmers hilft dem Zuschauer so einerseits, sich immer wieder innerhalb der sprunghaft losen Verknüpfung der verschiedenen Sequenzen zu orientieren und sich ihrer assoziativen Logik zu versichern und sie dient andererseits der Gegenüberstellung zweier Raumkonzepte:

49 Bunzli (2000): 31. 153

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Les Aiguilles et l’Opium (Abb. 2) Das Hotelzimmer wird seitlich durch die Bühnenwände und rückwärtig durch die Leinwand begrenzt, die in allen Szenen in ein helles Rot getaucht ist und auf der durch helle Lichtstreifen in der rechten Ecke eine Fensterjalousie evoziert wird. Innerhalb des Spielraums definiert dieser zweite Kasten einen präzisen Raum, in dem sich die Rahmenszenen der Inszenierung abspielen. Die materielle Geschlossenheit des Spielorts ‚Hotelzimmer‘ tritt somit einerseits zu Roberts Einsamkeit und Isolation ins Verhältnis und eröffnet andererseits die Möglichkeit der Gegenüberstellung anderer Orte und Räume. Robert ist allein und einsam in seinem Zimmer, während sich außerhalb das Leben mit all seinen Impulsen abspielt. Die Stadt, der Lärm der Straße und ebenso die Liebesgeräusche seiner Nachbarn dringen zu ihm herein, während seine einzige Verbindung zur Außenwelt das Telefon ist, obgleich auch hiermit – wie die Gespräche mit den Telefonistinnen, seiner Freundin sowie einem weiteren mysteriösen Anrufer zeigen – keine wirkliche Kommunikation zustande kommt. Ästhetisch realisiert Lepage die Gegenüberstellung dieser beiden Räume durch eine subtile akustische Hintergrundkulisse, die die Geräusche der Außenwelt bis an Roberts hermetisch verschlossene Zelle heranträgt und so dessen Isolation auch auditiv erfahrbar macht. Die Bedeutung dieser klanglichen Dimension des Theaters ist insofern eng mit der Ästhetik des Kinos verbunden, als für die auditive Struktur von Theater ursprünglich nur die Stimme der Schauspieler und die jeweilige baulich bedingte Raumakustik zur Verfügung steht, während schon in der Zeit der ersten Stummfilme Musik als atmosphärisches Moment zum Einsatz kommt, das sich zusammen mit anderen Ton- und Klangeffekten zu einer eigenen Kunstsparte entwickelt und über den Umweg des Kinos auch auf das Theater Einfluss nimmt. 154

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Dominique Lafon beschreibt die Szenographie der Inszenierung als eine kontinuierliche Überlagerung verschiedener Bilder, die durch eben jene klanglichen Aspekte ergänzt und verknüpft werden und sich zu einer der Logik des Träumens entlehnten Struktur verdichten.50 Tatsächlich wird die lose Folge von Bild-, Film- und Textzitaten aus dem Leben und Werk Jean Cocteaus oder Miles Davis’ in einen unmittelbaren assoziativen Bezug zu Roberts persönlicher Situation gesetzt und durch die Mittel der Montage und der Überblendung aneinandergereiht. Formal macht sich das Theater hier eine genuin filmische Erzähltechnik zu eigen, die es überhaupt erst ermöglicht, die sprunghafte Logik dieser narrativen Struktur wie etwa den Übergang von einer Traumsequenz, die auf bestimmte Aspekte der realen Charaktere rekurriert, zu einer oft kommentierenden Zwischenszene, in der der Bezug zu dem historischen Material und der Situation der fiktiven Figur Roberts hergestellt wird, zu realisieren.51 Obwohl Knut Hickethier die Vorbilder dieses „additiven Strukturprinzips der Collage und Montage [...] in theatralen Veranstaltungsformen“ wie etwa dem Variété begründet sieht,52 bedingt die Ästhetik der Montage als filmischem Erzählmodus eine an dessen Wahrnehmungskonventionen angepasste Rezeptionshaltung und eröffnet dem Theater gleichzeitig eine enorme Dynamisierung in Raum und Zeit. La force et l’impact de la proposition narrative des spectacles résident dans son appropriation des caractéristiques du septième art: le cinéma est avant tout un art de la combinaison et de l’agencement, et cela pourrait être une définition du théâtre lepagien, à propos duquel la notion de montage est sans cesse évoquée.53

Montiert werden hier aber nicht nur filmische Sequenzen, sondern die Verweise auf die jeweilige Referenzfigur vollziehen sich mittels der Kombination von Texten, die durch unterschiedliche Bildformen ergänzt werden und die im Kontext der jeweiligen Szene eine nicht nur illustrative Funktion haben: Aufgrund der jeweiligen Medialität des Bildes und den mit seiner Ontologie verbundenen medientheoretischen Implikatio-

50 Vgl. Lafon (1992): 86. 51 Vgl. Fouquet, Ludovic (1998a): „Clins d’œil cinématographiques dans le théâtre de Robert Lepage.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 88, 131-139. 52 Hickethier, Knut (1986): Medienzeit – Beschleunigung und Verlangsamung. Siegen: Forschungsschwerpunkt Massenmedien und Kommunikation an der Universität (Gesamthochschule) Siegen, 19. 53 Fouquet (2002): 220f. 155

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nen kann die jeweilige Kombination von theatralem Spiel und Bildprojektion das Gezeigte auch auf subtile Art kommentieren. So erscheint nach der ersten Textpassage aus Cocteaus Brief die Projektion einer Photographie des Literaten, die, wie von Geisterhand, nach und nach wieder ausradiert wird und schließlich verschwindet. Lepage zitiert hier durch das Medium der Photographie eine der Quellen seines Stücks, ein ‚objet-ressource‘, und evoziert gleichzeitig alle Konnotationen dieser photographischen Bilder: die Photographie als Medium der Erinnerung, als Substitut einer Präsenz und als Zeitdokument, das Cocteau als historische Referenzfigur in Roberts Traumwelt eintreten lässt. Karl Prümm beschreibt diese dokumentarische Funktion des Bildes als den Effekt der „unmittelbaren Präsenz“, die das „Bildhafte verleugnet und dem abgebildeten Abwesenden eine eigenartige und überwältigende Anwesenheit verschafft.“54 Gleichzeitig beinhaltet die Photographie einer Person aus der Vergangenheit, wie Roland Barthes konstatiert, immer auch eine Vorahnung des Todes: „Indem die Photographie [...] die vollendete Vergangenheit der Pose [...] darbietet, setzt sie [...] den Tod in die Zukunft.“55 Diese Konnotation der Photographie visualisiert Lepage durch das sukzessive Verschwinden des Bildes, das auf Cocteaus Versinken im Opiumrausch verweist, das aber auch als Kommentar Lepages gelesen werden kann, der in Bezug auf die Lebenskrise seines Protagonisten eine solche Flucht in die Welt der Drogenträume gerade nicht in Erwägung zieht. Das Spiel mit den Bildern und der durch sie vermittelten Wahrheiten setzt sich in den folgenden Szenen fort. In seinem Hotelzimmer photographiert sich Robert mit einer Polaroidkammer. Während er sich zum Schlafen hinlegt und der Raum dunkler wird, erscheint dieses Polaroid auf der Leinwand und das Publikum verfolgt das langsame Erscheinen des Bildes, das sich aber immer weiter transformiert. Während einige der Züge des Portraits dem Gesicht Roberts ähneln, sind andere nicht eindeutig seiner Person zuzuordnen. Diese Bilder, die sich eben nicht nach den Gesetzen der Photographie entwickeln, zeigen die verschiedenen Gesichter Roberts, verweisen auf die Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und verdeutlichen einmal mehr den trügerischen und illusorischen Charakter der Photographie als ein Garant für Wahrheit. Was die beiden Szenen nur bildlich zeigen, wird anschließend durch einen weiteren Auszug aus Cocteaus Text auch sprachlich konkretisiert, nämlich die Macht der Bilder und ihr artifizieller Charakter als Kunstob54 Prümm, Karl (1996): „Die Bilder lügen immer. Die Digitalisierung und die Krise des dokumentarischen Bildes.“ In: Medienwissenschaft: Rezensionen & Reviews 3, 264-267, hier 264. 55 Barthes (1989): 106. 156

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jekte, der den zuvor thematisierten Charakteristika antagonistisch gegenüber steht. Cocteau erinnert sich in seinem Brief an einen Artikel und eine Photoserie, die aus Anlass seiner Amerikareise im Magazin LIFE erscheinen sollten: LIFE MAGAZINE m’avait demandé de prendre de moi des photographies excentriques. Comme je disais aux journalistes que ni mon âge ni ma situation de poète français (c’est à dire d’ouvrier français) ne m’autorisent à laisser prendre des photographies excentriques, ils me répondirent que c’était l’usage et que leurs lecteurs ne s’intéressaient qu’à ces photographies-là. Etant l’hôte de NY, je me pliai donc à leur demande et leur suggérai quelques thèmes propres à les satisfaire et à ne me compromettre que dans la mesure où j’accepte d’être compromis.56

Weil die Aufnahmen nicht wie geplant verliefen und die Journalisten plötzlich die Relevanz der Bilder für ein durchschnittliches Publikum in Frage stellten, riet ihnen Cocteau, wie er hier berichtet, „de dire que les photographies qu’ils avaient prises étaient tout à fait normales, que l’appareil de vue leur avait joué un mauvais tour, qu’ils s’en excusaient auprès du public et que les machines devenaient dangereuses à l’image de l’homme.“57 Photographie erscheint hier nicht mehr als zuverlässiges und eindeutiges Dokumentationsmedium, das die „Realität des Objekts auf seine Reproduktion“ überträgt,58 sondern als Kunstform, die in ihrer Ästhetik mit den technischen Möglichkeiten des Mediums frei experimentiert. Hier wird einerseits auf ein Verständnis von Photographie verwiesen, das sich jenseits ihrer Verwendung in den Massenmedien und der voyeuristischen Unterhaltungsbranche als eine Form visueller Kunst situiert, als andererseits auch, wie Lepage durch Cocteaus Worte zum Ausdruck bringt, die suggestive Macht der Bilder evident wird, die in die Wahrnehmungsstrukturen eingreift und unsere Vorstellung von Wahrheit und Realität zu manipulieren vermag. Hinsichtlich des fließenden Übergangs der Attribute der Photographie zwischen Dokumentation und Experiment, zwischen Ästhetik und Trugspiel spricht Lepage via der Figur Cocteaus aber gerade der Kunst eine besondere Rolle zu, und das mit einem kulturkritischen frankokanadischen Blick auf die amerikanischen Nachbarn:

56 Aiguilles: 17. 57 Ebd.: 18. 58 Bazin, André (1975): „Ontologie des photographischen Bildes.“ In: Ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln: DuMont Schauberg, 21-27, hier 24. 157

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Cette anecdote est l’exemple type du paradoxe américain. Sans cesse, chez vous on se trouve nez à nez avec l’audace et la crainte de l’audace. […] Vous ne permettez pas que vos artistes expérimentent, vous exigez d’eux qu’ils se répètent et vous les remplacez lorsqu’ils vous fatiguent.59

In Bezug auf die Ontologie und die Erkenntniskraft der Bilder spielt Lepage in diesen Beispielen mit spezifischen Konventionen des Mediums Photographie, die Art der Darstellung, nämlich die Tatsache, dass die Bilder alle auf der großen Leinwand erscheinen und sie mittels Überblendungen bewegt und transformiert werden, kann schon als eine Anspielung an die Entwicklung des Films aus dem Medium der Photographie gelesen werden. Intermedialität ereignet sich hier auf mehrfache Weise: Zum einen thematisiert die Inszenierung Photographie als Medium, indem sie die Quellen Lepages, nämlich bestimmte Aspekte der Vita Jean Cocteaus, in Form von Bildmaterialien repräsentiert. Durch die Verwendung als szenisches Requisit arbeitet Lepage aber nicht nur mit den inhaltlichen Aspekten dieser ressource, sondern thematisiert sie auch in formaler Hinsicht in Bezug auf ihre Erkenntniskraft. Darüber hinaus wird durch die ästhetische Manipulation des Photos gleichzeitig auch die ontologische Intermedialität zwischen Photographie und Film als Transformation des Inhalts eines Mediums in ein anderes thematisiert und so das konkretisiert, was Joachim Paech in seinen Überlegungen zu einem auf Differenz beruhenden Intermedialitätsbegriff ausführt: Die Photographie ist eine Zeitmaschine, deren apparative Verschlussdauer das Paradox der (ontologisch) unmöglichen Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit im photographischen Moment verzeitlicht (entparadoxiert) und die in der Re-Präsentation des photographischen Abbilds als unmögliche Vergegenwärtigung des Vergangenen wiederholbar wird. [...] Tatsächlich wiederholt sich die Funktion der Differenz der Verschlussgeschwindigkeit des Einzelbildes in derjenigen der Transportgeschwindigkeit des Films: der Zeit-Spalt der ‚Bewegung‘ des Verschwindens, die das photographische Bild aufzeichnet, entspricht dem ‚Spalt‘ oder Intervall zwischen den Einzelbildern, wo die analoge Zeit-Differenz ‚figuriert‘ die als figurative Differenz in den aufeinanderfolgenden Bildern enthalten ist und im projizierten Bewegungsbild in der Form von Bewegung ‚erscheint‘.60

Das Lichtbild als optische Basis der Medien Photographie und Film kann als ästhetischer Ausgangspunkt der intermedialen Theaterkonzeption Lepages bezeichnet werden. Das Spiel mit den wahrnehmungsästhetischen Konventionen des Mediums Film setzt Lepage dabei besonders in den 59 Aiguilles: 18. 60 Paech (1998): 20f. (Hervorhebungen im Original). 158

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Traumsequenzen Roberts ein, und zwar nicht nur durch die tatsächliche Verwendung von filmischen Projektionen, sondern, wie schon in der Szene im Sightseeingbus in London in seiner ersten Soloproduktion Vinci, mittels der Simulation einer Bildästhetik des Kinos. In der fünften Szene werden durch eine kurze Replik Roberts die Korrelationspunkte seines Schicksals mit dem Leben der Künstlerfiguren Cocteau und Davis evoziert, die im Folgenden in Form von sich überlagernden Träumen bildlich konkretisiert werden. Alors chaque fois quand je prends un bain ici, j’ai l’impression de mariner dans la crasse et la saleté de tous les grands artistes et intellectuels du Paris des années 40 et 50.61

Auf der hell erleuchteten Leinwand erscheinen mehrere dunkle gebogene Formen, deren Herkunft und Bedeutung zunächst nicht erkennbar ist. Der Darsteller, der zuvor noch als Robert gesprochen hat, nimmt eine Trompete in die Hand, bewegt sich auf den seitlichen Bühnenrand zu, verlässt die Spielfläche und überdeckt dabei mit seinem Körperschatten einen Teil der Projektion. Die Herstellungsart des Bildes wird so als durch einen Projektor erzeugt offen gelegt. Im nächsten Moment wird die Trompete in der Projektion sichtbar, eine Hand kommt hinzu, greift das Objekt, das die Schattenformen herstellt, und es wird klar, dass die gebogenen Segmente Teile des Instruments sind, das nun Stück für Stück zusammengesetzt wird. Dans Les Aiguilles, la lumière est utilisée comme source d’ombre par l’utilisation d’un rétroprojecteur. La lumière de cet appareil n’éclaire pas un endroit précis, mais un objet, créant une zone d’ombre de la même forme que le contour de ce dernier. Elle dessine littéralement des objets, opaques sur ce fond translucide; ils apparaissent sur l’écran comme des messages écrits en ombre.62

Les Aiguilles et l’Opium (Abb. 3 & 4) 61 Aiguilles: 8. 62 Fouquet (2002): 141. 159

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Die Szene ist eine erste Anspielung auf Miles Davis, dessen Musik das einzige Mittel ist, durch das der verzweifelte Robert Erleichterung erfährt. Nach einer kurzen Einspielung von Jazzmusik erscheint nun auf der Projektionsfläche das runde Label einer Schallplatte, dann schwenkt die Leinwand in die Horizontale, kippt leicht nach vorn und gibt nun den Blick auf den Darsteller frei, der an das Tragesystem angeseilt über der Bildfläche schwebt. Durch die Gurte gesichert bewegt sich der Darsteller jetzt im Zentrum des Bildes und für das Publikum entsteht der Eindruck, es blicke aus der Vogelperspektive auf eine Figur, die in der Mitte der Schallplatte steht, von tief unten ihre Arme emporreckt und sich an das über ihm situierte Publikum wendet. Der Darsteller berichtet nun als Cocteau von dessen Eindrücken seines Besuchs in New York: New York est une ville ouverte et grand ouverte. Les bras y sont ouverts, les cœurs y sont ouverts, ouvertes les rues, les portes, les fenêtres. Il en résulte une euphorie pour le visiteur et un courant d’air où les idées n’ont pas le temps de mûrir et tourbillonnent comme les feuilles mortes. Car New York est une haute girafe tachée de fenêtres, chargée de reliques. 63

In dem Moment, in dem er die Größe der Stadt, ihre Atmosphäre und die Mentalität ihrer Bewohner evoziert, verschwindet das Schallplattenlabel und es beginnt die Projektion einer Filmsequenz, die die Frontalansicht einer Häuserfront bei Nacht zeigt und in der sich der Kamerablick langsam von Stockwerk zu Stockwerk nach oben bewegt. Gleichzeitig verändert der Darsteller seine Körperposition in die Vertikale und es entsteht der Eindruck, er bewege sich im Film langsam schwebend mit nach oben. Diese Synthese von Körper und Filmbild wird im Schluss der Sequenz zu einem effektvollen Höhepunkt gebracht. Cocteau reflektiert in seiner „Lettre“ die schlechte amerikanische Kritik eines seiner Filme, der für ein amerikanisches Publikum als zu lang und intellektuell bewertet wurde. Die Wortwahl des Literaten, der sich als geistiger Akrobat bezeichnet, findet ihre Entsprechung in der bildlichen Umsetzung der Szene: Est-ce ma faute, hommes de New York et de Paris, si vous n’avez pas mon esprit agile et si vous me traitez d’acrobate, puisque voilà quarante ans que je m’exerce à ce que mon âme soit aussi bien faite que les acrobates ont le corps? Et je me félicite que vous connaissiez tous si bien mon nom et tous si peu mes œuvres, car la connaissance de mes œuvres vous entraînerait sur des chemins

63 Aiguilles: 10. 160

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de somnambules qui vous donneraient le vertige et que vous ne me pardonneriez jamais.64

Nach dieser Replik läuft die Filmsequenz mit hohem Tempo in die entgegengesetzte Richtung und der Darsteller wechselt seine Position durch eine Art Sprung nach vorne und unten und schwebt nun kopfüber mit rudernden Armen und Beinen vor der Leinwand. Durch die Geschwindigkeit der Filmsequenz entsteht die Illusion, der Film zeige den Sprung einer Figur von einem Hochhaus herab – und der Schwindel, den Cocteau seinen Werken zuschreibt, wird hier bildlich durch die Synthese des Körpers mit dem Filmbild realisiert. Roberts mangelndes Selbstbewusstsein und seine Zweifel hinsichtlich seiner Arbeit als Künstler spiegeln sich im Traum in den Erfahrungen Cocteaus und in der Visualisierung des Schwindels, den Cocteau seinen Lesern prophezeit. Über seinen Liebeskummer wird in der sich anschließenden Bildsequenz mit den gleichen Mitteln der Bezug zu Miles Davis und dessen kurzer Affäre mit Juliette Gréco hergestellt. Ein Filmausschnitt zeigt Juliette Gréco in einer Szene, in der sie „Je suis comme je suis“ singt, dann wird auf der Leinwand der Schatten eines Likörglases sichtbar, in das eine Sonnenbrille gelegt wird. Durch die Kombination dieser Bilder mit der Sonnenbrille als Attribut des Jazzmusikers wird die Beziehung zwischen den beiden Figuren hergestellt; ein weiteres Likörglas kommt hinzu, der Tisch wird abgewischt, die Gläser werden gefüllt, dann schiebt eine Hand die beiden Gläser auseinander und zwei Hände greifen einander und liebkosen sich zärtlich. Diese Abfolge von Schattenbildern spricht die Sprache des Kinos, und zwar aufgrund der Rahmung und der Hell-Dunkel-Kontraste wie schon in der Busszene in Vinci, aber auch durch die filmische Perspektive des top shot. Der Zuschauer blickt wie eine Kamera von oben auf die gezeigten Objekte, realisiert wird diese Bildästhetik aber mit Hilfe eines Lichtprojektors, auf dessen Lichtfläche die Requisiten bewegt werden. Die visuelle Ästhetik dieser Inszenierung kann durch die Verwendung unterschiedlicher Bildformen und Erzählmodi als explizit intermedial bezeichnet werden. Lepage beweist eine hohe Sensibilität für die spezifischen Darstellungsformen der verschiedenen Bildmedien und zitiert diese mit den Mitteln des Theaters bzw. setzt sie dazu ins Verhältnis. So entsteht eine besondere Spannung zwischen der Unmittelbarkeit der Darstellung als erstem Charakteristikum von Theater und der Nahtlosigkeit der Übergänge filmischen Erzählens.

64 Ebd.: 11. 161

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Lepage’s mise-en-scène has often been called filmic. While it is not always clear what is meant by this categorization, the reference is, among others, to the visual spectacle that creates a particular tension between, on the one hand, the immediacy of the presentation, its live character, and its stunning visual seamlessness, on the other hand.65

Während die Sprache des Kinos und seine Techniken bei Lepage besonders durch den Einsatz von Lichttechnik und das Spiel mit Schattenprojektionen zitiert werden, verwendet er wirkliche Filmprojektionen, um deren spezifische Ästhetik zur Materialität des Körpers auf der Bühne ins Verhältnis zu setzen. Dies geschieht in Les Aiguilles umso effektvoller, als der Körper seine Erdhaftung verloren hat und sich wie eine von Fäden gesteuerte Marionette frei im Raum bewegen kann. Die Auswirkung einer solchen intermedialen Ästhetik ist eine Transformation des Theaterraums, seiner Objekte und des Körpers, der sich in einem hybriden Schwebezustand zwischen den Medien befindet. Dem Körper kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu, da er sozusagen zum Vermittler zwischen den verschiedenen Bild- und Wahrnehmungsräumen wird. Damit verweist er einerseits auf die erdverhaftete materielle Präsenz des Theaters und entledigt sich andererseits durch eine Synthese mit neuen visuellen Formen dieser körperlichen Schwere. Verstärkt wird dieses Potential in Les Aiguilles et l’Opium durch das Seilsystem, das es dem Darsteller tatsächlich ermöglicht, seinen Körper schwebend im Raum zu situieren, ihn aber auch außerhalb des Rahmens zu platzieren. Kontrastiert werden hier die mediale Spezifik von Theater als Raumkunst und von Film als einem zweidimensionalen Bildmedium, wobei die Qualität des Theaters als unmittelbare Darstellungsform, die sich vom Film gerade durch die körperliche Präsenz des Darstellers auf der Bühne unterscheidet, durch das Spiel des Körpers vor der Leinwand besonders herausgestellt wird. In einer medienreflexiven Perspektive lässt sich die Szene als Affirmation dieser substantiellen Differenz der beiden Medien lesen, die den Gedanken eines Konkurrenzverhältnisses zwischen den beiden Künsten obsolet werden lässt. Denn, so hat Georg Lukács schon 1913 herausgestellt, nicht in den Worten und Gebärden der Schauspieler oder in den Geschehnissen des Dramas liegt die Wurzel der Theatereffekte, sondern in der Macht, mit der der Mensch [...] unvermittelt und ohne hemmende Leitung auf eine geradeso

65 Defraeye, Piet (2000): „The staged body in Lepage’s Musical Productions.“ In: Donohoe, Joseph I./Koustas, Jane M. (Hg.): Theater sans frontières. Essays on the Dramatic Universe of Robert Lepage. East Lansing: Michigan State University Press, 79-93, hier 79. 162

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lebendige Masse ausströmt. Die Bühne ist absolute Gegenwart. [...] Das Fehlen dieser „Gegenwart“ ist das wesentliche Kennzeichen des „Kino“. Nicht weil die Filme unvollkommen sind, nicht weil die Gestalten sich heute noch stumm bewegen müssen, sondern weil sie eben nur Bewegungen und Taten von Menschen sind, aber keine Menschen. Dies ist kein Mangel des „Kino“, es ist seine Grenze, sein principium stilisationis.66

Die Kombination der zweidimensionalen, filmischen Bilder mit dem realen, dreidimensionalen Körper des Darstellers entlarvt aber gleichzeitig die Mechanismen unseres Wahrnehmens und das an bestimmte Medien und ihre Darstellungskonventionen gebundene Realitätsempfinden. Denn obwohl die Illusionspotentiale des Films denen des Theaters bei weitem überlegen sind, wird der dem Theater anhaftende Mangel einer wenigstens „scheinbar objektiven Wiedergabe von Welt“ erst in der direkten Kontrastierung seiner Ästhetik mit der des Films virulent.67 Die Analyse der Szenen, in denen Lepage Filmausschnitte verwendet, kann zeigen, auf welche Weise der Körper zu diesen Bildern ins Verhältnis treten kann, von ihnen sozusagen synthetisiert wird und so unsere Fähigkeiten von Wahrnehmung und visueller Differenzierung durchaus in Frage stellt. Gleichzeitig kann durch die Positionierung des Körpers außerhalb des Bühnenrahmens ein bewusster Kontrast zu den projizierten zweidimensionalen Bildern hergestellt werden und so auch die Trennung zwischen Theater und technischen Bildmedien vollzogen werden. Durch die konstante Herausforderung unserer Perzeption kann eine Bildkomposition wie die der Flugszene, in der der Darsteller in der Apparatur des Seilsystems sitzend zentriert vor der Leinwand schwebt und diese wie ein Fernsehbild bläulich leuchtet, durchaus Verwirrung auslösen. Im ersten Moment ist nicht eindeutig erkennbar, ob es sich um ein dreidimensionales Theaterbild mit real präsentem Körper oder die Projektion einer Filmsequenz handelt. Trotz der medial-technischen Qualität dieses Theaters bleibt die Bühne durch die materielle Präsenz ein konkret physischer Raum, in dem zeitliche und räumliche Wahrnehmung durch eben jenen Körper gesteuert werden. Johannes Birringer bemerkt in diesem Zusammenhang, „the self-evidence of this space, and of the mechanics of the live body of the performer, is precisely what the theatre can defer and speculate on by making us apprehend its relationship to the not-seen and

66 Lukács, Georg (1973): „Gedanken zu einer Ästhetik des Kino.“ In: Witte, Karsten (Hg.): Theorie des Kinos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 142-148, hier 142f. 67 Hickethier (1986): 12. 163

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not-heard, to the out-of-place and the forgotten.”68 Durch den Körper und seine materielle Präsenz auf der Bühne wird die traumhaft-surreale Reise durch reale und virtuelle Welten und die Begegnung mit Miles Davis, Jean Cocteau und Juliette Gréco erst möglich. Und trotz der assoziativen und losen Verknüpfung der Text- und Bildzitate, die niemals in ihrer Tiefe erforscht werden, ergibt sich aus dieser kulturellen Collage ein geschlossenes Bilduniversum, das beweist, wie sehr eine solche intermediale Choreographie von Theater unseren Wahrnehmungsfähigkeiten entgegenkommt. L’une des caractéristiques du génie de Robert Lepage, c’est de donner à chacune des disciplines et à chacun des médias auxquels il fait appel, un rôle propre à mettre en valeur toute sa puissance pour ensuite les faire s’amalgamer, de telle sorte qu’elles contribuent à façonner le spectacle.69

Es ist schwer, Träume zu erzählen, und noch schwieriger, sie skizzenhaft und ohne Deutung darzustellen. Lepage gelingt dies durch eine Reihe ununterbrochen aufeinander folgender Bilder, die sich dem Publikum entziehen, um sich ständig zu transformieren und zu erneuern. Die Kraft und die Magie dieses Theaters liegen im Gehalt seiner Bilder, in ihrer Tiefe und ihrer Komplexität. Dass die Qualitäten des Bildes weit über den Möglichkeiten von Sprache liegen, die als Theaterzeichen bei Lepage eine bewusste Enthierarchisierung erfährt, zeigt sich auf der Textebene auch in der Unzulänglichkeit der Worte für die Bedürfnisse zwischenmenschlicher Kommunikation, wie etwa in den Telefonszenen, in denen eine wirkliche Kommunikation nicht zustande kommt. Dominique Lafon disqualifiziert diese Monologe Roberts als eine „ultime concession au verbal“, und das sowohl formal-ästhetisch innerhalb dieses Bildertheaters als auch auf narrativer Ebene: [...] un verbal disqualifié par le concepteur lui-même: qu’il s’agisse d’obtenir une communication aux Etats-Unis ou le silence dans la chambre d’hôtel voisine d’où s’échappent les halètements excessifs d’une relation sexuelle, qu’il s’agisse d’expliquer à une hypnothérapeute ce qu’est le Québec, la situation reste la même. L’interlocuteur, que le spectateur n’entend pas, reste sourd, indifférent ou manifeste la plus totale ignorance. 70

68 Birringer, Johannes (1993): Theater, Theorie, Postmodernism. Bloomington: Indiana Univ. Press, 31. 69 Lévesque, Solange (1995): „Les Aiguilles et l’Opium. Marc Labrèche audelà du miroir.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 76, 168-172, hier 171. 70 Lafon (1992): 86. 164

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Dass der Verlust an Relevanz dieses ersten aller Theaterzeichen jedoch für das Theater im Sinne Lepages unerheblich ist, zeigt die visuelle Vollkommenheit der Traumsequenzen und allgemeiner der internationale Erfolg des Regisseurs selbst. Wenn Robert in einem schwebenden Tanz vor der Projektion einer sich immer schneller drehenden Spirale ins Zentrum seiner Traumbilder hineingesogen zu werden scheint, dann kann dieses Ende ohne Schluss, ohne Auflösung des Dilemmas Roberts ein Zeichen für die endlosen Möglichkeiten der Bilder dieses Theaters sein. Mit Les Aiguilles et l’Opium befreit Robert Lepage die Bühne von der Dominanz des Texts und erlaubt uns „à ne prendre désormais que les images au pied de la lettre.“71

Elsinore Obwohl die Hamletbearbeitung Elsinore keinen direkten Bezug zum Kulturraum Québec aufweist,72 steht dieses dritte Solostück in der Konti71 Ebd.: 90. 72 Zwar thematisiert das Stück nicht wie die anderen Soloproduktionen Lepages die Geschichte eines québecer Charakters, der auf der Suche nach seinem identitären und beruflichen Selbstverständnis die Begegnung mit dem Werk und der Biographie einer historischen europäischen Künstlerfigur macht und über diese Auseinandersetzung zu sich selbst findet, aber auch der Hamletstoff kann als Variation des Grundmotivs dieser Suche nach sich selbst gelesen werden. So wie die québecer Figuren fragt auch Hamlet angesichts eines Umfelds, mit dessen Machtintrigen er sich nicht identifizieren kann und in dem er sich fremd fühlt, nach den Bedingungen seines Daseins (‚to be or not to be, that is the question‘ [III,1]) auf dem Schloss Helsingør, wobei der Kern der Tragödie nicht so sehr die Frage ist, wie er den Tod des Vaters rächen soll, sondern ob er es überhaupt tun wird. Richard Paul Knowles unterstreicht in diesem Zusammenhang die offensichtliche Obsession Lepages für die Kernfrage des Werks Shakespeares, die sich von seiner Rolle als Schauspieler in Denys Arcands Film Jesus of Montreal, in dem er diesen berühmten Satz spricht, bis in sein Kriminalstück Le Polygraph durch sein berufliches Leben zieht und in der eigenen Arbeit am Hamletstoff endet: „It is arguable [...] that both Vinci and Needles and Opium, Lepage’s virtuoso one-man shows about artists, can usefully be read as variations, or improvisations, on the theme of the same speech. What is about Hamlet, or this particular speech […] that makes Lepage return to it so obsessively?“ Vgl. Knowles, Richard Paul (1998): „From Dream to Machine: Peter Brook, Robert Lepage, and the Contemporary Shakespearean Director as (Post)Modernist.“ In: Theatre Journal 50 (2), 189-206, hier 196. 165

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nuität von Vinci (1986) und Les Aiguilles et l’Opium (1989). Wie auch in den beiden ersten Produktionen interessiert sich Lepage in Elsinore für die Möglichkeiten der Darstellung in einem Solostück und für das Verhältnis des Schauspielers zur Bühne. Diese Bühne, die Lepage als „Maschine“ bezeichnet,73 ist in der Tat eine riesige technische Maschinerie, die von einer Vielzahl medialer Interventionen geprägt ist. Lepage entwickelt hier den beweglichen Bildschirm, der schon in Les Aiguilles et l’Opium das zentrale Element der Bühne war und dessen Zweidimensionalität er zu seinem Körper ins Verhältnis setzte, konsequent weiter. Schon der Titel des Stücks – Elsinore –, der den Handlungsort der Tragödie in Helsingør an der dänischen Küste bezeichnet, lässt ahnen, dass Lepage den Ausgangstext einer Reihe von Veränderungen unterzieht. Obgleich die Grundzüge der Handlung bestehen bleiben und Lepage auch in weiten Teilen an der sprachlichen Form der Tragödie festhält, wurde der Text in seiner Länge gekürzt, alle Nebenstränge des Plots gestrichen und die Rollentexte zahlreicher Charaktere verändert. Die verbleibenden Teile, die in neunzehn Szenen unterteilt sind, folgen aber im Großen und Ganzen der Chronologie der Vorlage: Hamlet erscheint der Geist seines Vaters, der durch die Hand seines eigenen Bruders Claudius, des jetzigen Königs und Gatten seiner Mutter, ermordet wurde. Er ermahnt ihn, seinen Tod zu rächen, dabei aber die Königin zu schonen. Claudius und die Königin Gertrude beauftragen Rosencrantz und Guildenstern, den Grund für Hamlets Wesensveränderung herauszufinden. In der folgenden Szene begrüßt Hamlet die beiden designierten Spione und spricht seinen Monolog „What a piece of work is a man.“ Polonius vermutet, Hamlets Geist sei verwirrt, weil er seine Tochter Ophelia liebe, ohne dass diese Liebe auf Erwiderung stößt. Die Hauptstränge des Plots und die berühmten Repliken und Monologe einzelner Figuren bleiben also erhalten. Die Veränderungen, die Lepage am Text vorgenommen hat, werden dort offensichtlich, wo bestimmte Redeteile und Szenen neu kombiniert sind. So verbindet er die Szene zwischen Hamlet und Ophelia, in der er sie ins Kloster schicken will, mit Ophelias Monolog über Hamlets Verwirrung und seine offensichtliche Krankheit. In einer späteren Szene wird die Beschreibung von Ophelias Tod durch die Königin und der letzte Dialog zwischen den beiden, den Gertrude in Lepages Version singt, verknüpft.

73 Vgl. Lavender, Andy (2001): Hamlet in Pieces: Shakespeare revisited by Peter Brook, Robert Lepage and Robert Wilson. Continuum International Publishing Group, 104. 166

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Es ist aber weniger die Bearbeitung des Texts als die „technologische Hexerei“74 der Inszenierung und die Neuinterpretation von Handlungsort und Perspektive, die diesen ‚québecer‘ Hamlet so interessant machen. Indem Lepage sein Stück Elsinore nennt, designiert er einen Ort und nicht eine Figur als Gegenstand des Stücks. Der Ort der Handlung verspricht also eine mindestens so große Bedeutung zu haben wie der zentrale Charakter des Texts. Zwar spielt auch Shakespeares Hamlet fast ausschließlich auf dem Schloss Elsinore; die Lokalisierung der Tragödie ist aber weniger signifikant als ihre metaphorische Bedeutung, die Lepage durch die unterschiedlichsten szenographischen Anordnungen erforscht. In seiner Inszenierung ist Elsinore ein Ort, der durch seine Beweglichkeit eine eigene Persönlichkeit entwickelt und so rastlos und unerbittlich auf die Figuren Einfluss nimmt. Es ist die Maschinerie, die die Faszination der Inszenierung ausmacht, und gleichzeitig ist die Maschinerie dieses Ortes – im übertragenen Sinne – ausschlaggebend für Hamlets Schicksal. Lepage zeigt seinen Hamlet an einer Reihe bekannter Schauplätze, im Thronsaal, im Gemach seiner Mutter oder vor den Mauern des Schlosses, aber er fügt den von Shakespeare vorgegebenen Orten noch weitere hinzu und führt sein Publikum in Ophelias Schlafzimmer, in den Zuschauerraum eines Theaters oder in die Zelle, in der Hamlet Polonius’ Leiche versteckt. Die Bühnenkonzeption basiert auf einer den gesamten szenischen Raum einnehmenden quadratischen Kiste, deren Seitenteile in alle Richtungen beweglich sind, und die zu einer geschlossenen Wand oder einem zeitweise geschlossenen, zeitweise seitlich oder frontal geöffneten Kasten transformiert werden kann. Das mittlere Bühnenelement ist an allen Ecken durch Seilzüge mit einem Motorensystem verbunden, das die Fläche horizontal und vertikal kippbar, in aufrechter Position bewegbar oder um 180° drehbar macht. Es kann so eine Fläche darstellen, ein Dach oder die Front eines Gebäudes oder zusammen mit den parallel zur Bühne positionierten Seitenteilen an der Rampe eine ‚vierte Wand‘ ergeben. Im Zentrum des Mittelteils befindet sich eine kreisförmige, über ihre Achse bewegliche Scheibe, die durch eine rechteckige, mannshohe Öffnung durchbrochen ist. Je nachdem, wie die Scheibe gedreht wird, kann dieses Rechteck als Tür, Fenster oder Grabloch fungieren. Im Rahmen dieses Rechtecks gibt es weiter die Möglichkeit, verschiedene tablettartige Flächen zu befestigen, die in ihrer Position bleiben, während die gesamte quadratische Wand in die Höhe geliftet wird.

74 Vgl. Steen, Shannon/Werry, Margaret (1998): „Bodies, Technologies, and Subjectivities: The Production of Authority in Robert Lepages Elsinore.” In: Essays in Theatre/Études théâtrales 16, 139-151, hier 140. 167

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Mehr noch als in den beiden ersten Soloproduktionen ist Lepages Konzeption der Bühne als einem szenischen Kasten in Elsinore besonders evident. Der Darsteller ist umgeben von einer Kiste, auf und in der er sich bewegen kann, hinter der er sich versteckt und die mit ihm und um ihn herum agiert. Lepage nutzt die technischen Möglichkeiten dieser Konstruktion in allen möglichen Konfigurationen: Die Front des Mittelteils und die daran rechtwinklig anschließenden Seitenteile lassen die Bühnenelemente zu einer konkreten, materialisierten Kiste werden, die das Schloss Elsinore darstellt; nach vorn geklappt ergeben die drei Wände eine geschlossene Wand, die, mit einer Projektion versehen, zum Festungsgemäuer wird; die mittlere Fläche fungiert – durch die Türöffnung gesehen – als Ophelias Schlafzimmer, oder – parallel zum Bühnenboden positioniert – als ihr Grab. Zahlreiche Räume, die die Inszenierung visualisiert, sind geschlossene Orte und die Mobilität der Wände dieser Orte erhält so einen tieferen Sinn: Les murs mobiles, obéissant à une tension intérieure du drame, prennent une force particulière et font sens: dans cette pièce, où chaque personnage est sans cesse épié, les murs bougent pour se rapprocher des protagonistes jusqu’à les ensevelir. La boîte qui se forme encadre chacun au plus près, jusqu’à devenir son tombeau ou son cercueil […].75

Bis hin zu ihrer vollständigen Zerstückelung und Auflösung lässt dieser szenische Kasten den Bezug zu seinem Ursprung, nämlich zum Guckkasten nie verschwinden. Um die verschiedenen, durch die unendliche Transformationsfähigkeit dieses Kastens entstehenden Spielorte visuell zu konkretisieren, überzieht Lepage die Bühne mit einer Vielzahl von Bild- und Videoprojektionen, die den neutralen Bühnenelementen eine spezifische Identität einschreiben.

Elsinore (Abb. 5)

Motive wie eine Mauer aus großen Felsblöcken, die auf die parallel zur Rampe positionierten drei Bildflächen projiziert werden, illustrieren die 75 Fouquet (2005): 39. 168

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Außenwände der Festung Elsinore, Renaissancemotive einer Tapete lassen den nach vorne offenen Kasten zum Gemach Gertrudes werden oder eine Holzstruktur die vertikale rechteckige Öffnung im mittleren Bühnenelement zu einer Tür. Die so verwendeten technischen Bildmedien haben eine vor allem illustrative Funktion, sie dienen der Präzisierung des Handlungsraums und der Zuordnung der verschiedenen Figuren, die alle von einem einzigen Schauspieler dargestellt werden. Wenn Claudius und Gertrude in der zweiten Szene Rosencrantz und Guildenstern im Thronsaal empfangen, um sie mit der Ausspionierung Hamlets zu beauftragen, dann sieht Shakespeare die gleichzeitige Präsenz von vier Schauspielern vor. Lepage realisiert diese Szene, indem er auf einem Stuhl sitzend, der in halber Höhe im Zentrum des mittleren Bühnenelements befestigt ist, abwechselnd die Repliken des Königs und der Königin spricht, wobei seine Stimme je nach Figur in der Höhe variiert. Hinter seinen Körper wird eine Spielkarte mit dem Motiv des Königs projiziert, wenn er Claudius Text spricht, und eine andere mit dem Motiv der Königin, wenn er Gertrude spielt. Um den Wechsel zwischen den beiden Charakteren noch deutlicher hervorzuheben, wechselt er blitzschnell zwischen zwei verschiedenen Körperhaltungen hin und her. Die Anwesenheit von Rosencrantz und Guildenstern wird durch die Projektion zweier Schatten auf den unteren Teil der Bildfläche realisiert, wobei diese Schatten nur in den ersten Sekunden der Szene sichtbar sind – eine kurze Lichtspur genügt, um ihre Präsenz anzudeuten und die Szene damit zu vervollständigen. Die so verwendeten Projektionen erfüllen eine rein illustrative Funktion, die der Illusionsschaffung dient, wobei diese niemals perfekt ist, sondern durch den spielerischen Umgang mit den technisch erzeugten Bühnenzeichen deren Herstellungsprozess ostentativ herausstellt und somit die intendierte Illusion bewusst bricht. In einer Vielzahl von Sequenzen bewegt sich zuerst langsam und deutlich sicht- und hörbar die schwerfällige Konstruktion der Bühnenwände und erst anschließend komplettiert eine Projektion die szenische Einrichtung. Der Entstehungsprozess des Illusionsraums wird ebenso offengelegt wie die Künstlichkeit der Bilder und der durch sie entstehenden Räume preisgegeben wird. Durch die Vergrößerung bestimmter Details, die Disproportion von projizierten Bildern zum Darstellerkörper oder die Überlagerung verschiedener Bilder erhält die Projektion den Status eines Zitats. So steht die Größe der Bücher in der Szene, in der Hamlet in der Bibliothek des Schlosses auf Polonius trifft, in keinerlei Verhältnis zur Größe der Figuren, ebenso wie die auf den weißen Stoff des Kleides von Ophelia projizierte Spitze so groß ist wie die Fläche, die ihr Schlafzimmer designiert.

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Das projizierte Bild hat hinweisenden Charakter und präzisiert die räumliche Situation oder den Charakter einer Figur.76 Technische Bildmedien werden aber nicht nur zur Herstellung konkreter Orte innerhalb des Bühnengeschehens genutzt, sondern ihre Zweidimensionalität wird auch immer wieder in ein Spannungsverhältnis zum dreidimensionalen Bildraum des Theaters gesetzt. Das hohe Transformationspotential des Kastens erlaubt es, die Bühne in ihrer räumlichen Tiefe zu negieren: Wie schon in Vinci beginnt das Stück mit zwei kurzen Prologszenen, in denen der Geist des alten Hamlet erscheint und Rosencrantz und Guildenstern von König und Königin beauftragt werden, den Grund für Hamlets Wesensveränderung herauszufinden. Nach dieser Einführung in die Thematik des Stücks schließt sich der Bühnenraum, die beiden Seitenteile werden bis zur Rampe nach vorn gefahren und bilden jetzt mit dem Mittelteil eine geschlossene Wand, auf die über die Projektion einer Mauer aus großen Felsblöcken, die die Außenmauern der Festung Elsinore darstellen sollen, der Titel des Stücks und die Namen aller Beteiligten projiziert werden. Vor den Augen des Zuschauers findet hier ein Wechsel zwischen Theater- und Kinodispositiv statt. Lepage utilises the rhetorics of cinema, television and video – flash-back, flash forward, intercutting, cross-fade, image flow, multiple imaging – and underscores it with a cinematic sound design which combines melodramatic flourish, postmodern pastiche and New Age ambience. We experience his theatre with the eyes and ears of cinemagoers in a video age […].77

Das beständige Oszillieren zwischen filmischer und theatraler Ästhetik ist ein konstantes Merkmal des Arbeitens von Robert Lepage, das auch in Elsinore sehr markant ist. Aber nicht nur das Zitieren von Darstellungskonventionen des Kinos wie etwa die Projektion von Untertiteln oder einer Besetzungsliste verweist auf Lepages Nähe zur Ästhetik dieser ‚siebten‘ Kunst, sondern vor allem seine explizit filmische Erzählweise im Sinne einer dem Film entlehnten Syntax, die sich in der Art der Bildkomposition und -abfolge manifestiert. Die ästhetischen Anleihen bei der Sprache des Kinos erweitern die Möglichkeiten theatralen Erzählens und ermöglichen neue szenographische Optionen, die eine Reflexion über die Mechanismen des Sehens und die Steuerung des Blicks begünstigen. Filmisches Erzählen manifestiert sich in erster Linie durch eine besondere Kunst des Kombinierens und Anordnens durch das Mittel der Montage. Im Gegensatz zum Theater bevorzugt das Kino in der Regel kurze Sequenzen gegenüber langen Ein76 Vgl. Fouquet (2002): 179. 77 Lavender (2001): 143. 170

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stellungen und Bildern; ein Verfahren, das bei Lepage besonders durch eine Aneinanderreihung von Szenen erreicht wird, die durch kurze Blacks unterbrochen werden. Diese Merkmale finden sich in Lepages Arbeiten nicht erst im Endprodukt einer Inszenierung, sondern sind für den gesamten Entstehungsprozess einer Produktion charakteristisch. Oft entstehen die einzelnen Szenen losgelöst von einem bestimmten Kausalitätsprinzip und werden erst kurz vor Schluss, wie im Film beim ‚final cut‘, in ihre endgültige Reihenfolge gebracht.78 Dass der Zuschauer Theater tatsächlich mit einem kinematographischen Blick wahrnimmt, zeigt die Szene, in der Claudius auf Hamlet trifft, nachdem dieser versehentlich Polonius erstochen hat. Lepage nennt die Szene „the supper“, Onkel und Neffe begegnen sich im Speisezimmer und Claudius eröffnet Hamlet, er werde ihn nach England schicken.79 Um im Solostück diesen Dialog zwischen zwei Figuren zu realisieren, bedient sich Lepage eines filmischen Tricks. Er inszeniert sein Theaterbild so, als sähe der Zuschauer abwechselnd eine Kameraeinstellung auf den einen und auf den anderen Charakter, niemals aber beide gleichzeitig. Natürlich kann er diese Illusion im Theater nicht perfekt herstellen, aber mehr als um die perfekte Illusion geht es hier formal um das theatrale Spiel mit vom Kino geprägten Wahrnehmungsgewohnheiten. Das mittlere Bühnenteil befindet sich leicht erhöht über dem Boden und wird im 45°-Winkel von den beiden Seitenteilen gerahmt, so dass ein nach den Seiten begrenzter Raum entsteht. Auf der rechteckigen Öffnung ist ein Tisch befestigt, der drehbar ist und an dessen einen Ende Lepage sitzt. Durch eine Lichtquelle am Boden wird sein Schatten auf die rückwärtige Wand geworfen. Aufgrund der leichten Neigung des mittleren Bühnenteils verfolgt der Zuschauer die Szene wie aus der Froschperspektive. Während Lepage nun abwechselnd die Repliken Claudius’ und Hamlets spricht, dreht sich der Tisch, an dessen einen Ende ein Weinglas und ein Teller befestigt sind, zwischen jedem Sprecherwechsel hin und her. Wenn sich das Glas auf der Seite des Darstellers be78 Vgl. Fouquet (2002): „Lepage, face à la fable, se comporte comme un réalisateur en salle de montage, déplaçant des plans, remontant des successions de séquences dans des ordres différents, ayant la haute main sur l’ordre final, le final cut. Ses fables relèvent de scénarii de cinéma, pour lesquels le montage donne le sens final bien plus que les scènes en ellesmêmes. C’est l’information contenue dans chaque scène, mais surtout son agencement aux autres scènes (juxtaposée, entrelacée…) qui est prépondérante. Le montage lepagien se moque de l’enchaînement chronologique, il en est même l’anti-thèse.“ (221, Hervorhebung im Original). 79 Vgl. Lepage, Robert (1995): Elsinore: 36-39 (im Folgenden zitiert als ‚Elsinore‘). 171

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findet, ist Lepage Claudius; spricht er den Text Hamlets, sieht der Zuschauer nur den Schatten des Geschirrs auf der Leinwand und Lepage in veränderter Körperposition im Profil. Durch dieses Spiel mit wenigen Requisiten schafft Lepage die Illusion eines konstanten Perspektivwechsels. Es scheint, als bewege sich eine Kamera – oder das Publikum – zwischen den Dialogpartnern hin und her, tatsächlich aber handelt es sich um eine ohne jegliche medial-technische Intervention realisierte Szene, die mit einem durch Körperbewegung erzeugten Perspektivwechsel eine kinematographische Erzählform imitiert. Ludovic Fouquet verweist in diesem Zusammenhang auf Lepages Credo einer durch die neuen visuellen Darstellungsmedien veränderten rezeptiven Kompetenz des Theaterzuschauers, dessen Fähigkeit, solche fremdmedialen Erzählmodi im Theater zu decodieren, ein noch recht junges Phänomen ist: Il y a moins de quatre-vingt-dix ans, devant les premiers montages cinématographiques, il n’était pas évident pour les spectateurs de comprendre que tel gros plan était la succession de tel plan large ou que tel plan était le contrechamp du précédent. Les codes visuels, la syntaxe, n’étaient pas encore partagés et intégrés. Le travail de traduction mentale que doit faire notre pensée est aujourd’hui immédiat, évident, au cinéma, mais demande parfois quelques secondes lorsqu’un effet équivalent surgit au théâtre.80

Die Bildlogik dieser Szene macht deutlich, inwiefern unsere Wahrnehmung durch die kameragesteuerten Erzählmodi von Film und Fernsehen geprägt ist und auf welche Weise wir solche Phänomene im Theater rezipieren, nämlich nicht „comme notre œil les voit mais comme notre pensée les imagine, en les recombinant.“81 Ein weiteres Merkmal der der Ästhetik des Kinos entlehnten Theatersprache Lepages ist sein feines Gespür für Rahmen. Neben Montage und Kamerablick ist die Rahmung von Bildern einer der wichtigsten Mechanismen des Kinos. Der Rahmen isoliert das Abgebildete [...]. [Er] erklärt das in ihm gezeigte als etwas Zusammengehörendes. [...] Die Bildgrenze und das durch sie formulierte Format schaffen eine innerbildliche Anordnung der Elemente, grenzen Dinge aus und erklären das innerhalb der Bildgrenzen Gezeigte zu einer eigenen Welt, zu einem Kosmos, dessen Schnittpunkt im Betrachterstandpunkt [...] liegt. Die Funktion des Rahmens wird im Film häufig noch dadurch betont, dass in speziellen Situationen, in denen innerhalb des Filmgeschehens ein besonderer 80 Fouquet (2002): 252f. 81 Hébert, Chantal/Perelli-Contos, Irène (1998): „L’Écran de la pensée ou les écrans dans le théâtre de Robert Lepage.“ In: Picon-Vallin, Béatrice (Hg): Les écrans sur la scène. Lausanne: L’Age d’Homme, 181. 172

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Teilbereich isoliert werden soll, ein innerer Rahmen (Fenster, Spiegel, Türen) geschaffen wird, der das Gezeigte je nach Kontext in eine Atmosphäre der Beengtheit, der Geborgenheit versetzt.82

Lepage verwendet Rahmen sowohl zur Begrenzung des Bühnenraums als auch der innerhalb des Bühnengeschehens auftretenden Bildräume. „En effet, [...] Lepage témoigne d’un regard […] qui doit beaucoup au cadrage de cinéma. Chaque scénographie met en place un cadre de départ, très visible, et ensuite le spectacle multiplie les cadres.“83 In Elsinore ist der Kasten der ‚Bühnen-Maschine‘ eine solche gerahmte Begrenzung der Spielfläche, ebenso wie die quadratischen Flächen der einzelnen Bühnensegmente, die gleichzeitig als Projektionsflächen für Bilder unterschiedlicher Provenienz dienen können. Diese Art der Eingrenzung oder Rahmung entspricht im Kino der durch das Photogramm vorgegebenen Größe des Filmbilds. Die doppelten Rahmungen des Kinobilds durch inhaltlich bestimmte Bildkompositionen, wie sie Hickethier beschreibt, finden in Elsinore ihre Entsprechung in der rechteckigen Öffnung des Kastens, der etwa als Tür fungiert und der als Rahmen einer Figur oder als Schwelle des Übergangs zwischen zwei Orten dienen kann. „La porte n’est pas que lieu de passage, elle est lieu de mise en valeur visuelle.“84 In eben einem solchen Rahmen findet das Treffen von Hamlet mit Rosencrantz und Guildenstern statt, eine Begegnung, die auch eine Konfrontation zwischen realem und mediatisiertem Körper ist, denn um im Solostück das gleichzeitige Auftreten mehrerer Figuren zu realisieren, bedient sich Lepage hier seines medialen Abbilds. Ästhetisch verweist diese Szene auf die schon in Les Aiguilles et l’Opium realisierte Gegenüberstellung des Schauspielerkörpers mit zweidimensionalen Bildsequenzen, wobei im Unterschied zu der vorigen Soloproduktion hier LiveVideobilder zum Einsatz kommen. Formal ist diese Referenz an das Medium Video also nicht neu, weil die Bildtechnik als solche schon in den beiden ersten Ein-Mann-Produktionen verwendet wurde, ästhetisch aber wurde in Vinci und in Les Aiguilles et l’Opium die Videotechnik lediglich zur Herstellung der medialen Konventionen von Photographie und Film genutzt. La vidéo, et ceci respecte l’ordre chronologique, n’apparaît sur la scène lepagienne qu’après le rétroprojecteur et la photographie, autrement dit, après le travail de l’ombre et des premières projections d’ombres colorées (les diaposi82 Hickethier, Knut (1996): Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart: Metzler, 46f. 83 Fouquet (1998a): 134. 84 Fouquet (2002): 245. 173

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tives). Elle devient surtout le complément des spectacles solos, pour lesquels Lepage […] s’entoure de technologies. […] La vidéo traduirait scéniquement des jeux d’influences multiples (cinéma, photographies, télévision…), mais sans doute intervient-elle aussi en son propre nom, jouant d’une pragmatique et d’une sémantique personnelle.85

Genaue jene der Videokunst eigene Semantik macht sich Lepage in Elsinore zu Nutzen: Video als ein in Realzeit dokumentierendes und zeigendes Observationsmedium erfüllt hier eine doppelte, nämlich eine rein formale und eine intradiegtische Funktion. Wenn Hamlet auf Rosencrantz und Guildenstern trifft, nachdem die beiden von König und Königin instruiert wurden, befindet sich Lepage in der türgroßen Öffnung des Mittelteils, das sich nun aufrecht im mittleren Bereich der Bühne befindet und durch die beiden Seitenteile verlängert wird. Seitlich dieser Öffnung befinden sich zwei für das Publikum nicht sichtbare Videokameras, die den Darsteller aus entgegengesetzter Perspektive filmen. Diese Bilder werden vergrößert, live und simultan auf die jeweils gegenüberliegenden Seitenwände projiziert und es entsteht der Eindruck, Rosencrantz und Guildenstern befänden sich jeder an einer Seite Hamlets, das Gesicht ihm zugewandt. Sobald der Darsteller seine Position wechselt und sich in eine andere Richtung dreht, verändert sich die gesamte Bildkomposition: Wenn Lepage im Profil zum Publikum steht und einen seiner beiden Freunde frontal ansieht, zeigt die seitliche Projektion diesen dem Darsteller mit dem Rücken zugewandt. Durch die Verdopplung seines gefilmten Abbilds verdreifacht sich der Darsteller und Rosencrantz und Guildenstern erscheinen als Schatten Hamlets wie seine Spiegelbilder. Ces images-reflets sont à la fois des images de lui-même qu’il scrute et celles de ses camarades d’études, Rosencrantz et Guildenstern, qu’il observe. Hamlet leur demande des révélations, et ces reflets ne parlent pas. Hamlet le fait pour eux – et pour cause!86

Ästhetisch wird dem Solodarsteller so nicht nur die Interaktion mit zwei weiteren Figuren möglich, die im Spiel mit einer vorproduzierten Filmsequenz kaum akkurat zu realisieren wäre, sondern auch in formaler Hinsicht steht das Medium in einer subtilen Relation zur Thematik des Stücks. Lepage inszeniert nämlich in dieser Szene nicht nur die Shakespearesche Dialogsituation, sondern auch die potentielle Selbstbefragung

85 Ebd.: 302. 86 Fouquet, Ludovic (2003): „L’écart et la surface, prémices d’une poétique du corps écranique.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 108, 114-120, hier 116. 174

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

Hamlets und sein Bestreben, die Wahrheit hinter den Diskursen und den höfisch verschlossenen Minen derer, die ihn umgeben, aufzudecken: But in the beaten way of friendship, what make you at Elsinore? Were you sent for? It is your own inclining? Is it a free visitation? [..] Be even and direct with me, whether you were sent for or no. If you love me, hold not off. My friends you were sent for. I will tell you why, so shall my anticipation prevent your discovery, and your secrecy to the King and the Queen moult no feather.87

Weil die drei Figuren der Szene nicht miteinander sprechen, sondern Guildenstern und Rosencrantz nur als stumme Schatten präsent sind, kann das verdoppelte Videobild Hamlets auch als eine Aufspaltung seines Charakters, als eine zwischen allen Fronten zerrissene Figur interpretiert werden. Die simultane Präsenz Hamlets im realen Darstellerkörper und in seinem vervielfachten Abbild führt zu einem Spiel des Darstellers mit sich selbst, weshalb die Doppeldeutigkeit der Worte Hamlets an Prägnanz gewinnen.

Elsinore (Abb. 6)

Die Videobilder fungieren gewissermaßen als Spiegel Hamlets, der in dieser Szene mit aller Schärfe die Machenschaften auf Schloss Elsinore erkennt und sein Wissen gegenüber seinen Freunden auch verbalisiert. In Bezug auf die Bedeutung des Videos als Medium hebt Thomas Oberender hervor, dass gerade das „Video als Technologie es erlaubt, sich ein Bild von [seiner (J.P.)] eigenen Aktualität zu machen, wobei das Bild selbst zum Teil dieser Aktualität wird.“88 Erst durch die Spiegelung seiner Figur – sei es in den Mienen der sich verdächtig verhaltenden Freunde oder in seinem Abbild selbst – wird sich Hamlet seiner Lage und der Bedrohung durch seine Umwelt bewusst. Die Videobilder sind hier „stellvertretender Ersatz und [...] Re-Präsentation eines [...] rein imagi87 Elsinore: 6 88 Oberender, Thomas (2004): „Mehr jetzt auf der Bühne.“ In: Theater heute 4, 20-26, hier 20. 175

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nären Körpers“, die „Veräußerlichung und Verkörperung“ der Figur Hamlets, die die Ambivalenz der Figur innerhalb des Dramas sowie seinen multiplen Charakter bildlich herausstellen.89 Durch die Mediatisierung des Körpers in den sich simultan zu seiner Rede und seinen Körperhaltungen bewegenden Videobildern geht Hamlet zu sich selbst auf Distanz und wird so sein eigener Beobachter. Das Videobild als Double trägt die Referenz auf den realen Körper und damit den Verweis auf dessen hier zumindest partielle Abwesenheit im Sinne einer Fragmentarisierung des Charakters in sich, „als Geste der Markierung einer Anwesenheit, die zugleich eine fundamentale Abwesenheit beschreibt.“90 Durch das Nebeneinander von körperlicher Präsenz und medial erzeugten Abbildern dieses Körpers wird so das Paradox der Figur Hamlets erschließbar gemacht: Allein, von allen Figuren isoliert und permanent bedroht, muss Hamlet den Tod des Vaters rächen. Seine Monologe geben dabei Einblick in seinen Seelenzustand und erlauben eine umfassende Charakterisierung der Figur. So hebt Andy Lavender hervor, „the presence of a single performer help[s] to concentrate the play’s discourse of isolation and loneliness.“ Lepage [...] had a keen eye on the possibilities offered to the one-man show by a play renowned for its soliloquys. He exploited this mode of performance – talking-to-yourself (to the audience) – to counterpoint utter privacy with all the public exposure intrinsic in the theatrical moment.91

Und Lepage fügt hinzu, dass „a one-man show allows you to explore in depth certain themes […]. Things like incest and schizophrenia become extremely incarnated in the fact that you’re alone.“92 Die Ambiguität der Figur wird durch die Isolierung des Darstellers innerhalb der riesigen Bühnenmaschinerie einerseits und die intime Nähe der Kamerabilder andererseits auch räumlich umgesetzt – der Bühnenraum oszilliert beständig zwischen der Größe der machtvollen Maschinerie des Schlosses Elsinore und kleinen, intimen Orten, in denen die Figuren miteinander in Interaktion treten und in denen sich die Machtstrukturen innerhalb des Dramas und die komplexen Relationen der Charaktere untereinander entfalten. 89 Schulz, Martin (2001): „Die Re-Präsenz des Körpers im Bild.“ In: Keck, Annette/Pethes, Nicolas (Hg.): Mediale Anatomien: Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld: Transcript, 33-50, hier 42 (Hervorhebungen im Original). 90 Ebd.: 45. 91 Lavender (2001): 110. 92 Ebd. 176

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Die intermediale Ästhetik der Inszenierung fasziniert in dieser Szene besonders durch die Live-Produktion mediatisierter Bilder und die technische Vervielfältigung des auf der Bühne präsenten Darstellerkörpers. Die projizierten Videobilder schaffen eine zum Bühnengeschehen rivalisierende zweite Szenerie, die den Zuschauerblick beständig zwischen dem real agierenden Schauspieler und seinen multiplen medialen Einspielungen hin- und herwechseln lässt: Das Video als Observations- und Dokumentationsmedium, das uns vom Bankautomaten bis zum Flughafen immer auf der Spur ist, zeigt sich hier von seiner anderen Seite: als verführerisches, unser Begehren bannendes und erweckendes Medium. [...] Das Drama des Narzissmus hat im Video sein ideales Medium gefunden. [D]urch die Mehrfachpräsenz des Bühnengeschehens, in dem sich das Spiel auf der Bühne mit Einspielungen und Live-Übertragungen mischt, [entsteht] eine Schwellensituation zwischen nah und fern, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Direktheit und Indirektheit, narzisstischer Selbstbetrachtung und observierender Fremdbeobachtung.93

Das Thema der beständigen wechselseitigen Überwachung und Belauerung unter den Figuren des Hamletdramas, das durch den Einsatz von in Realzeit übertragenen Videobildern einen aktuellen Bezug zur Allgegenwart von Kameras in unserem Alltag herstellt, wird durch das Spiel mit den beweglichen Wänden ergänzt. Während die Figuren in Shakespeares Drama nur in öffentlichen Räumen wie dem Thronsaal, vor den Mauern des Schlosses oder an anderen allgemein zugänglichen Orten aufeinander treffen, ermöglicht die Szenographie Lepages dem Zuschauer ein Eindringen in private und geheime Bereiche der Festung Elsinore. Man folgt Ophelia in ihr Schlafgemach, sieht die Nische, in der Hamlet den toten Polonius versteckt, und blickt direkt in Ophelias Grab. Gleichzeitig wird zwischen den Szenenwechseln auch immer wieder der Hinterbühnenbereich sichtbar, der Zuschauer sieht Stahlgerüste und Scheinwerfer und wird dadurch an den theatralen Rahmen, in dem das Stück stattfindet, erinnert. Illusion wird so einerseits bewusst geschaffen, aber auch als solche offengelegt und damit wieder gebrochen, und das wiederum besonders durch das Hinweisen auf das System Theater. Die formalen Spannungen zwischen Illusion und Illusionsbruch, zwischen der Mediatisierung der theatralen Mittel einerseits und der schwerfälligen Materialität der Bühne andererseits finden ihre Entsprechung in der Situation Hamlets. Lepage inszeniert den inneren Konflikt der Hauptfigur, die in die korrupten Verhältnisse der Machtmaschine des Schlosses Elsinore verstrickt wird, in eben einer solchen Bühnenmaschinerie, die 93 Oberender (2004): 23. 177

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mit theatralen Elementen ebenso spielt wie sie sich der Sprache und Ästhetik der neuen Medien bedient. In einer Abfolge visuell bestechender Bilder transformiert er den Handlungsort zu einer Mühle des Schicksals und bietet durch das Spiel des Solodarstellers, dessen Interaktion mit dem Raum und mittels der Überblendungen durch mediatisierte Bilder eine vielschichtige und offene Lesart von Shakespeares größter Tragödie an. Diese in vielerlei Hinsicht intermediale Hamlet-Inszenierung hat Lepage viele kritische Stimmen beschert. Es wurde ihm vorgeworfen, eine unbedarfte, dem Nintendo-Age entsprungene Version des Klassikers entworfen zu haben, der jegliche interpretative Tiefe oder literarische Qualität fehle: Ein Hamlet für eine Generation mit geringem Aufmerksamkeitsvermögen.94 Chantal Hébert und Irène Perelli-Contos sehen in dieser harschen Kritik an den Inszenierungen Lepages ein Indiz für die tiefgreifenden Veränderungen der gewohnten Theaterlandschaften, die uns vor das Problem der Lesbarkeit und Dechiffrierbarkeit einer neuen ästhetischen Sprache stellen. D’autant plus que les oeuvres de Robert Lepage, et notamment ses créations originales, étant en construction permanente, s’offrent comme des assemblages mi-ordonnés, mi-désordonnés, mi-texte, mi-image, comme des bricolages d’unités hétérogènes pouvant créer une impression générale de désordre, en raison, entre autres, de la formation aléatoire des liaisons, des jonctions et du jeu libre d’associations. Devant de telles œuvres, ouvertes, inachevées, le régime habituel de visions se trouve pour le moins ébranlé, les habitudes de lecture aussi […], surtout aux yeux de quiconque privilégie une vision plutôt „classique“ du théâtre. 95

Hinsichtlich des offensiven Einsatzes medialer Darstellungsmittel kann die Inszenierung als paradigmatisch für das Verhältnis von Theater und Technik und für einen produktiven Umgang mit Medien auf der Bühne gelesen werden. Die Interaktion zwischen dem Darstellerkörper und seinen technisch vervielfältigten Abbildern ist dabei nicht als der Anfang vom Ende einer auf der Unmittelbarkeit der Darstellung basierenden Theaterkunst zu verstehen, sondern als medienreflexiver Umgang des Theaters mit fremden Darstellungsmitteln, der die liveness des Bühnengeschehens gerade durch die Kopräsenz des Darstellers mit seinem mediatisierten Abbild besonders herausstellt: Lepages Elsinore visualisiert auf theatrale Weise das Interface Mensch-Technik.

94 Vgl. Steen/Werry (1998): 139. 95 Hébert/Perelli-Contos (2001b): 266. 178

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Die Verschränkung des Hamletstoffs als die Geschichte einer Figur, die in einem Spannungsverhältnis zu ihrer Umwelt steht, mit einer medientheoretischen Reflexion über das Verhältnis Mensch-Technik fordert das Theater in doppelter Weise. Denn Lepage geht es nicht nur um eine Lesart des Dramas, die auch 400 Jahre nach Shakespeare eine kulturelle Relevanz hat, sondern auch um die Mittel, mit denen diese Geschichte erzählt werden kann. „Ce sont toujours les mêmes histoires, les mêmes tragédies, les mêmes mythes qu’on relate, mais c’est comment on les expose qui fait en sorte que l’on touche notre époque ou non.96 Si on n’a rien à dire, la forme reste la forme, le médium reste le médium. Mais si on a quelque chose à exprimer, le médium sera le message.“97

La face cachée de la lune Mit dem Solostück La face cachée de la Lune (2000) greift Robert Lepage die dramaturgische Konzeption der beiden ersten Ein-Mann-Produktionen Vinci und Les Aiguilles et l’Opium auf und verknüpft die Geschichte eines québecer Protagonisten mit der des Wettlaufs zwischen den USA und der Sowjetunion um die Erforschung des Mondes. Auf der Folie dieser historischen Fakten und der Etappen des wechselseitigen Bestrebens, den politischen und wissenschaftlichen Rivalen im Versuch um die erste bemannte Mondlandung zu übertrumpfen, erzählt Lepage die Geschichte der québecer Brüder Philippe und André, die kürzlich ihre Mutter verloren haben und die sich über die Trauer und die nach deren Tod zu erledigenden Dinge langsam näher kommen. Philippe, der Ältere, ist ewiger Student und arbeitet an einer Dissertation über den Narzissmus als Motivation der Weltraumforschung. Allein und zurückgezogen lebt er in Québec-Ville, wo er seinen Unterhalt als Telefonwerber für eine Lokalzeitung verdient. Als seine Promotion von der Universität nicht angenommen wird, dreht er ein Home-Video, das eine amerikanische Gesellschaft ins All schicken will, um etwaigen außerirdischen Wesen das Leben auf dem blauen Planeten zu erklären. Sein Bruder, der homosexuelle André, ist Meteorologe beim Fernsehen, führt ein konsumorientiertes, auf sich selbst bezogenes Leben und scheint vom Tod der Mutter und den Seelenzuständen seines Bruders nicht sonderlich berührt. Zwischen den beiden Brüdern liegen Welten und doch finden sie, langsam und auf teils humorvolle, teils sehr anrührende Weise zueinander – eine Annährung, die sich real-historisch in der gemeinsamen Apollo-Sojus-Mission von Amerikanern und Sowjets spiegelt. 96 Hébert/Perelli-Contos (1994a): 64. 97 Charest (1995): 192. 179

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On suit ces destins parallèles comme le reflet des conquêtes spatiales soviétiques et américaines. Ces courses vers le ciel où la connaissance, la jalousie, le succès et l’estime s’entremêlent. […] On passe de l’humour au drame, du désordre familiale à la quête existentielle, de l’image d’archives projetées sur le mur pivotant aux miroirs qui accentuent l’illusion théâtrale. Grâce à certaines images très fortes, Lepage invite à une réflexion sur la part inconnue de l’univers et du moi profond. Tout en étant un objectif, la lune devient un repère aussi symbolique qu’esthétique. Les grandes étapes des quêtes spatiales ponctuent les événements du quotidien, comme les différences qui séparent les frères blessés en eux-mêmes.98

Von der Kritik wurde diese Produktion Lepages einstimmig als die technisch brillanteste,99 die poetischste100 und auch die intimste101 aller seiner Inszenierungen bewertet. Diese Einschätzung beruht auf dem sehr ausgewogenen Einsatz technischer Medien sowie deren brillanter Kombination mit einfachsten theatralen Mitteln und dem für Lepage typischen Spiel mit den verschiedenen Objekten der Inszenierung, die er im Verlauf des Stücks auf vielfältige Weise transformiert und ihnen so immer neue Bedeutungen und Funktionen zuschreibt. Gleichzeitig ist es auch auf den autobiographischen Charakter des Stücks zurückzuführen, auf die Arbeit mit historischen Dokumenten, die Erinnerungen an reale Ereignisse im Kindes- oder Jugendalter ebenso evozieren, wie sie in der fiktiven Geschichte Anknüpfungspunkte an die eigene Biographie geben, dass die Geschichte zwischen trivialen Alltagsbegebenheiten und philosophischer Reflexion, zwischen sprachlichem Witz und poetischem Schwermut, zwischen grotesken Episoden und Momenten der Bitterkeit und Melancholie oszilliert.102 98 Cantin, David (2000): „Robert Lepage à la conquête de son art.“ In: Le Devoir (6.3.2000). 99 Vgl. Wood, Emily (2002): „Lepage achieves new heights with Far Side of the Moon.“ In: The Daily Yomiuri (24.10.2002). 100 Vgl. Vigeant, Louise (2003): „Lepage sous deux angles.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 96, 36-39. 101 Vgl. Hébert, Catherine (2003): „Mission accomplie.“ In: Voir (22.28.5.2003). 102 Vgl. Legault, Yannick (2003): „Entretien avec Robert Lepage.“ In: Cahier Programme du FTA 2003 à Montréal, 12-15: „Contrairement à mon dernier spectacle solo, Elseneur, où nous avons exploré l’univers d’Hamlet de Shakespeare, je me suis surtout inspiré de ma vie, d’événements récents, tout particulièrement de la mort de ma mère. A quarante-deux ans, je me retrouvais orphelin…! J’avais beaucoup appréhendé ce moment-là, tellement que lorsque ma mère est morte, je n’ai pas vécu de profond déchirement. J’étais en paix avec elle… Je me suis tout 180

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Wie in den vorangegangenen Inszenierungen thematisiert Lepage in La face cachée de la lune technologische Darstellungsmedien sowohl intradiegetisch als auch formalästhetisch, indem er diese im Rahmenmedium Theater zum Einsatz bringt. Über die Fernsehbilder der 1960er Jahre, die immer wieder im Zusammenhang mit der Dissertation Philippes zitiert werden, den Beruf Andrés als Wetteransager und Philippes Teilname an einem Preisausschreiben eines amerikanischen Senders wird das Fernsehen zu dem Medium, das hinsichtlich seiner Ästhetik sowie in seiner medialen Spezifität im Zentrum der Inszenierung steht. Gleichzeitig ist auch in La face cachée de la Lune Lepages ästhetische Nähe zur Sprache und zur Semantik des Kinos besonders evident. Schon die Raumkonzeption und die Ausstattung der Bühne, die aus einem langen, schmalen Streifen entlang der Rampe besteht, weisen kinematographische Attribute auf: Nach hinten durch eine aus rechteckigen Parzellen zusammengesetzte Wand begrenzt, die mit einer drehbaren und in der Art des Bühnenprospekts segmentierten Spiegelleiste abschließt, erinnert diese Spielfläche mit ihrer geringen räumlichen Tiefe und den im gleißenden Licht reflektierenden Spiegeln an die aneinandergereihten Bilder einer Filmspur und die diese rahmende Perforation der Spule. Im Laufe der Inszenierung werden einige der Wandsegmente separiert beleuchtet und fungieren so als einzelne Bilder dieses „Theater-Films.“ Die durch Licht erreichte Segmentierung des Bühnenraums in unterschiedliche Zonen ermöglicht einerseits eine bewusste Steuerung des Zuschauerblicks und andererseits eine mit einfachen Mitteln erreichte Raumdefinition bestimmter Spielorte.103 Während das Fernsehen also primär intradiegetisch und das Kino vor allem formal zitiert werden, basiert die Technik, derer sich Lepage in La face cachée de la Lune am häufigsten bedient, auf Videobildern. Über die Teilnahme Philippes an dem Wettbewerb des amerikanischen Fernsehens wird das Medium narrativ eingeführt. Dabei beschränkt sich die Inszenierung aber nicht auf die einfache Projektion dieser recht wackeligen und unscharfen Bilder des Videotagebuchs, die charakteristisch für de même senti comme suspendu dans l’univers, à la dérive. Toute la vie, on compte sur ses parents, inconsciemment, espérant qu’ils expliquent les choses de la vie, même s’ils n’ont aucune réponse à donner. De par leur présence, il y a déjà un élément de réponse, un lien, une attache sensible. Mais lorsqu’on perd ce lien-là, on réalise qu’il n’y a plus rien pour nous protéger, nous rassurer. Le protagoniste de La face cachée de la lune s’est beaucoup occupé de sa mère malade durant les dernières années. Lorsque l’histoire commence, elle vient de mourir. Cela crée un vide qu’il cherche à expliquer […].“ (13). 103 Vgl. Hébert (2003): 41. 181

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die ersten filmischen Versuche mit der neuen Technik waren, sondern wie schon in Elsinore wird Videotechnik in all ihren Funktionen genutzt. In erster Linie ist sie dabei ein Mittel zur Projektion filmischer Szenen, also lediglich technisches Trägermedium auf Video kopierter Filmsequenzen oder Fernsehbilder. Lepage nutzt aber auch die Möglichkeit der simultanen Bildproduktion und Bildprojektion wie das palimpsestische Überlagern mehrerer Bildschichten, die Direktmontage, Slow-MotionEinstellungen oder Farbmanipulationen.104 Die Verwendung von Video ist also vor allem ein Mittel, andere visuelle Medien in ihrer Ästhetik zu imitieren, und das sowohl im Kontext einer medienreflexiven Hinterfragung ihrer Ontologie als auch aus pragmatischen Gründen.105 Ludovic Fouquet weist darauf hin, dass fast alle bewegten Bildsequenzen in Lepages Theater mit den Mitteln der Videotechnik realisiert wurden, auch wenn diese in den meisten Fällen die Sprache des Kinos sprechen und auch für den Verweis auf dieses Medium stehen: „Stricto sensu, il n’a jamais utilisée de projection 35 mm dans un spectacle – la lourdeur du matériel et son coût constituant un premier obstacle évident.“106 In der Tat ist die Ästhetik der Videobilder zunächst von den Vorgängermedien Photographie, Film und Fernsehen beeinflusst; sie eröffnet aber aufgrund ihrer einfachen Handhabbarkeit und der geringen Produktionskosten noch eine Reihe anderer ästhetischer Möglichkeiten, die in La face cachée de la lune sukzessive miteinander verwoben werden.

104 In literatur- und kulturtheoretischem Kontext wurde der Terminus des Palimpsests, der ursprünglich aus der Handschriftenforschung stammt, u.a. von dem französischen Literaturtheoretiker Gérard Genette verwendet, der in seinem Werk Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993; orig. Palimpsestes: la littérature au second degré. Paris: Seuil, 1982) unter dem Oberbegriff des Hypertexts die Einheit des literarischen Textes im Sinne eines Werkbegriffs in Frage stellt und damit an den von Strukturalisten wie Julia Kristeva geprägten Begriff der Intertextualität anschließt. In der vorliegenden Studie wird der Terminus zur Überlagerung verschiedener, meist aus Videoaufnahmen generierter Bildschichten verwendet, die einerseits auf die (mediale) Hybridität des Theaterbildes verweisen und andererseits als Montageverfahren die verschiedenen Erzählstränge miteinander verknüpfen. 105 Videotechnik wird bei Lepage also nicht im Sinne einer eigenen, medialen Kunstform verwendet und reflektiert. Einen Überblick über Videokunst leistet Schanze, Helmut (2002): „Videokunst.“ In: Ders. (Hg.): Metzler-Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler, 357f. bzw. die umfassende Studie von Spielmann, Yvonne (2005): Video. Das reflexive Medium. Franfurt a. M.: Suhrkamp. 106 Fouquet (2002): 218. 182

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In der ersten Szene tritt Lepage als eine Art Erzählerinstanz vor das Publikum und hält eine kurze Einführung, in der er den Titel des Stücks erklärt und auf die Verknüpfung der Geschichte zweier Brüder mit der der Eroberung des Mondes hinweist: Depuis l’invention du télescope et les premières observations de Galilée, le monde croyait que la lune était un immense miroir et que les montagnes et les océans que l’on pouvait distinguer sur sa surface lumineuse n’étaient en fait que la réflexion de nos propres montagnes et de nos propres océans. Beaucoup plus tard, au vingtième siècle, quand la première sonde soviétique à faire le tour de la lune nous renvoya des images de la face qui nous est jamais visible, le monde fut stupéfait de découvrir que la lune possédait un deuxième visage; beaucoup plus marquée et blessée par les nombreuses collisions de météores et les autres intempéries de l’espace, même que certains scientifiques de la NASA se plaisaient à l’appeler „la face défigurée de la lune“. Mais il est évident que cette ironie des américains était due au fait que dorénavant il faudrait nommer tous les cratères qui jonchent la face cachée de la lune par des noms de cosmonautes soviétiques, de visionnaires et de grands écrivains russes. Le spectacle de ce soir s’inspire en quelque sorte de la compétition entre ces deux peuples pour raconter celle de deux frères cherchant continuellement dans le regard de l’autre un miroir pour y contempler ses propres blessures ainsi que sa propre vanité.107

Nach diesem Prolog beginnt die Handlung mit einer Szene ohne Text, in der Philippe sich in einem Waschsalon befindet, der durch eine festmontierte Stuhlreihe und eine runde Luke in der Bühnenwand, die eine Waschtrommelöffnung darstellt, illustriert wird. Während im linken Bereich der Bühne nun der Titel des Stücks und die Namen aller Mitwirkenden wie in einem Filmvorspann projiziert werden, sieht man den Darsteller verschiedene Wäschestücke sortieren und sie nach und nach in die Maschine legen. Die Projektion der ‚credits‘ und die beginnende Bühnenhandlung werden so miteinander verwoben, wie wir es aus dem Kino oder dem Beginn von Fernsehfilmen gewohnt sind, aufgrund der Präsenz eines leibhaftigen Darstellers in den Momenten vor der ersten Projektion aber bleibt der Bezug zur Unmittelbarkeit des Theaters garantiert. Emprunt clair et référence directe au cinéma, le générique est devenu quasiment une marque de fabrique, en même temps qu’un moyen très efficace de briser l’illusionnisme au théâtre, d’insérer un autre univers en créant un trouble chez le spectateur. Et, paradoxalement, cette rupture réintroduit de l’humain, de

107 Lepage, Robert (2000): La face cachée de la lune: 1f. (im Folgenden zitiert als ‚La face cachée‘). 183

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l’artisanat, puisque, alors que le spectacle est commencé, on s’arrête pour en présenter tous les protagonistes, visibles ou non sur scène.108

Parallel zur Projektion der Besetzungsliste und zum Spiel des Darstellers wird auf der Fläche neben der runden Durchbrechung der Bühnenwand ein Videobild eingeblendet, das aus dem Innenraum der durch die kreisrunde Öffnung der Bühnenwand evozierten Waschmaschine gefilmt wird. Während der Darsteller auf der Bühne Stück für Stück seine Wäsche in die Lukenöffnung steckt, zeigt die Projektion eben jene Kleidungsstücke, wie sie aus einem Außen in die Trommel der Waschmaschine gelangen: Man sieht, wie der Darsteller seinen Arm hineinstreckt, wie er Waschpulver in die Maschine gibt und schließlich die Tür der Luke verschließt. Die prompte Verfügbarkeit des Bildes erlaubt, dass es sich an den Augenblick seiner Entstehung [...] dicht und direkt ankoppelt und sich ihm sogar einschmiegen kann. Mit dem Video kann das Bild [...] Teil des Augenblicks werden, in dem es entsteht, denn es ist sein Live-Zeuge und, mehr noch, in Echtzeit sogar sein Reagenz, sein Bestandteil.109

Lepage nutzt hier die Möglichkeiten des Live-Filmens und Simultanprojizierens einer Videokamera, die sich hinter der Bühnenwand befindet. Durch das Nebeneinander der zwei verschiedenen Perspektiven auf die Bühnenhandlung entsteht ein Bild, das ohne den technologischen Support der Videokamera nur nacheinander und durch einen Platzwechsel wahrnehmbar wäre. Noch während sich der Zuschauer über die mediale Qualität und die Provenienz der Bilder bewusst wird, führt Lepage diese Live-Situation ad absurdum, indem nach dem Schließen der Lukentür das projizierte Bild den Start eines Waschprogramms und die sich im schäumenden Wasser bewegende Wäsche zeigt. An die zunächst in Realzeit simultan projizierten Videobilder schließt sich eine im Voraus produzierte Filmsequenz an und stiftet so Verwirrung über die Ontologie der gezeigten Bilder. Das Spiel mit der runden Luke und den daneben projizierten Bildern setzt sich am Ende der Szene fort. Nachdem Philippe eine Weile wartend auf den Stühlen des Waschsalons verbracht hat (später erfährt der Zuschauer, dass er mit seinem Bruder André verabredet war, der nicht zur vereinbarten Zeit erschien), öffnet er die Lukentür wieder und kriecht in das Loch der Bühnenwand hinein. Über die Filmsequenz, die die sich im Waschvorgang befindliche Wäsche zeigt, wird nun das Bild Lepages geblendet, der sich langsam 108 Fouquet (1998a): 133. 109 Oberender (2004): 20. 184

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durch die runde Öffnung in den Bühnenhinterraum schiebt. Je weiter der Darstellerkörper in der Luke verschwindet, desto stärker zoomt die Kamera an den Körper heran, bis dessen Abbild schließlich völlig unscharf wird und mit einem Flimmern verschwindet.

La face cachée de la lune (Abb. 7) Palimpsestisch ist das visuelle Dispositiv hier auf doppelte Weise, einmal aufgrund der unterschiedlichen medialen Ontologie der palimpsestisch überlagerten Bilder, die sich nur im zweiten Teil der Projektion offenbart, andererseits aufgrund des Eintretens des Körpers in das filmische Bild. Hier wird ein direktes Verhältnis zwischen realer Bühnenhandlung und technischen Bildmedien hergestellt, das der Zuschauer selbst mitvollzieht. Les thématiques de l’immersion et de l’intégration […] s’inscrivent dans une réflexion large sur la relation de l’acteur à l’écran, du comédien sur le plateau à une image proche de lui. L’image n’est plus face à lui, devant ou derrière lui, [mais] l’acteur est tellement immergé dans l’image qu’il en est même prisonnier. […] Le palimpseste est aussi assuré par l’intervention d[u] comédien. Ce dernier évolue dans des images et contribue par [sa] présence même (corpulence, taille) à donner une mesure d’espace à cette image, tout en lui ajoutant une couche visuelle supplémentaire, strate d’une autre nature qui vient s’ajouter aux strates projectionnelles et décoratives.110

Aus der langsamen Auflösung dieses Bildes entsteht eine weitere Filmprojektion, diesmal von größerem Format und nicht mehr auf die runde Form der Luke beschränkt; man sieht Bilder des Starts der ersten Sputniksonde, hört den Countdown für die Astronauten sowie die Geräusche 110 Fouquet (2002): 371, 373. 185

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des Starts und die Originalkommentare der amerikanischen Journalisten. Die dokumentarischen Fernsehbilder bilden die Überleitung zur nächsten Szene, in der Philippe seine Doktorarbeit verteidigt und dabei die These vertritt, die Weltraumforschung sei nicht durch Neugier und Entdeckergeist motiviert, sondern einzig und allein durch den Narzissmus des Menschen, von einem anderen Ort auf sich selbst blicken zu können. Über das Spiel mit der runden Form der Waschmaschinentrommel, die sich zum Bild einer Raumkapsel transformiert, aus dem wiederum die Bilder aus den amerikanischen und sowjetischen Raumfahrtprogrammen entstehen, wird formal wie narrativ der Bezug zwischen den beiden Erzählsträngen der Inszenierung geknüpft. Im Verlauf der Disputatio schreibt Philippe einige Begriffe und Formeln an die Bühnenrückwand, die in dieser Szene die Funktion einer Tafel in einem Universitätshörsaal einnimmt. Diese Stichworte und Skizzen bleiben im gesamten Verlauf des Stücks dort stehen, ebenso wie die Temperaturangaben, die André später während einer Wettervorhersage auf die Wand schreibt. Jene Spuren vorangehender Szenen werden in den folgenden Sequenzen oft durch Projektionen überlagert und bilden im Zusammenspiel mit anderen visuellen Elementen wiederum ein Palimpsest, dessen verschiedene Schichten einander durchwirken. In einer weiteren Szene wird die runde Öffnung in der Bühnenwand zum Mikroskop eines Augenarztes, später zu einem Kernspintomographen, in den Philippe hineingeschoben wird, während der Zuschauer das Geschehen wieder aus zwei unterschiedlichen Perspektiven parallel verfolgen kann. Die Szene entsteht im Kontext der Videoaufnahmen Philippes, der sich in seiner Wohnung vor der laufenden Kamera positioniert und versucht, seinen potentiellen außerirdischen Adressaten das Leben auf der Erde zu erklären: Il m’est venu à l’idée, que si jamais vous vouliez venir nous visiter que vous auriez probablement besoin de nous repérer, alors j’ai décidé de vous faire une petite démonstration pour vous aider à nous localiser.111

Mit Hilfe verschiedener Steine und einer Apfelsine rekonstruiert Philippe die Anordnung der Planeten im Sonnensystem, um den Besuchern aus dem All den Weg auf die Erde zu beschreiben. Das Spiel mit diesen simplen Objekten ist ein weiteres Beispiel für die Transformationsfähigkeit der wenigen Bühnenrequisiten, mit deren Hilfe Lepage von Szene zu Szene führt und die in den verschiedenen Sequenzen für unterschiedliche Zwecke genutzt werden. Über die Erläuterung der Anordnung schweift

111 La face cachée: 20. 186

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Philippe in eine Kindheitserinnerung ab, die den Übergang zur nächsten Szene herstellt: Mais là pour bien comprendre ça, ce n’est qu’une représentation du système solaire. L’échelle est tout à fait approximative. Ça, c’est pas le soleil, c’est une orange de la Floride. Ça, ce ne sont pas vraiment des planètes, ce sont des pierres […] que mon frère avait quand il était jeune puis qu’il m’avait offerte[s] en cadeau quand je suis tombé malade à l’âge de treize ans et que je suis entré à l’hôpital parce que tout le monde pensait que j’allais mourir. […] Un matin je me suis réveillé avec un mal de tête terrible. J’avais comme une douleur aiguë derrière mon œil droit. J’essayait d’ouvrir mon œil parce que je pensais qu’il était fermé mais en fait il était ouvert. Je ne voyais plus rien de cet œil-là […] ma mère est devenue très inquiète et elle a pensé qu’il était temps que j’aille voir un médecin.112

Lepage klappt das in der vorherigen Sequenz verwendete Bügelbrett in eine aufrechte Position und „verkleidet“ es mittels eines Hemds und einer Baseballkappe in den kleinen Philippe, der mit dem Rücken zum Publikum steht. Vor ihm, also mit dem Gesicht zum Zuschauer, sitzt Lepage, der jetzt den Arzt spielt und das Auge des Kindes untersucht. Die Bilder, die der Mediziner durch sein Okular sieht, werden für das Publikum vergrößert auf die Bühnenrückwand projiziert, und zwar in kreisförmigen Schwarzweiß-Sequenzen, die die Form der Luke vom Beginn des Stücks wieder aufnehmen. Eine auf der Rückseite des Bügelbretts positionierte Minikamera filmt das Auge Lepages und projiziert diese „Mikroskopbilder“ simultan auf die Bühnenwand. Lepage nährt sich der Kamera und entfernt sich wieder davon, verdeckt die Linse mit seiner Hand oder bewegt mit der anderen Hand das Bügelbrett, so dass auch die Videobilder verwackelt erscheinen. Das Publikum sieht also gleichzeitig die Bühnenhandlung, nämlich den hinter der in das Kind Philippe transformierten Bügelbrettkonstruktion als Arzt agierenden Lepage, und via der Videoprojektion aus dessen Perspektive das Auge seines kleinen Patienten. L’image est ici diffusée sur un écran circulaire, offrant une intimité physiologique, là où l’écran propose plus souvent un miroir symbolique de notre psychisme – dans une lecture psychanalytique de l’image et de sa formation.113

Wie schon in der Szene im Waschsalon die Bühnenrückwand fungiert hier das Bügelbrett als Trennlinie zwischen den beiden Ansichten ein und desselben Bildes, zwischen zwei Wahrnehmungsräumen, die mit 112 Ebd.: 21. 113 Fouquet (2003): 117f. 187

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Hilfe der Videotechnik gleichzeitig erfahrbar werden, aber auch zwischen einem Innen und Außen, zwischen der Ebene der Handlung und dem Innenleben der Figur. Le spectateur n’a plus à bouger, l’espace n’a plus à se modifier, tout est visible dans le même instant, comme une juxtaposition sur écran d’un champ et de son contre-champ. La vidéo – [...] fractionnant l’espace pour mieux donner à voir diverses facettes, simultanées, d’une même réalité – opère donc une sorte de mise à plat, de déplié, du dispositif comme de l’architecture visuelle du récit.114

Die Zerstückelung des Bildes in seine Schichten und Perspektiven mittels der oben beschriebenen Technik und auf der dramaturgischen Grundlage eines medizinischen Apparats wird am Ende des Stücks noch einmal aufgenommen. Aus narrativer Perspektive greift die Sequenz Philippes Tumorerkrankung in Kinderjahren auf und zeigt ihn nun bei einer Routineuntersuchung im Kernspintomographen. Das Bügelbrett dient jetzt als Untersuchungsliege, auf der eine Puppe liegt, die bis zur Körpermitte in der runden Bühnenöffnung steckt, während Lepage als der Arzt, der Philippe schon als Kind betreute und die Familie gut kennt, ihm zum Tod der Mutter kondoliert. In seinen Worten klingt an, dass sie nicht einen natürlichen Tod gestorben ist, sondern Suizid begangen hat. Diese Bemerkungen lösen bei Philippe eine Reihe von Erinnerungen und Emotionen aus. Das Publikum sieht in dieser Szene lediglich den Unterkörper der auf dem zum Untersuchungstisch umfunktionierten Bügelbrett liegenden Puppe, während nun abermals das (vorproduzierte) Videobild des Gesichts Lepages neben die kreisförmige Wandöffnung auf die Bühnenwand projiziert wird. Dem Zuschauer zeigen sich hier wieder zwei verschiedene Ansichten ein und desselben Bildes – eine Außensicht und eine Innensicht, wobei in diesem Fall suggeriert wird, es befänden sich zwei Darsteller auf der Bühne, nämlich ein mit dem Rücken zum Zuschauerraum stehender und nur über die Stimme als Lepage selbst identifizierbarer Darsteller, der den Arzt verkörpert, und eine weitere Figur, als Philippe auf der Untersuchungsliege, die sich wiederum aufgrund der Videobilder als Lepage selbst erweist. Wieder ist das Bühnenprospekt die symbolische Grenze zwischen den beiden Bildteilen, die die Videotechnik durch die gleichzeitige Enthüllung der Vorder- und Rückseite des Bühnenprospekts negiert. Thomas Oberender bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Verwendung von live auf der Bühne produzierten Videobildern im Theater deshalb so fasziniert, „weil die Echtzeit des gefilmten Geschehens via Leinwand eine zweite, rivalisierende Szene auf

114 Fouquet (2002): 323. 188

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der Szene eröffnet.“115 Als dramaturgisches Moment erlaubt diese Aufspaltung der Bühne in zwei verschiedene Räume eine umfassende Reflexion der Figur Philippes, dessen Innenleben sich dem Zuschauer hier durch das Bild des Kernspintomographen offenbart, und zwar in einer Introspektive, die metaphorisch über das medizinische Gerät und technisch mit Hilfe der Videobilder realisiert wird. Über die Interaktion zwischen theatraler Handlung und Videobild entstehen hier zwei simultane, in sich aber komplette Szenerien, die miteinander um die Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren, dabei aber nicht kontrastiv zueinander stehen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Die Durchleuchtung des Kopfes während dieser Untersuchung und die die Aufnahmen von Philippes Kopf überlagernden Bilder aus seiner Kindheit verweisen auf die Bedeutung der Szene für eine Analyse der psychischen Situation des Protagonisten. Der Tod der Mutter und die eigene Situation in einer Phase des Selbstzweifels lösen bei Philippe eine Reihe von Erinnerungen an seine Kindheit aus: Über das projizierte Gesicht Philippes werden weitere, leicht bräunlich gefärbte Bildschichten geblendet, man sieht das Gesicht einer alten Dame, vielleicht das seiner Mutter, darüber schieben sich SchwarzWeiß-Aufnahmen, die eine Familie unter dem Weihnachtsbaum zeigen, Kinder, die Geschenke auspacken. Die Bildqualität dieser Sequenz weist auf das Alter der Aufnahmen hin, die die Qualität eines alten, schon rissigen Super-8-Films imitieren. Während dieser langsam ineinander übergehenden Einblendungen bleibt das gefilmte Gesicht des Darstellers im Scanner konstant sichtbar – der Zuschauer taucht so in die Erinnerungen Philippes ein, während er gleichzeitig dessen Gesicht beobachtet und simultan auf einer anderen Bildebene durch den partiell auf der Bühne präsenten Körper an die Untersuchungssituation erinnert wird. La vidéo permet bien une plongée dans un monde intérieur, qui se fait avec toutes sortes de réminiscences, de souvenirs mêlés. L’acteur évolue dans cette matière intérieure, „projection de sa pensée“, soit devant l’image de ses rêves, soit au-dessus, soit encore émergeant de l’écran comme une masse d’eau ou de couleur palpable. C’est une narration visuelle que permet la vidéo, mais une narration totalement intérieure, non-linéaire.116

Die Videotechnik integriert sich in das szenische Dispositiv wie eine hauchdünne visuelle Schicht, die niemals exklusiv existiert, sondern immer mit anderen visuellen Schichten interagiert und so die Bühne zu einem Bilderpalimpsest werden lässt, das den hybriden Charakter des Theaters von Robert Lepage besonders herausstellt. 115 Oberender (2004): 22. 116 Fouquet (2002): 327. 189

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Neben der Arbeit mit Videobildern, die, wenn sie auf das Medium Fernsehen verweisen, dokumentarische Aufnahmen zeigen, die an ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis des Publikums appellieren, thematisiert Lepage das Fernsehen formal durch die Imitation seiner Bildästhetik und intradiegetisch durch die Figur Andrés, dessen Wettervorhersage im québecer Fernsehen Gegenstand einer Szene ist. Diese imitiert einerseits die Gestik und den Sprachduktus des Nachrichtensprechers, legt aber andererseits auch die Herstellung der Fernsehbilder, die allabendlich über unsere Bildschirme flimmern, in ihrer Ontologie offen: André steht in dieser Szene vor einer auf die Bühnenwand eingespielten Filmprojektion, die einen wolkenverhangenen Himmel und den dadurch hindurch schimmernden Mond zeigt, und spricht die Wettervorhersage für die kommenden Tage. Dabei gestikuliert er vor diesem neutralen Bild und zeigt auf Orte einer imaginären Wetterkarte, die der Zuschauer aber nicht sieht. Alors si on jette un p’tit coup d’œil sur notre image satellite, on peut voir très clairement ce système de perturbation qui sévit présentement sur presque toute la totalité du territoire nord-américain […]. Le système va continuer à se déplacer vers l’est au cours de la nuit prochaine, se transformant en pluie verglaçante. Alors, si vous habitez la péninsule gaspésienne, on vous conseille fortement de prendre congé demain matin ou du moins de vous déplacer prudemment sur les routes du Québec.

Lepage referiert hier auf die Realität der Fernsehmeteorologen, die ihren Text in einer Bluebox sprechen und ihre Ausführungen dabei gestisch illustrieren, ohne die für den Fernsehzuschauer sichtbare Karte selbst zu sehen. Andrés Stimme ist elektronisch leicht verstärkt, was die Illusion der Vermittlung via Fernsehen stützen soll. Gleichzeitig imitiert er das professionelle Register des Fernsehmeteorologen, der seine Ausführungen zur Wetterentwicklung mit zahlreichen jovialen Details schmückt und so seinem Publikum die Interpretation seiner Ausführungen gleich mitliefert. Die Szene endet in einem fließenden Übergang zur nächsten, in der sich André mit Philippe zum Abendessen trifft und die beiden die schon am Telefon angesprochenen Probleme weiter erörtern: Mais il faut s’encourager parce qu’à partir de demain les journées commencent à allonger avec un soleil qui va se lever à 7h35 am pour se coucher à 4h15 pm. Alors, c’est tout aujourd’hui et de la part de tous les employés de la chaîne Météo, j’aimerais en profiter pour vous souhaiter un très, très joyeux temps de fêtes… Et te conseiller de prendre cet argent-là pour faire un p’tit voyage dans le

190

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sud. Je veux dire, t’as 42 ans pis t’as jamais mis les pieds dans un avion. C’est pas normal! Sors, bouge un peu, fais de l’exercice, abonne-toi à un gym.117

Dieser Szenenwechsel vollzieht sich mit einer simplen Ausblendung des Wetterbildes und der gleichzeitigen Einblendung einer Projektion, die die von Licht durchdrungenen Jalousien eines Fensters zeigen (ein Motiv, das Lepage schon in der Hotelzimmerszene in Les Aiguilles et l’Opium verwendete), vor allem aber durch den schlagartigen Wechsel der Sprache des Darstellers, dessen Stimme nun nicht mehr per Mikrophon verstärkt wird und der jetzt in einen umgangssprachlichen Stil verfällt und so auch über akustische Zeichen den Wechsel vom Fernsehsprecher zum Privatmann vollzieht. In nur einer einzigen Szene befindet sich tatsächlich ein Fernsehgerät auf der Bühne; das Medium wird hier nicht aus der produktionsorientierten Perspektive seines Funktionierens, sondern im Hinblick auf seine Erscheinung beim Empfänger evoziert: Man sieht Philippe in seiner Wohnung, wo er Wäsche bügelt und dabei fernsieht. Die Präsenz des Fernsehers als Bühnenrequisit hat hier weniger eine inhaltliche Funktion, sondern steht für die Ästhetik des Mediums als Licht- und Tonquelle. Der Fernsehapparat steht mit seiner Bildfläche vom Publikum abgewandt und präsentiert sich dem Zuschauer lediglich durch das bläulich schimmernde Licht, das den Raum erhellt, und den zu hörenden Text. Sur la scène, contrairement à sa pratique cinématographique, Lepage semble se méfier du moniteur. […] Lepage n’exploite pas cette ‚esthétique vidéo‘ courante faite de moniteurs exhibés, flanqués de tout un fatras connectique, de captations diverses. La présence vidéo du moniteur ne fait pas décor, lorsqu’elle intervient, elle ne fait que s’intégrer dans un décor, préexistant. Il semble que le moniteur soit rejeté pour sa rigidité, mais surtout pour sa trop grande ressemblance au téléviseur.118

Genau diesen soll er in La face cachée de la Lune auch repräsentieren und die Art seiner Integration ist typisch für Lepages Umgang mit Medien im Theater: Statt einen wirklichen Fernseher als Bild- und Tonmedium zu zeigen, zerlegt er den Apparat in seine Bestandteile, um diese jedes für sich zu zitieren. Den Kasten für die Form, eine darin installierte Lichtquelle, die das typische bläuliche Flackern der Bildröhre imitiert, und eine davon unabhängige Tonquelle für die akustischen Signale.

117 La face cachée: 7f. 118 Fouquet (2002): 305. 191

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[C]e moniteur n’existe pas par son image mais par le son et la lumière qu’il diffuse, et pour cause: ça n’est qu’un moniteur évidé de tout appareillage électronique. Simple hublot lumineux, il éclaire Philippe à la manière d’un téléviseur, mais sans les variations lumineuses que proposerait une image animée. Il s’agit donc plutôt d’une citation de moniteur, utilisé comme stimulus dramaturgique, mais aussi comme source lumineuse.119

Die Tatsache, dass Fernsehmonitore nur aufgrund ihrer narrativen dramaturgischen Notwendigkeit auf der Bühne präsent sind und in diesem Zusammenhang lediglich als Ton- oder Lichtquelle zitiert werden, ist in Bezug auf die Gesamtästhetik der Theatersprache Lepages nur konsequent. Seine Bühnenkonzeption zeugt von einer konstanten Spannung zwischen dreidimensionalem und flächigem Bild, zwischen Körperpräsenz und Filmbild, und das Spiel mit den unterschiedlichen technischen Bildmedien charakterisiert sich durch den analytischen Zugang zu ihrer Ontologie. Kaum eines der verwendeten Medien thematisiert sich selbst, sondern dient zur Herstellung anderer medialer Sehgewohnheiten oder Darstellungsweisen. Fernsehen wird in diesem Zusammenhang über bestimmte Sendeformate wie die Wetteransage Andrés oder über Bildsequenzen wie die Nachrichten über die Erforschung des Mondes in den 1960er Jahren zitiert, die charakteristisch für unsere Medienkultur und gleichzeitig Teil unseres kulturellen Gedächtnisses sind; der Apparat selbst aber erscheint nur als flimmernde Kiste. Dieses formale Prozedere wiederholt die Hybridisierung der Theatersprache Lepages auf einer zweiten Ebene, auf der auch die dem Theater fremden Medien durch ihre Imitation unter Zuhilfenahme anderer Mittel selbst hybridisiert werden. Obgleich Lepages Bühne in erster Linie durch ihre Bilder und deren narrative und suggestive Kraft besticht, beweist er auch für die klanglichen Dimensionen des Theaters ein großes Gespür und viel Kreativität. Für die Inszenierung von La face cachée de la lune hat die PerformanceKünstlerin und Tondesignerin Laurie Anderson ein Klanguniversum entworfen, das zusammen mit historischen Tonquellen wie alten Schallplattenaufnahmen und Sprachsequenzen aus Archiven der NASA eine komplexe und höchst assoziative akustische Klangschicht bildet, die Lepages Bilder untermalen und in ihrer Aussagekraft verstärken.120 Neben diesen Ton- und Musikspuren sind es aber besonders das Spiel mit der Stimme des Darstellers und ihre technische Manipulation, die im Solostück, in dem nur ein Darsteller agiert und spricht, die Möglichkeit eines Charakterwechsels ermöglichen. In Vinci wurde hierzu vor allem die Stimme durch ein tragbares Mikrophon verstärkt, in Elsinore verstellte 119 Ebd.: 308. 120 Ebd.: 409f. 192

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Lepage seine Stimme, um abwechselnd eine männliche und eine weibliche Figur darzustellen, und in La face cachée de la Lune bedient er sich hierfür, wie schon in Les Aiguilles et L’Opium, des dramaturgischen Tricks des Telephongesprächs, das einen Dialog zwischen zwei Personen realisieren kann, ohne dass dazu zwei Darsteller auf der Bühne benötigt werden. In einer Szene telefoniert Philippe mit seinem Bruder André und die beiden thematisieren das nicht zustande gekommene Treffen, das auf die Szene im Waschsalon verweist, wo Philippe auf seinen Bruder gewartet hat. Nur ein Segment der Bühnenwand ist während dieser Szene beleuchtet und sticht so aus dem ansonsten schwarzen Bühnenraum heraus. Aus den Repliken des Darstellers kann der Zuschauer entnehmen, was der unsichtbare Kommunikationspartner sagt: Philippe und sein Bruder müssen sich um den Nachlass der verstorbenen Mutter kümmern, eine Aufgabe, die Philippe mit viel Schwermut erfüllt, seinen Bruder hingegen nicht sonderlich zu belasten scheint. Dieser emotionale Spagat der poetischen Umsetzung der Trauer des einen und der Oberflächlichkeit des anderen Bruders gelingt Lepage durch die Isolierung Philippes auf der leeren Bühne und seine sprachlich witzigen, aber niemals lächerlichen Repliken: Oui André? C’est Philippe. Où est-ce que t’étais? C’est impossible, je t’ai attendu pendant une demi-heure devant le laundromat pis tu t’es jamais présenté! Non, je pouvais pas attendre plus longtemps, j’avais une présentation de thèse à l’université à deux heures cet après-midi. Oui, c’est important, André. Parce qu’on fait pas don à l’Armée du salut de vêtements qui ont appartenu à des personnes défuntes sans les avoirs lavés au préalable. C’est une simple question de décence et de savoir-vivre. […] Ah oui, puis eh, est-ce que tu me rendrais service? Est-ce que tu prendrais son poisson rouge? Oui, elle avait un petit poisson rouge dans un bocal qu’elle avait gagné au bingo. Écoute André, t’es allergique quand tu manges du poisson, pas quand tu nourris un poisson! Parce que c’est la dernière chose de vivante qui appartenait à maman pis je me vois pas balancer ça dans les toilettes!121

Solche Szenen, die dem Zuschauer durch Dialoge zwischen André und Philippe deren Verhältnis vermitteln, werden immer wieder durch Telefongespräche realisiert. Das Telefon als Kommunikationsmedium übernimmt in La face cachée de la lune die Funktion eines verbindenden und damit auch versöhnenden Elements. Während die ersten Gespräche noch von der Einsamkeit Philippes und der scheinbar unüberwindbaren Barriere zwischen den beiden Brüdern zeugen, lässt sich im Laufe des Stücks

121 La face cachée: 4f. 193

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eine langsame Annährung der beiden Figuren über ebene jene technisch realisierten Kommunikationsakte verfolgen. Über das Telefon als technische Prothese, als Mittel zur Überwindung von Einsamkeit und Isolation finden die beiden Brüder langsam zueinander und entdecken sukzessive das jeweils wahre Ich des anderen – la face cachée.

Le projet Andersen Anlässlich des zweihundertsten Geburtstagsjubiläums des dänischen Dichters Hans Christian Andersen präsentiert Robert Lepage mit Le projet Andersen sein fünftes Solostück und verknüpft darin die Geschichte eines québecer Autors, der in Paris im Auftrag der Opéra Garnier eine Kinderoper über Andersens Märchen Die Dryade schreiben soll, mit Elementen aus der Biographie des Schriftstellers. Das Märchen dient dabei als Kreuzungspunkt der beiden Erzählstränge, denn die Dryade, eine Waldnymphe, die in ihrem Baum eingesperrt ist und um jeden Preis nach draußen will, um Paris zu entdecken, ist nicht nur Grundlage des Projekts für die Pariser Oper, sondern steht metaphorisch auch für bestimmte Aspekte der Persönlichkeit Andersens. Gleichzeitig verbindet das Märchen und Lepages Story auch der Handlungsort, nämlich Paris, genauer das Paris der Weltausstellung von 1867, die Andersen besuchte und die ihn zu eben jenem Märchen inspirierte, das nun, im Jahr seines 200. Geburtstages, Grundlage eines dänisch-französisch-québecer Theaterprojekts ist – auf fiktionaler Ebene wie auch metafiktional. Diese Verknüpfung unterschiedlicher Erzählstränge und zeitlicher Ebenen macht den Reiz der Inszenierung aus und hebt Lepages Arbeit von der Fülle der künstlerischen und kulturellen Ereignisse, die dem dänischen Poeten in seinem Jubiläumsjahr gewidmet sind, ab.122 Lepage stellt Andersen nicht nur als den weltbekannten Kinder- und Märchenautor dar, sondern enthüllt wenig bekannte Facetten des dänischen Nationaldichters, wie zum Beispiel seine verdrängte Sexualität und sein Leben zwischen der Enge Dänemarks und der Freiheit, die er auf seinen häufigen Reisen erlebte. Lepages Inszenierung zeigt Andersen als einen Menschen zwischen zwei Epochen, auf der Schwelle von der Romantik zur Moderne, zwischen Verklärung und Fortschritt und zieht durch die Fokussierung auf diese Grenzsituation eine Parallele zum Charakter des québecer Autors, zum Kulturbetrieb des 21. Jahrhunderts und zur kultu122 Neben Robert Lepage hat u.a. auch der international renommierte Choreograph John Neumeier mit seinem Ballett Die kleine Meerjungfrau einen künstlerischen Beitrag zum Andersen-Jahr geleistet. Vgl. dazu ausführlicher (2005-05-25). 194

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rellen Situation der Provinz Québec, die das Ereignis einer Weltausstellung erst hundert Jahre nach Paris erlebt und der sich erst 1967 das Tor zur Welt zu öffnen scheint.123 Die Thematisierung der kulturellen Spezifität Québecs, die Integration der Handlung in ein künstlerisches Umfeld, das Thema des Reisens und das Spiel mit kuriosen Details sind, wie die voranstehenden Analysen gezeigt haben, charakteristisch für Lepages Arbeiten, und auch in seiner Auseinandersetzung mit Hans Christian Andersen hat er sich vor allem für die persönlichen Überzeugungen und intimen Bekenntnisse des Dichters interessiert, und nicht so sehr für das stilisierte Bild des großen Märchenerzählers, das die dänische Kulturindustrie im Jubiläumsjahr aus ihm macht. ‚Dans mon ignorance littéraire habituelle, quand on m’a offert de travailler làdessus, je ne connaissais que la douzaines des contes les plus connus: La Petite Sirène, les Habits de l’empereur, le Vilain Petit Canard. [...] Je n’ai donc pas dit oui tout de suite. Il a écrit au-delà de 150 contes, alors vous imaginez ce que j’ai eu à lire! Il a aussi écrit quelques pièces de théâtre très mauvaises.‘ […] Seeberg veut un solo sur Andersen à la manière de Vinci ou Les Aiguilles et l’Opium. Lepage lit les contes, des biographies, s’emmerde, et au bout de ces longues lectures, finit par décliner l’offre. Seeberg s’obstine et lui prête une biographie basée sur le journal personnel d’Andersen. Et là, ça clique. ‚Ça m’a allumé, je me suis mis à me reconnaître dans sa vie, pas juste personnelle mais aussi dans le fait que c’est un grand voyageur, quelqu’un qui pensait que la meilleure façon de se trouver, c’est d’aller voir ailleurs, et beaucoup de son œuvre a été inspiré par ses voyages, alors je me suis reconnu là-dedans‘.124

Der Fokus der Inszenierung liegt besonders auf Andersens verdrängter Sexualität und seinen geheimen Wünschen und Begierden, die nur in seinen Tagebucheinträgen zum Ausdruck kommen. Diese unausgelebten, verdrängten erotischen Phantasien und verklemmten Begierden charakterisieren nicht nur die Persönlichkeit Andersens, sondern Lepage sieht darin auch ein Korrelat unserer modernen Welt des 21. Jahrhunderts, „in der Masturbation zum Schlüsselbegriff geworden ist.“125 Alt i dag synes at blive formidlet via sex. Man sælger biler i kraft af nøgne kvinder, forhold og forretningsaffærer bestemmes ud fra forførelsesmønstre. 123 Vgl. St-Hilaire, Jean (2005): „Rêves et illusions de la modernité.“ In: Le Soleil (24.2.2005). 124 Porter, Isabelle (2005): „Il était une fois Robert Lepage...“ In: Le Devoir (19./20.2.2005). 125 Dithmer, Monna (2005): „Teatret i rumalderen.“ In: Politiken (21.5.2005). 195

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Verden synes skabt for at imødekomme behovet for sex, selv om det så i sidste instans for mange ender med ensom masturbation.126

Einsame Sexualität, zum Profitgeschäft der Erotikindustrie verkommen – so versteht Lepage die Entsprechung der Situation Andersens mehr als hundert Jahre später und präsentiert die zentralen Örtlichkeiten des Stücks als eine lange Reihe von Videokabinen eines Sexshops. Frédéric Lapointe, ein frankokanadischer Autor und Songschreiber, kommt im Auftrag der Opéra Garnier nach Paris, um aus Anlass des Andersen-Jahrs eine Kinderoper zu verfassen. Er wohnt im Appartement seiner ExFreundin, das sich über jenem Sexshop befindet, aus dem die stöhnenden Laute der anonymen Konsumenten dringen und in dem auch der Operndirektor seine sexuellen Begehrlichkeiten auslebt. Seine ersten Erlebnisse in Paris sowie die Begegnung mit dem Vertreter der Oper sind für Frédéric ein kultureller Schock: Weil der Schlüssel der Wohnung, den er beim Betreiber des Sexkinos abholen soll, nicht auffindbar ist, muss er sich nach der langen Reise in einer nur oberflächlich gereinigten Videokabine umziehen. Nachdem sich der Operndirekter aufgrund der anhaltenden Streiks der Pariser Verkehrsbetriebe erheblich verspätet, offenbart er dem ambitionierten Frédéric die kulturpolitischen Umstände für das Andersenprojekt, das als französisch-englisch-dänisch-kanadische Koproduktion mit erheblichen EU-Geldern finanziert wird, inhaltlich aber eigentlich niemanden interessiert; am wenigsten ihn selbst. Seine Erklärungen spiegeln die desillusionierende Situation des französischen Kulturbetriebs und die komplizierten Bedingungen, denen sich jedes noch so prestigeträchtige Projekt ausgeliefert sieht. So bezeichnet er Andersen aufgrund der Menge seiner Texte als nicht sehr „benutzerfreundlichen“ Autor und ergänzt, dass die geplante Kurzoper aus Kostengründen nicht mehr als fünfzig Minuten dauern soll und ohne Chor zu konzipieren sei, weil dieser die im Theater „gewerkschaftlich am besten organisierte“ Gruppe sei und Chorsänger „immer Probleme bereiten.“ Außerdem sei die für die Inszenierung vorgesehene Regisseurin eine „sexuell frustrierte Feministin“, die sich mit der Figur der Dryade identifiziere und die Oper im „Genre eines Softpornos“ inszenieren wolle.127 Mit Hilfe des dramaturgischen Mittels des Telefonierens realisiert Lepage in der Folge eine 126 Ebd. [Heutzutage scheint alles über Sex vermittelt zu werden. Man verkauft Bilder mit Hilfe nackter Frauen, Beziehungen und Geschäftsabschlüsse laufen nach Verführungsmustern ab. Die Welt scheint dafür geschaffen zu sein, dem Bedürfnis nach Sex entgegenzukommen, auch wenn das letztendlich für viele in der einsamen Masturbation endet.] 127 Vgl. Lepage, Robert (2005): Le projet Andersen, 3-6 (Szene 4) (im Folgenden zitiert als ‚Andersen‘). 196

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Reihe weiterer Konfrontationen zwischen dem schüchternen und melancholischen Frédéric und dem „Kulturfunktionär“ Guimbretière,128 der seinen québecer Gast hin und her scheucht, ihn zu einem Pressetermin ins königliche Theater nach Dänemark schickt und den jungen Künstler schließlich, als das Projekt aufgrund nicht näher bestimmter Umstände abgebrochen wird, fallen lässt. In diese Geschichte flicht Lepage Andersens Märchen der Dryade ein, die als Marionette über die Bühne huscht und das nächtliche Paris entdeckt, und verwebt diese Erzählstränge mit Anekdoten aus der Biographie Hans Christian Andersens, der die Stadt während der Weltausstellung 1867 besucht und hier den Übergang zwischen Romantik und Moderne erlebt. Um die drei narrativen Ebenen formal voneinander zu unterscheiden, wählt Lepage, der als Solodarsteller alle Figuren verkörpert und rasant zwischen den Charakteren und den Epochen hin und her wechselt, ein einfaches Mittel: In den Szenen, die im Paris der Gegenwart situiert sind und in denen er Frédéric Lapointe oder den Operndirektor spielt, gibt es einen von ihm gesprochenen Text; in den Sequenzen, die Teile aus Die Dryade darstellen, wird der Märchentext Andersens in dänischer Sprache aus dem Off eingespielt und je nach Aufführungssprache mittels französischer oder englischer Untertitel übersetzt. Die Partien, die Aspekte der Biographie Andersens illustrieren, kommen ohne Text aus und werden nur durch das stumme Spiel Lepages realisiert. Inhaltlich wie auch erzähltechnisch gleicht das Projet Andersen der mehr als fünfzehn Jahre älteren Produktion Les Aiguilles et L’Opium (1989). Auch hier ist der Schauplatz Paris, auch hier kommt ein junger québecer Künstler, der seine verflossene Liebe in Kanada zurückgelassen hat, nach Paris, um an einem Theaterprojekt zu arbeiten, und so wie sich in Les Aiguilles et l’Opium biographische Anekdoten von Miles Davis und Jean Cocteau mit der Lebenssituation des jungen Künstlers überkreuzen, verbindet sich die Geschichte Frédérics mit dem Universum Hans Christian Andersens. Trotz dieser offensichtlichen Parallelen zwischen den beiden Inszenierungen sowie den grundsätzlichen Ähnlichkeiten zu allen anderen Soloprojekten Lepages lässt sich in Le Projet Andersen eine deutliche Weiterentwicklung in der Bildästhetik erkennen. Während das Spiel mit technischen Bildmedien in Les Aiguilles et l’Opium und in Elsinor vor allem in der Konfrontation gefilmter Bildsequenzen bzw. Videoprojektionen mit dem realen Körper des Darstellers bestand, in einer Konfrontation von zweidimensionalen Bildschichten mit der Tiefe des Theaterraums also, versucht Lepage dieses Spannungsverhältnis zwischen (Bild-)Fläche und (Bild-)Tiefe in seiner jüngsten Soloproduktion soweit miteinander zu verschmelzen, dass ein im engsten Sinne hyb128 Vgl. Laliberté, Marie (2005): „Inivitation au voyage.“ In: Voir (3.3.2005). 197

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rides Bild entsteht, etwas Drittes zwischen Zweidimensionalität und Dreidimensionalität, zwischen Theater und Projektion. Realisiert wird diese visuelle Synthese von Videoprojektion und Körper mit Hilfe einer konkav gewölbten Projektionsfläche, die den gesamten Bühnenraum einnimmt und in die der Darsteller im Spiel hineintreten kann. Nach Vinci, Les Aiguilles et l’Opium, Elsinore und La face cachée de la lune, die ihren Fokus jeweils auf ein spezifisches visuelles Medium wie Photo, Film, Video oder Fernsehen legten, erweitert Lepage mit Le Projet Andersen diese Liste um die Bilduniversen virtueller Welten. Diese Raumkonzeption, die die gesamte Inszenierung beherrscht, stellt eine Erweiterung der ästhetischen Reflexion über die durch digitale Bildmedien veränderten Wahrnehmungsmodi und ihre Anwendbarkeit im Theater dar. Gleichzeitig bleibt sich Lepage in der Art der Auseinandersetzung mit technischen Darstellungsformen treu, denn wie in den vorangegangenen Solostücken hält er an den äußeren Bedingungen von Theater fest und reflektiert die Funktionsweise der ‚neuen‘ Medien sowie ihre spezifischen Modi der Wahrnehmung im Rahmen dieses ‚alten‘ Mediums. Das Theater, und im Falle Lepages das Theater als Guckkasten, bildet durch seine materiellen Gegebenheiten die Voraussetzung, mit den technischen Medien nicht nur zu experimentieren, sondern ihre Darstellungsformen für eine Theaterkunst des 21. Jahrhunderts fruchtbar zu machen. Alle dem Theater fremden Darstellungsmittel, die im Rahmen des Theaters zum Einsatz kommen, werden wie in den früheren Inszenierungen in ihrer Ontologie und in ihrer Herstellung thematisiert, wobei der Bezug zum Theater als Ort des unmittelbaren, performativen Vollzugs immer bestehen bleibt.

Le projet Andersen (Abb. 8)

198

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Durch das Spiel mit dem Bühnenraum als Kasten und der konkav geformten Bildfläche als dessen hinterer Begrenzung, die gleichzeitig Flächigkeit und Tiefe suggeriert, schafft Lepage einen Darstellungsraum, der konstant zwischen Theater und Bildschirm, genauer noch zwischen realem Raum und virtueller Welt oszilliert. Im Unterschied zu früheren Inszenierungen, die auch schon Filmbild und Raum gegenüberstellten, entsteht hierbei allerdings ein doppelt hybrider Bildeindruck, denn nicht nur die körperliche Präsenz des Darstellers im Bühnenraum des Theaters verweist auf dessen räumliche Tiefe, sondern auch das computertechnisch generierte Bild suggeriert eine Dreidimensionalität, wie wir sie aus der virtuellen Welt des Computers kennen. Neben diesem ästhetischen Schwerpunkt Theater versus Bildschirm integriert Lepage auch in Le Projet Andersen Formen filmischen Erzählens, verweist auf die theoretischen Implikationen des Mediums Photographie und führt mittels der inhaltlichen Situierung des ersten Handlungsstrangs im Bereich des Theaters auch einen explizit metatheatralen Diskurs, der durch den Einsatz unterschiedlicher Fremdmedien bzw. die theatrale Umsetzung ihrer Ästhetiken immer wieder durchkreuzt und gestört wird. Wie in allen Soloprojekten beginnt Lepage auch sein Andersenprojekt mit einem Prolog, der, den Konventionen des klassischen Dramas entsprechend, an der Rampe bzw. im Proszenium gesprochen wird und so explizit von dem ihm folgenden Bühnengeschehen abgetrennt ist. Le récit enchâssé est une technique narrative romanesque qui, integrée au cinéma, s’est traduite dans une permanence de voix off sur fond de long panoramique. Lepage adoptera ce procédé pour l’ouverture de ses films […], mais il se retrouve aussi dans certaines de ces pièces, avec un récitant ou une voix off qui intervient dans un espace traité comme un panoramique. Le Projet Andersen renouvelle ce type d’ouverture […] devant une image de la salle d’Opéra de Paris.129

Dieser Prolog ist aber nicht nur eine Einführung in das Stück, sondern fungiert als ‚Prolog eines Stücks im Stück‘ ebenso als Kontrastierung zweier Schauorte – nämlich Theater bzw., wie die zweite Szene zeigt, Kino, als er auch der Verwirrung hinsichtlich der Perspektive des Zuschauers dient: Nachdem das Saallicht ausgegangen ist, öffnet sich der rote Vorhang, der schon während die Zuschauer den Theaterraum betreten auf das Medium Theater verweist, und man sieht aus der Perspektive einer Theaterbühne in einen barocken Zuschauerraum mit roten Samtsitzen und mit Goldornamenten verzierten Logen. Am unteren Rand des 129 Fouquet (2005): 133. 199

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projizierten Bilds gehen die Scheinwerfer einer Rampenbeleuchtung an und strahlen grell ins Publikum. Lepage betritt die Bühne von der Seite und bleibt mit dem Rücken zum Publikum in der Mitte der Rampe stehen. Er spricht also in den virtuellen Zuschauerraum des barocken Theaters, als würde er sich an ein dort anwesendes Publikum wenden. Dabei wird sein live gefilmtes Gesicht als vergrößertes Videobild über das Bild des Barocktheaters projiziert. Mit dieser Perspektivverschiebung wird nicht nur die konventionelle Art einer Prologszene verkehrt, sondern durch Abwendung des Darstellers vom Publikum verwirrt die Szene auf doppelte Weise. Zunächst glaubt der Zuschauer, die die Bühne betretende Figur werde sich nun an ihn wenden. Dann begreift er, dass es sich um eine „Spiel im Spiel“-Situation handelt, dass die Ansprache also einem imaginären Publikum gilt. Diese Annahme stellt sich im gleichen Moment jedoch schon als falsch heraus, da durch die Projektion seines Gesichts auf die Bildfläche nun wiederum offensichtlich wird, dass die Adressaten sehr wohl auch die real anwesenden Zuschauer sind. Aber nicht nur die Redesituation ist zweideutig, auch die sich durch die Projektion und das Rampenlicht ergebende Raumdefinition ist ambivalent, da sich das Publikum sozusagen einem fiktiven zweiten Publikum gegenüber sieht und nicht eindeutig definierbar ist, wo der Spielraum und wo der Schauraum ist. Befindet man sich als Zuschauer auf einer Bühne? Hat das Publikum also möglicherweise eine Funktion innerhalb der Inszenierung? Gibt es einen zweiten (gedachten) Zuschauerraum hinter der Bühne? Ist das projizierte Bild des barocken Theaterraums als Spiegelbild zu verstehen? Fest steht, dass Lepage hier formal mit theatralen Raum- und Wahrnehmungskonzeptionen spielt und die durch Konventionen bedingten Erwartungen bewusst durchkreuzt. Gleichzeitig irritiert auch der Inhalt der als Prolog gestalteten Ansage. Zunächst begrüßt der Darsteller das Publikum, das zur Premiere der Dryade zusammengekommen ist – es wird offensichtlich, dass es sich um ein fiktives Publikum handelt –, stellt sich als „auteur en résidence“ aus Québec vor und teilt den Zuschauern mit, dass aus Gründen, die außerhalb des Einflussbereichs der Theaterleitung lägen, die angekündigte Vorstellung nicht stattfinden könne. Monsieur le Président de la République, Monsieur le Maire de Paris, Madame le Ministre de la culture, Distingués invités…. Mon nom est Frédéric Lapointe, et grâce à la générosité du Conseil des Arts et des Lettres du Québec, du Conseil des Arts du Canada, ainsi que du Ministère des Affaires Étrangères et en particulier de son Bureau des échanges franco200

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canadiens, j’ai l’immense privilège, depuis quelques semaines, de travailler comme auteur en résidence ici, au très prestigieux Opéra National de France. Mais malheureusement, aujourd’hui c’est à moi que revient la lourde tâche de devoir vous annoncer que la première représentation de La Dryade, qui devait avoir lieu ce soir, a dû être annulée et ce en raison de circonstances hors de notre contrôle. Normalement, nous procéderions au remboursement des billets mais comme je suis convaincu que personne ici ce soir n’a payé sa place (…) je vous demanderais de bien vouloir quitter la salle et aller vous divertir ailleurs. Mais pour ceux d’entre vous qui n’auraient rien d’autre à faire, je vous invite à rester des nôtres. (…) Étant le seul de toute la ville de Paris qui ne soit pas en grève, je vous propose, en lieu et place de La Dryade, de vous raconter un conte moderne, qui s’intitule Le projet Andersen […].130

Zum einen nimmt Lepage durch die direkte Ansprache aller gesellschaftlichen Würdenträger sowie durch die Dankesworte an die beteiligten staatlichen Gremien und Sponsoren ganz allgemein die Mechanismen des Kulturbetriebs aufs Korn. Durch die Tatsache, dass der Darsteller sich als von der Regierung Québecs geförderter Künstler präsentiert, stellt Lepage zum anderen einen direkten autobiographischen Bezug zu seiner Person und der realen Situation der Theateraufführung her, der das reale Publikum beiwohnt. Hinsichtlich der inhaltlichen Aussagen des Prologs müssen sich die Zuschauer aber doch wieder fragen, ob die Worte Lepages tatsächlich an sie gerichtet sind, wie sie aufgrund der Anspielungen auf den realen Hintergrund des Andersen-Jahrs und der Tatsache, dass mit dem québecer Künstler Robert Lepage selbst gemeint sein könnte, vermuten können, oder ob es sich um eine rein fiktive Ansprache ohne Realitätsbezug handelt. Spricht hier eine Theaterfigur oder Robert Lepage? Ebenso wie die Raumdefinition ist diese Frage letztlich nicht mit Bestimmtheit zu beantworten. Lepage irritiert – und das in allen Dimensionen. Er stellt die Definition des Theaterraums in Frage, spielt mit Perspektive und Erwartungshaltung des Publikums, verunsichert in Bezug auf die Konventionen eines Prologs im Theater und präsentiert darüber hinaus in dieser durch und durch theatralen Situation eine konkav geformte Bildfläche, die kontrastiv zum alten Medium Theater auf die Bildschirmkultur des 21. Jahrhunderts referiert. Während diese gekrümmte Projektionsfläche in der ersten Szene nur auf die Bildschirmmedien als technologische Konkurrenten des Theaters verweist, ist sie im zweiten Bild ästhetisch konstitutiv. Nach dem Prolog verwandelt sich Lepage mittels einer schwarzen Kapuzenjacke und einer

130 Andersen: 1. 201

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Sonnenbrille in einen Sprayer und springt über den Bühnenrahmen in die jetzt gräulich schimmernde Bildfläche. Mit einer Spraydose in der Hand simuliert er die Herstellung eines Grafittis – nämlich des Portraits Hans Christian Andersens, das nach und nach, den ‚Sprühbewegungen‘ Lepages folgend, auf der rechten Hälfte der Leinwand erscheint, während, mit Hip-Hop-Beats unterlegt, in der linken Bildhälfte die ‚credits‘ der Inszenierung projiziert werden. Nach dem Text-Prolog als theatralem Mittel, bedient sich Lepage hier einem spezifisch filmischen Procedere, nämlich der Projektion einer Besetzungsliste in Kombination mit einem Bild bzw. einer kurzen Handlungssequenz, die wie ein Filmvorspann auf das zu Erwartende hindeutet. Hierbei wird deutlich, dass diese beiden formalen Elemente, die schon in den vorangehenden Solostücken zum Einsatz kamen und ein Markenzeichen der Ästhetik Lepages geworden sind, nicht nur auf die spezifische Ästhetik unterschiedlicher Medien verweisen bzw. durch die Realisierung dieser Ästhetik mit den Mitteln des Theaters selbiges hybridisieren, sondern dass sie in Le projet Andersen auch eine inhaltlich subversive Funktion haben. Sie kündigen nämlich eben nicht das an, was das Publikum erwartet, sondern sie verweisen schon in der Art der Ankündigung auf die besondere Herangehensweise Lepages. Formal wird das Spiel mit der filmischen Projektion der Besetzungsliste im Vergleich zu früheren Inszenierungen dahingehend modifiziert, dass die konkave Projektionsfläche bespielbar wird, der Darsteller also in das projizierte Bild hineintreten kann und mit ihm eine Symbiose eingeht. Lepage agiert so in der zweiten Szene nicht vor dem Videobild, sondern buchstäblich darin, und es entsteht der Eindruck, als sähe man tatsächlich ein kohärentes Fernseh- oder Filmbild. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, da Lepage als Grafittisprayer dem Publikum beständig den Rücken zukehrt, es also in keiner Weise direkt anspricht bzw. zu ihm hin spielt. In der ersten Szene wird der Zuschauer hinsichtlich des ihn erwartenden Stücks irritiert, im zweiten Bild präsentiert sich ihm dann zunächst durch Titel und Andersenportrait das ursprünglich Angekündigte, nämlich Le Projet Andersen von Robert Lepage, was aber dann wieder – wenigstens partiell – zurückgenommen wird, als Lepage das SchwarzWeiß-Portrait des dänischen Autors schließlich mit Hörnern, einer Sonnenbrille, einem pochenden Riesenherz und einem erigierten Penis versieht. Wenn das Publikum also eine Theateraufführung erwartete, die es in die Märchenwelt Hans Christian Andersens entführt, dann wird diese Erwartung spätestens jetzt durchkreuzt, denn schon die dem Portrait Andersens in roter Farbe hinzugefügten Ornamente verweisen auf Lepages eigenwilligen Fokus in Bezug auf die Biographie des Märchendichters. Medienästhetisch sind die beiden ersten Szenen in erster Linie als Kontrastierung der Darstellungskonventionen von Theater und Film zu

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verstehen. Der konkave Bildschirm stellt zwar bereits einen Bezug zu digitalen Bildwelten und damit zum Medium Computer und Internet her, seine ästhetischen Potentiale für eine medialhybride Theatersprache werden aber erst in späteren Szenen voll ausgeschöpft. Neben dem Spiel mit theatraler bzw. filmischer Präsentation verwendet Lepage in der Eröffnung des Stücks noch ein drittes Bildmedium, die Photographie. Il n’est pas fortuit que la photographie, substitut de présences, reproduction mimétique de formes connues, se manifeste avant tout dans les solos […]. Ces spectacles sont eux mêmes des spectacles citations: citation d’un artiste et de son parcours dans Vinci et Les Aiguilles et L’Opium mêlant Davis et Cocteau ou encore dans Le Projet Andersen. […] Quel qu’en soit le format, la photographie chez Lepage ne cherche que très rarement à se faire oublier comme simulacre. Elle est fondamentalement la citation de formes croisées devant l’objectif, citation d’un pan de réel. Elle est citation qui se désigne comme citation, qui dénonce son statut énonciatif.131

Hinsichtlich der Aussagekraft des Prologs ist der Informationsgrad der Photographie Andersens höher und dominanter als die Schriftprojektion des Titels in den ‚credits‘. Das Bild hat hinweisenden Charakter und etabliert im Zusammenspiel mit den ihm zugefügten Graffitiornamenten inhaltlich wie formal einen direkten Hinweis auf die besondere Herangehensweise Lepages. Durch die Art des Entstehens dieses Bildes auf der Bühne wird in dieser Szene, wie vor allem in Vinci praktiziert, auf dessen Ontologie und die Bedingungen seiner Entwicklung referiert. So wie sich ein Papierabzug eines Negativs langsam in der chemischen Lösung entwickelt, so taucht langsam und nach und nach das Portrait Andersens auf der Bildfläche auf – auch wenn das in diesem jüngsten Stück durch Lepages Agieren mit einer Spraydose konterkariert wird und sich der digitale Charakter des Bildes dem Zuschauer sofort offenbart. Lepage benutzt das photographische Bild also nicht nur als ikonisches Zeichen, sondern zitiert auch dessen technische Entstehung. Durch die Kombination der Photographie mit der Figur eines Graffitikünstlers wird aber die mediale Einheitlichkeit des Bildes in Frage gestellt, und das auf doppelte Weise: Nicht nur das Endprodukt, die mit gesprühten Zusätzen versehene Photographie Andersens, macht die Hybridität des Bildes deutlich, sondern schon sein Entstehungsprozess erweist sich als nicht stimmig, denn sowohl das Photo als auch die nachträglich hinzugefügten Sexualattribute stammen aus der Spraydose – so suggeriert es jedenfalls das theatrale Spiel –, in Wahrheit sieht das Publikum aber ein am Computer realisiertes Bild. Der Zuschauer verfolgt also die Möglichkeiten digitaler Bildbe131 Fouquet (2005): 107. 203

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arbeitung und begreift gleichzeitig deren Potential für eine originalgetreue Imitation anderer medialer Ästhetiken und Funktionsweisen. Nach der an diesen Prolog anschließenden Begegnung Frédérics mit dem Operndirektor, der ihn mit der Hiobsbotschaft verlässt, dass die Oper ihm trotz des Prestiges seines Projekts leider keinen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen könne und er sein Libretto daher zu Hause verfassen müsse, begibt sich der junge Québecer in ein Internetcafé, um dort erste Recherchen für seine Arbeit anzustellen. Auf der Bildfläche leuchtet schwach das @-Symbol, der untere Rahmen der konkaven Bildfläche dient als Tischreihe, auf der einige Computertastaturen platziert sind, davor stehen einige Stühle. Frédéric betritt von rechts mit einer in Papier gehüllten Pflanze die Bühne und setzt sich an einen der Arbeitsplätze des Internetcafés. Wie schon in der ersten Szene wird sein live gefilmtes Gesicht projiziert, nun über die Projektion des Web-Symbols. Man sieht die LogIn-Seite eines Mailprogramms, Frédéric gibt seinen Benutzernamen und sein Passwort ein und muss feststellen, dass er keine neuen Emails erhalten hat. Dieses kleine Detail, das die Tatsache transportiert, dass er weder als vielbeschäftigter und vielgefragter Künstler mitten im Kunstbusiness steht, noch rege private Kontakte hat, rückt ihn in die Nähe der Figur Roberts aus Les Aiguilles et l’Opium. Frédéric beginnt die Recherche für sein Stück und gibt als Suchbegriff „Exposition universelle 1867“ ein. Langsam bewegt er sich mit dem Curser der Maus durch die angezeigten Ergebnisse und klickt schließlich eine Seite an. Auf der Bildfläche erscheint ein blauer, von einigen kleinen weißen Wölkchen durchzogener Himmel und man sieht Vögel durch die Lüfte kreisen. Der Darsteller platziert nun die mitgebrachte Pflanze, die sich als ein Bonsaibaum entpuppt, hinter den Monitoren. Zusammen mit seinem durch das Licht der Projektion erzeugten Schatten integriert sich der Baum in das technisch erzeugte Bild und ist nicht mehr als reales dreidimensionales Bühnenrequisit zu erkennen. Unter der Begleitung von leiser Tanzmusik aus Jacques Offenbachs Ballett Le Papillon wird nun aus dem Off der Anfang von Andersens Märchen Die Dryade in dänischer Sprache eingespielt, dessen französische Übersetzung auf den unteren Bühnenrahmen projiziert wird: La dryade qui habitait le jeune marronier, était heureuse de vivre, elle aimait le soleil et le chant des oiseaux, mais ce qu’elle aimait par-dessus tout, c’était la voix des hommes. Elle était si heureuse dans la belle France, le pays universel du génie et de a liberté! C’était un monde de vignobles, de forêts et de grandes villes, et parmi celles-ci Paris était la plus splendide. Les oiseaux pouvaient l’atteindre, mais elle, jamais. La dryade regardait du côté où, chaque soir et chaque nuit, loin à l’horizon, Paris brillait comme une brume radieuse. En partaient locomotive sur locomotive, train sur train, l’un après l’autre, bruissant, 204

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

grondant à tout moment. Le soir, à minuit, le matin, toute la journée, les trains arrivaient, fourmillant de gens de toutes les parties du monde qui en descendaient, qui y montaient. Une nouvelle merveille les avait appelés à Paris. Une magnifique fleur de l’art et de l’industrie a poussé sur les sables du Champ-deMars. Un tournesol géant dont on peut apprendre la géographie, la statistique, la technique. La dryade savait tout ce que l’on disait de ‚La nouvelle merveille du monde‘ dans la ville des villes. ‚Volez, oiseaux! Et revenez me raconter!‘ priait la dryade.132

Le projet Andersen (Abb. 9) Wenn Andersens Text von der in der Dunkelheit leuchtenden Stadt und der Sehnsucht der Dryade erzählt, wird auch das Bild des Himmels um den kleinen Baum dunkel und man sieht am Horizont einen leuchtend roten Streifen. Während der gesamten Dauer des gesprochenen Texts wird die Szene von romantischen Instrumentalklängen begleitet. Dann wechselt die Musik in einen von Blasinstrumenten gespielten, beschwingten Walzer und auf der Leinwand erscheinen Schwarz-Weiß-Stiche der Weltausstellung von 1867, die Frauen in langen Kleidern und Männer in Fracks mit Zylindern zeigen, man sieht verschiedene palastartige Gebäude, Pferdewagen und Ballsäle. Durch die Kombination des Märchentexts mit den historischen Stichen und dem halb technisch, halb theatral hergestellten Bild sowie den beiden unterschiedlichen musikalischen Einspielungen wird genau der Kontrast erzeugt, in dem Lepage auch Andersens Biographie liest: Er versteht das Ereignis der Pariser Weltausstellung als Moment eines Epochenumbruchs und in genau dieser Konfliktsituation, nämlich dem Streben nach Modernität und Weiterentwicklung sowie der Sehnsucht nach 132 Andersen: 8f. 205

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

romantischer Schönheit und Idylle, befinden sich sowohl Andersens Märchenfigur als auch Frédéric selbst. Das Computerbild entführt den Zuschauer in eine ferne Welt, zeitlich und räumlich weit der Realität im Theatersaal entrückt. Dass der Darsteller als Frédéric Lapointe während der gesamten Zeit an seinem Platz sitzen bleibt, das Publikum sozusagen mit ihm zusammen via Internet diese Reise ins Paris des 19. Jahrhunderts und in die Märchenwelt Andersens unternimmt, ist ästhetisch insofern interessant, als Lepage hier zwei verschiedene Bildebenen nebeneinander stellt. Durch die Präsenz des großen ‚Bildschirms‘ wird dabei der Fokus eindeutig auf die Märchenerzählung und die Parisbilder gelenkt, die Anwesenheit Frédérics wird zum Detail am Bildrand. Die Gesamtkonzeption des Bühnenbildes lenkt also den Zuschauerblick wie eine Kameraeinstellung, ohne dabei die vorherige ‚Einstellung‘, also die Situation Fédérics im Internetcafé, zu eliminieren. Das Medium des Internets präsentiert sich hier gerade nicht als ein Portal zu virtuellen Parallelwelten, sondern auch als ein Fenster zu vergangenen Zeiten, als eine Möglichkeit, dem Hier und Jetzt zu entkommen und in andere Realitäten einzutauchen, die nicht unbedingt im Cyberspace liegen müssen. Dementsprechend sind die gezeigten Bilder ihrem Wesen nach auch in keiner Weise virtuell, sie eröffnen lediglich den Zugang zu einem imaginären Raum. Dass dieser dabei nicht ästhetisch kohärent sein muss, die gezeigten Bilder in ihrer Struktur also nicht identisch sein müssen, zeigt der nächste Abschnitt des Märchens. Der Wunsch der Dryade, die Stadt Paris zu sehen, geht in Erfüllung, denn der Kastanienbaum, in dem sie lebt, wird verpflanzt, damit er mit seiner natürlichen Schönheit zum Glanz der Pariser Weltausstellung beitragen kann. Der Märchentext erzählt, dass die Dryade die Vögel bittet, ihr von der funkelnden Stadt zu berichten, die Leinwand schließt sich mit einem schwarzen Vorhang, die Bühne wird kurz dunkel, dann sieht man mehrere unterschiedlich breite, senkrechte helle Streifen, die sich wie eine Lichtprojektion über die Leinwand zu bewegen scheinen. Erst im nächsten Moment wird klar, dass es sich nicht um eine Projektion handelt, sondern dass diese marmorierten Streifen Säulen verschiedenen Umfangs sind, die die Bäume eines Waldes darstellen. Während der folgende Textabschnitt eingelesen wird, kippt eine dieser Säulen langsam um und wird von links von der Bühne gezogen. Der Baum ist nun auf dem Weg nach Paris und mit ihm die erwartungsfrohe kleine Waldnymphe. Am linken Bühnenrand taucht jetzt kurz eine Männerfigur mit schwarzem Frack und Zylinder auf – Hans Christian Andersen, dessen eigener Parisbesuch während der Weltausstellung so ins Verhältnis zu seinem Märchen gesetzt wird. Diese Sequenz dient als Überleitung zur nächsten Szene, die wieder eine Episode des ersten Handlungsstrangs um

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INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

Frédéric Lapointe darstellt. Die Andersenfigur verschwindet hinter dem dicksten Baumstamm, so als ob sie das Geschehen um die Verpflanzung des Kastanienbaums heimlich beobachtet hätte, und als sie auf der anderen Seite wieder hervorkommt, ist es Frédéric Lapointe, der den Hund seiner Ex-Freundin im Jardin des Tuileries spazieren führt. Bevor aber Lepage als Frédéric mit einer FNAC-Tüte in der Hand hinter einem der Bäume auftaucht, sieht man eine sich bewegende Hundeleine, allerdings ohne Hund. Das Spiel mit der gespannten Hundeleine gestaltet Lepage dabei so intensiv, dass der unsichtbare und nicht existente Hund eine fast reale Präsenz erhält. Die Abfolge dieser drei Szenen führt das gesamte Panorama der Bühnenkunst Lepages vor Augen: Der einfache Trick der sich bewegenden Hundeleine ist mindestens so effektvoll wie die durch technische Medien realisierten Szenen. Ebenso genügen die großen Säulen zur Evozierung des Waldes, und auch ohne weitere Hinweise wird deutlich, dass die Männerfigur in Frack und Zylinder, die die Szene des Baumverpflanzens beobachtet, nur Hans Christian Andersen sein kann. Lepage zeigt hier kein Hightech-Theater, sondern kombiniert geschickt einfache theatrale Mittel mit den Möglichkeiten moderner Technik. Das wird besonders in der Internetszene deutlich, denn obwohl auf bildlicher Ebene suggeriert wird, dass die Bilder der im Himmel fliegenden Vögel und Schwarzweiß-Stiche der Weltausstellung aus dem Internet stammen, handelt es sich um einfache Video- bzw. Photoprojektionen auf die konkave Bühnenwand. Eine wirkliche ‚virtual reality‘ schafft Lepage in einer späteren Szene. Nachdem Frédéric in Kopenhagen mit den Geldgebern für sein Projekt verhandelt hat, befindet er sich auf der Rückreise nach Paris. Weil sein Flug annulliert wurde, hat er sich für eine Reise mit dem Nachtzug entschieden. Diese Bahnfahrt erhält einen direkten Bezug zur Figur Hans Christian Andersens, der in seinem Leben über fünfzig Reisen in zahlreiche europäische Städte unternommen hat, was Frédéric sich kurz vor seiner Abreise aus Dänemark während eines Besuchs im Andersen-Museum vergegenwärtigt. Die Museumssequenz und die Reiseszene Frédérics gehen daher auch ohne Unterbrechung ineinander über. Lepage steigt in den konkaven Bildschirm, in dem sich ein Koffer und andere Reiseutensilien befinden, die in der vorherigen Szene als Ausstellungsstücke des Museums dienten. Im gleichen Moment wird eine Filmsequenz projiziert, die zunächst das Bild eines fahrenden Zugs auf einer fluchtpunktartig verlaufenden Eisenbahnstrecke mit seitlicher Begrünung und einem Horizont zeigt und die mit den Geräuschen eines ratternden Zugs unterlegt ist. Es entsteht der Eindruck, man blicke aus dem letzten Waggon eines fahrenden Zuges auf die Gleise. Während dieser Einstellung sitzt

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ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Lepage auf dem Koffer, und wieder überlagert sich die Geschichte HansChristian Andersens mit der des fiktiven québecer Charakters. Dann steigt die Fahrgeschwindigkeit und das Filmbild wird zu einer virtuellen Computeranimation mit seitlichen Strommasten vor dem Hintergrund eines grellblauen Himmels und einem farblich angedeuteten Grünstreifen. Lepage verkörpert nun eindeutig Frédéric Lapointe, der sein Handy zückt, um den Operndirektor über seine verspätete Ankunft zu unterrichten. Im Hintergrund ist dabei beständig das Rauschen eines Hochgeschwindigkeitszugs zu hören. Frédéric richtet sich jetzt für die lange Fahrt ein, nimmt ein Buch aus der Tasche und setzt die Kopfhörer eines Discman auf. Die Geräusche des fahrenden Zugs werden nun von lauten Technoklängen übertönt und entsprechend dieser synthetisch erzeugten Musik transformiert sich abermals die Projektion in eine schrille, ständig wechselnde Farbanimation. Das Publikum verfolgt so in drei Schritten verschiedene Formen des Reisens bzw. die damit verbundenen visuellen Eindrücke vom 19. Jahrhundert über den Komfort der Hochgeschwindigkeitszüge bis hin zu einem Trip in virtuelle Welten. Die verschiedenen Projektionen dienen dabei der Illustration eines Dekors, das Schritt für Schritt mehr Tiefe gewinnt und dessen simulierte Natürlichkeit gleichzeitig deutlich abnimmt. Wie in La face cachée de la Lune entsteht die Hybridisierung des Bildes durch mehrere sich überlagernde Elemente: Schon ohne eine Projektion erzeugt die räumliche Tiefe des konkavgeformten Bildraums den Eindruck eines synthetisch erzeugten Bildes und auch das darüber projizierte, filmisch generierte Bild erscheint nun in dieser konkaven Form. Die bereits materiell suggerierte Dreidimensionalität der Projektionsfläche wird durch einen in diesen Bildraum eintretenden Körper noch verstärkt, so dass dieser mit dem simulierten virtuellen Raum zu verschmelzen scheint. Gleichzeitig wird durch das Wissen um die reale Leibhaftigkeit des Darstellerkörpers in diesem virtuell anmutenden Bild dessen Ontologie aber auch wieder in Frage gestellt. Denn während ein virtuelles Computerbild zwar Tiefe suggeriert, der Bildschirm aber eine flache Oberfläche hat, wird diese Virtualisierung des theatralen Raums bei Lepage gerade erst durch die Möglichkeit erreicht, das Bild tatsächlich betreten und in ihm spielen zu können; die unbegrenzten Möglichkeiten eines virtuellen Körpers kann der reale Körper jedoch nicht ausschöpfen: Lorsque la plongée dans l’image devient effective, le comédien, entouré d’éléments qui peuvent éventuellement le masquer, évolue dans un espace à trois dimensions. […] Le comédien évolue dans un environnement, et non pas seulement devant ou derrière une image. Le spectateur oublie la réalité projectionelle qu’il percevait jusque-là […] Mais le procédé ne permet pas la déambu-

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INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

lation libre que proposent souvent les environnements virtuels, dans un vision à trois cent soixante degrés.133

Obgleich wenigstens die letzte Sequenz dieser Reiseszene eine deutliche optische Tiefe hat, ist die Dreidimensionalität nur partiell wirklich virtuell, denn ein geringer Grad an Räumlichkeit ist ja real vorhanden. Das ganze Potential eines solchen digital generierten, virtuellen Raums aber wird erst in der letzten Szene der Inszenierung deutlich. Nach seiner Rückkehr aus Kopenhagen muss Frédéric feststellen, dass sein Mobiltelefon, das ihm von der Oper zur Verfügung gestellt wurde, abgeschaltet wurde und Arnaud de la Guimbretière für ihn nicht mehr erreichbar zu sein scheint. Was Frédéric schon ahnt, offenbart sich ihm in allen Facetten, als er schließlich in Paris versucht, in der Oper mit einem Verantwortlichen zu sprechen: Sein Projekt wurde abgesagt und man möchte ihn am liebsten ohne weitere Gespräche und Erklärungen loswerden. Niemand fühlt sich für den Gast verantwortlich und alle früheren Ansprechpartner lassen sich verleugnen. Hilflos, klein und in seinem Selbstbewusstsein stark verletzt steht Frédéric im imposanten Entrée der Opéra Garnier und versucht, in der Hoffnung, es handele sich um ein Missverständnis, irgendjemanden auf sein Dilemma anzusprechen. Lepage befindet sich in dieser Szene in der Mitte der konkaven Bildfläche und die Projektion des Innenraums verschiebt sich graduell mit den Bewegungen des Darstellers. Er blickt mal in Richtung eines links abzweigenden Treppenhauses, mal die große geschwungene Treppe hinauf, mal in das Deckengewölbe des Gebäudes, mal hinunter zum Ausgang. Geräusche von Schritten lassen erahnen, dass sich jemand nähert, der dann wieder verschwindet, während Frédéric einige Schritte in die entsprechende Richtung macht, um die Person anzusprechen und eine Erklärung für seine Situation zu erhalten. Durch die Drehungen der Kamera wird eine 360°-Ansicht der Halle der Oper möglich und durch den Wechsel der Perspektiven verfolgt das Publikum die verschiedenen Blickrichtungen der Figur. Gleichzeitig sind die räumlichen Dimensionen dieses virtuell gestalteten Raums so überwältigend, dass der Darstellerkörper – der Situation Frédérics entsprechend – in der gigantischen Größe des Operngebäudes fast untergeht. Lepage théâtralise donc l’immersion de l’utilisateur d’un environnement virtuel. […]. Le décor virtuel, projeté sur l’écran face à l’acteur […] évolue au rythme des déplacements de Lepage. L’immersion fonctionne, elle devient

133 Fouquet (2005): 199f. 209

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

déambulation assez étonnante quand Lepage fait mine de gravir les marches ou de tourner et que l’image des marches évolue en rythme.134

Ganz wie bei einem Videospiel kehren der Darsteller und der Blick des Zuschauers, nachdem dieser die Bewegungen Frédérics in der Halle verfolgt hat, zum Ausgangspunkt zurück. Und wie um die Perfektion dieses fast synthetisch wirkenden Bildes abermals zu stören, wie um die theatrale Realität der Inszenierung wieder in Erinnerung zu rufen, springt Lepage am Ende der Szene aus dem Bild heraus und macht damit einmal mehr deutlich, dass Theater ein Illusionsmedium ist, das sich schon immer technologischer Tricks bedient hat, um seinen Illusionsrahmen aufrecht zu erhalten. „Je m’intéresse de plus en plus à la technologie, même si cela rebute les spectateurs, parce que je trouve que la forme et le fond sont toujours complémentaires“135, betont er. Wo anders als in einem Stück über Hans Christian Andersen, das dessen Leben und Erlebnisse auf der Schwelle zwischen zwei Epochen thematisiert und das selbst zu Beginn eines neuen Jahrtausends entsteht, in einem Moment, in dem sich auch das Theater auf der Schwelle zu einer Ästhetik des 21. Jahrhunderts befindet, könnte diese Komplementarität von Form und Inhalt besser erprobt werden? „Et si cette complémentarité ne parait pas toujours évidente, c’est qu’on est encore sous l’emprise d’un passé culturel qui fait qu’on a du mal à saisir la forme et le fond autrement que séparément.“136

Das Theater als Rahmenmedium Im ersten Teil dieser Untersuchung wurde Intermedialität als ein Verfahren definiert, in einem Medium die ästhetischen Konventionen eines oder mehrerer Medien zu simulieren oder zu realisieren. Unter Berücksichtigung der besonderen Fähigkeiten des Theaters, fremde Medien unter Beibehaltung ihrer jeweiligen Wahrnehmungsmodi und technischen Repräsentationsbedingungen zu integrieren und dadurch einerseits seine eigene Sprache zu hybridisieren, andererseits aber seinen Status als Theater nicht einzubüßen, kann Intermedialität im Theater als ein Verfahren beschrieben werden, das es dem Theater in Interaktion mit anderen Darstellungsformen erlaubt, als Kunsttechnik seine eigenen Ausdruckspotentiale zu erweitern und seine Ontologie selbst zu reflektieren. Gleichzeitig macht Intermedialität es als Kulturtechnik auch möglich, die medialen 134 Ebd.: 200f. 135 Eruli, Brunella (1996): „Éloge de la technologie bancale.“ In: Puck 9, 3942, hier 39. 136 Vgl. Hébert/Perelli-Contos (2001b): 279. 210

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

Codes und die damit verbundenen Wahrnehmungsmodi der jeweiligen im Theater zum Einsatz kommenden Fremdmedien kritisch zu hinterfragen. Der von Christopher Balme eingeführte Begriff des Theaters als „Rahmenmedium“ soll diesen Qualitäten und Potentialen des Theaters als Medium und als Ort der intermedialen Interaktion Rechnung tragen, weil mit ihm sowohl die Ontologie des Theaters als Medium im Sinne einer Apparatur zur künstlichen Welterzeugung als auch die besondere, für die Wahrnehmung des Intermedialen relevante Rezeptionssituation erfasst wird.137 Sybille Krämer hat das Moment der Aisthetisierung als ein Schwellenphänomen zwischen Produktion und Rezeption medialer Produkte beschrieben, das eine Bezugnahme im Prozess der intermedialen Konstitutionsleistung von Medien bereithält. Das Theater als unmittelbare, direkte Kunstform, als ein Ort kultureller Performanz, an dem Produktion und Rezeption simultan erfolgen, erweist sich demnach als paradigmatisch für die Reflexion über die Ontologie und die Funktionsweisen von Medien. Der Begriff des Rahmens beschreibt dabei eine soziologisch codierte Wahrnehmungskategorie, in die fremdmediale Erscheinungsformen eingebettet und in ihr reflektiert werden können, und die auch den Bezug zum Medium Theater im Sinne eines selbstreferentiellen Hypermediums garantiert. Wie die vorangegangenen Analysen zeigen, erweist sich das Theater Robert Lepages, und besonders seine Solostücke, als künstlerische Umsetzung genau jenes Modells von Theater als einem selbstreferentiellen Rahmenmedium, und das nicht nur in formaler Hinsicht, sondern auch durch den meist explizit intradiegetischen Bezug zu den jeweils im Fokus einer Inszenierung stehenden Einzelmedien. Mit Ausnahme der Hamletbearbeitung Elsinore erzählt jede der Inszenierungen die Geschichte einer fiktiven québecer Figur, meist eines Künstlers, der sich in einer existentiellen Lebenskrise befindet und der über die Konfrontation mit dem Leben und Werk einer historischen Figur sein persönliches, berufliches und kulturelles Selbstbewusstsein wiedererlangt. Dabei vollzieht sich diese Selbstfindung durch die Reflexion über die Art und Weise und die Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks mittels eines bestimmten Mediums, das oftmals in Relation zur kulturellen Herkunft der Charaktere gesetzt wird. In Vinci wird das Medium der Figur Philippes, der Photograph ist und als Québecer die Seite der ‚neuen‘ Medien repräsentiert, der Malerei als traditioneller Kunstform Europas gegenübergestellt, in Le projet Andersen arbeitet Frédéric in Kopenhagen an einer Kinderoper über ein Märchen Hans Christian Andersens, weil die Veranstalter eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen den beiden „nordi137 Vgl. Balme (2001) sowie das Kapitel ‚Intermedialität als (theatraler) Wahrnehmungsmodus‘. 211

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

schen“ Kulturräumen Dänemark und Québec sehen und den „primitiven dänischen Dialekt Andersens“ mit dem „ungehobelten québecer Französisch“ vergleichen.138 Auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Akzentsetzung liegt allen Produktionen diese antagonistische Gegenüberstellung von alter und neuer Welt bzw. alten Künsten und neuen Medien zugrunde, wobei die personalisierte Mona Lisa aus Vinci durch die Polarisierung von Photographie und Malerei auf paradigmatische Weise die Ausgangsthese dieser Untersuchung verbalisiert, nach der der produktive Umgang mit neuen Medien in der ‚alten‘ Kunstform Theater in einem direkten Bezug zum kulturellen Kontext der Theatermacher steht. Über die narrative Präsenz der Bildmedien Photographie, Film, Video, Fernsehen und der digitalen Bildwelten des Computers und des Internets rückt Lepage in jeder der Inszenierungen eines dieser visuellen Darstellungsmittel in den Fokus der formalen wie thematischen Auseinandersetzung. Seine Theatersprache lässt sich dabei insofern als intermedial beschreiben, als er im Kontext der theatralen Erzählung sowie in der Ästhetik des theatralen Ausdrucks auf das jeweilige Medium Bezug nimmt und es in seiner Ontologie, in seinen Funktionsweisen und hinsichtlich seiner medientheoretischen Implikationen befragt und diese reflektiert. Entscheidend ist dabei, dass Lepage mit den medialen Konventionen und Wahrnehmungscodes fremder Medien spielt, indem er sie mit den Mitteln des Theaters kombiniert und oftmals auch durch diese realisiert. Durch Veränderungen des Lichts, durch den Einsatz eines Overheadprojektors oder die Überlagerung der Bühne mit Videoprojektionen schafft er eine medial-hybride Theatersprache, die sich der illusionären Möglichkeiten der neuen Medien bedient und diese gleichzeitig durch die bewusste und ostentative Zurschaustellung in ihrer Funktionsweise offen legt. Dieses Prinzip garantiert einerseits den konstanten Bezug zum Theater als unmittelbarer, direkter Kunstform und zeigt andererseits, dass das Theater ein Illusionsmedium ist, das sich seit jeher der visuellen Tricks und technischen Möglichkeiten seiner Zeit bedient, um diese Illusion herzustellen. Die Idee des Rahmens ist dabei in doppelter Weise relevant: 138 Arnaud de la Guimbretière erläutert Philippe seine Wahl als Librettist für die geplante Kinderoper wie folgt: „Je ne vous cacherai pas qu’il a fallu faire quelques contorsions devant les gens du parlement européen pour justifier qu’un canadien se mêle d’adapter un conte scandinave, mais mes assistants ont bien ficelé le tout disant qu’il n’y avait qu’un canadien pour comprendre l’âme nordique, qu’il y a chez vous: cette belle lumière, ce beau silence et surtout cette belle langue râpeuse qu’est le québécois qui rappelle un peu les accents primitifs et bâtards du dialecte danois dans lequel Andersen écrivait.“ (Vgl. Andersen: 5f.) 212

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

Als soziologische Kategorie etabliert er eine Spielsituation, eine Art Pakt zwischen Bühne und Zuschauerraum, der die jeweilige Situation als ein Theaterereignis definiert und damit die diesem zugrundeliegenden Regeln aktiviert. Damit wird es einerseits möglich, fremde Medien in die Sprache des Theaters zu integrieren, ohne dass dieses seinen Status als Theater verliert, andererseits erlaubt es eine bewusste Hybridisierung aller theatralen und fremdmedialen Mittel, durch die die hergestellte Illusion als solche benannt, damit gebrochen wird und die verwendeten Mittel als Zitate offengelegt werden. Durch die intermedialen Austauschprozesse zwischen dem Theater und fremdmedialen visuellen Darstellungsformen entsteht so eine doppelt hybride Ästhetik, die es erlaubt, das Theater Robert Lepages ganz im Sinne Peter M. Boenischs als ein „medientechnologisches Trainingscenter zur Perzeptionsschulung“ zu beschreiben, in dem mediale Illusionsmechanismen immer wieder verfremdet oder durchkreuzt werden und somit sowohl die spezifischen Codes und Funktionsweisen unterschiedlicher Medien offengelegt als auch unsere durch diese beeinflussten Rezeptionsgewohnheiten entlarvt werden.139 Gleichzeitig ist die Integration der Erzählmodi anderer Medien in die Sprache des Theaters als Reaktion desselben auf eine sich immer stärker diversifizierende Medienkultur zu verstehen: Das Theater Lepages nutzt die neuen technischen Möglichkeiten für eine Erweiterung seiner ästhetischen Potentiale und antwortet damit auf die zunehmende mediale Konkurrenz im Sinne einer ‚Modernisierung‘ seiner Ausdrucksmittel, denn ein zukünftiges Theaterpublikum verfügt nicht nur über eine plurale Medienkompetenz, sondern wird sukzessive womöglich auch die sehr viel schnellere, von Film- und Videokultur beeinflusste narrative Logik der neuen Medien gegenüber der langsamen Sprache des Theaters bevorzugen. Trotz des hohen Bewusstseins für die Funktionsweisen neuer Medien, trotz der Faszination für ihre illusionären Potentiale für eine Erweiterung der theatralen Ästhetik und trotz der Überzeugung, dass sich die ästhetischen Grenzen zwischen Theater und Film nahezu auflösen werden, sieht Lepage das Theater als genuine Kunstform in seiner Existenz nicht bedroht, denn dessen kulturelles Potential liegt für ihn vor allem im Phänomen der „communion“, im rituellen Ursprung des Theaters als einem Ort der Zusammenkunft und des gemeinsamen Geschichtenerzählens, einem Element also, das sich bis heute in der besonderen Kommu139 Vgl. Boenisch, Peter M. (2003): „Theater als Medium der Moderne? Zum Verhältnis von Medientechnologie und Bühne im 20. Jahrhundert.“ In: Balme, Christopher/Fischer-Lichte, Erika/Grätzel, Stephan (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen/Basel: Francke, 447-456, hier 453. 213

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

nikationssituation des Theaters, die auf der gleichzeitigen Anwesenheit von Zuschauern und Darstellern und dem gemeinschaftlichen Erleben und Wahrnehmen beruht, bewahrt hat und durch die sich das Theater von allen anderen visuellen Darstellungsmitteln unterscheidet. L’écriture, qu’elle soit théâtrale, technique ou poétique, doit aujourd’hui tenir compte des nouveaux outils et du monde de l’informatique. Mais s’il y a de plus en plus d’artistes, de diverses disciplines, qui incorporent la technologie à leur travail, souvent elle ne transforme pas leur communication en communion. Nous sommes dans un monde qui parle beaucoup de communication, mais on ne parle plus de communion, alors que cette idée a toujours animé mon travail; la communion est ce qui envoûte, nourrit et attire les gens au théâtre. Il est évident que l’on cherche toujours à communiquer quelque chose mais, au théâtre, l’attention est dans la communion.140

Die Faszination dieses mehr als zweitausend Jahre alten Rituals beruht aber nicht nur auf dem Gemeinschaftserlebnis, sondern wird gerade auch über visuelle Effekte hergestellt: Ce qui rassemble les gens, c’est toujours le feu. Dans la grande noirceur de la nuit, on se rassemble autour du feu pour se raconter des histoires. Le feu marque le moment de la représentation. […]141 Le théâtre commence dans une carrière et on allume un feu. Un conteur se lève et entame une danse, il raconte une histoire […].142

Ob diese Geschichte ihre Magie aus dem Spiel des Darstellers im Schein des Feuers zieht oder das Theater durch die Verwendung medialer Illusionstechniken begeistert, ist für Lepage irrelevant. Tatsächlich verweisen die meisten Bildmedien seines Theaters auf jenes archaische Spiel mit Licht und Schatten, und zwar unabhängig davon, ob das Bild durch das Licht einer Kerze oder den Schein einer Taschenlampe vor einem Gazevorhang erzeugt wird, oder ob es digital am Computer hergestellt wurde: We have to remember something very important about what theatre [is] about: a celebration of light. […] The idea of theatre is first of all to bring people in a dark room and do the festival of light. Of course the fire of these theatres was replaced by technology, by electricity, but people still come to the theatre to sit 140 Robert Lepage zitiert nach: Hébert/Perelli-Contos (1994a): 63f. 141 Charest (1995): 144f. 142 Fouquet, Ludovic (1998b): „Du théâtre d’ombres aux technologies contemporaines. Entretien avec Robert Lepage.“ In: Picon-Vallin, Béatrice (Hg.): Les écrans sur la scène. Lausanne: L’Age d’homme, 325-332, hier 327. 214

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – ROBERT LEPAGE

around the fire. If it burns bright people always want to gather around to hear stories. It’s just our relationship with technology that has changed.143

143 Robert Lepage zitiert nach: Delgado, Maria M./Heritage, Paul (Hg.) (1996): In contact with the gods? Directors talk theatre. Manchester/New York: Manchester University Press, 157. 215

GILLES MAHEU –

DER

KÖRPER

ALS

MEDIUM

Gilles Maheu und seine Theatertruppe Carbone 14 gehören zu der ersten Generation des jungen québecer Theaters, die aufgrund ihrer spezifischen Bühnenästhetik und nicht im Kontext der kulturspezifischen Verhandlung identitärer, aus ihrem Kulturraum hervorgehender Themen international bekannt und berühmt geworden ist. Das Theater von Carbone 14 besticht durch den künstlerischen Variationsreichtum der Produktionen und durch die dezidierte Betonung des körperlichen Ausdrucks aller Inszenierungen. Es ist ein Theater, das seit jeher die Auffassung von Text als zentralem, bedeutungstragendem Zeichen der Aufführung in Frage stellt und stattdessen eine Polyphonie körperlicher Ausdrucksmittel favorisiert, die aus so unterschiedlichen Bereichen wie Tanz, Akrobatik oder Pantomime herrühren, und in jüngerer Zeit auch technische Bildmedien integriert. Diese Charakteristika stehen in engem Zusammenhang mit der künstlerischen Laufbahn des Gründers und künstlerischen Direktors der Gruppe, der die Funktion des Regisseurs, Szenographs, Autors, Schauspielers und Choreographen in sich vereint. 1948 in Montréal geboren verbringt Gilles Maheu zwischen 1967 bis 1975 mehrere Jahre in Europa, wo er eine Ausbildung zum Pantomimen macht und bei verschiedenen Theaterkünstlern seine Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich des körperlichen Ausdrucks vertieft.1 Er nimmt Unterricht bei dem Schweizer Michel Poletti, der ihn mit den Ideen Antonin Artauds bekannt macht und dem er 1967 in die Schweiz folgt, wo er im neugegründeten Théâtre Antonin Artaud in einer Kollektivtheatertruppe spielt und sich in den Bereichen Tanz, Akrobatik, Marionettentheater und Pantomime weiterbildet. Nachdem die Truppe sich wieder auflöst, wechselt Maheu zu Etienne Decroux nach Paris und später zu Yves Lebreton, der in Eugenio Barbas Odin Teatret in Dänemark Kurse zum physischen Ausdruck im Theater gibt. In mehreren Laboratorien kann Maheu von 1971 an mit verschiedenen Lehrern und in unterschiedlichen Bereichen sein Metier weiter erforschen und mit namhaften Regisseuren wie JeanLouis Barrault und Dario Fo zusammenarbeiten. 1

Zur künstlerischen Laufbahn Gilles Maheus vgl. ausführlich Borello (1994) und Vigeant (2001). 217

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Il y explore et approfondit le langage corporel. Il apprend qu’à la base du théâtre, il y a le corps de l’acteur, ce corps qui doit pleinement „assumer“ l’action, selon l’expression d’Etienne Decroux. La technique, rigoureuse, permet au jeune Québécois de maîtriser les „organes d’expression“ du corps. Il apprend également la valeur du dépouillement, le sens du mot „intensité“ et la portée du silence.2

Als er 1975 nach Montréal zurückkehrt, gründet er, inspiriert von dem gleichnamigen Film von Marcel Carné, die Straßentheatertruppe Les Enfants du Paradis, um ein Theater wiederzubeleben, in dem Bewegung, Dynamik und Form vor jeglicher Literarizität stehen, „un théâtre ‚naif‘, d’improvisation plus que d’interprétation, où les courts numéros emprunteraient au mime, bien sûr, mais aussi à l’acrobatie et à la jonglerie.“3 Le nom vient du film tout simplement. J’aimais beaucoup ce film et il correspondait à un désir. Justement, là-dedans, c’était l’éternelle guerre, si on veut, entre le texte et le silence. C’est ce conflit-là, entre la parole et l’expression du corps, […] entre la beauté du texte de Lemaître et la beauté de Baptiste dans son mutisme qui m’intéressait… Ainsi que l’élément poétique, et l’élément social qu’on y trouvait… La notion de théâtre de rue également, et la notion de ‚théâtre du merveilleux‘ qui se dégageaient du film. […] Pour moi ça a toujours existé cette frontière ténue entre la délinquance et l’art…4

In Anlehnung an Spielformen der Commedia dell’arte und in ästhetischer Nähe zu Unterhaltungsgenres wie dem Zirkus, dem Variété und der Music-Hall, tritt die Truppe mehr als zwei Jahre lang auf Plätzen und auf der Straße auf. Maheu rückt sein Theater aus seinem geschlossenen Ort des Theatersaals hinaus in öffentliche Räume und sucht so die Begegnung mit neuen Publikumsschichten. Den Jahren auf der Straße, die noch stark von der Ästhetik und der Idee des europäischen Körpertheaters seiner Lehrer geprägt sind, folgen ab 1977 erste Produktionen für die Theaterbühne und nach und nach gibt die Truppe das Theater der Clowns und Pantomimen zugunsten einer Suche nach sozialen Wahrheiten auf. Es geht um soziale Archetypen, um das Bild der 1968er-Generation, um Erinnerung an Krieg und Zerstörung und um Dehumanisierung – kurz um ein Theater, das auf inhaltlicher Ebene zeitgenössische Fragen reflektiert, ohne dabei auf literarische Vorlagen zurückzugreifen, und das diese Erfahrungen und Themen des Alltags mittels einer szenischen Sprache erforscht, die immer an die Expressivität des Körpers und die Sprache der Bilder gekoppelt bleibt. 2 3 4

Vigeant (2001): 247 (Hervorhebungen im Original). Ebd. Borello (1994): 80. 218

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – GILLES MAHEU

Sur le plan thématique, les spectacles de Gilles Maheu puisent leurs sujets à la fois dans le privé et dans le social, dans la mémoire individuelle et dans la réalité sociale, dans l’intimité des désirs et des souvenirs comme dans l’histoire, la grande et la petite histoire d’hommes divers, qui parlent un langage nouveau sur les scènes québécoises à la fin des années 70, plus symbolique que réaliste, omnirique, viscéral. […] Son théâtre est ‚gestuel‘, dit-on parfois, ‚physique‘ ou encore ‚visuel‘; fait-il du ‚théâtre d’images‘, de la ‚danse-théâtre‘ ou, pourquoi pas, du ‚théâtre dansé‘? Peu importe l’étiquette! Gilles Maheu fait bouger les corps et les âmes, il parle aux sens et à l’esprit, avec ses moyens, qui sont des gestes et des mouvements, des voix – qui savent parler, hurler et le plus souvent se taire – , des espaces, qui s’emplissent de bruits et de musiques, et disons-le, de fureurs.5

1980 beziehen die Enfants du Paradis gemeinsam mit zwei anderen Experimentaltheatergruppen eine alte Feuerwehrhalle im Arbeiterviertel Hochelaga-Maisonneuve, die sie zu einem Arbeits- und Kreationszentrum mit Bühne und Probenräumen umbauen und in Anlehnung an ihre Theaterprinzipien Espace Libre nennen. In dem Moment, in dem sie der Akzentverschiebung ihrer künstlerischen Arbeit durch die Etablierung eines festen Spiel- und Arbeitsorts Rechnung tragen, geben sich die Mitglieder der Truppe auch einen neuen Namen: Carbone 14. Le fait de porter le nom d’un matériau qui sert à la datation nous convenait. Les traces du passé sont là, ce qui est essentiel, parce que même si on veut être d’avant-garde, nouveau, différent, il ne s’agit jamais, à mes yeux, de renier le passé mais de l’intégrer. On ne peut pas renier le passé: la culture théâtrale, l’histoire du théâtre avant nous. […] L’appellation Carbone 14 nous intéressait à un autre titre encore. Nous ne pouvions pas nous appeler ‚théâtre de…‘, puisque la notion de théatre a toujours recouvert pour nous quelques chose d’hybride, de bâtard. Personellement je ne sais pas si c’est du théâtre ce que je fais, et je le sais de moins en moins.6

Mit der Umbenennung seiner Truppe in Carbone 14 endet auch der experimentelle Charakter der Arbeit Gilles Maheus. Die folgenden zwanzig Jahre sind von dem Bestreben nach künstlerischer Kontinuität bestimmt und zeugen von einem gereiften Bewusstsein sowohl für die europäischen Lehrjahre als auch für die Notwendigkeit einer eigenen, für sein gesamtes Schaffen prägenden Ästhetik. Aus seiner Ausbildung als Mime bewahrt Maheu die Überzeugung, dass der Körper das Unaussprechliche ausdrücken kann, und hält an einer intensiven Körperarbeit in all seinen Produktionen fest. In Anlehnung an Artauds Konzept des Schauspielers 5 6

Vigeant (2001): 246. Borello (1994): 81. 219

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

als einem affektiven Athleten7 konzipiert Maheu sein Theater auf einer „écriture gestuelle“8, die die Bandbreite körperlicher Ausdrucksformen der Pantomime mit der Energie eines tanzenden Körpers vereint. Je trouve le théâtre trop souvent bavard et verbeux, pas assez en action… et la danse pas assez émotive. J’essaie de créer quelque chose par défaut. Je crois que c’est un peu le travail de Carbone 14, qui effectivement se retrouve dans un espace intermédiaire où il y a du mouvement et aussi des émotions. J’essaie de faire un travail affectif et émotif, qui est celui de l‘acteur, avec des danseurs; et je navigue toujours entre les deux pôles de la danse et du théâtre.9

Seine Inszenierungen versuchen, anhand körperlicher Darstellungsmittel dramatische Situationen zu erschaffen, ohne dabei eine Geschichte im traditionellen Sinn zu erzählen; und die Körper dieses getanzten, energetischen Theaters erfüllen in gewissem Sinne bestimmte Rollen, ohne aber den Status der Figuren eines literarischen Texttheaters zu haben. Mit Ausnahme von Hamletmachine (1987), Rivage à l’abandon (1990) und Peau, chair et os (1991), die eng an die Texte Heiner Müllers angelehnt sind, hat Gilles Maheu nie einen klassischen Theatertext inszeniert. Er bedient sich zwar immer wieder literarischer Vorlagen, die er collageartig in seine Inszenierungen integriert, aber diese Textfragmente sind eher assoziative Verweise, als dass sie die Stücke Maheus im Sinne einer kontingenten Fabel strukturieren würden. Text ist für Maheu die Bühne als Ganzes, eine hybride, sich aus den unterschiedlichsten Ausdrucksformen zusammensetzende Sprache, und das wichtigste und für ihn ausdrucksstärkste Mittel ist der Körper. Je crois profondément que le corps est un langage qui a une capacité d’expression et de communication aussi grande que la parole; mais le corps, dans mon travail, et cela depuis une dizaine d’années, est devenu comme les autres composantes du spectacle: un des éléments d’une espèce de symphonie. […] Mon rapport au texte, au texte classique, est en fait inexistant parce que je ne me suis jamais attaqué à un texte classique. […] J’ai toujours eu l’impression, à tort ou à raison, que le texte classique traditionnel allait m’empêcher de créer mon univers.10

7

Vgl. Artaud, Antonin (1964): Le théâtre et son double. Paris: Gallimard, bes. 199-211. 8 Vigeant (2001): 248. 9 Borello (1994): 79. 10 Hébert, Chantal/Perelli-Contos, Irène (1994b): „Les voix multiples de la scène: Gilles Maheu et Carbone 14.“ In: Nuit Blanche 55, 67-70, hier 68. 220

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Das Bestreben Maheus liegt in dem Versuch, durch choreographische Formalität und kognitive Distanz Konkretes und Abstraktes, benennbare Fakten und impulsive Momente, Intellekt und Emotion zu vereinen und so hinter der Sprache des Körpers und des Raums Platz zu lassen für einen vielschichtigen Diskurs, der frei und ungesteuert im Geist des Betrachters reift. Gerade der Raum ist in der Ästhetik Maheus integraler Bestandteil einer vom Miteinander aller Künste und Ausdrucksformen bestimmten Theaterkonzeption, die den bewegten oder zur Skulptur erstarrten Körper in Relation zu Bildern unterschiedlicher Provenienz setzt. Dieses Verhältnis zwischen Bild und Körper erforscht Maheu seit Beginn der 1990er Jahre auch durch die Arbeit mit neuen Technologien. Die Integration von Videobildern oder filmischen Sequenzen ermöglicht ihm einerseits eine Kontrastierung von theatraler Drei- und filmischer Zweidimensionalität, andererseits erlaubt sie auch eine bewusstere Reflexion des theatralen Bilds und seiner Rahmung durch das Theaterdispositiv. Dieses Theaterdispositiv begreift er dabei ähnlich wie Robert Lepage als einen in erster Linie visuellen Raum, der durch die Präsenz des Darstellerkörpers und besonders durch dessen energetische Kraft seinen Bezug zum Theater als unmittelbarer Kunstform niemals verliert. D’ailleurs, je constate une chose, c’est que même actuellement avec le retour aux grands textes classiques, comme les pièces de Shakespeare ces derniers années, ce qui fait l’intérêt de ces spectacles, c’est bien sûr le travail de direction d’acteurs, mais ce n’est pas nouveau ça. La grande force de ces spectacles, lorsqu’ils font courir les foules, vient de la scénographie, des éclairages, bref de la puissance ou de l’efficacité visuelle des productions. […] A mon avis, tous les metteurs en scène contemporains sont des créateurs visuels qui inscrivent leur empreinte dans le texte. C’est la force de leur langage, l’expressivité de leur pouvoir de créer des images et de les faire sortir des textes qui les font ce qu’ils sont. […] Pour moi, le texte, c’est la scène, c’est l’écriture scénique.11

So wie Artauds Texte für Maheu aufgrund ihrer Schockwirkung und ihrer Konzeption von körperlicher Expressivität bedeutsam waren und sein künstlerisches Arbeiten entscheidend beeinflusst haben, so war die Begegnung mit dem Werk Heiner Müllers ein Schlüsselmoment für die Entwicklung seiner visuellen Ästhetik.12 Die Dichte und Poesie der Sprache Müllers, die Brutalität seiner Theatertexte, die keinerlei dramatische Struktur mehr aufweisen und sich einer mimetischen Repräsentation hermetisch verschließen, lösen bei Maheu eine Art Schock aus, und er 11 Ebd. 12 Vgl. Borello (1994). 221

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erkennt in der collageartigen Struktur der Texte Müllers eine große Affinität zu seiner Bildkonzeption im Theater. En dehors de la force de sa poésie, j’ai été touché par la modernité de son écriture par fragmentation, par raccourci. C’est une écriture contemporaine qui appelle une réécriture au moyen d’autres ressources, d’autres techniques. […] J’ai toujours senti qu’avec Müller le metteur en scène est condamné à recourir à un langage parallèle à l’écriture de l’auteur, il est forcé d’écrire sur la scène avec les ressources propres de l’écriture scénique, qui est faite de mouvements, de danses, de vidéos, de films etc., bref de toutes les possibilités permises et offertes à la scène. […] Son écriture différente, dérangeante même, c’est précisément ce qui m’a intéressé. […] Il puise aux sources du théâtre, sauf qu’il passe à une autre étape qui est celle de la modernité et qui offre d’autres moyens d’action, d’autres possibilités de traitement.13

Seine Inszenierungen von Verkommenes Ufer/Medeamaterial/Landschaft mit Argonauten und Bildbeschreibung sind für die Frage nach Intermedialität im Theater gerade deshalb interessant, weil sich der intermediale Charakter der beiden Produktionen erst auf den zweiten Blick offenbart und besonders in der übergreifenden Analyse der beiden Inszenierungen evident wird. Die Kritik hat Maheus Inszenierungen in die Nähe zu collageartigen, multimedialen Installationen gerückt und tatsächlich scheint der Begriff des multimedialen Theaters im Sinne einer Integration unterschiedlicher – medial-technischer wie künstlerischer – Ausdrucksmittel im Sinne einer Ansammlung heterogener Darstellungsmittel auf der Bühne zunächst angemessener. Gleichwohl muss der Einsatz von Fremdmedien im Zusammenhang mit den Herausforderungen, die Texte wie die Heiner Müllers an das Theater stellen, gesehen und in Beziehung zur räumlichen Konzeption des Theaters von Gilles Maheu gesetzt werden. Hinsichtlich eines intermedialen Verständnisses von Theater als Rahmenmedium scheinen die beiden hier analysierten Inszenierungen diesen Rahmen buchstäblich zu sprengen, die medialen und räumlichen Grenzen des Theaters aufzubrechen, und das sowohl mit rein theatralen Mitteln als gerade auch durch den Einsatz fremdmedialer Darstellungsformen. Maheus Hybridisierung des Theaters ist hier weniger als eine Annäherung seiner Kunst an die Ausdrucksformen neuer Medien zu verstehen, vielmehr wurzelt sie in seinem grundsätzlichen Verständnis von Theater als einem plurimedialen Darstellungsmittel im Sinne eines Gesamtkunstwerks: Je n’arrive pas, c’est vrai, à m’identifier complètement au théâtre, même si j’aime, parfois ce que j’en vois; j’ai vraiment du mal à m’inclure dans ce lieu, à

13 Hébert/Perelli-Contos (1994b): 69f. 222

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me considérer comme un homme de théâtre. Mais je ne suis pas peintre non plus, ni danseur, ni chorégraphe, et je ne suis plus mime… Comment me définir? […] C’est peut-être mon malaise face au théâtre qui me pousse à mener une démarche que l’on dit ‚multidisciplinaire‘ – à faire un art, disons-le plus simplement, ‚bâtard‘.14

Rivage à l’abandon Als das Musée d’Art Contemporain in Montréal 1990 Gilles Maheu anlässlich der Ausstellung Blickpunkte bittet, einen deutschen Text in den Hallen der Ausstellungsräume der Cité du Havre zu inszenieren, kommt Maheu auf Heiner Müller zurück, dessen Hamletmaschine er bereits 1987 realisiert hat, und konzipiert eine theatrale Installation der MüllerTrilogie Verkommenes Ufer/Medeamaterial/Landschaft mit Argonauten. Die Herausforderung, sein Theater ins Museum zu bringen, begreift Maheu als eine Konfrontation von Totem und Lebendigem, von Beständigem und Ephemeren, von Geschichte und Gegenwart und als eine inspirierende Begegnung der verschiedenen Künste.15 Der theatralen Umsetzung eines Werks Heiner Müllers kommt dieser Aufführungsort sehr entgegen, denn Maheu hat für seine Inszenierung eine ganze Etage des Museums zur Verfügung. Befreit von den architektonischen Zwängen eines gewöhnlichen Theaterraums kann er dem Text mit genau jener Parallelsprache begegnen, die er für die Inszenierung der sperrigen Texte des ostdeutschen Dramatikers für erforderlich hält. Der dreiteilige, fragmentarische und collagenhafte Text Müllers entwirft im ersten Teil, Verkommenes Ufer16, das Bild einer verwüsteten, verrotteten Landschaft, das sowohl auf die preußische Geschichte anspielt als auch auf die Argonautensage und Jason als den Eroberer und Zerstörer, der sich als Repräsentant des männlichen Kolonisators des Landes und der Zivilisation bemächtigt. Das Ergebnis seiner Kulturtaten ist die Vernichtung von Natur („Schilfborsten Totes Geäst [...] Fischleichen glänzen im Schlamm Keksschachteln Kothaufen“) und Menschheit („Blutbeschmierte Weiber in den Leichenhallen“), die Tötung der Untergebenen und schließlich auch sein eigener Untergang („Bis ihm die Argo 14 Pavlovic, Diane (1992): „Gilles Maheu: l’espace vital.“ In: Cahiers de Théâtre Jeu 63, 16-30, hier 30. 15 Vgl. ebd.: 19. 16 Müller, Heiner (1988b): „Verkommenes Ufer/Medeamaterial/Landschaft mit Argonauten.“ In: Fiebach, Joachim (Hg.): Heiner Müller. Stücke. Berlin: Henschel, 465-475, hier 466 (im Folgenden zitiert als ‚Verkommenes Ufer‘). 223

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den Schädel zertrümmert das nicht mehr gebrauchte Schiff“17). Über dieses gegenwartsbezogene Szenario schreibt Genia Schulz: Die Spuren der Besatzer verweisen auf das Allgemeine: immer wieder betreten Eroberer fremdes Ufer, ‚beseitigen‘ die Frauen, lassen eine verwüstete Landschaft zurück, zerstören die Kultur und werden schließlich zum Bestandteil ihrer Zerstörung [...].18

Müller verarbeitet Mythos und Geschichte hier als Sinnbild eines Zivilisationsprozesses, der trotz aller historischen Lektionen nicht zur Vernunft gelangt und der, wie die Argonauten nach ihrer Ankunft in Kolchis, nur ein blutiges Schlachtfeld von Tod und Zerstörung hinterlässt. Der zweite Teil, Medeamaterial19, präsentiert Medea als zentrale Figur des antiken Mythos und als Opfer und Beute des männlichzerstörerischen Habitus Jasons. Medea klagt Jasons Verrat an ihr und ihren Kindern sowie ihrem ganzen Volk an und enttarnt seine vergangene Liebe zu ihr als berechnende Taktik seines Erfolgs- und Machtbestrebens. Alles an mir dein Werkzeug alles aus mir Für dich hab ich getötet und geboren Ich deine Hündin deine Hure ich Ich Sprosse auf der Leiter deines Ruhms20

Aus Rache plant sie die Tötung ihrer Kinder sowie den Tod der neuen Geliebten Glauke und hofft durch die Unterbrechung der Erbfolge die perverse Logik des Patriarchats zu durchbrechen. Aus meinem Herzen schneiden will ich euch Mein Herzfleisch Mein Gedächtnis Meine Lieben Gebt mir mein Blut zurück aus euren Adern In meinen Leib zurück euch Eingeweide Heute ist Zahltag Jason Heute treibt Deine Medea ihre Schulden ein [...] Mit diesen Händen der Barbarin [...] Will ich die Menschheit in zwei Stücke brechen21

17 Ebd. 18 Schulz, Genia (1987): „Medea. Zu einem Motiv im Werk Heiner Müllers.“ In: Berger, Renate/Stephan, Inge (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Köln/Wien: Böhlau, 241-264, hier 250 (Hervorhebung im Original). 19 Verkommenes Ufer: 467ff. 20 Ebd.: 468. 21 Ebd.: 470f. 224

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Der dritte Teil, Landschaft mit Argonauten22, thematisiert die Selbstentfremdung des Individuums im Prozess der Eroberung und Aneignung. Müller skizziert das Bild einer Todesszenerie, in dem das Ich, das sich seiner Identität nicht mehr sicher ist („Soll ich von mir reden Ich wer Von wem ist die Rede wenn Von mir die Rede geht Ich Wer ist das“23), versucht, aus seiner Geschichte Bilanz zu ziehen und erkennt, dass ihm jegliche Wertmaßstäbe zur Selbstbestimmung und Weltinterpretation abhanden gekommen sind. Der Prozess der zivilisatorischen Entwicklung erweist sich als eine Irrfahrt, der Fortschritt erleidet Schiffbruch: [...] eine Fahne ein Blutiger Fetzen ausgehängt ein Flattern Zwischen Nichts und Niemand Wind vorausgesetzt Ich Auswurf eines Mannes [...] Ich meine Seefahrt Ich meine Landnahme Mein Gang durch die Vorstadt Ich mein Tod Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell Der Anker ist die letzte Nabelschnur Mit dem Horizont vergeht das Gedächtnis der Küste Vögel sind ein Abschied sind ein Wiedersehn Der geschlachtete Baum pflügt die Schlange das Meer Dünn zwischen Ich und NichtmehrIch die Schiffswand24

Verödung, Erstarrung und Kälte erfassen nicht nur das in Auflösung begriffene Subjekt, sondern auch die Landschaft. Die Müllersche Natur ist im Verfall begriffen. Der Mechanismus der Geschichte hat „Sand im Getriebe.“25 Nichts ist in der Lage, den fatalen Teufelskreis und die ewige Wiederholung in der abendländischen Geschichte zu durchbrechen, die vom allumfassenden Prinzip der Gewalt angetrieben werden. „WAS BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN“26, resümiert das anonyme Subjekt – vielleicht Jason als Eroberer, vielleicht eines seiner Opfer, vielleicht ein unbestimmtes Kollektiv – die katastrophale Zukunftsvision und blickt so dem unausweichlichen Tod, dem Ende des Daseins und der Menschheit ins Auge („ich spürte MEIN Blut aus MEINEN Adern treten Und MEINEN Leib verwandeln in die Landschaft MEINES Todes“27).

22 23 24 25 26 27

Ebd.: 471ff. Ebd.: 471. Ebd.: 471f. Ebd.: 473. Ebd.: 472. Ebd.: 474. 225

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Maheu konzipiert seine Inszenierung als ein multidisziplinäres Kunstwerk, das Installationen, Videoprojektionen, Gesang, Live-Musik und theatrales Spiel kombiniert und so den Zuschauer zu einer völlig neuen Wahrnehmung von Theater einlädt. Er antwortet damit auf den pasticheartigen Charakter des Texts und die verschieden Themen, die Müller in seiner Relektüre des Medeamythos herausarbeitet, sowie auf die Wortgewalt des Textes und die Dichte der evozierten Bilder. Indem er die theatrale Umsetzung des Texts zum Ort der Aufführung und den dort ausgestellten Kunstwerken in Beziehung setzt, erweitert er die Seherfahrung des Theaters durch eine räumliche Dimension und ermöglicht dem Zuschauer, sich mittels der dort gezeigten Bilder und Installationen sowie der Textprojektionen schon vor der eigentlichen ‚Aufführung‘ des Texts mit seinen Ansätzen und den thematischen Schwerpunkten der Inszenierung auseinanderzusetzen. Der Eingangsbereich der Museumsetage und drei kleinere, dahinterliegende Räume des Museums bereiten das Publikum auf die im vierten Raum stattfindende Aufführung vor. Die Inszenierung beginnt also, bevor die Zuschauer ihre Plätze in diesem Raum eingenommen haben, das Theater hat sich aus seinem Rahmen, aus dem begrenzten Raum von Bühne und Zuschauerraum herausgelöst: Sobald der Zuschauer die Etage betreten hat, in der Maheus Inszenierung stattfinden wird, sieht er eine große Photographie, die Marilyn Monroe zeigt. Das Photo weckt Assoziationen mit Hollywood, dem Starkult der 1960er Jahre und mit einem weiblichen Schönheitsideal, dessen Repräsentantin Marilyn Monroe ist. Noch stellt sich für das Publikum keine direkte Verbindung zu dem Stück her, für dessen Aufführung man hier zusammengekommen ist. Der Titel lässt keine Rückschlüsse zu, Heiner Müller ist ein in Québec nicht sehr bekannter und (zu dieser Zeit) selten gespielter Autor. Ist man mit den Arbeiten Gilles Maheus vertraut, weiß man vielleicht, dass er sich immer wieder für den amerikanischen Mythos und den Lifestyle der 1960er Jahre interessiert; vielleicht erinnert man sich an eine frühere Inszenierung, Le Dortoir (1989), in der er mit dem Kennedy-Mythos spielte.28 Ein wirklicher Verständnisansatz eröffnet sich aber noch nicht; die Photographie präsentiert sich im Kontext ihrer Darstellung rätselhaft. Einige Schritte weiter hängt ein zweites Bild Marilyn Monroes, das den Star nach dem Selbstmord auf dem Tisch der Gerichtsmedizin zeigt. Der Kontrast zu dem ersten Bild hat eine Schockwirkung, die Photographie konnotiert Tod, Gewalt und Hässlichkeit. Im 28 Vigeant, Louise (1997): „L’espace troué de la mémoire. Rivage à l’abandon: œuvre multidisciplinaire.“ In: Hébert, Chantal/Perelli-Contos, Irène (Hg.): Théâtre, Multidisciplinarité et Multiculturalisme. Québec: Nuit Blanche, 53-64, hier 56. 226

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Vergleich entpuppt sich das erste Bild als eine Inszenierung von Schönheit und Makellosigkeit und sein artifizieller Charakter wird plötzlich evident. Durch die einfache Gegenüberstellung der beiden Photographien zeigt Maheu den Kontrast zwischen dem Bild des Stars als einem Trugbild und der Opferrolle, die sich als Realität des Schicksals dieses Menschen herausstellt. Dabei geht es hier nicht primär um Marilyn Monroe, sondern um eine metareflexive Darstellung der Frau als Sinnbild der Verführerin und des Opfers, aber auch um eine medienreflexive Befragung von Photographie als einem Mittel der Inszenierung und Verschleierung. Die Divergenz der beiden Bilder weist den Betrachter auf den inszenatorischen Charakter der Bilder hin, die ihn an Roland Barthes’ wichtigster Botschaft, „es ist so gewesen“29, zweifeln lässt, und offenbart ihm, dass die Photographie immer auch die „Funktion einer Wunschmaschinerie“ hat.30 Schon im Eingangsbereich stellt sich dem Zuschauer die Frage, in welchem Verhältnis diese Bilder und ihre Aussage zum Text Heiner Müllers stehen und inwieweit die Inszenierung von Mythos und Tod, von Lügen und dem Zerplatzen von Träumen, von Frauen und ihrer Opferrolle handeln wird. Der erste Raum bringt den Zuschauer hinsichtlich dieser Verständnisfrage ein Stück weiter. Eine diagonal im Raum stehende Mauer ist mit Zeitungsausschnitten tapeziert und über all diesen Texten zeigt ein Grafitti den Titel des Stücks in deutscher, englischer und französischer Sprache. Löcher in der Mauer laden zum Durchschauen ein; dahinter wird eine Filmsequenz abgespielt, die die Zerstörung der Berliner Mauer zeigt. Die Mauer im Saal könnte also die Berliner Mauer repräsentieren, Zeichen der Trennung und Gewalt; die darauf geklebten Texte und Zeitungsausschnitte verweisen einerseits auf Nachrichten und Zeitgeschehen, andererseits generell auf Schreiben und Überschreiben, auf die Überlagerung von historischen Ereignissen und Erinnerung, auf den Palimpsestcharakter von Geschichte und auch von Literatur. Diese Assoziationen bilden wiederum den Brückenschlag zum Werk Heiner Müllers, das genau diese beiden Elemente, nämlich Literatur und Geschichte, collagenhaft kombiniert.31 Die Filmdokumente der jüngeren deutschen Ge29 Barthes (1989): 105. 30 Prümm (1996): 265. 31 Vgl. hierzu exemplarisch: Hörnigk, Frank (1989): „‚Texte, die auf Geschichte warten...‘ Zum Geschichtsbegriff bei Heiner Müller.“ In: Ders. (Hg.): Heiner Müller Material. Leipzig: Reclam, 123-137; Keim, Katharina (1997): „Vom Theater der Revolution zur Revolution des Theaters. Bemerkungen zur Dramen- und Theaterästhetik Heiner Müllers seit den späten 1970er Jahren.“ In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Heiner Müller. München: Edition Text & Kritik 73 (2. Aufl.), 86-102; Schulz, Genia (1979): 227

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schichte thematisieren den Zweiten Weltkrieg, den Faschismus, Holocaust, Gewalt, den Kalten Krieg, die Spaltung einer Nation und schließlich auch die Hoffnung auf Annährung. Die in die Mauer eingearbeiteten Löcher und die Aufforderung, hindurch zu schauen, verweisen auch auf Voyeurismus, eine Idee, die Maheu aufgrund der Szenenanweisungen Müllers am Ende des Stücks entwickelt. Dort vermerkt der Dramatiker, Verkommenes Ufer könne „bei laufendem Betrieb einer Peepshow gespielt werden.“32 Wenn der Zuschauer also durch die Mauerlöcher zum Zeugen des Falls der Berliner Mauer wird, dann verweist dieser Gestus auch auf eine grundsätzliche voyeuristische Haltung unserer Gesellschaft, auf die passive Teilnahme an Geschichte, die man als Fernsehzuschauer vom Sofa aus verfolgt. Das Publikum wird hier gezwungen, seine Zuschauerrolle bzw. seinen Voyeurismus, den es schon durch die Mediatisierung der historischen Ereignisse vor dem heimischen Fernseher vollzogen hat, im Theater zu wiederholen und so zu karikieren. Es wird zum perversen Beobachter von Geschichte, der jedes Geschehen als Medienspektakel wahrnimmt; vielleicht ist dies eine Aufforderung, seine Rolle als Individuum im Spannungsverhältnis von Realität und medialer Fiktionalisierung reflektieren. Die kontrastiven Photographien Marilyn Monroes und die voyeuristische Beobachtung der Fernsehbilder der Wiedervereinigung treten so zueinander in ein sich ergänzendes Verhältnis. Der zweite Raum nimmt die geometrische Struktur des ersten durch eine quer verlegte Eisenbahnschiene wieder auf. Wie die Mauer ist die Schiene teilendes Element und erinnert im Kontext der Assoziationen des ersten Raums an Trennung und an die Todeszüge des Holocaust. Auf den Eisenbahngleisen ist ein Cellist platziert, der ein Stück spielt, das auch in der Aufführung zu hören sein wird, und auf eine Wand des Raums wird Heiner Müllers Text Medeaspiel projiziert.33 Es handelt sich um eine lange Szenenanweisung zu einer Theaterpantomime, die von einer Hochzeit spricht, von der Parodie einer Verführung, von einem Mann, der mit Waffen bedeckt ist und nur noch auf allen Vieren kriechen kann, dann von einem Massaker, in dem eine Frau ihre Maske und ihr Kleid zerstört, ihr Kind in Stücke reißt und die Teile in die Richtung eines Mannes wirft. Der projizierte Titel lässt die Vermutung aufkommen, Medea könne eine Figur des Stücks sein; die Ereignisse, von denen der Text spricht, könnten mit den Rachetaten der Barbarin aus Kolchis in Verbindung ge„Something is Rotten in this Age of Hope. Heiner Müllers Blick auf die (deutsche) Geschichte.“ In: Merkur 5, 468-480. 32 Verkommenes Ufer: 475. 33 Vgl. Müller, Heiner (1975): „Medeaspiel.“ In: Ders.: Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande. Berlin: Rotbuch Verlag, 17. 228

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bracht werden. Der zweite Raum zitiert also Geschichte und Mythos und erinnert an die Gewalt von Kriegen sowie die Gräueltaten im MedeaMythos. Im dritten Raum symbolisieren mit den Wurzeln an der Decke befestigte Bäume eine verkehrte Landschaft. Eine weitere Projektion zeigt den Titel des dritten Teils des müllerschen Texts, Paysage avec Argonautes. Hatte der Name Medeas schon auf die Figur der antiken Mythologie verwiesen, bestätigt hier die Anspielung auf die Argonauten diese Referenz. Die drei Räume scheinen also mit den drei Teilen der Textvorlage Müllers zu korrespondieren. Der erste steht unter dem Zeichen politischer Aktualität, der zweite taucht den Zuschauer in eine sowohl historische als auch mythologische Vergangenheit und der dritte präsentiert eine Szenerie des Umbruchs, ein atemporelles Chaos. Der über die Eigennamen ‚Medea‘ und ‚Argonauten‘ hergestellte Bezug zum Mythos bestätigt das Thema der Zerstörung und des Verrats und die drei Rauminstallationen ergänzen diese Vermutung hinsichtlich der Akzentuierung der Inszenierung. In den Szenenanweisungen schreibt Müller, dass „die Gleichzeitigkeit der drei Textteile“34 beliebig dargestellt werden könne. Maheu antwortet auf diese Simultankonzeption, indem er zuerst drei Installationen in drei aufeinander folgenden Räumen kreiert, durch die sich der Zuschauer frei bewegen kann und die er nicht zwingend in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen muss. Durch die Arbeit mit verschiedenen künstlerischen Darstellungsmitteln spaltet er die unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen auf und erlaubt eine separierte Rezeption von bildlichen, textuellen und akustischen Elementen. Entsprechend des Orts, in dem sich diese Theaterräume befinden, ist es dem Betrachter möglich, die Objekte getrennt von den ausgestellten Texten anzusehen, an bestimmte Stellen zurückzukehren, Texte mehrmals zu lesen oder die Objekte von verschieden Seiten und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus zu betrachten. Verbindendes Element aller vier Räume des Museums, in denen Maheus Inszenierung stattfindet, ist die Musik des Cellisten, die in allen Räumen zu hören ist, die den Zuschauer im ersten Saal schon anlockt, die im dritten Raum weiterklingt und im szenischen Spiel im vierten Raum später wieder aufgenommen wird. Louise Vigeant hat die Aufspaltung der Inszenierung in vier voneinander getrennte Räume, die Gegenüberstellung von drei musealen Orten mit einem szenischen Raum, in dem sich dem Publikum eine theatrale Darstellung zeigt, die bestimmte Elemente des schon Gesehenen wieder aufnimmt und verarbeitet, aufgrund des skulpturalen Charakters der Installationen in die Nähe eines plastischen Kunstwerks gerückt: 34 Verkommenes Ufer: 475. 229

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[...] le scénographe s’est fait ici plus que jamais plasticien. D’ailleurs, quand René Payant définissait l’installation comme une sculpture qui n’est ‚pas simplement un objet mais une situation‘, il montrait jusqu’à quel point cet art s’approche de la scénographie. Toutefois, nous devons reconnaître que ces installations en sont bel et bien et que c’est justement grâce à leurs qualités propres qu’elles agissent d’une manière spécifique sur le récepteur et qu’elles ont un apport singulier à l’ensemble. L’action n’aura pas lieu dans ces salles; l’espace […] est ‚parcouru et vécu par le spectateur comme un site‘. Il l’observe, le visite. L’action n’est que virtualité. En cela, l’installation n’est pas encore théâtre.35

Einerseits unterstreicht sie hier die formale Nähe zwischen Installation und Bühnenkunst und hebt auch die Bedeutung der ersten drei Räume für ein räumliches Wahrnehmen des Zuschauers innerhalb des gesamten Perzeptionsprozesses der Inszenierung hervor, andererseits aber spricht sie der Erfahrung des Publikums in den ersten drei Räumen den theatralen Charakter ab, weil sich hier noch keine Handlung vollziehe, weil das Publikum den Raum nur betrachtend durchlaufe. Damit nimmt Vigeant eine Trennung der verschiedenen (räumlichen) Etappen der Inszenierung vor, die Maheus Konzeption einer ganzheitlichen Erfahrung des Publikums im Sinne eines Gesamtkunstwerks entgegensteht. Anders als Vigeant hier postuliert, müssen die Installationen, die Textfragmente und Bilder sowie die Musik, mit der die Zuschauer konfrontiert werden, bevor sie im vierten Raum um eine Bühne herum Platz nehmen, als Bestandteil der Inszenierung und damit des Theaters begriffen werden. Gerade in der Gegenüberstellung der drei musealen Räume mit dem Theaterraum offenbart sich Maheus Konzept von Theater als einem intermedialen Gesamtkunstwerk. Die Installationen der drei ersten Räume bilden sozusagen die Voraussetzung für die dann folgende ‚Aufführung‘ des gesamten Textes Müllers, ohne die sich ein Verständnis der Inszenierung nur sehr viel schwerer herstellen ließe. Dem Zuschauer wird hier die Rolle eines aktiven Rezipienten zuteil, weil er körperlich in die Inszenierung integriert wird und Intermedialität ereignet sich als ein bipolarer performativer Akt, der auf der Bühne und auf der Seite des Publikums verortet ist. Durch die Begehbarkeit der Installationen, durch die Möglichkeit, im ersten Raum hinter die Mauer bzw. durch diese hindurch zu schauen, ist das Publikum aufgefordert, sich sein Sehen und Wahrnehmen bewusst zu machen und Maheus Assoziationen in Bezug auf Müllers Text, nämlich die voyeuristische Teilhabe an Geschichte selbst zu vollziehen. Aufgrund des fragmentarischen Charakters aller in den ersten drei Räumen ausgestellten Objekte beginnt der Reflexionsprozess, die Suche nach Zusammenhängen und nach einem möglichen roten 35 Vigeant (1997): 59 (Hervorhebungen im Original). 230

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Faden, noch bevor die Zuschauer im letzten Raum mit dem vollständigen Text Müllers konfrontiert werden, zu dessen Inszenierung sie ins Museum gekommen sind. Diese hybride Form theatraler Wahrnehmung, die den Rahmen des Theaters, den Rahmen der Proszeniumsbühne und ihre als Demarkationsgrenze fungierende vierte Wand sprengt, übersetzt Maheus Verständnis von Theater als einer hybriden Kunstform, die Skulpturen, Körper, Musik, Tanz und Text vereint und zueinander ins Verhältnis treten lässt. Profitant pleinement de l’espace du musée qu’on avait mis à sa disposition, il a parfaitement réussi l’œuvre multidisciplinaire, en proposant aux spectateurs un itinéraire à travers divers installations, cette forme contemporaine d’art visuel, hybride de la sculpture et de la peinture (de la scénographie), qui modifie les habitudes de perception en intégrant les visiteurs qui peuvent s’y immiscer.36

Wie Maheu selbst beschreibt Vigeant dieses Vorgehen als „hybrid“ und „multidisziplinär“, versteht seine Ästhetik aber eher als multi- denn als intermedial in dem Sinne, dass Theateraufführung und Installationen zeitlich aufeinander folgen und nur in einem losen Beziehungsgefüge zueinander stehen. Tatsächlich scheint der Einsatz von technischen Fremdmedien und anderen künstlerischen Darstellungsformen im Theater Maheus eher dem Konzept der Multimedialität als einer Kombination unterschiedlicher Darstellungsmittel zu entsprechen. Intermedialität in einem engen Verständnis des Begriffs, nach dem in einem Medium die ästhetischen Konventionen und Sehgewohnheiten eines anderen Mediums realisiert werden, wie es etwa für das Theater Robert Lepages charakteristisch ist, liegt hier nur bedingt vor. Hinsichtlich einer Definition von Intermedialität im Theater offenbart die Inszenierung Maheus genau jenes Phänomen, das Kati Röttger für die Integration fremder medialer Darstellungsformen im Theater problematisiert hat, nämlich die Tatsache, dass sich an den durch diese Medien vermittelten Botschaften eben nicht die spezifischen Spuren des Mediums Theater bewahren, sondern die des jeweiligen Mediums selbst.37 Der Akt der Formumwandlung, den Krämer in Anlehnung an Niklas Luhmann als konstitutiv für Intermedialität beschreibt,38 vollzieht sich hier nicht am Medium, sondern in der Art und Weise der Perzeption desselben, nämlich in diesem Fall im Kontext 36 Vigeant, Louise (1990): „Rivage à l’abandon.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 55, 137-141, hier 140. 37 Vgl. Röttger (2003): 175 sowie das Kapitel ‚Medien, Medialität, Intermedialität – Zum Medienbegriff des Theaters‘. 38 Vgl. Krämer (1998b) sowie das Kapitel ‚Verkörperung und Transformation – Zur Funktionsweise von Medien‘. 231

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seiner Wahrnehmung im Theater. Das Publikum ist in dieser Inszenierung die Instanz, die durch die kombinierende Lektüre aller Bestandteile der Inszenierung eine Wahrnehmung von Intermedialität überhaupt erst herstellt und im Akt der Wahrnehmung das Phänomen der Formumwandlung vollzieht. Um jener besondern Ontologie des Theaters, fremde Medien unter Beibehaltung ihrer jeweiligen Darstellungsmodi integrieren zu können Rechnung zu tragen, hat Christopher Balme den Begriff des Theaters als „Rahmenmedium“ eingeführt. Der Begriff des Rahmens referiert dabei sowohl auf den materiellen Bühnenrahmen der klassischen Proszeniumsbühne als auch als soziologische Kategorie auf ein bestimmtes Bezugssystem, nämlich in diesem Fall das Theater. Im Bewusstsein, eine Theateraufführung zu sehen, kann der Zuschauer also unterschiedliche Zeichensysteme im Kontext eines diese rahmenden Bezugssystems rezipieren, sie also ins Verhältnis zum System Theater setzen.39 Auf eben jene Rahmenkategorie Theater nimmt Maheus Inszenierung immer wieder Bezug, und das in mehrfacher Hinsicht: Zum einen, weil das Publikum die multimedialen Installationen zu dem Stück, zu dessen Aufführung es zusammengekommen ist, in Relation setzt bzw. versucht, eine mögliche inhaltliche Verbindung zwischen den Bildern, Textfragmenten und den Assoziationen, die die Objekte in ihrer Kombination bei ihm wecken, herzustellen. Zum zweiten, weil eine Vielzahl der evozierten Themen und der in den ersten drei Räumen gesehenen Gegenstände auf der Bühne des vierten Raums wieder auftauchen werden, und drittens, weil andere ausgestellte Objekte es ihm erlauben, eine direkte Beziehung zum Theater als Kunstform herzustellen: Auf einer grünen Schultafel, die schon in Le Dortoir, einer früheren Inszenierung Maheus, ein wichtiges Bühnenrequisit darstellte, liest es ein weiteres Textfragment aus dem Werk Heiner Müllers; an den Wänden sind einige Theatersessel befestigt, die den Zuschauer zum Verweilen einladen, die aber auch seine Rolle als (Theater-)Zuschauer hervorheben, ebenso wie ein roter Samtvorhang auf das Dispositiv eines klassischen Theatersaals anspielt. Maheu zitiert hier frühere Arbeiten und setzt gleichzeitig einen weiteren Assoziationsprozess in Gang. Die grüne Tafel erinnert an Schule, damit an Kindheit und an Vergangenheit und steht so für Erinnerung im Allgemeinen, aber auch für die Erinnerung an ein vergangenes Theaterprojekt. Der auf der Tafel lesbare Text ist ebenfalls ein Erinnerungstext, in dem sich Müller mit dem Verrat an seinem Vater vor dessen Abtransport durch die Nazis auseinandersetzt. Der rote Vorhang und die klassischen Theatersessel evozieren Theater und stehen gleichzeitig für eine Theatertradition und Ästhetik, die der Maheus ebenso kontrastiv gegenübersteht wie den Texten Müllers, denen Maheu hier Raum gibt und 39 Vgl. das Kapitel ‚Intermedialität als (theatraler) Wahrnehmungsmodus‘. 232

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die er in einem vollständig anderen Verständnis von Theater inszeniert. Auf dem Weg in den Raum, in dem die eigentliche Aufführung stattfinden wird, wird der Zuschauer also Schritt für Schritt mit den Themen konfrontiert, die die Hauptachsen der Inszenierung Maheus bestimmen werden: Es geht um Gewalt und Erinnerung, um Mythos und Geschichte, um Verrat und Zerstörung und um eine Art und Weise der Darstellung, die Theater neu wahrnehmbar werden lässt. Ohne dass die Sinnachsen explizit zueinander in Beziehung gesetzt werden oder sie eine konkrete Aussage hinsichtlich des zu erwartenden Stücks liefern würden, können sie als Hinweise für eine mögliche inhaltliche wie formale Entschlüsselung des vielschichtigen Texts Müllers sowie Maheus theatraler Umsetzung dienen. Im letzten Raum kann sich das Publikum an drei Seiten einer rechteckigen, ebenerdigen Spielfläche platzieren. Die Bühne wird diagonal von einem Gepäckband geteilt, das an die Mauer aus dem ersten Raum und die Eisenbahnschienen aus dem zweiten Raum erinnert. In einer durch das Rollband abgetrennten Ecke sind Musiker platziert. Die Rückwand der Bühne bildet eine große Projektionsfläche, die vollständig von hohen Zeitungsstapeln umrandet wird und räumlich versetzt jenen Rahmen präsentiert, den Maheus Theater bis hierhin schon auf doppelte Weise, nämlich durch die Ausweitung der Inszenierung in die Museumsräume und durch die Öffnung der Bühne zu drei Seiten, überschritten hat. Während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, sitzen die Darsteller schon mit abgewandten Gesichtern im Raum verteilt, einige auf Koffern, einige auf dem Gepäckband, andere stehen unbeteiligt vor der Videowand, die Inszenierung scheint schon begonnen zu haben. So, wie die Musik des Cellospielers aus dem zweiten Raum schon zu hören war, als sich Teile des Publikums noch im ersten Saal befanden, dient diese Situierung der Schauspieler auf der Bühne der Forderung Müllers nach der Gleichzeitigkeit seiner Textteile und belegt ein weiteres Mal, dass die Installationen integraler Bestandteil der Inszenierung sind. Der erste Satz, der gesprochen wird, bevor die Darsteller mit der Rezitation des Texts Verkommenes Ufer beginnen, lautet: „Ils traînent dans le métro visages de papier journal et de salive.“ Die Replik scheint auf das Dekor der Bühne anzuspielen und gleichzeitig als Anknüpfungspunkt zum ersten Raum der Installationen zu fungieren: Die Präsenz der Zeitungen wirkt wie eine Wiederholung des Aktualitätsbezugs der mit Zeitungen tapezierten Mauer, das Wort „visage“ verweist auf Anonymität, ein Aspekt, den Maheu durch weitere Zeichen der Inszenierung verstärkt. Die Darsteller sprechen in dieser Eröffnungsszene kurze Texte aus Annoncen und Inseraten wie Stellengesuche, Arbeitsangebote und vor allem Kontaktanzeigen, in denen sie sich als Menschen auf der Suche nach

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verwandten Seelen präsentieren. Unterlegt werden diese ersten Repliken von Tonbandeinspielungen, auf denen Lautsprecheransagen eines Flughafens zu hören sind, Ankunfts- und Abflugszeiten bekannt gegeben und Reisende und Personal per Lautsprecher ausgerufen werden. Die Lokalisierung des ersten Teils des Texts auf einem Flughafen hatte sich schon durch das Gepäckband angedeutet und wird nun neben den akustischen Hinweisen auch durch die Projektion eines abhebenden Flugzeugs sowie einer Anzeigentafel bestätigt. Maheu präsentiert den Flughafen hier als einen Ort des Ankommens und Wiederfindens, aber auch als Ort des Abschieds und des Aufbruchs, der Anonymität, Einsamkeit und Exil konnotiert.40 Die gesamte Szenerie ist in ein kühles, blau-graues Licht getaucht, das die emotionale Kälte und Anonymität des Orts visuell erfahrbar macht.

Rivage à l’abandon (Abb. 10) Eine der Darstellerinnen platziert sich im vorderen Bereich der Bühne auf ihrem Koffer und beginnt, auf einer mitgebrachten Geige zu spielen. Die Töne, die sie produziert, sind aber nicht melodisch, sondern nur ein schrilles Kratzen der Saiten. Eine andere Schauspielerin rezitiert nun auf dem Gepäckband sitzend in französischer Sprache und begleitet von leiser Musik Müllers Text Verkommenes Ufer. Währenddessen bewegen sich die übrigen Darsteller langsam im Raum, nehmen Gepäckstücke auf, stellen sie ein Stück weiter wieder ab, setzen sich darauf und stellen so das geschäftige Treiben einer Abflughalle dar. Eine Videokamera filmt die Bewegungen der Bühne und projiziert simultan einige Ausschnitte sowie Nahaufnahmen der einzelnen Gesichter auf die Leinwand. Die 40 Vgl. Vigeant (1990): 139. 234

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Menge der Menschen scheint sich so zu vervielfachen, die kurzen CloseUps ihrer Gesichter suggerieren Privatheit, können aber die Namenlosigkeit der einzelnen Figuren nicht kaschieren. Die Darstellerin, die den Text Müllers spricht, beginnt anschließend, die gleiche Partie singend zu wiederholen, dieses Mal in deutscher Sprache. Die anderen Darsteller führen ihre Bewegungen fort, zentrale Figur des Bühnengeschehens ist aber in beiden Sequenzen die Schauspielerin, die mit lauter Stimme den Text singt und spricht. Während der gesamten Dauer des Monologs ist das Rollband in Bewegung und wirft alte und staubige Koffer sowie andere Gepäckstücke auf die sandige Erde. Kurz vor Ende des Texts fokussiert ein Scheinwerfer eine verhüllte Gestalt, die unbewegt in der Nähe des Gepäckbandes gesessen hat. Als die Sängerin mit den Versen „Auf dem Grund aber Medea den zerstückten Bruder im Arm Die Kennerin der Gifte“41 endet, ziehen andere Darsteller der Gestalt den Schleier vom Kopf: Maheus Medea präsentiert sich als eine ganz in schwarz gewandte Figur mit weißem, maskenhaften Gesicht, anonym und austauschbar wie der Ort, an dem sie auftaucht, keine archetypische Medea, sondern ein Passepartout für jede Frau. Medea und ihre Geschichte werden bei Heiner Müller und in der Inszenierung Maheus zum Topos des Verrats und der Unterwerfung der Frau schlechthin. Der zweite Teil der Trilogie beginnt mit der Projektion des Titels in deutscher und französischer Sprache. Medea verharrt zunächst regungslos an ihrem Platz, die übrigen weiblichen Darsteller tragen nun wie Medea schwarze Gewänder, haben weiß geschminkte Gesichter und reihen sich an den Seiten der Spielfläche auf. Drei Kinder kommen auf die Bühne, zwei kleine Jungen und ein Mädchen, die mit einem Kinderfahrrad spielen und einander hinterherlaufen. Die Jungen tragen Uniformjacken und Hosen, die an die Kleidung der Hitlerjugend erinnern; das Mädchen trägt einen weißen Kapuzenpulli und hat dunkles Haar – eine kleine Medea vielleicht. Begleitet von leiser Musik laufen sie im Zentrum der Bühne um einen sich langsam senkenden Kronleuchter herum, den sie schließlich auf dem Boden platzieren und dessen Kerzen sie anzünden. Der erste Teil des Texts Medeamaterial ist ein Dialog zwischen Medea, der Amme und Jason, in dem von Jasons Verrat und seiner neuen Liebe zur Tochter Kreons die Rede ist; dann folgt ein langer Monolog Medeas, in dem sie Jasons Verhalten anklagt und ihre Rache ankündigt. Die drei Kinder sprechen und spielen nun diesen ersten Teil des Texts, Männer mit Fackeln in der Hand stürmen die Bühne, einer kämpft gemeinsam mit den Kindern mit einem kleinen Schwert und hält die Jungen schließlich in seinen Armen. Die Szene erhält durch die Kostümierung sowie durch die Fokussierung der Kinder auf den männlichen Darsteller, 41 Verkommenes Ufer: 467. 235

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eine Jasonfigur, eine doppelte Bedeutung: Auf der einen Seite zeigt Maheu hier den Widerstreit zwischen Medea und Jason um ihre gemeinsamen Kinder, auf der anderen Seite wird durch die Kostümierung der Kinder ein direkter Bezug zum Faschismus und zur deutschen Geschichte hergestellt. Die Kinder werden als Opfer einer Ideologie dargestellt, deren Leitfigur Jason ist. Es scheint, als hätte Maheu hier den Satz Medeas, „Schauspieler seid ihr Kinder des Verrats“42 wörtlich genommen. Die Entscheidung Maheus, diese Szenen zuerst von den Kindern spielen zu lassen, akzentuiert so seinen Fokus auf das Thema des Verrats, dessen brutales Opfer die beiden Jungen sind. Nach dieser kurzen, sehr belebten Sequenz wiederholt die erwachsene Medeafigur noch einmal den gesamten Text, der männliche Darsteller, der vorher mit den Kindern spielte, übernimmt jetzt die wenigen Repliken Jasons, der Text der Amme wird von den übrigen weiblichen Darstellern, die am Rand der Bühne platziert sind, chorisch gesprochen. Das Kernstück des Textes bildet der Monolog Medeas, in dem sie ihre Wut und Verzweiflung über ihr Schicksal entfaltet und den Mord an Glauke und ihren Kindern plant. Während die Medeadarstellerin mit ausdrucksvoller Stimme, aber fast regungslos und ohne Körpersprache den Text rezitiert, deuten kleine Handlungssegmente, die von den anderen Darstellern vollzogen werden, Details des Textes szenisch an. So liegen die beiden Jungen, als Medea Jason bitte, ihr die Kinder noch einen Tag zu lassen, um so ihre Rache ausüben und ihren Plan realisieren zu können, mit weißen Flocken bedeckt auf dem Boden. Die Kinder stellen das Opfer des Konflikts ihrer Eltern dar, bevor Medea den Mord überhaupt begangen hat. Ihre mit Staub bedeckten Körper erinnern an die Bilder der Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs und vermitteln gleichzeitig ein generelles Bild von Leblosigkeit und Tod. Während Medea von dem Hochzeitskleid spricht, in dem ihre Rivalin verbrennen soll, kleiden andere Schauspieler das kleine Mädchen in ein weißes Kleid. Auf die Videoleinwand werden Flammen projiziert, die den angekündigten Feuertod Glaukes visualisieren. In der gesamten Sequenz transportiert das Gepäckband reglose Körper, die an dessen Ende auf den Boden fallen und übereinander liegen bleiben. Am Schluss des Monologs, als Medea vom qualvollen Tod der neuen Braut Jasons spricht, wird ihre Stimme mit schriller Musik unterlegt, die die Schreie der brennenden jungen Frau evoziert. Der zweite Teil endet mit der Ankündigung, dass nun das Ende Korinths gekommen sei („das war Korinth“43), von der Decke baumelt ein rot glühender Gegenstand, der sowohl auf die im Feuer sterbende Glauke als auch auf das blutende Schaf, auf das goldene Vlies hindeutet. 42 Ebd.: 469. 43 Ebd.: 471. 236

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Jason schreit anklagend den Namen Medeas, ein Moment absoluter Stille folgt und Medea antwortet darauf fragend, an die Amme gerichtet: „Nourrice, connais-tu cet homme?“44 Der dritte Teil beginnt in dieser Szenerie des Todes und der Vernichtung, auf dem Rollband liegen reglose Körper neben Gepäckstücken. Eines der Kinder bläst die Kerzen aus, Jason hebt die vom Rollband transportierten Körper auf, auf der Videoleinwand erscheinen Landschaftsaufnahmen, die in ein gräulich-diffuses Licht getaucht sind. Einige der auf dem Band liegenden Darsteller haben sich inzwischen aufgerichtet und versuchen, gegen die Transportrichtung anzulaufen, was ihnen aber nicht gelingt und sie schließlich wieder auf den Bode zurückwirft. Die Projektionswand zeigt jetzt Kriegsbilder, man sieht fallende Bomben und Häuserruinen, dann werden diese Sequenzen durch in Realzeit gefilmte Bilder des Bühnengeschehens überblendet. Es folgt die Projektion eines Textfragments aus Heiner Müllers Stück Der Auftrag, man sieht Wüstenbilder, eine Höhlenmalerei und immer wieder einfache, gelb-orange leuchtende Farbflächen. Eine Darstellerin sitzt auf dem jetzt stillstehenden Rollband und rezitiert den dritten Teil Landschaft mit Argonauten. Die übrigen Schauspieler sitzen hinter ihr aufgereiht auf dem Transportband und imitieren die Ruderbewegung von Sklaven einer Galeere, nach einigen Minuten verlassen sie dann die Bühne, und eines der Kinder steht nun neben der Sprecherin, die im zweiten Teil Medea darstellte. Ihr Gewand ist zerrissen und mit Staub bedeckt, die Schminkmaske verwischt, alle Zeichen der Bühne verweisen auf Krieg und Zerstörung, auf Verfall und Hoffnungslosigkeit. Die Körper auf dem Gepäckband evozieren Leichen, die staubbedeckten Kleider erinnern an die erbärmlichen Lebensumstände während des Kriegs. Einige der Videobilder unterstreichen diese Lesart, andere, wie etwa die Sonnenuntergänge oder die Wüstenbilder, die in der Ferne schreitende Tiere zeigen, scheinen die Fatalismusvision des Texts und der Bühnenausstattung wieder zurückzunehmen, und das, obwohl es sich um Bilder handelt, wie Louise Vigeant bemerkt, „où l’homme est significativement absent.“45 Mit Gesang und leiser Musik unterlegt endet der letzte Teil mit der Projektion eines leuchtend gelben Sonnenbilds, das Wärme und Zuversicht, Leben und Neuanfang evoziert, während die letzte Textsequenz diese Idylle abermals bricht: Le théâtre de ma mort Avait déjà commencé quand j’étais entre les montagnes Entouré de mes compagnons tués sur cette pierre Et au-dessus de moi apparut l’avion tant attendu 44 Ebd. 45 Vigeant (1997): 62. 237

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Sans y penser je savais Que cette machine était Ce que mes grand-mères avaient appelé Dieu Le souffle balaya les cadavres de la plate-forme Et des coups de feu éclatèrent dans ma fuite titubante Je sentis MON sang sortir de MES veines Et MON corps devenir le paysage De MA mort ME TIRER DANS LE DOS LE PORC46

Nach der collagenhaften Kombination und Überlagerung von Szenen, die mythologische und historische Aspekte des Texts andeuten und so den Palimpsestcharakter des Schreibens Heiner Müllers szenisch umsetzen, präsentiert das letzte Textsegment, das sowohl gesprochen als auch in schriftlicher Form auf die Leinwand projiziert wird, dieses Bild größter Desillusionierung. Landschaft mit Argonauten sagt „die Katastrophen voraus, an denen die gegenwärtige Menschheit arbeitet“47, schreibt Müller in der Szenenanweisung des Stücks, und, als wolle er sein Publikum ob dieser drohenden Todesszenerie warnen, als wolle er dessen Bewusstsein für diesen prognostizierten Verfall schärfen, projiziert Maheu eine weitere Anweisung Müllers auf die Videoleinwand: „Comme dans tout paysage, le ‚je‘ dans cette partie du texte, est collectif.“48 Maheus Inszenierung antwortet auf den fragmentarischen Charakter der Schreibweise Müllers mit einer szenischen Umsetzung, die in keiner Weise versucht, den hermetischen Text durch eine Visualisierung seiner Bilder aufzubrechen. Ebenso wie der Text eine Vielzahl disparater Assoziationen weckt, stellt Maheu diesen Skizzen eine Montage aus diskontinuierlichen und hybriden Bildfragmenten gegenüber. Dabei sind diese Bilder fast nie illustrativ, sondern übersetzen nur einzelne Aspekte der im Text evozierten Themen in eine visuelle Sprache, in ein Versatzstück aus szenischem Spiel, Musik, Gesang und Videobildern. Im Hinblick auf eine intermediale Ästhetik der Theatersprache Maheus sind es dabei weniger die technischen Bilder, die die mediale Hybridität der Bühne ausmachen, als der multimediale und interdisziplinäre Charakter der gesamten Produktion. Die Verwendung unterschiedlicher künstlerischer Darstellungsmittel muss in engem Zusammenhang mit den Erfordernissen gesehen werden, die die Texte Müllers an das Theater stellen. Hierzu bemerkt Katharina Keim, dass „Heiner Müllers dramatische Schreibweise [...] spätestens seit den späten siebziger Jahren von dem provokativen An46 Verkommenes Ufer: 474; frz. Textfassung zitiert nach Vigeant (1997): 60f. 47 Ebd.: 475. 48 Ebd. 238

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spruch geprägt [ist], dass Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten.“49 Durch die Opazität und Dichte seiner Texte fordert er eine Reliterarisierung der Bühne, der eine fundamentale Kritik des abendländischen Repräsentationssystems und des auf diesem Modell basierenden Bildertheaters zugrunde liegt.50 Ebenso wie sich die Diskurse seiner Tex49 Keim (1997): 86. 50 Müllers Kritik richtet sich auf ein Verständnis von Theater als Distanz schaffendes Orientierungsmodell im Dualismus einer internen Welt- bzw. Theateraktion und einem externen Beobachterstatus (Gottheit, Erkenntnisinstanz, Zuschauer) und dessen Umsetzung im europäischen Theater des 17. und 18. Jahrhunderts mit seinem aus der Malerei entlehnten Ideal des Bühnentableaus. Während die Schauspieler in diesem Modell hinter ihre Rollenfiguren zurücktreten und damit identifikatorische Handlungsmuster repräsentieren, über die die Subjektkonstitution des Zuschauers erfolgt, unterwandert Heiner Müllers Ästhetik dieses Denkmodell durch gezielte Veränderungen der dramatischen und theatralen Kommunikationsstruktur. Kanonisierte literarische Diskurse werden einer kritischen Relektüre unterzogen und die ihnen inhärenten Prämissen als diskursive Formationen entlarvt, die in unseren Mechanismen der Bedeutungsproduktion und Subjektkonstitution wirksam werden. (Vgl. ausführlicher Keim (1997)). Bühnenästhetisch findet dieses Modell seine Entsprechung in der Tableautheorie des 18. Jahrhunderts, nach der die Bühne wie ein Gemälde einem Kompositionsprinzip unterworfen ist, das durch ein diskursiv bestimmtes Ausschlussverfahren dem Betrachter einen abstrakten Zusammenhang auf den ersten Blick erschließbar macht. Zeitgenössische Theatermacher wie Achim Freyer, Jan Fabre oder Robert Wilson haben in Analogie zu diesem gestalterischen Prinzip seit den 1970er Jahren ein neues Bildertheater entwickelt, dem eben jene Bildvorstellung des 18. Jahrhunderts zugrunde liegt und das als Antwort auf das Scheitern des Sprechtheaters und der Macht des Wortes zu verstehen ist, mit dem Unterschied aber, dass dieses neue Bildertheater den Prozess der Sinngebung durch bewusste Brechungen offen zu legen versucht. (Vgl. hierzu auch Heeg, Günther (1998): „Die Provokation der poésie muette. Das zeitgenössische ‚Theater der Bilder‘ und die Tableautheorie des Theaters.“ In: Brandstetter, Gabriele/Finter, Helga/Weßendorf, Markus (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste. Tübingen: Gunter Narr, 147-155.) Die Texte Heiner Müllers und die darin entworfenen Bilder enthalten jene Störungen, auf die das Bildertheater zielt, schon auf textueller Ebene und erschweren die theatrale Umsetzung seines Werks vor allem deswegen, weil die visuelle Umsetzung dieser komplexen und höchst heterogenen Sprachbilder das Theater an seine darstellerischen Grenzen bringt. (Vgl. Heeg, Günther (1987): „Das Theater der Auferstehung. Vom Ende der Bilder und von ihrer Notwendigkeit im Theater Heiner Müllers.“ In: TheaterZeitSchrift 20, 61-74 sowie das Kapitel ‚Peau, chair et os‘.) 239

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te kaum mehr als Äußerungen dramatischer Charaktere beschreiben lassen, wie es die Vervielfachung der Medeafigur in Maheus Inszenierung zeigt, sind seine Bildmetaphern nur schwer in eine szenische Handlung übersetzbar. „Seine [...] Texte versuchen, die Bildhaftigkeit des Theaters in den Theatertext zurückzunehmen“51, resümiert Ulrike Haß, und Günther Heeg ergänzt, dass „jede Inszenierung von Müllers Stücken misslingen wird, die nicht die Konsequenz dieser Zurücknahme der dramatischen Handlung und der dramatischen Personen in den Text bedenkt.“52 Maheu trägt diesen Herausforderungen des Texts durch eine Herausarbeitung der zentralen Denkachsen Rechnung, die er dem Zuschauer mittels der verschiedenen Zeichen und Darstellungsformen nahe bringt und die ein Interdependenzsystem zwischen den in Müllers Text evozierten Themen und seiner eigenen Lesart schaffen. Die Rauminstallationen ermöglichen losgelöst von dem später zu den ausgestellten Objekten ins Verhältnis tretenden Bühnensequenzen eine erste Auseinandersetzung mit Maheus eigenen Assoziationen. Sie eröffnen einen Verständnisansatz, vor dessen Hintergrund die szenische Umsetzung im vierten Raum dem Publikum eine subjektive, seinen persönlichen Assoziationen folgende Rezeption des komplexen und schwer erschließbaren Texts Müllers anbietet. Die unterschiedliche Materialität der verwendeten Darstellungsmittel kommt dabei der Heterogenität der von Müller evozierten Bilder entgegen und verhindert gleichzeitig eine Amalgamierung in eine einheitliche visuelle Oberfläche der Inszenierung. Ces textes étaient là pour que le spectateur puisse, à son rythme et dans l’ordre qui lui convenait, les lire, par bribes, les relire, les mettre en rapport avec les objets placés là eux aussi pour être lus. Certes, les textes de Müller sont plus poétiques que dramatiques, et parfois hermétiques (mais l’opacité peut être plus stimulante que la facilité), et l’on n’a pas l’habitude d’un tel lyrisme au théâtre, mais Maheu justement a eu la belle idée de réunir l’expérience du lecteur, plus intime, plus autonome d’une certaine manière, et celle du spectateur.53

Eingedenk der Spuren, die das jeweilige Medium an seinen Botschaften hinterlässt, tragen die unterschiedlichen medialen Darstellungsmittel zu einer höchst komplexen und differenzierten Rezeption des vielschichtigen Werks Heiner Müllers bei. Zahlreiche Ansätze Maheus, die in den

51 Haß, Ulrike (1997): „Die Frau, das Böse und Europa. Die Zerreißung des Bildes im Theater von Heiner Müller.“ In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Heiner Müller. München: Edition Text & Kritik 73 (2.Aufl.), 103-118, hier 103. 52 Heeg (1987): 66. 53 Vigeant (1990): 140. 240

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ersten drei Räumen auf eine mögliche Lesart des müllerschen Texts verweisen, basieren auf der medialen Art und Weise ihrer Codierung. Über zwei Photographien Marilyn Monroes und der sich aus den medientheoretischen Implikationen dieser Bilder ergebenden Ontologie lässt sich Maheus Fokus auf die Rolle der Frau als das fremde, unheimliche und letztlich den Mann bedrohende Wesen, aber auch ihr Schicksal als Opfer erschließen. Über den auf eine mit Zeitungssausschnitten tapezierte Mauer geschriebenen Titel des Stücks zeigt sich Müllers Verständnis von Literatur, Geschichte und Mythos als einem Palimpsest, dessen Schichten sich gegenseitig durchdringen, dabei immer wieder an die Oberfläche geraten und so neue Bezugspunkte eröffnen. Einer jener Bezugspunkte ist für Maheu die jüngste deutsche Geschichte, symbolisiert durch jene Mauer, hinter der sich die Assoziationen des Regisseurs in Form von Filmdokumenten verbergen. Erst über den Akt des (Zu)Schauens im Sinne eines unbeteiligten Geschichtsvoyeurismus werden diese Dokumente dem Publikum zugänglich, ebenso wie es die Teilung des zweiten Raums durch die Eisenbahnschiene nicht nur visuell wahrnimmt, sondern, um in den dritten Raum zu gelangen, mittels der körperlichen Überwindung der Barriere diese auch selbst erfährt. Die Art und Weise der Wahrnehmung in den ersten drei Räumen basiert in erster Linie auf einer aktiven Teilnahme des Publikums im Sinne seines körperlichen Eintretens in die Inszenierung, während der zweite, szenische Teil den nun passiv betrachtenden Zuschauer durch die Kombination von Text, Gesang, szenischen Bildern und Videoeinspielungen in all seinen Sinnen anspricht, ihn durch das kraftvolle Spiel der singenden, schreienden, springenden und laufenden Körper im Sinne eines körperlichen Ausdruckstheaters energetisiert und ihn in eine medial-hybride Welt disparater Zeichen entführt. Bezugskategorie dieser medial höchst heterogenen und hybriden Ansammlung künstlerischer Ausdrucksmittel bleibt dabei das Theater im Sinne eines Rahmenmediums, das diesen Rahmen als Demarkationsgrenze zwischen Schauraum und Spielfläche beständig in Frage stellt und überschreitet, und das in praktischer Hinsicht durch die Ausweitung des theatralen Raums auf die Museumssäle und im metaphorischen Sinn durch die affektive Übertragung der Bühnenenergie auf das Publikum. Wenn Katharina Keim in Bezug auf die Herausforderungen der Texte Müllers resümiert, dass „die theatrale Umsetzung einer solchen Wirkungsästhetik die Bühne zu einem Überdenken ihrer Darstellungsmittel auffordert“ und dies mit einem Zitat Müllers belegt, nach dem „der Text nicht als Mitteilung, als Information“ transportiert werden dürfe, sondern „eine Melodie sein muss, die sich frei im Raum bewegt“, und „der Kopf

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nicht ins Theater gehört, weil man dann keine Erfahrungen macht“54, dann scheint Müllers Werk in Maheus Theater genau jenen Ort gefunden zu haben, an dem das Theater zum Rahmen für einen Dialog zwischen Körpern und Künsten wird.

Peau, chair et os Nach Rivage à l’abandon (1990) inszeniert Gilles Maheu im folgenden Jahr mit Peau, chair et os Heiner Müllers Text Bildbeschreibung55 und führt dabei formal sowohl die multidisziplinäre Konzeption von Rivage à l’abandon im Sinne eines medial-hybriden, zwischen Installation und Theater oszillierenden Bühnenwerks fort, als er auch die Idee des (Theater-)Rahmens, den Rivage à l’abandon in vielerlei Hinsicht überschritten und durchbrochen hat, wieder aufnimmt. „Au point d’usure où notre sensibilité est parvenue, il est certain que nous avons besoin avant tout d’un théâtre qui nous réveille: nerfs et cœur.“56 Mit diesem Zitat aus Antonin Artauds Theater der Grausamkeit beginnt Yves Jubinville seine Kritik der letzten Müller-Inszenierung Gilles Maheus und hebt damit den explosiven Charakter der Produktion, die Energie, die von dieser Bühne ausgeht, und das Übermaß der Bilder hervor, das sowohl das Publikum als auch das System Theater selbst im Wortsinn erschüttert. Der von Maheu gewählte Titel für seine szenische Umsetzung von Bildbeschreibung bezieht sich auf die Terminologie des Nô-Theoretikers Zeami, der mit diesen Begriffen drei verschiedene, im Nô-Theater konvergierende Bereiche des körperlichen Ausdrucks beschreibt, nämlich mit peau die visuelle Komponente, mit chair das Hören und die Bewegungen des Tanzes und mit os den Geist.57 Genau jene Facetten der Wahrnehmung akzentuiert auch die Ästhetik Maheus, dessen Theater in erster Linie ein Theater der Körper ist, deren Kraft und Bewegung er in Peau, chair et os mit einer Vielzahl von Bildmedien, die auf verschiedenen Ebenen zueinander ins Verhältnis treten, in einem höchst komplexen Theatertableau konfrontiert. Im Unterschied zum Nô, wo alle Elemente miteinander konvergie54 Keim (1997): 100. (Das Zitat Heiner Müllers stammt aus einem Gespräch des Autors mit Frank Raddatz; vgl. auch Müller, Heiner (1990): „Stirb schneller Europa.“ In: Ders.: ‚Zur Lage der Nation‘. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz. Berlin: Rotbuch, 25-42, hier 38f.) 55 Müller, Heiner (1988a): „Bildbeschreibung.“ In: Fiebach, Joachim (Hg.): Heiner Müller. Stücke. Berlin: Henschel, 477-484 (im Folgenden zitiert als Bildbeschreibung). 56 Jubinville, Yves (1992): „L’épuisement d’un mythe.“ In: Spirale 113, 20. 57 Ebd. 242

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ren, spricht jede dieser medialen Ebenen – Textrezitation, Gesang, LiveMusik, Tanz, Videobilder – eine autonome Sprache und verlagert damit den Akt der Kombination, des interpretatorischen ‚ins Verhältnis Setzens‘ auf die Rezeptionsebene. Damit antwortet Maheu auf die Herausforderungen von Müllers Text, auf die Unmöglichkeit, diese ‚Bildbeschreibung‘, die kein kohärentes Bild beschreibt, sondern ein Tableau, das die Gesetze eines solchen Bildes bricht, in einen theatralen Rahmen zu übersetzen. Aber nicht nur inhaltlich widersetzt sich der kurze Prosatext einer szenischen Bebilderung, sondern schon auf formaler Ebene zeigt diese „Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur“58, wie Müller in der Szenenanweisung schreibt, dass dieses Theater dem Theater im klassischen Sinn Widerstand leistet. So wie Müller sich mit seiner Dramatik dem klassischen Literaturtheater und dessen Inszenierungspraxis des Bildertheaters seit den 1970er Jahren widersetzt, kann auch Maheus Inszenierung als eine Antwort auf dieses von Müller proklamierte „Ende der Bilder“59 und als eine Affirmation der Auflösung des theatralen Rahmens gelesen werden, die sich in einer zunehmenden Hybridisierung der Bühne durch die Integration unterschiedlicher künstlerischer Darstellungsmittel auszeichnet. Müllers Titel ‚Bildbeschreibung‘ erscheint im Vergleich zum Inhalt des Texts dabei als die Karikatur einer theatralen Bildkonzeption, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht und die aus der Malerei entlehnte Vorstellung des Theatertableaus als szenischer Umsetzung des Prinzips der poésie muette aufgreift. In Anlehnung an dieses ästhetische Konzept, das die ‚stumme Beredsamkeit der Bilder‘ als die vollendetste und poetischste aller künstlerischen Darstellungsformen begreift, entsteht im 18. Jahrhundert eine Tableautheorie des Theaters, die die Dominanz des Wortes zugunsten eines Vorrangs des Visuellen reduziert und im unbeweglichen körperlichgestischen Ausdruck das vollkommene Theaterstück sieht. Genau in dem Moment, den der Maler als prägnanten Augenblick auf der Leinwand ‚festhält‘, erstarrt auf der Bühnenszene die Handlung, und Vergangenes und Zukünftiges ordnen sich augenblicklich zum Sinn.60

Indem sich die Schauspieler die in den Gemälden dargestellten Gesten aneignen und sie im stummen Spiel auf der Bühne realisieren, verwirklicht sich die Kraft des Ausdrucks des Gemäldes auch auf der Bühne. Grund hierfür ist die Unterordnung aller Einzelelemente unter ein Kompositionsprinzip, dessen Gehalt sich aber weniger aus der ordnenden Ad58 Bildbeschreibung: 484. 59 Heeg (1987). 60 Ebd.: 64 (Hervorhebung im Original). 243

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dition seiner Einzelteile als aus dem strikten Ausschluss all jener Elemente ergibt, die sich der Bedeutung entziehen oder eine einheitliche Lesart unterwandern. Das Tableau ist nach Roland Barthes „ein [...] reiner Ausschnitt mit sauberen Rändern, der seine ganze unbenannte Umgebung ins Nichts verweist und all das ins Wesen, ins Licht, ins Blickfeld rückt, was er in sein Feld aufnimmt.“61 Genau hierin liegt die Stärke dieser Bilder und gleichzeitig auch ihre Kehrseite, jenes Moment, das Heiner Müllers Theaterbilder aufzubrechen versuchen, nämlich durch Inszenierungen, die durch eine Auflösung des Tableaus gekennzeichnet sind, „durch die „Aufsplitterung des Bildes [...], die ‚Zerstückelung‘ der ‚Komposition‘, die Wanderung der ‚Teilorgane‘ der Figur, kurz, durch die Eindämmung des metaphysischen Sinns des Werkes, aber auch seines politischen Sinns [...].“62 Heiner Müllers Bildbeschreibung beschreibt ein eben solches tableau vivant, das durch seine Auflösung, durch die Sprengung seiner Grenzen und durch die Überschreitung seines Rahmens gekennzeichnet ist. Der Text versetzt den Betrachter (bzw. den Leser) in einen konstanten Zweifel über die Richtigkeit des Gesehenen und der daraus abgeleiteten vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten. Es ist eine Konfrontation zwischen einem Bild und dessen Betrachtung. Formulierungen des Texts wie „bei genauerem Hinsehen“, „vielleicht“ „augenscheinlich“ oder „möglicherweise“ stellen die Sicherheit des Verständnisses und die Korrektheit der Interpretation beständig in Frage – oder, wie Hans-Thies Lehmann zusammenfasst: „Sehen ist vermutendes Lesen, Folgern, das scheinbar Gewisse bleibt ungewusst.“63 Der Text beginnt mit der Skizzierung einer Landschaft, die einem surrealen Gemälde gleicht und Künstlichkeit und Starre vermittelt. Eine Landschaft zwischen Steppe und Savanne, der Himmel preußisch blau, zwei riesige Wolken schwimmen darin, wie von Drahtskeletten zusammengehalten [...] am Horizont ein flaches Gebirge, rechts in der Landschaft ein Baum, bei genauerem Hinsehen sind es drei verschieden hohe Bäume, pilzförmig, Stamm neben Stamm, vielleicht aus einer Wurzel, das Haus im Vordergrund mehr Industrieprodukt als Handwerk, wahrscheinlich Beton: ein Fenster, eine Tür, das Dach verdeckt vom Laubwerk des Baumes, der vor dem Haus

61 Barthes, Roland (1990): „Diderot, Brecht, Eisenstein.“ In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 94-102, hier 95. 62 Ebd.: 96 (Hervorhebungen im Original). 63 Lehmann, Hans-Thies (1989): „Theater der Blicke. Zu Heiner Müllers Bildbeschreibung.“ In: Profitlich, Ulrich (Hg.): Dramatik der DDR. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 186-202, 190. 244

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steht, es überwachsend [...] ein Glaspokal auf einem Gartentisch, halb noch im Schatten der Baumkrone, hält sechs oder sieben Exemplare der zitronenähnlichen Frucht bereit, aus der Position des Tisches, ein grobes Stück Handarbeit, die gekreuzten Beine sind unbehauene junge Birkenstämme, kann geschlossen werden, dass die Sonne, oder was immer Licht auf diese Gegend wirft, im Augenblick des Bildes im Zenith steht.64

Es ist eine Szenerie, die wie ein Ort des Todes anmutet, zunächst ohne menschliches Leben, zum leblosen Bild erstarrt, das Relikt einer verlassenen, ausgedorrten Welt. Die Beschreibung setzt fort mit einem Vogel, „dessen Blick und Schnabel gegen eine Frau gerichtet“65 sind, die die rechte Bildhälfte beherrscht. Ihr Blick ist leer, „als ob er ein Bild nicht vergessen kann oder ein andres nicht sehen will“66, ihre Nase ist geschwollen, ihr Körper und ihre Kleidung tragen Spuren möglicher Gewalt. Ein Mann steht in der Türöffnung des Hauses, „einen toten Vogel am gestreckten Arm mit einem Fleischergriff“67, ein Stuhl mit hoher Lehne steht neben dem Tisch, ein anderer zerbrochen rechts neben dem Baum. Der Grund für diese Verwüstung der Szenerie könnte ein wilder Geschlechtsakt sein oder ein Mord, die Frau ist vielleicht gewürgt oder mit einem Messer verletzt worden. Auch ist die Frau möglicherweise die Gewaltausübende, „der durstige Engel, der dem Vogel die Kehle aufbeißt und sein Blut aus dem offenen Hals in das Glas gießt.“68 Ist die Frau eine Wiedergängerin, ist das „Stahlnetz des Gebirgszugs“ ein „Schutz vor dem Steinschlag, der von den Wanderungen der Toten im Erdinnern ausgelöst wird?“69 Es wird die Idee einer möglichen Auferstehung der Toten entworfen („kehrt die Bewegung sich um, wenn die Toten vollzählig sind, das Gewimmel der Gräber in den Sturm der Auferstehung“70); die Frau könnte eine erste „Kundschafterin der Unterwelt“71 sein, oder eine zurückkehrende Tote. Vielleicht aber ist die ganze Szenerie nur ein nachlässig geschaffenes Kunstwerk, der „Gebirgszug ein Museumsstück“, vielleicht eine Theaterkulisse, „Leihgabe aus einem unterirdischen Ausstellungsraum.“72 Es könnte sich um eine Versuchsanordnung handeln, in der Mann, Frau und Vogel die Probanden sind und in der jeder gegen je-

64 65 66 67 68 69 70 71 72

Bildbeschreibung: 478. Ebd. Ebd.: 478f. Ebd.: 479. Ebd.: 481. Ebd. Ebd.: 482. Ebd. Ebd.: 483. 245

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den kämpft, jeder der Gejagte des Anderen ist. Mord wird als ein Geschlechtertausch beschrieben, die Fremdheit im eigenen Körper als die Gewissheit des Schrecklichen. Dann wird wieder der Blick und die Wahrhaftigkeit des Sehens bezweifelt und nach der Identität des Betrachters gefragt („gehört die fehlbare Aufsicht zum Plan, an welchem Gerät ist die Linse befestigt, die dem Blick die Farben aussaugt, in welcher Augenhöhle ist die Netzhaut aufgespannt, wer ODER WAS fragt nach dem Bild“73). Wer ist das fragende Ich, das sowohl der Mann als auch die Frau und der Vogel sein kann und sich schließlich als ein gefrorener Sturm definiert? Die surreale Landschaftsbeschreibung wird ergänzt durch eine Sphäre von Gewalt und Krieg, das Bild zeugt von Verlassenheit und Tod und die darin situierten Figuren von Zerstörung und Hass. Die Frau ist die ewig Verfolgte und Gedemütigte, das Opfer des Mannes und seiner (sexuellen) Gewalt, aber auch Allegorie des Todes und der ewigen Wiederkehr. Der Mann ist Herrscher und Jäger, Aggressor und Mörder, der Mensch und Natur seiner unterwürfig macht. Gewalt manifestiert sich überall, zwischen Mann und Frau, zwischen Mensch und Tier und auch zwischen Lebenden und Toten, denn die Vision einer Auferstehung wird abgewiesen und als Bedrohung der Lebenden durch die Toten gedeutet. Müllers Text entwirft eine Endzeitszenerie, die das Produkt menschlichen Handelns und des immer wiederkehrenden Kreislaufs der Geschichte ist. Dabei thematisiert er die Unterdrückung der Frau ebenso wie die grundsätzliche Gewalt des Menschen gegenüber Natur und Umwelt und die damit verbundene Zerstörung seines Lebensraums. Dieses Todesszenario einer vom Untergang bedrohten Welt und die Prophezeiung eines unaufhaltsamen Kreislaufs von Gewalt ist ein Grundmotiv Heiner Müllers, das er mit intertextuellen Bezüge zu klassischen Dramentexten sowie zu mythischen Vorlagen durchsetzt. „Bildbeschreibung“, so schreibt Müller in der Szenenanweisung am Ende des Texts, „kann als eine Übermalung der ALKESTIS gelesen werden, die das Nô-Spiel Kumasaka, den 11. Gesang der Odyssee und Hitchcocks Vögel zitiert.“74 Alkestis, die Gemahlin des Admetus, geht freiwillig an Stelle ihres todgeweihten Mannes ins Grab und wird aufgrund ihrer Opferbereitschaft von Herakles wieder aus dem Hades befreit. Müller liest diesen Mythos in seiner ganzen Doppeldeutigkeit, nämlich einmal als Sinnbild für die Frau als ewiges Opfer, das immer wieder den gleichen Tod sterben muss und dem immer wieder Gewalt zugefügt wird („der Mann auf dem Stuhl, die Frau über ihm, sein Glied in ihrer Scheide, die Frau noch beschwert vom Gewicht der Graberde, aus der sie sich herausgearbeitet hat, um den Mann 73 Ebd. 74 Ebd.: 484. 246

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zu besuchen“75), und zum anderen als ein Potential der Umkehrung überkommener Verhaltensmuster („der MORD ist ein Geschlechtertausch, FREMD IM EIGENEN KÖRPER“76).77 Auch das japanische Kamasuka handelt vom Wiedergängertum, es gleicht in seiner kargen Szenerie der Landschaft von Müllers Bildbeschreibung und der 11. Gesang der Odyssee erzählt von der Totenbeschwörung des Odysseus, der Tierblut in einen Graben fließen lässt, um die Toten davon trinken zu lassen. Der Bezug zur Aggressivität und zur mörderischen Bedrohung von Hitchcocks Die Vögel ergibt sich einerseits durch das Motiv des geteilten Vogels in Bildbeschreibung, sowie durch das Vogelgeschrei, das Odysseus bei seinem Gang durch die Unterwelt begleitet.78 Maheus Herangehensweise an den Text beruht aber weniger auf der Arbeit mit diesen intertextuellen Verweisen des Stücks, sondern auf der Thematisierung des Blicks als Akt des Sehens und der Verständnis- und Sinnproduktion sowie seiner Infragestellung durch die Betrachterinstanz des Textes, die er auf die Bühne zu übertragen versucht. Es handelt sich, wie Lehmann für den Text zusammenfasst, auch bei Maheus Inszenierung um „eine konfliktuöse – dramatische – Begegnung zwischen einem Blick und einem Bild, in dem der eine das andere zum Sprechen bringt.“79 Das Gesehene ist nicht eindeutig in Worte zu fassen, der Text bedient sich hypothetischer Formeln oder des Konditionals, um die Eindeutigkeit seiner Beschreibung zu relativieren und arbeitet mit begrifflichen Oppositionen, zwischen denen das Gesehene zu situieren ist: Die Landschaft ist eine „zwischen Steppe und Savanne“, der Charakter des Hauses zwischen „Industrie“ und „Handwerk“ und die Bewegung, „die den Rahmen sprengt“, ist nur „sichtbar zwischen Blick und Blick.“80 Die Ursache dieser Unsicherheit in der Beschreibung ist aber nicht nur in der Betrachterinstanz zu suchen, sondern resultiert auch aus der Tatsache, dass das Bild sich nicht als eine begrenzte Sinneinheit präsentiert, dass es seinen „Rahmen [...] sprengt“ und dass bestimmte Elemente des Bildes über 75 Ebd.: 480. 76 Ebd.: 483. 77 Vgl. Riechmann, Jorge (1989): „Ein ‚Tableau Vivant‘ jenseits des Todes. Annäherung an Bildbeschreibung.“ In: Hörnigk, Frank (Hg.): Heiner Müller Material. Texte und Kommentare. Göttingen: Steidl, 203-212. 78 Vgl. Janz, Marlies (1990): „Der erblickte Blick. Kommentar zu Heiner Müllers Bildbeschreibung.“ In: Klussmann, Paul Gerhard/Mohr, Heinrich (Hg.): Spiele und Spiegelungen von Schrecken und Tod. Zum Werk von Heiner Müller. Bonn: Bouvier, 173-188. 79 Lehmann (1989): 189. 80 Bildbeschreibung: 478f. 247

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seine Begrenzung hinausdeuten, für den Betrachter somit aber nicht mehr sichtbar sind („der Arm ist am Ansatz vom Bildrand abgeschnitten“81). Der Text negiert eine Rahmung des Bildes und die damit verbundene Fixierung von Bedeutung im Inneren des Rahmens, hebt dabei gleichzeitig die Bedeutung der jenseits des Bildrahmens befindlichen Elemente für ein Verständnis des Ganzen hervor: Es ist „aus dem Bild nicht zu beweisen“, ob sich die im Zenith befindliche Sonne bewegt oder ob sie „dort immer und IN EWIGKEIT steht.“82 Der Rahmen schneidet das Dazugehörige ab („die Frau steht bis über die Knie im Nichts, amputiert vom Bildrand“83) und macht eine Gesamtbetrachtung und damit ein Gesamtverständnis unmöglich. So, wie die Sprecherinstanz des Texts das Gesehene nicht in eindeutige Worte zu fassen vermag, so, wie der Text beständig über den Rahmen des von ihm beschriebenen Bildes hinausweist, so kontrastiert Maheus Bühne unterschiedliche Bild- und Textebenen miteinander und offeriert dem Publikum ein die Grenzen des Theaterrahmens sprengendes, medial-hybrides Gesamtkunstwerk. Seine Inszenierung nimmt keine geschlossene visuelle Umsetzung des Texts Müllers vor, sondern überlässt es dem Publikum, die heterogenen Elemente frei nach seinem subjektiven Empfinden zu kombinieren und vor dem Hintergrund der rezitierten Bildbeschreibung sein ganz persönliches Bild zu entwerfen. Die Bühne ist zunächst durch einen weißen, wallenden Vorhang geschlossen. Schon dieses erste Zeichen kann als eine Problematisierung der theatralen Umsetzbarkeit des Texts gedeutet werden: Der Vorhang verweist auf Theater im traditionellen Sinn, auf eine dahinterliegende Bühne, die Welt abbildet, das schmucklose Weiß nimmt diesem Moment aber schon vor Beginn der Aufführung seinen Spektakelcharakter. Auch im Text wird auf die Farblosigkeit der Szenerie verwiesen, es ist von einem Himmel die Rede, der von „Bleichsucht bedroht“ ist, und von einer „Linse, die dem Blick die Farben aussaugt.“84 Nicht das leuchtende Rot eines klassischen, samtenen Theatervorhangs, sondern ein fahles Weiß präsentiert sich also dem Publikum, und auf diesen Vorhang werden nun die Szenenanweisungen Müllers projiziert: „Die Handlung ist beliebig, da die Folgen Vergangenheit sind.“ Weil es sich nur um die „Erinnerung an eine abgestorbene dramatische Struktur“85 handelt, um kein Drama und auch um kein Theater im klassischen Sinn, kann auch der Vorhang nicht mehr auf eine solche Theaterpraxis und -tradition verweisen. Zwei 81 82 83 84 85

Ebd.: 479. Ebd.: 478. Ebd.: 479. Ebd.: 483. Ebd.: 484. 248

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Schauspieler, ein Mann und eine Frau, treten vor den Vorhang und sprechen einen kurzen Dialog, den sie mit „Alkestis, von Euripides“ titulieren. Frau: Mann: Frau: Mann: Frau: Mann: Frau: Mann: Frau: Mann:

Mes enfants, je lâche de vivre et je m’en vais sous terre. Hélas, abandonné de toi, que vais-je devenir? Le temps te guidera. Un mort n’est qu’un néant. Amène-moi au monde des dieux, dans les enfers. C’est bien assez que je meurs pour toi. Oh, destiné, quelle compagne tu m’enlève. Je veux que tu me donnes ta vie. Jamais, mon sacrament! Je veux que tu meures pour moi. Je veux que tu me donnes ta vie. Jamais, mon sacrament! Je veux que tu meures pour moi. Je veux que tu me donnes ta vie.86

Sie wiederholen die letzten beiden Repliken immer wieder, bis der Vorhang sich auf eine große hölzerne Fläche öffnet, die von neutralen grauen Wänden begrenzt ist. Die beiden Darsteller betreten die Bühne, führen den Schluss des Dialogs noch einige Male fort und gehen dann, von der Live-Band begleitet, in einen die ganze Bühne füllenden beschwingten Tanz über. Nach ihrem Tanz verlassen sie die Bühne, um wenige Augenblicke später auf zwei Stühlen gegenüber sitzend von einem diagonal in den Boden eingelassenen Rollband wieder in den Raum befördert zu werden. Beide gestikulieren, die Frau klatscht wie besessen in die Hände, während der Mann ununterbrochen mit den Füßen auf den Boden trampelt. Aus der linken hinteren Ecke wird nun ein dritter Darsteller auf einem Stuhl von einem anderen Rollband bis zu Mitte der Bühne transportiert. Er verlässt den Stuhl, geht zu einem mit weißen Tüchern verhüllten Tisch an der vorderen linken Bühnenseite und enthüllt dort einen Fernsehmonitor, ein Mikrophon und eine Videokamera. Er stellt den Stuhl vor den Tisch, schaltet die Geräte ein und nimmt vor der Apparatur Platz. Sein Gesicht wird jetzt über die Videokamera live auf die hintere Bühnenwand projiziert und eine Stimme spricht die ersten Zeilen des müllerschen Texts. Zunächst scheint es der Darsteller selbst zu sein, der den Text rezitiert, als er aber aufsteht und ein Glas Wasser trinkt, wird deutlich, dass, obwohl die Anordnung der Szene sowie die Simultanprojektion seines mit der Videokamera gefilmten Gesichts eine Live-Rezitation simulieren, die Stimme vom Tonband kommt. Nach diesem Illusionsbruch und der bewussten Offenlegung der Art und Weise der Verwendung der technischen Darstellungsmittel schaltet der Darsteller das Gerät 86 Vgl. Videoaufzeichnung der Inszenierung von Gilles Maheu/Carbone 14, Festival de Théâtre des Amériques (FTA), Montréal (Mai 1991). 249

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ab und setzt die Rezitation des Texts an der Stelle fort, an der er das Tonband unterbrochen hat. Wenn Müllers Text von dem auf dem Baumast sitzenden Vogel spricht, dessen Blick und Schnabel gegen eine Frau gerichtet sind, tritt in der linken hinteren Ecke der Bühne der erste männliche Darsteller auf, eine Vogelattrappe in der Hand, deren Schnabel auf das per Video live projizierte Gesicht des Sprechers zeigt. Während der Text nun die Frau beschreibt, die „die rechte Bildhälfte beherrscht“, betritt aus der rechten hinteren Ecke eine Schauspielerin die Bühne, öffnet eine Bodenklappe in der Mitte des Raums und verharrt mit gesenktem Blick neben dem Loch im Boden. Eine weitere Darstellerin wird auf dem linken Rollband vor einem Overheadprojektor kniend nach vorn gerollt, auf den sie, während der Sprecher die Frau im Bild der Bildbeschreibung beschreibt, ein Frauenportrait zeichnet, das auf die Rückwand projiziert wird und das, je näher sie den Zuschauern kommt, immer größer wird. Mit dem Ende der Beschreibung der Frau („der Leib geborgt aus dem Fundus der Friedhöfe“87) unterbricht der Sprecher den Text, die Darstellerin an der Bodenklappe und der Mann mit dem Vogel verlassen die Bühne und die Schauspielerin, die das Frauengesicht gezeichnet hat, beginnt, in der Mitte der Bühne stehend, den bis hierher gesprochenen Text mit einer Sopranstimme in englischer Sprache zu singen. Der Bühnenraum ist jetzt dunkel, nur ein Scheinwerfer fokussiert die Sängerin und auf der Videoleinwand sieht man das Schattenbild eines Mannes mit Pfeil und Bogen, dann drei Oberkörper im Profil, von denen der mittlere mehr als doppelt so groß ist wie die beiden anderen. Der mittlere Kopf reißt den Mund auf und beugt sich über den linken kleineren Kopf, als wolle er diesen verschlingen. Dann sieht man das Bild eines Vogelkopfs mit einem großen Schnabel, der sich hin und herdreht, als beobachte er das Geschehen auf der Bühne. Das linke Rollband befördert jetzt einen Holztisch in die Bühnenmitte, in dessen Vertiefung große gelbe Zitronen liegen, auf dem rechten Rollband werden zwei Stühle auf die Bühne transportiert und wieder zurückgeholt, dann zwei Kleiderpuppen, die mit Stofffetzen behängt sind. Inzwischen ist auch der Tisch wieder verschwunden und von links bewegen sich eine liegende Frauengestalt und verschiedene Äste mit Blätterwerk nach vorn, von rechts kommt ein auf einem Stuhl sitzender Mann dazu. Zwei leere Bilderrahmen werden an Stahlseilen von der Bühnendecke gelassen, auf der Rückwand erscheint die Projektion eines Gebirgszugs in der Dämmerung, von rechts schiebt sich eine große stilisierte weiße Wolke vor das Bild.

87 Bildbeschreibung: 479. 250

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Peau, chair et os (Abb. 11) Die Wiederholung des ersten Teils des Texts in gesungener Form erlaubt es dem Publikum, die Bilder und Gegenstände auf der Bühne noch einmal bewusst in Beziehung zum Text zu setzen und diesen gleichzeitig durch die Transposition auf eine musikalische Ebene in seiner Dichte und Exzessivität, die durch die Kraft der Sopranstimme und den gewaltvollen Ausdruck der Koloraturen noch verstärkt wird, zu reflektieren. Die Tatsache, dass eine Frau hier ihre Stimme erhebt und sich zum Zentrum der Aussage macht, ist dabei ohne Zweifel im Kontext der im Text beschriebenen Opferrolle der Frau und der durch den Alkestis-Prolog von Maheu vorgenommenen Verschiebung dieser Sichtweise zu sehen. Weil der Text keine Figuren und keine Handlung vorgibt, sondern als reine Textfläche nur Bilder bzw. Bildfragmente evoziert, kann die Bühne ihn weder illustrieren noch dieses Theater ohne Aktion in eine szenische Darstellung oder gar ein Spiel übersetzen. Die Sprecherinstanz, der Darsteller, der den Text rezitiert, ist eine „ortlose Stimme“88, die Maheu durch die Platzierung des Sprechpults am Rand der Bühne räumlich aus dem Bild ausgrenzt. Dieser Effekt verstärkt sich in der Vermittlung des Texts via Mikrophon und Lautsprecher; die Stimme des Sprechers ist, wie die Anfangsszene zeigt, auch nicht zweifelsfrei dem Körper des Darstellers zuzuordnen, weil die Lautsprecher sie aus einem Nichts in den Bühnenraum einspeisen. Akustische und visuelle Zeichenebenen werden so klar voneinander abgegrenzt und die Aktionen der Bühne erscheinen als fragmentarische Bildfetzen, die nur vage zu dem rezitierten Text ins Verhältnis treten.

88 Lehmann (1989): 189f. 251

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Durch die Voranstellung des auf den Alkestismythos verweisenden Dialogs und den Verweis auf Euripides’ Bearbeitung gibt Maheu einen ersten Hinweis auf seine Lektüre des Texts und auf die Doppeldeutigkeit der Rolle der Frau in Müllers Verständnis. Dabei liegt der Akzent in Maheus Inszenierung aber eindeutig auf dem kämpferischen Geist dieser Frau, die ihre Opferrolle gegenüber dem Mann strikt zurückweist und, wie die Sängerin, ihre Stimme erhebt: Comme l’Alceste d’Euripide, la silhouette de la femme chez Müller est chargée des signes de la précarité, de la défaite, de l’humiliation, de l’autodéfense: il y a eu drame – ‚coup choc impacte‘, ‚détonation‘, écrit Müller. La femme chez Maheu […] est au contraire une lutteuse, une gagnante: ‚Je veux que tu meures pour moi, je veux que tu me donnes ta vie – jamais, sacrament‘.89

Maheu stellt dem ersten Teil des Texts, der die Landschaft beschreibt und Vermutungen zum Schicksal der sich im Bild befindlichen Frau anstellt, eine Vielzahl disparater Bildteile gegenüber und setzt damit die Problematik dieser ‚Bildbeschreibung‘ szenisch um. Denn seine Bühne zeigt nicht das Bild, das Müller beschreibt, sondern führt eine Reihe von Gegenständen vor, die in Müllers Text erwähnt werden. Man sieht die Frau mit dem starren Blick, die unbeweglich in der Bühnenmitte verharrt, den Vogel, der diese Figur fixiert, einen Tisch mit Zitronen, Stühle. Ein Baum wird angedeutet durch die Äste auf dem Rollband, das Schattenbild des Mannes mit dem Bogen lässt einen Geschlechterkampf erahnen und die Landschaft, die Müller beschreibt, deutet sich in dem Gebirgszug und der großen Wolke an. Auch die Beschreibung der Frau im Text entspricht nicht dem, was auf der Bühne sichtbar wird. Die Schauspielerin, die auftritt, als von der Frau die Rede ist, befindet sich nicht in der rechten Hälfte der Bühne, sondern im Zentrum. Sie trägt auch nicht die Attribute einer von Kampf und Verletzungen gezeichneten Figur, wie sie Müller evoziert. Maheus Intention zielt nicht auf eine Abbildung des Frauenbildes, das der Text skizziert, sondern auf die Andeutung von Themen und Formen, die zwar bis zu einem gewissen Grad mit dem Text korrespondieren, die darin erwähnten Aspekte von Gewalt aber zurücknehmen und stattdessen ein weniger aggressives und sehr viel stärker zerstückeltes Bild entwerfen, das der Frau und ihrem Körper Schönheit und Selbstbestimmung zurückgibt. Dieses Charakteristikum der Inszenierung offenbart sich auch in der Zeichnung des Frauengesichts, die die Darstellerin auf dem Overheadprojektor erstellt. Die Skizze des Frauenkopfs, dessen Entstehungsprozess der Zuschauer auf der Leinwand ver89 Massoutre, Guylaine (1992): „Peau, chair et os.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 63, 120-123, hier 121f. (Hervorhebungen im Original). 252

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folgen kann, entspricht eben nicht der Beschreibung, die der Text vornimmt, keines der Attribute der evozierten Gewaltausübung („Die Nase überlang, mit einer Schwellung an der Wurzel, vielleicht von einem Faustschlag“90) wird sichtbar, ein Phänomen, das sowohl Maheus Konzeption eines anderen Frauenbildes ausdrückt als es auch die Unmöglichkeit der Abbildung des im Text evozierten Bildes zeigt. Aber nicht nur im Hinblick auf die Unmöglichkeit der bildlichen Umsetzung des Textes gibt diese erste Sequenz Hinweise. Maheu entwirft auch in Bezug auf die Raumkonzeption ein Theatertableau, das über seine Grenzen hinausweist, das seinen Rahmen und den des Theaters überschreitet. Die beiden Rollbänder, die diagonal durch den Bühnenraum verlaufen, transportieren Menschen und Gegenstände aus einem unbestimmten Ort in die Bildmitte hinein und wieder heraus und verweisen ebenso wie die Klappe im Boden, durch die Darsteller und Objekte auftauchen und wieder verschwinden, auf die Ausdehnung des Raums in alle Richtungen, nach rechts und links und eben auch in die Tiefe. Die Unmöglichkeit, den Text in ein Bild zu übersetzen, die Tatsache, dass ein solches Bild immer fragmentarisch und ohne eine ganzheitliche, geschlossene Botschaft bleiben muss, dass sich sein Gehalt nicht erschließen lässt, weil seine Elemente über den Rand des Bildes hinausreichen und der Blick auf das Ganze so immer unvollständig bleibt, wird auf einer zweiten, kleineren Ebene durch die von der Decke herabgelassenen leeren Rahmen symbolisiert: Sie grenzen den Blick ein, etablieren eine Grenze und schließen damit all das, was sich außerhalb dieses Rahmens befindet, aus. Comme le texte, l’image n’arrive pas à saisir l’essence des choses tant elle les fixe dans l’instant. Son cadre surtout est signe d’un rétrécissement de la vision. Il faut donc déborder le cadre: c’est là qu’entre en scène le corps des acteurs. Ils sont à eux seuls la solution à ces langages pétrifiants, la toute dernière chance du théâtre, selon Maheu, à la condition qu’ils ne s’intègrent pas à leur tour à quelque système.91

Die Durchbrechung dieser Rahmen, der Versuch, durch die Überschreitung des Rahmens dem Bild einen Ausdruck zu verleihen, vollzieht sich im Theater Maheus einzig und allein über die expressive Kraft der Körper: Im Anschluss an die Gesangssequenz – der Sprecher hat seinen Text wieder aufgenommen und sein Gesicht und sein „Arbeitsplatz“ werden wieder auf die Rückwand projiziert – beginnt das Spiel mit diesen Rahmen. Ein Darsteller steht jetzt hinter dem einen Rahmen, eine weitere 90 Bildbeschreibung: 478. 91 Jubinville (1992): 20. 253

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Schauspielerin wird von einem dritten Darsteller, der ihr die Augen zuhält, hinter dem zweiten Rahmen positioniert. Der Sprecher bewegt sich durch den Bühnenraum und justiert mit den Händen den Kopf der Sängerin, die nun in einer Ecke der Bühne steht. Die Videokamera fokussiert die junge Frau in dem Rahmen, in den sie jetzt hineinklettert und langsam wie auf einer Schaukel hin- und herschwingt, während die live gefilmten Bilder auf die Bühnenrückwand projiziert werden. Das Bühnenlicht verdunkelt sich, die Projektionen werden ausgeblendet und auf den Bühnenwänden sind nur noch die Schatten der schwingenden Bewegungen sichtbar. Das Schauspielerpaar verlässt die Spielfläche, der alte Mann und die alte Frau der ersten Szene nehmen jetzt ihre Plätze ein und positionieren sich hinter einem der beiden Rahmen, die Gesichter wie in einem Doppelportrait einander zugewandt. Es folgt eine weitere gesungene Sequenz, in der die Sängerin in ihrer Gestik vom Sprecher geführt wird. Das ältere Darstellerpaar sitzt nun an einem gedeckten Tisch und wird von einem der Rollbänder in die Bühnenmitte transportiert, hinter ihnen wird eine Stuhlreihe ins Zentrum geschoben, auf deren erstem Stuhl die junge Darstellerin sitzt. Die junge Schauspielerin versucht, in die Intimität der beiden Alten einzudringen, lasziv und mit gespreizten Beinen setzt auch sie sich an den Tisch und isst von dem Kuchen des alten Paars. Der jüngere männliche Darsteller betritt nun aus der rechten hinteren Ecke die Szene, springt über die Stühle bis zu der jungen Darstellerin, füttert sie mit dem Kuchen, zwischen den beiden entwickelt sich ein Gerangel, das zu einem Kampf wird. Das Rollband fährt jetzt zurück und die Frau flieht vor dem Mann, der ihr über die Stühle hinterher springt. Schließlich gelingt es dem männlichen Darsteller, seine Partnerin einzufangen, sie laufen über die ganze Bühne hinter einander her, schlagen Purzelbäume, involvieren dann auch die beiden älteren Darsteller in ihre akrobatischen Bewegungen, nehmen sie auf den Schoß, wippen dabei auf den Stühlen hin und her und illustrieren einen gewaltvollen Beischlaf, wie er im Text schon evoziert wurde. Dann löst sich das Quartett auf, die beiden jüngeren Darsteller setzten ihren wilden Tanz und die gegenseitige Verfolgung im Raum fort, attackieren sich gegenseitig durch wilde Sprünge, die ihre Körper mit Gewalt auf den Boden schlagen lassen, während jeder dieser Schläge durch die Perkussion der Live-Band verstärkt wird. Die ganze Sequenz ist von lauter Beatmusik unterlegt, die das Tempo der Bewegungen und die Aggressivität der Körper akzentuieren. Im Hintergrund zeigt die Projektionsfläche Ausschnitte aus Hitchcocks Film Die Vögel. Als die Körper schließlich vor Erschöpfung zusammenbrechen, setzen sich die Rollbänder im Boden wieder in Bewegung und transportieren die reglosen Körper aus dem Raum. Zurück bleibt auf der Bühne die Sängerin, deren Körper bis zur Brust in der Ver-

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senkung im Bühnenboden steckt, um sie herum die umgekippten Stühle – ein Bild der Verwüstung, das das Motiv der Frau, „die bis über die Knie im Nichts steht, vom Bildrand amputiert“92, zeitlich verzögert wieder aufnimmt. Sie singt nun abermals den vertonten Text, den der Sprecher schon rezitiert hat, diesmal in deutscher Sprache; wieder ist die Bühne verdunkelt und nur ein Lichtkegel erhellt ihren Körper, während das junge Darstellerpaar wieder Besitz von den Rahmen nimmt und zum Rhythmus der Musik im Halbdunkel durch den Bühnenraum schwingt.

Peau, chair et os (Abb. 12 & 13) Der zweite Teil der Inszenierung rückt vor allem das konfliktuöse Verhältnis zwischen Mann und Frau in den Vordergrund und bricht durch kleine Details mit der müllerschen Version der Frau als Opfer. Die Rollenbilder von Mann und Frau werden durch die Anordnung der Figuren in und hinter den beiden Bilderrahmen zunächst als fest fixiert und gegeben dargestellt. Während das ältere Darstellerpaar in der Pose im Rahmen verharrt, brechen der junge Mann und die junge Frau aus diesen festen Bildern aus. Beide Darsteller bewegen sich mit akrobatischen Verrenkungen im und um den Rahmen herum, steigen aus ihm aus und weisen mit ihrem Körper über ihn hinaus. Auch die Gewaltszene am Tisch ist nur auf den ersten Blick ein Sinnbild für die Dominanz des Mannes über die Frau. Der männliche Darsteller bedrängt seine Partnerin zwar, diese ist aber in der Lage, seinen Annäherungen und seiner körperlichen Überlegenheit Widerstand zu leisten. Die Starrheit des Verhältnisses zwischen dem älteren Darstellerpaar visualisiert auf der einen Seite ein traditionelles Rollenverständnis, aus dem keiner der beiden auszubrechen vermag, auf der anderen Seite werden aber auch die beiden Alten in den orgiastischen Tanz, in dem die Frau gegen ihre Verfolger kämpft, miteinbezogen. Die Transportbänder, die die leblosen und erschöpften Körper schließlich abtransportieren und sie gleich darauf, als die Darsteller

92 Bildbeschreibung: 479. 255

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mit Beginn des Gesangs in den Rahmen schwingen, wieder herzugeben scheinen, tragen aber auch einer anderen Dimension des Texts Rechnung, nämlich dem Bild des ewigen Kreislaufs, der Vorstellung der Unabänderbarkeit von Geschichte und der Wiederbevölkerung der Erde durch die Toten: [...] wenn das Wachstum der Friedhöfe [...] seine Grenzen erreicht hat, [...] kehrt die Bewegung sich um, wenn die Toten vollzählig sind, das Gewimmel der Gräber in den Sturm der Auferstehung [...]93

Diese Lesart bestätigt sich im dritten Teil der Inszenierung, der eben jene Wiederkehr der Toten und die Fortführung des ewigen Kreislaufs von Gewalt und Zerstörung thematisiert. Mit dem Ende der Gesangssequenz schließt sich der weiße Vorhang und es erscheint eine Projektion aus Müllers Text: „ICH HABE DIR GESAGT DU SOLLST NICHT WIEDERKOMMEN TOT IST TOT.“94 Dann geht das Bühnenlicht wieder an und der Vorhang wirkt wie eine transparente, bläulich schimmernde Schicht, durch die die Konturen der Bühnenfiguren und der Requisiten sichtbar bleiben und die an einen Fernsehbildschirm erinnert. Der Sprecher steht nun in der Bühnenmitte und setzt seinen Text fort. Er beschreibt die Szenerie als „vom Himmel gefallen, oder herabgelassen aus der nur von den Toten atembaren Luft“, als eine „Versuchsanordnung“, in der jeder gegen jeden kämpft und in der „der Himmel von Bleichsucht“ bedroht ist „durch die Auferstehung des Fleisches.“95 Dann öffnet sich der Vorhang wieder, die Bühne bleibt in ein düsteres graublaues Licht getaucht, an Stelle der Bilderrahmen hängen zwei riesige Eisblöcke von der Decke, einige weitere liegen darunter auf dem Boden. Die Sängerin setzt den Text des Sprechers gesungen fort, die Schauspieler betreten in Unterwäsche langsam und fast schleichend die Bühne, die Alten werden von den Jungen getragen. Jegliche Energie ist aus ihren Körpern gewichen, die fast nackten Körper unterstreichen diesen Eindruck – es sind Wesen aus der Welt der Toten, kraftlos und blass. Der alte Mann, der sich auf den jungen Darsteller gestützt hat, sinkt erschöpft am Boden zusammen, ebenso die ältere Frau. Dann ändert sich das Tempo der Musik, ein Crescendo hebt die Lautstärke und mit dieser Beschleunigung auf akustischer Ebene scheint auch die Energie in die jungen Körper zurückzukehren. Die Bewegungen werden schneller, die Darsteller ergreifen zwei metallene Gegenstände und beginnen, auf die hängenden Eisbrocken einzuschlagen, hängen sich mit ihren Körpern an 93 Ebd.: 481f. 94 Ebd.: 482. 95 Ebd.: 483. 256

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die kalten Blöcke und bearbeiten dann die am Boden liegenden Eisklötze. Auf der Videoleinwand sieht man zeitgleich zu diesem Akt der Gewalt und Zerstörung die Angriffsszenen der Vögel aus Hitchcocks Film, die Musik wird immer lauter, die Singstimme immer schriller. Die Sängerin wird von einem parallel zur Rampe verlaufenden Rollband von rechts nach links befördert, auf ihrem Hals sieht man eine Blutspur. Dann plötzlich ein Black, die Musik verstummt und nach einem kurzen Moment des Innehaltens spricht der Sprecher die letzten Zeilen des Texts. Sein Gesicht erscheint kurz noch einmal auf der Rückwand, dann schwenkt die Videokamera auf sein mit Anmerkungen versehenes Textmanuskript und mit den letzten Worten enden der Gesang sowie das Zerschlagen des Eises. Der letzte Teil der Inszenierung greift Müllers Bild des „gefrorenen Sturms“96 im Bild der Eisblöcke wieder auf. Die Wiederkehr der Toten, die zyklische Wiederholung von Geschichte symbolisiert sich in der Zerstörung und Vernichtung der Landschaft, die bei Maheu durch die Zerhackung und Pulverisierung der Eisblöcke visualisiert wird. Indem der Regisseur den dritten Teil seiner Inszenierung durch die Zäsur des Vorhangschließens und die veränderte Farbästhetik von den vorherigen Sequenzen abtrennt, zeigt er eine Gegenwelt, die die der wiedergekehrten Toten ist. Blass und farblos übersetzt Maheus Bühne Müllers Schreckenszenerie in Nacktheit, Kälte und Schlaffheit. In trübem Licht schimmert sie milchig durch den transparenten Vorhang und offenbart schließlich einen Ort der Erstarrung und des Todes. Obgleich Maheus Lektüre von Bildbeschreibung in Bezug auf das im Text entworfene Bild der Frau einen neuen Akzent setzt, der Müllers Pessimismus relativiert, zeichnet seine Inszenierung in ihrer Gesamtheit jene „Landschaft jenseits des Todes“ nach, die der Text in ihrer ganzen Fatalität evoziert. Sein antiillusionistisches, medial-hybrides TheaterTableau deutet die Kernthemen des Texts an, seine Bilder aber weisen weit über den Rahmen der Bühne, über die Möglichkeiten der (theatralen) Darstellbarkeit hinaus und setzen so den Diskurs des Autors auf einer visuellen Ebene fort. Rigoureusement construit, ce spectacle s’impose par la mise en valeur du discours étrange et poétique de Heiner Müller à propos du théâtre […] remarquablement dit sur le ton d[u] dramaturge-constructeur de ce montage textuel.97

96 Ebd. 97 Krysinski, Wladimir (1992): „Raisons et vérités instables de la scène.“ In: Vice Versa 36, 37-38, hier 38. 257

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Formal-ästhetisch geht es dabei in erster Linie um die Infragestellung der Visualisierbarkeit des Bildes, das Bildbeschreibung beschreibt, und um die Thematisierung des Rahmens als theatrale Kategorie, die den Blick lenkt und steuert und gleichzeitig als Ausschlussmechanismus fungiert, indem sie bestimmte Bildteile aus dem Feld des Sichtbaren ausgrenzt. Maheu inszeniert diesen Rahmen und seine ihm inhärenten Prinzipien als visuelle Demarkationsgrenze auf mehreren Ebenen. Die diagonal im Bühnenraum verlaufenden Rollbänder und die Klappe in der Bühnenmitte verweisen auf die über den Rahmen der Proszeniumsbühne hinausgehende Ausdehnung des szenischen Raums, der in seiner Ganzheit für das Publikum nicht einsehbar ist – Figuren und Requisiten werden von unbestimmten Orten in den Rahmen hinein und wieder heraustransportiert. Auch der Sprecher, die Erzählinstanz des Textes, die an der Richtigkeit seiner Darstellung zweifelt und immer wieder vermutend die im Bild fehlenden Elemente ergänzt, weil es „seinen Rahmen sprengt“98, ist außerhalb des (Bühnen)Bildes situiert. Die Bühne selbst präsentiert sich als ein Anti-Tableau ohne Kompositionsprinzip, das sich aus heterogenen Bildfragmenten zusammensetzt. Der Blick des Zuschauers wird durch den Einsatz großer Scheinwerfer gelenkt, die abwechselnd die einzelnen Partien des Raums akzentuieren. Ein Blickfang sind auch die als Requisiten verwendeten kleineren Rahmen, die von der Decke herabhängen und an und in denen Maheu die Gesetze des Bildes als in sich geschlossene Sinneinheit exemplifiziert. Die Szene, in der die junge Schauspielerin von einem Mann hinter diesen Rahmen geführt wird, er dort ihren Kopf sowie ihre Armhaltung korrigiert und sie in Portrait-Pose verharrt, visualisiert das Kompositionsprinzip des Tableaus; das daran anschließende akrobatische Spiel in den Rahmen bringt es buchstäblich ins Wanken. Auch die Videobilder und die Licht-Schatten-Spiele auf der Bühnenrückwand sind als Reflexion ihrer Komposition und ihrer Rahmung sowie in ihrem Verhältnis zu den dreidimensionalen Bildern der Bühne zu sehen. Beide Bildebenen überlagern sich immer wieder und treten so über ihre jeweiligen sie begrenzenden Rahmen zueinander ins Verhältnis. Intermedialität manifestiert sich abermals als ein spezifischer, auf der Seite des Publikums lokalisierter Modus theatraler Wahrnehmung. Ebenso wie dem Bilderreichtum der Sprache Müllers und der Unmöglichkeit seiner szenischen Visualisierung trägt Maheus Inszenierung aber auch dem Text in all seiner Dichte und Poesie Rechnung: Durch die Sprecherinstanz, die vom Rand des szenischen Raums aus das Bild beschreibt, die Bildbeschreibung rezitiert, wird der Text von den übrigen Zeichen der Inszenierung losgelöst und nimmt damit einen ebenso wichtigen Platz ein wie die Bilder und Bewegungen der Bühne. Und obwohl 98 Bildbeschreibung: 479. 258

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diese nicht das abbildet, was der Text mitteilt, wird das gegenseitige Verhältnis immer wieder durch das Eintreten des Sprechers in den Spielraum hervorgehoben. Im Bewusstsein, dass keine Umsetzung, keine Form der Visualisierung den Bildern Müllers gerecht werden kann, reduziert Maheu die szenischen Bilder auf die Andeutung von Themen und die Skizzierung kurzer Handlungssegmente. Seine Inszenierung erzählt keine Geschichte und wie Müllers Text ein Fragment ist, das Bilder unterschiedlichster (medialer) Qualität evoziert, die sich gegenseitig überlagern und nie ein kohärentes Ganzes vermitteln, so bleibt auch Maheus Bühnenversion ein vieldimensionales, medial-hybrides Relief, das Tanz und Musik, Gesten und Bilder übereinander legt und durch die Expressivität des Textes und die Gewalt der Bewegungen den Rahmen der Bühne zu sprengen scheint. Es ist ein Tableau, dessen Ränder zerbersten, die „Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen (dramatischen) Struktur.“99

Das Spiel mit dem Rahmenmedium „J’ai toujours senti qu’avec Müller le metteur en scène est condamné à recourir à un langage parallèle à l’écriture de l’auteur, il est forcé d’écrire sur la scène avec les ressources propres de l’écriture scénique, qui est fait de mouvements, de danses, de vidéos, de films, etc., bref de toutes les possibilités offertes par la scène.“100 Dieser Kommentar Gilles Maheus zu seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Heiner Müllers fasst zwei Aspekte zusammen, die für das Verständnis seiner Inszenierungen im Kontext eines intermedialen Theaterverständnisses aufschlussreich sind: Zum einen manifestiert sich hier sein grundsätzliches Verständnis von Theater als einem plurimedialen System, das unterschiedliche Kunstformen von Tanz, über Video bis hin zu plastischen Künsten vereint, zum anderen wird deutlich, wie sehr die Verwendung medial-hybrider Darstellungsmittel im Zusammenhang mit den Herausforderungen, die die Texte Müllers an das Theater stellen, gesehen werden muss. Sowohl Rivage à l’abandon als auch Peau, chair et os können in ihrer Ästhetik als multimediale Theaterwerke beschrieben werden, die sich durch die Kombination und Konfrontation verschiedenster medialtechnischer und künstlerischer Darstellungsmittel auszeichnen. Intermedialität ereignet sich hier weniger durch die Realisierung oder Simulation bestimmter medialer Konventionen mit den Mitteln des Theaters, sondern situiert sich in beiden Produktionen Maheus als Akt der intermedia99 Bildbeschreibung: 484. 100 Hébert/Perelli-Contos (1994b): 69. 259

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len Bezugnahme auf der Seite des Publikums. Der Zuschauer wird mit einer Vielzahl medial-hybrider Bildfragmente konfrontiert, die auf den fragmentarischen und palimpsestartigen Charakter der Texte Müllers antworten. Eben weil dessen Theater Bilder entwirft, die in ihrer Ästhetik zwischen surrealen Gemälden und filmischem Realismus oszillieren und aufgrund der Abwesenheit von Handlung und dramatischen Figuren eine theatrale Übersetzung unmöglich machen, kann die Bühne diesen Texten nur mit einer szenischen Parallelsprache begegnen, die – wie beide Produktionen Maheus zeigen – den Text weder repräsentieren noch abbilden, sondern ihn mit einer Collage ebensolcher Bildfragmente überblendet, ohne dabei dessen Poesie und Sprachgewalt in der plurimedialen Bilderflut zu marginalisieren. Der Wechsel zwischen Rezitation und Gesang dient dabei als Strukturelement, das die inhaltliche Dreiteilung der beiden Texte hervorhebt und das gleichzeitig eine wiederholte Rezeption der äußerst komplexen und dichten Theatersprache Müllers ermöglicht, die durch die Transposition in das Medium der Musik eine Akzentverschiebung von ihrer sprachlichen Brutalität hin zu einer poetischen Expressivität erfährt. Gravitationspunkt dieser durch und durch plurimedialen Konzeption des Theaterraums bleibt aber immer der Körper der Darsteller, dessen expressive Kraft die Wahrnehmung des Publikums immer wieder auch energetisch beeinflusst und der gleichzeitig den Bezug zum Theater als lebendiger und unmittelbarer Form des Dialogs zwischen Körpern garantiert. Dabei steht der Körper in beiden Müller-Inszenierungen Maheus in einem komplexen Wechselverhältnis zu den verwendeten fremdmedialen Darstellungsformen: Die tanzenden, springen, rennenden und schreienden Körper treten in ihrer dreidimensionalen Körperlichkeit in Kontrast zu den flächigen, oft stummen und langsamen Videobildern und tragen im multimedialen Miteinander zu der medialen Hybridität des Theaterbilds bei, das die Heterogenität der im Text evozierten Bilder fortsetzt. Gleichzeitig sind sie das wichtigste Element der Szenographie des ehemaligen Mimen und Tänzers Gilles Maheu, der den Körper seiner Darsteller als jenes Mittel des Theaters begreift, über das eine affektive Beziehung zwischen Zuschauer und Bühne etabliert werden kann. Der Körper fungiert dabei als Bindeglied zwischen den verschiedenen Künsten und Medien, die im Theater Maheus aufeinander treffen, und das unabhängig davon, ob es die Körper der Darsteller sind, deren Kraft und Akrobatik das Publikum in ihren Bann ziehen, oder ob es der Körper der Zuschauer selbst ist, der zum Agierenden in einem über seine Grenzen hinaustretenden Theater wird.

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Bien que le langage corporel demeure toujours au cœur de la démarche de Gilles Maheu, tous les aspects de la réalité substantielle, tangible au théâtre sont convoqués pour décupler la force d’évocation des images. Il s’agit d’une stratégie fondée sur une théâtralisation de la scène, soit un investissement massif dans la matérialité même des signes scéniques. […] Le spectateur est littéralement bombardé par une épaisseur de signes visuels et auditifs, par un monde d’images et de sons en état de choc, un monde qui vit en accéléré. La popularité de Carbone 14 tient sûrement en bonne partie à ce choix résolument contemporain de moyens d’expression. […] ‚Subversion‘, voilà le mot clé qui aiguillonne Gilles Maheu depuis le début. Le théâtre doit, selon lui, surtout débusquer les idées reçues, bousculer l’ordre établi.101

Der intermediale Impetus der beiden Müller-Inszenierungen Maheus lässt sich als ein Spiel mit dem Rahmenmedium Theater beschreiben. Grenzüberschreitung, Hybridisierung der theatralen Ausdrucksmittel und eine Interaktion unterschiedlicher Künste und Medien vollzieht sich in beiden Inszenierungen vor allem durch die konstante Bezugnahme auf die räumlichen und metaphorischen Grenzen des Theaters. In Rivage à l’abandon geschieht dies durch eine Ausweitung der theatralen Wahrnehmung auf die Räume des Museums – die Inszenierung beginnt in dem Moment, in dem der Zuschauer die ersten Objekte und Bilder, die in den drei Schauräumen ausgestellt sind, erblickt. Die Öffnung des Theaterraums setzt sich in dem Saal, in dem später der Text Müllers szenisch realisiert wird, fort: Die Spielfläche ist nicht wie ein klassischer Guckkasten von drei Seiten geschlossen und leicht erhöht, sondern die Bühne ist ebenerdig angelegt und das Publikum kann sich fast kreisförmig um die Bühne herum platzieren. Was hier als eine Veränderung der klassischen Theaterwahrnehmung beginnt – der Zuschauer tritt selbst in das Kunstwerk ein, er wird aktiver Teilnehmer und gleichzeitig Bestandteil eines Gesamtkonzepts –, setzt sich in Peau, chair et os mit der konstanten Infragestellung des Sehens, der Steuerung des Blicks und der Erkenntnis der Diskrepanz zwischen (einer) Bildbeschreibung und den Bildern der Bühne, also zwischen dem Text und seiner visuellen Umsetzung fort. Die materielle Überschreitung der Bühne durch die Integration der drei Museumsräume in die Inszenierung und die seitliche Öffnung der Spielfläche in Rivage à l’abandon finden in Peau, chair et os ihre Entsprechung durch die konkrete Visualisierung dieses Rahmens in dem durch einen weißen Vorhang verschlossenen Bühnenportal, durch die Durchbrechung des rahmenden Guckkastens durch die Transportbänder und das Spiel mit gerahmten (Video-)Bildern und Bilderrahmen im Bühnenraum selbst.

101 Vigeant (2001): 249. 261

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Besonders diesen technisch erzeugten Bildern kommt dabei für Maheu eine besondere Rolle zu: C’est un outil extraordinaire, cet œil… D’ailleurs c’est sûrement pour ça que j’en suis venu à faire Paysage sous surveillance. C’est un peu de ça qu’il s’agit dans le texte… le point de vue de la lentille, Qu’est-ce que la lentille cadre? Qu’est-ce que l’œil – qui est cet observateur du texte – regarde? Qu’est-ce qui est dans le cadre, qu’est-ce qui est en dehors du cadre? Et tu apprends aussi en travaillant avec la vidéo à voir différemment… à cause du cadre… de ce que l’on cadre. […] C’est avec Peau, chair et os, je pense, que je suis allé le plus loin dans l’osmose de tous ces langages, qui s’opposent parfois, se complètent d’autres fois mais qui s’intercalent tout le temps et tendent ensemble vers une complexité de langage.102

Ausgehend von den vielfältigen Möglichkeiten des körperlichen Ausdrucks, durch die er von Beginn seiner Arbeit an die Grenzen eines engen Theaterbegriffs überschreitet, erforscht Maheu das Potential des Theaters als einer Kunstform, die die unterschiedlichsten Darstellungsmittel in ihr Wirken integrieren und reflektieren kann. Das Spiel mit technischen Medien ist für Maheu nur eine weitere Dimension des Experimentierens und die elektronischen Medien werden ebenso wie plastische Künste oder Live-Musik in die hybride Form seines ‚totalen‘ Theaters integriert. Seine Inszenierungen bringen ästhetische Sicherheiten ins Wanken, sie sprechen das Publikum auf höchst affektive und emotionale Weise an und eröffnen durch den oftmals schockartigen und provozierenden Umgang mit unterschiedlichen Formen künstlerischen Darstellung eine neue Art theatraler und medialer Erfahrung, in der Maheu die Faszination von Kunst überhaupt sieht. Le choc de l’art est aujourd’hui dilué dans la consommation, mais la perception de l’objet artistique peut encore entraîner un changement de vision du monde; en ce sens, je crois toujours, comme à vingt ans, que l’art est révolutionnaire, même si je me suis rendu compte que le changement est fait dans les yeux de celui qui regarde. L’art sert à changer les yeux des gens. Il fascine comme le spectacle du soleil, des nuages, du ciel, de toute forme de beauté: on a la sensation de la comprendre et d’être en même temps devant un mystère total. Je ne suis toujours pas sûr d’être un artiste, mais j’ai ce désir constant de remplir un vide en moi en le transportant sur scène. Je n’ai peut-être rien à dire. Mais je cherche quelque chose…103

102 Borello (1994): 80 (Hervorhebungen im Original). 103 Pavlovic (1992): 16. 262

DIE

MARIE BRASSARD STIMME ALS „EXTENSION

OF MEN“

„Avec seulement deux créations, Marie Brassard a d’emblée imposé une voix unique, à nulle part autre pareille, immédiatement identifiable, qui déjà reçoit un important écho international.“1 So beginnt Paul Lefèbvre nach der kanadischen Premiere von Marie Brassards zweitem Solostück sein Portrait der Künstlerin und rückt damit das wichtigste Charakteristikum ihres Theaters in den Fokus: Ihre Stimme und deren ungeahnte Transformationsmöglichkeiten, die zum Markenzeichen und zum medialen Experimentierfeld der einstigen Weggefährtin Robert Lepages geworden ist, und die sie in bislang drei Solostücken auf unterschiedliche Weise technisch erforscht und manipuliert hat. Anhand ihrer Theaterfigur Jimmy, einem homosexuellen amerikanischen Friseur, der in den Träumen eines Generals entstanden ist und den eine montréaler Schauspielerin weiterträumt, hat Brassard das technische Verfahren der elektronischen Stimmmanipulation mittels eines Vocoders, der ihre Worte in Realzeit verfremdet und verdoppelt, erstmals auf der Bühne erforscht. Damit hat sie eine Form von Theater geschaffen, die zwischen Hörspiel und Schauspiel oszilliert und die das Hören als eine im Theater oft marginalisierte Dimension der Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellt. Das Spiel mit der Stimme wird in Jimmy, créature de rêve (2001) zu einem Balanceakt zwischen Geschlecht und Identität, zwischen gender und gender-performance, zwischen Sein und Schein und zwischen Maske und Realität. In ihrem zweiten Stück The Darkness (2003) verlagert Marie Brassard den Akzent dieses Spiels mit den unterschiedlichen Registern ihres vokalen Ausdrucks in eine musikalische Partitur, die Geschichten und Stimmungen zusammen mit Rhythmus und Musik zu einer Klangstruktur werden lässt und in der wiederum eine theatrale Erzählung in erster Linie über das Hören vermittelt wird. In Peepshow (2005), ihrem bislang jüngsten Soloprojekt, setzt Brassard die Arbeit und das Experimentieren mit ihrer Stimme und den technischen Verfremdungsmög1

Lefèbvre (2003b): 6. 263

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lichkeiten fort und kombiniert unterschiedlichste emotionale Stimmtimbres mit den Infrarotbildern einer Wärmekamera. Bildliche Darstellung und stimmliche Modulation verbinden sich so zu einem Erzählmodus, der die verschiedenen Gefühlslagen der Protagonisten auf eine synästhetische Weise erfahrbar macht. Die Ästhetik ihrer Inszenierungen, ihr Schauspiel, ihre Art des Geschichtenerzählens und ihr Umgang mit Technik im Theater zeugen von Brassards künstlerischem Werdegang und der langjährigen Zusammenarbeit mit Robert Lepage. Renate Klett bemerkt in diesem Zusammenhang nach der Jimmy-Premiere während des Festival du Théâtre des Amériques: Marie Brassard, viele Jahre lang Schauspielerin bei Lepage und Co-Autorin seiner Stücke und Filme, legt hier ihre erste eigene Arbeit vor. Die ist sehr „lepagesk“, nicht im Sinn der Imitation, sondern in der Wahlverwandtschaft der Phantasie und des Weltblicks, in der verschwenderischen Art des Geschichtenerzählens, im magischen Realismus, der die Dinge zum Tanzen bringt und die Assoziation zum Fliegen.2

Trotz der Eigenständigkeit ihrer Arbeiten, ihrer Originalität und ihres Stils hat Marie Brassard aus den gemeinsamen Arbeiten mit Lepage eine Reihe von Merkmalen in ihre eigene Theaterästhetik übernommen. „Cela se reconnaît dans le ton, dans l’humour, dans les questionnements métaphysiques centraux et, surtout dans le texte de nature purement „spectaculaire“, qui ne pourrait exister sans le jeu dont il dépend.“3 Die Begegnung mit Robert Lepage ist ein Schlüsselmoment nicht nur für ihre eigenen Kreationen, sondern auch für die grundsätzliche Entscheidung, Theater zu machen. Geboren 1962 in Trois-Rivière, einer Kleinstadt nördlich von Montréal, verlässt Marie Brassard mit sechzehn Jahren die Schule und beginnt zunächst ein Kunststudium und 1983 eine Schauspielausbildung am Conservatoire d’art dramatique in Québec. Hier merkt sie sehr schnell, dass sie nicht Schauspielerin im klassischen Sinn sein möchte, sondern dass sie ein Theater sucht, das nicht nur Interpretation, sondern auch Kreation von ihr fordert. [...] vivre du théâtre, c’est bon pour les autres. Elle ne veut pas l’imaginer. „Devenir une actrice établie ou faire de la télévision ne m’intéressait pas.“ Ce qui intéresse Marie, c’est la création. Elle n’a pas envie d’interpréter Phèdre. Seul

2 3

Klett, Renate (2001a): „C’est bête, mais c’est beau.“ In: Theater heute 8/9, 50-54, hier 54. Dumas, Ève (2001): „Marie Brassard fait de beaux rêves.“ In: La Presse (5.6.2001) (Hervorhebung im Original). 264

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Hamlet, peut-être, saurait la tenter. „Créer“: elle aime jusqu’au mot, qu’elle répète à satiété.4

Sie lernt Robert Lepage kennen, ist begeistert von seiner Art, Theater zu machen, und über die Faszination beider für die ostasiatischen Kulturen beginnt mit La Trilogie des Dragons eine künstlerische Partnerschaft, die mehr als zehn Jahre andauert. Brassard spielt in acht seiner Stücke als Schauspielerin, fungiert als Co-Autorin für verschiedene Produktionen und adaptiert seine Inszenierungen Le Polygraphe und Nô für das Kino. Durch diese Kooperation entwickelt sie langsam ihren eigenen Stil und realisiert in der gemeinsamen künstlerischen Arbeit ihre Vorstellung von Theater als einem umfassenden künstlerischen Schaffensprozess. Avec Robert, on écrivait, on improvisait, je dessinais mon costume et on créait d’une manière globale. Robert est très ouvert à ce qu’on peut lui apporter. Un chef d’orchestre.5

Als sie 2001 mit ihrer Soloproduktion Jimmy, créature de rêve zum ersten Mal eine eigene Inszenierung präsentiert, bedeutet das einen Bruch mit der bislang durch die Arbeit im Kollektiv geprägten künstlerischen Herangehensweise, aber auch eine neue Chance, erstmals vollständig eigenverantwortlich ein Stück zu entwickeln und zu gestalten. J’ai toujours ressenti ce besoin. Je suppose qu’il s’agit d’un aspect de ma personnalité ou encore d’une réaction à la quantité énorme de travail collectif que j’ai accompli par le passé. Quoi qu’il en soit, je suis convaincue que l’acte de créer prend fondamentalement sa source dans l’isolement. Je considère comme un privilège de porter maintenant seule la responsabilité du spectacle. Dans cet état, je réfléchis mieux et je vois plus clairement en moi. Ma démarche semble très instinctive, mais c’est toujours par une très patiente réflexion que j’arrive à écouter mes propres instincts. J’explore beaucoup mes idées de départ, il peut se passer une longue période avant que je décide de l’avenue dans laquelle je vais m’aventurer. Je laisse à la dimension poétique le temps de se révéler, j’évite ainsi un résultat trop explicite ou didactique.6

Alle Inszenierungen Marie Brassards tragen diesen sehr persönlichen Charakterzug, fast als spiele sie ihre eigene Geschichte, und oft scheint es, als ob ihre Person mit den Figuren ihrer Stücke verschmelzen würde. 4 5 6

Perrier, Jean-Louis (2002): „Marie Brassard, l’itinérante du théâtre.“ In: Le Monde (30.1.2002). Ebd. Saint-Pierre, Christian (2004): „Une œuvre d’art en soi. Entretien avec Marie Brassard.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 111, 104-108, hier 104f. 265

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Dieser Eindruck resultiert aus der Tatsache, dass sie immer wieder auch autobiographisches Material verarbeitet und persönliche Erlebnisse in ihre Arbeit einfließen lässt, wobei diese Elemente nur das Ausgangsmaterial für ihre künstlerischen Reflexionen bilden. Gleichzeitig erklärt sie die Verwendung und Verarbeitung von realen Geschichten durch die große Bedeutung und Allgemeingültigkeit solcher oft persönlicher Erfahrungen, die sowohl schon grundsätzlich ein poetisches Potential in sich tragen als sie auch die Grundlage bilden für ein Verständnis von theatraler Kommunikation als ein Teilen und Reflektieren gemeinsamer Erfahrungen. À mes yeux, tout procède de la réalité. Aussi bien les aspects que l’on dit vérifiables que ceux que l’on considère comme inexplicables ou oniriques. Nos rêves, par exemple, appartiennent à la même réalité que nos vies. Comme la peur, l’imagination et l’angoisse, ce sont des facettes de l’existence humaine – des manifestations qui ne semblent peut-être pas rationnelles, mais qui existent bel et bien et qu’on expérimente chaque jour. […] On voit l’abstrait au travers du concret et vice versa. Je pense qu’il y a un double poétique correspondant à tout concept, objet ou personne. […] J’estime plus respectueux d’aborder de tels sujets en évitant de se replier sur soi-même. Il s’agit certainement du meilleur moyen d’atteindre véritablement les gens qui se trouvent dans la salle. En ce sens, j’entrevois la représentation tel un partage de connaissance à propos d’une réalité commune.7

Die Authentizität der Darstellung und der persönliche, unmittelbare Charakter ihres theatralen Erzählens beruhen auf der sehr persönlichen Sicht, mit der Brassard ihre Geschichten auf die Bühne bringt, und der Art und Weise, mit der sie zu ihrem Publikum in Dialog tritt. Ces termes [de l’intimité et du personnel] découlent sûrement de l’honnêteté ou de la franchise que je cherche à instaurer dans ma relation avec le public. Pour y arriver, il ne suffit pas de parler de sujets issus de notre intimité. Je pense plutôt qu’il faut adopter un point de vue personnel sur le monde, sans pour autant supposer que ce regard vaille plus qu’un autre. […] Offrir une perception unique sur la réalité trace toujours un chemin entre l’acteur et le public, aménage un passage qui permet la communication. Je n’entends pas plaire à tous, mais j’aime ressentir que le canal entre moi et les spectateurs est très nettement ouvert.8

Die Offenheit und Nähe in der Kommunikation mit ihren Zuschauern realisiert Brassard über ihr sehr intimes Schauspiel und über die Stimme 7 8

Ebd.: 105ff. Ebd.: 104. 266

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und deren mannigfaltige Transformationen. Durch die technische Verstärkung ihrer Worte, die durch die elektronischen Verfremdungen mal jung, mal alt, mal männlich, mal weiblich und mal nah, mal fern klingen, schafft sie eine große Nähe zum Publikum, die durch ihr darstellerisches Spiel, durch kleine Gesten und Andeutungen noch verstärkt wird. Les grands acteurs sont atypiques et Marie Brassard n’échappe pas à la règle. Observez-là: elle joue tout en retenue, avec cette idée simple à concevoir mais si difficile à réaliser qui veut que ce soit le moins qui peut le plus. Pour elle, jouer, c’est nettement faire selon une condition. Elle ne reproduit pas, elle recrée, ou plutôt, elle indique: elle ne crie pas, mais indique le crie. Les gestes sont discrets mais nets, pleins.9

Die Arbeit mit der elektronisch manipulierten Stimme ist für sie ein Mittel, das es ihr ermöglicht, verschiedenartige Spielweisen in einem Soloprojekt zu realisieren. Die Stimme ist so nicht nur Sprechorgan, sondern lässt sich vervielfältigen, musikalisch oder rhythmisch bearbeiten und als erweiterte physische Möglichkeit des Körpers nutzen. In einem Publikumsgespräch nach der Europapremiere ihres dritten Stücks Peepshow während der Wiener Festwochen bezeichnet Brassard das technische Medium als eine Prothese ihres Körpers, als Erweiterung ihrer darstellerischen Fähigkeiten, die dem Erzählen im Theater eine neue Tiefe und damit dem Publikum eine neue Dimension auditiver Erfahrung eröffnet.10 Damit verwendet sie genau jenen Begriff Marshall McLuhans, der technische Medien als Ausweitungen des menschlichen Körpers, eben als Prothesen begreift.11 Zum einen ermöglicht ihr das technische Hilfsmittel, als Solodarstellerin eine Vielzahl von Figuren bzw. Stimmen sprechen zu lassen, zum anderen erweitert diese Form von auditivem Theater die Erzählmodi des Theaters, lässt sie an Tiefe und Subtilität gewinnen und ermöglicht eine neue, sehr persönliche und intime Form von Wahrnehmung durch das Publikum. Dieses Instrument [der Stimmverfremdung (J.P.)] wurde mit fortschreitendem Arbeitsprozess immer wichtiger, nicht nur für mich als Regisseurin, sondern auch für mich als Schauspielerin. Es ermöglicht mir ganz verschiedenartige Spielweisen. Es erlaubt mir, mit meiner Sprechstimme Musik zu machen. Mehr noch, es ist, als ob ich auf einmal über zusätzliche physische Möglichkeiten verfügen würde. Ich kann von der Frau zum Mann, zum Kind und wieder zur 9 Lefèbvre (2003b): 6 (Hervorhebungen im Original). 10 Publikumsgespräch mit Marie Brassard und Alexander MacSween im Anschluss an die Europapremiere von Peepshow während der Wiener Festwochen am 13.06.2005, unveröffentlicht. 11 McLuhan (1994). 267

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Frau werden. Es ist sehr inspirierend, die Spannbreite dieser Technik auszuloten. Ich habe viele Jahre als konventionelle Schauspielerin gearbeitet, konventionell natürlich in Anführungszeichen, da Robert Lepages Projekte formal sehr anspruchsvoll und modern sind. Ich fühle mich mehr als Schauspielerin, denn als Regisseurin oder Autorin. Diese Technik erlaubt mir aber als Schauspielerin, Regisseurin zu sein. Zusammen mit Alexander entwickle ich eine Theatersprache, einen Spielstil, der mir neue Welten erschließt. Für mich ist es poetischer und „interpretierender“, die Dinge so auszudrücken als mit den Mitteln des realistischen Theaters. Ich wollte einen anderen Weg gehen. Peepshow soll gänzlich unrealistisch und surreal sein, aber gleichzeitig die Menschen auf eine sehr direkte Art ansprechen.12

Brassards Theaterverständnis gleicht der Vorstellung Robert Lepages von Theater als rituellem Moment magischen Geschichtenerzählens, als einem intimen Ort der Begegnung zwischen einem Publikum und einem Darsteller, der seine Zuhörer in den Bann seiner Stimme zieht.13 Il est le seul lieu où l’humain et la technologie peuvent réellement interagir (collaborer et se confronter) l’un avec l’autre, là, devant nous, avec nous. […] Marie Brassard n’attaque pas la technologie de l’extérieur. Elle ne l’attaque pas, point. Elle creuse des galeries à l’intérieur.14

Jimmy – créature de rêve Jimmy ist ein Traumwesen, das kein Alter und kein Geschlecht hat – oder zu viel von beidem; mal ist er Frau, mal Mann, mal Kind, mal Erwachsener. So präsentiert er sich jedenfalls in Brassards Theater, wo er seine lange und schmerzvolle Geschichte erzählt: Er wurde 1950 im Alter von 33 Jahren als homosexueller Friseur im Traum eines amerikanischen Generals ‚geboren‘, am Abend, bevor dieser in den Krieg nach Korea fliegen sollte. In diesem Traum ist Jimmy Besitzer eines kleinen Friseursalons in New York, der vor allem von jungen Männern und Solda12 Wagner, Almut (2005): „‚Meine Inspiration ist das wirkliche Leben‘. Marie Brassard im Gespräch.“ In: Programmheft „Peepshow“, Wiener Festwochen 2005. 13 Vgl. Kolesch, Doris (2004): „Natürlich künstlich. Über die Stimme im Medienzeitalter.“ In: Dies./Schrödel, Jenny (Hg.): Kunst-Stimmen. Berlin: Theater der Zeit (Recherchen 21), 19-38, hier 24: „Als Urszene des Theaters kann gelten, dass sich ein Körper exponiert, aus der Gruppe, dem Chor herauslöst und seine Stimme erhebt: wer spricht wird sichtbar.“ (Hervorhebungen J.P.). 14 Lefèbvre (2003b): 7. 268

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ten frequentiert wird. Einer dieser Kunden, ein gewisser Mitchell, übt auf Jimmy eine besondere Anziehung aus. Auch der General ist Protagonist seines eigenen Traumes und in dem Moment, in dem Jimmy und Mitchell sich nach Neckereien und Späßen schließlich näher kommen und Jimmy seine Lippen zum Kuss auf die Mitchells setzt, hört das Herz des Generals zu schlagen auf. Er stirbt und mit ihm stirbt auch Jimmys Liebesgeschichte. Seitdem versucht Jimmy, wiedergeboren bzw. ‚wiedergeträumt‘ zu werden und mit dem Kuss, der nie stattfand, zum Leben zu erwachen. Dem Publikum beschreibt er seine Situation so: Ça vous est déjà arrivé dans un rêve d’être sur le point de parvenir à l’orgasme? Vous vous réveillez brusquement juste à ce moment-là, habité par une sorte de plaisir gigantesque, inimaginable dans la réalité… Avec toute la force dérisoire de votre volonté, vous refermez les yeux, vous reprenez lentement la position exacte que vous aviez quand vous les avez ouverts. Vous essayez de retourner là où vous étiez. A cet endroit. Cet endroit que vous avez entrevu.15

Fünfzig Jahre lang befindet sich Jimmy in einer Art Warteschleife und hofft auf ein Wiederaufleben seines Traums, und tatsächlich, nach einer Ewigkeit der Leere, scheint sich die Zeit wieder zu bewegen und Jimmy wird weiter geträumt. Suspendu dans les millionèmes contenus dans les secondes et les millonièmes de millonièmes de secondes. J’ai pénétré l’infini et vécu l’immensité inimaginable du plaisir rêvé. Et puis, l’année dernière, tout à coup, après cinquante ans, pendant une fraction de seconde, le temps c’est remis à bouger… Et je me suis dit: Ça y est. Le baiser va recommencer!!! Et la somme de mon plaisir s’en est retrouvée augmentée. J’avais une grosse érection et juste au moment où j’allais éjaculer, une actrice de Montréal était en train de me rêver. Elle m’embrassait avec sa langue. Ça m’écœurait, ça m’écœurait tellement… L’érection a disparu instantanément. Et là… J’ai compris que j’étais dans le futur du rêve et que le visage de mon amour Mitchell n’existait déjà plus.16

Nicht der Traum des Generals findet plötzlich eine Fortsetzung, sondern Jimmy ist zum Protagonisten des Traumes einer montréaler Schauspielerin geworden und wechselt in diesem Traum fortan seine Identitäten. Zunächst ist er Andy Warhol, auf den ein Attentat verübt wurde und der einen Song von Elton John singt. Er zeigt dem Publikum die vernarbten Wunden auf seinem Oberkörper, ein Körper, der weibliche Brüste hat und so auch bildlich die Hybridität seiner Identität offenbart. Dann wird 15 Brassard, Marie (2001): Jimmy, créature de rêve: 4 (im Folgenden zitiert als ‚Jimmy‘). 16 Ebd. 269

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er zu Yves Montand und befindet sich gemeinsam mit der Schauspielerin in einem Flugzeug über dem Ozean, wo die Träumende ihn mit auf die Flugzeugtoilette nimmt, aber in diesem Moment erwacht. Und wieder ist Jimmy allein, zurückgelassen, und weiß nicht, wann und mit wem der nächste Traum beginnen wird. Er betrachtet sich im Spiegel und sieht sein vollständig transformiertes Gesicht, das nicht mehr das seinige ist, sondern von den Zügen und Merkmalen der anderen Identitäten durchkreuzt wird. Er ist nicht mehr er selbst, sondern ein Zwitterwesen, hybrid in seiner Erscheinung wie in seiner Identität. Während er allein und verlassen in der Toilettenkabine verharrt, erinnert er sich an seine vormals blonden, langen Haare und an seine Kindheit, in der er ein kleiner Junge war, der Zöpfe tragen musste, obwohl ihn seine Mitschüler damit aufzogen, und der schon damals wusste, dass er eines Tages zu Jimmy, dem homosexuellen Friseur werden würde. Die Zeit steht still für das wartende Traumgeschöpf Jimmy. In der unendlichen Leere der Zeitlosigkeit hängt er seinen Gedanken und Träumen nach und fragt sich, was wohl aus den anderen Protagonisten seines Urtraums geworden sein mag. Was ist passiert mit Mitchell, seiner großen Liebe? Blickt auch er für immer ins Nichts? Hat er Angst? Sehnt er sich nach Jimmy zurück? Und der General? Können Tote träumen? Das Traumgeschöpf Jimmy verliert sich in seiner Imagination, in seinen eigenen Träumen und hofft, ein Träumender ohne eigenes Bewusstsein möge den alten Traum weiterträumen. Dann sieht er sich zusammen mit Mitchell in einer unendlichen Unterwasserlandschaft, frei und befreit, als plötzlich ein großer Fisch auf ihn zu schwimmt, ihn anstarrt und immer näher kommt. Er glaubt schon, seine Vorstellungskraft sei so stark, dass es ihm gelungen sei, Mitchell wieder treffen zu können, den Urtraum wieder hervor zu beschwören, doch dann muss er erkennen, dass es wieder die Schauspielerin ist, die ihn träumt. Sie ist nun Verkäuferin in einer Tierhandlung und Jimmy ihre Kundin. Er trägt jetzt Frauenschuhe und streichelt langsam und liebevoll diesen großen schönen Fisch, der in der Darstellung Brassards plötzlich sein Penis ist, onaniert bis zum Orgasmus, mit dem Rücken zum Publikum. Im gleichen Moment wird er zur Mutter der Schauspielerin, die immer wieder die Träume ihrer Tochter bevölkert, und wird mitgenommen in die Phantasien der jungen Frau, die die Ihrigen zwingen will, sie zu lieben. In dieser Traumsequenz taucht auch der amerikanische General wieder auf, umgeben von jungen koreanischen Prostituierten, Opfern des Krieges und Opfern einer käuflichen Liebe. Schließlich gelingt es Jimmy, zu fliehen, das Albtraumszenario zu verlassen, er rennt und rennt und findet sich schließlich in einer Wüste wieder, in einer unendlichen Weite und Leere, wo ihn seine Erinnerungen an Mitchell und der unstillbare Wunsch, seine große Liebe endlich wieder zu treffen, einholen. Die

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Liebe und das Begehren der Schauspielerin machen ihm Angst, aber was passiert, wenn sie wieder aufhört, von ihm zu träumen, wenn sie plötzlich stirbt? Wird er wieder für lange Zeit, vielleicht wieder fünfzig Jahre lang in einem leeren Raum, ohne Zeit- und Ortsbezug gefangen sein? Je ne voudrais pas passer les prochains 50 ans ici... 50 ans à contempler le vide laissé par votre absence, parce que bien sûr, vous, dans quelques minutes, vous serez parti… A moins que… Vous, vous êtes rêveurs ou vous êtes rêvés? Si vous êtes rêveurs tant mieux pour vous. Si vous êtes rêvés, bonne chance! Si personne ne vient vous chercher, vous allez être pris ici pour l’éternité, assis dans vos sièges à me regarder faire l’acteur…17

Während sich Jimmy seinen Reflexionen über das Schicksal von Traumgestalten hingibt, setzt plötzlich Brassards Mikrophon und der Stimmtransformator aus. Das technische Problem scheint die Darstellerin vollständig aus dem Spiel zu werfen, sie tritt aus dem Lichtkegel heraus ins Dunkel, dreht dem Publikum den Rücken zu, spricht kurz leise mit dem Techniker und entschuldigt sich dann bei den Zuschauern: „Je pense qu’on a un problème technique… Excusez moi, je peux pas continuer… sans la voix je ne peux rien faire…“18 Nach einem langen Moment der Anspannung bei Publikum und Darstellerin hört man wieder Jimmys Stimme, der diese perfekt inszenierte Panne kommentiert und sich als das Produkt eben jener Schauspielerin, als Geschöpf von Marie Brassard selbst enttarnt: ‚Sans la voix, je ne peux rien faire...‘ Elle a dit ça! C’est à ça qu’elle rêve, l’actrice quand je ne suis pas là… Elle rêve au vide. Elle rêve qu’elle a peur de tomber… elle rêve au trou. Mais… elle s’est jamais gênée pour me jeter dedans, moi, par exemple! J’ai tout compris …19

Resigniert und voller Angst ob seines ungewissen Schicksals, das vollständig von den Träumen ihm fremder Träumender abhängt, erzählt Jimmy dem Publikum einen letzten Traum der Schauspielerin, die ihn als Fahrer eines Autobusses durch ein Kriegsgebiet mitnimmt, wo andere Fahrzeuge und junge Soldaten von Minen zerrissen werden, er das Blut der Sterbenden sieht, das in seinen Bus eindringt und wo er inmitten dieser Kriegssituation glaubt, Mitchell zu erkennen. Aber die Schauspielerin zwingt ihn, weiterzufahren und sein verzweifelter Schrei verhallt schließlich im Dunkel der Bühne: „Mitchell, est-ce que tu es mort? Où le rêve

17 Ebd.: 16. 18 Ebd. 19 Ebd.: 16f. 271

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est-il allé quand je suis parti? […] Est-ce que tu existes encore quelque part dans l’espace du rêve?“20 Der Zuschauer wird nie erfahren, ob Jimmy seine große Liebe eines Tages wiedersehen wird, ob sein Traum in Erfüllung gehen wird. Marie Brassard verkörpert Jimmy und all seine Parallelcharaktere und führt die Zuschauer voller Emotionen durch die zahlreichen Metamorphosen ihres Traumgeschöpfs. Jimmy erzählt dem Publikum seine Erlebnisse innerhalb des Traumuniversums und durchlebt sie in Realzeit, er ist Erzähler und Protagonist zugleich. Auf einer kleinen quadratischen Spielfläche, die seitlich im Raum positioniert etwa einen halben Meter über dem Bühnenboden befestigt ist, schluchzt Jimmy in sich zusammengekrümmt vor sich hin, dem Publikum den nackten Rücken zugewandt, die langen dunklen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, als er plötzlich die Anwesenheit der Zuschauer zu bemerken scheint, sich umdreht, ein Jackett anzieht und mit elektronisch verzerrter, halb männlicher, halb weiblicher Stimme von seinem Schicksal berichtet. Brassard benötigt kaum Requisiten, um die Wirren des Schicksals ihres Traumwesens darzustellen; außer einer kleinen Bank und einem Spiegel an der Wand ist die winzige Bühne fast leer. Wenn Jimmy zu Jimmy, dem Kind wird, löst sie die im Nacken zusammengebundenen Haare, die ihr dann als Zöpfe rechts und links über die Schultern fallen; verwandelt sich Jimmy in die Mutter, schlüpft sie in Frauenschuhe mit Absatz und krempelt die Hosenbeine auf, so dass der strenge Herrenanzug zum femininen Kostüm wird.

Jimmy, créature de rêve (Abb. 14)

20 Ebd.: 19. 272

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Effektvollstes Mittel des Wechsels zwischen den Identitäten ist der Vocoder, ein Stimmtransformator, mit dem Marie Brassard über ein kleines, tragbares Mikrophon verbunden ist, und der ihre Stimme verzerrt, die Register und die Tonhöhe verändert, sie mal männlich, mal weiblich, mal verzerrt, mal uneindeutig androgyn klingen lässt. Toutes ses traversées ne manquent pas d’être assumées sans efforts apparents par une actrice seule en scène, dont le corps et la voix androgynes se métamorphosent à volonté. Un peu de technique aidant, s’imposent à nos yeux médusés des créatures diverses, allant du général américain sur le point de servir en Corée à un coiffeur gay allumé, en passant par une fillette aux longues tresses aux prises avec une maman très collet monté. Galérie éclectique de personnages, fruit d’un imaginaire d’une volatilité merveilleuse.21

Auf faszinierende und ergreifende Art und Weise entführt Brassard ihr Publikum in die unendlichen Tiefen einer Traumwelt, umgarnt es mit den unterschiedlichen Timbres ihrer elektronisch manipulierten Stimme und schafft durch die Möglichkeiten der Stimmverstärkung, die auch leise und emotionale Töne zulässt, eine große Nähe und Intimität: „Es ist, als horche man durch die Lautsprecher, die auch den kleinsten Zungenschlag hörbar machen, in das Wesen hinein.“22 Über das Medium der Stimme und die hohe Suggestionskraft der verschiedenen Timbres schafft Marie Brassard eine emotionale Verbindung zwischen ihrer Traumfigur und dem Publikum und sensibilisiert es so für den Jimmys Geschichte zugrunde liegenden Diskurs über die Instabilität von Identitäten und ihre diskursiv bedingte Einschreibung auf den Körper. Im Kontrast zu früheren Arbeiten mit Robert Lepage, in denen in erster Line die Visualität des Theaters im Vordergrund stand, akzentuiert sie durch die multiplen Stimmtransformationen das Hören als konstitutiven, im Theater aber oft nur der Vermittlung von Textbedeutung zugeschriebenen Bestandteil des theatralen Zeichenkomplexes. Doris Kolesch bemerkt hierzu, dass in den aktuellen ästhetischen Debatten Begrifflichkeiten und Metaphern aus dem Bereich des Visuellen dominieren, dabei aber die akustische Verfasstheit von Theater oft übersehen bzw. marginalisiert wird: Der theatrale Raum ist kein von Stimmen, Geräuschen und Musik bloß durchzogener Raum, er ist ein von Stimmen, Geräuschen und Musik überhaupt erst

21 Guay, Hervé (2001): „La fée des planches.“ In: Le Devoir (6.10.2001). 22 Meierhenrich, Doris (2002): „Aus der Traum, toter Vogel.“ In: Berliner Zeitung (6.11.2002). 273

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mitkonstituierter Raum. [...] Es gibt gute Gründe, nicht [...] das Bild als Paradigma des Theaters zu wählen, sondern die Stimme. Die Stimme als exemplarisch performatives Phänomen ist ein Double der performativen Kunstform Theater. Die erklingende Stimme wirkt so flüchtig und ephemer wie eine Theateraufführung, beide Phänomene bringen im Wortsinn den Körper ins Spiel und sie zielen beide auf Wahrnehmung.23

Die Wahrnehmung der Stimme, das mediale Potential von gesprochener Sprache, ist ein Phänomen, das auch im Kontext medienphilosophischer Arbeiten bislang kaum untersucht wurde. Die Stimme, so Alice Lagaay, taucht in der metaphysischen philosophischen Tradition „nur als Träger von linguistischer Bedeutung, d.h. in ihrem Bezug zur semantischen Ebene der Sprache“24 auf. In den wenigen Fällen, in denen die Stimme gleichwohl auftaucht, wird ihr meist mit großer Ambivalenz begegnet: privilegiert findet sich die Stimme, wenn sie als diejenige Instanz deutbar ist, die der inneren Welt der Person – also der vermeintlichen Seele – am nächsten steht. [...] Sobald sie jedoch von dieser Funktion als Medium sprachlicher Semantik und erfüllter Selbstidentität abzuweichen beginnt, wird der Stimme mit Argwohn begegnet: Sobald sie außer Kontrolle gerät oder sich verführerisch musikalischen Dimensionen annährt, sobald sie ein Begehren ausspricht oder Emotionen anspricht, sobald sie die Ränder ihres Artikulationspotentials ausschöpft, indem sie murmelt, stottert, schreit, heult oder jammert, da wird sie mit größtem Misstrauen betrachtet und mit Verrücktheit, Hysterie, Exaltation und allem, was sonst [...] auf verdächtige Weise „anders“ ist, assoziiert.25

Jimmys Stimme bzw. seine multiplen, sich überlagernden Stimmlagen und -timbres artikulieren jenes Anderssein, das ebenso auf seine hybride Identität verweist, wie sie den epistemischen Mehrwert von Stimmlichkeit überhaupt herausstellen. Die mal schrille, mal dunkle Stimme und der schnelle Wechsel zwischen männlich und weiblich konnotierten Tonlagen illustrieren auf akustischer Ebene nicht lediglich die identitäre Zerrissenheit des Traumgeschöpfs, sondern diese brüchigen Stimmen, deren Künstlichkeit immer mitklingt, erzählen mehr als die semantischen Bot23 Kolesch, Doris (2001): „Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen.” In: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 260-275, hier 260f. 24 Lagaay, Alice (2004): „Züge und Entzüge der Stimme in der Philosophie.“ In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink, 293-306, hier 293f. 25 Ebd.: 294 (Hervorhebung im Original). 274

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schaften der Geschichten Jimmys. In jeder der verschiedenen Tonlagen schwingt die vorherige noch mit, der Wandel zwischen den Figuren vollzieht sich akustisch oftmals wie ein schmerzhaftes Krächzen und in allen Formen dieser identitären Transformationsverfahren wird Jimmys Verzweiflung und sein Wunsch nach Glück und Freiheit erfahrbar. Diese Vieldimensionalität der Aussagen der Stimme(n) Jimmys ist jene von Sybille Krämer beschriebene, nicht-intendierte Spur, die ein Medium an seinen Botschaften hinterlässt und die das Verhältnis von Rede und Stimme als einen performativen Vollzug verständlich werden lässt, in dem die Stimme mit ihrer auch geschlechtsspezifischen und unberechenbaren Körperlichkeit die Rede deutet, kommentiert und unterminiert.26 Wenn Doris Kolesch auf die geläufige Bezeichnung der Stimme als einem „Zwischen von Körper und Sprache“27 verweist, dann nimmt diese Vorstellung jene Unbestimmtheit auf, die sich in den Stimmen Jimmys ebenso wie in seinem hybriden Äußeren spiegelt. Die zitierte Vorstellung suggeriert nämlich die Existenz eines Körpers, der „allen Einschreibungs- und Artikulationsprozessen vorgängig wäre“ ebenso wie die einer abstrakten Sprache. Demgegenüber argumentiert Kolesch, dass „Sprache immer nur in einem räumlich und zeitlich situierten Vollzug existiert“ und daher als „verkörperte Sprache re-konstruiert werden [muss], wobei Verkörperung kein Apriori des Leibs anzeigt, sondern eine jeweils spezifische Materialität und Medialität.“28 Die Stimme sagt also mehr als die Rede und verweist in einer Art Rückkopplung auf den Körper ihres Sprechers und dessen jeweilige Geschichte, wobei der Bezug zum Körper immer nur ein momentaner, raum-zeitlich situierter ist. „Als verselbstständigte Realität sprengt die Stimme das Selbst auf“, die hybride Stimmlichkeit Jimmys übersetzt seine gesplitterte Identität.29 Die Rede ist nicht einfach die Vollstreckerin des Sprachsystems. Sie bestätigt nicht nur nicht vollständig dessen Vorgaben, sondern handelt ihm oft, in ihrer ganzen Körperlichkeit [...] zuwider. Indem er sie im szenischen Sinne des Wortes repräsentiert, bringt mir der Körper jene Rede zur Kenntnis, die der poetische Text enthält. Daraus entspringt eine Doppelstruktur. Die Rede gibt sich als Erzählung, sie wird aber gleichzeitig im Klang der Stimme und der Bewegung des Körpers, die ihr Ausdruck verleihen, zum Kommentar des Erzählten. Er-

26 27 28 29

Vgl. Krämer (1998a): 79ff. sowie Krämer (1998b): 43ff. Kolesch (2001): 263. Ebd. Lehmann, Hans-Thies (2004): „Prädramatische und postdramatische Theater-Stimmen. Zur Erfahrung der Stimme in der Live-Performance.“ In: Kolesch, Doris/Schrödel, Jenny (Hg.): Kunst-Stimmen. Berlin: Theater der Zeit (Recherchen 21), 40-66, hier 40. 275

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zählung und Deutung, sie leben zusammen im Werk und spielen doch ihr eigenes, ihr eigenständiges Spiel.30

In diesen Formulierungen Paul Zumthors sticht der theatrale Aspekt des performativen Vollzugs der Rede durch die Stimme hervor, wodurch das enge Verhältnis der Stimme zur Bühne besonders evident wird. Da eine Stimme sich prinzipiell im Hier und Jetzt und im Modus des ZumErsten-Mal-Seins ereignet – keine stimmliche Äußerung lässt sich identisch wiederholen – und da sie immer an einen Hörer gerichtet ist (ähnlich wie eine Performance oder ein Theaterstück eines Publikums bedarf), kann die Stimme als theatralisches Phänomen begriffen werden, das räumlich wie zeitlich als einmalige Präsenz existiert. Sie kann somit also auch als ein archetypisches Beispiel der performativen Theorie betrachtet werden.31

Die Stimme als Medium der Rede und der an diese Stimme gekoppelte Körper erweisen sich also als genauso konstitutiv für die Art und Weise des performativen Vollzugs der Körperlichkeit Jimmys wie sie konstitutiv für den theatralen Akt sind. Dieses Wechselverhältnis bestimmt auch die visuelle Dimension der Inszenierung des Traumgeschöpfs Jimmy, dessen polyphone Stimmlichkeit sich auch auf seinen Körper einschreibt und seine identitäre Hybridität optisch erfahrbar werden lässt. Marie Brassard ist Jimmy und Jimmy im Körper der Mutter der Schauspielerin und Jimmy als Kind, und all diese Identitäten werden sichtbar durch die schichtweise und fragmentarische Überlagerung einzelner geschlechtlicher und charakterlicher Attribute. Schon der große, schlackernde Männeranzug, den Brassard in der ersten Szene des Stücks trägt, visualisiert die Fremdheit der Figur in ihrem Körper und den diesem Körper zugeschriebenen Kleidern. Es ist der von den unterschiedlichen Träumen gezeichnete Körper Jimmys, aber auch ein Frauenkörper, der einen kurzen Blick auf eine nackte Brust preisgibt, als er sich zum Publikum umdreht und ins Jackett schlüpft. Später sieht man auf dem Rücken die Wunden und Narben, die Andy Warhol nach dem Attentat davon trägt, oder die kleine Blutspur, die Jimmy aus der Nase rinnt, bevor er mit seiner Geschichte beginnt. Jede der Verwandlungen – vom langen Haar zu Zöpfen, vom Anzug zum Kostüm – trägt die Spuren der Vorhergehenden, Jimmy bleibt ein Versatzstück aus Fragmenten und Schnipseln der durchlebten Traumfiguren.

30 Zumthor, Paul (1995): „Körper und Performanz.“ In: Gumbrecht, HansUlrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 703-713, hier 709. 31 Lagaay (2004): 301 (Hervorhebung im Original). 276

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A l’aide de cette voix trafiquée, de postiches, d’un costume d’homme porté à même sa poitrine nue, Marie Brassard, au corps filiforme, se crée un personnage hybride – tout à fait dans la mouvance des travaux de Cindy Sherman, dont elle avoue s’être inspirée. Mais la prouesse réside dans sa capacité à endosser et enchaîner les métamorphoses, juxtaposant sur ce même corps divers personnages totalement différents: vers la fin du spectacle, elle entame une danse sur place, et l’on voit littéralement chaque partie de son corps habitée par un personnage particulier, collage hétérogène qui forme pourtant un corps.32

Wie Cindy Shermans Photographien inszeniert Brassard hier eine Kunstfigur, einen fragmentarischen, aus heterogenen, stereotypisierten Attributen konstruierten Körper, der die Masken seiner Inszenierung als solche offen legt und die diskursive Prägung von Geschlechtsidentität und deren queerness, wie sie Judith Butler theoretisch formuliert hat, künstlerisch umsetzt.33 Dabei unterminiert die Vielstimmigkeit seiner Rede ebenso 32 Fouquet, Ludovic (2001): „Partage du visible: La place du spectateur dans quelques spectacles du FTA 2001.“ In: ETC Montréal 55, 28-31, hier 29. 33 Im Kontext ihrer Kritik an der Kategorie Identität unterscheidet Butler zwischen biologischem (sex) und kulturellem (gender) Geschlecht und postuliert mit Rückgriff auf Foucaults Machtbegriff, dass Identitäten in kulturellen Diskursen produziert und naturalisiert werden. „Sein“ ist für Butler nicht ein prädiskursiv gegebenes, natürliches Phänomen, sondern lediglich der Effekt einer sich immer wieder wiederholenden Serie von performativen Akten und einer Stilisierung des Körpers. Diese Einsicht der Konstruiertheit von Identitäten birgt für Butler das Potential der Veränderung und Unterminierung. Der Terminus queer bezeichnet dabei die Tatsache, dass Kategorien wie „weiblich“ und „männlich“ nur diskursive Zuschreibungen sind, dass Geschlecht immer das Ergebnis einer Inszenierung ist und dass durch die Möglichkeit der performativen Bezugnahme offengelegt werden kann, dass es immer eine Imitation, eine Parodie bleibt, für die es kein Original gibt. Nicht nur Drag Queens inszenieren ihr Geschlecht, sondern jede Form von Identität unterliegt performativen Akten, durch die bestehende, in den gesellschaftlichen Kontext eingebettete Konzepte und Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit hervorgebracht und gefestigt werden, aber auch beständig verschoben werden. Queere und heterosexuelle Identitäten sind dabei Produkte derselben Normen, die durch diskursiv bestimmte Ausschlussprozesse gesteuert werden. Die queer theory basiert somit nicht nur auf der Kritik der hegemonialen Diskurse, sondern gerade auch auf dem Moment der Reflexivität der eigenen Diskurse, die immer wieder kritisch zu hinterfragen bleiben. (Vgl. dazu ausführlicher Butler, Judith (1991): Gender Trouble. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp; Dies. (1997) sowie de Lauretis, Teresa (1987): Technologies of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction. Bloomington: Indiana University Press.) 277

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wie sein Körper und seine Kleidung die Vorstellung von einer physiologischen Ganzheit der Figur. Die Präsentation des Körpers im abendländischen Theater steht unter dem Primat des physiologischen Körpers. Die Bewegungen des Schauspielers, seine Stimme ebenso wie seine Mimik und Gestik werden als Zeichen für die organische Einheit des Körpers wahrgenommen. Diese physiologische Totalität des Körpers soll letztlich die Illusion der Einheit der dargestellten Person hervorbringen.34

Jimmy ist eine Figur, die sich jener Einheitlichkeit der Darstellung widersetzt. Seine Physiognomie und seine Stimme(n) verweisen auf seine körperliche wie identitäre Hybridität und inszenieren jene queerness, die sein Schicksal bestimmt. Dabei ist er in zweierlei Hinsicht in seiner Individualität und in seinem Anspruch auf ein Leben nach seinen Wünschen, in Harmonie mit seiner Identität marginalisiert. In seinem Urtraum beschreibt er den amerikanischen General als einen homophoben Menschen, der in einem der Folgeträume als militärische Autoritätsfigur junge koreanische Frauen und Kinder als Prostituierte benutzt.35 Es scheint, als sei seine Ablehnung gegenüber den homosexuellen Friseurbesuchern, sein Selbstverständnis als Mann und als (militärischer) Vertreter einer Weltmacht der Grund für seinen tödlichen Herzinfarkt, der Jimmys Glück zerstört. Aber nicht nur die Ausgangskonfiguration des Urtraums beraubt Jimmy seiner Individualität und seines Daseins, auch in den folgenden Traumsequenzen erweist sich seine Existenz, sein Handeln, seine äußere Erscheinung und seine soziale und geschlechtliche Identität als fremdbestimmt und von außen gesteuert. Die montréaler Schauspielerin träumt Jimmys Geschichte weiter; ob er will oder nicht ist er ihren Phantasmen ausgeliefert. Er wird gezwungen, Identitäten anzunehmen, die nicht seine sind, vor denen er sich ekelt und die ihre Spuren auf seinem Körper hinterlassen. Seine Identität als homosexueller New Yorker Friseur ist verschwunden, ist ihm genommen worden. „[D]evant le miroir dans les toilettes de l’avion, j’ai compris que le maquillage et les traits des autres visages du rêve s’étaient mêlés au mien. Mon visage avait disparu.“36 Was ist schlimmer, fragt sich Jimmy: Protagonist in den Träumen fremder Menschen zu sein, von deren Unterbewusstsein gesteuert zu werden, oder einfach gar nicht mehr weiterzuleben, in der Traumschleife 34 Kolesch, Doris (1998): „Zur Theatralität nicht-theatraler Bilder. Überlegungen zu den Photographien von Cindy Sherman.“ In: Paragrana 7 (1), 179-195, hier 190. 35 Vgl. Jimmy: 2f. und 13. 36 Ebd.: 6. 278

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zu verharren, auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, so wie er es schon durchlebte, als der General starb oder die Schauspielerin plötzlich erwachte und ihn in der Flugzeugtoilette zurück ließ. Er ist gezwungen, zu handeln, wie es ihm die Träumenden befehlen, zu verkörpern, wen sie sich vorstellen. So kommt es in der Traumsequenz in der Zoohandlung zu einer doppelten Form ungewollter gender performance. Jimmy muss hier in den Körper einer Frau schlüpfen, ein Akt, der seine geschlechtliche Identität durchkreuzt, und gleichzeitig muss er in diesem Körper, der nicht sein eigener ist, öffentlich masturbieren, seine Sexualität vor einem Publikum – und das in zweierlei Hinsicht – zur Schau stellen, eine Situation, die Jimmy verstört und beschämt und wofür er sich bei den Zuschauern entschuldigt: Excusez-moi... Je suis vraiment désolé et très gêné. Je vous assure que ce n’est pas dans mes habitudes. Enfin, c’est pas du tout dans ma nature d’être exhibitionniste ou flasher ou quelque chose de semblable. Je suis plutôt du genre timide. Ce n’est pas que je n’ai pas d’idées, mais de l’idée au geste si je puis dire…. il y a un monde…. Et faire ce que je viens de faire devant vous, comme ça en public, ça ne me serait même jamais venu à l’idée. Non. Ça, c’était l’idée de l’actrice… Elle a dû avoir un fantasme.37

Aber nicht nur Jimmy als Jimmy ist sein ihm von außen auferlegtes Handeln peinlich und unangenehm, auch Jimmy in der Rolle der Mutter äußert sich irritiert und geniert angesichts dieser an ihrem Körper öffentlich demonstrierten sexuellen Befriedigung: Dans ce rêve, je devais partager mon corps avec celui d’un coiffeur homosexuel et ça ne me mettait pas à l’aise. Je me sentais humiliée parce que quelques secondes auparavant, j’avais été malgré ma volonté témoin muet de cette scène d’onanisme mâle pratiquée sur mon propre corps. Puisque, pour servir le scénario de ce cauchemar amoral, j’étais hermaphrodite…38

Die Fremdbestimmtheit der Traumfiguren durch ihnen wahllos zugeordnete Träumer, der Zwang, sich den Vorstellungen, Wünschen, Ideen und Phantasmen der Träumenden unterzuordnen und so jegliche Individualität aufgeben zu müssen, thematisiert das Spannungsfeld von Identität in mehrfacher Hinsicht. Zum einen stellt es die diskursive Bedingtheit des Seins des Individuums dar – wir sind die, die wir sein sollen, die, die man in uns sieht, wir verkörpern ein Bild, das sich andere von uns machen – und fragt, inwieweit wir innerhalb dieses Diskurses in unserer

37 Ebd.: 10. 38 Ebd.: 11. 279

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Identität überhaupt noch frei und selbstbestimmt sind. Zum anderen führt Brassard mit Hilfe der Figur Jimmys auch die Machtmechanismen dieses Diskurses vor Augen, nämlich das, was innerhalb des Diskurses als ‚normal‘ codiert und somit ‚erlaubt‘ und toleriert ist, und das, was marginalisiert und aus dem Diskurs ausgeschlossen wird. Through Jimmy’s fluid transformations, Brassard’s dream world embraces the postmodern notion of mutable identity. This can be a playful, liberating perspective, but for Jimmy, it’s torture because he has no agency, no choice in who he becomes and what he does. As a slave of the eroric subconscious, he must behave as his dreamers demand. […] Jimmy plays the adult homosexual, the homosexual’s child self, and the actress’s dead mother. Unlike the hypermasculine figure, the general, none of these figure has power. […] Jimmy’s hell is the torture of futile longing. He is objectified, constructed by the others, and therefore terrified of being abandoned.39

Jimmy ist eine Randfigur, die wegen ihrer Homosexualität gesellschaftlich geächtet wird und die vielleicht gerade aufgrund von Vorurteilen im Traum der Schauspielerin gezwungen ist, ihr Anderssein, ihre sexuelle Orientierung und ihre Lust zur Schau zu stellen und damit das Klischee des ewig geilen Schwulen zu bestätigen. Jimmy ist Mann und Frau, homosexuell und heterosexuell, jung und alt und eigentlich nichts von all dem. Dabei ist Marie Brassards Theater nicht bitterernst, nicht in erster Linie feministisch oder politisch geprägt, sondern ihr Spiel mit den unendlichen Transformationen ihrer Figur zeugt von der kreativen schauspielerischen Dimension der Erschaffung dieses Traumwesens. Obwohl Jimmy ja eigentlich ‚außer Dienst‘ ist, wenn die Schauspielerin erwacht oder ihm droht, von jemand oder etwas anderem zu träumen, als von ihm, stellt sich Jimmy Fragen ontologischer Art. „Bin ich überhaupt?“, überlegt er und gibt diesen Zweifel sofort an das Publikum weiter: „Und ihr da, seid ihr Träumer oder Geträumte?“40 Somit entschärft er intradiegetisch Brassards hypothetische Parallelwelt und entlarvt sich selbst nicht nur als das Traumprodukt einer (fiktiven) Schauspielerin, sondern auch als Konstrukt der Künstlerin und Schauspielerin Marie Brassard. Denn nicht nur innerhalb des Plots ist Jimmy der nächtlichen Phantasie einer Schauspielerin entsprungen, auch Jimmy, créature de rêve, das gesamte Stück, beruht auf den gesammelten Träumen Marie Brassards.

39 Thomas, Colin (2003): „Jimmy.“ In: The Georgia Straight (23.-30.1.2003). 40 Vgl. Jimmy: 16. 280

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – MARIE BRASSARD

Quand j’étais petite, je me demandais: est-ce que les êtres à qui on rêve existent dans un univers parallèle? Au fond de moi, même si c’est absurde, je crois que oui. C’est un peu ça le point de départ de tout ce projet. […] Ça fait très longtemps que j’ai ça dans la tête. J’ai écrit mes rêves de façon régulière pendant environ deux ans. J’ai accumulé une banque de rêves, si on veut. Les histoires sont tellement intéressantes, elles sont fascinantes, étranges, profondes. Les situations dans lesquelles on est plongé lorsqu’on rêve créent des émotions d’une telle intensité et qui parfois n’ont pas de rapport direct avec l’action qui est vécue et ça c’est intéressant pour moi.41

Dabei betont sie, dass sie nicht ihre persönlichen Träume auf der Bühne inszeniert, sondern nur Details, Themen oder Zusammenhänge verwendet, die aus deren Reflexion hervorgegangen sind, hebt aber gleichzeitig ihre Faszination für die innere Logik von Träumen überhaupt, für ihre Struktur, ihre Sprache und ihre Poesie hervor. Diese Logik hat Marie Brassard auf die Bühne übertragen und so ein minimalistisches Schauspiel geschaffen, das Publikum und Kritik durchweg begeistert.42 Ihr Solospiel ist einfach, aber präzise, ihre Gesten diskret, aber voller kleiner Details, die in Kombination mit der technischen Prothese ein unendliches Traumreich entstehen lassen, das sich dem Zuschauer in erster Linie über die Ohren erschließt. Durch die technische Erweiterung ihres stimmlichen Ausdruckspotentials gelingt Brassard eine Neuakzentuierung der akustischen Dimension von Theater. Die Geschichten, die Jimmy durchlebt, die Wirrungen der verschiedenen Träume, die sich miteinander vermischen und sich gegenseitig überlagern, werden zu einer autonomen Klangtextur, die unabhängig von der körperlichen Bühnenpräsenz der Darstellerin schon sinnstiftend ist. Ihre visuelle Inszenierung der Identitäten Jimmys dient in diesem Zusammenhang nur einer oberflächlichen Skizzierung und Andeutung seiner Transformationen, die Ausgestaltung des Erlebten aber bleibt der freien Vorstellungskraft des Zuschauers überlassen. Le théâtre est un art qui s’écrase toujours lorsqu’on veut reproduire de façon illusionniste la surface du réel et qui s’envole dès qu’il arrive à créer des évocations. Le jeu de Marie Brassard est savamment fragmentaire. Elle incarne des esquisses de personnages qui rendent le spectateur actif: c’est à lui de les

41 Pouliot, Sophie (2001): „L’actrice qui rêve.“ In: Le Devoir (2./3.6.2001). 42 Vgl. exemplarisch Dumas (2001); Fouquet (2001); Klett, Renate (2001b): „Und Jimmy ging aus seinem Traum.“ In: Süddeutsche Zeitung (29.6.2001); Dies. (2001a); Pouliot (2001); St-Hilaire, Jean (2002): „L’irrésistible transformisme de Marie Brassard.“ In: Le Soleil (26.5.2002). 281

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

completer par son imagination. […] Marie Brassard joue […] la marge pour nous mettre face à la page.43

Das Publikum ist eingeladen, seinen eigenen Traum mit Jimmy zu träumen, seine subjektiven Räume und Orte zu entwerfen und Marie Brassards akustische Traumgeschichten durch seine Imagination, die durch den berauschenden Klangdekor dieses Theaters stimuliert wird, zu komplettieren. Die Stimme Brassards transportiert aber nicht nur die Geschichten ihrer hybriden Figur Jimmy, sondern der Variationsreichtum der technischen Prothese erlaubt eine feine, vielschichtige Modulation der Emotionen und Befindlichkeiten ihrer Figur. Dieses Potential der Inszenierung offenbart sich unmissverständlich im Moment der inszenierten Panne, in dem plötzlich das Mikrophon aussetzt. In einem kurzen Moment der Unsicherheit scheint alles in sich zusammenzubrechen, die Vorstellung nicht weitergehen zu können, das Spiel seiner Grundlage beraubt zu sein. Erst hier wird offensichtlich, wie sehr diese kleine, intime Inszenierung, die sich gerade durch die scheinbare Unmittelbarkeit, mit der Brassard die Geschichte ihres Traumgeschöpfs erzählt, auszeichnet, von der technisch-medialen Illusionserzeugung abhängt. Das Theater offenbart sich einmal mehr als ein Ort medialer Performanz, für den eine Vielzahl technischer Interventionen prägend sind, und zeigt gleichzeitig, dass diese Allianz in keiner Weise die dem Theater zugeschriebene Authentizität der Darstellung, das Moment der unverstellten Präsenz eines Schauspielers und die Magie des unmittelbaren Erlebens in Frage stellt, sondern zum paradigmatischen Ort der Interaktion von Mensch und Maschine wird. Il en est beaucoup pour qui le théâtre est le dernier et bienvenu refuge de ceux qui croient que seul l’humain (et l’humain seul) peut véritablement représenter l’humain. […] Pour ce, ils banissent de la scène, autant que faire se peut, la technologie contemporaine et ses apparences. Soit. Mais alors, qui nous montrera les liens entre l’homme et la technologie sinon le théâtre?44

Und tatsächlich ist auch Jimmy nur ein technisches Produkt, das Ergebnis einer Spielerei, eines Experiments ohne Ziel, erschaffen durch einen Zufall während einer Probenpause in einer Theaterproduktion, während der Marie Brassard mit dem Regler ihres Mikrophons spielt und so die Stimme Jimmys zum ersten Mal kreiert.45 Das Traumgeschöpf, so offen43 Lefèbvre (2003b): 6. 44 Ebd.: 6f. 45 Vgl. Bunbury, Stéphanie (2003): „Nocturnal Mission.“ In: The Age (24.10.2003). 282

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – MARIE BRASSARD

bart die Künstlerin, diese persönliche, angeblich in den Träumen Brassards geborene Figur, deren Schicksal das Publikum vielleicht auch aufgrund seines Authentizitätscharakters so anrührt, ist in Wahrheit selbst aus einer Maschine heraus entstanden.

The Darkness Nach dem großen Erfolg von Jimmy, créature de rêve präsentiert Marie Brassard zwei Jahre später mit The Darkness ihre zweite eigene Produktion, die in vielerlei Hinsicht den mit Jimmy begonnen Weg fortsetzt. In diesem Stück erzählt eine junge montréaler Schauspielerin, wie das Viertel, in dem sie und viele andere Künstler leben, nach und nach von Immobilienhaien aufgekauft wird und ihre Lofts und Ateliers in schicke Appartements umgewandelt werden. Ein Freund, der wie sie diesem Ort schon lange Jahre verbunden ist, musste seine Wohnung bereits verlassen und ist nach New York umgesiedelt. In den leeren Räumen findet sie unter den zurückgelassenen Gegenständen die Photographie eines glatzköpfigen Mannes, dessen melancholischer Gesichtsausdruck sie fasziniert. Während sie abends traurig die erleuchteten Fenster der Häuser betrachtet, wissend, dass es all das bald nicht mehr geben wird, versucht sie, die Geschichten der Menschen zu erraten, die hinter diesen Fenstern wohnen, und fabuliert sich auch das Schicksal jenes jungen Mannes auf dem Photo zusammen. Der Weggang des Freundes und der auch ihr drohende Verlust ihrer Wohnung verursachen eine große Leere und Traurigkeit in ihrem Dasein. Auch der melancholische Blick des Mannes, so stellt sie sich vor, muss auf einem solchen Verlust beruhen, nämlich, so konstruiert sie seine Geschichte, auf dem Tod seiner kleinen Schwester nach einem Verkehrsunfall. Beide Schicksale, die reale Geschichte der jungen Frau und die phantastische, in ihrem Kopf entstandene des Mannes, überkreuzen sich im Laufe des Stücks. Die Erinnerung an das Gesicht auf dem Photo verfolgt die Schauspielerin so hartnäckig, dass sie real zu werden scheint und mit ihrem eigenen Schicksal verschmilzt. Guy Trifiro ist in diesem Traumuniversum Brassards Partner; mit ihm erzählt sie die beiden sich überlagernden Geschichten und evoziert die Gedanken und Emotionen der Figuren, die die Geschichten bevölkern. Technisches Hilfsmittel hierfür ist der schon in Jimmy verwendete Vocoder. Trotz der Präsenz eines zweiten Schauspielers auf der Bühne ist dieses zweite Projekt von Marie Brassard eigentlich ein Solostück. Zwar verkörpert Trifiro sowohl den Freund als auch die Figur des unbekannten kahlköpfigen Manns, aber er leiht ihnen lediglich seine Stimme,

283

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

deutet nur einige diskrete Bewegungen an; die Hauptfigur ist die montréaler Schauspielerin, dargestellt von Marie Brassard. In der ersten Szene werden aus dem völligen Dunkel heraus die Stimmen verschiedener Figuren hörbar, die von ihren Lebensgewohnheiten und kleinen Ritualen im Alltag erzählen. Es sind die Menschen, die die Schauspielerin beobachtet und deren Geschichten und Alltag sie sich vorstellt. Es sind Menschen, die wie die Schauspielerin in einem liebgewonnenen Zuhause leben, in einem Viertel, das sie mögen und das Lebensqualität repräsentiert. Die beiden Darsteller stehen in dieser Eröffnungsszene in der Mitte der Bühne, vor einer kleinen Bank, ihre Körper werden von hinten mit gleißend hellem Licht angestrahlt, so dass nur ihre dunklen Konturen sichtbar werden, nicht aber ihre Gesichter oder die Individualität ihrer Körper. Diese Nichtidentifizierbarkeit der Figuren verweist auf die relative Anonymität des Miteinanders der Menschen in der Stadt; ihre persönlichen Bekenntnisse, auch wenn sie nur der Phantasie der jungen Frau entspringen, eröffnen dazu im Gegenzug Nähe und Gemeinschaft. Auch wenn die Schauspielerin die Bewohner der umliegenden Häuser nicht persönlich kennt, nicht mit ihnen befreundet ist, sind sie ihr in ihren Gewohnheiten vertraut und nah. Über den nächtlichen Blick in ihre Wohnungen nimmt sie an ihrem Alltag und ihrem Leben teil. Durch den Stimmtransformator werden die Stimmen der Darsteller verfremdet und vervielfacht und jede ihrer Repliken repräsentiert eine andere Figur und deren Bekenntnis: Georges:

René:

Rita:

Elsa:

Strangers in the night, two lonely people. We were strangers in the night... (singing) That’s the song I sing to my wife at night when she’s in bed. She always falls asleep before I’m finished. Before I get into bed, I like to get my clothes ready for the next day […]. I watch the news on TV. Then, I check if all the doors and windows are locked and I look inside the closet, just to make sure. I know it’s irrational, but I’ve been doing this since I was little. To make sure no one was hiding in there […]. I was born in Montreal. I like the noise of the city. The country drives me crazy. I can’t sleep in the country. I can’t hear anything. It drives me crazy. But in the city, I hear what there is to hear. In the country you don’t hear anything but you know there’s something out there. Silence terrifies me. […] I like to have a drink before going to bed. Often, my adorable husband makes me an exotic cocktail, always nicely presented with flowers and fruits. […] When I enter my room to go to bed, I have a habit of looking around me and saying, ‚hello room‘. I don’t say it out loud; I say it in my head. To greet the space that is going to take care of me for the night. And I say, thank you. I 284

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – MARIE BRASSARD

don’t believe in God but I thank the spirits for giving me a room. Of course, well, everybody knows that unfortunately people are sleeping in the streets. So I feel privileged to have a husband I love, a comfortable house I enjoy, and a place that keeps me warm and protects me. […]46

Dass diese Abendrituale die fiktiven Geschichten der jungen Schauspielerin sind, weiß das Publikum in dieser ersten Sequenz noch nicht. Erst, als im Folgenden großformatige schwarz-weiße Videobilder der Stadt Montréal auf die Bühnenrückwand projiziert werden, die langsam von Tag- in Nachtaufnahmen wechseln, auf denen man nur noch schemenhaft die Umrisse der Gebäude erkennen kann, die mehr und mehr nur noch ein Meer aus funkelnden Lichtern und beleuchteten Straßenzügen darstellen und Marie Brassard als die junge Schauspielerin von ihrer Gewohnheit spricht, abends in die Fenster ihrer Nachbarn zu blicken, ergibt sich ein Bezug zu den Einzelzeugnissen der anonymen Bewohner der Stadt in der Eingangsszene. Darkness spreads across the city. Behind each window, lamps light up stories I’ll never know. When it gets dark, I watch them go on one by one, and I write. Often, when I write, rhythm comes before the words do and images come before meaning or else. I imagine a movement and someone appears and I try to understand who this person is […]. I live on the ninth floor of a building on Ontario Street in Montreal. […] Last year, real estate developers bought the building. Now, they want to turn our spaces into deluxe condos and little by little, the people who live here are being forced out; most of them are artists. Artists who live here, who have studios here. It’s a kind of natural cultural centre. […] My close friend used to live in the loft next door to mine. I met him here. The first time I saw him, I thought, ‚Hey, that guy could be my friend‘... It was a natural inescapable friendship! A few months ago, the developers doubled his rent. He had to leave. He had no choice. He’d been living in this building for nine years. His loft was huge. It was amazing. He’d fixed it up quite tastefully with very little money. There were these big windows and you could watch the sunrise from his place. I often went over for a coffee before starting my day. And then, one day, all of a sudden, he had no choice, he had to leave.47

Während sie diesen Text spricht und mit fester, aber trauriger Stimme über das Schicksal der mit ihr lebenden Künstler und über den Verlust

46 Brassard, Marie (2003): The Darkness: 1ff. (im Folgenden zitiert als ‚Darkness‘). 47 Ebd.: 3. 285

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ihres Freundes sinniert, fliegen weitere Bilder der Stadt Montréal über die Bühnenrückwand.

The Darkness (Abb. 15) Guy Trifiro sitzt dabei in der Mitte der Bühne auf dem Boden, klein und in sich zusammengekrümmt vor den Bildern einer Stadt, die nicht mehr die des Freundes ist, den er hier verkörpert, sondern eine Stadt, die ihn seiner Existenz beraubt hat. Marie Brassard befindet sich als Erzählerin außerhalb des visuellen Fokus am rechten Bühnenrand und die Stimme, mit der sie spricht, ist hier ihre eigene, nicht verzerrt oder verfremdet, sondern nur mittels eines kleinen Mikrophons leicht verstärkt. Sie spricht über den Plan des Freundes, nach New York zu ziehen, über die Schwierigkeit, in der großen, neuen, anonymen Stadt eine bezahlbare Bleibe zu finden. Trifiro interveniert während dieser Sequenz nur mit einigen wenigen Sätzen, kurzen Bekenntnissen des Freundes, der erklärt, in Montréal nicht mehr bleiben zu können und das Risiko eines neuen Daseins auf sich nehmen zu wollen. Die Szene zeugt von tiefer Traurigkeit und spiegelt die gedrückte Stimmung; die Schauspielerin spricht von ihrem nächsten Projekt, in dem sie diese Ungerechtigkeit zum Ausdruck bringen möchte, was gleichzeitig den autobiographischen Bezug zu der Schauspielerin Marie Brassard herstellt: We talked about my next show. […] I want to talk about darkness, about ignorance, about all the things that have no words, about how difficult it is to communicate or express yourself, about things that cause pain and violence... about, about, I don’t know! I want to talk about loneliness, about how you feel when you end up all alone! Not how you feel when you’re heartbroken, but the lone286

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liness everyone basically feels, the kind of loneliness only you can know about, the kind that can throw you into the depths of despair!48

Am Ende der Replik werden ihre Worte immer unverständlicher, andere Stimmen überlagern sie, ein Rauschen kommt dazu, nur noch Wortfetzen sind verständlich. Die Unmöglichkeit des Formulierens dieser tief empfundenen Leere und Dunkelheit wird auch akustisch wahrnehmbar. Die junge Frau umarmt ihren Freund, Trifiro verlässt jetzt das Zentrum der Bühne und begibt sich seinerseits an den linken Rand der Videowand, während die Schauspielerin weiter erzählt, wie sie nach dem Abschied in das leere Loft zurückkehrt und dort auf die Photographie eines Mannes stößt, die sie so sehr fasziniert, dass sich seine und ihre Geschichte im weiteren Verlauf des Stücks miteinander verweben werden. Die wenigen Repliken des Freundes, die die Schauspielerin aus ihrer Erinnerung zitiert, spricht Tifiro vom linken Bühnenrand: The Actress:

The Friend:

The Actress:

And, alone, standing there in the middle of his empty loft, I remembered things we did together. I thought about all the things you can do with a friend. […] My friend once told me a story... A few years ago, my friends and I built a room inside my loft, my room. And we hid things inside the walls: photographs, writing, games, drawings... We said it was for the archaeologists of the future. I liked that story. They’d left evidence of the present inside the walls for people who’d be living in this building on Ontario Street in the future. A few days after moving to the seventh floor, I went back to the ninth, to my friend’s loft and his room they built, his room had been destroyed and the objects that were meant for the archaeologists of the future were scattered among the debris. I looked through the debris, and among the objects for the archaeologists of the future was a photograph. It was a picture of a room in a factory. There were machines and there was a man; he had very short hair. He was smoking a cigarette and was looking out the window. When I looked more closely, I recognised the windows of my old loft on the ninth floor. I thought the picture was beautiful and I kept it. I pinned it on a wall in my new loft. It was a kind of artefact. And, when it gets dark, I look at the man in the photo and I try to write his story.49

48 Ebd.: 5. 49 Ebd.: 6f. 287

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Guy Trifiro ist jetzt der geheimnisvolle junge Mann mit dem kahlgeschorenen Kopf, seine Stimme ist verzerrt zu hören, Wortfetzen dringen durch ein elektronisch erzeugtes Rauschen, dann wird die zunächst nur leise Musik immer lauter und Trifiro beginnt, zu synthetischen Technoklängen vor der jetzt in leuchtendes Rot getauchten Bühnenwand zu tanzen. Seine Bewegungen sind gewaltig und abrupt, er nimmt vom gesamten Bühnenraum Besitz, bis er sich auf die schmale, niedrige Mauer vor der Videoleinwand zurückzieht. Nun betritt Brassard die Bühne, wie ein Automatenmännchen schleift sie die Füße langsam ins Zentrum der Spielfläche. Sie verkörpert jetzt die Mutter des Mannes, die mit hoher Stimme von der gemeinsamen Arbeit in der Fabrik erzählt und den Bars der Stadt, die sie manchmal besucht, um zu tanzen. Das Publikum erfährt, dass der junge Mann auf dem Photo in dem gleichen Viertel um die Ontario-Street wohnt wie die Schauspielerin, aber sein mysteriöses Geheimnis enthüllt sich noch nicht. Auch der Schauspielerin fällt es schwer, sich in seine Geschichte einzudenken, sein Schicksal zu erraten. Sie berichtet von der Melancholie, die ihren Alltag belastet, aber auch von der Faszination, die die Photographie ausübt, und von der Schwierigkeit, Worte für die zu schreibende Geschichte des mysteriösen Mannes auf dem Photo zu finden: I’m trying to write a story about someone who has lost someone. I’m trying to write a story about someone who has lost space. Every time I sit at my desk to write a sentence, my mind wanders and I do other things. […] Sometimes I go out for a walk. I go down St-Laurent Street towards Chinatown, I wave to the owner of the Tunisian restaurant, I pass in front of the Pakistani […] And I know that very soon all this will disappear. All this is going to be washed away and will become clean and white. I go home and try to write again. […] I can’t write the story, sometimes a rhythm comes to me but not words. I see images. Or hear sounds or I imagine a movement. I watch him, the one in the photo, with his violence and his sad look. I know he has a story to tell. His shaved head, the way he’s dressed, but I don’t understand the signals he’s sending. It’s some sort of language.50

So wie das Photo ein Geheimnis verbirgt, dem auf die Spur zu kommen sich als schwierig gestaltet, so wenig ist die physische Präsenz des Darstellers Guy Trifiro aufschlussreich hinsichtlich des Mysteriums des jungen Mannes. Seine Bewegungen erklären nichts, seine Körpersprache ist nicht zu decodieren. Nur langsam schiebt sich seine Geschichte zwischen die Reflexionen und Erzählungen der Schauspielerin und nach und nach setzt sich das Puzzle seines Schicksals zusammen. Das Publikum erfährt,

50 Ebd.: 8. 288

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – MARIE BRASSARD

dass der junge Mann sehr spät eine kleine Schwester bekommen hat, dass er sie sehr liebte und glücklich war, eine Familie zu haben. Die Textpartien der Schauspielerin gehen nun unmerklich in die Repliken des Mannes über, oft sind die letzten Sätze der einen Figur die ersten der anderen und manchmal werden diese Passagen synchron gesprochen. Die beiden Erzählstränge verweben sich so auch akustisch immer weiter miteinander. Die Faszination der Schauspielerin für den unbekannten jungen Mann geht schließlich so weit, dass sich seine Präsenz in ihrer Imagination auch real manifestiert. Je mehr sie mit ihrem eigenen Schicksal und dem Verlust des Freundes hadert, desto intensiver scheint sie auch das Nichtwissen über die mysteriöse Männergestalt auf dem Photo zu beschäftigen. Sie berichtet, mit dem Freund in New York telefoniert zu haben, um ihn davon zu überzeugen, nach Montréal zurückzukehren. Nachdem dieser ihren Vorschlag abgelehnt hat, steigt sie enttäuscht auf das Dach ihres Hauses, um die funkelnden Lichter der geliebten Stadt zu betrachten. Die Bilder auf der Videoleinwand zeigen jetzt Aufnahmen vom Dach eines Wolkenkratzers, der Kamerablick fällt in die darunter liegende Straße. Guy Trifiro bewegt sich langsam auf der schmalen Mauer, und durch die Kombination der beiden Bildebenen entsteht der Eindruck, die Figur balanciere auf der Kante des Dachs, als ob sie von dort herunter springen wollte. Actress:

Skinhead:

Actress:

After I hung up, I went up to the roof. I sat on the ledge, drinking a beer, and looked at the incredible night time beauty of Montreal with its thousands of lights lighting up thousands of stories. […] I thought about the man in the photo again who, before me, maybe did the same thing... […] I imagined him standing on the roof at night like I was. I saw him at the other end of the building. He was walking dangerously along the edge of the roof. I felt incredibly dizzy... I closed my eyes, I was about to fall. When I opened my eyes again, I could still see him. He was still there. He was talking to himself. Now that you’re gone, what am I going to do? If only I could go somewhere, somewhere where we could be together again. You would still be alive and you wouldn’t be afraid. […] Then, we’d be so happy and we’d forget about all the bad luck, car accidents, blood, broken bodies and death. I saw myself in the past; we would have both been on the roof. He would have seen me. He would have seen me looking at him. […] I went back down to the ninth floor, all the walls between the lofts were knocked down, […] the windows I looked through, the windows my friend looked through, the windows the skinhead in the picture looked through. I think about him and I imagine that like me, […] he lost someone. And like me, 289

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

at night, he talks to himself while walking along the edge of an abyss.51

Während die Schauspielerin von den fortschreitenden Baumaßnahmen und der schrittweisen Zerstörung ihres Lebensraums spricht, mischt sich in ihre Aussagen die Geschichte des jungen Mannes. Er berichtet vom Unfall seiner kleinen Schwester, von ihrer Tasche, die auf der Straße lag, und ihrer blutgetränkten Kleidung. So, wie die Schauspielerin auf dem Dach in den Abgrund ihrer sich auflösenden Existenz zu blicken scheint, symbolisiert die Tiefe unter ihm für den jungen Mann die unendliche Trauer über den Verlust des kleinen Mädchens. Zunächst überlappen sich die Textsequenzen der Schauspielerin und des Mannes, als die junge Frau dann von den Überresten in den verlassenen Wohnungen berichtet, von vergessenen Kleidungsstücken, zerbrochenem Glas und alten Möbeln, beginnt der Mann von den nach dem Unfall auf der Straße verstreuten Gegenständen seiner Schwester zu sprechen. Den zweiten Teil der Replik sprechen Brassard und Trifiro wieder gemeinsam, diesmal wird die Stimme der Schauspielerin zur hellen Kinderstimme des kleinen Mädchens und während Brassard den Text zu Ende spricht, wird Trifiros Stimme immer schriller und verschmilzt mit den hohen Klängen einer elektrischen Gitarre, deren Quietschen das Geräusch von Autobremsen assoziiert und so akustisch den Unfall evoziert. So, wie die Artefakte der ehemaligen Bewohner der Lofts für die Schauspielerin zu Anknüpfungspunkten für ihre Phantasien über ihre Mitmenschen werden und das Photo des jungen Mannes Auslöser für die Kreation seiner Geschichte, so sind die innerhalb dieser Geschichte genannten Gegenstände und Geräusche Ursache der Erinnerungen der Mutter des Kindes. Die verschiedenen Teilstränge der Geschichte verweben sich immer mehr, überlagern sich narrativ wie akustisch in Brassards Theater und bilden ein traumhaft ineinanderübergehendes Ganzes, das sich nur sukzessiv als einzig und allein der Phantasie der Schauspielerin entsprungen entpuppt. Les éléments sont disparates, la narration est déboussolée, les événements pas du tout chronologiques et le personnage, comme ceux qui s’accrochent à son récit, errent dans un merveilleux chaos. Marie Brassard construit ses spectacles en accumulant une foule de bribes de vie qui finissent par imposer leur propre logique. On assiste, au fur et à mesure que se déploie cette histoire qui mène on ne sait où, à l’édification d’un gigantesque collage d’émotions et d’événements

51 Ebd.: 11f. 290

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – MARIE BRASSARD

qui nous demande d’adhérer à une vision, de faire confiance à celle qui nous entraîne sur une route peu visitée.52

Um den Kreis dieser theatralen Erzählung zu schließen, endet das ‚Hörspiel‘ mit der Demonstration der vollzogenen Transformation des geliebten Lebensraums. Wie in der Eröffnungsszene stehen Trifiro und Brassard im Zentrum der Bühne, von hinten angestrahlt, als anonyme Figuren, die sich nur über ihre Stimmen identifizieren und unterscheiden lassen, und berichten wie in der Eröffnungsszene von Lebensgewohnheiten und Alltagsritualen. Carole: Elsa:

Georges: René: Rita: Barry: Billy: Jean-Pierre: Jeanne: Carole: Elsa:

The light wakes me up, the windows here are very big and give the place a “loft” feel. In the morning I’m full of energy and I wake up grateful to be alive and I say to myself, look, another wonderful day! And when I see my husband’s beautiful and rested face I say, “We are alive and we are blessed”. Thank you, I say, to whatever brought us together. We are happy and we live in this magical place. With the city’s soul within our reach. t’s really Zen. It’s just like living in New York. It’s really hot. Groovy. I’d say it’s... special. It’s special. It’s really cool. It’s full of good vibrations. ... and we live in such an artsy neighbourhood! Thank you, I say, thank you spirits, thank you life!53

Diese Schlusssequenz bildet mit der ersten Szene den Rahmen für die Erzählung der Schauspielerin und die Inszenierung Brassards, die drei Figuren des Viertels um die Ontario-Street in Montréal aus ihrer Anonymität heraustreten lässt und dabei ihre persönliche Geschichte erzählt. Die nun Sprechenden sind aber nicht mehr die ursprünglichen Bewohner des Viertels, nicht mehr ihre langjährigen Nachbarn und Freunde, sondern die neuen Mieter der schicken Lofts, die ihr neues Lebensgefühl artikulieren und die von einer Atmosphäre sprechen, die sie gekauft haben und für die die ursprünglichen Bewohner des Viertels ihre Häuser und Wohnungen verlassen mussten. 52 Saint-Pierre, Christian (2003): „D’ombre et de lumière.“ In: Cahiers de Théâtre Jeu 109, 143-145, hier 145. 53 Darkness: 18. 291

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

The Darkness ist aus einer real erlebten Situation der Schauspielerin Marie Brassard entstanden, die diese Realität in ein Stück Theaterpoesie verwandelt, nämlich in die Geschichte einer fiktiven Schauspielerin, die innerhalb des Erzählens ihrer Geschichte wiederum die von ihr erfundenen Geschichten ihrer Mitmenschen erzählt. Aber nicht der Authentizitätscharakter des Stücks macht für ihr Publikum die Faszination der Inszenierung Brassards aus, sondern die Art und Weise der künstlerischen Verarbeitung. Ma réalité quotidienne me préoccupait tant, à l’époque, qu’elle rejoint mon travail. […] Je vois pourtant dans cette situation une représentation, à petite échelle, de ce qui se passe à travers le monde dans d’autres champs: l’exploitation des gens pauvres, le mépris qu’on éprouve envers les artistes et les marginaux, à qui on retire jusqu’au droit d’exister. Ces événements ne me blessaient pas que sur un plan personnel, j’étais aussi ébranlée par le sort des autres. La question est devenue si omniprésente dans mon quotidien que je n‘ai pas réussi à écrire l’histoire complètement fictive que j’avais en tête. La réalité m’apparaissait tellement plus intéressante que ce que j’aurais pu imaginer. Au moment de créer, je ne parvenais pas à faire l’abstraction de cette partie de ma vie. […] Comme je ne suis pas une activiste politique, je me sers de mon langage d’artiste pour réfléchir et déclencher une réflexion à propos de cette situation. Le résultat demeure quelque chose de poétique et non un manifeste. […] J’écris d’abord en parlant, en enregistrant ce que je dis. Ça explique le caractère naturel de ce langage. Après je transforme la matière première en „littérature“ en récrivant. Le jeu de l’acteur comprend aussi cette transposition de la réalité, sa reproduction. Cet hyperréalisme m’intéresse parce qu’il s’avère très inusite au théâtre. Il peut même y devenir surréaliste. D’ordinaire, on travestit ce qu’on porte à la scène. Avec La Noirceur, je voulais me livrer à une expérience différente. Donner cette impression de vérité semble presque contre-nature, opposé à l’artificialité fondamentale du véhicule dramatique. Je m’y adonne parce que l’authenticité de l’humain me captive. […] Il y a une telle poésie dans la réalité. Les silences, les hésitations, les imprécisions. Tous ces détails s’avèrent si riches de sens, tellement intéressants à regarder, à entendre.54

Die Poesie und die Faszination der Transposition dieser realen Begebenheit ins Theater beruht gerade nicht auf einer Repräsentation durch ein theatrales Spiel, sondern auf der für Brassard zum Markenzeichen gewordenen Art des Geschichtenerzählens, auf dem Spiel mit ihrer Stimme und deren unzähligen Transformationsmöglichkeiten. Weder Brassard noch ihr Bühnenpartner verkörpern die Figuren, denen sie ihre elektronisch vervielfachten und verfremdeten Stimmen leihen. Eine theatrale Handlung findet nicht statt, sondern die komplexen Verflechtungen der 54 Saint-Pierre (2004): 105ff. 292

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – MARIE BRASSARD

Geschichten der Bewohner des montréaler Viertels um die Ontario-Street vermitteln sich dem Zuschauer in erster Line über akustische Zeichen, die durch einige Bild- und Farbprojektionen ergänzt werden. Hierin offenbaren sich die Vielschichtigkeit und das hohe illusionäre Potential von Stimme, denn obgleich das Theater in dieser Inszenierung seinen Spielcharakter im Sinne einer mimetischen Repräsentation vollständig negiert, rezipiert das Publikum eine höchst komplexe und diffizile Geschichte. Die Tatsache, dass dieses Audiotheater keine Einschränkung des Theatererlebnisses bedeutet, resultiert in hohem Maße aus der Ähnlichkeit von Stimme und Theater, in dem performativen Charakter, der dem Theater und der Stimme gleichermaßen eigen ist. Neben dem performativen Charakter, der Flüchtigkeit, der Körperlichkeit und der Wahrnehmungsbezogenheit von Stimme wie Theater sind weitere wesentliche Momente vergleichbar: [...] Die Stimme wie die Aufführung präsentieren sich als zeitlicher, rhythmisierter Fluss verschiedener Materialien, und sie sind durch eine grundlegende Mehrdimensionalität gekennzeichnet. Vergleichbar dem Theater, das vielfältige Materialien und Zeichensysteme bearbeitet und zueinander in Beziehung setzt, resultiert die Verwendung und Wirkung einer Stimme ebenfalls aus dem Zusammenspiel mehrerer, durchaus heterogener Faktoren wie physiologische Gegebenheiten, Klangfarbe, Intonation, Lautstärke, Sprechduktus, Sprechgeschwindigkeit und Rhythmus, Deutlichkeit oder Undeutlichkeit der Artikulation.55

Aus diesen dem Theater ähnlichen Charakteristika erklärt sich die Geschlossenheit der Inszenierung Brassards, die über die Arbeit mit Stimme(n) eine vieldimensionale Geschichte erzählt, die dem Publikum mehr als nur einen gesprochenen Text vermittelt. Die Stimmen der beiden Darsteller erzählen zwar auch die verschiedenen, miteinander verwobenen Erzählstränge der Geschichte der jungen Schauspielerin und leihen einzelnen der daraus hervortretenden Figuren ihre Stimmen, aber diese technisch verfremdeten und vervielfachten Stimmen transportieren mehr als nur einen Handlungsverlauf. Sie verweisen auf Räume und Körper, auf Situationen und Emotionen und verbinden sich mit Musik- und Klangelementen und den eingespielten Videobildern zu szenischen Atmosphären, die das Publikum anregen, die abwesenden Bilder der Bühne in seiner Imagination zu kreieren. Zu der Etablierung jener Parallelbilder trägt in entscheidendem Maße die technische Manipulation der Stimmen Brassards und Trifiros bei, denn über die technisch bearbeiteten und per Lautsprecher wiedereingespielten Repliken der Darsteller werden diese von den sie produzierenden Körpern losgelöst. Die Verschiebung des 55 Kolesch (2001): 261. 293

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Beziehungsgeflechts Stimme-Sprecher wird dabei auf doppelte Weise realisiert: einerseits durch die elektronische Diffusion der Stimmen mittels Lautsprecher, andererseits durch die Modulation und Verfremdung der natürlichen Stimmen Brassards und Trifiros, die allen Figuren zur Artikulation verhelfen. Nicht nur Wahrnehmungs- und Produktionsort werden durch die Verwendung elektronischer Medien getrennt, auch sichtbare Körper und hörbare Stimmen sind nicht mehr eindeutig aufeinander beziehbar. Diese Erfahrung wird dadurch gestützt, dass Brassard große Teile des Texts vom seitlichen Bühnenrand aus spricht und Trifiro dazu sein stummes Spiel vollzieht, ohne das Publikum direkt anzusehen. Durch diese ästhetische Anordnung kommt es zu einer Erfahrung von Stimme, die hier besonders durch die mediale Vielstimmigkeit der Bühne erzeugt und verstärkt wird, und die Doris Kolesch als ein grundsätzliches Phänomen von Stimme beschreibt: Die Stimme ist atopisch, sie widersetzt sich systematischer Definition und Klassifikation, sie entzieht sich einer eindeutigen Verortung. Woher kommt sie? Aus meinem Körper oder aus dem Körper eines anderen? Aus dem Raum? Ist sie ein materielles oder ein immaterielles, ein subjektives oder objektives Phänomen oder gar beides zugleich und nie ganz? Die atopische Stimme trägt ein Anderes, eine Alterität in sich. [...] Präsenz darf [...] nicht als erfüllter Augenblick, als Moment unmittelbarer und ungebrochener Gegebenheit verstanden werden. Die Erfahrung von Präsenz ist im Gegenteil gebunden an Erfahrungen der Fremdheit, des Entzugs und des Mangels.56

Präsenz erhalten die Figuren der phantastischen Geschichte der jungen Schauspielerin durch ihre Stimmen, die sie ihnen durch die Multiplikation und Manipulation ihrer eigenen leiht, eines Körpers bedarf es dazu nicht, sondern die Figuren und ihre jeweiligen Schicksale entstehen einzig und allein durch die akustische Dimension dieses Theaters. Die Handlung des Stücks wird durch das Erzählen mit unterschiedlichen Stimmen vermittelt, die zwischen Brassard und Trifiro aufgeteilt werden. Während Trifiro dabei nur ein geringer Anteil zukommt, ist Marie Brassard als Erzählerfigur sehr präsent, durch ihre Positionierung außerhalb der Spielfläche körperlich der Bühne als Darstellungsraum aber bis auf wenige Ausnahmen entzogen. Neben der Zeichenebene des gesprochenen Texts wird die akustische Dimension des Stücks durch Einspielungen von Musik und Geräuschen unterstützt. Sowohl die Komplexität dieser sonoren Struktur von The Darkness und die Präsenz einer Erzählerin, die nur in seltenen Momenten auch zur Darstellerin wird, als auch die weitgehende darstellerische Ab56 Ebd.: 261f. 294

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wesenheit Trifiros auf der Bühne stellt die theatrale Spielsituation der Inszenierung in Frage. Handlung wird hier kaum noch szenisch visualisiert, sondern in erster Linie durch Erzählen transportiert. Die Inszenierung setzt sich so aus einem Nebeneinander verschiedener autonom agierender Zeichenebenen zusammen, die sich zwar ergänzen oder aufeinander verweisen, sich aber nicht verdoppeln oder gegenseitig illustrieren. Aufgrund der sonoren Qualität dieser erzählten Geschichte, der Differenzierung unterschiedlicher Figuren mittels Stimmvariation und -modulation und der Integration von Musik und Geräuschen zur Evozierung bestimmter Atmosphären lässt sich dieses Theater ungeachtet seiner visuellen Komponente in die Nähe eines Hörspiels rücken. Seine besondere akustische Verfasstheit ähnelt dessen ästhetischer Funktionsweise und konkretisiert wie dieses das Phänomen der performativen Produktivität von Stimme, die Tatsache, dass es keine Körper und keine Sprache vor ihrer stimmlichen Artikulation geben kann. Die Figuren, ihre Geschichten und die Emotionalität ihrer Schicksale entstehen nämlich gerade erst durch die Stimmen, die Brassard und ihr Bühnenpartner ihnen leihen, und im Wechselspiel mit der subjektiven Rezeption durch das Publikum (bzw. den Hörer): Dieses Konzept von Stimmlichkeit lenkt [...] die Aufmerksamkeit auf die – immer gestimmte, energiegeladene – Situation der Produktion und Rezeption von Wahrnehmungsereignissen. Die kopräsente Hervorbringung und Wahrnehmung von Stimmen vergegenwärtigt, dass die theatrale Situation ein komplexes Kräfteverhältnis darstellt, dass sie aus fragilen Wechselwirkungen und Inter-Aktionen zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen besteht. [...] Die Stimme ist ein atmosphärisches, energetisches und situatives Geschehen. Dadurch vermag sie unsere Sensibilität für das Spezifische theatraler Ereignisse zu schärfen, das mit performativen Prozessen der Entgrenzung und der Transformation verknüpft ist. Wenn Stimmen erklingen und gehört werden, spielt sich etwas zwischen Menschen, zwischen Menschen und Räumen, zwischen Menschen und Objekten ab. [...] Darüber hinaus [...] generiert die Stimme Räume, sie bringt Räume der Wahrnehmung und des Erlebens ebenso wie Räume der Kopräsenz von Sprechendem und Hörendem überhaupt erst hervor, gibt ihnen Ausdehnung und Kontur.57

Die räumliche Konkretisierung dieser durch die Stimmen erzeugten Präsenzen der Figuren realisiert Brassard durch die Projektion von Bildern der Videokünstlerin Cécile Babiole, die Gebäude und Straßenzüge, Wolkenkratzer und Hinterhöfe, die funkelnden Lichter der nächtlichen Großstadt oder Menschen auf Plätzen und Straßen zeigen. Damit bebildert Brassard aber nicht ihre Geschichten, sondern diese visuellen Eindrücke 57 Ebd.: 264. 295

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fungieren lediglich als Skizzen, Andeutungen, lose Verweise auf die Realität einer Metropole, auf Anonymität und Weite, aber auch auf menschliche Nähe und Privatheit. Im Zusammenspiel mit den Körpern der Darsteller entsteht eine Art Installation, die auf die erzählte Handlung Bezug nimmt, Vorschläge für eine bildliche Übersetzung macht, aber dennoch nicht sinnproduzierend der Imagination des Zuschauers vorgreift. So wie das Hörerlebnis eines Hörspiels der Phantasie der Zuhörer freien Lauf lässt, so offen gestaltet Brassard in The Darkness die visuelle Ebene. So wie Stimme und Körper voneinander losgelöst agieren und doch nebeneinander harmonieren, so ist auch das Verhältnis zwischen Körperbild und Videobild als autonom und zugleich interagierend zu beschreiben. Die Bewegungen des Schauspielers Guy Trifiro, seine Gesten und seine Körpersprache deuten die Leere und Hilflosigkeit des mittellosen Künstlers angesichts der Vertreibung aus seiner Wohnung an und ergänzen sich in der Kombination mit den Videobildern um den Verweis auf die Stadt als geliebten und zugleich bedrohlichen Lebensraum, das Verschwinden des Individuums in der Masse und in den räumlichen Dimensionen einer Metropole. Erstes und stärkstes Mittel der Erzeugung dieser Atmosphären bleiben dabei aber die multiplen Schwingungen und sich immer weiter transformierenden Timbres der Stimmen, die diese Assoziationsketten erst auslösen und die Wahrnehmung dieses Theaters zu einem höchst affektiven Prozess machen, der das Publikum aktiv partizipieren lässt: „Kein Hören also ohne Visualität: als konkretes, das Hören begleitendes Sehen oder als Imaginieren.“58

Peepshow In ihrem dritten Soloprojekt Peepshow erforscht Marie Brassard zum wiederholten Mal die Potentiale stimmlicher Performativität im Theater. Ähnlich wie in The Darkness kreist die Inszenierung um das Thema der Einsamkeit des Einzelnen in der Masse und fragt wie schon Jimmy, créature de rêve nach der Existenz von Parallelwelten. Über die Arbeit mit ihrer technisch verfremdeten und multiplizierten Stimme und die Verschränkung der Themen ihrer vorangehenden Inszenierungen setzt Brassard das Interdependenzverhältnis von Stimmlichkeit und Körperlichkeit sowie das Phänomen eines ‚auditiven Sehens‘ zueinander ins Verhältnis. Der Titel des Stücks irritiert, denkt man doch zunächst an Erotik, schillernde Farben und Show-Effekte mit viel Rotlicht und Musik, an ein Spektakel also, wenn auch eins, das aufgrund seines Warencharakters negativ konnotiert ist. Aber Marie Brassard zelebriert nicht Lust und Be58 Ebd.: 265. 296

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gehren, feiert kein Fest der sinnlichen Körperlichkeit und keine sexuellen Orgien. Sie interessiert sich vielmehr für das Konzept einer Peepshow als einem Ort, an dem man Geld zahlt, um für kurze Zeit an etwas teilzuhaben, das gesellschaftlich verboten ist: Wenn man dort z.B. ein Paar beim Sex beobachtet, steht man zu den beiden in einer engen Beziehung. Man sitzt allein in der Kabine und hat die Erlaubnis, DAS zu sehen. Ein Privileg. Aber dann muss man realisieren, dass man nicht allein ist, dass in allen anderen Kabinen auch Menschen sind. Und das entspricht vielleicht nicht den Erwartungen: Man ist nicht einzigartig in seinem Begehren, alle anderen haben das gleiche.59

Peepshow handelt von Liebe, zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Schmerz des Verlassenseins, von Verführung und Einsamkeit. Marie Brassard erzählt Geschichten von Menschen, von Frauen und Männern, die unterschiedliche Erfahrungen mit Liebe und Sexualität, mit Freundschaften und Trennungen gemacht haben. Sie reiht sie lose aneinander, lässt sie sequenzartig und ohne Übergang aufeinander folgen, einige scheinen die Fortsetzung von vorherigen zu sein und trotz der Heterogenität dieser kurzen akustischen Blitzlichter auf die Einzelschicksale und intimen Begebenheiten ergibt sich am Ende ein Netz, das die einzelnen Fäden verknüpft und den Anschein erweckt, dass die Teilgeschichten auch die Lebensgeschichte einer einzigen Figur sein könnten. Für Brassard sind die kurzen Episoden Indizien für das Nebeneinander von Menschen, die sich alle nach Liebe und Nähe sehnen, nach Anerkennung und Geborgenheit, und die doch einsam vor sich hinleben, ohne zu merken, dass neben ihnen andere die gleichen Geschichten, Wünsche und Hoffnungen leben: Jede Sekunde verlieben sich Tausende Menschen genauso wie sich Tausende entlieben. Einige Unbekümmerte begeben sich dann erneut in den Kreislauf von Begehren-Fantasie-Sex-Liebe-Illusion. Andere fallen in einen Abgrund, versuchen nach etwas zu greifen, an dem sie sich festhalten können und sind nicht fähig, die Bindungen zu der geliebten Person zu kappen. Immer und immer wieder, mit Küssen und Schlägen, Schmerz und Glück, wiederholt sich dieser Kreislauf, in dem sich einsame Menschen auf parallelen Wegen begegnen und nur rasch einen kurzen Blick auf das Leben der anderen werfen.60

Alle diese Episoden, in die Brassard ihrem Publikum mit Hilfe ihrer vervielfachten Stimme Einblick verschafft, sind Geschichten, in denen Liebe und Begehren nicht erwidert werden, in denen Menschen verlassen 59 Wagner (2005). 60 Ebd. 297

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werden, einem Partner nachtrauern, sich allein fühlen und körperlichen oder seelischen Schmerz empfinden, weil sich nach Lust und Liebe plötzlich ein Abgrund, eine unendliche Leere auftut. Das Stück beginnt mit drei kurzen Sequenzen, die die Themen der Einsamkeit, der Angst und der Suche nach Bedeutung und Sinn sowie der körperlichen Begehrlichkeit und sexuellen Macht einführen. Mit der kindlichen Stimme eines jungen Mädchens erzählt Brassard von einer Situation in einem dunklen Wald, in dem das Kind herumirrt und um Hilfe ruft, aber von niemandem gehört wird. Später begegnet es einem Monster, das es zu einem idyllischen See bringt, wo sich das Kind plötzlich zufrieden und durch die Anwesenheit dieser unheimlichen Kreatur geborgen fühlt und wo selbst die Vorstellung, an diesem Ort sterben zu müssen, ihm keine Angst mehr bereitet. In der zweiten Sequenz rezitiert Brassard mit einer tiefen, männlichen Stimme das Märchen von Rotkäppchen, das sich im Wald vom Wolf verführen lässt und schließlich zu ihm ins Bett steigt, in der Annahme, er sei die kranke Großmutter. In Brassards Version ist das Märchen voller sexueller Konnotationen, der Wolf der männlich-dominante Verführer, der bei Rotkäppchen Sehnsucht nach Nähe und Liebe auslöst, aufgrund derer es zu einer Begegnung kommt, die für Rotkäppchen auch den Tod bedeuten könnte. Ob der Wolf das Rotkäppchen verschlingen wird, ob er es sexuell verführt, gar brutal vergewaltigt, erzählt Marie Brassard nicht. Ihre Geschichte endet mit einem Fragezeichen; das Märchen wird zum Motiv für alle folgenden Geschichten, deren zentrale Themen immer Liebe und Begehren sind. Die dritte Szene erzählt von einem Kind, das in der Schule entscheiden soll, welches Wort zu einem Mensch und welches zu einem Tier passt. Zur Auswahl stehen die Begriffe ‚Henne‘ und ‚Papa‘. Das Kind vermutet hinter der Banalität der Frage eine tiefere Wahrheit, kann sich nicht vorstellen, dass tatsächlich nur das Offensichtliche gemeint und gefragt ist, und antwortet für den Begriff ‚Papa‘: ‚Tier‘. Die Lehrerin korrigiert es streng und das Kind muss enttäuscht erkennen, dass ihm der Weg zu einer größeren Wahrheit, zu einer Welt hinter den Dingen, deren Existenz es sich sicher ist, nicht eröffnet wird: J’ai pensé… […] C’est une question vraiment étrange. Je veux dire… La réponse était tellement évidente. Ça ne pouvait pas être si simple. Alors j’ai pensé…. Ça doit cacher quelque chose. Peut-être que la maîtresse connaît quelque chose et qu’elle va me le montrer. Peut-être que je vais apprendre quelque chose de vraiment nouveau. Peut-être qu’elle va ouvrir une porte… Une porte qui donne sur un monde dont j’ignore l’existence. […] J’ai répondu: un animal. Les autres enfants riaient. La maîtresse a dit: Faux. Et elle a pointé du doigt vers sa gauche et j’ai dû aller me mettre debout là…. […] Je me sentais tellement humiliée, j’étais tellement blessée. On m’avait promis quelque chose 298

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qu’on ne me donnait pas. Je me sentais trahie. Le lendemain, quand je suis revenue à l’école, j’avais compris les règles. Et quand on me posait une question, je donnais la réponse évidente. Et tout le monde était content, sauf moi. Parce qu’au fond de moi, je savais que j’avais raison. Je savais que quelque part, il doit y avoir une porte. Une porte qui s’ouvre sur une réalité étrange, fascinante, cachée. Sur un monde étonnant et excitant dont la plupart des humains ignorent l’existence. Et depuis, je cherche cette porte.61

Marie Brassard lässt die Schülerin diese verbitterte Einsicht mit den gleichen Worten sagen, mit denen sie das menschliche Miteinander als ein Nebeneinander von Paralleluniversen beschreibt, in denen jeder auf der Suche nach Liebe und Erkenntnis seinen Weg verfolgt, in denen diese Wünsche und Träume aber nur selten erfüllt werden, die Tür zu etwas Größerem verschlossen bleibt. Die folgenden Episoden sind Bekenntnisse unterschiedlicher, meist weiblicher Figuren, die einen Einblick in ihre persönlichen Geschichten und intimen Erlebnisse geben und die immer wieder von Kommentaren und Statements männlicher Stimmen durchbrochen werden. Brassard präsentiert ihrem Publikum ein Panorama geheimer Wünsche und Phantasien, sexueller Begierden und der Sehnsucht nach Nähe, sie lässt Frauen in Opferrollen sprechen und Männer zu Wort kommen, die körperliche und seelische Macht ausüben. Ein junges Mädchen lernt in einer Bar einen fremden Mann kennen, der es auf seinem Weg nach Hause verfolgt. Sie lockt ihn durch ihre körperlichen Reize, er folgt ihr durch die nächtlichen Straßen der Stadt und verschwindet irgendwann wieder, es kommt aber nie zu einem Gespräch oder einer intimen Begegnung. Die beiden spielen ein Spiel, das sich über Monate erstreckt, bis sie eines Tages die Stadt verlässt und dieses Verhältnis und das wechselseitige Begehren plötzlich vorbei sind. „Deux complices; deux créatures qui avaient connecté à un autre niveau que celui du langage. Nous savions que dans un espace précis, dans ce temps précis de la nuit, nous étions faits pour être ensemble.“62 So abrupt dieses kurze und detailarme Miteinander zweier Figuren endet, so schnell wechselt Brassard zur nächsten Geschichte: Eine Frau träumt, verlassen zu werden, nach dieser Trennung aufzuwachen und von ihrem Freund getröstet zu werden. Dann erwacht sie tatsächlich und stellt fest, dass sie in Wirklichkeit alleine ist. Der Albtraum dieses Verlusts, der sich als ein realer herausstellt, fungiert als Überleitung zu einer Sequenz, in der eine männliche Stimme über die verschiedenen Varianten 61 Brassard, Marie (2005): Peepshow: 3f. (im Folgenden zitiert als ‚Peepshow‘). 62 Ebd.: 5. 299

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des ‚richtigen Schlussmachens‘ nachdenkt: Ein Restaurant sei beispielsweise ein schlechter Ort für Trennungen, die beste Freundin der Frau als Vermittlerin einzuschalten eine bessere Möglichkeit, eine Trennung mit einem Brief mitzuteilen habe Vor- und Nachteile, erklärt die Stimme und kommt zu dem Schluss, „qu’il n’y a pas à proprement parler de manière idéale de le faire...“63 Gleichwohl, so ist weiter zu hören, erwarten den Mann nach einer Trennung eine Reihe angenehmer Dinge und Optionen, nämlich die Jagd nach neuen Frauen, die Verführung neuer Opfer. Diese letzten Sätze nehmen das Vokabular und den Sprachduktus des Wolfs aus dem Rotkäppchenmärchen wieder auf und enden schließlich in einem bedrohlichen Wolfsgeheul: Mais… quand la chose est faite, vous pouvez relaxer. Vous pouvez passer à autre chose… Allez voir ailleurs…Sortez dans les bars. Il y a tellement de gens magnifiques… […] Bonsoir beauté… Vous êtes seule? Je peux te dire tu? Je peux t’offrir un verre? Une bière, verre de vin, verre de champagne? […] T’as vraiment de grands yeux… de grands yeux magnifiques … Tes cheveux sont tellement doux, et ta bouche…mmmm….Comme j’aimerais goûter à ça. Viens plus près…. Ici… Touches-moi…. Touch me.64

Nach diesem Einblick in die stereotypen Denkweisen einer männlichen Figur folgt der Bericht zweier homosexueller Männer, die von ihrem Verlieben und Entlieben sprechen, von der anfänglichen Faszination für den jeweils anderen und von den kleinen Gewohnheiten und Marotten, die schließlich dazu führen, dass Liebe zwischen zwei Menschen immer mehr schwindet, man nur noch Unverständnis und Abscheu für den Partner empfindet und die Beziehung schließlich in beleidigenden und verletzenden Anschuldigungen endet. Guy #2:

Guy #1:

Il arrivait pas vraiment à se laisser aller … Un jour, j’ai senti que c’était fini. Y avait beaucoup de choses qui m’énervaient, comme sa façon de manger par exemple… La façon qu’il avait de mettre la nourriture dans sa bouche…. Je trouvais ça vraiment dégoûtant. Des fois on était dans un restaurant par exemple… Si je faisais quelque chose de pas correct à table, il me regardait comme s’il avait honte de moi… Un jour, je lui ai dit: As-tu honte de moi? T’as honte de moi? Pourquoi t’as honte de moi…Ç’est moi. Tu me prends comme je suis ou tu me prends pas, that’s it that’s all!

63 Ebd.: 7. 64 Ebd.: 8. 300

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Guy #2:

Both: Guy #2: Guy #1:

Guy #2:

Both: Guy #1: Both:

Après ça… Je suis vraiment pas habitué à me faire parler comme ça. Je tremblais. Mais je voulais pas qu’il le voie, je voulais pas qu’il le sache, je voulais pas qu’il pense que j’étais un homme faible. Alors plutôt que de lui dire comment je me sentais, je lui ai dit: Si t’es pas content, retourne avec ton ancienne blonde. Anyway, j’ai rencontré quelqu’un d’autre… Il s’appelle Randy pis y donne vraiment des meilleurs blow jobs! Oh my god il a dit ça… Il m’a dit ça!…. Je pouvais pas croire qu’il m’avait dit ça. J’étais tellement furieux… Il avait un verre de vin rouge, il me l’a lancé au visage… Sa chemise blanche était toute tachée. J’étais tellement fier de moi j’ai dit. T’as ce que tu cherchais trou du cul! T’as pas d’affaire à me parler comme ça. J’aurais dû m’en douter. La première fois que je t’ai vu, j’ai pensé que t’avais l’air weird. T’es tellement grossier. Et quand on est dans un restaurant ensemble j’ai honte de toi parce que tu manges comme un porc. T’as pas de manières. Je suis parti. En rentrant chez moi je me sentais tellement humilié. J’avais jamais été traité comme ça. Pendant des semaines, je pouvais plus sortir. J’étais dans un état épouvantable. Je répondais plus au téléphone, je voulais voir personne, je me sentais laid, je me lavais plus, je mangeais presque pas.65

Eine ähnliche Enttäuschung durch einen Freund erlebt ein kleiner Junge, der sich nicht sicher ist, ob sein Freund tatsächlich mit ihm spielen will oder ihn nur wegen seines kleinen Hundes besucht. Als der Hund bei einem Unfall überfahren wird, bestätigt sich die Vorahnung des Kindes. Es fühlt sich einsam und traurig, ist in der Schule unaufmerksam und fürchtet sich vor den Geschichten des großen Bruders, der behauptet, ein Monster lebe unter seinem Bett. Diese Episode initiiert durch das Motiv des Monsters wieder die Sprechstimme vom Anfang des Stücks, die jetzt als dieses Monster von Einsamkeit, Dunkelheit und Kälte spricht, von seiner Existenz in einem dunklen Loch ohne Nahrung und ohne Ausweg. Eine der letzten Geschichten ist die einer Frau, die von einer früheren Partnerin im Intimbereich mit einer Rasierklinge verletzt wurde und diese Wunde immer wieder öffnet, um sich an die vergangene Beziehung zu erinnern. Diese Manie der Selbstverletzung stößt eine neue Partnerin zutiefst ab, sie spricht von ihrem Unvermögen, der Frau eine gewünschte weitere Verletzung zuzufügen, und reflektiert die Bedeutung dieser 65 Ebd.: 10. 301

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Wunde als ein Zeichen von vergangener Liebe und Enttäuschung, als Spuren – körperliche wie seelische –, die jeder Mensch trägt: En rentrant chez moi, je me disais… Si la rencontre des autres laissait des marques sur nos corps, on aurait l’air de quoi? Nos visages porteraient les traces de tous les baisers, de toutes les morsures, de toutes les mains qui nous ont caressé. Les êtres humains seraient magnifiques. Ils porteraient les traces du passage des autres et tout le monde pourrait les voir. Et si les marques étaient des blessures, des coupures, des membres arrachés, des traces de dents, du sang séché? Mais les traces demeurent cachées, invisibles. Et moi… Je suis ici encore, entourée de portes et je ne sais pas laquelle ouvrir d’abord. J’aimerais tellement que quelqu’un me dise laquelle je dois ouvrir d’abord.66

Dieses Resümee nach dem verstörenden Erlebnis jener körperlichen Verletzung, die eine brutale Spur einer enttäuschten Liebe auf dem Körper der Zurückgelassenen markiert, kann als Synthese der Bekenntnisse aller Figuren gelesen werden, denen die Stimmen Marie Brassards Gehör verschafft haben. Die unterschiedlichen Erfahrungen führen zu einer für all diese Stimmen übereinstimmenden Schlussfolgerung, nämlich der Erkenntnis, dass zwischenmenschliche Beziehungen gleich welcher Art den Menschen prägen und dass die Suche nach Glück, Liebe und einer höheren Erkenntnis eine Unendliche ist. In einer letzten Sequenz ergreift noch einmal das Monster das Wort und verspricht, den Adressaten seiner Rede an genau jenen Ort zu bringen, den alle beständig suchen, ihn durch das Labyrinth des Lebens zu einer Tür zu führen, die zu einem großen Raum führt, jenseits der engen Korridore und Gänge, in denen die einzelnen Individuen allein umherirren. So, wie das Kind in der ersten Sequenz dieser Kreatur Vertrauen geschenkt und seine Ängste im dunklen Wald überwunden hat, endet das Stück mit dem hoffnungsvollen Gesang einer Frauenstimme, die ‚Are you lonesome tonight‘ intoniert, und wie ein zuversichtlicher Trost nach all den verzweifelten und enttäuschten Schicksalsepisoden mischt sich zu der weiblichen Stimme eine zweite, tiefe Männerstimme und der Song klingt im Duett aus. Wie schon in den ersten beiden Inszenierungen realisiert Marie Brassard die Vielstimmigkeit ihrer Inszenierung durch die Arbeit mit dem Vocoder, über den sie ihre Stimme in Realzeit verfremden und vervielfältigen kann. Im Unterschied zu Jimmy, créature de rêve und The Darkness ist das theatrale Spiel dabei bis aufs äußerste reduziert. Die Darstellerin befindet sich während des gesamten Stücks in der linken Ecke einer fast leeren Bühne, die nur mit einem Stuhl ausgestattet ist, mit dessen Hilfe sie die unterschiedlichsten Erzählsituationen schafft. Mal 66 Ebd.: 18. 302

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sitzt sie als das kleine Mädchen in sich zusammengesunken auf diesem Requisit, mal lasziv wie auf einem Barhocker an der Theke, wenn sie die junge Frau ist, die den Unbekannten verführt, mal nachdenklich, den Kopf in die Hand gestützt, wenn sie den älteren Frauen ihre Stimme gibt und sie von ihren Gewohnheiten und Erinnerungen sprechen lässt. Diese Markierungen von Situationen sind dabei nicht als theatrale Repräsentation ihrer Figuren im Sinne einer Verkörperung zu verstehen, sondern sie dienen lediglich als kleine visuelle Andeutungen, die die in erster Linie durch die Stimmmodulation vollzogenen Wechsel von einem Bekenntnis zum nächsten strukturieren.

Peepshow (Abb. 16) Entsprechend dieser reduzierten visuellen Konzeption der Inszenierung bleibt die Bühne durchgehend in schwaches, schummeriges Licht getaucht, das sowohl die Atmosphäre einer wahren Peepshow evoziert, als auch die Einsamkeit und das Dunkel, die jede der zu Wort kommenden Figuren in ihrer jeweiligen Situation erlebt. Diese optische Grundeinstellung wird durch auf die Bühnenrückwand projizierte Videobilder des Künstlers Simon Guilbault ergänzt, die unpräzise Formen und Strukturen zeigen und mal an nasses Laub eines Waldbodens, mal an ein Straßenpflaster erinnern oder ganz abstrakte, mit dunklen Farben überblendete geometrische Formen andeuten. Diese Bilder überlagern sich immer wieder mit den von einer Infrarotkamera aufgenommenen Körperbildern Brassards, die den dunklen, unheimlichen und nicht zu spezifizierenden Raum mit menschlichen Spuren durchziehen. Ästhetisches Ziel ist dabei nicht die mediale Verdopplung des Darstellerkörpers, sondern eine schemenhafte Visualisierung von körperlicher Nähe und menschlicher Existenz in dieser dunklen und einsamen Peepshow, in der das Publikum 303

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als fremder und heimlicher Zuhörer den intimen Geschichten anderer lauscht und über diesen auditiven Voyeurismus in einer quasi akustischen Peepshow Einblick in die Schicksale der Figuren erhält.

Peepshow (Abb. 17) Wenn diese bislang jüngste Theaterarbeit Brassards eingangs als die Verschränkung von Stimmlichkeit und Körperlichkeit in einer Ästhetik des auditiven Sehens beschrieben wurde, dann manifestiert sich dies in der negativen Konzeption der Bühne als Schauraum. Tatsächlich sieht der Zuschauer in dieser Inszenierung fast nichts. Brassard führt die Charakteristika des Theaters als Ort des Sehens und der Peepshow als einer Institution der voyeuristischen Teilhabe an fremden Sexualpraktiken ad absurdum, denn wahrnehmen und partizipieren kann das Publikum hier in erster Linie über das Hören. Stattdessen rückt sie die Stimme als ein Phänomen in den Fokus, dessen Rezeption sich niemals getrennt von anderen Sinneswahrnehmungen vollzieht. Der künstlerische Stimmeinsatz in Peepshow offenbart sich auf geradezu paradigmatische Weise als eine Form ‚auditiven Sehens‘ und zeigt, dass dem Stimmlich-Akustischen eine visuelle Dimension inhärent ist, dass „wer sehen will, auch hören muss.“67 Die Gegenwartskunst erzeugt Hörräume, die gewohnte Formen und Strategien der Wahrnehmung wie auch der Hierarchisierung der Sinne provozieren, irritieren und bisweilen unterlaufen. [...] Die für die Gegenwartskunst charakteristi-

67 Kolesch, Doris (2006): „Wer sehen will, muss hören. Stimmlichkeit und Visualität in der Gegenwartskunst.“ In: Dies./Krämer, Sybille (Hg.): Stimme. Annährung an ein Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 40-64. 304

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sche Enthierarchisierung der künstlerischen Mittel führt dazu, dass die Stimme frei wird für Gestaltungs- und Spielweisen, die ihr bislang verwehrt waren. [...] Die Kritik am theatralen Modell der Repräsentation und Darstellung geht in diesen Kunstereignissen einher mit einer Ausstellung der Sprache und des Sprechens. Sprache wird nicht mehr als vermeintlich transparentes Medium von Bedeutungsstiftung aufgefasst, sondern als Klang- und Lautmaterial entfaltet. Sinn- und Bedeutungsdimensionen werden polyglossal disseminiert, während gleichzeitig die Leiblichkeit des Sprechens im Atmen, Stöhnen, Flüstern und Schreien vorgeführt wird und die stimmliche Artikulation als raumzeitliche und rhythmisierte Klangstruktur an Eigenwertigkeit gewinnt. Zugleich ist die scheinbar gegenläufige Dissoziation von Körper und Stimme zu beobachten. [...] Der künstlerische Stimmeinsatz kann als verstärkte Ausstellung der Eigenwirklichkeit von Stimmen charakterisiert werden. Dadurch werden die Mechanismen alltäglicher Hörarbeit auf den Kopf gestellt, indem die klanglichmusikalische Dimension des Sprechens ebenso wie die körperlich-sinnliche Verfasstheit und Wirksamkeit von Stimmen, die meist als sekundär gilt, in den Vordergrund gerückt wird.68

Während in den beiden ersten Solostücken Visualität noch im Gleichgewicht zum Spiel mit den verschiedenen Stimmen steht und sich bildliche und akustische Ebene durch eine Art Rhythmus verbinden und miteinander in Einklang stehen, basiert Peepshow fast ausschließlich auf dem hohen suggestiven Potential der Stimme und ihren unendlichen Transformationsmöglichkeiten durch den Vocoder. Über die mit unterschiedlichsten geschlechtlichen und emotionalen Attributen ausgestatteten Stimmen erzählt Marie Brassard nicht nur die Geschichten verschiedener Figuren, sondern kreiert genau jene Atmosphären, von denen ihre Protagonisten sprechen oder in denen sie zu diesem Bekenntnis kommen. Sie stockt, lacht, atmet schnell, schnauft, überlegt, wiederholt oder verhaspelt sich, spricht mit hysterisch schriller, betörend tiefer oder verängstigter Stimme und füllt so akustisch die visuellen Leerstellen, die die Bühne optisch nicht zu füllen vermag. Dabei gilt es hier nicht einen Mangel zu kompensieren, sondern diese Konzeption von Theater nutzt eine Dimension von Stimmlichkeit, die zu bewerkstelligen das Theater als Schauraum oftmals nicht in der Lage ist. Während das Publikum über den Akt des Betrachtens zum Bühnengeschehen in Distanz treten kann und sich als Subjekt in einem Außerhalb positioniert, ermöglicht das Medium der Stimme in Peepshow, die auf die Kommunikation intimer Bekenntnisse zielt, ein subjektives Sich-Einlassen des Zuschauers, der sich von dem Gehörten ein Bild macht, dieses aber nicht gezeigt bekommt:

68 Ebd.: 47ff. 305

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Die Ordnung des Visuellen und die Welt des Stimmlich-Auditiven sind keineswegs deckungsgleich. Während das Sehen die Welt auf Distanz bringt, einen Überblick und eine klare Positionierung des Subjekts erlaubt, lässt sich das Hören auf die Welt ein. [...] Das Hören einer menschlichen Stimme kann nicht als Wahrnehmen eines vom Subjekt getrennten Objekts beschrieben werden, sondern es ist eher ein atmosphärisches Geschehen, bei dem der oder die Zuhörende sich in der Stimme des anderen befindet, von ihr umfangen, bisweilen auch bedrängt wird. Stimmen umgeben uns, hüllen und lullen uns ein oder wirken wie ein harter, spitzer Pfeil, der uns trifft und bis ins Mark erschüttert. Von daher erscheint die Stimme als paradigmatische Figur der Transgression, da sie die Grenze zwischen einem Subjekt und einem anderen Subjekt markiert und zugleich überschreitet.69

Im Kontext einer Inszenierung, deren zentrales Thema die Einsamkeit und das Streben nach Liebe und Zuneigung ist, gleichzeitig die suchenden Einsamen aber körperlich nicht präsent sind, sondern nur über ihre Stimmen re-präsentiert werden und diese Stimmen hybride Stimmen sind, die aus der Symbiose einer menschlichen Stimme mit der Technik generiert werden, eröffnet das Phänomen von Stimmlichkeit ein völlig neuartiges Verhältnis von Nähe und Distanz. Der Zuschauer sieht die Figuren, die zu ihm sprechen, zwar nicht, aber die dunkle Theaterbühne schafft in Verschränkung mit ihrer auditiven Zeichenebene einen Illusionsraum, der die Sprechenden und ihre Geschichten in der Imagination des Publikums lebendig werden lässt. Da die Stimme eng mit Identität als auch mit Intersubjektivität verbunden ist, provoziert die technisch reproduzierte, die elektronisch gestohlene, verzerrte oder fragmentierte Stimme unser Selbstverständnis, ja führt sie zu Situationen, für die wir (noch) keine Begriffe zu haben scheinen. Zugleich jedoch macht der an modernen Technologien geschulte Umgang mit der Stimme und den dazugehörigen Wahrnehmungserfahrungen bestimmte vortechnologische Mythen der Stimme fragwürdig und erfordert eine erneute Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Selbstverständnis.70

Über das Spiel mit der Akustik, mit Stimmen, Geräuschen und Momenten, in denen nichts zu hören ist, entwirft die Inszenierung einen zweiten Raum, der allein durch die subjektive Imaginationskraft jedes einzelnen Zuschauers bzw. Zuhörers entsteht. Die Produktion von Bildern kommt hier nicht mehr dem Theater zu, sondern ist fast vollständig auf die Rezipientenseite verschoben. „Trotz der damit scheinbar vollzogenen Selbstaushebung“ des Mediums Theater als Schauraum, als privilegiertem Ort 69 Kolesch (2004): 22f. 70 Ebd.: 26. 306

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der Bilder, finden – so formuliert es Annette Jael Lehmann – „Prozesse der Produktion und Rezeption von Bildern statt.“ Durch die eindringliche Nähe der Stimmen dieses Theaters kann „die visuelle Leerstelle [...] durch die von den Zuschauern assoziierten und imaginierten Bilder substituiert werden.“71 Aufgrund der Diskrepanz zwischen der Vielzahl und Heterogenität der Stimmen und der Quelle dieser Stimmen, die alle von einer einzigen auf der Bühne präsenten Darstellerin produziert werden, müssen diese Bilder notwendigerweise uneindeutig bleiben. Das, was gehört wird, kann nicht eindeutig lokalisiert bzw. einem einheitlichen Körper zugeschrieben werden. Zwar meint der Zuschauer, die Geschichten unterschiedlicher Figuren zu hören, die zeitweise Überlagerung verschiedener Bekenntnisse, die Ähnlichkeit mancher Stimmen und die IchForm aller Reden macht eine Differenzierung von Einzelcharakteren jedoch schwierig. Hierin wird das Charakteristikum der Stimme als ein Schwellenphänomen erfahrbar, das immer zwei Dimensionen von Erfahrung beinhaltet. So sehr die Stimme als indexikalisches Zeichen auf einen Körper verweist, auf Individualität und Präsenz, so sehr offenbart sich gerade durch die Erfahrung einer Vielzahl solcher ortloser Stimmen, die über Lautsprecher und damit losgelöst von jeglichem Körper an unser Ohr dringen, das Potential der Täuschung und Irritation über den Status und die Quellen des Gehörten.72 Die Stimme ist ein Schwellenphänomen. Denn sie ist immer zweierlei: Sie ist sinnlich und sinnhaft; Soma und Semantik; aisthesis und logos vereinigen sich in ihr. [...] Die Stimme ist also nicht einfach Körper oder Geist, Sinnliches oder Sinn, Affekt oder Intellekt, Sprache oder Bild, sondern sie verkörpert stets beides. Sie ist situiert zwischen zwei Seiten, die in ihr ein Verhältnis zueinander eingehen. Die Stimme entzieht sich der Disjunktivität begrifflicher Schemata, sie untergräbt ein Stück weit unsere binären Kategorisierungen und erscheint als paradigmatische Figur der Überschreitung.73

71 Lehmann, Annette Jael (2000): „Spuren der Präsenz, Spuren der Absenz. Performativität und Erinnerung im Zeitalter von Aids.“ In: Fischer-Lichte, Erika/Lehnert, Gertrud (Hg.): Inszenierungen des Erinnerns. Berlin: Akademie Verlag, 217-235, hier 230. 72 Vgl. Macho, Thomas (2006): „Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme.“ In: Kolesch, Doris/Krämer, Sybille (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 130146. 73 Krämer, Sybille (2006): „Stimmen im Konzert der Disziplinen.“ In: Kolesch, Doris/Krämer, Sybille (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 7-15, hier 12. 307

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

So inszeniert Brassard ein Theater, das sich selbst konstant in Frage stellt, das Sehen und Hören mit Zweifeln belegt und doch ein unendliches Panorama menschlicher Geschichten und Emotionen präsentiert und sich dem Publikum auf höchst affektive und subjektive Weise erschließt. Der einzelne Zuschauer sieht mehr, als ihm gezeigt wird, und er hört auch mehr, als ihm erzählt wird. La musique ou encore le rythme rejoignent tous les êtres humains car avant même de voir, nous avons entendu. Voilà peut-être pourquoi l’impact est si fort […]. Alexander et moi essayons de développer une sorte de langage, une scénographie sonore qui propose autant des personnages différents que des lieux différents. […] Le traitement de la voix humaine devient dans Peepshow de la musique et parfois même l’indication des états intérieurs du personnage. J’essaie aussi de mettre en scène la pensée, les différents rythmes que l’on entend quand on réfléchit, le chevauchement des idées.74

Wie im Hörspiel entfaltet sich vor ihm ein imaginativer Raum, in den er eintaucht und an dem er über das Hören partizipiert. Aufgrund dieser subjektiven Erfahrung, die er nur partiell mit den übrigen Zuschauern und Zuhören teilt, wird er zum heimlichen Voyeur, scheinbar allein und doch wie viele andere mit ihm ist er der Besucher von (einer) Peepshow. Er hat die Erlaubnis erworben, für eine kurze Zeit an etwas teilzuhaben, was gesellschaftlich zwar nicht diskreditiert, aber doch ein Tabu ist: Einblick zu erlangen in das Seelenleben und die Intimität seiner Mitmenschen.

Das Theater als Klangraum Die Theaterarbeiten Marie Brassards zeichnen sich, wie die Analysen der drei Solostücke Jimmy, créature de rêve, The Darkness und Peepshow gezeigt haben, durch eine Inszenierung des Theaters als Klangraum aus, der die akustische Wahrnehmung vor dem Sehen privilegiert und so eine ästhetische Dimension akzentuiert, die oft unter der auch das Theater prägenden Dominanz des Visuellen marginalisiert wurde.75 Über das Spiel mit ihrer technisch durch einen Vocoder vervielfachten und verfremdeten Stimme erzählt Marie Brassard Geschichten, die dem Publikum mehr sagen, als die semantische Bedeutung ihrer Texte vermittelt. Die Stimmen erschaffen Figuren, sie hybridisieren sie in ihrer ge74 Bérubé, Jade (2005): „Mondes parallèles.“ In: Voir (26.5.2005). 75 Vgl. dazu ausführlicher Kolesch (2001): 260ff.; dies. (2004): 22f.; Krämer (2006): 7f. und Lagaay (2004). 308

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schlechtlichen und identitären Einheit, sie entwerfen Bilder, erzeugen und übermitteln Emotionen und schaffen Atmosphären, die das Theater nicht zeigen kann oder will. Die Theatralität der Stimme „zeichnet einen Raum, dessen antagonistische Pole das Bild eines physischen Körpers und das Bild eines Textkörpers besetzen. Die Stimme selbst ist atopisch, doch wir nehmen sie als ein räumliches Klangbild war, das bei jeder Emission ihren Raum und ihre virtuellen Ursprünge zeichnet.“76 Die Stimmen dieses Theaters sind auf doppelte Weise hybrid, sie verweisen einerseits auf den Darstellerkörper Marie Brassards als ihren Ursprungsund Erzeugungsort sowie gleichzeitig auf abwesende, virtuelle Körper, die nur im akustischen Raum existieren, und verbergen gleichwohl andererseits niemals ihren medial-amorphen Charakter und ihre Herkunft aus der Maschine. Als wichtigstes Mittel und Medium des Solostücks ermöglicht die Stimme die Herstellung der theatralen Erzählung und die Entstehung von Figuren, sie überwindet die Distanz zwischen allein agierendem Schauspieler und seinem Publikum und schafft Nähe und Intimität für ein Theater, das sich auch aus persönlichen Erfahrungen, Bekenntnissen und autobiographischen Elementen des Künstlers nährt.77 Über das Spiel mit der Stimme entstehen Momente des intimen Bekenntnisses, der leisen Töne und der Komplizität zwischen Bühne und Zuschauerraum, die erst durch die technisch verstärkte Stimme ermöglicht werden. Sie [die Stimme (J.P.)] verleiht zugleich als physische Wirklichkeit mit emotionaler Wirksamkeit allen Inhalten Bedeutsamkeit, während sie als Medium der Sprache Bedeutung trägt. Es gibt also gute Gründe, ihr unter den sinnlichen Komponenten des Theaters eine privilegierte Stellung einzuräumen. Die Schallwellen des Sprechens und Singens überspülen immer schon die Grenze der Rampe, die der Distanzsinn des Auges als Trennlinie zwischen Szene und Zuschauerraum festhält [und] vereinen Bühne und Publikum in ein und demselben Klangraum. Die Stimme macht insofern das Jetzt des von allen Beteiligten gemeinsam durchlebten Theatermoments in besonders intensiver Weise fühlbar.78

In der Akzentuierung der Stimmlichkeit als einem genuin theatralen Moment offenbart sich der transitorische und performative Charakter beider Phänomene, von Theater und Stimme. Beide entstehen und erzeu76 Finter, Helga (2004): „Stimmkörperbilder. Ursprungsmythen der Stimme und ihre Dramatisierung auf der Bühne.“ In: Kolesch, Doris/Schrödel, Jenny (Hg.): Kunst-Stimmen. Berlin: Theater der Zeit (Recherchen 21), 131141, hier 132. 77 Vgl. Fouquet (2005): 216. 78 Lehmann (2004): 43. 309

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gen im Moment ihres Vollzugs, beide entziehen sich einem die Zeiten überdauernden Zugriff und rücken damit ihre spezifische Medialität in den Fokus.79 Intermedial ist das Theater Marie Brassards auf doppelte Art und Weise: Zum einen bedienen sich die Inszenierungen in ihrer Ästhetik des Modells des Mediums Hörspiel. Sie konzentrieren die Ebene der theatralen Bedeutungsproduktion und -vermittlung fast vollständig auf das Hören und erweitern das stimmliche Spektrum der Bühne um eine Vielzahl auditiver Elemente, die paralinguistische Zeichen ebenso umfassen wie Geräusche, Klang und Musik. Dabei negieren die Stücke zwar die visuelle Komponente von Theater nicht vollständig, reduzieren aber das darstellerische Spiel und die bildliche Expressivität der Bühne so weit, dass sich dem Publikum offenbart, wie sehr Wahrnehmungsvollzüge immer das Resultat komplexer Interaktionen der Sinne darstellen. Zum anderen zeigt sich über das Spiel mit der durch die technischen Modulationen, Verstärkungen und Multiplikationen besonders herausgestellten Ebene der Stimmlichkeit der genuin intermediale Charakter von Theater als einem plurimedialen Zeichensystem. Nicht nur das Theater selbst ist, wie im Kapitel ‚Theater und (neue) Medien‘ dargelegt, als ein Medium zu konzipieren, auch alle in ihm wirksam werdenden Medien wie Stimme, Musik, Gesten etc. sind als mediale Phänomene zu verstehen, wie sie mit Sybille Krämers Medienverständnis formuliert wurden. Gerade an stimmlichen Phänomenen im Theater lässt sich dabei sowohl das Verhältnis von Medium und Botschaft als auch die bisher wenig beachtete akustische Verfasstheit von Theater untersuchen. Die Spuren, die das Medium Stimme an seinen Botschaften hinterlässt, werden durch die technische Bearbeitung der Stimme(n) und ihre Disproportionalität im Verhältnis zu den sichtbaren Körpern der Bühne besonders exponiert. Erst im Solostück, das sich einer Vielzahl heterogener und hybrider Stimmen bedient, offenbart sich der Mehrwert der Stimme, „die nicht nur der literarischen bzw. dramatischen Narration dient und nicht mehr nur Medium dramatischer Expressivität oder Instanz der Authentifizierung eines psychologisch gedachten Subjekts ist“80, sondern aktiv zu dem durch sie vermittelten Sinn beiträgt, bzw. „diesen Sinn erst konstituiert – und zugleich kommentiert, unterminiert oder verändert.“81 Neben der Auseinandersetzung mit der Wirkungskraft der Sprache kreist der performative Ansatz um das Theatralische, für das sich die Stimme als paradigmatisches Beispiel erweist. Präsenz, Ereignishaftigkeit und An-Andere79 Vgl. Kolesch (2001) sowie Krämer/Kolesch (2006). 80 Kolesch (2004): 24. 81 Lagaay (2004): 299. 310

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – MARIE BRASSARD

Gerichtet-Sein (d.h. an Zuschauer/Zuhörer) können als wichtige Stichwörter dieser Orientierung angesehen werden. [...] Aus der performativen Orientierung heraus wird das theatralische Ereignis nicht als Repräsentation einer vorher festgelegten, durchgeplanten und eingeübten Handlung einer meist schriftlichen Vorlage begriffen, sondern vielmehr als Präsentation, als einzigartiges und einmaliges Ereignis, das Schauspieler und Zuschauer zugleich im Moment der Aufführung zum ersten Mal erleben. Da eine Stimme sich prinzipiell im Hierund-Jetzt und im Modus des Zum-Ersten-Mal-Seins ereignet – keine stimmliche Äußerung lässt sich identisch wiederholen – und da sie immer an einen Hörer gerichtet ist (ähnlich wie eine Performance oder ein Theaterstück eines Publikums bedarf), kann die Stimme als theatralisches Phänomen begriffen werden, das räumlich wie zeitlich als einmalige Präsenz existiert. Sie kann somit also auch als ein archetypisches Beispiel der performativen Theorie betrachtet werden.82

Die Herausstellung der Stimme als ein konstitutives Medium des Theaters trägt der jüngsten medienwissenschaftlichen und kulturphilosophischen Hinwendung zu Phänomenen der Stimmlichkeit und der Relativierung der Dominanz des Visuellen und des Bildes ebenso Rechnung, wie sie die enge Verbindung von Stimmlichkeit und Visualität in den Fokus theaterwissenschaftlicher Forschung rückt. Inszenierungen wie diejenigen Brassards zeigen, dass es nicht darum gehen kann, die Vorherrschaft der Bilder durch eine Privilegierung des Akustischen zu ersetzen, sondern dass die Stimme als ein Schwellenphänomen begreifbar zu machen ist, das zwischen einer Ästhetik der Präsenz und einer Ästhetik der Repräsentation zu verorten ist. Die Stimme als ein Medium, das vermittelt und gleichzeitig konstituiert, verweist auf eine „Intensität des [theatralen (J.P.)] Erlebens, die kognitive und emotionale Potentiale gleichermaßen aktiviert.“83 Indem die Bühne Brassards zum Spielfeld der technischen Bearbeitung, Erzeugung und Reproduktion von Stimmen durch Mikrophone, Vocoder und Lautsprecher wird, macht sie sich als Kunsttechnik die illusionären Potentiale dieser Medien im Sinne der Vervielfachung von Stimmen, der Herstellung neuer (Klang-)Räume und der Schaffung neuartiger Wahrnehmungsphänomene zunutze. Durch die Verschiebung und Hybridisierung gewohnter Rezeptionsmechanismen kann das Theater als Kulturtechnik dabei gleichzeitig die medialen Implikationen der verwendeten Technik herausstellen und Augen und Ohren für den kulturellen wie künstlerischen Umgang mit ihr schärfen.

82 Ebd.: 300f. (Hervorhebungen im Original). 83 Kolesch (2001): 266. 311

DENIS MARLEAU – „PENSER

L E T H ÉÂ T R E P L U T Ô T Q U E D ’ Y J O U E R “

1

Neben Robert Lepage ist Denis Marleau sicherlich der international renommierteste und ästhetisch herausragendste Theatermacher der aktuellen québecer Szene. Die Tatsache, dass sein Bekanntheitsgrad hinter dem Lepages zurücksteht, resultiert in erster Linie aus dem hohen intellektuellen Grad seiner Inszenierungen, die im Vergleich zu Lepages medialen Spektakeln sehr viel stilisierter und komplexer sind und das Publikum oft verstören, bevor sie begeistern.2 Das liegt sowohl an Marleaus Präferenz für Texte, die eine hohe literarische Dichte aufweisen, sowie an seiner Überzeugung, dass das gesprochene Wort ein komplexes Universum ist, das durch den szenischen Einsatz veränderbar und modellierbar ist und so in seiner Virulenz erst im Theater zugänglich gemacht wird. Die darstellerische Herangehensweise seines Theaters charakterisiert sich daher vor allem durch stimmliche Virtuosität, physische Präzision und die Erforschung der Materialität von Sprache. Dieser dezidiert textorientierten Arbeit stellt Marleau eine Bühnenästhetik gegenüber, die plastische und technisch-mediale Bilder in installationsartigen Gefügen vereint und einen Brückenschlag zwischen dem Theater und den anderen Künsten leistet. 1 2

Lévesque, Robert (1993): „Pour un théâtre non rentable.“ In: Le Devoir (13.09.1993). Vgl. hierzu auch die Einschätzung des Kritikers Paul Lefèbvre: „Alors que les innovations imagières de Robert Lepage et de Gilles Maheu, de Carbone 14, sont les bienvenues, Marleau se heurte à ce qu’il faut bien appeler de l’hostilité de ceux qui viennent accéder au pouvoir institutionnel; sa démarche – une réflexion agie sur la forme et l’Histoire – n’arrive pas à rencontrer l’horizon d’attente général. Par ailleurs, la critique, tant journalistique que spécialisée, soutient son travail avec intérêt et constance. Mais pour beaucoup, le travail d’Ubu n’est pas du théâtre: ces spectacles sans action au sens traditionnel du terme, sans personnages identifiables, sans exploration psychologique, hors des représentations du social, mais surtout sans états d’âme, relèvent, pour beaucoup, de l’amusement gratuit.“ Vgl. Lefèbvre, Paul (2003a): „En porte-à-faux. Denis Marleau dans le contexte du théâtre québécois.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 6-7, hier 6. 313

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Les metteurs en scène dont les spectacles m’interpellent, me troublent ou me séduisent sont ceux qui – tel Denis Marleau – ne signent aucun compromis avec les gérants du commerce et les experts en prétendus „goûts du public“. Fidèle à l’idée que le théâtre existe pour surprendre et inquiéter en déjouant les habitudes et les certitudes, en traquant les bêtises et les angoisses pour les expurger, Denis Marleau défend, d’une manière rigoureusement ludique, une approche „intellectuel“ du théâtre. […] L’itinéraire ou le circuit Marleau (qui va temporellement de Georg Büchner à Normand Chaurette, et stylistiquement de l’expressionisme à la surthéâtralité) a ceci de particulier et d’éloquent qu’il traverse et relie toutes les „modernités“, de formes et de paroles, toutes les ruptures, toutes les dissonances ou dissidences. Non content de pister ces „modernités“, et loin de vouloir simplement les reproduire, Denis Marleau les remet en cause, ou en crise, ce qui est sa manière de les mettre en scène, car l’essentiel chez lui est de produire un théâtre signé, unique et stupéfiant, qui inquiétera longtemps autant qu’il amuse sur le coup et qui s’accordera d’autant avec les angoisses diffuses et déboussolées de l’art actuel (car Marleau est en dialogue constant avec l’art de son temps), cet art contemporain passé de l’immatériel à l’informe, et du conceptuel au naturel, où les discours sont emmêlés et désespérants, où le deuil de l’œuvre est devenu une célébration créatrice.3

Der künstlerische Parcours des 1954 geborenen Denis Marleau beginnt mit dem Studium am Conservatoire d’art dramatique in Montréal von 1973 bis 1976, wo er sowohl eine Ausbildung als Schauspieler erhält als er sich auch schon hier dem Bereich der Inszenierungspraxis und der szenischen Ausstattung zuwendet. Er inszeniert in dieser Zeit erste kleinere Stücke, wird durch seine Lehrer mit der Problematik der Interaktion von Theater und anderen Künsten konfrontiert und realisiert mit seinen Mitstudenten Projekte, in denen sich Theater und skulpturale Darstellung begegnen und die eben jene gegenseitige Befruchtung der verschiedenen Kunstformen thematisieren. In der Überzeugung, nicht den Beruf des Schauspielers ausüben zu wollen, verbringt er nach Beendigung der Ausbildung am Konservatorium zwei Jahre in Paris, wo er Praktika an verschiedenen Theatern und bei unterschiedlichen Regisseuren absolviert und sich unter anderem durch Wolfram Mehring und dessen Arbeiten in Darmstadt und Mannheim besonders mit der Ästhetik der Bühne auseinandersetzt. 1978 kehrt er nach Montréal zurück, arbeitet zunächst als Schauspieler für Theater und Fernsehen und lernt dabei den Regisseur Paul Blouin kennen, dessen Art zu inszenieren und die Darsteller zu führen schließlich den Ausschlag für eine definitive Entscheidung Marleaus zugunsten des Berufs des Theaterregisseurs gibt. Er gründet das Théâtre 3

Lévesque, Robert (1997a): „Denis Marleau, l’orchestrateur.“ In: Ders.: La liberté de blâmer. Carnets et dialogues sur le théâtre. Montréal: Boréal, 75-84, hier 75, 78f. 314

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de la Nouvelle Lune und realisiert hier seine ersten eigenen Projekte. In Kooperation mit dem Musée d’art contemporain in Montréal entsteht 1981 Cœur à gaz et autres textes dada, eine szenische Collage aus Texten von Schwitters, Breton, Tzara und anderen Dada-Künstlern, die von Presse und Publikum gleichermaßen gefeiert wird und konzeptionell wie ästhetisch zur Basis seiner weiteren Arbeit und der Gründung seiner eigenen Kompanie, des Théâtre UBU wird. Schon der Name der Truppe verweist auf Marleaus Faszination für die Ästhetiken der historischen Avantgarden und deren Bestreben, das Theater für die anderen Künste zu öffnen. In den folgenden Jahren inszeniert er immer wieder Texte von Alfred Jarry, Kurt Schwitters, Pablo Picasso oder Guillaume Apollinaire, die nicht in erster Linie für das Theater geschrieben wurden, und arbeitet mit Künstlern aus so unterschiedlichen Sparten wie Tanz, experimenteller Musik oder den plastischen Künsten zusammen. Obwohl seine Inszenierungen von Presse und Publikum durchweg positiv rezipiert werden und einige seiner Arbeiten auch in institutionalisierten Theaterräumen gespielt werden, bleibt Marleau lange Zeit eine, wenn auch extravagante und durchaus renommierte, Randfigur der kleinen québecer Theaterszene.4 Der Hintergrund hierfür ist die noch sehr junge autochthone québecer Theaterlandschaft, deren Realität zu Beginn der 80er Jahre in einer kategorischen Zurückweisung des europäischen bzw. französischen Theatermodells und der Akzentuierung einer spezifischen québecer Dramatik in Bezug auf die sprachliche und politische Situation des Kulturraums besteht. Während das junge Theater der politischen Linken Québecs unter den Zeichen von Oralität, Emotionalität, Natürlichkeit und der Erforschung einer Nationalidee steht, sind Marleaus Arbeiten auf formaler und inhaltlicher Ebene spielerisch und sarkastisch und verfolgen eine sehr viel grundsätzlichere Idee von Theater, nämlich die Reflexion über eine Kunstform, die zwischen dem Text als ihrer originären Basis und den raumästhetischen Dimensionen seiner Aufführung oszilliert.

4

Zur künstlerischen Biographie Denis Marleaus vgl. Féral, Josette (1992): „‚Je sentais de plus en plus que je ne deviendrais pas un acteur‘. Entretien avec Denis Marleau.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 62, 101-120 sowie dies. (2001): „Denis Marleau, une approche ludique et poétique.“ In: Dies.: Mise en scène et jeu de l’acteur. Entretiens. (Tome 2: Le corps en scène). Montréal/Bruxelles: Editions Jeu/Editions Lansman, 211-234. 315

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Denis Marleau n’a cessé d’interroger le sens de la représentation [...] et il a beaucoup travaillé sur les limites du théâtre qu’il se plaît à croiser avec d’autres formes d’art.5 [Son] théâtre […], malgré l’extraordinaire travail plastique des mises en scène, la qualité des musiques originales aussi bien que le savoir-faire des comédiens et des comédiennes, est d’abord une formidable machine à langage, qui permet de réfléchir de manière critique sur celui-ci.6

Eine der Grundprämissen der Theaterarbeit Denis Marleaus liegt in seiner tiefen Überzeugung, dass das gesprochene Wort der Bühne ein komplexes Universum sei, und dass eine differenzierte Form theatralen Ausdrucks in erster Linie über die Arbeit mit diesem Text und erst in einem zweiten Schritt über seine szenische Darstellung erfolgen müsse. Für Marleau ist die menschliche Stimme in diesem Zusammenhang eine polyphone Maschinerie, die durch ihr Timbre, durch Hebungen, Senkungen, Klangfarbe, Tonfall, Artikulation und Lautstärke ein unendliches akustisches Repertoire bietet, das eine intensive und bis ins kleinste Detail reichende Arbeit an einem theatralen Text und damit dessen vollständige intellektuelle Reflexion ermöglicht. Das Interesse für Sprache als einem genuin theatralen Zeichen manifestiert sich auch in der Präferenz für literarisch sehr komplexe Texte, wie beispielsweise die Werke Bernard-Marie Koltès’, Gaetan Soucys, Normand Chaurettes oder Thomas Bernhards, mit denen er sich seit Beginn der 1990er Jahre vermehrt auseinandersetzt. Ce qui l’intéresse, c’est précisément la verbalisation outrancière de la scène. Il s’agit, de facto, d’une verbalisation poussée au paroxysme, tantôt contorsionnée et chantante, tantôt mimétique d’un univers mental qui dit son ‚inquiétante étrangeté‘.7

Die Zuwendung zu den genannten Autoren sowie zu durchaus klassischen Theatertexten wie Goethes Faust, Lessings Nathan der Weise oder Lulu von Franz Wedekind steht aber auch im Kontext einer Weiterentwicklung seiner Ästhetik. Ohne den bestimmenden Charakter der Avantgarden für sein Theaterverständnis zu negieren, haben sich Marleaus Interessen in jüngster Zeit von der Dekonstruktion von Form und Sprache hin zu einer Infragestellung des Bildes und seiner Repräsentation verla5 6 7

Ismert, Louise (2002): „Denis Marleau: Les Aveugles. Entretien.“ In: Programmheft des Musée d’art contemporain de Montréal, 5-21, hier 5. Chassay, Jean-François (2003): „Jouer le jeu: les paradoxes du ludisme.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 38-39, hier 38. Krysinski, Wladimir (2003): „Denis Marleau ou la sublimation de la forme.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 22-23, hier 22. 316

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gert. In diesem Zusammenhang sind auch seine Experimente mit Videobildern zu sehen, die in seiner Aveugles-Inszenierung bis hin zu einer vollständigen Eliminierung des Schauspielers von der Bühne gehen. Marleaus Bewusstsein für eine gegenseitige Beeinflussung der Künste im Theater beruht auf seiner Inspiration durch die Theaterformen der Avantgarden und ist von jeher in seinen Inszenierungen präsent. So, wie er den szenischen Raum als prädestinierten Kreuzungspunkt zwischen den Künsten begreift, sind die Künstler, mit denen er zusammenarbeitet, immer auch Koautoren seiner Stücke und machen das Theater durch ihre visuelle Sprache zu einer äußerst hybriden Darstellungsform. Die Bühnenstrukturen dieser Inszenierungen basieren oftmals auf einem beweglichen und vielfältig veränderbaren Konzept, das die Szenographie in ein räumliches Bild des Textes verwandelt, in eine „machine de la pensée“8, die nicht Illustration oder Dekor eines szenischen Geschehens ist, sondern einen psychischen Raum eröffnet, in dem sich der dramatische Gedanke materialisiert. Die Integration von Videotechnik in seine Inszenierungen Les trois derniers jours de Fernando Pessoa (1997), Urfaust, tragédie subjective (1999) oder Les Aveugles (2002), von denen die erst- und die letztgenannte im Folgenden genauer analysiert werden, steht in der logischen Konsequenz dieser Konzeption von Theater. Das Spiel mit elektronisch generierten Körperbildern, das bis zum Ersetzen von Darstellerfiguren durch Videoerscheinungen und damit bis zur Auflösung der theatralen Kommunikationssituation geht, beruht auf der konstanten Infragestellung von Repräsentation und dem dialektischen Spiel zwischen An- und Abwesenheit, zwischen Sein und Schein. Cette recherche s’est développée au fil de ma pratique théâtrale, qui oscille entre le besoin d’éprouver toute dramaturgie comme machine à rendre compte du réel et un désir de me confronter à d’autres modes d’expression artistique. […] Dès mes premières lectures [des Aveugles (J.P.)] se sont imposés le masque et la vidéo. Un choix qui a le mérite, me semble-t-il, de désencombrer l’acteur de son personnage. […] L’outil vidéo et les contraintes spatio-temporelles de l’installation ont effectivement conditionné la direction d’acteurs et entraîné le développement d’une méthode particulière […]. Ma conviction étant aussi que la modernité au théâtre et le renouvellement des formes qu’elle a entraîné relèvent en bonne partie des innovations techniques, comme le fut le cas pour l’électricité qui a modifié totalement l’art de la mise en scène. […] Il me semble que l’art actuel, du moins celui qui m’interpelle, propose une implicati-

8

Lesage, Marie-Christine (1999): „Installations scéniques. Le cas du Théâtre UBU et du collectif Recto Verso.“ In: L’Annuaire théâtral 26, 30-45, hier 31. 317

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on active de l’imaginaire du spectateur dans son acte de regarder. Un acte qui met en cause ses automatismes, ses préjugés et ses certitudes.9

Die Integration von Technik im Theater, die Verwendung komplexer Bühnenmaschinerien und skulpturaler Rauminstallationen bis hin zu Videobildern ist für Marleau so selbstverständlich, weil er, ebenso wie die anderen im Kontext dieser Studie präsentierten Künstler, die Integration jeder technologischen Komponente als eine natürliche und dem Theater eigene, weil historisch schon immer existente Entwicklung betrachtet. Im Kontext seines Interesses für Fragen der Repräsentation bietet dabei gerade das Medium Video ein ungeahntes Spektrum künstlerischer Möglichkeiten und eröffnet nicht nur auf Produktionsebene ein neues Spannungsfeld zwischen szenischer Realisierung und Textarbeit, sondern stellt auch den Rezipienten in seinem Akt der Wahrnehmung vor völlig neue Herausforderungen. Der hohe Reflexionsgrad, der der Verwendung dieser technisch-medialen Ausdrucksformen in seinem Theater zugrunde liegt, macht Marleau dabei in gewisser Weise zu einem größeren „Techno-Regisseur“ als Robert Lepage.10 Lepage fait dans l’agriculture extensive, laboure quinze domaines en même temps, touche au showbiz, au cinéma, se passionne pour toutes les techniques nouvelles. Marleau serait plutôt le roi de l’agriculture intensive, qui triture dans la plus grande discrétion un domaine minuscule, et finit par le transformer en œuvre d’art à force de retouche.11

In dieser Charakterisierung seiner Herangehensweise liegt unbestritten der internationale Erfolg und die Reputation der Theaterarbeit Denis Marleaus. Obwohl er eine Ästhetik verfolgt, die weder bestimmten Inszenierungstrends noch dem Geschmack eines breiten Publikums zu entsprechen versucht, faszinieren seine oft sehr sperrigen Inszenierungen ob des subtilen wahrnehmungsästhetischen Diskurses dieser „technologischen Phantasmagorien.“12 Für Marleau selbst sind die Verwendung von Videotechnik im Theater und die Diskussionen in Bezug auf die damit 9

Ismert, Louise (2003): „Une fantasmagorie technologique. Entretien avec Denis Marleau.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 104-107. 10 Lévesque, Robert (1997b): Les trois derniers jours de Fernando Pessoa.“ In: Parachute 88, 57-58, hier 58. 11 Robitaille, Louis Bernard (1999): „Marleau sans complexe.“ In: La Presse (1.10.1999). 12 Den Begriff hat Marleau selbst als Untertitel für seine AveuglesInszenierung gewählt. Er benennt ein technisches Verfahren, durch das in der Dunkelheit mittels optischer Effekte irreelle Figuren sichtbar gemacht werden können. Vgl. Ismert (2003): 106f. 318

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einhergehende Frage nach der Auflösung der unmittelbaren theatralen Kommunikationssituation nur vorübergehende Phänomene: „C’était une période, mais elle est déjà fini, ou presque.“13 Denn trotz der extraordinären plastischen Dimensionen seiner Inszenierungen, trotz ihrer musikalischen Qualitäten, trotz ihres medial-hybriden Charakters bleibt das Theater für den Québecer in erster Linie eine Sprachmaschinerie und Marleau selbst ist nicht nur ein Mann der Bilder, sondern auch und vor allem ein Mann des Textes.

Les trois derniers jours de Fernando Pessoa Die Bühnenadaption des Romans Gli ultimi tre giorni di Fernando Pessoa des italienischen Autors und Literaturwissenschaftlers Antonio Tabucchi14 fällt in jene Schaffensperiode Denis Marleaus, in der er sich nach der intensiven Beschäftigung mit der Ästhetik der Avantgarden vermehrt mit Texten auseinandersetzt, in denen das Wort nicht in erster Linie akustischen Wert hat, sondern vor allem Bedeutung trägt.15 Diese Inszenierungen sind geprägt von der präzisen Arbeit am darstellerischen Ausdruck, die die Expressivität des theatralen Spielens zugunsten einer Akzentuierung der Sprache zurücksetzt und somit dem Text eine neue Wichtigkeit zuerkennt. A mesure qu’il aborde des auteurs dont l’écriture se signale par une grande densité littéraire […], le travail de Denis Marleau s’éloigne encore davantage et de plus en plus de la tradition de jeu québécoise, centrée sur l’expressivité émotive. […] Ce travail, où l’expression de l’acteur/personnage est séparée du travail textuel de base, avant d’être délicatement ajoutée – comme une teinte que l’on appose en douceur sur une eau-forte – donne aux mises en scène de Marleau leur ton, leur mélancolique profondeur.16

Dieser Schwerpunkt auf Sprache als einem seit jeher dominanten Theaterzeichen, das Marleau der visuellen Ebene gleichberechtigt gegenüberstellt, bekommt mit der Integration der Videotechnik in seine Inszenie-

13 Robitaille (1999). 14 Tabucchi, Antonio (1994): Gli ultimi tre giorni di Fernando Pessoa. Palermo: Sellerio (dt. Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa (Übersetzung von Karin Fleischanderl). München/Wien: Carl Hanser, 1998). Im Folgenden wird für die Angabe von Textstellen die deutsche Übersetzung verwendet. 15 Vgl. Lefebvre (2003a). 16 Ebd.: 7. 319

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rungen eine neue Bedeutung. Marleau nutzt Video, um Spektren, Doppelungen und Phantome seiner Figuren zu kreieren bzw. um diese als solche zu visualisieren. Damit trägt er einerseits den diegetischen Anforderungen der jeweiligen Texte Rechnung, verfolgt aber gleichzeitig eine ästhetische Vorstellung, die auf das Theater der Symbolisten zurückgeht und schließlich in seiner Aveugles-Inszenierung ihre konsequente Umsetzung findet.17 Es ist der Traum von Avantgardisten wie Maurice Maeterlinck oder Edward Gordon Craig, ein Kunst-Theater zu schaffen, in dem die Bühne von jeglichen Fremd-Körpern befreit, in dem der Darsteller und sein Körper aus dem Bühnenraum entfernt wären und die Bühne nur noch aus abstrakten Dekorationselementen bestünde.18 Mit der Inszenierung des Tabucchi-Texts nähert sich Denis Marleau der Idee der Ersetzung des Schauspielers durch technische Körperbilder zum ersten Mal an. Durch die Mediatisierung von Figuren mittels Videotechnik werden ebenso die geisterhaften Erscheinungen der Phantome Pessoas realisiert, wie auch deren Rede – ob live oder ebenfalls mediatisiert – der Bedeutung von Sprache im Theater eine neue Dimension verleiht. Angesichts der fragmentierten Persönlichkeit der Figur Pessoas scheint nur noch der Text über die Identität der jeweiligen Besucher Pessoas Sicherheit zu geben, die aus nur einem einzigen Körper zu sprechen scheinen. Medial-technisch fragmentierte Körperbilder und präzise gesprochener und artikulierter Text stehen sich gleichberechtigt und als in sich geschlossene und autonome Einheiten gegenüber – jene Elemente, nämlich Bild und Sprache, die Marleaus Theater in ihrer Funktion und Ästhetik befragt.19 Fernando Pessoa, die Hauptfigur des Romans, zählt heute zu den bedeutendsten Schriftstellern Portugals, war zu Lebzeiten aber eine unscheinbare Gestalt im literarischen Leben und verdiente seinen Unterhalt als Handelskorrespondent und nicht als Dichter. Die Mehrzahl seiner Texte blieb Zeit seines Lebens unveröffentlicht, viele seiner Werke wurden überhaupt erst posthum entdeckt und waren oftmals mit Pseudonymen signiert, die der Autor wählte, um unterschiedliche Stilrichtungen und Thematiken von Literatur zu erproben.20 Tabucchis Roman handelt 17 Vgl. Kapitel ‚Les Aveugles – une fantasmagorie technologiques‘. 18 Vgl. Maeterlinck, Maurice (1890b): „Un théâtre d’Androides.“ Zitiert nach: Lazarowicz, Klaus/Balme, Christopher (Hg.) (1991): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart: Reclam, 364-373; Craig, Edward Gordon (1969): „Der Schauspieler und die Übermarionette.“ In: Ders.: Über die Kunst des Theaters. Berlin: Gerhardt, 51-73. 19 Vgl. Lévesque (1993). 20 Zur Biographie Fernando Pessoas vgl. Crespo, Ángel (1996): Fernando Pessoa. Das vervielfältigte Leben. Eine Biographie. Zürich: Amman; sowie 320

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von den letzten Lebenstagen des Schriftstellers, der am 30. November 1935 in Lissabon an den Folgen einer Lebererkrankung stirbt. Nach einer Nacht voller Schmerzen, in der sich sein Zustand dramatisch verschlechtert hat, wird Fernando Pessoa ins Krankenhaus gebracht, wo er von der Schwester nach der Untersuchung einen Schlaftrunk erhält und dann drei Tage lang zwischen Delirium und Agonie, in der „Stunde der Phantome“, also in der Zeit kurz vor Mitternacht, seine Heteronyme empfängt und im Gespräch mit ihnen sein Leben Revue passieren lässt. Mit dieser Szene beginnt die Inszenierung Marleaus. Bis auf einen kleinen Nachttisch und ein weißes Eisenbett, in dem der Darsteller Paul Savoie als Fernando Pessoa liegt, ist die Bühne leer und in schummeriges, blau-graues Licht getaucht. Eine Schwester, gespielt von Daphné Thompson, hat dem bleichen Mann im weißen Nachthemd eine Spritze gegeben, das erbetene Schlafmittel gebracht und ist gegangen.21 Nach diesem Prolog schließt sich der Bühnenvorhang noch einmal für einen kurzen Moment, darauf erscheint die Projektion des Datums der Szene, 28 novembre 1935 und darunter L’heure des fantômes, dann öffnet sich der Bühnenraum wieder und neben dem Bett sitzt eine Gestalt im Anzug.

Les trois derniers jours de Fernando Pessoa (Abb. 18) Es ist Álvaro de Campos, das erste der fünf Heteronyme, die Pessoa in den Nächten vor seinem Tod ihren Besuch abstatten und in Gesprächen mit dem Kranken gemeinsame Erinnerungen evozieren, ihrem Erschaffer Geständnisse machen oder ihm einen letzten Rat mit auf die Reise ins Jenseits geben. Jede dieser Figuren ist ein Alter Ego des Schriftstellers

Tabucchi, Antonio (1992): Wer war Fernando Pessoa? München/Wien: Carl Hanser. 21 Zur künstlerischen Besetzung der Produktion vgl. Lévesque (1997b). 321

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Fernando Pessoa, das unterschiedliche Facetten seiner Persönlichkeit repräsentiert und das jedes mit einem Teil seines Werks verbunden ist. Diese erste Begegnung mit Álvaro de Campos ist eine Rückschau Pessoas auf sein Leben als Schriftsteller und die Aspekte seiner literarischen Persönlichkeit, die er auf die Figur jenes Heteronyms projiziert, unter dessen Namen er vor allem Gedichte schrieb. „[I]ch werde dich nicht überleben, ich werde mit dir gehen, und bevor wir in die Finsternis eingehen, haben wir einiges zu besprechen“, sagt de Campos, der der einzigen Liebe Pessoas zu einem Mädchen namens Ophelia ein Ende gesetzt hat, weil es eine „lächerliche Liebe“ war, und stattdessen an seiner Stelle ein Sonett verfasst hat, das einem jungen Mann gewidmet ist, den er geliebt hat und von dem er wieder geliebt wurde. „[D]ieses Sonett wird die Legende deiner verdrängten Neigungen begründen [...].“ Pessoa spricht de Campos nach dem Geständnis von seinen Schuldgefühlen frei, während dieser beteuert, das Leben wirklich geliebt zu haben, auch wenn er in seinen zornigen futuristischen Oden und in seinen nihilistischen Gedichten alles zunichte gemacht habe. Rückblickend beklagt de Campos seine Zeit als dekadenter Dichter, der zwar den „Mond besingen“ konnte, aber „zu dumm war, das Leben zu genießen.“ Jetzt sei sein Herz ein „leerer Eimer“, er habe die Koffer gepackt, „um nirgendwohin zu reisen“, und es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, dem Freund diese Dinge zu sagen, bevor sich ihre Wege vielleicht trennten.22 Während Paul Savoie in dieser ersten Szene den kranken, im Bett liegenden Fernando Pessoa verkörpert, wird das Heteronym Álvaro de Campos, das am Fußende des Krankenlagers erscheint, von einem weiteren Schauspieler (Daniel Parent) dargestellt, der dem Phantom Pessoas aber nur seine körperliche Hülle leiht. Das Gesicht des Darstellers Parent wird von einer weißen Maske bedeckt, auf die das im Vorhinein gefilmte Videobild des Gesichts Paul Savoies projiziert wird, während dessen Stimme leicht verzerrt über Lautsprecher erklingt. In späteren Sequenzen wird der zweite Darsteller durch eine Roboterfigur ersetzt, die ebenfalls ein weißes Maskengesicht trägt und durch Videoprojektionen eine Identität erhält. Paul Savoie stellt seine Stimme und sein Gesicht also sowohl dem sterbenden Pessoa als auch dessen Pseudonymen, die ihm wie Geister erscheinen, zur Verfügung; Pessoa spricht sozusagen mit sich selbst, mit seiner Stimme zu seinem Gesicht. Etendu dans son lit de mort, Pessoa reçoit ses hétéronymes, avec lesquelles il dialogue une dernière fois. La projection métaphysique qu’il fait à travers ses alter ego écrivains devient une projection vidéo de sa propre image animée sur des masques portés par un acteur ou par des automates. L’acteur dialogue donc 22 Tabucchi (1998): 15; 16; 18f. 322

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avec lui-même en temps réel et en réalité. Quant au deuxième acteur, il se fait porteur de visage. Il devient un corps porteur de la voix, du regard et de la parole d’un autre et est relayé parfois par un petit automate personnifiant aussi un des multiples de Pessoa.23

Die Figur, die zu Pessoa in Interaktion tritt, ist ein Bild-Körper-Hybrid, eine Kreatur aus einem realen Körper (dem des Darstellers Daniel Parent) und dem Abbild des Gesichts Paul Savoies, sein Double und doch nicht er selbst und gleichzeitig ein identitäres Hybrid: Es ist Pessoa und doch ein anderer, eine Figur mit einer anderen Identität als der des Literaten, die aber ihren Ursprung in dessen Geist hat. So wie Pessoa im Dunkel des nächtlichen Krankenzimmers, benebelt durch den Schmerz und betäubt durch die Medikamente und doch wach in seiner Erinnerung, seine Heteronyme als reale Gespenster erscheinen, so inszeniert Marleau diese Begegnungen als ein Treffen zwischen vielen Körpern und einem Gesicht. Durch die videographische Verdopplung des Gesichts Pessoas realisiert er nicht nur die Gespräche Pessoas mit seinen Pseudonymfiguren, die der Roman Tabucchis als das Zusammentreffen realer Personen erzählt, sondern er führt über das Spiel mit den Videomasken und der Aufspaltung der Theaterfigur Pessoas und der Darstellerfigur Paul Savoies einen Diskurs, der die identitäre Ambivalenz des Schriftstellers Fernando Pessoa ebenso thematisiert wie die Frage nach der Repräsentationsfunktion des Schauspielerkörpers im Theater. Angesichts der Kopräsenz realer und medial-technischer Körper auf der Bühne Denis Marleaus stellt sich die Frage, was der Körper des Schauspielers repräsentiert und wie er sich in seiner Ontologie von den Automaten-Körpern unterscheidet. In welchem Verhältnis steht der Körper Daniel Parents, der den Heteronymen nur seine körperliche Statur leiht, zu dem Paul Savoies und dem der Automatenfigur? Welche Funktion und Bedeutung haben die Videomasken der literarischen Doppelgänger Pessoas hinsichtlich des Verständnisses der Inszenierung Marleaus und hinsichtlich der Frage nach der Medialität des Schauspielers? Und inwiefern ist die Ästhetik dieses Theaters als intermedial zu bezeichnen? Im Folgenden sollen zunächst weitere inhaltliche und ästhetische Aspekte der Inszenierung beschrieben werden, um die oben aufgeworfenen Fragen im Kontext der jeweiligen szenischen Konkretisierung in theoretischer Perspektive zu erörtern. Nach Álvaro de Campos besuchen noch vier weitere Figuren den sterbenden Pessoa an seinem Krankenbett, nämlich Alberto Caeiro, Ri23 Jasmin, Stéphanie (2003): „Parcours du personnage vidéo. Miroir, multiplication et effacement de l’acteur.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 4042, hier 40. 323

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cardo Reis, Bernardo Soares und António Mora, allesamt Heteronyme, unter deren Namen der Schriftsteller Texte unterschiedlicher literarischer Genres und Stilrichtungen verfasste. Jeder dieser Besuche vollzieht sich analog zu der ersten Begegnung Pessoas mit Álvaro de Campos, wie dieser stehen auch die anderen Pseudonyme in engem Zusammenhang zu einer bestimmten Lebensphase des Dichters, aus der der jeweilige Besucher zusammen mit dem Kranken einzelne Momente und Erinnerungen evoziert. Diese fünf Begegnungen werden strukturiert durch das kurze Schließen des Vorhangs, auf den in diesen Zwischensequenzen Zeitangaben sowie kurze Sätze aus Tabucchis Text projiziert werden, die den jeweiligen Besucher charakterisieren. Obwohl sich die Begegnungen am Sterbebett des Dichters in ihrer Anordnung gleichen – Fernando Pessoa empfängt im Bett liegend seine Heteronyme – zeigt der Besuch des zweiten Alter Ego, dass die kurzen Zwischenszenen auch graduellen Veränderungen der Szenerie hinter dem Vorhang dienen: Nach der Projektion des Satzes Je n’ai parlé que du temps qui passe, der sich auf die Thematik der Werke bezieht, die Pessoa unter dem Namen Alberto Caeiro geschrieben hat, ruft die Figur im Bett dieses Heteronym zu sich, das von Ribatejo, einem Ort auf dem Land, mit der Kutsche nach Lissabon kommen musste, um sich von Pessoa zu verabschieden. Im Verlauf des Gesprächs offenbart sich dem Zuschauer, dass Pessoa Caeiro als seinen geistigen Vater erschuf, der nachts aus dem Jenseits mit ihm in Verbindung trat, um ihm seine Verse zu diktieren. Der Besucher entschuldigt sich bei Pessoa, von seiner „Seele Besitz genommen“ und ihm „schlaflose Nächte“ bereitet zu haben, aber Pessoa beruhigt ihn und versichert ihm, entscheidend zu seinem Werk beigetragen zu haben, obwohl Caeiro ein „einfaches Leben“ auf dem Land lebte, während Pessoa in der Stadt seine „Version der europäischen Avantgardebewegungen“ schuf.24 Bei aufmerksamer Betrachtung fällt dem Zuschauer auf, dass Paul Savoie und Daniel Parent in dieser Szene die Rollen getauscht haben und Parent nun anstelle Savoies im Bett liegend den sterbenden Pessoa verkörpert, während Savoie am Fußende sitzend Alberto Caeiro darstellt. Parent trägt wieder ein weiße Maske, auf die das Videobild des Gesichts Savoies projiziert wird, während dieser mit seinem realen Gesicht dem Heteronym Caeiro eine Identität verleiht. Diese Verschiebung der Spielsituation ist in mehrerlei Hinsicht signifikant: Die Tatsache, dass jetzt die Pessoa-Figur die Maske trägt, auf die die Videobilder projiziert werden, stellt den Zustand des kranken Fernando Pessoa in unmittelbarer Erwartung des Todes durch die Starre und Verzerrtheit der Gesichtszüge besonders heraus. Aufgrund der Position des Körpers im Bett erscheint die Projektion auf der Maske leicht verschoben und zeigt dem Betrachter ein 24 Tabucchi (1998): 22f. 324

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verzerrtes und von Krankheit und Schmerz gezeichnetes Gesicht, mit dem der Sterbende diese Begegnungen zwischen Traum und Halluzination verfolgt. Im Gegenzug dazu erhält die Heteronymfigur Caeiros durch die Echtheit der Gesichtszüge Paul Savoies eine reale Präsenz, die keinen Zweifel ob der Existenz des nächtlichen Besuchers lässt und so den Hetronymen des Dichters und ihrer Virulenz für das Verständnis der Persönlichkeit Pessoas ihre volle Bedeutung beimisst. Die Lebendigkeit und Realität, mit der diese Figuren in Tabucchis Roman auftreten und die sie für Pessoas literarisches Schaffen hatten, wird durch ihre Anwesenheit als Körper auf Marleaus Bühne szenisch visuell erfahrbar. Der identitären Ambivalenz dieser Phantasmen wird dadurch Rechnung getragen, dass die Heteronyme mal mit Maskengesicht, also medial hybridisiert, mal in der Gestalt Paul Savoies auftreten, also körperlich real wirken, wobei dieses Wechselspiel der Charakteraufsplittung reziprok immer auch die Pessoa-Figur betrifft. Der nächste Besucher ist Ricardo Reis, der aus einem „imaginären Brasilien“ zurückkehrt, Pessoa gleich darauf aber gesteht, dass er, obwohl er als Monarchist ein Gegner der Republik gewesen sei, „in Wirklichkeit Portugal niemals verlassen“ und sich die ganze Zeit in einem kleinen Dorf versteckt gehalten habe. Dort habe er „pindarsche Oden und Gedichte im Stil Horaz’ geschrieben“ und seinen Lebensunterhalt als Dorfarzt verdient.25 Die Tatsache, dass es sich bei den Besuchern um fiktive Identitäten Pessoas handelt, manifestiert sich immer wieder in den Reaktionen des Sterbenden auf die Erklärungen und Geständnisse seiner Doppelgänger, und auch in der Begegnung mit Reis antwortet Pessoa, er habe immer gewusst, dass Reis Portugal nie verlassen habe: [...] ich bin froh, dass Sie mich in Ihr Geheimnis eingeweiht haben, aber glauben Sie mir, ich habe es immer gewusst. [...] ich habe immer gewusst, dass Sie hier ganz in der Nähe wohnen, und ein Freund, der etwas sehr Nettes über meine Gedichte geschrieben hat, hat es mir bestätigt.26

Formalästhetisch unterscheidet sich diese Sequenz von den beiden vorigen dadurch, dass Fernando Pessoa in dieser Szene wieder von Paul Savoie verkörpert wird und die Figur Ricardo Reis’ ein kleiner, rollender Roboter ist, dessen Gesicht aus einer weißen Maske besteht, auf die wieder das Videobild Savoies projiziert wird. Der Ambivalenz der realen Anwesenheit der Heteronyme Pessoas, die schon in dem Wechselspiel zwischen dem Darsteller Paul Savoie, der in der Inszenierung eigentlich eine Solorolle verkörpert, und seinem Helfer Daniel Parent, der der Figur 25 Ebd.: 29ff. 26 Ebd.: 33. 325

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Pessoas bzw. dessen Doubles seinen Körper, nicht aber sein Gesicht leiht, eine szenische Konkretisierung erfahren hat, wird hier durch die vollständige Entkörperung des Maskenträgers Rechnung getragen. So, wie die Besucher am Sterbebett des portugiesischen Dichters keine realen Menschen sind, sondern ihren Ursprung in der Phantasie des Schriftstellers haben und ihm wie Phantome im Geist erscheinen, so manifestiert sich die Körperlosigkeit dieser Erscheinungen in der Begegnung mit Ricardo Reis durch den amorphen Charakter der Robotermaschine. Es sind keine fleischlichen, leibhaftigen Körper mehr, durch die die Heteronymfiguren repräsentiert werden, sondern die Automatenfiguren fungieren als Substitution, als „stellvertretender Ersatz, als Scheinleib[er], als [...] Veräußerlichung[en] oder Verkörperung[en] eines ursprünglich Körperhaften“, die sich in der Erwartung des Todes von ihrem Ursprungskörper, nämlich dem Körper und Geist Fernando Pessoas zu dissoziieren scheinen.27 Hans Belting hat für bestimmte Repräsentationspraktiken aus dem dynastischen Totenkult des Mittelalters, wie etwa der Darstellung von Totenschädeln oder Leichenbildern, den Begriff der „AntiRepräsentation“ eingeführt. Solche „Gegenbilder“ intakter Körperbilder schränkten beispielsweise den Repräsentationsanspruch des klassischen Portraits durch den „Hinweis auf den körperlichen Tod“ des Repräsentierten ein und enthüllten „die Resistenz des Bildes gegen den Tod des Dargestellten als mediale Fiktion.“28 Die Automatenfiguren, aber auch schon die Platzhalterfunktion des Darstellers Daniel Parent können als solche Formen der Anti-Repräsentation gelesen werden. Eben weil der Referent dieser Phantasmen Fernando Pessoa bzw. ein Aspekt seiner multiplen (literarischen) Persönlichkeit ist, wird offensichtlich, warum diese Spektren zwar einerseits materiell erfahrbar auf der Bühne Marleaus erscheinen, ihre Körperlichkeit aber gleichzeitig durch ihre medialmaschinelle Ontologie negiert wird. Die komplexe Verwebung der Identität Pessoas mit seinen von ihm selbst geschaffenen Heteronymen offenbart sich besonders im Gespräch mit dem vierten Doppelgänger, Bernardo Soares, der wieder von Paul Savoie verkörpert wird, während Parent als Pessoa im Bett liegt, das Gesicht von der Maske verdeckt. Soares bringt dem Freund die Henkers27 Schulz, Martin (2002): „Körper sehen – Körper haben? Fragen der bildlichen Repräsentation.“ In: Belting, Hans/Kamper, Dietmar/Schulz, Martin (Hg.): Quels corps? Eine Frage der Repräsentation. München: Fink, 1-25, hier 15. 28 Belting, Hans: (2002): „Repräsentation und Antirepräsentation. Grab und Portrait in der frühen Neuzeit.“ In: Ders./Kamper, Dietmar/Schulz, Martin (Hg.): Quels corps? Eine Frage der Repräsentation. München: Fink, 2952, hier 31. 326

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mahlzeit, einen ‚caldo verde‘, ein aus Eingeweiden bestehendes portugiesisches Nationalgericht, das ihn an bessere Zeiten erinnern soll. In Pessoas Reaktion auf den Besucher werden die komplexen identitären Verschiebungen zwischen ihm selbst und seinen literarischen Alter Ego deutlich, die nicht nur die Figur Soares betreffen, sondern auch die anderen Identitäten seiner Persönlichkeit umfassen: Ich habe eine akute Leberzirrhose, sagte er, und vielleicht ist Kuttelfleck nicht gerade das, was ich essen sollte, aber aus Höflichkeit werde ich ein wenig kosten, ich erinnere mich noch daran, wie man ihn mir kalt servierte, aber wissen Sie, lieber Soares, in diesem Augenblick war ich nicht ich, Álvaro de Campos war an meiner Stelle.29

Gemeinsam evozieren Pessoa und Soares Erinnerungen an Cascais, wo Pessoa während eines Aufenthalts in der psychiatrischen Klinik António Mora, das fünfte Heteronym des Dichters, das auch der letzte Besucher sein wird, kennenlernte und wo auch Soares einige Wochen verbrachte und eine „ästhetische Erfahrung machte, die er in [s]einem Buch der Unruhe beschrieben hat.“30 Nun, sagte Pessoa, António Mora ist verrückt, zumindest offiziell ist er verrückt. Aber er ist ein Verrückter, der einen klaren Verstand hat [...]. Er [...] spricht sehr selten, aber mit mir hat er gesprochen.31

Nachdem Soares Pessoa von einem Freund grüßt, der ein großer Bewunderer des Dichters ist, verabschiedet dieser sein Heteronym mit dem Hinweis, nun noch jemanden empfangen zu müssen, den er in letzter Zeit etwas vernachlässigt habe. Der Vorhang schließt sich, die Projektion kündigt den letzten der drei Pessoa verbleibenden Tage an (30 novembre 1935) und der darunter erscheinende Satz moi aussi, j’ai oublié la mort verweist auf den immer näherrückenden Tod des Dichters. Das fünfte und letzte Heteronym Pessoas ist jener António Mora, der pantheistische Philosoph, den der Kranke schon im Gespräch mit Soares erwähnt hat. Seine Gestalt erscheint links hinter Pessoas Bett, der Körper ist von übermenschlich großer Statur, das Maskengesicht aber im Verhältnis zu den Proportionen des Körpers klein, was der Figur ein unmenschliches, fast groteskes Aussehen verleiht. Der letzte Besucher des Kranken gesteht diesem, sich erlaubt zu haben, in dessen Träume einzudringen, und prophezeit seinem Schöpfer entsprechend seines philoso29 Tabucchi (1998): 37. 30 Ebd.: 41. 31 Ebd.: 39f. 327

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phischen Denkens, dass er nach seinem Tod zurückkehren werde, „vielleicht als Blume in die Gärten Lissabons, die im April blüht, oder vielleicht als Regen, der auf die Seen und Lagunen Portugals fällt.“32 Pessoa erkundigt sich nach dem Fortschritt seines Buchs Die Rückkehr der Götter33 und Mora erklärt, dass der Text fast fertig sei, er aber nicht daran glaube, ihn publizieren zu können, weil „niemand es wage, die Bücher eines Wahnsinnigen zu veröffentlichen.“ Die Diagnose, die man ihm in Cascais gestellt hatte, laute „Paranoia mit häufig auftretender Psychoneurose“, aber sein Arzt glaube auch, dass Wahnsinn ein Zustand sei, „den die Menschen erfunden haben, um Leute abzusondern, die der Gesellschaft lästig fallen.“34 Mora vermutet, er falle der katholischen Kirche lästig, weil er die Rückkehr der Götter im Sinne eines antiken Weltverständnisses voraussage und klagt, nur Pessoa könne ihm helfen, seine Schriften zu veröffentlichen. Pessoa versichert ihm darauf, er habe alle seine Texte in einer Truhe aufbewahrt und prophezeit ihm, dass seine Rückkehr der Götter nicht verloren gehen und eines Tages von einem großen Kritiker, Coelho, wiederentdeckt werde.35 Pessoa verabschiedet sich schließlich von Mora mit den Worten, es sei Zeit, „von dieser Bühne der Bilder abzutreten, die wir als unser Leben bezeichnen“36, er legt seine Brille ab, während das hell leuchtende Videobild von der Maske der großen Figur an seinem Bett verschwindet und der Bühnenraum langsam dunkel wird. So, wie Pessoa mit diesen Sätzen sein Leben aushaucht, so verdunkelt sich das Gesicht seines Heteronyms, und mit dem sterbenden Geist des Dichters verschwindet auch sein Double im Nichts. Die Faszination dieser puristischen und fast statischen Inszenierung resultiert aus der Prägnanz der Sprache des Schauspielers Paul Savoie und der medial-technischen Hervorbringung der Doppelgänger Pessoas, die den Zustand des sterbenden Dichters zwischen Wachtraum und Delirium in ein gespenstisches Universum seines Unterbewusstseins übersetzen. Handlung vermittelt sich in diesem Theater einzig und allein über 32 Ebd.: 52. 33 Pessoa, Fernando (2006): Die Rückkehr der Götter. Erinnerungen an den Meister Caeiro. Fernando Pessoa. António Mora et. al. (Übersetzt, herausgegeben und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Steffen Dix). Zürich: Amman. 34 Tabucchi (1998): 52. 35 Hier spielt Tabucchi auf Jacinto do Prado Coelho, einen der wichtigsten posthumen Herausgeber der Schriften Fernando Pessoas an, der nach dessen Tod zahlreiche in einer Truhe aufgefundenen Textfragmente redigierte und edierte. Vgl. auch Coelho, Jacinto do Prado (1969): Diversidade e unidade em Fernando Pessoa. Lisboa: Ed. Verbo. 36 Tabucchi (1998): 57. 328

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den gesprochenen Text nach der Vorlage des Romans Antonio Tabucchis, der die identitären Facetten des Portugiesen ebenso wie bestimmte Details seiner Lebensgeschichte und seiner Überzeugungen enthüllt. Der schizophrene Charakter Pessoas findet seine Visualisierung im Spiel zwischen realen Körpern und medialen Installationen, zwischen den videographischen Masken-Bildern und dem realen Gesicht des Darstellers Paul Savoie. Weil das Erscheinen der Heteronyme für das Verständnis des Literaten Fernando Pessoas von entscheidender Bedeutung ist, treten diese Phantasmen als materiell erfahrbare Figuren auf die Bühne, da ihre Identitäten und ihre Charaktere aber einzig und allein der Phantasie des Dichters entstammen und tief mit seiner Person verwoben sind bzw. bestimmte Teilaspekte seiner Persönlichkeit darstellen, tragen alle Bühnenfiguren das gleiche Gesicht und werden zu schizophrenen Dopplungen seiner porösen und multiplen Identität. La multiplication des figures dans Les trois derniers jours de Fernando Pessoa disent la porosité identitaire du personnage de Pessoa en scène (et non en statue), qui va être absorbé par son propre imaginaire, passer ou trépasser de l’autre côté au moment où il porte, à son tour, un masque sur lequel est projeté son propre visage un peu deformé, ce qui lui confère une certaine étrangeté. Le personnage devient indissociable des projections de son esprit auxquelles il se confond.37

Die Pluralität der Figur, die in all ihren szenischen Erscheinungen ein und dieselbe ist, manifestiert sich neben den vielfachen Körperbildern auch in der Verwendung der Stimme. Es ist immer die gleiche Stimme Paul Savoies, mit der alle Figuren sprechen, mal live und unmittelbar, mal aufgenommen und medial via Lautsprecher hörbar, dabei leicht verfremdet, um der Entrücktheit der Phantome Rechnung zu tragen und ihre Konstruiertheit durch die mediale Vermittlung zu unterstreichen. Die Stimme Savoies ist dabei ruhig und klar, wenn er Pessoas Worte spricht, und etwas leiser und langsamer, aber nur graduell technisch verfremdet und mit Hall versehen, wenn die Heteronyme zu Wort kommen, deren Rede so aus einem fernen Jenseits zu erklingen scheint. Le metteur en scène saisit dans ce tour de force technique un peu de la dimension maniaque et folle de ce pur phénomène littéraire qu’était le Portugais Fernando Pessoa, à la fois quidam d’une ville […] et le génie d’une époque […], poète multiple et piéton pluriel, démiurge mortel qui mena mille vies […]. Ce Pessoa de Marleau est d’une beauté entière et sombre, […] il s’en dégage une

37 Lesage, Marie-Christine (2003): „Figures de l’intériorité.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 43-45, hier 43. 329

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torpeur sacrée, une distinction secrète qui en fait disparaître ou oublier l’appareil technique, à tel point que la plupart des spectateurs et critiques […] ne remarquent pas les „trucs“, ni jusqu’à quel point ce Marleau-là est plus „techno“ qu’un Robert Lepage.38

Tatsächlich ist die technische Illusion nahezu perfekt, denn je nach Blickwinkel des Zuschauers und Position der Darsteller auf der Bühne erscheinen auch die projizierten Maskenbilder real und nur auf den zweiten Blick und beim Auftritt der automatisierten Figuren wird klar, dass es sich um hybride Gestalten zwischen Mensch und Maschine handelt. Die Inszenierung oszilliert so beständig zwischen der Realität eines Krankenzimmers, in der tatsächlich eine Reihe von Besuchern von einem Sterbenden Abschied nimmt, und einer Traumwelt zwischen Sein und Schein, die jeglichen Lebens entbehrt und in der sich nunmehr die Phantome eines Menschen zwischen Leben und Tod ihr Stelldichein geben. In dieser Perspektive werden alle Figuren zu lebendigen Automaten, zu beweglichen und durch die Videobilder scheinbar von innen heraus leuchtenden Puppen, die in ihrer Erscheinung zwischen realer Präsenz und Abwesenheit hin- und herwechseln. Ce que révèlent certaines des plus récentes créations de Denis Marleau qui travaille à partir de l’installation et de la vidéo, dans la lenteur, la pénombre et parfois le silence, réside, me semble-t-il, autour de cette représentation du sujet comme le lieu d’une absence. Mais cette absence faite sujet […] est auréolé, paradoxalement, d’une forte présence scénique.39

Diese eigentümliche szenische Präsenz resultiert aus dem Spiel mit den Masken, die hier Figuren repräsentieren, die keine wirklichen Körper besitzen, sowie aus der statuenhaften körperlichen Erscheinung, die die Unwirklichkeit ihrer Existenz versinnbildlicht. Der Effekt von Präsenz, der von diesen hybriden Wesen ausgeht, ist in hohem Maße an die ästhetische Umsetzung der Thematik der Inszenierung gebunden. Die Figur des sterbenden Pessoa wird wie ein toter, schon einbalsamierter Körper ausgestellt und seine durch diese Unbeweglichkeit durchschimmernde Lebendigkeit wirkt wie ein irrender Geist, der durch das videographische Medium animiert wird. Lebendig ist in dieser Inszenierung lediglich die Phantasie des träumenden Pessoa, die sich dem Publikum über die Sprache vermittelt, während die körperliche Bedingung für diesen Geisteszustand des Portugiesen eben sein nahender Tod ist, der sich in den tech-

38 Lévesque (1997b): 58. 39 Lesage (2003): 43. 330

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nisch generierten (Körper-)Bildern visualisiert.40 Die Masken der Figuren werden so auch im übertragenen Sinn zu ihren Totenmasken, zu einer Oberfläche, die auf eine Abwesenheit von Tiefe und von Realität verweist, dem Körper seine Repräsentationsfunktion entzieht und gleichzeitig aber auch das zu Tage fördert, was nicht darstellbar ist, nämlich das tiefste Innere des Körpers, seine Seele. Der Wahrheitsgarant des Zeichens wird somit in Frage gestellt, denn die Maske ist mehr als nur Sinnbild des Todes der Figur Pessoas, sie verweist auf etwas hinter ihr Befindliches, auf etwas [...] anderes [...], als die bloße Vorderansicht erscheinen lässt und zu erkennen verspricht: ein submedialer Raum, eine verborgene, abwesende und geheime Struktur, etwas Unsichtbares und Unbewusstes, welches das Äußere immer schon gesteuert und uns in eine Scheinwelt der Repräsentation eingeschlossen hat.41

Durch die Medialität der Abbilder des Gesichts erhalten die Heteronyme eine Form von Präsenz, deren Zeichenhaftigkeit nicht hinter ihrem Referenten verschwindet, sondern ihre Abwesenheit herausstellt und ihnen dadurch eine besondere Aura verleiht. Martin Schulz verweist in diesem Kontext darauf, dass besonders das Phänomen des Todes „zu den anthropologischen Bezugspunkten des Bildermachens gehört“ und dass diese Bilder nicht bloß die Funktion einer „mimetische[n] und täuschende[n] Verdopplung des Lebens haben“, sondern wie etwa im Werk Tabucchis und in der Bühnenadaption Marleaus einen virtuellen Raum schaffen, der eine höchst subjektive Kommunikationsstruktur zwischen äußerer Darstellung und innerer Vorstellung des Betrachters eröffnet.42 Les masques vidéographiques utilisés dans Les derniers trois jours de Fernando Pessoa […] constituent des figures qui génèrent des fissures dans le conti-

40 Hans Belting stellt in diesem Zusammenhang die enge Verbindung zwischen dem Tod und den Impulsen des Bildermachens heraus: „ Das Bild findet seinen wahren Sinn darin, etwas abzubilden, was abwesend ist und also allein im Bild da sein kann. Es bringt zur Erscheinung, was nicht im Bild ist, sondern im Bild nur erscheinen kann. [...] Der Tote ist immer schon ein Abwesender, der Tod eine unerträgliche Anwesenheit, die man schnell mit einem Bild füllen wollte, um sie zu ertragen.“ Vgl. Belting, Hans (1996): „Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen.“ In: Barloewen, Constantin (Hg.): Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen. München: Diederichs, 93-136, hier 94 (Hervorhebungen im Original). 41 Schulz (2002): 4. 42 Ebd.: 17. 331

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nuum de la vie et de ses représentations. Fissures qui laissent pressentir l’innommable. Et qui rayonnent d’une présence que je ne peux que nommer mortuaire, donc essentielle et profond dans leurs effets de surface.43

So, wie der Roman Tabucchis eine Stunde der Phantome evoziert, in der sich Realität und Fiktion, Literatur und Metaliteratur auf einer intertextuellen Ebene begegnen, so nimmt die Inszenierung Marleaus diese Ambivalenz auf und transponiert sie auf ästhetischer Ebene in ein Spiel zwischen Präsenz und Abwesenheit, zwischen theatraler Darstellung und medialer Abbildung und Vervielfachung. Ohne dabei die Dimension des Texts und die vielfältigen intertextuellen Anspielungen Tabucchis zu marginalisieren, fügt Marleau dem literarischen Panoptikum der letzten drei Tage des Fernando Pessoa einen mentalen Bildraum hinzu, der auf die künstlerische und identitäre Hybridität des portugiesischen Dichters mit einer medialen Hybridität der Darstellung antwortet. Angesichts der Interaktion des Darstellers Paul Savoie mit seinen medial-apparativen Doubles, nämlich dem als Raumkörper fungierenden Schauspieler Daniel Parent bzw. den beiden Automatenfiguren, stellt sich in theatertheoretischer Perspektive auch die Frage nach der Medialität des Schauspielers bzw. seines Körpers. Im Hinblick auf die formalen Implikationen des Texts erscheint die ästhetische Umsetzung Marleaus evident: Weil die fünf in Tabucchis Roman auftretenden Heteronyme Fernando Pessoas nur identitäre Splitter seiner multiplen Persönlichkeit sind und dem Sterbenden als Schatten oder Geister seiner selbst erscheinen, ist es formal nur konsequent, die Besucher nicht durch fünf weitere Schauspieler verkörpern zu lassen, sondern die Leihkörper der Pseudonyme, sei es der reale Körper des zweiten Darstellers Daniel Parent oder die beiden Roboterfiguren, mit dem medial vervielfältigten Gesicht Paul Savoies auszustatten. Obgleich durch die Videoprojektion der Gesichtsbilder visuell leicht verfremdet und durch die technische Übertragung der Stimme verzerrt, tragen die Doppelgänger Pessoas alle identitären Attribute des Pessoadarstellers Paul Savoie und sind somit zweifelsfrei als dessen Vervielfachungen zu identifizieren. Dass die Heteronyme ihrem Erschaffer bzw. dessen theatraler Verkörperung nicht wie Klone gleichen, ist dabei aber nicht nur der individuellen körperlichen Statur des Darstellers Daniel Parent oder den technisch-materiellen Unzulänglichkeiten der Roboterfiguren geschuldet, sondern in der inhaltlichen Konzeption der Romanfigur Pessoas angelegt: Die Heteronyme des Dichters sind zwar Teile seines Selbst, gleichzeitig repräsentieren sie aber divergierende Aspekte seiner intellektuellen, literarischen und sozialen Persönlichkeit, was graduelle äußerliche Abweichungen unter den Doubles miteinschließen kann. Die 43 Lesage (2003): 43. 332

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Masken der fünf Heteronyme repräsentieren also nicht nur ihren alleinigen Referenten, nämlich die Pessoa-Figur, bzw. den diese verkörpernden Paul Savoie, sondern sie stellen auch die Konstruiertheit von sozialen Rollen und Identitäten sowie die Differenz zwischen der Idee einer einzigen, unhintergehbaren und festgeschriebenen Identität und der Möglichkeit der pluralen Verschiebung dieses Konzepts besonders heraus. Obgleich durch die Multiplikation der Pessoa-Gesichter die Möglichkeit der identitären Verschiebungen visualisiert wird, enthüllen diese nicht die Essenz der anderen Identitäten. Die Masken verweisen auf etwas, aber sie verbergen gleichzeitig auch das hinter ihnen Befindliche. Der multiple Charakter der Persönlichkeit Fernando Pessoas offenbart sich in Marleaus Bühnenversion nicht über die visuellen Zeichen des Theaters, sondern die Konkretisierung der Heteronyme ist allein der Sprache vorbehalten, deren Dimensionen sich in den Gesprächen des Dichters mit seinen Phantomen und seinen Erinnerungen eröffnen. Ähnlich wie die Theaterkonzeption Gilles Maheus als eine Interaktion der verschiedenen medialen Ebenen Bild, Körper und Sprache in dem über seine Grenzen hinausweisenden Rahmenmedium des Theaters zu sehen ist, muss auch die intermediale Strategie Denis Marleaus als ein Aufeinandertreffen zweier medialer Ebenen begriffen werden, die jeweils eine eigene Sprache sprechen und dennoch miteinander harmonieren. Es scheint, als misstraue der Québecer den Möglichkeiten bildlicher Repräsentation, die sich in seinem Umgang mit den Videobildern als mediale Fiktion entpuppen, und das nicht nur aufgrund der ontologischen Divergenz zwischen dem jeweiligen Bild und seinem medialen Abbild, sondern auch in Bezug auf ein grundsätzliches theaterästhetisches Problem, nämlich die Frage, was der Körper des Schauspieler verkörpert und ob er als ein Medium zu konzipieren sei. In Anbetracht der Tatsache, dass der Darsteller Paul Savoie als Fernando Pessoa mit verschiedenen medial-hybriden Doubles interagiert, stellt sich die Frage, ob auch der lebendige Schauspieler als ein Medium bezeichnet werden kann. Wie unterscheidet sich der Körper des Darstellers Paul Savoie von dem in seiner realen Identität verborgenen Daniel Parents bzw. von den ebenfalls seine Videomasken tragenden Roboterfiguren, die zweifelsohne als mediale Apparaturen bezeichnet werden können? Die hier aufgeworfenen Fragen verweisen auf ein grundlegendes theaterästhetisches Problem, das sich in schauspieltheoretischen Konzepten des 17. und 18. Jahrhunderts ebenso niederschlägt wie in den ästhetischen Programmen der Avantgarden wie Edward Gordon Craig oder dem Theater der Symbolisten und das sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert

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fortsetzt, wo es in den intermedialen Experimenten der Gegenwart eine erneute Aktualität erfährt.44 Kern der jeweils unterschiedlich akzentuierten Auseinandersetzung um den Status des Schauspielers ist die von Helmuth Plessner beschriebene Spannung zwischen dem phänomenalen Leib des Darstellers, also seinem „leiblichen In-der-Welt-Sein“, und seinem als Material der Darstellung genutzten Körper. Der Mensch hat einen Körper, den er wie andere Objekte manipulieren und instrumentalisieren kann. Zugleich aber ist er dieser Leib, ist Körper-Subjekt. Indem der Schauspieler aus sich heraustritt, um „im Material der eigenen Existenz“ eine Figur darzustellen, weist er nachdrücklich auf die Dopplung und die in ihr gegründete Abständigkeit hin.45

Die Entscheidung, die Pseudonyme Pessoas als in mehrerlei Hinsicht hybride Doppelgänger des Schauspielers Paul Savoie auf die Bühne zu bringen, erscheint in dieser Perspektive auch dem ästhetischen Phänomen der Leib-Körper-Dopplung Rechnung zu tragen. Während dieses Spannungsverhältnis aus Plessners Sicht dem Schauspieler als philosophische Reflexionsfigur eine tiefere anthropologische Bedeutung verleiht,46 sieht etwa Edward Gordon Craig in der nicht vollständigen Kontrollierbarkeit des Körpers im Sinne eines frei manipulierbaren Materials der Aufführung den wesentlichen Grund, warum der Schauspieler vom Theater verbannt und durch eine Übermarionette ersetzt werden sollte.47 Weil jede Darstellung einer Bühnenfigur untrennbar mit der phänomenalen Leiblichkeit des sie verkörpernden Schauspielers verbunden ist, jeder Darsteller seiner Figur also eine Spur seiner subjektiven und individuellen Existenz miteinverleibt, erscheint die medial-apparative Vervielfältigung des Darstellerkörpers Paul Savoies als ein Phänomen mit sowohl inhaltlicher wie ästhetischer Relevanz. Weil die Heteronyme Pessoas keine realen Körper haben, sondern nur Phantasmen des realen Pessoa sind, verweisen auch ihre Körper als visuelle Repräsentanten nur auf den Körper sei-

44 Vgl. Fischer-Lichte, Erika (2004): „Was verkörpert der Körper des Schauspielers?“ In: Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität. München: Fink, 141-162. 45 Ebd.: 141 (Hervorhebungen im Original); vgl. ausführlicher Plessner, Helmuth (1982): „Zur Anthropologie des Schauspielers.“ In: Ders: Gesammelte Schriften. (Hg. von G. Dux, O. Marquard, E. Ströker) Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 399-418. 46 Vgl. Stahlhut, Marco (2005): Schauspieler ihrer selbst. Das Performative bei Sartre und Plessner. Wien: Passagen Verlag. 47 Vgl. Craig (1969). 334

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nes Darstellers, nämlich auf den Paul Savoies. Garant für dieses Interdependenzverhältnis zwischen dem einen Körper und seinen multiplen Erscheinungen ist das videographisch vervielfältigte Gesicht Savoies, das alle Figuren tragen, sowie seine Stimme, mit der alle Heteronyme sprechen. Die Tatsache, dass die jeweils zweite Figur auf der Bühne mal im Körper Daniel Parents auftritt, mal durch die Automaten-Figuren repräsentiert wird, kann im Bezug auf die den phänomenalen Leib konstituierenden Attribute erhellend sein. Es sind nämlich das Gesicht und die Stimme Paul Savoies als Indikatoren von Identität, die für alle Figuren und in allen Szenen zum Einsatz kommen. Das hingegen, was der phänomenale Leib Daniel Parents den Heteronymfiguren an Individualität miteinverleiben könnte, und auch die Spur, die der medial-apparative Charakter des Roboterkörpers an den Pseudonymen Pessoas hinterlassen könnte, wird durch die mit Savoies Videoabbild versehene Maske verborgen. Auf einen weiteren Darsteller bzw. sein „phänomenales In-derWelt-Sein“ verweisen die Doubles des Portugiesen nicht. In ihrer Erörterung, ob der Schauspieler nun als ein Medium zu konzipieren sei, zieht Erika Fischer-Lichte diese unauflösbare Dopplung zwischen ‚Leib sein‘ und ‚Körper haben‘ als Grund heran, warum sie den Schauspieler nicht als Medium betrachtet: Denn wenn als Medium ein Objekt bzw. ein Material begriffen wird, durch das etwas anderes als es selbst in Erscheinung tritt, wird augenfällig, dass jede Reflexion auf die Schauspielkunst zugleich als eine Reflexion auf die Fähigkeit und die Eignung des menschlichen Körpers vollzogen wird, als ein Medium zu fungieren. Im Unterschied zu anderen Künsten nämlich lässt sich bei der Schauspielkunst der produzierende Künstler nicht von seinem Material ablösen. Er bringt sein „Werk“ – was immer das sein mag – an und mit einem höchst eigenartigen, ja eigenwilligen Material hervor: in und mit dem Material seines Körpers oder, wie Helmuth Plessner es ausgedrückt hat, „im Material seiner eigenen Existenz“.48

Während Fischer-Lichte hier mit Rückgriff auf ein Medienverständnis argumentiert, das das Medium und seine Botschaft als zwei voneinander unabhängige Entitäten begreift, wurde ein Medium im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung als eine Apparatur zur künstlichen Welterzeugung definiert, die an der transportierten Botschaft die Spur ihrer spezifischen Medialität hinterlässt und das, was sie vermittelt, gleichzeitig auch mit hervorbringt, wobei die Art der Vermittlung als ein performatives Geschehen der Verkörperung bzw. des Wahrnehmbarmachens im Sinne einer Transformation in eine andere Verkörperung zu verstehen ist. 48 Fischer-Lichte (2004): 141 (Hervorhebungen im Original). 335

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Überträgt man dieses Medienverständnis auf den konkreten Fall des Schauspielers, dann kann der Bühnendarsteller sehr wohl als ein Medium aufgefasst werden: Der Schauspieler verwendet seinen Körper als Material zur Darstellung einer Theaterfigur, er leiht ihr seinen Körper und bringt sie unter Verwendung seiner Schauspielkunst und im „Material der eigenen Existenz“ sowie seines leiblichen „In-der-Welt-Seins“ in einem performativen Akt auf der Bühne hervor. Sein Körper, dessen phänomenale Eigenheiten immer mit in Erscheinung treten, sind in der oben stehenden theoretischen Perspektive als jene von Krämer formulierte prädiskursive Spur des Mediums zu verstehen, die der individuellen Verkörperung der Theaterfigur durch einen bestimmten Schauspieler anhaftet. Während für Krämer das Moment der Verkörperung als Charakteristikum von Medialität entscheidend ist, sieht Fischer-Lichte in den theatralen Prozessen der Verkörperung, in denen der Schauspieler mit seinem Körper und in seinem Leib eine Figur zur Darstellung bringt, die Tatsache begründet, dass dieser nicht als Medium begriffen werden könne.49 Kern dieser unterschiedlichen Konzeptionen scheint dabei das Verhältnis der für die Darstellung manipulierbaren Körperlichkeit und der phänomenalen Leiblichkeit des Schauspielers zu sein. Nimmt der Zuschauer im Theater in erster Linie eine Rollenfigur wahr, für deren Existenz zwar der Körper eines Darstellers die Bedingung ist, der aber hinter die Figur zurücktreten kann, oder sieht er immer nur den Schauspieler und dessen leibliches „In-der-Welt-Sein“? Ist der Darstellerkörper auf der Bühne mehr ein Medium oder mehr ein phänomenaler Leib? Martina Leeker weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gerade das Theater aufgrund des konstitutiven Wechselverhältnisses zwischen Bühne und Zuschauerraum in der Lage ist, die oben diskutierte Spannung aufzuheben: Damit der Körper zum Medium wird, muss der Mensch als körperliche Einheit Wege finden, sich zu veräußern, sich sozusagen am eigenen und bei lebendigem Leib zu erweitern. Das heißt, was – nach McLuhan – bei jeder Produktion von Werkzeugen und Medien geschieht, nämlich einen Teil seines Organismus in ein Äußeres zu verlagern, muss, soll der Körper selbst zum Medium werden, in einer Art paradoxem Gewaltakt vollzogen werden. [...] Das Medium, in dem diese Praxis veräußert ist und auf institutionalisierter Ebene durchgeführt wird, ist das Theater. [...] Das Theater konstituiert sich erstens aus einer Spaltung des Schauspielers/Performers in ein Subjekt und ein Objekt der Darstellung, in ein Ich und ein Nicht-Ich. Durch diese Spaltung wird es zweitens überhaupt erst möglich, zwischen einem Körper als Materialität und einem Körper als Zeichen, zwischen dem Leib und dem mit den Mitteln des Theaters hergestellten

49 Ebd.: 160f. 336

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technologischen Körper zu unterscheiden. Dritte Bedingung für die Herstellung des Körpers als Medium ist der Zuschauer. Er ist der personifizierte Andere meiner selbst, der die Spaltung von Subjekt und Objekt der Darstellung durch das Schauen noch einmal verdoppelt und aus der Position des Beobachters heraus zum Garanten der Kontrolle über die Darstellung wird. Der Zuschauer unterstützt den Performer dabei, über seine Person hinauszugehen und den Körper bewusst zu gestalten und einzusetzen. Nur wenn diese drei Bedingungen gegeben sind, kann der Körper selbst zum Medium werden.50

Leeker beschreibt hier für die Wahrnehmung einer Theaterfigur und für das Verständnis des Darstellers als Medium ein Phänomen, das auf jenem dualen Wechselspiel zwischen einem Ereignis und seiner Wahrnehmung beruht, das Sybille Krämer als konstitutiv für das Verhältnis von Medialität und Performativität beschrieben hat.51 Während der Schauspieler einen Verkörperungsprozess vollzieht und eine Rollenfigur zur Wahrnehmung bringt, wird diese im Akt der Rezeption durch das Publikum mit hervorgebracht. Wenn dieses Moment der Aisthetisierung als konstitutiv für ein Medienverständnis von Theater definiert wurde, dann ist es ebenso Bedingung für die Konzeption eines der Teilzeichen dieses besonderen Mediums Theater: Als am Prozess der theatralen Performanz maßgeblich Beteiligter bringt der Zuschauer durch den Akt seiner Wahrnehmung den Körper des Darstellers als Medium mit hervor.

Les Aveugles – une fantasmagorie technologique [M]a pratique théâtrale [...] oscille entre le besoin d’éprouver toute dramaturgie comme machine à rendre compte du réel et un désir de me confronter à d’autres modes d’expression artistique. Car les rêves du théâtre se trouvent souvent audehors du théâtre lui-même, et il m’apparaît que la littérature en constitue un des plus riches réservoirs.52

Diese Äußerung Denis Marleaus anlässlich seiner Inszenierung von Les Aveugles von Maurice Maeterlinck fasst sein ästhetisches Credo zusammen, das schon in der Bühnenadaption des Tabucchi-Romans Les trois derniers jours de Fernando Pessoa offensichtlich wurde: Kern der Thea50 Leeker, Martina (1998): „Der Körper des Schauspielers/Performers als ein Medium. Oder: Von der Ambivalenz des Theatralen.“ In: , 20-31, hier 21f (2007-02-07). 51 Vgl. Krämer (2004) sowie das Kapitel ‚Medien, Medialität, Intermedialität – Zum Medienbegriff des Theaters‘. 52 Ismert (2003): 104. 337

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terarbeit des québecer Regisseurs ist das Spannungsverhältnis zwischen den Möglichkeiten theatraler Darstellung durch visuelle Mittel, zwischen dem Spiel mit der Bühne als Bildraum und der sprachlichen Dimension des Theaters, der Bedeutung von literarischen Texten, die sich einer bildlichen Umsetzung widersetzen, weil ihre Bildräume mehr evozieren, als die Bühne szenisch zu visualisieren vermag. Die Entscheidung, Maurice Maeterlincks Jugendstück Les Aveugles (1891) zu inszenieren, steht genau in dieser Linie seiner theatralen Interessen und stellt in ästhetischer Hinsicht die Fortsetzung der in Les trois derniers jours de Fernando Pessoa begonnenen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung des Schauspielerkörpers und den Möglichkeiten seiner technisch-medialen Verfremdung bis hin zu seiner Eliminierung von der Bühne dar. Während die Ersetzung des Schauspielerkörpers durch medial-technische Roboterapparaturen in der PessoaInszenierung aber noch eine rein inszenierungsästhetische war, die in engem Zusammenhang mit den diegetischen Erfordernissen der Romanvorlage stand, liegt den Dramen Maurice Maeterlincks ein Theatermodell zugrunde, das die klassischen Aufführungsbedingungen von Theater, also die Vermittlung von Text und die Verkörperung von Rollen durch Schauspieler, generell in Frage stellt. In seiner theoretischen Schrift Un Théâtre d’Androïdes entwirft er ein Theater ohne Schauspieler, weil nur durch dessen Abwesenheit die „mystische Dichte des Kunstwerks“ erhalten bliebe, denn „jedes Meisterwerk ist ein Symbol, und Symbole ertragen keine aktive menschliche Gegenwart. [...] in dem Maße, in dem der Mensch vortritt, zieht sich die Dichtung zurück. [...] Vielleicht wäre es notwendig, alles Lebendige ganz von der Bühne fernzuhalten.“53 Dabei ist diese Vision eines Darstellers ohne menschliche Züge, die Maeterlinck mit Avantgarde-Künstlern wie Edward Gordon Craig oder den Futuristen teilt, auch in seiner Dramatik begründet. Seine Werke bilden einen der Hauptpfeiler des um 1890 einsetzenden Theatersymbolismus und lassen sich als der Versuch der Darstellung des Menschen in seiner existenziellen Ohnmacht und in seinem Ausgeliefertsein an ein undurchdringbares Schicksal beschreiben: Das Schicksal des Menschen stellt für ihn [Maeterlinck (J.P.)] der Tod als solcher dar, er beherrscht in diesen Werken die Bühne allein. Und zwar in keiner besonderen Gestalt, in keiner tragischen Verknüpfung mit dem Leben. Keine Tat führt ihn herbei, niemand hat ihn zu verantworten. Dramaturgisch gesehen bedeutet das die Ersetzung der Kategorie der Handlung durch die der Situation. Und nach ihr müsste die Gattung, die Maeterlinck schuf, benannt werden, denn diese Werke haben ihr Wesentliches nicht in der Handlung, sind also keine 53 Maeterlinck (1890b): 365; 370f. 338

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‚Dramen‘ mehr, wenn anders das griechische Wort dieses bedeuten soll. Dahin zielt auch die paradoxe Bezeichnung ‚drame statique‘, die der Dichter ihnen gab.54

Das Stück Les Aveugles konkretisiert diese tiefe Angst des Menschen angesichts des Todes, der Leere seines Daseins und seines ihm unbegreiflichen Schicksals. Zwölf blinde Männer und Frauen sind von einem Priester aus ihrem Hospital, das sich auf einer Insel befindet, in den angrenzenden Wald geführt worden. Dort hat sich ihr Begleiter für kurze Zeit von ihnen getrennt und sie warten auf einer Lichtung auf seine Rückkehr. Der Priester aber ist vor Erschöpfung gestorben und sein Leichnam lehnt nicht weit von den Blinden entfernt an einem Baum.55 Auf diese Weise sich selbst überlassen sind die Blinden völlig hilflos: Sie wissen nicht, woher sie gekommen sind, nicht, wohin der Priester gegangen ist und ob er wiederkommen wird. Sich gegenseitig fragend und vorsichtig ihre Umgebung ertastend versuchen sie, sich über ihre Lage klar zu werden. Aber sie haben jegliches Zeit- und Raumgefühl verloren und ihre Fragen führen zu keinerlei Antworten. Ihre einzige verbleibende Hoffnung ist, im Hospital vermisst und so vielleicht gerettet zu werden. Als schließlich der Hund der Anstalt auftaucht, führt er den Ältesten der Blinden zur Leiche des Priesters. Aber auch die letzte Chance, von dem Tier in ihr Heim zurückgeleitet zu werden, erweist sich als hoffnungslos, denn der Hund weicht nicht vom Leichnam seines Herrn. Voller Entsetzen werden sie sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst. Es wird Nacht und immer kälter, ein Schneesturm zieht auf und die Blinden rücken näher zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen und wach zu halten. Ein junges Mädchen glaubt plötzlich Schritte zu hören und schürt ein letztes Mal die Hoffnung auf Errettung. Doch nur ihr sehendes Kind erkennt in dem Herannahenden den Tod. 54 Szondi, Peter (1965): Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 57. 55 Diese Information findet sich in Maeterlincks Text schon in einer ausführlichen Bühnenanweisung, die den Repliken der Blinden vorangestellt ist: „Une très ancienne forêt septentrionale, d’aspect éternel sous un ciel profondément étoilé. – Au milieu, et vers le fond de la nuit, est assis un très vieux prêtre enveloppé d’un large manteau noir. Le buste et la tête, légèrement renversés et mortellement immobiles s’appuyent contre le tronc d’un chêne énorme et caverneux. La face est affreusement pâle et d’une immuable lividité de cire où s’entr’ouvrent les lèvres violettes. Les yeux muets et fixes ne regardent plus du côté visible de l’éternité, et semblent ensanglantés sous un grand nombre de douleurs immémoriales et de larmes.“ Vgl. Maeterlinck, Maurice (1890a): Les Aveugles. Bruxelles: Paul Lacomblez, 77. 339

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Die mystische Dimension des Kunstwerks, von der Maeterlinck in seinen theoretischen Schriften spricht, und die für ihn durch die körperliche Präsenz eines Darstellers auf der Bühne zerstört wird, konkretisiert sich in der dramaturgischen Konzeption von Les Aveugles dadurch, dass Maeterlinck hier keine individuellen Charaktere schafft, sondern dass die zwölf Figuren als Metaphern einer verlorenen, um ihre Hoffnung gebrachten Menschheit fungieren. Es geht nicht um das Schicksal der zwölf von ihrem Führer verlassenen Blinden, sondern um den Grundgedanken einer tiefen Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit des Menschen in einer ihn bedrohenden Umwelt. Die verborgenen Kräfte und die nicht definierbare Schicksalhaftigkeit des menschlichen Seins sieht Maeterlinck als nicht durch den Schauspieler repräsentierbar: Ein gewisses Unbehagen überkommt uns vor jeder Theateraufführung, zu der wir uns begeben. In dieser vorweggenommenen Enttäuschung scheint eine jener Botschaften zu liegen, die wir zuweilen aus größter Entfernung erhalten. [...] Vielleicht liegt jenem Unbehagen ein sehr altes Mißverständnis zugrunde, in dessen Folge das Theater niemals genau das war, was es im Instinkt der Menge ist: der Tempel des Traums. Sicher ist das Theater zumindest seiner Tendenz nach eine Kunst, doch fehlt ihm das Hauptzeichen der anderen Künste, oder vielmehr: es hat deren zwei, die sich gegenseitig aufzuheben scheinen. Denn die Kunst geht nie den direkten Weg, nie spricht sie von Angesicht zu Angesicht. [...] [D]ie Kunst ist die provisorische Maske, mit der das Unbekannte ohne Gesicht uns besucht. [...] Die aber macht die Aufführung zunichte. [...] Die Bühne ist der Ort, an dem die Meisterwerke sterben, denn die Aufführung eines großen Werkes wird durch die Vermittlung über nebensächliche, zufällige Subjektivität in sich widersprüchlich. Jedes Meisterwerk ist ein Symbol, und Symbole ertragen keine aktive menschliche Gegenwart. [...] Und da ist es der Schauspieler, der sich in die Mitte des Symbols vordrängt. [...] Zufällig zerstört er das Symbol, und in seiner Wesenheit ist das Werk für die Dauer dieser Besetzung und ihre Nachwirkungen gestorben. [...] Die Griechen wußten über diese Antinomie, und ihre Masken, die wir nicht mehr verstehen, dienten dazu, die Gegenwart des Menschen abzuschwächen [...]. Vielleicht wäre es notwendig, alles Lebendige von der Bühne fernzuhalten. Möglicherweise käme man auf diese Art und Weise zu einer Kunst vergangener Jahrhunderte, deren letzte Spuren vielleicht in den Masken der griechischen Tragödie liegen, zurück. Wird es eines Tages der Gebrauch der Skulptur sein [...]? Wird das menschliche Wesen durch einen Schatten ersetzt, einen Reflex, eine Projektion symbolischer Formen oder durch ein Wesen, das sich wie ein lebendiges verhält, ohne doch zu leben? Ich weiß es nicht; die Abwesenheit des Menschen scheint mir allerdings unerläßlich. Es ist schwierig vorauszusehen, mit welcher Zusammenstellung von Wesen ohne Leben der Mensch auf der Bühne ersetzt werden müsste, doch hätten uns beispielsweise die seltsamen Empfindungen, die der Besuch eines Wachsfigurenkabinetts vermittelt, seit langem schon auf die Spu-

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ren einer vergangenen oder neuen Kunst bringen können. Wir hätten dann Wesen ohne Schicksal auf der Bühne, Wesen, deren Identität die des Helden nicht mehr verdrängt. Auch kann man vermuten, daß jedes Wesen, das lebendig scheint, ohne zu leben, an außerordentliche Mächte gemahnt; und vielleicht sind diese Mächte sogar von derselben Art wie jene, an die die Dichtung gemahnt. [...] Ich weiß es nicht, aber die Atmosphäre des Entsetzens, in der sie sich bewegen, ist die Atmosphäre der Dichtung selbst; es sind Tote, die zu uns zu sprechen scheinen, erhabene Stimmen folglich.56

Maeterlinck thematisiert hier jenes theaterästhetische Phänomen, das bereits im voranstehenden Kapitel im Hinblick auf die Darstellung der Heteronyme Fernando Pessoas sowie im Kontext der Frage nach der Medialität des Schauspielerkörpers diskutiert wurde. Das Problem der Dopplung des Körpers als Material der Aufführung und als phänomenaler Leib des Darstellers stellt für Maeterlinck einen Konflikt dar, den er nur in der vollständigen Eliminierung des Schauspielers von der Theaterbühne lösbar sieht. Dabei zielt er in seiner Argumentation nicht nur auf eine vom Material der leiblichen Existenz und der „nebensächlichen, zufälligen Subjektivität“ des Schauspielers losgelöste Darstellung von Theaterfiguren, sondern prognostiziert durch die Ersetzung des Darstellers durch „Wesen ohne Leben“ das Erscheinen „außerordentlicher Mächte“ auf der Bühne, die dem Kunstwerk seine „mystische Dichte“ zurückgäben, die die „Toten sprechen“ ließen und in denen sich „das Unbekannte ohne Gesicht“ in Form „erhabener Stimmen“ an den Menschen wende. Die Forderung nach einer „Abwesenheit des Menschen“ im Sinne eines handelnden Individuums und damit auch die Unmöglichkeit seiner theatralen Repräsentation ist in Les Aveugles schon in der dramaturgischen Anlage des Stücks verankert. Angesichts der Repliken der zwölf Figuren dieses ‚drame statique‘, die, als seien sie in keiner Weise aufeinander bezogen, nebeneinander stehen und deren Inhalt aus der nicht enden wollenden, variierten Wiederholung ihrer Orientierungslosigkeit und Verlassenheit besteht, kann nicht mehr von einem innerdramatischen Dialog als Form zwischenmenschlicher Kommunikation gesprochen werden. Ihre Rede ist nicht durch einen klassischen Rede-AntwortRhythmus strukturiert, sondern erscheint wie eine chorische Klage. Keine der Figuren spricht für sich selbst, sondern ihre „Sprache verselbstständigt sich, ihre wesentlich dramatische Standortgebundenheit schwindet“ und „gibt die Stimmung wieder, die in den Seelen aller herrscht.“57 „Du coup la parole elle-même résonne comme une forme vide, entièrement négative, qui fait de ce chœur des aveugles une masse indistincte, 56 Maeterlinck (1890b): 365; 370ff. (Hervorhebungen im Original). 57 Szondi (1965): 60. 341

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privée d’attributs, réduite à sa plus simple expression.“58 Die Individualität der zwölf Figuren, die sich nur anhand des Grads ihrer Behinderung – blindgeboren, blind und stumm, blind und verrückt – unterscheiden lassen,59 schwindet zugunsten der kollektiven Bedingtheit des Blindseins, dessen symbolischer Gehalt weit über das Unvermögen zu sehen hinausreicht; „dass der Mensch seinem Schicksal rettungslos ausgeliefert ist, fordert seinen Ausdruck im Formalen.“60 Es scheint aber nicht nur, als seien diese Blinden jeglicher Individualität ihrer Person beraubt, sondern ihre Rede vermittelt jenseits des Kollektivcharakters auch etwas Übermenschliches, eine Art mystische Dimension von Ferne und Entrücktheit, die die Bedeutung ihrer Worte von ihrem konkreten Schicksal ablöst. Die physische Behinderung ihrer Blindheit übersetzt sich in ihr Unvermögen, gegen ihr Schicksal aufzubegehren und nach dem Sinn ihrer Existenz oder der Bedeutung ihrer Situation zu fragen, während ihre Worte gleichzeitig eine versteckte Wahrheit ob des Schicksals des Menschen an sich zu enthalten scheinen. Die Figuren Maeterlincks treten buchstäblich als Masken ihrer selbst auf die Bühne; Masken, hinter denen alles Menschliche verborgen bleibt und die ihnen die in ihrer mystischen Sprache enthaltenenWahrheit vorenthalten. Ainsi Maeterlinck se trouve-t-il finalement dans la nécessité de nier le fondement même de la forme qu’il prétend utiliser: dans un cadre de langage il présente des personnages dépossédés d’une parole active, devenant forcément, comme il le dit lui-même dans la préface de son théâtre, „des somnambules un peu sourds constamment arrachés à un songe pénible“. […] La résolution de cette contradiction, Maeterlinck l’a cherchée dans une refonte totale de la représentation traditionnelle, et en particulier dans une réflexion nouvelle sur l’usage théâtral de la parole, qui anticipe […] les écrits […] d’E. G. Craig.61

Wenn Maeterlincks Modell eines Androidentheaters die Ersetzung des Schauspielers durch eine Wachsfigur oder eine Marionette vorsieht, dann 58 Rykner, Arnaud (1996): L’envers du théâtre. Dramaturgie du silence de l’âge classique à Maeterlinck. Paris: José Corti, bes. 283-329, hier 296. 59 Diese Angaben finden sich sowohl im Nebentext in den Markierungen des Sprechers einer jeden Replik (premier Aveugle-né; la plus vieille Aveugle; la jeune Aveugle) als auch im Dramentext selbst („celui qui n’entend pas est à côté de nous; où est la folle et son enfant?“). Einen ersten Hinweis auf die Uniformität seiner Figuren und ihre Konzeption als entindividualisierte Menge gibt Maeterlinck auch in der ersten Bühnenanweisung: „Elles ont, ainsi que les vieillards, d’amples vêtements, sombres et uniformes.“ Vgl. Maeterlinck (1890a): 78; 82f. 60 Szondi (1965): 60. 61 Rykner (1996): 291. 342

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zielt dieses entkörperte Substitut des Darstellers auf die Trennung des Orts der Rede von ihrem Ursprung, durch die die Sprache des Kunstwerks losgelöst von der „zufälligen Subjektivität“ eines Menschen ihre vollständige „mystische Dichte“ entfalten könnte. In der Verneinung der kommunikativen, dialogischen Redeform in seinem Stück Les Aveugles ist diese depersonalisierte Rede schon enthalten. Die Isolation des Einzelnen manifestiert sich durch das Aneinandervorbeireden der Blinden und macht die Kluft der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen den Sprechern geradezu hörbar, die, wie Arnaud Rykner herausstellt, ein neuartiges Verhältnis zwischen den Figuren etabliert: Das binäre Verhältnis von Figur zu Figur, sowie das zwischen Replik und Replik, das durch die Unmöglichkeit von Kommunikation und zwischenmenschlicher Interaktion gekennzeichnet ist, wird um eine dritte Dimension erweitert, die die der Stille und der Leere ist und die Maeterlinck auch als eine „personnage sublime“ bezeichnet.62 Die Erhabenheit dieser imaginativen Figur kann die von Maeterlinck präferierte gänzliche Abwesenheit alles Menschlichen von der Bühne ersetzen, indem die an den lebenden Schauspieler gebundene Rede von ihrer Vordergründigkeit der Darstellung distanziert wird: L’importance d’un tel „personnage“ [...] est qu’il libère le drame de l’automatisme du „je te parle/tu me réponds“ […]. Ici, non seulement ce qui parle reste incertain [...] mais en outre ce à quoi l’on parle n’est plus déterminé. La parole traverse ainsi la scène, venue d’ailleurs, rayonnant alentour, trouvant dans le silence qui isole les personnages l’écho qui la fait vivre.63

Wenn die sprechende Figur sich nicht mehr an eine neben ihr existierende zweite Figur wendet, sondern ihre Rede an einen symbolträchtigen Raum der Stille adressiert, in dem diese erhabene dritte Figur existiert, dann erfährt sowohl die antidialogische Situation ihres Sprechens als auch die inhaltliche Dimension ihrer Aussage eine tiefere, mystische und symbolträchtige Bedeutung. Nicht nur die Verlorenheit menschlicher Existenz und die Leere des Daseins werden durch die NichtKommunikation herausgestellt, auch durch die bewusste Adressierung an eine höhere Instanz, die dieser Hilflosigkeit des Menschen einen Hoffnungsschimmer entgegensetzen könnte und an die sich der älteste Blinde in der letzten Replik des Stücks mit einem „Ayez pitié de nous!“ 64 wendet, erhält diese Zwischeninstanz der Rede eine tiefere Bedeutung.

62 Ebd.: 298. 63 Ebd.: 299 (Hervorhebung im Original). 64 Maeterlinck (1890a): 144. 343

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Wie kann eine Inszenierung dieses Texts aussehen, die den Herausforderungen der Ästhetik Maeterlincks sowie seinen formalen Vorstellungen hinsichtlich der Eliminierung des Schauspielers von der Bühne entspricht, wo doch das Theater als eine Kunst des hic et nunc so sehr an die leibliche Präsenz eines Darstellers gebunden zu sein scheint?65 Genau jenes Spannungsverhältnis zwischen dem literarischen Text und Maeterlincks Vision eines Theaters ohne lebendige Darsteller hat Denis Marleau am Werk des belgischen Symbolisten interessiert. Arnaud Rykner weist in diesem Zusammenhang auf die Herausforderungen hin, die das Theater Maeterlincks an seine Inszenierung stellt, nämlich die Konfrontation mit einer unverständlichen Realität, „que nous ne savons plus voir à force de trop d’images toutes faites.“66 Die szenische Umsetzung dieses Theaters dürfe sich nicht als eine rein inhaltliche Sinnsuche auf der Ebene des Texts gestalten, dürfe diesen nicht einer ihn untergrabenden Bilderflut unterordnen wollen, sondern müsse versuchen, auch über die akustische Dimension der Sprache einen mentalen Raum entstehen zu lassen, in dem das „Unbekannte ohne Gesicht“ und die „mystische Dichte“ des Kunstwerks ebenso Gestalt annehmen könne, wie die formale Realität dieses „Tempels des Traums.“ Car la question du sens est la seconde que nous posent les oeuvres de Maeterlinck, et qui, paradoxalement, éloigne radicalement ce dernier du théâtre de Beckett, dont on a pu penser – non sans raisons cependant – qu’il était le grand précurseur. Alors que chez Beckett, ce qui est le plus souvent en jeu c’est la perte des significations, Maeterlinck nous oblige à penser le théâtre, et à travers le théâtre le Réel, en dehors de tout souci de signifier. Autrement dit, le sens n’est pas, chez lui, supposé perdu ou mort; il n’est pas derrière nous, mais plutôt devant nous, toujours différé, en attente mais aussi comme repoussé hors des limbes où nous nous situons.67

„Dès mes premières lectures se sont imposés le masque et la vidéo“68, erzählt Denis Marleau in Bezug auf seine Auseinandersetzung mit dem Text Maeterlincks, und tatsächlich realisiert seine Bühnenversion mit mehr als einem Jahrhundert Verspätung dessen Vision eines Theaters, in dem der menschliche Darsteller von der Bühne verschwunden ist. Er ist 65 Vgl. Weber, Samuel (1998): „Vor Ort: Theater im Zeitalter der Medien.“ In: Brandstetter, Gabriele/Finter, Helga/Weßendorf, Markus (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste. Tübingen: Gunter Narr, 3151, hier 31. 66 Rykner, Arnaud (2003): „Maeterlinck à la scène: le jeu, le sens et la vision.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 63-65, hier 65. 67 Ebd.: 64. 68 Ismert (2003): 104. 344

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ersetzt durch sprechende Masken, die als leblose Hüllen des Menschen im dunklen Raum zu schweben scheinen und dabei gespenstisch und geisterhaft lebendig wirken, ohne es wirklich zu sein. Zwölf Gesichter, sechs weibliche und sechs männliche Köpfe, leuchten aus einer ansonsten vollständig schwarzen Bühne, deren Tiefe undurchdringbar und unbestimmbar ist. Unregelmäßig angeordnet blicken sie mal frontal, mal im Profil in den Zuschauerraum, und während sie sprechen, bewegen sich sowohl ihre Lippen als auch die Augen.

Les Aveugles (Abb. 19) Realisiert ist diese technologische Phantasmagorie, wie Marleau sein Stück auch betitelt, mittels einer Videotechnik, die er den Arbeiten des amerikanischen Videokünstlers Tony Oursler entlehnt.69 Diese videographischen Gesichter sind entstanden aus den Gipsmasken der Schauspieler Céline Bonnier und Paul Savoie, die, leicht vergrößert, je sechs mal vervielfältigt und durch graduelle Veränderungen wie die Modellierung der Mundpartie oder das Glätten von Lachfältchen neu zusammengesetzt wurden. Die Korrektur der Gesichter geschieht dabei nicht aufgrund ästhetischer Notwendigkeiten, sondern um ein jeweils leicht differenziertes Abbild und nicht das vervielfachte Double zweier Gesichter zu erhalten. Jede der Repliken der beiden Darsteller, die den gesamten Text aller weiblichen bzw. männlichen Figuren sprechen, wurde Sequenz für Sequenz per Video gefilmt und anschließend auf die verschiedenen Masken projiziert. So kehrt diese Technik das antike Procedere der Herstellung 69 Vgl. L’Hérault, Pierre (2003): „Mise en scène de l’absence.“ In: Spirale 188, 20-21. 345

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von Totenmasken um und erschafft durch die Videoprojektion ein Ersatzleben auf der Hülle der toten Gesichter, die so im wörtlichen Sinne zu abwesenden Blinden werden.70 Die eigentümliche Materialität dieser Köpfe und ihre Anordnung im Raum aber verleihen ihnen eine seltsame, fast unheimliche Präsenz. Les […] visages identiques […] nés de cette opération se retrouvent plus tard regroupés et perchés dans l’espace scénique, tels des masques mortuaires romains pour lesquels la tête pouvait représenter tout l’être. […] Du vrai visage de[s acteurs (J.P.)], la sculpteure a pris la forme, une empreinte opaque, silencieuse et figée, tandis que le technicien, sur cette empreinte replace le contenu, l’image du visage coloré, sonore et mouvant.71

Durch die Videomasken realisiert Marleau genau jene Entkörperung der Bühne, von der Maeterlinck in seinem Théâtre d’Androïdes spricht. Die Arbeit mit dem von den Darstellern gesprochenen Text, der über Lautsprecher eingespielt wird, gestaltet er dabei als einen polyphonen, abstrakten und fast monotonen Dekor, der die chorische Indifferenz der Figuren als Repräsentanten einer verzweifelten und verlorenen Menschheit besonders herausstellt. Es gelingt ihm so, den Text in seiner Dichte und Mystik wirklich hörbar zu machen, losgelöst von Körpern und dem szenischen Raum entrückt, ihn erklingen zu lassen als gespenstische Partitur der Verlorenheit dieser zwölf verlassenen und hilflosen Blinden. Avec ces douze aveugles pétrifiés dans les ténèbres, qui écoutent autant qu’ils ne parlent, le texte instaure un espace mental donnant l’impression d’une quête désespérée de sens, comme si les personnages étaient à la recherche d’une polyphonie ou d’une unité perdue. Quant au texte, je ne pense pas le travailler, je l’éprouve plutôt, mon premier souci étant de l’entendre et de trouver de bonnes stratégies pendant les répétions pour le faire entendre.72

In diesem Kontext ist auch die Wahl Marleaus zu verstehen, für die zwölf blinden Männer und Frauen nur jeweils einen männlichen und ei70 Martin Schulz beschreibt die Herstellung von Totenmasken als einen „symbolischen Tausch von Körper und Bild.“ Die Funktion der Maske ist es, die Lücke zu füllen, die die Toten in ihrem sozialen Umfeld hinterlassen und den „Anschein von Leben“ wiederzugeben, den der Körper, den sie repräsentiert, verloren hat. „Dabei kommt es nicht allein auf eine, wie immer auch sich zeigende, mimetische Referenz an, sondern ebenso auf die Spur der ehemals physischen Präsenz, die repräsentiert wird.“ Vgl. Schulz (2002): 16ff. (Hervorhebungen im Original). 71 Jasmin (2003): 40. 72 Ismert (2003): 104. 346

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nen weiblichen Darsteller zu besetzen und deren Stimmen und Gesichter zu vervielfältigen. Es ist der Ausdruck einer auf ihre ursprüngliche Form reduzierten menschlichen Essenz, verkörpert durch je einen Mann und eine Frau, die mit dem Leben, seinem Mysterium und seinen Bedrohungen konfrontiert sind. Durch die Vervielfachung der Figuren und die Fragmentierung und Wiederholung ihrer Repliken entsteht ein auditiver Perzeptionsraum, der die zerschmetterte physische Einheit des Darstellers auf akustischer Ebene wieder aufnimmt. So, wie der Mensch nur über das auf ihn verweisende Videoabbild seines Gesichts repräsentiert wird, so manifestiert sich die Identitätslosigkeit der Blinden durch ihre in ein Nichts adressierte Rede: Die Frage, wer spricht, kreuzt sich beständig mit der nach dem Ort und der Provenienz des Texts. L’enjeu [de ce (J.P.)] théâtre consiste à montrer ce qui est indicible et à dire ce qui est invisible. Sur ces deux négations, impliquant chacune l’impossibilité, mais aussi la nécessité de dépasser leurs propres limites, naît le geste théâtral, trouvant sa place sur un terrain instable […]. Le dédoublement du personnage, la fragmentation et la répétition de leurs répliques montrent aussi la volonté de créer un autre espace d’écoute du texte, donnant ainsi un autre statut à la parole proférée sur scène. […] Utilisant les nouvelles technologies, Marleau montre que la réalité n’est pas seulement fragmentaire, mais qu’elle est pure image, reproductible à souhaits. Dans le spectacle, les douze aveugles […] viennent ponctuer un travail polyphonique où la parole vaut tout autant par sa signification que par les échos intérieurs qu’elle produit.73

Die geisterhaften Gesichter, die auf unheimliche Weise gleichermaßen real wie unwirklich erscheinen und dabei auf den Körper ihrer Referenten ebenso verweisen wie auf etwas mystisches Drittes, irren sowohl innerhalb der Grenzen des textuellen Raums als sie auch über dessen dramatischen Rahmen hinausweisen. Nicht nur die Blinden Maeterlincks entbehren einer individuellen Präsenz, auch die Darsteller, die der Ursprung der videographischen Masken sind, werden durch ihr technisches Abbild substituiert und vervielfältigt und somit ihrer Individualität beraubt. Denn die Maske verhüllt und entlarvt gleichzeitig, sie verbirgt die Subjektivität der Darsteller, also das, was dem Kunstwerk seine Dichte nehmen könnte, und sie empfängt gleichzeitig ein Bild von außen, ist gestaltete Oberfläche, die Uniformität und Entindividualisierung ausdrückt. Darüber hinaus kehrt sie aber auch das Innerste der Figuren nach außen und schafft einen Ausdrucksraum für ein (kollektives) Imaginäres, das unter der Oberfläche der realen Präsenz und der Individualität jeder

73 Eruli, Brunella (2003): „Du texte-matériau au texte-fondation.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 34-35, hier 34f. 347

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einzelnen Figur verdeckt bliebe. Und dieses Kollektiv der Blinden spricht nicht nur mit einer gemeinsamen Stimme und zeugt so von der universellen Ausweglosigkeit des menschlichen Daseins, sondern die Masken der Figuren verweisen jenseits ihrer verzweifelten Rede auch schon auf das, was die verlassene Gruppe letztendlich erwartet: Der Tod ist nicht erst die finale Konsequenz der in Kälte und Dunkelheit sich selbst überlassenen Blinden, sondern er ist metaphorisch auch schon in ihrem Leben präsent, wovon die Maske als ein Zeichen der Erstarrung und Leblosigkeit Zeugnis gibt. Obwohl die Inszenierung die ihr zugrundeliegende Technik verbirgt und weder die filmische Montage zur Hervorbringung der Videomasken noch die mechanische Apparatur wie Projektoren und Lautsprecher in ihrer Funktionsweise herausstellt, sondern sich lediglich deren Effekte zu Nutze macht und so die Illusion dieser magischen Präsenz zwischen Sein und Schein wahrt, ist die Künstlichkeit der Erscheinung offensichtlich. Durch das Spiel mit An- und Abwesenheit verweist die Inszenierung somit konstant auf den dieser technischen Maskerade zugrundeliegenden Diskurs, zu dem Martin Schulz bemerkt: So beliebig reproduzierbar und retuschierbar diese technischen Bilder auch sind und so sehr jede Photographie als codierte und manipulierte Inszenierung von Körpern kritisch in ihrem jeweiligen sozialen Kontext gelesen werden muss, hat man es dennoch mit einer bildtheoretisch ebenso interessanten Tatsache zu tun, dass nämlich die mechanisch erzeugten Lichtspuren einmalige und unwiederbringliche, aus dem Kontinuum von Raum und Zeit einmal herausgeschnittene, eingefrorene, mumifizierte Momente zeigen. Diese können die ehemalige Anwesenheit eines Körpers bezeugen, eine gewesene Präsenz symbolisch repräsentieren, aber auch den tiefen Riss zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Ferne und Nähe, Berührung und Distanz verdeutlichen.74

Marleaus Version der Aveugles ist in dieser Perspektive nicht nur als eine gelungene Umsetzung des von Maeterlinck visionierten ästhetischen Konzepts eines Theaters ohne Darsteller zu verstehen, die erst durch die medial-technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts möglich wurde, sondern seine Inszenierung stellt auch die Fortsetzung der mit Les trois derniers jours de Fernando Pessoa bereits begonnen Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen theatraler Repräsentation, über Wahrnehmung und die Rolle des Körpers innerhalb dieser Prozesse dar. Ce qui est intéressant et original dans la réponse de Denis Marleau, c’est que l’artifice et la prouesse technique rejoignent l’imaginaire le plus ancien, que la

74 Schulz (2002): 20f. (Hervorhebung im Original). 348

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technologie renoue en quelque sorte avec les origines. […] Dans l’expérience du spectateur, il est clair qu’il y a un artifice, un stratagème technique, mais il reste caché. Et ce dont le spectateur fait l’expérience, c’est l’inquiétante étrangeté de tous ces doubles face auxquels il ne parvient pas à faire la part du vivant et de l’illusion machinée.75

Das Unbehagen und die Befremdlichkeit des Zuschauers im Moment der Rezeption beruht dabei auf jenen ästhetischen Phänomenen der Inszenierung, die Marleaus Untertitel beschreibt: Eine technologische Phantasmagorie ist nämlich nicht nur ein Verfahren, durch das in einem dunklen Raum mittels optischer Effekte irreale Figuren kreiert werden, sondern der Terminus verweist auch auf den Trugcharakter der Bilder dieses Theaters, das über das chorische Sprechen der Blinden einen mentalen Raum entstehen lässt, der wie ein sich hinter den Masken in der Dunkelheit eröffnendes Imaginäres erscheint. In diesem Zusammenhang hebt Pierre L’Hérault hervor, dass Denis Marleau bei der Beschreibung dieses technisch-medialen Procederes den historisch häufiger verwendeten Begriff des Phantoms durch den Terminus ‚irreale Figuren‘ ersetzt. Denn während das Ziel der historischen Vorbilder dieser Wahrnehmungstricks die Erzeugung gespenstischer Formen war, geht es Marleau weniger um eine Illusionserzeugung, sondern um die bewusste Hervorbringung von visuellen Effekten, die das Reale irreal und das Virtuelle real werden lassen.76 Die so begrifflich etablierte Distanz hebt sein ästhetisches Bestreben, die Mechanismen von Wahrnehmung im Theater durch die technische Verfremdung und Hybridisierung seiner Körper bewusst zu reflektieren, besonders hervor. Denn dieses scheinbar virtuelle Theater wird bedingt durch die eigentümliche Präsenz der Videogesichter, die wiederum das Resultat ihrer medialen Hervorbringung ist. Marleaus Inszenierung ist eine technische Maschinerie, in der der Darsteller nur noch als mediales Artefakt seiner selbst existiert, als Reproduktion seines fragmentierten Körpers, die ihn von seiner subjektiven Leiblichkeit befreit. Die Unbeweglichkeit der Köpfe und ihre Trennung von einem dazugehörigen Körper betonen ihren amorphen Charakter, ihre leuchtenden Gesichter und die sprechenden Münder wiederum simulieren Präsenz und repräsentieren damit genau das Wesen, das Maeterlinck in seinen theoretischen Schriften entwirft, nämlich eine Figur, die lebendig erscheint, ohne es tatsächlich zu sein. Dieses mediatisierte Abbild menschlicher Präsenz steht in harschem Gegensatz zur Essenz des Theaters als einem lebendigen Spektakel, das 75 Borie, Monique (2003): „Prouesse technique et imaginaire ancien: Les Aveugles.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 108, 112-113, hier 113. 76 Vgl. L’Hérault (2003): 20. 349

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auf der simultanen Anwesenheit von Produzent und Rezipient basiert,77 denn Marleaus szenische Umsetzung weist nur noch eine Komponente dieser Präsenz auf, nämlich die des Zuschauers. Die videographischen Masken der Blinden sind hybride Produkte zwischen Mensch und Technik und scheinen damit die klassische theatrale Kommunikationssituation außer Kraft zu setzen. Handelt es sich also bei dieser Inszenierung überhaupt noch um Theater? Ist die Ästhetik Marleaus nicht eher eine Videoinstallation? Ist das Theater angesichts der hier zum Einsatz kommenden technischen Möglichkeiten, die den Menschen als Garant der Unmittelbarkeit dieser Kunstform ersetzen können, an seine ontologischen Grenzen gestoßen? Ist die Bedeutung und Funktion der sogenannten neuen Medien für das Theater so weit fortgeschritten, dass es sich von elektronischen Darstellungsformen wie Videoclips oder Computeranimationen nicht mehr unterscheidet und so kurz davor steht, seinen Wert als eigenständige, traditionsreiche und unmittelbare Kunstform einzubüßen und in der Masse der medialen Unterhaltungsformen unterzugehen? Mindestens drei Aspekte können eine solch pessimistische Reaktion auf die Herausforderungen, die die Ästhetik der Aveugles-Inszenierung Denis Marleaus an ihr Publikum stellt, relativieren: Zum einen die Tatsache, dass die Vorstellung eines Theaters ohne lebendige Darsteller nicht das Resultat wachsender technisch-apparativer Möglichkeiten ist, sondern ein sehr altes theatergeschichtliches Phänomen darstellt, das nicht nur die Avantgarden beschäftigte, sondern über schauspieltheoretische Fragen des 17. und 18. Jahrhunderts bis zu den Ursprüngen des Theaters und dem Maskengebrauch auf den Bühnen der griechischen Antike zurückreicht. All jene Bestrebungen gehen dabei auf das im Kontext der Pessoa-Inszenierung bereits dargelegte Phänomen der Leib-KörperDopplung zurück und zielen auf eine Verwandlung des Darstellers in einen rein semiotischen Körper ab – in der Antike durch die Verwendung von Masken, im 17. und 18. Jahrhundert mittels entsprechender schauspieltheoretischer Konzepte und um die Jahrhundertwende durch die Überlegung, den Darsteller durch eine amorphe Kreatur wie etwa die Übermarionette oder den Hampelmann zu ersetzen. Marleaus Verwendung der Videomasken muss also in erster Linie als ein ästhetisches Experiment verstanden werden, diesem sehr alten Theaterproblem mit dem technischen Potential des 21. Jahrhunderts zu begegnen und zu erproben, welche neuen Wahrnehmungserfahrungen sich hieraus ergeben können. Diese Herausforderung etablierter Wahrnehmungsmuster führt zum zweiten Argument, das die Frage nach der Auflösung des theatralen Status der Inszenierung modifizieren kann: Denn der theatrale Kommunikationsprozess ist nicht nur auf der Produktionsebene lokalisiert, also in der 77 Vgl. Bentley (1964) sowie das Kapitel ‚Theater – ein Medium?‘. 350

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Darstellung durch einen oder mehrere Schauspieler auf der Bühne, sondern wird entscheidend auch durch die Rezeptionsseite, also durch das Publikum, mitstrukturiert. So wie Martina Leeker dargelegt hat, inwieweit der Zuschauer den Darsteller oder Performer als ein Medium konstituieren kann, nämlich indem er im Prozess der Wahrnehmung „die Spaltung von Subjekt und Objekt der Darstellung durch das Schauen noch einmal verdoppelt und aus der Position des Beobachters heraus zum Garanten der Kontrolle über die Darstellung wird“, so funktioniert dieser Kontrollmechanismus auch in umgekehrter Richtung: Die Herstellung einer kontrollierbaren und wiederholbaren Technik zur Erlangung der Abständigkeit des Menschen von sich selbst im Theater macht uns glauben, dass wir die Kontrolle über unseren Körper und den Bezug zur Welt hätten. Denn wenn der Mensch sich selbst zum Medium machen kann, d.h. zu einem Äußeren seiner selbst, dann kann er die sich selbst zugefügten Mediatisierungen auch wieder abstreifen. [...] In diesem Sinne wirkt das Theater als Veräußerung der Veräußerung, d.h. als Entledigung des Anschlusses an die jenseits des Theaters stattfindenden Veräußerungen in Medien.78

Weil der Zuschauer in die sich reziprok zwischen Bühne und Zuschauerraum vollziehenden Aisthetisierungsprozesse eingebunden ist, hat er an der Konstitutionsfunktion der Medien des Theaters entscheidenden Anteil und kann die in den Videomasken vollzogene Veräußerung des Menschen auch wieder abstreifen, um so den hybriden Repräsentanten ihre Unmittelbarkeit zurückzugeben. Dass diese Prozesse tatsächlich stattfinden, dass die Mechanismen der Mediatisierung des Körpers aufgrund der Ambivalenz des Theaters im Umgang mit Medien, durch die diese nicht nur genutzt und reflektiert, sondern auch unterwandert werden können, das Theater in seiner Ontologie aber nicht bedrohen – und das ist das dritte Argument –, zeigen auch die Reaktionen des Publikums auf die Inszenierung Marleaus: [M]ême si les deux acteurs ne sont pas là physiquement – personne, à la fin, ne viendra saluer le public, à la grande frustration de certains spectateurs –, même s’ils ne se sont jamais rencontrés pendant le tournage de leurs différents personnages, chaque rôle ayant été enregistré séparément, même si ce spectacle n’a pas le caractère de présence concrète, éphémère, non totalement prévisible, de la représentation théâtrale; […] le travail de troupe, la convivialité partagée avec le public, le jeu avec les conditions particulières de la représentation […], il relève bien de l’art du théâtre et propose une nouvelle „alliance“ entre le texte

78 Leeker (1998): 22. 351

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écrite et sa mise en scène, dont la confrontation n’est pas près de cesser d’interpeller et de fasciner et les praticiens du théâtre et le public.79

Die Erfahrungen der Zuschauer beruhen in erster Linie auf dem hohen suggestiven Potential der Masken, deren unheimliche Präsenz eine eigentümliche Art von Nähe erzeugt und so den Pakt zwischen Bühne und Zuschauerraum aufrechterhält. Es ist der Effekt einer puren, von der subjektiven Leiblichkeit eines Darstellers befreiten Präsenz, der dem Zuschauer verdeutlicht: „Ces personnages hiératiques, c’est lui, il ne peut en douter.“80 Aufgrund der realen Abwesenheit des Darstellers nimmt das Publikum eine veränderte Wahrnehmungsposition ein. In einer fast voyeuristischen Haltung taucht es vollständig in den durch die eigentümlich hybride Situation der Bühne geschaffenen Perzeptionsraum ein, ohne von einem „acteur physique, [...] qui pourrait [l]’arrêter, avoir un trou, [lui] rapeller quelqu’un, [l]e séduire, bref [l]e faire vagabonder en pensée“81, von einer „zufälligen Subjektivität eines Darstellers“ also, in seiner Wahrnehmung beeinflusst zu werden. Die technische Perfektion und die Uncodiertheit des abwesenden Körpers ermöglichen einen Purismus der Rezeption, indem sich die lebendigen Attribute des entkörperten Darstellers vollständig in seiner Abwesenheit kondensieren. Der statische Charakter der Bühne und die Unbeweglichkeit der Gesichter, durch die der Eindruck eines Bildes ohne Tiefe entsteht, das die Masken wie eine vierte Wand vor den Zuschauern aufreiht, entsteht ein Spiegeleffekt, der den Zuschauer das szenische Geschehen nicht nur als externer Beobachter von jenseits der Rampe aus mitverfolgen lässt, sondern diesen Zuschauerstatus auch konstant in Frage stellt: Sind die Blinden die Reflexion des Publikums? Sind die Masken nicht eine ebenso homogene Masse wie die Zuschauer selbst, die diese anschaut, ohne es tatsächlich sehen zu können? Wenden sich die sprechenden Masken womöglich direkt an den Zuschauer?82 Das Spiel mit der Maske, die zwi-

79 Ertel, Evelyne (2003): „Regards.“ In: Théâtre Public 168, 27. Zu Publikumsreaktionen auf diese Inszenierung vgl. auch Campeau, Sylvain (2002): „Théâtre d’Androïdes.“ In: ETC Montréal 59, 41-42; Fouquet, Ludovic (2004): „Voyages en absence. Quatre proposition de Denis Marleau.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 111, 154-160 sowie Vigeant, Louise (2002): „Devant le noir, l’éternelle inquiétude.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 104, 151-153. 80 Vigeant (2002): 153. 81 Fouquet (2004): 159. 82 Dieser Eindruck wird durch einige Repliken im Text Maeterlincks, in denen die Blinden in ihrer Angst und Hilflosigkeit und aufgrund unbestimm352

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schen Mensch und Maschine oszilliert, schafft eine Kommunikationssituation, die die theatralen Konventionen nicht außer Kraft setzt, sondern sie (nur) radikal verschiebt und das Publikum in den von Maeterlinck propagierten und von Marleau mittels numerischer Technologien realisierten mentalen Raum des Symbols involviert. Die hybride Maske, die hinter der Starrheit und Kälte der Gesichter auch Leben und Menschlichkeit durchscheinen lässt, konserviert den Verweis auf etwas Lebendiges, auf die Spur eines menschlichen Darstellers hinter seinem technisch generierten Abbild. In diesem Zusammenhang weist Olivier Asselin auf den besonderen Status dieser technischen Bilder hin, die, wie es Roland Barthes für die Photographie beschrieben hat, nicht nur ikonischer Natur sind, die also das, was sie abbilden, nicht nur im Sinne eines Analogons repräsentieren, sondern es gleichzeitig auch präsentieren.83 Im Sinne einer Transsubstantiation, einer Wesensverwandlung ihres Charakters, verleihen sie ihrem Referenten eine reale Präsenz, wie etwa Reliquien, archäologische Quellen oder eben (Toten-) Masken.84 Aufgrund ihrer einzigartigen Präsenz erlangen diese Bilder jenen auratischen Charakter, der nach Walter Benjamin nur dem nicht reproduzierbaren Kunstwerk vorbehalten ist und der in der Portraitphotographie, „im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts“85, zum letzten Mal in Erscheinung tritt. Es ist eine „ présence marquée d’absence, une absence étrangement présente, une nouvelle au-

ter Geräusche vermuten, nicht allein zu sein, gestützt. Vgl. Maeterlinck (1890a): 101f. 83 Vgl. Barthes (1989): 40; sowie 118f.: „[W]enn ich aber die Photographie in engerem Zusammenhang mit dem Theater sehe, so aufgrund einer eigentümlichen Vermittlung [...]: der des Todes. Die ursprüngliche Beziehung zwischen Theater und Totenkult ist bekannt [...]. Die gleiche Beziehung finde ich nun in der Photographie wieder; auch wenn man sich bemüht, in ihr etwas Lebendiges zu sehen [...], so ist die Photographie doch eine Art urtümlichen Theaters, eine Art von „Lebendem Bild“: die bildliche Darstellung des reglosen, geschminkten Gesichtes, in der wir die Toten sehen. [...] Indessen spielt die Evidenz der Photographie, sobald es sich um ein menschliches Wesen handelt – und nicht mehr um ein Ding –, eine völlig andere Rolle. [...] Weil nun die Photographie die Existenz eines solchen Menschen beglaubigt, will ich ihn als Ganzes wiederfinden, ‚so, wie er an sich ist’, jenseits einer einfachen, individuellen oder ererbten Ähnlichkeit.“ (Hervorhebungen im Original). 84 Vgl. Asselin, Olivier (2003): „Le fantôme et l’automate. De la reproductibilité technique sur la scène.“ In: Alternatives théâtrales 73/74, 24-28. 85 Vgl. Benjamin (1963): 21f. 353

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ra – l’unique apparition d’un lointain, si proche soit-il – comme la définissait Benjamin.“86 Diese neue Form einer Aura offenbart sich besonders effektiv gerade an solchen Orten, die traditionell mit dem Gedanken des Auratischen verbunden sind, beispielsweise im Museum oder auch im Theater. Wenn das technisierte Bild in solchen Kontexten in Erscheinung tritt, dann erhält es die von Benjamin beschriebene Aura, die auf der Basis einer besonderen Faszination – einer Fetischisierung des Abwesenden – entsteht.87 Und genau solche Fetische, Erscheinungen des Dazwischen, zwischen Phantom und Mensch, zwischen Realität und Virtualität, zwischen Leben und Tod, sind Marleaus videographische Blinde. Wenn sich Theater durch die zeitliche Kopräsenz von Rezipient und Produzent definiert und diese einmalige, unwiederholbare Präsenz seinen transitorischen und auratischen Charakter bestimmt, dann ist sie auch durch die den Menschen substituierenden Masken, die ihn nicht nur repräsentieren, sondern auf seinen zwischen An- und Abwesenheit oszillierenden Charakter hinweisen, ihn somit in seinem Wesen, nicht aber in seiner Evidenz ersetzen, gegeben. Das Bild als Double und Repräsentant des Körpers gibt dem verschwundenen Körper ein Medium zurück, in dem es gegenwärtig bleiben kann. Es trägt also eine Referenz auf Abwesenheit in sich, und doch kann diese Referenz nur durch den Umstand bestehen, dass das Bild in der Evidenz des „Hier und Jetzt“ als anwesend erfahren wird und durch sehr verschiedene Rituale und Techniken, die nicht zufällig zu den bewegten Bildern und Computeranimationen der Gegenwart reichen, zum Leben erweckt werden kann. Diese Möglichkeit gründet wesentlich darauf, dass es in einem dauerhaften Medium verkörpert und auf ein solches übertragen wurde, dass es seinen Raum mit dem Raum des lebenden Betrachters teilt.88

Das Theater – eine „machine de la pensée“89 [J]e cherche le spectacle dans sa totalité, avec le texte et au-delà du texte. Pour moi, le théâtre passe autant par l’oreille que par la vue. D’ailleurs, je n’adhère pas à cette notion du théâtre visuel ou de théâtre de l’image qui, par déformation, provient probablement de la conception américaine des Visual Arts. Il me semble évident que le théâtre ne peut se laisser réduire à une seule dimension.

86 87 88 89

Asselin (2003): 26 (Hervorhebung im Original). Vgl. ebd.: 28. Schulz (2002): 16. Lesage (1999): 31. 354

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Sur un texte qui est mis en scène se superposent plusieurs langages ou écritures, c’est comme une accumulation de couleurs sur une toile.90

Diese Äußerung Denis Marleaus hinsichtlich seiner Konzeption von Theater ist aufschlussreich für die Betrachtung seiner Inszenierungen unter dem Aspekt der Intermedialität. Seine Versuche, das Theater für die Darstellungsmittel fremder künstlerischer Ausdrucksformen zu öffnen, bedeuten nicht gleichzeitig die Infragestellung des Texts als formale, inhaltliche und ästhetische Kategorie seiner Kunst. Im Gegenteil: Er betrachtet die Sprache als ein Mittel, das auf der Bühne in all seinen Facetten zur Wirkung gebracht werden muss, und zwar als Vermittler von Sinn, als literarisches Moment und als sonore Klangstruktur, als ein Mittel also, das erst in der szenischen Umsetzung des Werks seine Vielseitigkeit entfalten kann. Mon rapport au texte se situe également dans celui de sa manipulation […]. Dans mon parcours, je suis […] passé par […] différentes approches pour m’approprier des écritures pas toujours conçues initialement pour la scène, quelques fois même récalcitrantes au théâtre, dont j’ai forcé, pour ainsi dire, le passage de la rampe. […] Pour moi, le collage, l’amalgame, la réorganisation des matériaux littéraires découle d’un plaisir très enfantin, celui de se raconter une histoire, d’abord à soi-même, puis aux autres. Je ne me prétends pas auteur. Je suis un metteur en scène qui réinvente une fiction, qui l’organise à sa façon.91

Diese Arbeit am Text und an der expressiven Dimension von Sprache ergänzt sich, und das zeigen die Analysen der Inszenierungen von Les trois derniers jours de Fernando Pessoa und Les Aveugles, um die Suche nach diesen Texten angemessenen visuellen Mitteln der Darstellung. Wie kann ein Text szenisch konkretisiert werden, dessen Figuren die Phantome eines einzigen Charakters sind, wie ein solcher, dessen Autor ein ästhetisches Programm entwirft, das den Darsteller von der Bühne entfernt wissen will? Das Spiel mit Automatenfiguren und mit videographischen Masken, das bis zur scheinbaren Negation der ontologischen Bedingungen von Theater und der Auflösung der klassischen theatralen Kommunikationssituation geht, ist, wie die voranstehenden Teilkapitel darlegen, nicht nur als das Ausloten der Möglichkeiten neuester technischer Medien zu verstehen, sondern steht vollkommen im Kontext der narrativen und ästhetischen Anforderungen der jeweiligen Texte. Denis Marleau

90 Féral (1992): 102. 91 Vigeant, Louise (1999): „L’écriture-lecture de Denis Marleau.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 91, 94-96, hier 94; 96. 355

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sieht seine ästhetische Umsetzung des statischen Texts Maeterlincks nicht nur als eine zeitgemäße, sondern auch als eine schon historisch präfigurierte Herangehensweise an, die den dramaturgischen Bedingungen sowohl des Dramas selbst als auch den theoretischen Überlegungen des Symbolisten Rechnung trägt. En effet, notre séance des Aveugles […] évoque sans conteste les premières innovations des artistes et hommes de science qui, à l’aube de l’ère moderne, s’appliquèrent aux problèmes de la lanterne magique et plus tard au cinématographe. […] Cette réalité historique chez Maeterlinck a son importance puisque manifestement sont présents et reviennent dans ses essais, poésies et textes dramatiques, les jeux de verres et de miroirs, les effets d’optique qui altèrent le regard.92

So, wie die Laterna Magica, das Phantascope und das frühe Kino das Theater ihrer Zeit in seiner Ästhetik und Dramaturgie beeinflusst haben, so wirken auch Film, Video und digitale Bilder auf das Theater der Gegenwart, und die durch technische Neuerungen hervorgebrachten optischen Effekte verändern damals wie heute den Blick und die Wahrnehmung des Zuschauers. Der Einsatz von Technik im Theater Marleaus kann also als eine in jeder Hinsicht konsequente Form des Umgangs mit Medien bezeichnet werden, und zwar sowohl in historischer Perspektive als auch im Sinne einer zeitgemäßen Erprobung medial-technischer Darstellungsmittel, die, wie im Fall der Maeterlinck-Inszenierung, nicht nur die Realisierung einer bereits mehr als hundert Jahre alten ästhetischen Vision darstellt, sondern die dadurch auch die Frage nach der Medialität des Schauspielerkörpers und die kultursoziologischen Implikationen dieser veränderten Form theatraler Wahrnehmung mitreflektiert. Im ersten Teil der vorliegenden Studie wurde Intermedialität als ein theatraler Wahrnehmungsmodus definiert, der besonders dann virulent wird, wenn habitualisierte Perzeptionsmuster irritiert oder verschoben werden. Das Theater fungiert in diesem Zusammenhang als Medium und Rahmenmedium zugleich, in dem sowohl die ihm eigenen Mittel in Akten medialer Performanz wirksam werden können, als es auch in der Lage ist, fremdmediale Darstellungsformen zu integrieren, diese zu reflektieren und in ihrer Ontologie und Funktion zu hinterfragen, ohne dass es dabei seinen Status als Theater, auf den durch die soziologische Komponente des theatralen Rahmens konstant verwiesen wird, zu verlieren. In dieser Perspektive kann das Theater Denis Marleaus als in dreierlei Hinsicht intermedial beschrieben werden: Zum ersten aufgrund seiner grundsätzlichen Sicht von Theater als einem plurimedialen System 92 Ismert (2003): 106. 356

INTERMEDIALITÄT IM QUÉBECER THEATER – DENIS MARLEAU

„qu’[on] ne peut [pas] réduire à une seule dimension.“93 Diese Konzeption manifestiert sich – und das ist die zweite Dimension von Intermedialität – in der Art der Kombination von Sprache und visuellen Ausdrucksmitteln, in ihrer Konfrontation als unabhängige, hermetische und in sich wirksame Zeichenebenen, die sich eben nicht lediglich ergänzen bzw. einander interpretieren, sondern sich im Sinne eine Autonomie dieser verschiedenen Mittel im Theater als einer Art Totalkunst begegnen. Das Theater wird so nicht nur zum Interaktionsraum unterschiedlicher Medien, sondern zu einer „machine de la pensée“94, zu einem Ort der intellektuellen Auseinandersetzung sowohl mit einem Stück als auch mit den verschiedenen Mitteln seiner Inszenierung. Während das erste und zweite Modell von Intermedialität das Theater Marleaus in erster Linie als eine Kunsttechnik reflektieren, weist der Terminus der Denkmaschinerie schon auf das dritte Verständnis von Intermedialität hin, nämlich die Konzeption von Theater als eine Kulturtechnik, die jenseits der Bedeutung der verwendeten ästhetischen Mittel für die Kunstform Theater auch deren kulturwissenschaftliche Implikationen mitdenkt. Die Ersetzung des Schauspielerkörpers durch sein mediales Abbild und durch amorphe Maschinenfiguren ist nämlich nicht nur in theaterästhetischer Perspektive von Interesse, wirft nicht nur im Kontext formaler Konventionen die Frage nach der Repräsentationsfunktion des menschlichen Körpers im Theater auf, sondern die mediale Substitution und Fragmentierung des Körpers verweisen auch auf kulturelle Diskurse, die die Einheit von Körper und Individuum, von Körper und Identität sprengen und das theaterästhetische Spannungsverhältnis von ‚Körper sein‘ und ‚Körper haben‘ in die Realität unseres Alltags übertragen: Il nous semble opportun […] de mesurer les impacts des nouveaux modes de création sur la perception du corps. La question ne concerne donc pas tant l’utilisation de l’image projetée en soi, mais plutôt les effets de l’image projetée du corps: un tel traitement – médiation technologique, fragmentation, ‚évanouissement‘ - et l’effet de déréalisation qu’il entraîne, peut-il en venir à modifier l’idée que l’on se fait du corps? Il y a là une objectivation du corps, voire du monde sensible, qui remet en cause le principe d’identité, et qui participe donc d’une réflexion sur le sujet. Ce corps morcelé, dilué, évanescent, peut-il encore être mon corps? Ou […] ne serions-nous pas en train d’assister au passage d’ ‚être‘ à ‚avoir‘ un corps: je façonne et considère mon corps comme un objet qui m’appartient plutôt que je ne suis ce corps… 95

93 Féral (1992): 102. 94 Lesage (1999): 31. 95 Vigeant, Louise (2003a): „La paradoxale rencontre du virtuel et du réel.“ In: Cahiers de théâtre Jeu 108, 88-92, hier 90. 357

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

Wenn Medialität als ein performatives Moment betrachtet werden kann, das das, was es zur Erscheinung bringt, auch mitkonstituiert, und diese Medialität als Kunst- und Kulturtechnik nicht nur im Theater virulent wird, sondern die Bedingungen des Erlebens von Sein generell strukturiert, dann offenbart sich in den intermedialen Strategien des Theaters von Denis Marleau einmal mehr, dass das Theater beide Perspektiven vereint und als performative Kunstform zum Reflexionsort von Kultur überhaupt wird.

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ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN: INTERMEDIALITÄT ALS KULTURELLE PRAXIS L’hybride est l’unité formée de deux éléments hétérogènes. […] Ce sont […] les pratiques culturelles qui se diversifient, qui ouvrent sur plusieurs univers à la fois [et qui sont] au cœur des préoccupations de notre fin du millénaire.1

Es ist aus den vorangegangenen Inszenierungsanalysen deutlich geworden, auf welch unterschiedliche Art und Weise technische Medien im Theater zum Einsatz kommen können und wie verschieden die jeweilige intermediale Ästhetik der vier ausgewählten Theatermacher dabei ausfällt. Gemeinsam ist den Künstlern die grundsätzliche Auffassung, dass die Integration fremdmedialer Darstellungsweisen eine Bereicherung der Ausdrucksmittel des Theaters bedeutet und dass dessen zunehmende mediale Hybridisierung den Kunstcharakter der Bühne in keiner Weise bedroht, sondern dass im Gegenteil das Theater seit jeher eine Kunstform ist, die technische Neuerungen für die Steigerung ihrer Illusionserzeugung nutzt und vom Dialog mit anderen künstlerischen Darstellungsformen profitiert. Paradigmatisch für diese Sichtweise kann das bereits mehrfach zitierte Credo Robert Lepages gelten, der die Zukunft des Theaters gerade in dessen Reaktion auf die durch die Sprache der neuen Medien bestimmten veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums sieht: Nur, wenn sich das Theater die Erzählmodi von Film, Video oder Computerspielen aneignet und deren Ästhetik in seine Darstellungsweisen integriert, wird es überhaupt in der Lage sein, langfristig der wachsenden Konkurrenz elektronischer Unterhaltungsmedien standzuhalten. Seine Inszenierungen zeigen, wie sehr das Theater durch das Spiel mit den neuen Medien bzw. mit deren spezifischer Ästhetik gewinnt, welch neue Sichtweisen und Bildwelten durch den Rückgriff auf fremd1

Simon (1999): 7. 359

ZWISCHEN DEN KULTUREN – ZWISCHEN DEN KÜNSTEN

mediale Darstellungsmittel eröffnet werden, und sie beweisen gleichzeitig, dass es hierzu nicht unbedingt der Integration neuester Technologien bedarf. Ihre Ästhetik kann auch mit den Mitteln des Theaters hergestellt bzw. simuliert werden, worin oftmals der besondere Reiz der intermedialen Bezugnahme durch das Theater liegt. Indem Lepage mit urtheatralen Mitteln wie etwa Licht-Schatten-Spielen die Wahrnehmungsperspektive des Kinos imitiert, zeigt er, dass das Theater die Ästhetik neuer Bildmedien nutzen kann, ohne dabei seine Eigenständigkeit als Kunstform einzubüßen, und verdeutlicht durch die Offenlegung der Herstellung dieser Bilder gleichzeitig, inwieweit das Theater als Rahmenmedium zum Trainingscenter für die Rezeption von und den Umgang mit Medien fungieren kann. Seine Auffassung von der Essenz des Theaters als ursprünglich rituellem Ort des gemeinsamen Geschichtenerzählens bewahrt sich für ihn in der theatralen Kommunikationssituation und der simultanen Präsenz von Produzent und Rezipient des Theaters, das damit seine Ontologie als unmittelbare und transitorische Kunstform niemals negiert. In eben jenem Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum ist im Theater Gilles Maheus das Moment der intermedialen Bezugnahme verortet. Der Körper als das für den ehemaligen Mimen und Tänzer Maheu ausdrucksstärkste Mittel des Theaters fungiert dabei in doppelter Hinsicht als Vermittlungs- und Transformationselement: Einmal als Verbindungsglied zwischen Text- und Bildebene, das mehr sagt, als der Text semantisch vermitteln oder die Bilder zeigen können, und zum zweiten als energetisches Moment, das die Tableaustruktur des Theaters aufsprengt, über die Geschlossenheit der Bühne hinausweist und diese affektive Kraft auf die Zuschauer überträgt. So wird das Publikum selbst zu der Instanz, die Intermedialität überhaupt erst herstellt, die die multimedialen Elemente des Theaters von Carbone 14 zu einer intermedialen Gesamtstruktur kombiniert und dabei nicht nur Handlung wahrnimmt, sondern, wie in der Analyse von Peau, chair et os gezeigt, auch der Inszenierung des Raums jenseits der Bühne Rechnung trägt. Indem der Zuschauer in seiner Körperlichkeit die Installationen durchschreitet oder in Rivage à l’abandon auch die Orte jenseits der Bühne reflektiert, nimmt er aktiv am Inszenierungsprozess teil und das Theater wird zur Wahrnehmungsapparatur, in deren aufgesprengtem Rahmen die verschiedenen Künste wechselseitig aufeinander Bezug nehmen. Auch in Marie Brassards Inszenierungen des Theaters als Klangraum wird offensichtlich, wie sehr die intermediale Bezugnahme auf beiden Seiten der Rampe, auf der Bühne wie im Zuschauerraum verortet ist. Ihre Solostücke stellen die Stimme als Medium von Sprache und von Theater heraus. Sie privilegieren das Hören als Wahrnehmungsform vor dem Sehen und zeigen im visuellen Medium Theater, dass Bilder auch über die

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INTERMEDIALITÄT ALS KULTURELLE PRAXIS

Ohren entstehen können. Damit verwandeln sie das Theater in eine Art Hör-Spiel, in eine besondere Form auditiven Sehens. Durch diese besondere Ästhetik exemplifiziert Brassard den performativen Charakter der Stimme als Medium ebenso wie den des Theaters als Rahmenmedium, die beide im Moment ihres Vollzugs entstehen und erzeugen und dabei ihre spezifische Medialität im Sinne eines transitorischen Ereignisses offenbaren. Als Kunsttechnik macht sich ihr Theater die illusionären Potentiale der technisch manipulierten Stimme für die Herstellung neuer (Klang-)Räume und die Schaffung neuartiger Wahrnehmungsphänomene zunutze. Als Kulturtechnik schärft es Ohren und Augen für den Umgang mit den medialen Implikationen von Stimmtechnologien. Der Medieneinsatz im Theater Denis Marleaus geht in den für die Analyse ausgewählten Inszenierungen bis zu einer radikalen Verschiebung der theatralen Kommunikationssituation, die die Frage aufwirft, ob es sich überhaupt noch um Theater handelt, wenn der Darsteller durch sein mediales Double ersetzt wird. Unter Berücksichtigung der besonderen Art dieser medial erzeugten Körperbilder, des theaterhistorischen Kontexts des Stücks und mit Rückgriff auf ein auf Wahrnehmung basierendes Konzept von Intermedialität, das dem Zuschauer eine Transformationskompetenz im Umgang mit den Medien des Theaters zuschreibt, erweist sich die Ästhetik Marleaus aber weniger als die Auflösung der theatralen Grundsituation, sondern als metatheatraler Kommentar der formalen Bedingungen von Wahrnehmung und Repräsentation im Theater und als ein kulturwissenschaftlicher Diskurs über die Konstruktion von Körperbildern jenseits der Bühne. Intermedialität manifestiert sich im Theater Denis Marleaus in dem Versuch, Bild- und Textebene des Theaters als in sich geschlossene und autonome Ebenen einander gegenüberzustellen und dabei einen Reflexionsraum zu eröffnen, der zwischen der inhaltlich-interpretatorischen Auseinandersetzung mit dem Werk eines Autors und den formal-ästhetischen Möglichkeiten der szenischen Umsetzung oszilliert. Wenn Medialität, wie im ersten Teil dieser Studie dargelegt, als ein performatives Moment betrachtet werden kann, das das, was es zur Erscheinung bringt, auch mitkonstituiert und diese Medialität nicht nur im Theater im Sinne einer Kunsttechnik virulent wird, sondern als Kulturtechnik die Bedingungen des Erlebens von Sein generell strukturiert, dann offenbart sich in den ausgewählten Inszenierungen einmal mehr, inwieweit das Theater als performative Kunstform zur Reflexionsfigur von Kultur überhaupt wird. Alle Inszenierungen bzw. alle ästhetischen Konzeptionen der vier québecer Theatermacher zeugen also nicht nur vom künstlerisch produktiven Umgang mit neuen Medien und vom fruchtbaren Dia-

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log der Künste, sondern können auch als Beispiele für ein Verständnis von Theater als einer spezifischen Kulturtechnik gelten, die die Wirkung von Medien und ihre epistemische Bedeutung für die Herstellung von Wirklichkeit, die in anderen Kontexten oft nur latent erfahrbar wird, aufdecken und reflektieren kann. Denn, so hebt Dieter Mersch in seinem Versuch einer „negativen Medientheorie“, der die Unhintergehbarkeit des Medialen über die Reflexion des „verstörenden Verhältnisses zwischen Kunst und Medien“ zu durchbrechen versucht, hervor: Kunst zeigt vermittels von Medien, aber dieses Zeigen erfüllt sich nicht im Medialen. Beide verweisen aufeinander – und halten sich gleichzeitig in einer unauflösbaren Spannung. Es sind diese Spannungen, worin die künstlerische Performanz sowohl ihr Verstörendes als auch ihre Erkenntnisleistung besitzt. Es handelt sich um die Stiftung von Differenzerfahrungen, die nicht ausschließlich Produkte von Medien sind, sondern in Klüften und Zwischenräumen medialer Performanzen nisten. [...] Indem auf diese Weise die ästhetischen Praxen Medien an ihre Grenzen treiben und gleichsam den Blick zurückspiegeln, stiften sie „Augenblicke“ ihrer buchstäblichen „Reflexion“. Erst dadurch vermögen sich Medien als Medien, ihre besondere Strukturalität, ihre Beschränkungen zu zeigen.2

Vor dem Hintergrund eines performativen Theaterbegriffs sowie der Vorstellung von Theater als einer besonderen Form kultureller Praxis, wie exemplarisch für den Kulturraum Québec erarbeitet, zeigt sich dessen paradigmatischer Charakter für die Auseinandersetzung mit Medialität. Der produktive Einsatz neuer Medien und deren Darstellungs- bzw. Erzählmodi im québecer Theater der Gegenwart wurde im Kapitel ‚Québec als kulturelles Feld‘ in engem Zusammenhang mit der kulturellen Disposition der frankophonen kanadischen Provinz beschrieben. Die aus der doppelten Kolonialisierung resultierende kulturelle Hybridität des Kulturraums spiegelt sich im québecer Theater nicht nur in der inhaltlichen Thematisierung der eigenen Geschichte, sondern manifestiert sich auch auf formalästhetischer Ebene in den im Theater zum Einsatz kommenden Darstellungsmitteln. Während in Deutschland die mediale Ästhetik vieler Inszenierungen kritisiert wird, weil sie als das Ende einer Theatertradition wahrgenommen wird, die maßgeblich auf dem Paradigma eines Text- bzw. Dramentheaters basiert, kann das québecer Theater im Kontext seiner jungen Geschichte sehr viel freier mit den vielfältigen ästhetischen und fremdmedialen Einflüssen umgehen. Obgleich der mit Rückgriff auf Sybille Krä2

Mersch (2004): 75; 93 (Hervorhebungen im Original). 362

INTERMEDIALITÄT ALS KULTURELLE PRAXIS

mers Medienverständnis erarbeitete Medienbegriff den Umgang mit Medien auch in der Kunst als eine kulturelle Praxis begreifbar macht, scheint das deutsche bzw. europäische Theaterpublikum in weiten Teilen Theater nicht als eine performative Kunstform betrachten zu können und den Medieneinsatz als ein diesem Verständnis von Kultur als Text entgegenstehendes Phänomen auszugrenzen. In Québec hingegen kann der Wandel von einer textuellen zu einer performativen Kultur als bereits vollzogen angesehen werden, weshalb im Rahmen der Suche nach eigenen Ausdrucksformen der Umgang mit Technik im Theater nicht als ein unüberbrückbarer Antagonismus, sondern vielmehr als eine Kulturtechnik erscheint, durch die das Theater lediglich die technische Dimension jedweden kulturellen Produkts akzentuiert. In theoretischer wie praktischer Hinsicht ist Intermedialität als ein sowohl auf der Produktionsebene als auch im Sinne eines (theatralen) Wahrnehmungsmodus beim Publikum lokalisiertes Phänomen zu beschreiben, das eine „Reflexion über den Medienstil ins Bewusstsein der Werkbetrachtung rückt“3 und eine spezifische Form von Wahrnehmung im Sinne des „Gewahrwerdens medialer Differenzformen“4 auslöst. Demzufolge kann auch die völlig gegensätzliche Rezeption medialhybrider Theaterinszenierungen in Québec und Europa als auf bestimmten habitualisierten Wahrnehmungskonventionen beruhend und demnach als kulturell codiert beschrieben werden. Für die Frage nach der Bedeutung dieser Erkenntnisse im Hinblick auf die besonders im deutschsprachigen Raum sehr hitzig geführte Auseinandersetzung über das Verhältnis von Theater und neuen Medien kann das québecer Theater als ein ästhetisch innovatives Vorbild für eine Theaterkunst der Zukunft betrachtet werden. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung haben verdeutlicht, dass es gleichzeitig als Beweis dafür gelten kann, dass diese Zukunft keineswegs in Frage gestellt werden muss. Innovativ ist das québecer Theater deshalb, weil es überkommene Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen irritiert und durch diese Irritation medialer Konventionen und das Verwischen medialer Differenzen deren Konstruktcharakter ins Bewusstsein rückt. Vor dem Hintergrund der kulturellen Bedingungen der Entstehung dieser medial-hybriden Ästhetik können die in Europa und auch in Deutschland immer wieder tourenden Inszenierungen der québecer Theaterkünstler aber auch zu einer 3 4

Belting, Hans (2001): Bild-Anthropologie. Körper – Bild – Medium. München: Fink, 48. Balme, Christopher (2002): „Stages of Vision: Bild, Körper und Medium im Theater.“ In: Belting, Hans/Kamper, Dietmar/Schulz, Martin (Hg.): Quels corps? Eine Frage der Repräsentation. München: Fink, 349-364, hier 351. 363

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Entschärfung der Diskussion um den in Folge der Integration von Medien drohenden Verfall des Theaters als eigenständiger Kunstform beitragen: Indem sie die fremdmediale Ästhetik nicht nur im Sinne einer Kunsttechnik nutzen, sondern durch die bewusste Offenlegung und Reflexion der Funktionsweisen der technischen Medien auch den Charakter des Theaters als kulturelle Praxis im Sinne einer performativen Kunstform herausstellen, erweist sich der Umgang mit (neuester) Technik als ein in doppelter Hinsicht produktives Verfahren. Als ehemalige europäische Kolonie hat sich die frankophone kanadische Provinz aus der postkolonialen Situation der identitären Suche herauslösen können und sich ihre kulturelle Zerrissenheit zunutze gemacht. Der Hybriditätsdiskurs hat sich im Feld des Theaters auf eine ästhetische Ebene verlagert und die junge Theaterszene Québecs ist zu einem der produktivsten und innovativsten Zentren einer Theaterkunst des 21. Jahrhunderts geworden.

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ABBILDUNGEN Abb. 1 (S. 137):

Abb. 2 (S. 154):

Abb. 3 & 4 (S. 159): Abb. 5 (S. 168):

Abb. 6 (S. 175): Abb. 7 (S. 185): Abb. 8 (S. 198): Abb. 9 (S. 205): Abb. 10 (S. 234):

Abb. 11 (S. 251):

Abb. 12 & 13 (S. 255): Abb. 14 (S. 272): Abb. 15 (S. 286):

Vinci, Szene 3, Quelle: Videoaufzeichnung der Inszenierung von Robert Lepage, Théâtre de Quat’Sous, Montréal (April 1986). Les Aiguilles et l’Opium, Szene 4, Quelle: Videoaufzeichnung der Inszenierung von Robert Lepage, Palais Montcalm, Québec (Juni 1993). Les Aiguilles et l’Opium, Szene 7, Quelle: Ebd. Elsinore, Szene 2, Quelle: Videoaufzeichnung der Inszenierung von Robert Lepage. Royal National Theatre, London (Januar 1997). Elsinore, Szene 3, Quelle: Ebd. La face cachée de la lune, Szene 1, Photo: Sophie Grenier. Le projet Andersen, Szene 1, Photo: Erick Labbé. Le projet Andersen, Szene 6, Photo: Erick Labbée. Rivage à l’abandon, Szene 1, Quelle: Videoaufzeichnung der Inszenierung von Gilles Maheu/Carbone 14, Musée d’art contemporain, Montréal (November 1990). Peau, chair et os, Szene 6 (I), Quelle: Videoaufzeichnung der Inszenierung von Gilles Maheu/Carbone 14, Festival de Théâtre des Amériques (FTA), Montréal (Mai 1991). Peau, chair et os, Szene 3 (II), Quelle: Ebd. Jimmy, créature de rêve, Szene 5, Photo: Simon Guiltbault. The Darkness, Szene 3, Photo: Simon Guiltbault.

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Abb. 16 (S. 303): Abb. 17 (S. 304): Abb. 18 (S. 321): Abb. 19 (S. 345):

Peepshow, Szene 6, Photo: David ClermontBéique. Peepshow, Szene 7, Photo: David ClermontBéique. Les trois derniers jours de Fernando Pessoa, Szene 2, Photo: Josée Lambert. Les Aveugles – fantasmagorie technologique, Photo: Richard-Max Tremblay .

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Theater Franziska Weber Dimensionen des Denkens Der raumzeitliche Kollaps des Gegenwärtigen. Geistes- und naturwissenschaftliche Entwürfe – verifiziert an Martin Kusejs »Don Giovanni« November 2008, ca. 210 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-8376-1010-9

Julia Pfahl Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec Juni 2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN: 978-3-89942-909-1

Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens September 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-706-6

Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy Juli 2008, ca. 210 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-891-9

Jan Deck, Angelika Sieburg Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater Juli 2008, 122 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 978-3-89942-853-7

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Juli 2008, ca. 120 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-634-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de