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German Pages [363] Year 2016
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LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG
A
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Die Philosophie Helmuth Plessners hat in den letzten Jahren eine Renaissance erfahren: Plessner wurde als relevanter Vertreter einer Biophilosophie (wieder-)entdeckt, die nicht nur die überkommene Trennung von Natur und Kultur, sondern auch die Gegenüberstellung disjunkter Wissenschaftskulturen in Frage stellt und ihr Verhältnis neu bestimmt. Das Buch nimmt die verschiedenen disziplinären Fäden auf, die die Konzeption von Plessners Biophilosophie insbesondere in den Stufen des Organischen und der Mensch (1928) verständlich machen. Die Vermittlungsfunktion von Plessners Ansatz unterstreicht das vorliegende Projekt mit einer dialogischen Inszenierung. Plessners Überlegungen werden in das Wechselgespräch mit wichtigen Dialogpartnern seiner Epoche gestellt, die aus beiden Kulturen der Wissenschaften stammen: den Naturwissenschaftlern Jakob v. Uexküll, Frederik J. J. Buytendijk, Hans Driesch, Viktor v. Weizsäcker, Adolf Portmann und Wolfgang Köhler sowie den Philosophen Henri Bergson, Georg Misch, Nicolai Hartmann, Max Scheler, Martin Heidegger und Hans Jonas. Dabei ist der »dialogische« Ansatz des Buches auch im übertragenen Sinne zu verstehen: Er meint nicht nur reelle Auseinandersetzungen und Debatten, sondern auch intellektuelle Bezugnahmen, die möglichen konzeptionellen Kontaktzonen und virtuellen Gesprächsbezüge, selbst wenn ein unmittelbarer Austausch zwischen den Akteuren nicht bestanden hat.
Die Herausgeber: Kristian Köchy ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Philosophie der Biowissenschaften, der Geschichte der Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, der angewandten Ethik (Bio- und Umweltethik) sowie der Naturphilosophie. Francesca Michelini ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theoretische Philosophie an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der Philosophie der Lebenswissenschaften, der philosophischen Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts sowie der Philosophie des Deutschen Idealismus.
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Kristian Köchy / Francesca Michelini (Hg.)
Zwischen den Kulturen
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Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 20
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Kristian Köchy / Francesca Michelini (Hg.)
Zwischen den Kulturen Plessners »Stufen des Organischen« im zeithistorischen Kontext
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: Ines Franckenberg Kommunikations-Design, Hamburg Herstellung: CPI books Gmbh, Leck Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48733-4 E-ISBN 978-3-495-80827-6
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Inhalt
Kristian Köchy/Francesca Michelini Einleitung: Zwischen den Kulturen. Helmuth Plessners Stufen des Organischen im zeithistorischen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Helmuth Plessner im Dialog mit den Naturwissenschaften Kristian Köchy Helmuth Plessners Biophilosophie als Erweiterung des Uexküll-Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Ralf Becker Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Georg Toepfer Helmuth Plessner und Hans Driesch. Naturphilosophischer versus naturwissenschaftlicher Vitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Vallori Rasini Helmuth Plessner und Viktor von Weizsäcker. Zu den Konvergenzen in ihren Theorien der Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . 123 Oreste Tolone Helmuth Plessner und Adolf Portmann. Zur philosophischen Bestimmung des Menschen durch Exzentrizität und Frühgeburt 141 Gerald Hartung Gestalt und Grenze. Helmuth Plessner und die Gestaltpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
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Inhalt
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II. Helmuth Plessner im Dialog mit der Philosophie Heike Delitz Helmuth Plessner und Henri Bergson. Das Leben als Subjekt und Objekt des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Mathias Gutmann/Benjamin Rathgeber Anthropologie und Hermeneutische Logik. Helmuth Plessner und Georg Misch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Matthias Wunsch Anthropologie des geistigen Seins und Ontologie des Menschen bei Helmuth Plessner und Nicolai Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Joachim Fischer Helmuth Plessner und Max Scheler. Parallelaktion zur Überwindung des cartesianischen Dualismus. Funktionen und Folgen einer philosophischen Biologie für die Philosophische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Karen Joisten Der Mensch ist „sich weder der Nächste noch der Fernste“? Helmuth Plessner und Martin Heidegger – eine Annäherung . . . . 305 Francesca Michelini Helmuth Plessner und Hans Jonas. Geschichte einer verpassten Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
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Einleitung: Zwischen den Kulturen. Helmuth Plessners Stufen des Organischen im zeithistorischen Kontext
Die Philosophie Helmuth Plessners hat in den letzten Jahren durchaus so etwas wie eine Renaissance erfahren. Im Anschluss an eine Phase, in der sie nahezu ausschließlich im Kontext der Philosophischen Anthropologie unter dem Gesichtspunkt möglicher Bezüge und Abgrenzungen zu den Ansätzen von Max Scheler oder Arnold Gehlen wahrgenommen wurde oder aber in der Plessner als Soziologe verstanden respektive mit Blick auf bestimmte politische und zeithistorische Fragen zur Rolle Deutschlands im 20. Jahrhundert (Die verspätete Nati on) gelesen wurde, zeichnet sich nun eine Ausdehnung der Aufmerksamkeit auf bisher nur wenig beachtete Bereiche seiner Philosophie ab: Plessner wird als relevanter Vertreter einer Philosophie der Natur oder noch spezifischer als Vertreter einer Biophilosophie (wieder-)entdeckt.1 Die von Plessner als Grundlage seiner Philosophischen Anthropologie entwickelte Philosophie des Lebendigen und die in dieser Philosophie untersuchten Prinzipien des Lebendigen werden offensichtlich im Zuge einer verstärkten Aufarbeitung der philosophischen Implikationen moderner Lebenswissenschaften auch zum attraktiven Thema der historischen, vor allem jedoch der systematischen Aufarbeitung Plessners. Im Zuge solcher, derzeit noch durchaus tastender Versuche, Pless ner philosophisch neu zu bestimmen und dabei auch seine Bedeutung als philosophierender Biologe und Biophilosoph stärker zu berücksichtigen, sollte vor allem die spezifische Konstellation von dessen
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Vgl. etwa G. Gamm, M. Gutmann, A. Manzei (Hrsg.), Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, Bielefeld 2005; T. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens. Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie mit Canguilhems Historischer Epistemologie, Berlin 2012; J. de Mul (Hrsg.), Plessner’s Philosophical Anthropology. Perspectives and Prospects, Amsterdam 2014.
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biophilosophischem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) detailgenauer als bisher geschehen aufgearbeitet werden. Ein solches verlagertes Interesse auf die – wegen fehlender Übersetzungen – insbesondere im angelsächsischen Sprachraum nahezu vollkommen in Vergessenheit geratene, wiewohl der Sache nach mehr als einschlägige Biophilosophie Plessners sollte nicht nur ein vollständigeres Bild von dessen philosophischem Anliegen liefern und insofern von historisch-biografischem Interesse sein, sondern es sollte sowohl im zeithistorischen Kontext als auch unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Bemühungen um philosophische Aufarbeitung der Biowissenschaften systematisch erhellend wirken. Eine solche neue Aufmerksamkeit für Plessner wird allerdings nur in einer ersten Näherung wirklich im Bereich akademischer Detailfragen und spezifischer Sonderprobleme einer Philosophie der Biologie verbleiben können, womöglich in ihrer rein wissenschaftstheoretischen Ausprägung. Je weiter man in dieser Richtung vordringt, desto mehr ergibt sich mit der ansteigenden innerwissenschaftlichen Diversifizierung der einschlägigen Fachdisziplinen, mit der zunehmenden gesellschaftlichen Relevanz ihrer Erkenntnisse und Verfahren sowie mit der immer wieder formulierten Hoffnung auf biowissenschaftliche Rationalisierung umkämpfter kulturwissenschaftlicher Problemfelder auch ein Bedarf an solcher systematischen Reflexion über die Lebenswissenschaften, die deutlich über den engen Horizont einer Wissenschaftstheorie der Biologie hinausgreift – und ebenso bioethische Spezialdiskurse übersteigt. Näher betrachtet zeigt sich, dass die verschiedenen Disziplinen der Lebenswissenschaften – von der Gentechnologie bis zur kognitiven Neurowissenschaft – in den letzten Jahren vor allem deshalb zum Gegenstand öffentlicher und fachwissenschaftlicher Aufmerksamkeit geworden sind, weil sich an ihnen grundsätzliche Fragen darüber entzündeten, was Wissenschaft überhaupt ist oder sein kann, welchen Idealen und Zielen sie zu folgen hat, welche gesellschaftliche Funktion ihr zukommt und wo ihre Grenzen liegen. Angesichts neuer Forschungsansätze und technischer Möglichkeiten sowie unter Rücksicht auf vorliegende oder angekündigte empirische Befunde und theoretische Interpretationen geht es also vorrangig um die Deutungshoheit einzelner Wissenschaftszweige, um deren Rangfolge und Abhängigkeiten oder gar um die Auszeichnung von so genannten Leitwissenschaften. Mit diesem Aspekt des Themas bewegt man sich nicht nur in der Nachfolge des in den 1950er Jahren zwischen Charles P. Snow und
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Einleitung
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Frank R. Leavis entfachten Streits der Zwei Kulturen,2 sondern diese Kontroverse besitzt den Gestus einer grundsätzlichen Konfrontation von Natur- und Kulturwissenschaften, quasi ein ‚Kulturkampf‘ in der Qualität von Science Wars.3 Bei ausreichender historischer Sensibilität wird man allerdings schnell erkennen, dass diese Situation keinesfalls so neu ist, wie sie vielen aktuellen Protagonisten erscheint, sondern dass sie wichtige Parallelen in ähnlich gelagerten Kontroversen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts hat.4 Die sich spezialisierenden Naturwissenschaften positionierten sich in den Voten ihrer Leitfiguren wie Rudolf Virchow,5 Emil Du Bois Reymond,6 Hermann von Helmholtz7 2 3 4 5
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Vgl. H. Kreuzer (Hrsg.), Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die ‚zwei Kulturen‘, Stuttgart 1969; J. Halfmann, J. Rohbeck (Hrsg.), Zwei Kul turen der Wissenschaft revisited, Weilerswist 2007. Vgl. A. Ross (Hrsg.), Science Wars. Toward a critique of scientific rationality, Durham 1996; K. M. Ashman, P. S. Baringer (Hrsg.), After the Science Wars, New York 2001. Vgl. dazu auch K. Köchy, „Naturalisierung der Kultur oder Kulturalisierung der Natur? Zur kulturphilosophischen Abwehr der Geltungsansprüche der Naturwis senschaften“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 1/2011, S. 137-160. R. Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Uebergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter, Berlin 1893, S. 26: „Man begriff eben mehr und mehr, dass die Naturwissenschaft nur in der Beschäftigung mit der Natur selbst erfasst werden könne und dass zu einer dauernden Verbindung der Wissenschaft mit den realen Dingen grosse Anstalten erforderlich sind: Museen, Sammlungen, Laboratorien, Institute. […] Aus den Studirzimmern der Philosophen war kein Aufschluss über wirkliche Naturvorgänge hervorgegangen.“ E. Du Bois-Reymond, „Naturwissenschaft und bildende Kunst“ (1890), in: ders., Reden von Emil Du Bois-Reymond, 2 Bde., hrsg. von E. Du Bois-Reymond, Leipzig 1912, Bd. 2, S. 390-425, hier S. 392 f. betont „daß die Wissenschaft, indem sie dem menschlichen Geist die Herrschaft über die Natur verleiht, das absolute Organ der Kultur ist; daß ohne sie nie eine wahre Kultur geworden wäre, und daß ohne sie die Kultur samt der Kunst und ihren Werken jeden Tag wieder rettungslos versinken könnte, wie am Ausgang der antiken Welt.“ H. v. Helmholtz, „Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft“ (1862), in: ders., Das Denken in der Naturwissenschaft, Darm stadt 1968, S. 1-31, hier S. 16: „Ueberblicken wir nun die Reihe der Wissenschaften mit Beziehung auf die Art, wie sie ihre Resultate zu ziehen haben, so tritt uns ein durchgehender Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geis teswissenschaften entgegen. Die Naturwissenschaften sind zumeist im Stande ihre Inductionen bis zu scharf ausgesprochenen allgemeinen Regeln und Gesetzen durchzuführen, die Geisteswissenschaften dagegen haben es überwiegend mit Ur theilen nach psychologischem Tactgefühl zu thun.“ Damit ist Helmholtz wesentlich verbindlicher als etwa M. J. Schleiden (Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft (1844), hrsg. von O. Breidbach, Weinheim 1988, S. 18), der die induktorische Verfahrensweise der Naturwissenschaft gegen die dogmatische der Naturphilosophie setzte, und zwischen beiden Ansätzen einen „Kampf“ proklamierte,
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oder Wilhelm Ostwald8 gegen die Geisteswissenschaften und gegen die überkommene, als bloße Spekulation verstandene Naturphilosophie. Für die Geisteswissenschaften reagierte Wilhelm Dilthey9 mit dem Postulat eigenständiger Geltung geisteswissenschaftlicher Aufgabenfelder, indem er die nunmehr klassische Unterscheidung von Verstehen und Erklären einführte, welche Wilhelm Windelband10 mit seiner Gegenüberstellung von ideografischer und nomothetischer Wissenschaft in ein methodisches Ergänzungsverhältnis überführte. Unterschiedliche Monismen materialistischer, evolutionistischer oder energetischer Art suchten die Kontroversen einseitig zu lösen, indem sie alle Wissenschaft in eine auflösten, die ihrerseits dann als Weltanschauung übererfahrungswissenschaftlich wurde. In diesem Streit, bei dem es immer auch um die Stellung einzelner Fächer (etwa der Geschichtswissenschaft, der Psychologie aber auch der Biologie) im neuen Disziplinen-Gemisch ging, positionierte sich auch Plessner. Die Stufen des Organischen müssen so auch als Reaktion auf den „Erkenntnisfortschritt in den empirischen Seinswissenschaften“11 gelesen werden, in einer Phase, in der es so schien, als ob „die Naturwissenschaften nicht nur […] die einzig mögliche Erkenntnisweise der Natur, sondern die Natur geradezu […] das Ergebnis der Naturwissenschaft“12 seien. Die auf diese Entwicklung einsetzende Reaktion der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit beinhaltete dann eben auch die mit der Krisis der Wissenschaften verbundene Infragestellung ihrer Lebensbedeutsamkeit.13 Zentral dafür waren u. a. die
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der bis zur „völligen Vernichtung und Ueberwindung derer […] die dem Dog matisiren in Philosophie und Naturwissenschaft […] das Wort reden“ (ebd., 22) geführt werden müsse. W. Ostwald, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft, Leipzig 1909. W. Dilthey, „[Über Vergleichende Psychologie] Beiträge zum Studium der Indivi dualität“ (1895/96), in: ders., Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens (Gesammelte Schriften, Bd. 5), 7. Auflage, Göttingen 1982, S. 241-258, hier S. 242 ff. W. Windelband, „Geschichte und Naturwissenschaft“ (1894), in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, 2 Bde., Tübingen 1924, Bd. 1, S. 136-160, hier S. 144 f. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), in: ders., Ge sammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von G. Dux et al., Darmstadt 2003, S. 67. Ebd., S. 83. E. Husserl, Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936), hrsg. von W. Biemel, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, hrsg. von E. Ströker, Hamburg 1992, S. 3: „Vielleicht aber, daß uns doch von einer anderen Betrachtungsrichtung her, nämlich im Ausgang von den allgemeinen
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hochgradige Abstraktheit ihrer Produkte und die damit verbundene Distanzierung vom unmittelbar Erlebten, das sich nach Plessner keiner einzelwissenschaftlichen Begriffsbildung erschließt. Plessner geht es in diesem Zusammenhang darum, „den Dualismus zwischen Wissenschaft und Erkenntnistheorie produktiv zu überwinden“14 und so quasi die Philosophie selbst neu zu erfinden, die nun in der Lebenserfahrung von Kulturwissenschaft und Weltgeschichte wurzelt. Nichts weniger als eine „Neuschöpfung der Philosophie“15 mit den Mitteln der Phänomenologie ist das Ziel seines Ansatzes. Die dazu notwendige Grundlegung der Geisteswissenschaften durch die Hermeneutik, die anschließende Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie und die Durchführung dieser Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins bestimmen die drei Etappen von Plessners Strategie.16 In Ergänzung zur „horizontalen“ Betrachtung des Menschen im Kontext der kulturellen Welt seiner Taten und Leiden soll dazu auch eine „vertikale“ Ableitungsrichtung erschlossen und eröffnet werden, „die sich aus seiner naturgewachsenen Stellung in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen ergibt“.17 Indem der Mensch damit nicht nur als „Subjekt-Objekt der Kultur“, sondern eben auch als „Subjekt-Objekt der Natur“ in den Blick gerät, berücksichtigt man seine in der Lebenserfahrung bestätigte ambivalente Beziehung zur Welt, „naturgebunden und frei, gewachsen und gemacht, ursprünglich und künstlich zugleich“18 zu sein. Hiermit stellt sich, ergänzend zu der horizontalen Ableitungsrichtung der Ästhesiologie des Geistes, die Aufgabe einer angemessenen Aufarbeitung des zentralen Problems der psychophysisch
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Klagen über die Krisis unserer Kultur und von den dabei den Wissenschaften zu geschriebenen Rolle, Motive erwachsen, die Wissenschaftlichkeit aller Wissen schaften einer ernstlichen und sehr notwendigen Kritik zu unterwerfen, ohne darum ihren ersten, in der Rechtmäßigkeit methodischer Leistungen unangreifbaren Sinn von Wissenschaftlichkeit preiszugeben.“ Die hier zu thematisierenden Fragen be treffen auch nach Husserl u. a. die Zuständigkeit der ‚Körperwissenschaften‘ für „den Menschen als in seinem Verhalten zur menschlichen und außermenschlichen Umwelt frei sich entscheidenden, als frei in seinen Möglichkeiten, sich und seine Umwelt vernünftig zu gestalten“ (ebd., S. 4). H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 68. Ebd. Ebd., S. 68 f. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70 f.
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indifferenten „Einheit der menschlichen Person als Lebewesen“.19 In diesem Fragenkontext legitimiert sich die fundierende Rolle der Naturphilosophie, konkreter der Biophilosophie, für die Geisteswissenschaften: „Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen.“20 Während die Naturwissenschaft nach dieser Überlegung Plessners eine philosophische Begleitforschung ausschließlich nach Art der Wissenschaftstheorie benötigt, also in Form der Logik und Methodologie, ist die Geisteswissenschaft auf eine sie ergänzende Naturphilosophie angewiesen: „Wer da glaubt, daß mit Sprachphilosophie oder Kulturphilosophie die Sache gemacht ist, irrt sich ganz gewaltig […].“21 Die so entstehende Biophilosophie versteht sich als „Korrelationsstufentheorie von Lebensform und Lebenssphäre, die den pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebenstyp umfaßt“.22 Der Ansatz soll „den ganzen Umkreis der Existenz und der mit dem persönlichen Leben in selber Höhe liegenden, zu ihm in Wesenskorrelation stehenden Natur miteinbegreifen.“23 Mit diesem Anliegen ist Plessners Programm im Grunde synthetisch: „Wesentlich bleibt die durchgehende Tendenz nach einer Überwindung der fraktionierten Betrachtungsweise des Menschen in Philosophie, Biologie, Psychologie, Medizin und Soziologie […], die den Menschen spezialistisch vergegenständlichte und über diese Aufteilung in Seinsgebiete die Lebenseinheit aus den Augen verlor […].“24 Vor diesem Hintergrund hat sich das hier vorgelegte Projekt die Aufgabe gestellt, die verschiedenen thematischen Fäden aufzunehmen und zusammenzuführen, die die Konzeption und die Konstellation von Plessners Stufen des Organischen als einen Versuch der Neubegründung der Philosophischen Anthropologie durch Integration und fruchtbaren Dialog verschiedener Wissenschaftskulturen verständlich machen. Der methodische Ansatz für diese neue Lesbarmachung Pless ners greift dazu an der grundsätzlich ,dialogischen‘, die Fächergrenzen transzendierenden Konzeption von Plessners Programm an. ‚Dialogisch‘ ist dabei durchaus auch im übertragenden Sinne zu verstehen, meint also nicht nur wirkliche, sondern auch mögliche Kontaktzonen 19 20 21 22 23 24
Ebd., S. 75. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd., Vorwort zur ersten Auflage, S. 10. Ebd., S. 65. Ebd., S. 76 f.
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und Gesprächsbezüge, selbst wenn ein unmittelbarer Austausch zwischen den Akteuren historisch nicht bestanden hat. Der ‚dialogische‘ Ansatz umfasst auch den virtuellen Dialog, die intellektuellen Bezugnahmen im Rahmen des ‚Zeitgeistes‘ – und beinhaltet somit Rückbezüge und Wechselwirkungen zwischen Plessner und Denkern wie Viktor von Weizsäcker oder Hans Jonas. Ebenso werden weitgehend parallel verlaufende Entwicklungen, wie die Überlegungen von Helmuth Plessner und Martin Heidegger, zu ihrem dialogischen Potenzial befragt. Ausgedrückt werden sollen mit diesem Ansatz vorrangig die Bezugnahmen Plessners auf die Debattenlage in Natur- und Kulturwissenschaften als ein Versuch zur Vermittlung zwischen den Wissenschaftskulturen mit den Mitteln der Naturphilosophie, ohne dass das hier vorgelegte Material einen Anspruch auf Vollständigkeit erhöbe. Weitere und ergänzende Positionen in diesem Netzwerk von Bezügen sind denkbar. Unser Blick ist auf zeitgenössische Konstellationen gerichtet, blendet also bewusst andere Konstellation in der Welt der Ideen mit intellektuellen ‚Gesprächspartnern‘ wie Aristoteles, Kant oder Hegel aus. Es geht uns vor allem darum, die zeitgenössische Debatte um die zwei Kulturen durch die ‚Brille‘ von Plessners Ansatz und vor dem Hintergrund von dessen Rolle in diesem Diskurs zu rekonstruieren. Mit diesem Versuch wollen wir auch ein neues Lesemodell von dessen Stufen des Organischen liefern. Die multidialogische Darstellung, die durch unser Vorgehen entsteht, macht zugleich deutlich, dass das synthetische Anliegen Plessners gerade nicht am Ideal einer Einheitswissenschaft ausgerichtet ist, sondern vielmehr die Pluralität der Einzelwissenschaften und die jeweilige Eigenständigkeit fachwissenschaftlicher Zugänge zur Geltung kommen lässt.25 Indem die Bezugnahmen und Abgrenzungen Plessners auf Philosophen einerseits und auf Naturwissenschaftler andererseits dazu verwendet werden, gleichermaßen den Kontext zu zeigen, in dem Plessners Überlegungen stehen und gewachsen sind, wie auch dessen vielfältige Facetten und Kernannahmen zu erläutern, ermöglicht unser Ansatz eine organisch-ganzheitlich Betrachtung von Plessners Philosophie des Organischen. Sie geht gleichzeitig „über das Konzept hinaus“, zeichnet dessen intellektuelles Positionsfeld nach, als auch „in das Konzept hin25 Zum Kontext vgl. u. a. K. Köchy, „Vielfalt der Wissenschaften bei Carnap, Lewin und Fleck. Zur Entwicklung eines pluralen Wissenschaftskonzepts“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 1/2010, S. 54-80.
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ein“, sucht deren originäres Anliegen zu bestimmen. Auf diese Weise soll auch eine multiperspektivische Würdigung von Plessners biophilosophischer Schrift entstehen. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben diese Programmvorgabe in der Umsetzung ihrer Beiträge übernommen und diese kenntnisreich und konstruktiv umgesetzt. Sie haben so die entstehenden Verweisungsbeziehungen nachgezeichnet, um eine Einbindung und Abgrenzung von Plessners Überlegungen zu wichtigen Zeitgenossen aus Naturwissenschaft und Philosophie zu demonstrieren. Hierbei haben sie sowohl die historischen Bedingungen dieser Bezüge als auch deren systematische Bedeutung (für Plessners Philosophie und/oder für die in ihr behandelte Fragestellung) hervorgehoben. Damit ist – so hoffen wir, gemeinsam mit allen Autoren – eine neue, historisch sensible und dennoch für aktuelle Problemlagen systematisch fruchtbar zu machende Relektüre von Plessners Stufen des Organischen entstanden. In einer ersten Sektion wurde dazu Plessner im Kontaktschluss mit den Naturwissenschaften vorgestellt: Kristian Köchy geht in seinem Beitrag davon aus, dass die intensive Auseinandersetzung mit den Überlegungen des Biologen Jakob von Uexküll zentrale Punkte von Plessners Schrift erläutert. Die wesentlichen Übernahmen und Abgrenzungen, die Plessner in den Stufen des Organischen bei der Rezeption von Uexküll vornimmt, erlauben eine Deutung von Plessners Biophilosophie als Erweiterung und Überwindung des Uexküll-Programms. Dieses wird nicht nur in zentralen Überlegungen zur offenen und geschlossenen Organisationsform von Pflanze und Tier deutlich, sondern es zeigt sich an nahezu allen zentralen Annahmen von Plessners Konzept. Uexkülls Lebensplanforschung, deren Maximalumsetzung einen Verzicht auf Aussagen über die Psyche von Lebewesen bedeuten würde, gewinnt Plessner „eine andere Seite“ ab. Demnach steht das Konzept des Lebensplans für die Einheit von externer Reizsituation und der Antwortreaktion des Organismus. Wegen der übersummenhaften Qualität dieser Einheit verbieten sich sowohl deren einseitige Reduktion als auch deren dualistische Spaltung. Aus dieser Einsicht leitet Plessner seinen zentralen Gedanken ab, die Planformen des Lebens oder Vitalkategorien, welche sowohl die Organisationsideen des Organismus als auch der auf ihn relativen Umwelt betreffen, müssten den Kern der philosophischen Biologie ausmachen. In seiner spezifischen Auseinandersetzung mit Uexkülls
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Umweltbegriff und dem ihn kontrastierenden Weltbegriff, die Pless ner noch in der späten Schrift „Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen“ (1950) beschäftigen, formuliert Plessner dann eine von Uexküll abweichende Antwort zur Sonderstellung des Menschen. Ralf Becker rekonstruiert in seinem Aufsatz die zwei Jahrzehnte lang andauernde enge Zusammenarbeit Helmuth Plessners mit dem niederländischen Verhaltensbiologen F. F. J. Buytendijk. In deren drei wichtigsten Gemeinschaftsarbeiten „Die Deutung des mimischen Ausdrucks“ (1925), „Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows“ (1935) und „Mensch und Tier“ (1946) werden nicht nur biophilosophische Grundlagenprobleme der Verhaltensbiologie thematisiert, sondern es werden auch die Grundzüge einer gemeinsamen Haltung zu Grundfragen von Philosophie und Wissenschaft der Zeit deutlich. Ohne die inhaltlichen Differenzen zwischen den Philosophien beider Denker auszuklammern, die sich im Wesentlichen aus der je spezifischen Funktion zweier Grundbegriffe – bei Plessner ist es die Positionalität, bei Buytendijk (von Scheler beeinflusst) die Liebe – ergeben, versteht Becker beide Philosophen als Weggefährten in Richtung auf das gemeinsame Ziel einer „Logik der lebendigen Form“. „Eine solche Logik“, so Becker, „kann es aber nur geben, wenn das Leben Logos besitzt, das heißt einen Sinn (Gerichtetheit) hat, um dessen Verständnis man sich mühen kann.“ Georg Toepfer zeigt in seinem Beitrag, wie die naturphilosophischen Arbeiten Hans Drieschs ohne Zweifel als bedeutsame Bezugspunkte für Plessners Überlegungen begriffen werden können, was insbesondere in seinen frühen anthropologischen Schriften und in den Stufen des Organischen deutlich wird. Offensichtlich wird dieses in der Benutzung und Umformung von zentralen Begriffen aus Drieschs Philosophie und Biologie (wie die Begriffe „Ganzheit“ oder „harmonische Äquipotentialität“). Jene Begriffsadaption lässt allerdings nicht den Rückschluss einer engen gegenseitigen Beeinflussung zu: Driesch geht in seinen Schriften mit Ausnahme einiger weniger kritischer Anmerkungen nicht auf die Arbeiten seines ehemaligen Schülers Plessner ein. Dieses erklärt sich durch die divergenten Zielsetzungen beider Denker: Während Drieschs Interesse wesentlich auf die Naturphilosophie beschränkt bleibt, bildet für Plessner die Naturphilosophie den Rahmen für die Entwicklung einer anthropologischen Position. Ungeachtet dieser inhaltlichen und gleichsam substantiellen Differenzen eint beide Denker jedoch nach Toepfer ein gemeinsamer Fehler: Driesch und Plessner stehen gemeinsam für die philosophische
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Ungeduld, die naturwissenschaftliche Aufarbeitung des Lebensproblems nicht abwarten zu können. „Driesch“, so Toepfer, „postuliert vorschnell nichtphysikalische Kräfte, die im Bereich des Lebendigen wirken sollen, Plessner gibt vorschnell die Möglichkeit auf, über systemische Prinzipien auf Ebene der kausalen Struktur von Organismen ihre Eigenart zu charakterisieren und nimmt stattdessen Zuflucht zu einer zwar empirisch informierten, aber doch apriorisch verfassten, rein naturphilosophischen Ebene.“ Wie Vallori Rasini in ihrem Beitrag deutlich macht, gab es zwischen Helmuth Plessner und dem Mediziner Viktor von Weizsäcker nie einen direkten Austausch. Allerdings sind die vielen Parallelen in ihren Ansätzen und die deutlichen Überschneidungszonen ihrer jeweiligen philosophischen Perspektiven auf die Lebewesen nicht zu übersehen. Beide Philosophen unterstreichen in ihren Überlegungen die prozessuale und polare Struktur des Organischen. Der dialektische oder „antinomische“ Charakter des Lebens – in Weizsäckers Worten „pathisch“, in Plessners „positional“ – wird so zum entscheidenden Unterscheidungsmerkmal von Lebewesen und unbelebten physikalischen Körpern. Beide Ansätze trennt jedoch ein grundlegender Aspekt, der in erster Linie das Lebewesen „Mensch“ betrifft: Während sich im geistigen Entwurf Weizsäckers der Mensch isoliert und monadenhaft in seiner „pathischen“ Dimension isoliert, ist die exzentrische Positionalität Plessners schon von vornherein auf eine „Mitwelt“ hin angelegt. Damit bietet Plessners Ansatz dem Menschen nach Rasini „die Chance die Einsamkeit der Individualität zu überwinden und an das soziale Leben zu glauben.“ In detaillierter Analyse beschäftigt sich Oreste Tolone in seinem Beitrag mit den verschiedenen Etappen des Dialoges zwischen Helmuth Plessner und dem Schweizer Biologen Adolf Portmann, der sich über viele Jahrzehnte bis zur zweiten Auflage der Stufen des Organi schen im Jahr 1966 erstreckt. Im Anschluss an eine Phase, in der einseitig vor allem Portmann durch Plessners Überlegungen beeinflusst war, und dieser in seine Zoologie philosophische Konzepte (wie Plessners Idee der Grenze oder das von Plessner und Buytendijk stammende Konzept der Expressivität aller Lebewesen) einführte, intensivieren sich Ende der 1950er Jahre die Wechselwirkungen zwischen beiden Denkern. Nun ist es auch Plessner, der Portmanns biologische Befunde in seine Philosophie übernimmt und die Stufen des Organischen im Lichte von Portmanns Theorie des extra-uterinen Frühjahrs liest. Plessner verwendet Portmanns Überlegungen als biologische Legitimation
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seiner Theorie der exzentrischen Positionalität, allerdings ohne dass mit diesem Rekurs eine Naturalisierung seines Ansatzes verbunden wäre. Die folgende Untersuchung von Gerald Hartung ist einer wissenschaftlichen Programmatik gewidmet, die bisher nur wenig Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit Plessners Philosophie erfahren hat. Ein Desiderat, das insofern unverständlich ist, als diese Beziehung eigentlich unverzichtbar ist, will man die Hauptthesen der Stufen des Organischen verstehen. Hartung wendet sich deshalb dem Verhältnis von Plessners Philosophie zu den Konzepten, Befunden und Hauptvertretern der Gestaltpsychologie zu. Vermittels einer detaillierten Rekonstruktion der Kontroverse um den Status der Psychologie im 19. Jahrhundert werden die Entwicklungen und Grundannahmen der Gestaltpsychologie vorgestellt. Hartung kann so die These belegen, dass in der philosophischen Anthropologie Plessners ein Grundproblem der Gestaltpsychologie reformuliert und transformiert wurde, nämlich die These von der Übersummenhaftigkeit der Gestalt. Plessners Auseinandersetzung mit dieser Annahme enthält „die Begründungsstrukturen seiner philosophischen Anthropologie“. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet lautet die zentrale These der Stufen des Organischen: „Allein am Menschen als dem über-gestalthaften und der Gestaltwahrnehmung empfänglichen, lebendigen Körper wird eine ontologische Differenz (‚Seinsunterschied‘) sichtbar, insofern sie in der Objektivation einer besonderen Seinsweise (exzentrisch) erfahrbar wird. “ In einer ergänzenden zweiten Sektion werden dann die Bezugnahmen Plessners mit zeitgenössischen Philosophen in den Blick genommen: Heike Delitz gelingt es in ihrem Beitrag, durch eine nuancierte Aufarbeitung der möglichen Dialogzonen zwischen Helmuth Plessner und Henri Bergson, die Komplementarität und Ergänzung dieser beiden philosophischen Projekte aufzuzeigen. Trotz einiger abgrenzender Bemerkungen Plessners verbindet ihn mit Bergson die gemeinsame Ausrichtung auf eine (Lebens-)Philosophie des Werdens, deren Prozessansatz sich von klassischen Konzepten statischen Seins unterscheidet. Während in Plessners Ansatz diese Überlegung jedoch eher in der Dimension des Räumlichen zum Ausdruck kommt, er insofern ein „Raumdenker, der Denker der Grenze, der Positionalität“ war, ist Bergsons verwandtes Projekt eher an der Dimension der Zeit ausgerichtet. Die Unterscheidung des Anorganischen vom Organischen sowie der Lebensformen erfolgt hier in Zeitbegriffen entlang der Temporalität.
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Mathias Gutmann und Benjamin Rathgeber wenden sich mit einer systematischen These dem Verhältnis von Helmuth Plessner und Georg Misch zu. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Ansätzen zeigt sich für beide Autoren bereits in der Tatsache, dass Plessner sein systematisches Projekt als Philosophische Anthropologie, Misch hingegen als Hermeneutische Logik umsetzen möchte. Während Misch in seinem Ansatz ein vertieftes Verständnis für die Bedingungen der Sprache und die Konsequenzen des linguistic turns zum Ausdruck bringt, verbleibt Plessner Untersuchung weitgehend im ontologischen Modell und ist vor allem Phänomenen des Vor- und Außersprachlichen gewidmet. Misch ist so in der Lage, auf ein Problem zu reagieren, das Plessners Projekt im Ansatz in die Gefahr des Scheiterns bringt. Dieses Problem betrifft den Status der Biophilosophie, die einerseits ihre Eigenständigkeit gegenüber der positiven Wissenschaft zu wahren hat, die aber andererseits ihre Relevanz für biowissenschaftliche Befundlagen zeigen muss. Nach Gutmann und Rathgeber scheitert Plessners Programm an dieser Aufgabe vor allem deshalb, weil es die sprachkritische Reflexion über die eigenen begrifflichen Mittel vernachlässigt, während Mischs Strategie, die Hermeneutische Logik zu einer Hermeneutik des Lebens zu erweitern, in dieser Hinsicht vielversprechender ist. Matthias Wunsch verweist in seinem Beitrag auf die Reziprozität des Dialoges zwischen Helmuth Plessner und Nicolai Hartmann, einem Philosophen, dem ähnlich wie Plessner insbesondere in den letzten Jahren neue Aufmerksamkeit zuteil wird und dessen Überlegungen eine Reaktualisierung erfahren. Trotz der vielen inhaltlichen Differenzen in ihren philosophischen Positionen standen Plessner und Hartmann seit ihrem ersten Kennenlernen im Jahr 1924 in einem „produktiven systematischen Wechselverhältnis“. Einerseits lassen sich grundlegende Gedanken der von Plessner in Die Stufen des Orga nischen konzipierten Philosophischen Anthropologie von Hartmanns Neuer Ontologie her entwickeln und unterstützen, andererseits finden sich in Hartmanns Überlegungen zum Problem des geistigen Seins wesentliche Grundzüge von Plessners philosophischer Anthropologie wieder. Das hat für Wunsch zur Folge, dass es nicht so sehr darum geht, eine Entscheidung zwischen zwei verschiedenen philosophischen Projekten zu treffen und so die Frage „Plessner oder Hartmann?“ zu stellen, sondern dass vielmehr versucht werden sollte, „Grundlagen für die systematische Anknüpfung an Plessner und Hartmann zu schaffen“.
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Den unübersehbaren Gemeinsamkeiten ist auch Joachim Fischers Beitrag zum Verhältnis von Helmuth Plessner und Max Scheler gewidmet, ganz im Gegensatz zu vielen Rekonstruktionen, die sich auf die naheliegenden Unterschiede zwischen beiden Ansätzen konzentrieren. Fischer rekonstruiert so die „Parallelaktion“ der Stufen des Organi schen und der Stellung des Menschen im Kosmos. Deren gemeinsamer Gegner ist der cartesianische Dualismus und die sie einende Zielsetzung ist es, eine „Philosophie des Lebendigen als Brückenkopf für eine Philosophie des Menschen ‚sorgfältig auf- und einbauen‘“. Fischer untersucht so die Folgen und Funktionen der bei Plessner und Scheler entwickelten philosophischen Biologie für die philosophisch-anthropologische Aufklärung von Phänomenen der menschlichen Lebenswelt. Die Grundthese Fischers ist, dass sowohl bei Plessner als auch bei Scheler „Figuren der Ontologie des Organischen ihre jeweiligen sozial- und kulturwissenschaftlichen Erschließungen präfigurieren – die Rollenhaftigkeit und Darstellungsverwiesenheit menschlicher Existenz, Weinen und Lachen als spezifisch körperliche Krisenreaktionen des Geistes (Plessner), die heterogene Triebstruktur menschlicher Kultur- und Wissensstabilisierung (Scheler)“. In ihrem Beitrag widmet sich Karen Joisten der häufig zitierten Bemerkung Plessners am Ende des ersten Vorworts seiner Stufen des Organischen, wonach sich der Mensch „weder der Nächste noch der Fernste“ sei. Mit dieser These, so steht zu vermuten, möchte Plessner eine Gegenposition zu Heideggers Existenzanalytik formulieren. Die Autorin hingegen versucht mithilfe einer Rekonstruktion beider Positionen zu zeigen, dass Plessners These im Grunde genommen nicht als ein Gegenpol zu Heideggers Theorie des Daseins begriffen werden kann. Für Joisten geht es deswegen weniger darum, eine Kontrastierung der beiden philosophischen Projekte zu konturieren um letztlich einen der beiden Standpunkte zu verteidigen. Das Hauptaugenmerk ihres Beitrages richtet sich vielmehr darauf, beide Theorien aufeinander zu beziehen und die Kompatibilität dieser Ansätze herauszustellen. Für Francesca Michelini ist es erstaunlich, dass es trotz zahlreicher Konvergenzen und inhaltlicher Nähen, die zwischen den „Philosophien des Lebendigen“ von Helmut Plessner und von Hans Jonas nachweislich existieren, kaum einen direkten Einfluss oder einen wissenschaftlichen Austausch zwischen diesen beiden Philosophen gegeben zu haben scheint. Insbesondere hat Hans Jonas, dessen Werk erst viele Jahre nach der ersten Ausgabe von Plessners Stufen des Organischen erschienen ist, nie offen eingestanden, was er Plessner oder allgemei-
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ner der philosophischen Anthropologie verdankt. Ziel der Untersuchung von Michelini ist es deshalb, den Gründen für dieses Schweigens nachzugehen. Dafür orientiert sie sich allerdings nicht – wie es der vorrangige Ansatz der wenigen Literatur zum Thema ist – an den biographischen Umständen, der Annahme einer starken Ichbezogenheit von Jonas, oder der Überlegung, Jonas hielte es möglicherweise für überzogen, sich auf Plessner zu berufen. Ihr Ansatz geht vielmehr davon aus, dass die philosophische Unternehmung von Hans Jonas eher als eine Vervollständigung oder besser Ausdehnung der Philosophie Heideggers zu verstehen ist, und nicht als eine Reflexion, die unmittelbar an die Überlegungen der deutschen philosophischen Anthropologie und damit auch Plessners anknüpft. Diese These wird am Beispiel von zwei grundlegenden Themen untersucht: dem der Ontologie und dem der Sterblichkeit. Allen Beiträgern dieses Bandes sei ganz herzlich für ihre so fruchtbare Mitarbeit am Projekt einer Relektüre von Plessners Stufen des Orga nischen gedankt. Kassel im Frühjahr 2015, Kristian Köchy und Francesca Michelini
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I. Helmuth Plessner im Dialog mit den Naturwissenschaften
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Helmuth Plessners Biophilosophie als Erweiterung des Uexküll-Programms
Die umfängliche und systemkonstituierende Bezugnahme auf die Ge danken des Biologen Jakob von Uexküll1 durch Helmuth Plessner2 erfolgt in den Stufen des Organischen auf den ersten Blick schwerpunktmäßig im Zusammenhang mit der Charakterisierung der tieri1
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Die Leitbildfunktion von Uexkülls Überlegungen für die Grundpositionen der phi losophischen Anthropologie ergibt sich aus der entsprechend zentralen Auseinan dersetzung mit den Gedanken des Biologen. So bei M. Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), hrsg. M. S. Krings, 14. Auflage, Bonn 1998, S. 38 ff.; M. Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, in: ders., Vom Umsturz der Werte, 5. Auflage, Bern, München 1972, S. 142 ff.), E. Cassirer (An Essay on Man (1944), New Haven, London 1992, S. 23 ff.; E. Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. von J. M. Krois und O. Schwemmer, Hamburg 1995, S. 36 ff., hier insb. S. 41 ff.) und A. Gehlen (Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 14. Auflage, Wiebels heim 2004, S. 73 ff.). Selbst der gegenüber der philosophischen Anthropologie zu rückhaltende M. Heidegger (Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlich keit – Einsamkeit, Freiburger Vorlesung 1929/30, Frankfurt a. M. 2010, S. 284 ff.) räumt Uexküll viel Platz in seinen Ausführungen ein. Vgl. auch die Überlegungen von G. Canguilhem, „Das Lebendige und sein Milieu“, in: ders., Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 233-280, hier S. 261 ff. Zur Rezeption von Uexküll vgl. auch T. Kessel, Phänomenologie des Lebendigen. Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie, Freiburg, München 2011, S. 198 ff.; B. Buchanan, OntoEthologies. The Animal Environments of Uexküll, Heidegger, Merleau-Ponty, and Deleuze, New York 2008. Plessner und Uexküll sind offensichtlich in Heidelberg zusammengetroffen. Pless ner hatte hier von 1910–1914 u. a. bei Bütschli, Herbst, von Buddenbrock und Driesch Zoologie studiert (vgl. H. Plessner, „Selbstdarstellung“, in: ders., Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie. Gesammelte Schriften, Bd. 10, hrsg. von G. Dux et. al., Darmstadt 2003, S. 302-341, hier S. 304 ff.). Uexküll war als Schüler von W. Kühne von 1890–1914 immer wieder am Physiologischen Institut in Heidelberg, wo er 1907 den Ehrendoktortitel erhielt (G. v. Uexküll, Jakob von Uexküll. Seine Welt und seine Umwelt, Hamburg 1964, S. 38 ff.). Plessner nimmt in seiner „Selbstdarstellung“ (ebd., S. 315 f.) darauf Bezug, indem er anlässlich eines Zusammentreffens der beiden in Dorpat im Jahr 1917 notiert, Uexküll habe sich seiner noch aus der Heidelberger Zeit erinnert.
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schen Organisationsform. Indem Plessner diese als geschlossene Organisationsform der offenen Organisationsform der Pflanzen gegenüberstellt, rückt er die besonderen Formgesetze der tierischen Lebensweise unter jeweiliger Rücksicht auf die resultierenden Umweltbeziehungen in den Vordergrund seiner Betrachtung. Bereits mit dieser konzeptionellen Ausrichtung ergibt sich der notwendige immanente Bezug auf Uexkülls Umweltlehre. Dabei werden die wesentlichen Übernahmen und Abgrenzungen, die Plessner in seiner Rezeption von Uexküll vornimmt, vor allem in den Spezifizierungen der tierischen Formenlehre zum dezentralistischen und zentralistischen Organisationstyp deutlich. Die für das Verständnis von Plessners Hintergrundmodell notwendigen Erläuterungen müssen jedoch systematisch eindeutig früher ansetzen. Hierzu gilt es nicht nur das Verhältnis von Organismen zu ihren Umwelten im Allgemeinen zu klären, sondern auch die Frage nach der Konstituierung dieser Organismen als grenzrealisierende Einheiten zu würdigen, womit man bei den Grundannahmen von Plessners Biophilosophie angelangt wäre. Nach den Grundannahmen dieser Biophilosophie zeichnet Lebewesen nicht nur ein komplexes Teil-Ganzes-Verhältnis der inneren Organisation aus, das übergestalthafte, ganzheitliche Qualitäten aufweist,3 sondern in eins damit ist auch ein spezifisches Verhältnis zu ihrer Umwelt gegeben, das in einer Daseinsweise gründet, die Plessner im Begriff der ‚Positionalität‘4 zu fassen sucht. Die damit implizierte aktive Rolle von Lebewesen bei der Gestaltung ihrer Umwelten sowie der Verweis in Richtung auf einen Subjektstatus des Lebendigen ergeben weitere Bezüge zu Uexküll. Gerade für die Entwicklung dieses biophilosophischen Grundgedankens, der als anschauliche Präzisierung der ‚Doppelaspektivität‘5 verstanden werden muss, greift Plessner zudem auf die Methodendebatten der Erfahrungswissenschaften seiner Zeit zurück, die dann einen weiteren deutlichen und wesenhaften Bezug zu Uexkülls Reflexionen über den methodischen Status von Tierpsychologie und Umweltlehre ergeben. Diese vielfältige und fundierende Funktion von Uexkülls Lehre für
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Vgl. K. Köchy, „Organismen und Maschinen. Das historische Fallbeispiel der Debatte von Plessner, Driesch und Köhler“, in: G. Toepfer, F. Michelini (Hrsg.), Organismus. Die Erklärung der Lebendigkeit, Freiburg, München 2015 (im Druck), 25 Seiten. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso phische Anthropologie (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von G. Dux et al., Darmstadt 2003, S. 184. Ebd., S. 149 ff.
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Plessners Überlegungen soll im Folgenden eng an dem Argumentationsgang Plessners entwickelt werden.
1. Methodenfragen: Der nichtdualistische Ansatz und das Uexküllprogramm Plessners Überlegungen zum besonderen Status von Lebewesen als einer speziellen Art von Naturdingen erklären sich zunächst über dessen Abgrenzungsbemühung gegen den Cartesianischen Dualismus. Plessner bringt seine antidualistische Haltung insbesondere im Konzept der ‚Doppelaspektivität‘ zum Ausdruck. Bereits auf dieser Ebene grundlegender philosophischer Standortbestimmungen ergeben sich systemkonstituierende Bezüge zu Uexküll. Plessners Kritik an Descartes setzt nicht unmittelbar an den ontologischen Konsequenzen des Dualismus an, sondern richtet sich vorrangig auf die methodologischen Implikationen und Umdeutungen, die aus dem ontologischen Modell im Laufe des 19. Jahrhunderts abgeleitet wurden.6 Man habe die Cartesianischen Vorgaben zu den leitenden Erkenntnisprinzipien der Erfahrungswissenschaften erklärt und damit Engführungen erzeugt, die den Gang der Erkenntnis in den Fachwissenschaften hemmten. So sei aus der Identifikation von Körperlichkeit mit quantifizierbarer Ausdehnung die mathematischmechanische Messung als einzig legitime Methode zur Darstellung physischer Dinge abgeleitet worden. Analog dazu habe man aus der Identifikation von Denken mit qualitativer Innerlichkeit die exponierte Bedeutung einer gegenüber dem Äußeren abgeschotteten Selbststellung (und Selbsterfassung) im Sinne introspektiver Selbstbeobachtung geschlossen. Somit stehen sich eine am Leitbild der Physik ausgerichtete Naturwissenschaft und eine am Leitbild introspektiver Selbsterfahrung orientierte Geisteswissenschaft unvermittelt gegenüber.7 Insbesondere in der Psychologie – so zeigen es die Methodende-
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Ebd., S. 78 ff. So hatte C. Siegel (Geschichte der deutschen Naturphilosophie, Leipzig 1913, S. VII) die Möglichkeit einer methodisch von der Naturwissenschaft abweichenden Naturphilosophie (metaphysische Naturphilosophie) bestimmt, die statt auf Sinneswahrnehmung auf die „Selbstbeobachtung“ setzt und mittels Analogieschlüssen versucht, diese auch für andere Bereiche der Natur fruchtbar zu machen.
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batten seit Windelband und Dilthey8 – schlägt sich dieser Dualismus der Methodologien negativ nieder, aber auch die Biologie der Zeit steht der Reduktion auf physikalisch-messende Verfahren in Teilen skeptisch gegenüber.9 Zugleich besteht die große Frage darin, ob eine aus der Selbstbeobachtung abgeleitete Erkenntnis für biowissenschaftliche Forschungen überhaupt fruchtbar gemacht werden kann. Plessners Interesse als ehemaliger Biologe10 ist dabei auch wegen der speziellen Ausrichtung seiner Leib und Seele umgreifenden nichtdualistischen Biophilosophie insbesondere auf die Zusammenführung der Ansätze von Biologie und Psychologie in der Vergleichenden Psychologie sprich der biologischen Verhaltenslehre oder Tierpsychologie gerichtet, ein Forschungsfeld, zu dem er selbst in Kooperation mit F. J. J. Buytendijk einen konzeptionellen Beitrag geleistet hat.11 Dieses Gebiet bestimmt zur Zeit von Plessners Schrift (ebenso wie die Debatten in der Entwicklungsbiologie zwischen Neovitalisten und Mechanisten, an denen Plessner in seiner Auseinandersetzung mit den Gedanken Drieschs partizipierte, oder die Streitzonen zwischen darwinistischen oder lamarckistischen Evolutionstheorien12) einen über fachwissen8 So etwa W. Windelband, „Geschichte und Naturwissenschaft“ (1894), in: ders., Prä ludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Tübingen 1924, Bd. 1, S. 143; W. Dilthey, „[Über vergleichende Psychologie] Beiträge zum Studium der Individualität“ (1895/96), in: ders., Die Geistige Welt, Gesammelte Schriften, Bd. 5, 7. Auflage, Göttingen 1982, S. 243 und S. 255. 9 Für Uexküll (Theoretische Biologie, nach der 2. Auflage 1928, Frankfurt a. M. 1973, S. 95) allerdings unterscheiden sich Physik und Biologie vor allem darin, dass es für die Physik nur eine einzige wirkliche Welt gibt, während der Biologe behauptet, es gäbe ebenso viele Welten wie Subjekte. Die Physik sei dennoch als ein „rechnerisch wertvolles Hilfsmittel“ für biologische Fragen einzuschätzen. Skeptischer gegenüber dem vermittels physikalischer Begriffe transportierten „Nimbus der ‚Exaktheit‘“ äußert sich F. J. J. Buytendijk (Wege zum Verständnis der Tiere (1938), Zürich, Leipzig o. J., S. 46), der in Abgrenzung vom klassisch anorganischen Kristallparadigma formuliert: „Die lebende Form ist eine innerhalb gewisser Grenzen variable, nicht eine mathematisch invariable wie jene der Kristalle.“ (Ebd., S. 43) 10 Vgl. H. Plessner, „Selbstdarstellung“, S. 304 ff. 11 Vgl. u. a. H. Plessner (und F. F. J. Buytendijk), „Die Deutung des mimischen Aus drucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von G. Dux et al., Darmstadt 2003, S. 71-129; vgl. auch den Beitrag von Becker in diesem Band. 12 Vgl. P. J. Bowler, The Eclipse of Darwinism. Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades Around 1900, Baltimore 1983. Vgl. auch E. Radl, Geschichte der biolo gischen Theorien in der Neuzeit (1909), Hildesheim, New York 1970, Bd. 2, S. 439 ff. Zu den philosophischen Implikationen in Deutschland vgl. etwa E. Dacqué, Der Descendenzgedanke vom Altertum bis zur Neuzeit, München 1903; A. Pauly, Dar
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schaftliche Gesichtspunkte hinausreichenden Grundlagenstreit, der insbesondere auf die methodischen und epistemologischen Möglichkeiten und Grenzen der Tierpsychologie gerichtet ist.13 Nach der obigen Dichotomie und dem aus ihr resultierenden Methodendualismus ergibt sich für den wissenschaftlichen Zugang zu anderen Lebewesen nur die Möglichkeit ihrer physikalisch-messenden Erfassung als ausgedehnter Dinge im Raum. Eine genuin psychologische Erfassung des möglichen seelischen Innenlebens anderer Lebewesen scheint hingegen ausgeschlossen: „Da uns der direkte Zugang zum Innenleben, wie ihn […] die sprachliche Verständigung mit dem andern Menschen gewährt, gegenüber Tier und Pflanze verwehrt ist, sollten wir uns hier mit einem Ignorabimus bescheiden. […] Infolgedessen forderten Forscher wie Beer, Bethe und v. Uexküll eine objektive, alle Anlehnungen an psychologische Begriffe meidende Terminologie der Lebensforschung. Uexküll besonders statt Tierpsychologie Biologie als eine die objektiv kontrollierbaren Zuordnungen von Reiz und Reaktion im Bauplan des jeweiligen Tieres feststellenden Wissenschaft.“14 Zugleich räumt Plessner jedoch ein, dass diese Konsequenz davon abhängt, ob man das „Uexküllprogramm“15 als Maximal- oder als Minimalprogramm verstehe. Ein Maximalprogramm müsste tatsächlich im genannten Sinne alle Fragen der Tierpsychologie als Probleme der winismus und Lamarckismus. Entwurf einer psychophysischen Teleologie, München 1905; O. Prochnow, „Die Theorien der aktiven Anpassung mit besonderer Berücksichtigung der Deszendenztheorie Schopenhauers“, in: Annalen der Natur philosophie. 1. Beiheft, Leipzig 1910. 13 Vgl. I. Jahn, U. Sucker, „Die Herausbildung der Verhaltensbiologie“, in: I. Jahn (Hrsg.), Geschichte der Biologie, 3. Auflage, Heidelberg, Berlin 2000, S. 580-600; Den zeitgenössischen Diskurs bestimmen etwa W. Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und die Tierseele (1863), 7. und 8. Auflage, Leipzig 1922; A. Romanes, Animal intelligence, New York 1883; C. L. Morgan, An Introduction to comparative psychology, London 1903; H. Jennings, Behaviour of the lower organisms, New York 1906; J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909; H. Fabre, Souvenir entomologiques, Paris 1910, 10 Bde.; J. Loeb, Forced Movements, tropism and animal conduct, London 1919; K. Lutz, Tierpsychologie. Eine Einführung in die vergleichende Psychologie, Leipzig, Berlin 1923; M. F. Washburn, The animal mind, New York 1926. Später als Plessners Stufen des Organischen sind F. Alverdes, Die Tierpsychologie in ihrer Beziehung zur Psychologie des Menschen, Leipzig 1932; F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere; H. M. Peters, Grundfragen der Tierpsychologie, Stuttgart 1948. 14 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 106 f. 15 Ebd., S. 107.
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Reiz- und Bewegungsphysiologie verstehen, womit dann die Tierpsy chologie als Wissenschaft vom Innenleben der Tiere dispensiert wäre. Da Plessner selbst jedoch auf der Suche nach einer solchen neuen Tierpsychologie ist, die zwischen „der Scylla anthropomorphisierender Seelenschilderung von Klugheit, Treue und Liebe und der Charybdis des Uexküllprogramms“16 hindurchschifft und die weder aus überängstlichem „Objektivitätsdrang“ im Behaviorismus mündet noch in eine unkritische „Allbeseelungs- und Vermenschlichungsromantik der Laien“ umschlägt, sucht er Uexkülls Ansatz in diese Richtung zu erweitern. Dessen „Lebensplanforschung“17 beschränke sich, so Plessner, nicht deshalb, weil sie grundsätzlich die Zielsetzungen der vergleichenden Psychologie ablehne, sondern sie tue es lediglich, weil sie (momentan) die methodischen Mittel zur Erforschung des tierischen Innenlebens als nicht gegeben erachte. Dem Gedanken des Lebensplans sei jedoch auch mit Uexküll durchaus „eine andere Seite“ abzugewinnen. Zur Idee des Plans gehöre nämlich bereits (die mit dem Ganzheitskonzept verbundene) Einsicht, dass er eben mehr sei, als die Summe der ihn realisierenden Faktoren. Ein Lebensplan als die Einheit der Reize, die für den naturwissenschaftlichen Zugang erkennbar vom Organismus beantwortet werden, und der Antwortreaktionen des Organismus eben auf diese Reize kann wegen seiner übersummativen Charakteristik nicht mit der Summe wahrnehmbarer Vorgänge identifiziert werden.18 Für Plessner impliziert aus diesem Grund die methodisch bedingte Einsicht in die (derzeit) nicht mögliche empirische Erforschbarkeit des seelischen Innenlebens der Tiere nicht bereits den vollkommenen Verzicht auf dieses Anliegen. Er setzt dabei auf eine nach gängigem Verständnis nichtempirische Untersuchung. Bereits in 16 Ebd., S. 113. Vgl. auch die Reflexionen in ebd., S. 330 f., in denen die methodischen Bedingungen der empirischen Tierpsychologie reflektiert werden, wobei klar wird, „daß ein interpretierendes Vorgehen den sicheren Gang der kausalen Erklärung gegen ein unsicheres Verständnis der den körperlichen Erscheinungen ‚zugrunde‘ liegenden Bewußtseinsvorgänge eintauscht.“ Insofern ist ein besonderes Maß an Selbstkritik gefordert, um bequeme Anthropomorphismen zu vermeiden. 17 Ebd., S. 108. 18 So bestimmt im Anschluss an diese Konzeption auch F. J. J. Buytendijk (Wege zum Verständnis der Tiere, S. 48) bereits die Verhaltensleistungen von Einzellern nicht als „Summe einzelner Reaktionen“, sondern als „Handlungen von gestaltetem Verlauf“. Und Plessner formuliert unter Nennung der Ansätze von Köhler, Katz und Buytendijk: „Ohne die Respektierung des Gestaltcharakters des Verhaltens kommt die Tierpsychologie nicht vom Fleck“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 114).
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Uexkülls Planmäßigkeitskonzept verwiesen die im Wechselspiel von Reiz und Reaktion sichtbar werdenden Vorgänge auf eine „selbst unsichtbare Einheit der Sphäre, die den vorgegebenen Rahmen für Reize und Reaktionen bedeutet.“19 Versteht man deshalb Uexkülls Lebensplanforschung mit Plessner in einem umfassenderen Sinne, dann geht es ihr um den Nachweis von „Planformen des Lebens oder Vitalkategorien […], die gleichursprünglich dem Organismus und der auf ihn relativen Umwelt ‚vorgegeben‘ sind bzw. als Organisationsideen beiden Zonen des Daseins ihr Gepräge geben“.20 Mit dieser Überlegung gibt sich Plessners eige nes Programm einer Grundlegung der philosophischen Biologie21 vermittels des Nachweises und der Darlegung des Zusammenhangs eines Systems von Vitalkategorien als Erweiterung des Uexküll-Programms zu erkennen. Plessners „Axiomatik des Organischen“, dessen „apriorische[n] Theorie der organischen Modale“,22 kann somit als eine Weiterentwicklung der Ideen des Kantianers Uexküll23 gelesen werden. Die innere Einheit und Notwendigkeit eines solchen Sys19 20 21 22 23
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 108. Ebd. Ebd., S. 110. Ebd., S. 175. Ebd., S. 113; vgl. zu Uexkülls Kant-Bezug auch G. v. Uexküll, Jakob von Uexküll. Seine Welt und seine Umwelt, S. 45, S. 220 ff. Demnach feiert insbesondere die Schrift Im Kampf um die Tierseele (Separatdruck aus: Ergebnisse der Physiologie, II. Abt., Wiesbaden 1902) die Wiederentdeckung Kants für die Biologie. In diesem Sinne betonen auch die Streifzüge (J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Um welten von Tieren und Menschen. Bedeutungslehre, Frankfurt a. M. 1970, S. 14) mit der Lehre des Funktionskreises habe „die Biologie endgültig Anschluß an die Lehre Kants gewonnen, die sie in der Umweltlehre durch Betonung der entscheidenden Rolle der Subjekte naturwissenschaftlich ausbeuten will.“ Nach der Theoretischen Biologie (J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 9 f.) besteht die Aufgabe der Biologie deshalb darin, „die Ergebnisse der Forschungen Kants nach zwei Richtungen zu erweitern: 1. die Rolle unseres Körpers, besonders unserer Sinnesorgane und unseres Zentralnervensystems mit zu berücksichtigen und 2. die Beziehungen anderer Subjekte (der Tiere) zu den Gegenständen zu erforschen.“ Nach Uexküll ergänzt seine Lehre die zwei Mannigfaltigkeiten Kants (räumliche und zeitliche) durch eine dritte „Mannigfaltigkeit der Umwelten“ (ebd., S. 340 f.). Vgl. auch J. v. Uexküll, Der Sinn des Lebens. Gedanken über die Aufgaben der Biologie, Godesberg 1947, S. 6 f. Allerdings gibt Uexküll („Der Organismus und die Umwelt“, in: H. Driesch, H. Woltereck (Hrsg.), Das Lebensproblem im Lichte der modernen Forschung, Leipzig 1931, S. 189-227, hier S. 195) auch zu bedenken, dass die Biologie nicht die direkte Fortsetzung der Lehren Kants darstellt, „denn Biologie ist keine Philosophie, sondern Naturwissenschaft“.
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tems ist dabei nach Plessner – eine Transponierung von Kants Forderung nach Einheit der kritischen Erkenntnistheorie durch Ableitung aus dem einheitlichen Prinzip der menschlichen Vernunft – dadurch nachweisbar, dass alle Wesensbestimmungen „als Manifestation des Grundsachverhalts“24 des Lebens sich aus dem einheitlichen Prinzip „der real gesetzten Grenze“25 herleiten, sich so auseinander ergeben und in Stufen anordnen. Der von Plessner behauptete Grundsachverhalt des Lebens ist die Tatsache, dass Lebewesen als grenzrealisierende Einheiten den Ordnungstypus der Ganzheit repräsentieren und in einer bestimmten ‚Doppelaspektivität‘ stehen.
2. Grenzrealisierende Körper: Lebewesen als Subjekte Den zur Entwicklung dieses Konzepts notwendigen Gedankengang Plessners abkürzend, kann man sagen, dass die menschliche Erfassung von Lebewesen für Plessner wie bei anderen ausgedehnten Dingen in der Welt unserer Wahrnehmung zunächst durch die epistemischen Rahmenbedingungen geprägt ist, die sich als Modifikation von Husserls Phänomenologie unter dem Gesichtspunkt der ‚Aspektivität‘ fassen lassen.26 Der im Bereich der Wahrnehmung dominierende Gestaltcharakter27 führt dazu, dass alle Gehalte der von uns als Erscheinung erfassten Aspekte eines Wahrnehmungsdinges auf dessen weitere Aspekte und auf das wahrgenommene Ding selbst verweisen (‚Transgredienz des Erscheinungsgehaltes‘). Alle räumlichen Gebilde haben dabei räumlich aufweisbare Grenzen (‚Konturen‘), eine aufweisbare Peripherie und eine aufweisbare Mitte (auf die „man den Finger legen“28 kann). Sie haben darüber hinaus Zentrum und Seiten im genannten phänomenologischen Sinne, als „dingkonstituierende H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 167. Ebd., S. 171. Ebd., S. 128 ff. So wieder auch F. F. J. Buytendijk (Wege zum Verständnis der Tiere, S. 67) – allerdings die von Plessner vorgenommene Unterscheidung zwischen Ganzheiten und Gestalten missachtend: „Die Wahrnehmung von Ganzheiten, Gestalten ist primär […].“ Vgl. Uexkülls Erwähnung von Buytendijks Versuchen in J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 99 ff., S. 122 ff. 28 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 131. Vgl. die Übernahme dieser Überlegungen durch F. F. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, S. 24 f. 24 25 26 27
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Charaktere“, die sich wegen dieses kategorialen Status der räumlichtaktilen Zugänglichkeit notwendig entziehen müssen, ohne zugleich zu Vorstellungsartefakten zu werden. In Auseinandersetzung mit der Debatte zwischen Driesch und Köhler29 unterscheidet Plessner diesen Gestaltcharakter, der alle räumlichen Wahrnehmungsdinge (anorganische wie organische) auszeichnet, von dem übergestalthaften Ganzheitscharakter der Lebewesen. Mit Blick auf die Frage nach der Räumlichkeit bedeutet dieses die Suche nach einer angemessenen Formulierung für die Tatsache, dass Lebewesen einen Übergang von räumlichem Außen zu nichträumlichem Innen aufweisen: „Körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, heißen lebendig.“30 Diese durchaus bekannten Überlegungen Plessners laufen letztlich darauf hinaus, eine besondere Abgrenzung von Lebewesen gegenüber dem sie umgebenden Medium zu postulieren, die zugleich Raumgrenze (‚Kontur‘) als auch Aspektgrenze ist. In Hinsicht auf den letzten Punkt ist diese Grenze der Umschlag zweier wesensmäßig nicht in einander überführbarer Richtungen: Die organische Formgrenze ist für Plessners als Gestalt (d. h. als ‚Kontur‘ im Sinne einer konturhaften Abgrenzung eines physischen Wahrnehmungsdinges) zugleich übergestalthaft, hat einen „mit Gestalt nicht erschöpften Charakter“,31 den Plessner Ganzheit nennt. Während die Abgrenzung zwischen anorganischen physischen Körpern und dem an sie grenzenden Medium damit letztlich nur ein ‚virtuelles Zwischen‘32 ist und weder dem Körper noch dem Medium angehört, ist im zweiten Fall die Lage anders. Hier gehört die Grenze dem lebendigen Körper selbst an. Das Lebewesen begrenzt sich selbst gegenüber dem Medium. Zugleich ist diese ‚reale‘ Grenze, die durch das Lebewesen in einem aktiven Prozess vollzogen wird, auch ein „Grenzübergang“.33 Die Grenze gehört dem sich begrenzenden Körper an, aber in seiner Begrenzung vollzieht dieser Körper bereits den Übergang zum Medium, er ist mit den Worten Plessners dieser Übergang.
29 Vgl. K. Köchy, „Organismen und Maschinen“. Vgl. auch die Beiträge von Hartung und Toepfer in diesem Band. 30 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 138. 31 Ebd., S. 153. 32 Ebd., S. 154. 33 Ebd.
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Mit dieser Überlegung ist für Plessner deutlich, dass Lebewesen als grenzrealisierende Körper sich nicht nur gegenüber dem Medium abgrenzen (sich ‚einschließen‘), sondern sich in eins damit gegenüber dem Medium öffnen (sich ‚aufschließen‘). Insofern führt die solchermaßen offene Grenze dazu, dass der Körper des Lebewesens auch „über ihm hinaus“34 ist. Die sich damit ergebende Dialektik zwischen Lebewesen und Medium ist nichts anderes als „die anschauliche Präzisierung der Doppelaspektivität“.35 In Verwendung der Metaphorik des Setzens, die zugleich das Angehobensein (In-Schwebe-Sein) wie das Aufruhen anklingen lässt, spricht Plessner diesbezüglich von ‚Positionalität‘ und ‚positionalem Charakter‘. Er will damit aus dem Wechselspiel von organismischer Selbstbeziehung (‚in ihn hinein‘) und organismuszentrierter Umweltbeziehung (‚über ihm hinaus‘) deutlich machen, dass Lebewesen eben insofern keine bloßen Dinge, sondern Wesen36 sind, als sie nicht wie anorganische, rein physische Körperdinge lediglich einen bestimmten Platz im Raum erfüllen (an einem Ort sind, raumerfüllend sind), sondern diesen Platz von selbst einnehmen und behaupten (einen Ort haben, raumbehauptend sind). Die sich damit im Sinne Uexkülls bestätigende wesentlich organismuszentrierte Wechselbeziehung zwischen Organismen und deren Umwelten37 wird im Folgenden genauer zu untersuchen sein. 34 35 36 37
Ebd., S. 181. Ebd., S. 183. Ebd., S. 186. Uexküll (Theoretische Biologie, S. 317 ff.) entscheidet sich statt für die Darwinsche ‚Anpassung‘ für das auf dem Planmäßigkeitsgedanken aufbauende Konzept der ‚Einpassung‘ und formuliert: „Die Außenwelt bietet den Lebewesen eine bestimmte Anzahl räumlich und zeitlich getrennter Eigenschaften zur Auswahl und gewährt so den Tieren die Möglichkeit, sich aus ihnen eine ärmere oder reichere Umwelt zu schaffen. Sie selbst ist aber völlig unbeteiligt an der Wahl, die vom Lebewesen ohne fremde Beihilfe getroffen werden muß.“ (Ebd., S. 320 f.) In diesem Sinne wird schon in J. v. Uexkülls Schrift Umwelt und Innenwelt der Tiere (Berlin 1909, S. 5) die Behauptung, Lebewesen seien mehr oder weniger gut an ihre Umwelt angepasst als „völlig aus der Luft gegriffen“ bezeichnet: „Jedes variierende Individuum ist entsprechend seinem veränderten Bauplan anders, aber gleich vollkommen seiner Umgebung angepaßt. Denn der Bauplan schafft in weiten Grenzen selbsttätig die Umwelt der Tiere.“ In Die Lebenslehre (J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 149) wird der Gedanke, das umgebende Medium drücke wie ein „Prägestock“ den Tieren seinen Stempel auf, zugunsten „einer uns unerkennbaren Weise“ der Beziehung zwischen den Bedingungen des Mediums und den Entstehungsplänen der Tiere zurück gewiesen: „Medium und Tier scheinen im Spiel und Widerspiel ihrer Eigenschaften einer großen Einheit anzugehören.“ (Ebd., S. 150)
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3. Komplexe Ganzheiten: Die besondere Organisationsform von Organismen Beginnen wir bei der räumlichen Innenperspektive, der Betrachtung der inneren Struktur eines von einer Grenze umschlossenen Lebewesens also: Diese Wesen sind organisiert. ‚Organisation‘ bestimmt Plessner als „die Selbstvermittlung der Einheit des belebten Körpers durch ihre Teile“.38 Die Form der Organisation als Selbstvermittlung ergibt sich daraus, dass die Lebensformen im genannten Sinne komplexe übergestalthafte Ganzheiten39 sind, die nicht nur mehr sind als die Summe ihrer Teile, sondern die zudem die verknüpfende Bedingung für die Mannigfaltigkeit ihrer Elemente ausmachen. Insofern sind Lebewesen Einheiten neben dieser „Mannigfaltigkeitseinheit“.40 Mit diesen beiden Einheitsweisen entsteht eine spannungsreiche Situation, die stets der Gefahr einseitiger Auslegung unterworfen ist: Als Organisationen besitzen Organismen Organe, die das Ganze repräsentieren und die zugleich Teile des Ganzen sind. Organe vermitteln das Ganze des Organismus und sind zugleich dessen Mittel zur Ausübung von Lebensfunktionen. In einer bestimmten Hinsicht ist damit der Organismus als von seinen Mitteln abhängig erklärt, er ist ohne sie nicht lebensfähig. Der Organismus als Einheit aller Organe wäre dann die „Einheit der Mittel zum Leben“ und da er diese Einheit nur deshalb ist, weil er in den Organen zur Einheit vermittelt ist, wird er „das Mittel seiner selbst“.41 Da jedoch trotz dieser Mittelstruktur die in seinen Teilen unaufgehbare Ganzheit des Organismus ebenso unleugbar ist, der Organismus also im eigentlichen Sinne „Zweck seiner selbst“ ist, hätte man eine Art Subjekt vorauszusetzen, „welches den Körper mit seinen Teilen hat“.42 Diese Ebene des Trägers des Lebens, die Einheit des Organismus also, fällt mit dem Ziel des Lebens zusammen. Damit ist ein für Plessner wesentlicher Gedanke formuliert, der den Gang in den Stufen des Organischen auch als Gang durch eine aufeinanderfolgende Stufenreihe der Vermittlung charakterisiert. Ausgehend von natürlichen Entitäten, die solche Selbstvermittlung nicht aufweisen und die 38 39 40 41 42
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 246. Vgl. K. Köchy, „Organismen und Maschinen“. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 246. Ebd., S. 247. Ebd.
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lediglich durch unsere Wahrnehmung vermittelt werden (nichtlebende oder anorganische ‚Einheiten‘), steigt der Gedanke an zu solchen Entitäten, die durch immer komplexere Grade der Selbstvermittlung als eigenständige Bildungen ausgewiesen sind (lebende oder organische Einheiten).43 Plessners Stufen können so auch als ein Aufstieg von bloßen anorganischen Körperdingen44 über Lebewesen45 (Systeme mit positionalem Charakter, d. h. für sich bestehende Gebilde mit komplexer Selbstvermittlung, die Subjekte46 sind und ein Selbst47 haben) bis zu menschlichen Personen48 verstanden werden. Auch mit Blick auf diesen Aspekt ergibt sich eine Leitbildfunktion des Uexküll-Programms. Uexküll hatte die Kantische Ausrichtung seiner Biologie auch so verstanden, dass er immer wieder die Subjektnatur der Lebewesen betonte.49 Im Gegensatz zum physiologischen 43 Eine verwandte Überlegung strukturiert bei Bergson die Unterscheidung von unbe lebten und belebten Einheiten (H. Bergson, Schöpferische Evolution (1907), Ham burg 2013, S. 23): „Doch während die Unterteilung der Materie in isolierte Körper von unserer Wahrnehmung abhängt und die Bildung von geschlossenen Systemen materieller Punkte von unserer Wissenschaft, ist der lebende Körper von der Natur selbst isoliert und in sich geschlossen worden.“ Die von Bergson eingesetzte Meta phorik des Schneidens von Stoff, wonach anorganische Körper aus dem „Stoff der Natur durch eine Wahrnehmung ausgeschnitten werden“ (ebd., S. 22), während organische Körper selbst es sind, deren mögliche Handlungsabläufe die Linie vorge ben, nach der sie selbst solche (Aus-)Schnitte aus dem sie Umgebenden vornehmen, formuliert auch Uexküll (Die Lebenslehre, S. 145): „Unsere Umwelt bildet ihrerseits die Umgebung der Tiere. Aus ihr schneiden sich die Tiere den ihnen zusagenden Lebenskreis heraus […].“ 44 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 128 ff. 45 Ebd., S. 185: „Aus einem einfachen Ding wird da mit einem Mal ein Wesen, d. h. ein für sich bestehendes Gebilde.“ Dieses Wesen, das kein bloßes Ding ist, „erscheint gegen seine Umgebung gestellt“, wobei es nicht eine Stelle im Raum erfüllt, sondern raumbehauptend ist (ebd., S. 186). 46 Ebd., S. 184, S. 248. 47 Ebd., S. 297: „Die raumhafte Mitte, der Kern oder das Selbst ‚liegt‘ also nicht mehr unmittelbar ‚im‘ Körper.“ Und ebd., S. 303: „Nur auf diese doppeldeutige Weise […] steht das lebendige Ding in Distanz zu seinem Körper, zu dem, welches er selbst ist, zu seinem eigenen Sein. Es ist selbst – in ihm. Die Position ist eine doppelte: das der Körper selber Sein und das im Körper Sein, und doch Eines, da die Distanz zu seinem Körper nur auf Grund völligen Einsseins mit ihm allein möglich ist.“ 48 Ebd., S. 365: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person.“ 49 J. v. Uexküll, „Die Rolle des Subjekts in der Biologie“, in: Die Naturwissenschaften 19/1931, S. 385-391.
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Standpunkt, von dem aus betrachtet „jedes Lebewesen ein Objekt ist, das sich in der Menschenwelt befindet“, gehe der Biologe (im Sinne von Uexkülls Umweltlehre) davon aus, „daß ein jedes Lebewesen ein Subjekt ist, das in einer eigenen Welt lebt, deren Mittelpunkt es bildet.“50 Organismen, so die Lebenslehre, sind zwar objektiv gegebene Systeme wie andere Gegenstände der Außenwelt, „aber dank dem Umstande, daß ihre Leistungspläne nicht heteronom, d. h. fremdgesetzlich, sondern autonom, d. h. eigengesetzlich sind, werden sie zu Subjekten.“51 Insofern stellt auch die Theoretische Biologie Uexkülls fest: „Jedes Tier ist ein Subjekt, das dank seiner ihm eigentümlichen Bauart aus den allgemeinen Wirkungen der Außenwelt bestimmte Reize auswählt, auf die es in bestimmter Weise antwortet.“52 Es ergibt sich also mit Blick auf die Umwelten von Lebewesen für Uexküll eine Art von Leibniz’schem Monadenkosmos, bei dem jedes Lebewesen wie eine Art Tautropfen die ganze Welt abspiegelt, wobei „im Mittelpunkt jedes Tropfens sich ein Subjekt befindet, dem das Spiegelbild der Welt zugetragen wird“.53 Jede Umwelt ist somit das Erzeugnis eines Subjektes.54 Das unten noch näher zu erläuternde Konzept des Funktionskreises läuft deshalb darauf hinaus, dass jedes „Tiersubjekt mit zwei Gliedern einer Zange sein Objekt an[greift] – einem Merk- und einem Wirkgliede [Rezeptor und Effektor K. K.].“55 Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Plessner zurück, dann kann für ihn der lebendige Körper – hier denkt auch er wie Kant – jedoch nicht in demselben Sinne Zweck und Mittel seiner selbst sein. Er kann nicht in derselben Hinsicht als „Kern und Mitte der Mannigfaltigkeit der Teile“56 gegenüberstehen und zugleich als nur auf Grund einer Rückbeziehung zu diesen Teilen existierend gedacht wer50 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 7. 51 J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 27. 52 J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 150. Vgl. auch J. v. Uexküll, Der Sinn des Lebens, S. 64. 53 J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 127. Vgl. auch J. v. Uexküll, Der Sinn des Lebens, S. 20; So kommentiert auch Plessner (Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, hrsg. von H.-U. Lessing, Berlin 2002, S. 114) zu Recht: „Die Folge ist eine Art biologischer Monadenlehre. Jede Art Organismus lebt in ihrer Welt, und diese Welt ist vollkommen ablesbar an der Organisation.“ 54 J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 130. 55 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 10. So auch J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 152. 56 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 247.
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den. Es entsteht die Gefahr, in eines von zwei einseitigen Extremen zu verfallen: Entweder stellt man den Organismus (das Leben oder den einheitlich-ungeteilten Lebensprozess) neben seine Apparatur (die in Organe geteilte Organisation) und geht davon aus, das Leben be diene sich dieser Apparatur, oder aber man identifiziert den Organismus (Ganzheit) mit seiner Apparatur (Gestalt als Organisation der Teile). Beide Ansätze gehen am wesentlichen Punkt vorbei. Erst in ihrer Synthese zeigt sich für Plessner die „Doppelsinnigkeit des Organs“.57 Das Organ ist Mittel und Vermittlung des lebendigen Körpers und damit ist die organismische Ganzheit eine vermittelte Einheit. Der Organismus als vermittelte Einheit ist ein lebendiger Körper. Er hat diesen Körper und wird zugleich von ihm gehabt. Er ist sozusagen in sich selbst verdoppelt, ist zugleich Einheit für sich und damit Kern und „Subjekt des Habens“ als auch Einheit in der Mannigfaltigkeit der Tei le, die als Wirkeinheit (Gestalt) „Objekt des Habens“ ist. Die Tatsache, dass der lebendige Körper in dieser Verdoppelung einheitlich bleibt, erfordert nach Plessner eine weitere, dritte Formulierung des Einheitsgedankens. Diese vermittelnde, synthetische Dimension bezeichnet er als „Einheit im Teil“. Damit ist nicht wiederum den beiden anderen Momenten ein drittes zur Seite gestellt, ansonsten hätte man eben nur „drei selbständige Einheitsweisen“.58 Die dritte Einheitsdimension ist vielmehr „die Vermittlung für die beiden anderen zur Einheit“.59 Eben der Organcharakter der Teile und deren Doppelsinnigkeit als Mittel und Vermittlung ist diese Vermittlung.
4. Planhafte Einpassung: Lebewesen in ihren Umwelten Erweitert man diese bereits komplexe Dialektik der Teil-Ganzes-Relation, die eine reine Binnenperspektive der Struktur und Organisation von Lebewesen repräsentiert, nun durch die sich aus den Konzepten von Grenze und Positionalität ergebende Außenperspektive, also der Organismus-Umwelt-Relation, dann kommt für Plessner auch in dieser Hinsicht den Organen eine maßgebliche Öffnungsfunktion zu. Organe, so hatten wir gesehen, sind Hilfsmittel der Organismen zum 57 Ebd., S. 248. 58 Ebd., S. 249. 59 Ebd.
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Leben. Die speziellsten und fundamentalsten Lebensprozesse sind an Organe gebunden. „Das Leben als die Fundamentaleigenschaft derjenigen Körper, deren Begrenzungen Grenzen sind, äußert sich in einer Mannigfaltigkeit von Prozessen, deren jeder einzelne aber keineswegs das Leben ist, sondern es nur bekundet, – wie er ihm dient.“60 Die obige Spannung des Organismus, zugleich Mittel wie Zweck seiner selbst zu sein, wurde aufgehoben dadurch, dass Leben als ein in sich selbst vermitteltes Sein bestimmt wurde. Das Lebewesen ist quasi über sich selbst (seine Organisation) hinausgehoben, bleibt sich aber andererseits in seinen Mitteln dennoch verfallen. Damit verbunden ist auch eine Ablösung von der „Selbstgenügsamkeit“ der eigenen Teleologie – also von einer rein binnenzentrierten Betrachtung, die nur die zweckmäßige oder harmonische Abstimmung von Strukturelementen des Organismus im Blick hat. Durchaus im Sinne von Uexkülls Planmäßigkeitskonzept61 erweitert sich damit die noch von Kant ausschließlich auf die Innenbeziehungen zwischen den Teilen von Organismen bezogene Zweckmäßigkeitsüberlegung62 auf eine Betrachtung, die Lebewesen und deren Umwelten umgreift. Die Organe als physische Träger der Vermittlung der inneren Einheit der Organisation erweisen 60 Ebd., S. 251. 61 J. v. Uexküll (Theoretische Biologie, S. 5) erklärt die Planmäßigkeit zur Grundlage des Lebens und will die alte Formel ‚omnis cellula e cellula‘ durch „Alles Planmäßige aus Planmäßigem“ ersetzen. Dabei ist die Planmäßigkeitsvorstellung für ihn nicht auf die Organisation von Lebewesen eingeschränkt (ebd., S. 153): „Die biologische Behandlung der Funktionskreise verlangt, daß wir auch den außerhalb des Körpers in der Umwelt verlaufenden Teil des Kreises gleichfalls unter dem Gesichtspunkte der Planmäßigkeit betrachten.“ Insofern sieht Uexküll den Begriff ‚Planmäßigkeit‘ als besser geeignet denn die Begriffe ‚Gestalt‘ oder ‚Ganzheit‘ an, um den alten Dualismus zwischen Leib und Seele zu überwinden (ebd., S. 292 ff.). So macht J. v. Uexküll in Die Lebenslehre (ebd., S. 155) deutlich, dass die Anordnung der Baupläne eine „Sicherheit des Ineinanderpassens“ zeige, die „auf eine überindividuelle Planmäßigkeit der Natur“ hinweise. Dabei ist zwischen ‚Ziel‘ und ‚Plan‘ zu unterscheiden (J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 50 ff.). 62 I. Kant (Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werke in 10 Bänden, Bd. 8, hrsg. W. Weischedel, Darmstadt 1983, S. 477 ff., A 275 ff.) unterscheidet die äußere Zweckmäßigkeit als bloße Zuträglichkeit für andere Naturglieder von der auf Lebewesen bezogenen inneren Zweckmäßigkeit. Letztere weist Lebewesen als organisierte und sich selbst organisierende Wesen aus, deren Teil-Ganzes-Relation durch eine spezielle Art der Wechselbeziehung gekennzeichnet ist (ebd., S. 483 ff., A 285 ff., hier S. 485 f., A 287 f.). Vgl. auch K. Köchy, „Das Konzept der Wechselwirkung bei Kant“, in: H.-W. Ingensiep, H. Baranzke, A. Eusterschulte (Hrsg.), Kant-Reader. Was kann ich wis sen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Würzburg 2004, S. 78-106.
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sich zugleich als die physischen Träger der Vermittlung mit dem ‚Positionsfeld‘, also der den Organismus umgebenden Umwelt: „In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit dem bilden, dem sie sich öffnen.“63 Damit sind wir erneut, was der prominente Verweis auf das Konzept ,Funktionskreis‘ belegt,64 bei einer Schlüsselstelle in Plessners Überlegungen angelangt, an der die Einflüsse des Uexküll-Programms auf Plessners Biophilosophie deutlich werden. Auch für Plessner existiert ein „Kreis des Lebens“, dessen eine Hälfte vom Organismus, dessen andere jedoch vom Positionsfeld gebildet wird. Die Organe vermitteln den Kontakt mit der Umwelt. Sie „öffnen“ den Organismus gegen das Medium.65 Durch diese Eingliederung in eine Umwelt ist dem Organismus seine Selbständigkeit (Autarkie) genommen. Er wird zum Teil eines umfassenderen Ganzen, obwohl die in dieses Ganze eingepassten Organausstattungen auch ihrerseits Vorgaben für die jeweils relevanten Außenbezüge darstellen. Die Autonomie des Lebendigen als begrenzt-grenzhaftem System hingegen bleibt erhalten, da nichts auf dieses Lebendige Einfluss gewinnen kann, was nicht dem Gesetz des Systems ‚Lebewesen‘ unterworfen ist. Der Autarkie des Lebens kreises steht so für Plessner die Autonomie des Lebendigen gegenüber. Dennoch ist der Organismus zumindest auf dieser Ebene der Rekonstruktion als lediglich eine „Hälfte seines Lebens“66 erkannt. Er ist bedürftig, bleibt angewiesen auf die Stoffe und Energien des Mediums. Als selbständiges Glied ist er eingeschaltet in den Lebenskreis. Nach Plessner – das ist bekannt und wir deuteten es eingangs bereits an – repräsentieren Pflanzen und Tiere zwei unterschiedliche Typen dieser Einschaltung von Lebewesen in ihren Lebenskreis. Pflanzen haben demnach eine offene Organisationsform, was meint, dass sie in all
63 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 253. 64 Vgl. J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 151 ff.; J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 10 ff.; J. v. Uexküll, Die Lebens lehre, S. 150 ff.; Zur Terminologie Uexkülls vgl. B. Hassenstein, „Jakob von Uexküll (1864–1944)“, in: I. Jahn, M. Schmitt (Hrsg.), Darwin & Co. Eine Geschichte der Biologie in Portraits, München 2001, Bd. 2, S. 344-364, hier S. 349 und S. 360 ff.; T. v. Uexküll, „Die Umweltforschung als subjekt- und objektumgreifende Naturforschung“, in: J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Bedeutungslehre, Frankfurt a. M. 1970, XXIII-XLVIII, hier XXXIV ff. 65 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 254. 66 Ebd., S. 255.
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ihren Lebensäußerungen unmittelbar in ihre Umgebung eingegliedert sind und damit zum unselbständigen Abschnitt des ihnen entsprechenden Lebenskreises werden.67 Sie zeigen dieses sowohl morphologisch (etwa in einer der Umgebung zugewandten Flächenentwicklung) als auch physiologisch (etwa im Fehlen eines Reizleitungssystems). Vor allem jedoch mangelt es ihnen an Zentralorganen – und damit im Sinne der Bestimmungen seit Goethe und Hegel68 an ‚Individualität‘. Tiere hingegen repräsentieren die Alternative der geschlossenen Organisationsform, bei denen alle Lebensäußerungen nur mittelbar in die Umgebung eingegliedert sind. Mit dem Grade dieser Mittelbarkeit werden die Tiere zu selbständigen Abschnitten des ihnen entsprechenden Lebenskreises.69 Ein Lebewesen, dessen Organisation in diesem Sinne eine geschlossene Form aufweist, ist zugleich durch eine besondere Art der Selbstvermittlung und der Umweltvermittlung charakterisiert. In erster Hinsicht hat es „Wirklichkeit als dieser Körper und als sein Leib, d. h. im Körper“.70 Der Doppelaspekt von Körper und Leib stellt sich dar als der „positionale Gegenwert“ einer physischen Trennung: Hier die das Zentrum mit enthaltende – dort die vom Zentrum gebundene Körperzone. Das Tier als Individuum bildet also ein rückbezügliches Selbst, das als „nicht relativierbares Hier-Jetzt“71 seinen Leib und mit ihm das gegebene Feld beherrscht. Es merkt und es handelt und dabei bemerkt es ebenfalls den Unterschied zwischen Eigenem und Fremdem: „Jedes Tier ist der Möglichkeit nach ein Zentrum, für welches (in einem wie wechselnden Umfang immer) eigener Leib und fremde Inhalte gegeben sind. Es lebt körperlich sich gegenwärtig in einem von ihm abgehobenen Umfeld oder in der Relation des Gegenüber. Insofern ist es bewußt, es merkt ihm Entgegenstehendes und reagiert aus dem Zentrum heraus, d. h. spontan, es handelt.“72
67 Ebd., S. 284. 68 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grund risse. Zweiter Teil Die Naturphilosophie, in: ders., Werke, Bd. 9, hrsg. E. Moldenhauer, K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 371 ff., hier S. 373 ff.; oder J. W. Goethe, Zur Morphologie, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hrsg. K. Ritter et al., München 1989, Bd. 12, S. 1-384, hier S. 14. Zur Debatte um den Individuum-Begriff im 19. Jahrhundert vgl. auch A. Lange, Geschichte des Materialis mus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1876, Bd. 2, S. 249 ff. 69 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 291. 70 Ebd., S. 303. 71 Ebd., S. 305. 72 Ebd., S. 306.
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5. Frontalität: Die geschlossene Organisationsform der Tiere Diese besondere, gegen das Umfeld fremder Gegebenheit gerichtete Existenz nennt Plessner „Frontalität“.73 Mit ihr ergeben sich zwei verschiedene Wege der tierischen Organisation. Plessner unterscheidet die dezentrale und die zentrale Organisationsform des Tieres und wieder bezieht er sich für die Bestimmung und Erläuterung dieser Unterscheidung in großem Umfang auf Uexkülls Funktionskreis. Dabei wird dieser Bezug in Plessners Vorlesungen des Wintersemesters 1931/32 – als Elemente der Metaphysik von H.-U. Lessing herausgegeben74 – in gewisser Hinsicht noch deutlicher als in den Stufen des Organischen, weswegen trotz möglicher Unschärfen durch den Prozess der Entstehung dieses Vorlesungstextes im Folgenden beide Konzepte betrachtet seien. Die engen Bezüge auf Uexküll ergeben sich aus der Erläuterung Plessners zu den beiden genannten Organisationsformen, denn es handelt sich für ihn in beiden Fällen für den Organismus darum, „auf das, was er merkt, die entsprechende Reaktion zu geben.“75 Insofern ist hiermit die Dichotomie von rezeptorischem und effektorischem Zugriff auf die Umwelt angesprochen,76 die die Grundstruktur von Uexkülls Funktionskreis ausmacht, den Plessner folglich auch in den Stufen des Organischen als Schema übernimmt77 und den in der Vorlesung der Elemente die Skizzen als begleitende Illustration der jeweils thematisierten Aspekte abbilden.78 Plessner lehnt sich weitgehend an die Terminologie Uexkülls an, nimmt aber dennoch einige bedeutsame Änderungen und Auslassungen vor. Auffällig ist bereits die Anmerkung Plessners in den Stufen: „Für Merkwelt und Wirkungswelt gebraucht unsere Untersuchung die Termini Merksphäre und Wirkungssphäre. Den Ausdruck Innenwelt im Uexküllschen Sinne vermeidet
73 74 75 76
Ebd., S. 308. H. Plessner, Elemente der Metaphysik. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 312. F. F. J. Buytendijk (Wege zum Verständnis der Tiere, S. 51) kommentiert dazu: „Die Scheidung beider Vorgänge [sensorische und motorische Prozesse K. K.] findet im Strom des Lebens nicht statt, sondern nur, wenn eine Einwirkung von außen plötzlich in diesen Strom einbricht.“ 77 Vgl. Abbildung in H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 315. 78 Vgl. die Skizzen in H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 132, S. 134, S. 135, S. 137.
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sie.“79 Aufschlussreich ergänzt die Vorlesung der Elemente: „Uexküll nennt diese linke Seite: ‚Innenwelt‘. Das ist ein typisch naturwissenschaftlicher Ausdruck. Wir sagen lieber Funktion und Bauplan des Tierkörpers.“80 Der genannte Ersatz von Uexkülls Begriffen ‚Merkwelt‘ und ‚Wirkungswelt‘ durch Plessners Termini ‚Merksphäre‘ und ‚Wirksphäre‘ könnte sich als Forderung des von Plessner als „sphärentheoretischer“ Ansatz bezeichneten – allerdings nicht umfassend entwickelten – Konzepts ergeben.81 In den gemeinsam mit Buytendijk konzipierten Überlegungen82 zum mimischen Ausdruck setzt Plessner diesen Ansatz gegen ein als „kammerförmig“ bezeichnetes Modell des Bewusstseins. Letzteres sei dadurch gekennzeichnet, dass sich einerseits Objekt und Subjekt unvermittelt vis-a-vis gegenüberstehen und sich andererseits Körperleib und Ich im Modus der „Hintereinanderschaltung und Ineinanderschachtelung“ befinden.83 In der räumlichen Sprache biowissenschaftlicher Überlegungen verbleibend wäre es nach Plessner jedoch angemessener von einer Zwischenschaltung des Ichs zwischen Objekt und Körperleib zu sprechen. Noch deutlicher formuliert: Es existiert eine Zwischensphäre gegenseitiger, durch den Leib vermittelter Gegebenheit, die Plessner und Buytendijk auch als „Schicht des Verhaltens“84 bezeichnen. Bezüglich der Zurückhaltung im Gebrauch des Begriffes ‚Innenwelt‘, der die ganze Problematik tierpsychologischer Ansätze zum Ausdruck bringt, kann nur spekuliert werden. Zumindest verweisen die Schlussüberlegungen der Stufen mit ihrer Thematisierung des Verhältnisses von Innenwelt, Außenwelt und Mitwelt85 beim Menschen auf eine deutlich affirmativere Verwendung. Wenn man jedoch die methodologischen Aspekte in den Vordergrund rücken möchte, dann kann man etwa an die Überlegungen Plessners im Zuge seiner Kritik am Dualismus Descartes’ denken. Die methodisch aus dem Konzept der res cogitans abgeleiteten Überlegungen zur wesentlichen Innerlichkeit des Selbst (‚Satz der Immanenz‘) und der daraus folgen79 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 315 als Begleittext der Abbildung. 80 H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 133. 81 Vgl. H. Plessner, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks“, S. 116. 82 Vgl. den Beitrag von Becker in diesem Band. 83 H. Plessner, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks“, S. 112 f. 84 Ebd., S. 114 sowie S. 77 ff. 85 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 365 ff.
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den Rolle der Selbstbeobachtung münden demnach auch in eine duale Weltgliederung von ‚Innenwelt‘ und ‚Außenwelt‘. Dabei wird die Außenwelt mit der Welt der Ausdehnung identifiziert, die Innenwelt hingegen mit Innerlichkeit und es ergibt sich somit eine Bindung der äußeren Wahrnehmung an physische Objekte, eine der inneren Wahrnehmung an das eigene Selbst. In diesem Sinne hatte für die Tierpsychologie C. Llloyd Morgan eine Kombination zweier Verfahren gefordert, die von ihm als Methoden der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit bezeichnet werden und deren Kombination gerade die zentrale Herausforderung der Tierpsychologie ausmache.86 Aus dieser Opposition resultiert für Plessner das – als Reaktion auf einen solchen Ansatz à la Morgan abzuleitende – „Problem der Haltbarkeit einer vergleichenden, an Introspektion methodisch und gegenständlich nicht 86 C. L. Morgan (An Introduction to Comparative Psychology, London 1894, S. 47 f.) charakterisiert die vergleichende Psychologie durch den Versuch einer Ergänzung zweier Induktionsweisen. Die subjektive Induktion wird durch die individuelle Erfahrung des Forschers über sein eigenes Bewusstsein legitimiert, die objektive Induktion hingegen durch die Wahrnehmung externer Phänomene. Die epistemische Herausforderung besteht dann darin, die beobachtbaren Phänomene der Außenwelt im Lichte der eigenen Erfahrungen der Innenwelt zu interpretieren. Für diese fragile Schlussfolgerung von beobachtbaren Verhaltensweisen auf ein mögliches Bewusstsein bei anderen Lebewesen kommt der berühmte ‚Morgan Kanon‘ (ebd., S. 53) als methodische Sicherung gegen ungerechtfertigte anthropomorphe Fehlschlüsse zum Einsatz. Der Ausgangspunkt aller vergleichenden Psychologie (zoologischen Psychologie) ist demnach die methodische Introspektion. Nur sie vermittelt ‚first-hand knowledge‘ über die eigenen bewussten Prozesse. Alles Wissen über Fremdpsychisches bleibt notwendig hypothetisch (‚second-hand knowledge‘). Auch W. Wundt unterscheidet in seinen Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele (S. 16 ff.) zwei Forschungsprogramme, die die beiden Gebiete der experimentellen Psychologie (anthropologische und zoologische) von verschiedenen Startpunkten aus zu verbinden trachten. Wo sich einige Biologen bemüßigt fühlten, „die von ihnen bei der Erforschung der übrigen Lebensvorgänge angewandten Gesichtspunkte unmittelbar auf die tierpsychologischen Probleme zu übertragen“ (ebd., S. 17), plädiert Wundt für einen Ausgang vom Menschen: „Denn von der Menschen- zur Tierseele, nicht umgekehrt, führt der einzig mögliche Weg der vergleichenden Psychologie.“ (ebd., S. 18, vgl. auch S. 389) Vor den beiden Gefahren dieses Ansatzes (der Mechanisierung und der Anthropomorphisierung tierischer Lebensäußerungen) kann sich die tierpsychologische Forschung nur (im Sinne Morgans) schützen „indem sie der wissenschaftlichen Regel eingedenk bleibt, daß jede Tatsache soviel als möglich aus sich selbst […] interpretiert werden muß, und daß, wo einfachere Gründe zu ihrer Erklärung zureichen, kompliziertere außer Betracht bleiben können“ (ebd., S. 19, vgl. auch S. 422, S. 428). Der Zugang zum Tier ist dabei allerdings stets unsere eigene seelische Erfahrung, wobei der Selbstbeobachtung eine zentrale Rolle zukommt (ebd., S. 12).
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gebundenen, insbesondere auf Tiere ausgedehnten Psychologie bzw. Biologie (der Fragenkreis von Umwelt und Innenwelt der Tiere)“.87 Bei diesen Methodenfragen hatte sich Uexküll stets skeptisch gegenüber Konzepten des Einfühlens und der Introspektion geäußert. Nach seinen Überlegungen in der Theoretischen Biologie ist dem Forscher bei seiner Untersuchung die Kenntnis der Empfindungen der Tiere für immer verschlossen. Das einzige, was man durch das naturwissenschaftliche Experiment feststellen könne, sei die Zahl und Art der Merkmale in der Merkwelt, auf die das Tier reagiert.88 Aus diesem Grund läuft die psychologische Forschungsmethode – das Einfühlen – für Uexküll der biologischen Forschungsmethode grundsätzlich zuwider: „Diese schlägt den entgegengesetzten Weg ein und sucht das menschliche Gedächtnis vom gleichen Standpunkt des außen stehenden Beobachters zu behandeln, wie die analogen Erscheinungen bei den Tieren.“89 Und so gilt: „Trotzdem werden wir nie außer acht lassen, daß wir, solange wir Biologie treiben, niemals unseren Posten als außenstehende Beobachter verlassen dürfen.“90 Plessner teilt offenbar als ehemaliger Naturwissenschaftler diese methodischen Vorbehalte, sucht aber in seiner Biophilosophie dennoch nach einem Zugang zu der von Uexküll ausgeschlossenen Sphäre (wie übrigens Uexküll selbst es ebenfalls tut). Insofern muss er bei aller Anerkennung Uexkülls dessen Programm erweitern. Wenden wir uns vor diesem methodischen Hintergrund nun wieder der Vorlesung zu und schlüsseln von hier aus am Leitband von Uexkülls Funktionskreis auch die biophilosophischen Positionen der Stufen auf: Zunächst geht Plessner in seiner Vorlesung auf die Bestimmungen von ‚Merksphäre‘ und ‚Wirksphäre‘ ein: „Das Tier kann merken und wirken. Eine Pflanze merkt nicht und wirkt nicht.“91 Wichtig ist Plessner im Sinne der obigen Überlegungen zur Erfassbarkeit tierischen ‚Innenlebens‘ die terminologische Ergänzung, dass ‚merken‘ und ‚wirken‘ in seinem Kontext weder als psychologische noch als anthropologische Begriffe verwendet würden, da seine Untersuchung so angelegt sei, dass sie sich „in einer Sphäre bewegt, die den Gegensatz von psychologischen und rein physischen Begriffen 87 88 89 90 91
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 97. J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 107. Ebd., S. 167. Ebd., S. 110. Vgl. auch J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 131 ff. H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 129.
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gar nicht kennt.“92 Mit dieser Bemerkung wird eine der wichtigsten terminologischen Debatten der Tierpsychologie und späteren Verhaltensforschung tangiert. Als Reaktion auf anthropomorphe Fehlschlüsse und zur Sicherung objektiver Ansprüche hatte sich nicht nur die genannte Methodendebatte ergeben, sondern im Zusammenhang damit auch ein Streit um die Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit bestimmter Begriffe aus der Sphäre menschlichen Innenlebens (‚mentale Begriffe‘) und deren Ersatz durch neutrale und objektive Begriffe.93 Die hier einschlägige Programmschrift von Uexküll, Beer und Bethe94 propagiert die Verwendung einer objektiven Nomenklatur95 und wird 92 Ebd.; vgl. dazu auch die Überlegungen F. F. J. Buytendijks (Wege zum Verständnis der Tiere, S. 45), der die Verwendung physiologischer (physikalischer) oder psychologischer Begriffe als „von außerwissenschaftlichen Motiven“ abhängig bestimmt: „Den Ausschlag gibt die Wertschätzung der beiden Wissenschaften.“ 93 Für die Notwendigkeit, in ihren metaphysischen Systemen zur Bezeichnung be stimmter Grundzüge der Natur oder des Organismus auf genuin anthropomorphe Begriffe zurück zu greifen, hatten sich hingegen etwa Schopenhauer und Jonas ausgesprochen. Für A. Schopenhauer (Metaphysik der Natur. Philosophische Vorle sungen Teil II, hrsg. von V. Spierling, München, Zürich 1987, S. 99) ist die Bezeich nung der metaphysischen Mächtigkeit als ‚Wille‘ zwar eigentlich fehlgeleitet, da sich dieser Bereich gänzlich einer begrifflichen Bestimmung entzieht. Der Rückgriff auf die aus der menschlichen Sphäre stammende Bezeichnung ist aber dennoch eine Benennung nach dem Vorzüglichsten (denominatio a potiori), weil man sich hier mit der vollkommensten, deutlichsten, am meisten entfaltesten und dem Erkennen unmittelbar zugänglichen Sphäre bedient. Zur Benennung des genus greift man auf die vorzüglichste species zurück und gibt damit dem Begriff eine größere Aus dehnung. Vergleichbar dehnt H. Jonas (Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 14) den aus der menschlichen Sphäre stammenden Begriff ‚Freiheit‘ zur Benennung eines „objektiv unterscheidbaren Seinsmodus“ aus, die eine Art zu existieren bezeichnen soll, „die dem Organischen per se zukommt und insofern von allen Mitgliedern, aber keinem Nichtmitglied, der Klasse ‚Organismus‘ geteilt wird“. Für diese ontologisch beschreibende Ver wendung einer anthropomorphen Begrifflichkeit sind wir durch die unmittelbare „Zeugenschaft unseres Leibes“ (ebd., S. 124) legitimiert, die nach Jonas – ganz ein deutig in Anlehnung an Plessners Konzept – deutlich macht, dass das Leben eine „selbst-zentrierte Individualität ist, für sich seiend und in Gegenstellung gegen alle übrige Welt, mit einer wesentlichen Grenze zwischen Innen und Außen“ (ebd.). Zum Verhältnis zu Jonas vgl. auch den Beitrag von Michelini in diesem Band. 94 T. Beer, A. Bethe, J. v. Uexküll, „Vorschläge zu einer objectivierenden Nomenclatur in der Physiologie des Nervensystems“, in: Zoologischer Anzeiger 22/1899, S. 275280. 95 Vgl. die Erwähnung und die Selbstkritik in G. v. Uexküll, Jakob von Uexküll seine Welt und seine Umwelt, S. 163. Demnach bestand der Grundfehler des frühen Ansatzes darin, Sinnesorgane wie mechanische Apparate zu behandeln. Auch hinsichtlich dieses Punktes kommt Uexküll nach eigener Einschätzung durch das Studium
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nahezu von allen Protagonisten der damaligen Debatte rezipiert.96 Die Ansätze von Herbert Spencer Jennings, Edward L. Thorndike oder Ivan Pavlov97 etwa sind nicht nur durch einen Verzicht auf alle Analogieschlüsse von den ‚objektiven‘ Messdaten einer experimentellen Erforschung der Verhaltensleistungen auf die subjektive Sphäre des Erlebens gekennzeichnet. Ihre Ansätze prägt auch der Verzicht auf die Verwendung als ‚subjektiv‘ erklärter Begriffe zugunsten eines Arsenals als ‚objektiv‘ verstandener Bezeichnungen wie ‚Stimulus‘, ‚Antwort‘ (response), ‚Verhaltensformation‘ (habit formation) oder ‚Reflex‘ (reflex act). Man setzt auf das, was Egon Brundwig im Kontext einer neopositivistischen Agenda als „psychology in terms of objects“98 bezeichnet hat. Damit folgt man, wie Plessners es in seinen methodologischen Reflexionen richtig erkannt hat, der Überlegung, natürliche Phänomene unter Berücksichtigung der Art und Weise ihrer Beobachtung und Messung zu bestimmen. Diese Ausrichtung markiert keinesfalls eine heute überwundene Grenzziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern prägt noch die moderne experimentelle Psychologie.99 Allerdings ist gerade im Zuge der Entwicklungen der kognitiven Ethologie diese Zurückhaltung bewusst aufgegeben worden.100 Kants zu einer Neueinschätzung (ebd., S. 164). Vgl. auch H. Plessner, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks“, S. 80 f. Zum Wechsel Uexkülls vom „unerbittlichen Experimentator“ zum Umweltforscher vgl. A. Schwarz, „Baron Jakob von Uexküll: Das Experiment als Ordnungsprinzip in der Biologie“, in: A. Schwarz, A. Nordmann (Hrsg.), Das bunte Gewand der Theorie. Vierzehn Begegnungen mit philosophierenden Forschern, Freiburg, München 2009, S. 207-234. 96 E. Radl (Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit, Bd. 2, S. 437, Fußnote 2) erwähnt die ablehnende Kritik Nagels, Wasmanns, Forels, Buttel-Reepens und Wundts sowie die Zustimmung Zieglers. 97 E. L. Thorndike, „Animal intelligence. An experimental study of the associate pro cesses in animals“, in: Psychological Review Ser. Monogr. (Suppl. 2), 1898/4(1), S. 1-109; H. S. Jennings, Behavior of Lower Organisms, New York 1906; I. P. Pav lov, Conditioned Reflexes: An Investigation of the Physiological Activity of the Cerebral Cortex, New York 1927. Zu Uexkülls Interpretation von Pavlov vgl. auch J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 97 ff. 98 E. Brunswig, „Eingliederung der Psychologie in die exakten Wissenschaften“ (1937), in: J. Schulte, B. McGuiness (Hrsg.), Einheitswissenschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 219. 99 K. A. Ericsson, H. A. Simon, Protocol analysis: verbal reports as data, Cambridge 1993. 100 D. L. Cheney und R. M. Seyfarth (Wie Affen die Welt sehen. Das Denken einer anderen Art, München, Wien 1994, S. 22) etwa verstehen ihre experimentellen Feldstudien zum Sozialverhalten von Grünen Meerkatzen als Kombination von behavioristischen Methoden mit mentalistischen Interpretationen und formulie-
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Für Plessner ist nun offensichtlich die Verwendung von Begriffen wie ‚empfinden‘ oder ‚anschauen‘, die auch für ihn (wie für Morgan oder Wundt) aus der Sphäre der Selbstbeobachtung stammen, für den Bereich, den er das „Außenfeld“ nennt, dann legitim, ja wird eigentlich zur Pflicht, wenn man die biophilosophische Bestimmung des Lebens unter dem Gesichtspunkt der Positionalität berücksichtigt. Hier wird eine gemeinsame Ausgangsbasis allen Lebens erreicht, die die Anwendung gemeinsamer Begriffe für gemeinsame Fähigkeiten erfordert: „Nachdem jedoch die Untersuchung der Positionalität eines bestimmten Typus Lebewesen dieselbe Struktur ihres Verhältnisses zum Außenfeld erwiesen hat, dürfen nicht etwa (per analogiam), sondern müssen die gleichen Begriffe hierfür eingesetzt werden. Denn die Betrachtung der Positionalität schließt das in der Selbstbeobachtung Zugängliche, sofern es den Bezug zum Außenfeld konstituiert, mit ein.“101 Von diesen methodologischen Überlegungen kehren wir zurück zu Plessners Bestimmungen in der Vorlesung: Da das Tier vom Umfeld Eindrücke empfängt und über seinen Leib auf das Umfeld zurück wirkt, ist es charakteristisch für die geschlossene Organisationsform, „über eine Kluft hinweg“ mit dem Milieu zusammenzuhängen. Durch diesen Abstand wird das Milieu zu einem „Gegenüber“. Folglich ist ren (ebd., S. 21): „Mit dieser Terminologie [gemeint ist die Verwendung von Begriffen wie ‚innere Repräsentation‘, ‚Bewusstsein‘ oder ‚Strategie‘ K. K.] ist unser Ansatz, philosophisch gesprochen, eher mentalistisch als behavioristisch […].“ 101 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 324. In ähnlicher Weise hatte Plessner in seiner Zusammenarbeit mit Buytendijk (H. Plessner, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks“, S. 80) deutlich gemacht, dass eine phänomenologische Aufnahme von Verhaltensabläufen unter Berücksichtigung der Umwelten, in denen sie stattfinden, diese Abläufe als dynamische und sinnvolle Gestalten erfassen kann. Als leibliche Bewegungen weisen diese Verhalten eine sinnvolle Struktur auf – in Uexkülls Terminologie stellen sie eine „Bewegungsmelodie“ dar (ebd., S. 78, Fußnote 4). Solche sinnvoll deutbaren und unmittelbar anschaulich erfassbaren Gestaltprozesse sind für den leiblichen Beobachter als „Umweltintentionalität des [tierlichen K. K.] Leibes“ (ebd., S. 79) zugänglich und legitimieren dann die Verwendung von Begriffen wie ‚suchen‘, ‚sehen‘, ‚greifen‘. Berücksichtige ich in dieser Art die „Beziehungsweisen zwischen Umgebung und Leib“ dann gilt: „Nicht ich projiziere meine sinnlichen Erlebnisweisen in das Tier hinein und treibe, indem ich ihm solche Modalformen zuspreche, anthropomorphe Kryptopsychologie, mache dabei über sein Erleben Aussagen, ‚die doch eigentlich nur nachprüfbar wären, wenn ich in dem Tier drinstecken könnte‘, sondern ich stelle damit nur den Modalcharakter seines rezeptiven Verhaltens fest, der mir anschaulich gewiß ist.“ (Ebd., S. 80 f.)
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ebenfalls charakteristisch für die geschlossene Organisationsform deren Frontalität. Diese Frontstellung erklärt sich daraus, „daß alles tierische Leben triebhaft ist oder primär bedürftig ist, primär unerfüllt ist.“102 Typisch für das tierische Leben ist somit, dass es gegen eine Hemmung leben muss, also stets eine Kluft oder Widerständigkeit des Gegenübers zu überwinden hat – ein Gedanke, den später auch Hans Jonas im Kontext seiner ‚Dialektik der Freiheit‘ zum bestimmenden Merkmal des tierischen Lebens erklärt.103 Die Kluft ist für Plessner darüber hinaus Ausdruck des Gedankens der Abgehobenheit des tierischen Lebens von seiner Umwelt, Ausdruck also für die besondere Selbständigkeit ihr gegenüber, in die es dennoch „hineinverwoben“104 ist. Durch die Dialektik von vermittelter und unmittelbarer Bezugnahme auf das Umfeld entsteht nach Plessner die Möglichkeit des Merkens von und des Wirkens auf etwas und mit dieser Möglichkeit die zentrale Vermittlung von Merkeindrücken und Wirkbewegungen. Zwei Varianten der Frontalität sind dabei zu unterscheiden: die Möglichkeit, Frontalität dezentralistisch zu verwirklichen (bei wirbellosen Tieren) und die Möglichkeit, sie zentralistisch zu verwirklichen (bei Wirbeltieren).
6. Reflexrepubliken: Die dezentrale Organisation der Wirbellosen Die dezentrale Organisation erläutert Plessner in der Vorlesung wieder in direktem Bezug auf Uexkülls Umwelt und Innenwelt der Tiere. Dabei wird zunächst das Konzept des Funktionskreises durch Plessners Begleittext sowie die zugeordnete Skizze als Kombination zweier Halbkreise erläutert. Für die Innenwelt zählt Plessner die zugehörigen Strukturen der Organismen auf: Sinnesorgane, zuführende Sinnesnerven, Zentrum, ausführende Sinnesnerven und Bewegungsorgane.105 102 H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 129. 103 H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 156: „Das große Geheimnis tierischen Lebens liegt genau in der Lücke, die es zwischen unmittelbarem Anliegen und mittelbarer Befriedigung offen zu halten vermag, d. h. in dem Verlust an Unmittelbarkeit, dem der Gewinn an Spielraum entspricht. Sinnlichkeit, Gefühl und Bewegungsvermögen sind verschiedene Äußerungen dieses Prinzips der Mittel barkeit – also der wesenhaften ‚Abständigkeit‘ tierischen Seins.“ 104 H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 131. 105 Ebd., S. 132.
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Dieser „Halbkreis“ werde von Uexküll „zu einem ganzen Kreis“ durch Einbeziehung der Umwelt vervollständigt. Die Skizze ergänzt entsprechend mit zeichnerischen Mitteln diesen zweiten Halbkreis durch ein als ‚Objekt‘ bestimmtes Rechteck, das über ein aufgefasertes StricheBündel (bezeichnet mit ‚Merkmalträger‘ resp. ‚Wirkungsträger‘) mit dem Kreis verbunden ist. Wichtig ist für Plessner das Zentrum des ersten Halbkreises, in dem Eindrücke von der Umwelt gesammelt und gespeichert werden (‚Merkzentrum‘) und dann umgeschaltet auf ein zweites System von Zellen (‚Wirknetz‘). Neben dieser gängigen – in der Begrifflichkeit bereits leicht von Uexküll abweichenden – Rekapitulation ist insbesondere ein interpretierender Vermerk an die Zuhörer der Vorlesung interessant. Hier deutet sich Plessners Interpretation von Uexküll an und verweist auf seine eigene Weiterentwicklung und spätere Kritik. Wenn man die Aufmerksamkeit auf den Bereich von bestimmten Bereichen des Umfeldes als Merkmal- und Wirkmalträger richte, so Plessner, dann falle auf: „Aber interessant ist, daß dazwischen Platz ist. Was ist das Dazwischen? Das wäre für uns Menschen das jeweilige Objekt […]. Wir können aber, wenn wir z. B. die Umwelt eines Seesterns oder eines Vogels betrachten, immer sagen […] Dieses dazwischen liegende Objekt fällt aus. […] Die Merksphäre und die Wirksphäre fallen nicht zusammen für das Tier. Was heißt das nun? Wir sprachen von dem Umfeld. Das Umfeld hat das Merkwürdige, daß es für uns, für unsere Betrachtung aus zwei Sphären besteht, die nur dadurch miteinander in Einheit stehen, daß sie verknüpft sind durch den Funktions- und Bauplan des Lebewesens.“106 Für das Tier ist diese Zusammenhanglosigkeit also nicht zu bemerken. Das Auseinanderbrechen aktualisiert sich für es nicht. Es wird nur dem menschlichen Beobachter und Interpreten erkennbar. Der Hintergrund dieser allgemeinen Vorüberlegungen erlaubt es Plessner, die beiden verschiedenen Organisationsformen der Tiere abzuleiten: Die Unabhängigkeit zwischen Merk- und Wirksphäre wird demnach in der Organisation der Tiere ablesbar. Auch mit dieser Überlegung entspricht Plessner vollkommen den Vorgaben Uexkülls, nach dem der Bauplan der Lebewesen dem Forscher auch Auskunft über die Möglichkeiten des Erlebens bei diesen Wesen vermittelt.107 Dieses wird insbesonde106 Ebd., S. 133. 107 Nach J. v. Uexküll (Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909, S. 5 ff.) muss der Forscher, der die Tiere in ihrer Umwelt erfassen will, zunächst berücksichtigen,
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re am paradigmatischen Fallbeispiel des Seeigels108 expliziert und zum Kennzeichen der dezentralen Organisationsform erhoben.109 Auch für Plessner garantiert der „Plan der Organisation“, dass das Tier auf entsprechende Merkmale oder Reize trotz des Auseinanderfallens der dass jedes variierende Individuum „entsprechend seinem veränderten Bauplan anders, aber gleich vollkommen seiner Umgebung angepaßt“ (ebd., S. 5) ist. Der Bauplan schafft dabei in weiten Grenzen selbsttätig die Umwelt des Tieres. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Lebewesen und deren Umwelten zu identifizieren, ist dann keinesfalls trivial: „Es ist freilich nicht schwierig ein beliebiges Tier in seiner Umgebung zu beobachten. Aber damit ist die Aufgabe keineswegs gelöst. Der Experimentator muß festzustellen suchen, welche Teile dieser Umgebung auf das Tier einwirken und in welcher Form das geschieht.“ (Ebd., S. 6) Uexküll lehnt dabei die anthropozentrische Betrachtungsweise zugunsten der Einnahme des „Standpunkts des Tieres“ ab. Damit blieben nur noch jene Einwirkungen als Weltfaktoren übrig, „die dem Bauplan entsprechend auf das Tier einen Einfluß ausüben.“ (Ebd.) Ebenso objektiv wie die Faktoren der Umwelt seien auch die durch diese hervorgerufenen Wirkungen im Nervensystem (Innenwelt der Tiere) und auch diese seien durch den Bauplan geregelt. So gilt: „Über der Innenwelt und der Umwelt steht der Bauplan, alles beherrschend. Die Erforschung des Bauplanes kann meiner Überzeugung nach allein die gesunde und gesicherte Grundlage der Biologie abgeben.“ (Ebd., S. 7) In ähnlicher Weise heißt es auch in Die Lebenslehre (S. 132): „Der Biologe steht den Bemühungen der Psychologen äußerst skeptisch gegenüber, besonders, wenn es sich um niedere Tiere handelt. Er begnügt sich damit, die in seiner Merkwelt vorhandenen Gegenstände als Reizquellen den Versuchstieren gegenüberzustellen, um zu erfahren, welche ihrer Eigenschaften und in welchem Zusammenhang sie als Reize auf das Tier wirken. Daraus wird er die Merkmale der Tiere zu rekonstruieren suchen – sich aber immer dabei bewußt bleiben, daß er seine eigenen Merkmale zum Aufbau verwendet.“ Vgl. auch J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 157, S. 167. Betont wird immer wieder (etwa ebd., S. 215): „Der Biologe hat sich nur mit den für den Beobachter wahrnehmbaren Äußerungen der Tiere zu befassen und aus ihnen auf die Organisation zu schließen.“ J. v. Uexküll („Der Organismus und die Umwelt“, S. 201) konkretisiert allerdings: „Die Methode des ‚Einfühlens‘, die die vergleichenden Psychologen anwenden, verspricht nur bei den höchsten Tieren Erfolg.“ Bei niederen Tieren verbiete sich dieser Ansatz und laufe zudem Gefahr, „die Existenz einer allgemeinen Weltbühne für alle Subjekte anzuerkennen“ und so das Verhältnis des einzelnen Subjekts zu seiner Welt vollkommen zu verschieben. 108 Da Plessners biologische Arbeiten u. a. auch dieser Tierart gewidmet waren (vgl. H. Plessner, „Untersuchungen über die Physiologie der Seesterne“, in: Zoologi sche Jahrbücher 33/1913, S. 361-386) dürften für ihn die Arbeiten Uexkülls auch in dieser Hinsicht orientierend gewesen sein. 109 Vgl. J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 118: „Es herrscht im Seeigel, um das Wesentliche nochmals hervorzuheben, nicht der einheitliche Impuls, sondern der einheitliche Plan, der die ganze Umgebung des Seeigels mit in seine Organisation hineinzieht.“ Dieses übernimmt Plessner (Die Stufen des Organi schen und der Mensch, S. 315) fast wörtlich: „Bei dezentralistisch organisierten Tieren ersetzt die Einheit des Plans die Einheit des Impulses.“
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Sphären passende Wirkungen ausübt.110 Die sinnvolle Zuordnung der auseinanderklaffenden Sphären erfolgt nur über die Organisation der Lebewesen, wobei die eigenen Wirkungen auf das Umfeld allerdings nicht wieder rückgemeldet werden, so dass das Tier keine Eindrücke oder Empfindungen davon erhält. Für Plessner ist diese Variante typisch für eine „Wegwahl des Le bens“.111 Sie steht für denjenigen ‚Weg‘ oder Entwicklungspfad, den die Wirbellosen eingeschlagen haben. In enger Orientierung an Uexkülls Vorstellungen zur Signal- und Reflexrepublik112 bei Seeigeln, kennzeichnet diesen Typ der Lebewesen ihre nichtzentrale Organisation. Das Gewicht zwischen dem organismischen Ganzen und seinen Teilen ist hier zugunsten der Teile verlagert. Nach dem Bonmot von Uexküll bewegt nicht der Seeigel seine Beine, sondern die Beine bewegen den Seeigel. Mit dieser Autonomie von Teilstrukturen und der damit verlagerten Teil-Ganzes-Relation färbt sich entsprechend der benannten Verflechtung beider Bereiche notwendig auch die Relation zwischen Lebewesen und deren Umfeld in bestimmter Weise: Das Wirknetz ist dem Merknetz überlegen und die Bezugnahmen des Lebewesens auf seine Umgebung erfolgen unter Umgehung des Bewusstseins. Die Merksphäre wird auf die bloßen Ermöglichungsbedingungen für spezifische Wirkbewegungen reduziert, womit das Umfeld nach Plessner zum bloßen Signalfeld wird. Der Ringschluss des Funktionskreises verläuft damit zwar durch das Umfeld, ist aber dem Tier selbst nicht noch einmal gegeben. Uexküll hatte bereits spekuliert, dass vergleichende Psychologen von einem solchen Nervensystem des
110 H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 133. 111 Ebd., S. 134. Vgl. zum Gedanken der Wegwahl die Überlegung Bergsons zu einer evolutionären Entwicklung in Garbenform (H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 119 f.), die bei den Tieren zu zwei zentralen Entwicklungspfaden führt (ebd., S. 154): den Pfaden der Gliederfüßer und der Wirbeltiere, mit deren idealen Endpunkten der Hautflügler (ebd., S. 156) respektive des Menschen, welche dann – in Übereinstimmung mit den Verhaltensstudien an Hautflüglern durch Jean Henri Fabre – für Bergson zu den Repräsentanten von Instinkt und Intellekt werden. 112 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 315; vgl. J. v. Uexkülls Bemerkungen zum Seeigel in Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 90-129. Zur Bemerkung über die Reflexrepublik ebd., S. 118; vgl. auch G. v. Uexküll, Jakob von Uexküll seine Welt und seine Umwelt, S. 41; J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge, S. 39; J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 283. Zu den Seeigel-Studien v. Uexkülls vgl. auch B. Hassenstein, „Jakob von Uexküll (1864–1944)“, S. 340 ff.; vgl. weiter den Bezug auf diese Überlegungen Uexkülls bei M. Merleau-Ponty (Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, München 2000, S. 234).
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Seeigels nie „etwas anderes erfahren als einzelne Empfindungen“.113 Für Plessner besteht auch für die Wirbellosen selbst keine Möglichkeit „von ihrem eigenen Körper etwas zu wissen“.114 Bei dezentralistischer Organisation ist also das Wissen vom eigenen Körper abgeblendet. Sie sind kraft des eigenen Körpers, aber nicht in und mit ihren Körpern.
7. Orientierte Leiber: Die zentrale Organisation der Wirbeltiere Entsprechend dieser Vorgaben bestimmt Plessner auch die zentrale Organisationsform in enger Anlehnung an Uexkülls Vorgaben: Nach den vorgehenden Überlegungen sind dezentral organisierte Tiere solche Lebewesen, „bei denen der Funktionskreis nicht durch die Umwelt hindurch geschlossen ist, sondern hindurch geschlossen ist im Tiere selbst; also im Körper des Tieres findet der Ringschluß des Funktionskreises selbst statt.“115 Der dezentralistische Funktionskreis ist deshalb eigentlich gar kein Kreis – er besteht vielmehr aus zwei unverbundenen Halbkreisen.116 Merksphäre und Wirksphäre kommen nicht zur Deckung und werden leidglich in der Einheit des Funktionsplanes des Tieres zur Einheit gebracht. Das Objektgefüge (bei Uexküll ‚Gegengefüge‘117) bleibt außerhalb des Funktionskreises. Die zentralistische Organisationsform repräsentiert dann den „Gegentyp“ zu dieser Organisationsform. Hier fallen Merkmal- und Wirkmalsphäre zusammen, sie kommen zur Deckung (womit deren Gegensatz quasi aufgehoben ist). Erreicht wird dieses, indem im Tier die Ausführungsorgane (Effektoren) an die Sinnesorgane (Sensoren) angeschlossen werden, womit der Funktionskreis im Tierkörper selbst geschlossen wird. Resultat dieses J. v. Uexküll Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 118. H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 134. Ebd., S. 135. Auch J. v. Uexküll (Die Lebenslehre, S. 130) betont, „daß unsere Umwelt in zwei Hälften sich gliedert […].“ Allerdings geht Uexkülls Modell trotz dieser Trennung zweier Hälften letztlich in jedem Fall von einem Ringschluss aus: „Unter Funktionskreis verstehe ich die doppelte Leistung des Merkens und Wirkens, in die auch das Objekt mit eingeschlossen ist. Jede Umwelt wird von zahlreichen Funktionskreisen durchzogen, die vom Objekt ausgehend, durch das Subjekt hindurchziehen, um am gleichen Objekt zu enden und sich dort zum Kreise zu schließen.“ (Ebd., S. 151) Vgl. auch die Kennzeichnung des Funktionskreises als „eine in sich abgeschlossene Einheit“ in J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 161. 117 So auch bei H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 314. 113 114 115 116
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Ringschlusses ist, dass das Tier zunächst seine Bewegung bemerkt und so von seinem eigenen Körper Empfindung bekommt. Damit wird nach Plessner für das Tier der Gegensatz von Körper und Leib selbst fasslich. Die Leiblichkeit ist gegeben dadurch, „daß Gewebe auftreten, die die Funktion haben, den Körper in ihm selbst zu repräsentieren“118 (Nervengewebe). Mit diesem „Körperwissen“ wird eine Situation erfasst, die Plessner in der Vorlesung als „Drinsein“ oder „Drinstecken“ des Tieres in seinem Körper umschreibt und die ihn auch hier – entsprechend des geschilderten antidualistischen Ansatzes und der durch ihn bedingten Ablehnung einer Opposition von ‚Innenwelt‘ und ‚Außenwelt‘ – die Bemerkung abnötigt, eine Interpretation dieses „Drinseins“ als Seele sei zwar naheliegend, aber fehlgeleitet. Vielmehr wird in dieser raumhaften Umschlossenheit durch den eigenen Körper der Gegensatz von Körper und Leib gemerkt, die dessen Bestimmung als raumbehauptende Einheit legitimiert.119 Der Leib wird zum ausgezeichneten Bezugssystem der zentral organisierten Tiere, das all ihren sensorischen und effektorischen Einzelleistungen Orientierung gibt. Alle Umfeldmomente orientieren sich auf diesen Leib hin und von ihm weg. Der biologischen Realisation dieses Vermögens dient die Ausbildung eines Zentralnervensystems, das die vormals ‚republikanische‘ Koordination in eine „monarchische Zusammenfassung“120 überführt, womit die Zentralisation entsteht. Der Ringschluss zwischen Merk- und Wirksphäre und das durch die Zentralisierung ermöglichte Merken des Wirkens, das eine leibliche Dimension entstehen lässt, ermöglicht zugleich die Einheit des Dinges.121 Zwischen der zentralistischen Organisation des Körpers der Wirbeltiere und der dinglichen Gliederung des Umfeldes besteht nun eine notwendige Koexistenz.122 Entgegen der tierpsychologischen These Volkelts,123 der Tieren im Gegensatz zur typisch menschlichen Dingwahrnehmung lediglich die Fähigkeit einer sensorischen Erfassung H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 136. Vgl. auch H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 320. H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 137. J. v. Uexküll (Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 117) hatte in diesem Sinne ebenfalls eine Gegenstandserfahrung bei Seeigeln in Zweifel gezogen: „[…] die Umwelt der Tiere enthält dann wohl Eigenschaften, aber keine Gegenstände“. 122 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 319. 123 Vgl. dazu ebd., S. 333 ff. in der Volkelts ‚Spinnenversuch‘ gewürdigt wird (H. Vol kelt, Über die Vorstellungen der Tiere. Ein Beitrag zur Entwicklungspsychologie, in: Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, hrsg. von F. Krueger, Heft 2, Leipzig, Berlin 1914). Vgl. auch H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 142 ff. 118 119 120 121
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von ‚Melodien‘ oder ‚Konfigurationen‘ zuschrieb, welche er in Erweiterung von Ehrenfels Konzept der ‚Gestaltqualitäten‘ ‚Komplexqualitäten‘ nannte,124 geht Plessner auch für Wirbeltiere von der Möglichkeit einer Dingwahrnehmung aus. Diese ergibt sich jedoch nicht allein aus der Fähigkeit zur Verallgemeinerung sinnlicher Qualitäten (was nur die Seite der Merksphäre beträfe), sondern: „Was als Struktur der Haltbarkeit am Dinggebilde auftritt, ist in Wahrheit sein Bezug zur Motorik des Lebewesens […].“125 Es ist die durch Zentralisierung eröffnete kombinierte Möglichkeit, sowohl „Griffe am Umfeld“ vorzunehmen (Wirksphäre) als auch „Eingriffe des Umfeldes“ zu spüren (Merksphäre), das Umfeld also „griffig“ zu erleben,126 die diese dinghafte Strukturierung des Umfeldes konstituiert. In der Vorlesung bringt Plessner diese Besonderheit zum Ausdruck, indem er gegenüber Uexküll eine begriffliche Feinunterscheidung vornimmt und formuliert: „Der Zusammenfall schafft eine neue Art von Umfeld; wir haben diese neue Art ‚Umwelt‘ genannt.“127 Wo also wirbellose Tiere lediglich ein Umfeld besitzen, haben Wirbeltiere eine Umwelt. Da mit der Fähigkeit, eine dinghafte Gegliedertheit der Umwelt zu erfassen, für einige am überkommenen Verständnis von Instinkt, Reflex oder Intellekt festhaltende Positionen aus der Tierpsychologie bereits menschliche (intelligente) Kapazitäten auch den Tieren zugeschrieben wären, setzt sich Plessner für die genaue Klärung der Bedeutung dieses Befundes intensiv mit den Versuchen an Schimpansen von W. Köhler auseinander.128 Ähnlich wie Scheler129 sieht auch Plessner in Köhlers Versuchen einen – nach Plessner sowohl auf einem zulässigen Begriff menschlicher Intelligenz als auch auf naturwissenschaftlich akzeptablen, weil auf keinen Übertragungen aus der Selbstbeobachtung stammenden, sicheren Kriterien der Feststellbarkeit im Handlungsbild beruhenden130 – Beleg für tierische Intelligenz. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 335 f. Ebd., 322. Ebd., 320. H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 139. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 336 ff.; H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 146 ff. (W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Men schenaffen, unveränderter Nachdruck der 2. Auflage (1921), Berlin, Göttingen, Heidelberg 1963). 129 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 32 ff.; vgl. zu Scheler den Beitrag von Fischer in diesem Band. 130 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 337; H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 147. 124 125 126 127 128
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Beide, Scheler und Plessner, grenzen sich jedoch von Interpretationen der Köhlerschen Versuche ab, die mit diesem Befund die Tier-MenschGrenze bereits gefallen sehen. Im Gegensatz zu dem expliziten Bezug Schelers auf den menschlichen Geist,131 bezieht sich Plessner in seinem Festhalten an der Mensch-Tier-Grenze jedoch vor allem auf eine Spezifizierung des Dingcharakters. Diese läuft auf eine, in der neueren Debatte ähnlich auch von R. Brandt132 vorgenommenen, Verweis auf fehlende Bedingungen für die Bildung von Urteilen bei Tieren hinaus. Für Plessner ist der Dingcharakter bei Tieren stets auf ein Aktionsfeld beschränkt. Auch solche Dinge zeichnet eine Transzendenz oder ein Überfluss über das hinaus aus, was merkmäßig gegeben ist. Durch die wechselseitige Übertragung von Merk- auf Wirkmale sind sie, so die Vorlesung, „immer zugleich das, was noch kommt“.133 Die mittels sinnlicher Erfassung gegebenen Umweltbereiche werden über ihre sinnliche Gegebenheit hinaus zu „Bewegungschancen“134 und sind so mehr als das, was unmittelbar sinnlich präsent ist. Insofern tritt eine solide Dinghaftigkeit schon im Bereich des tierischen Lebens auf.135 Allerdings umfasst die Konfiguration des Gebildes stets nur mögliche „Ansatzpunkte lebendigen Handelns“.136 Das Tier erfasst die Feldstruktur seiner Umgebung, hierbei bleibt das Ding jedoch „Korrelat des sensomotorischen Funktionskreises“, ist also „Ausgangspunkt der Reize und Angriffspunkt der Aktionen.“137 Der Grundton bleibt auch hier ein motorisch-praktischer: Haltbarkeit und Greifbarkeit. Auch wenn dabei im Gegensatz zur komplexqualitativ geordneten Anschauung (die nach Plessner für die dezentralistisch organisierten Tiere gilt) eine Ablösung eines Hintergrundes von Möglichkeiten (Bewegungsmöglichkeiten und Griffmöglichkeiten)138 von der anschaulich gegebe nen Dingstruktur realisiert ist, so fehlt doch insbesondere eine Fähigkeit. Nur diese erlaubt es dem Menschen, Sachverhalte zu erfassen: „Dem intelligentesten Lebewesen in der Tierreihe, dem menschenähn lichsten, fehlt der Sinn fürs Negative.“139 Eine in diesem Sinne echte 131 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 36 ff. 132 R. Brandt, Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie, Frankfurt a. M. 2009, S. 28 ff. 133 H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 139. 134 Ebd., S. 140. 135 Vgl. auch H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 317, S. 321. 136 Ebd., S. 323. 137 Ebd., S. 341. 138 Vgl. ebd., S. 346. 139 Ebd., S. 340.
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Dingwahrnehmung ist nur dem Menschen möglich. Gegenüber dem Anschauungsbild kann er eine Transzendierung vornehmen, die zwar ein Plus (an Unsichtbarkeit) bedeutet, die aber erst durch ein Minus (die Möglichkeit, Negation zu denken) gegeben ist. Insofern liegt hier ein „Plus an Negativität“ vor.140 Zum Sachcharakter von Dingen vorzustoßen, bedeutet damit eine Abkehr von der bloßen Betrachtung möglicher lebensdienlicher Verwendbarkeit. Mit dieser nur dem Menschen gegebenen Fähigkeit eröffnet sich nicht nur die „Abgehobenheit von dem selbst nicht mehr Inhalt werdenden Grund des Bewußtseins“,141 sondern auch die Fähigkeit „echter objektiver Dingwahrnehmung“.142 Stärker noch als Scheler, der zwar für tierische Intelligenz eine grundsätzliche Referenz auf den lebenspraktischen Bezugscharakter von Dingen stark macht, dennoch aber schon hier eine Versachlichung von Umweltbestandteilen konstatierte,143 wobei auch er vollgültige Sachlichkeit allerdings für den menschlichen Geist reservierte,144 verweist Plessner auf den mit der Möglichkeit einer Erfassung von Sachlichkeit verbundenen „unüberbrückbaren Wesensunterschied von Mensch und Tier“.145 Dabei bedeutet die Möglichkeit der Erkenntnis von Dingen der Umwelt als Sachverhalte, die Fähigkeit zur Negation. Diese Möglichkeit hat das Tier nicht: „Abwesenheit, Mangel, Leere – sind ihm verschlossene Anschauungsmöglichkeiten.“146 Letztlich bedeutet das – und dieses werden die späteren Überlegungen Plessners noch deutlicher machen –, dass auf der Stufe des tierischen Lebens „die besonderen Charaktere der Welthaftigkeit, wie sie für den Menschen spezifisch ist, fehlen.“147 Damit scheint Plessner zunächst eine ähnlich gelagerte Unterscheidung vorzunehmen wie Sche140 141 142 143 144 145
Ebd., S. 341. Ebd., S. 342. Ebd., S. 347. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 35. Ebd., S. 39. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 340; H. Plessner (Ele mente der Metaphysik, S. 150 ff.) konstatiert die eigentümliche Unfähigkeit von Tieren, „mit dem Negativen zu operieren“ als grundsätzliche Voraussetzung dafür, dass sie stets nur „Feldverhalte“ nie aber „Sachverhalte“ konstatieren. „Der Übergang von diesem Feldverhalt zu dem Sachverhalt beruht in der Möglichkeit des Übergehens von der positiven Seite zu der negativen Seite […].“ (Ebd., S. 151) Hier gilt: „Die Tiere können in diesem Sinne nicht denken.“ (Ebd., S. 153) 146 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 342. 147 H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 139.
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ler, denn auch dieser hatte die Differenz zwischen der Umweltgebundenheit der Tiere und der Weltoffenheit des Menschen sowie die nur mit letzterer verbundene Möglichkeit, eine Fernstellung zur Umwelt insofern einzunehmen als deren lebensbezogene Strukturen als Sachverhalte verstanden werden, mit dem Akt der Negation verbunden: „Mensch sein heißt: dieser Art der Wirklichkeit ein kräftiges ‚Nein‘ entgegenschleudern.“148 Differenzen im Detail – etwa das von Scheler betonte Leben im Konkreten bei Tieren und das von Plessner mit der Feldstruktur verbundene Konzept eines allgemeinen Wahrnehmungsrahmens – seien hier ausgeklammert. Im Gegensatz zu Uexkülls begrifflich nicht immer trennscharfer Unterscheidung zwischen ‚Welt‘ und ‚Umwelt‘,149 scheinen Plessner wie Scheler eindeutige Zuweisungen vorzunehmen und ‚Welt‘ für den Menschen zu reservieren. Uexküll hingegen hatte trotz seiner Betonung der Spezifität tierischer 148 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 52. 149 In der Umwelt und Innenwelt der Tiere (J. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 248) wird behauptet, dass die ‚Welt‘, die uns umgibt, „die objektive Wirklichkeit“ ist, „mit der wir es zu tun haben, wenn wir objektive Naturforschung betreiben.“ Jedes Tier hat hingegen seine eigene Umwelt, „die immer größere Verschiedenheiten mit der unseren aufweist, je weiter es sich in seiner Organisation von uns entfernt“ (ebd.). Die Umwelt ist stets nur „jener Teil der Umgebung“ (ebd., S. 249), der auf die erregbaren Strukturen des Tierkörpers wirkt. Während sich die Umwelt des Tieres ändert, bleibt die Umgebung im Wesentlichen unverändert, weil sie die „Umwelt des Beobachters und nicht des Tieres“ (ebd.) ist. Mit der steigenden Anzahl von Wirkungen, die sie enthält, nähert sich die Umwelt der Umgebung an, die sie umschließt (ebd., S. 252). In der Lebenslehre (J. v. Uexküll, Die Lebenslehre, S. 129 ff.) unterscheidet Uexküll ebenfalls die Relation, die eine wissenschaftliche Beschreibung etwa durch die Ökologie von den Verhältnissen der Tiere zu ihrer ‚Umgebung‘ liefert, von den ‚Umwelten der Tiere‘: „Nur die Umgebung eines Tieres liegt vor unseren Augen offen da. Wenn wir sie erforschen, entdecken wir in ihr die Reizquellen, die auf die Tiere einwirken. Die Umwelt aber ist völlig unsichtbar, denn sie besteht lediglich aus den Merkmalen der Tiere, die das Tier selbst hinausverlegt.“ (Ebd., S. 130) Der Fehler der Mechanisten besteht dann genau darin, von ‚Umwelt‘ zu sprechen, aber ‚Umgebung‘ zu meinen (ebd., S. 132). Jede Umwelt wird – nach dem bereits genannten Monadenmodell – allerdings zu einem „Tautropfen, der eine Welt in sich spiegelt“ (ebd., S. 144). Somit ist ein jedes Lebewesen „der einzige Mittelpunkt seiner Welt“ (ebd., S. 156) und das biologische Universum besteht aus „Abertausenden in sich geschlossener Welten“ (ebd., S. 157). In gleicher Weise findet sich in der Theoretischen Biologie (J. v. Uexküll, Theoretische Biologie, S. 157) die Überlegung, dass die Außenwelt unserer Maschinen, als Fortsetzung menschlicher Organe, stets ein Ausschnitt der menschlichen Welt ist, während die Innenwelt der Lebewesen uns diesen unmittelbaren Einblick versagt: „Wir können nur feststellen, daß die Umwelt der Tiere ebenso weit von der unseren abweicht wie ihr Bauplan von dem unsrigen.“
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Umweltbeziehungen auch für den Menschen (sogar im Kontext der Wissenschaften) einen Umweltcharakter geltend gemacht und gar von „Umwelten der Naturforscher“150 gesprochen. Mensch und Tier verbindet bei ihm deren Einbindung in Umwelten. Die scheinbar gemeinsame Opposition von Plessner und Scheler zu diesem Punkt lässt sich allerdings trennschärfer betrachten, wobei der Eindruck vollkommener Übereinstimmung relativiert wird, wenn man spätere Überlegungen Plessners berücksichtigt.
8. Die anthropologische Differenz: Von den Umwelten zur Welt Den genauen Unterschied und die verfehlte Gegenüberstellung von Umwelt und Welt zur Kennzeichnung der anthropologischen Differenz zeigt vor allem die bereits angekündigte späte Arbeit Plessners Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen (1950).151 Schon zur Kennzeichnung der tierischen Existenz in den Stufen hatte Plessner die Momente der Unterbrechung, der Hemmung, der Pause und des Hiatus hervorgehoben,152 womit er der Geschlossenheit des Funktionskreises und der mit ihr symbolisierten Einpassung tierischer Existenz in die Umwelt ein Moment der Gebrochenheit, des Gegenüber und insofern der Fremdstellung an die Seite stellte. In gleichem Sinne gewinnt bei Plessner auch zur Kennzeichnung des Menschen neben der durch Uexkülls Funktionskreis ausgedrückten Umweltgebundenheit als ein Lebewesen die vor allem durch Scheler hervorgehobene Umweltoffenheit und Ablösung der Existenz des Kulturwesens Bedeutung. Die damit thematisierte besondere exzentrische Positionalität des Menschen erfasst bei Plessner das Moment des Nichtaufgehens in der Umweltnatur in mehrfacher Hinsicht – so etwa in der Bestim150 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 101. Ergänzt wird: „Und doch ist die ganze Umwelt nur ein winziger Ausschnitt der Natur, zugeschnitten nach den Fähigkeiten eines Menschensubjektes.“ (Ebd.) Entsprechend des Umweltgedankens ist – in Übereinstimmung mit Plessners Bestimmungen – dann der Objektcharakter auch für Menschen nicht aufweisbar (ebd., S. 100). So ist die Rolle der Natur als Objekt der Naturforschung für Uexküll „höchst widerspruchsvoll“ (ebd., S. 103) – letztlich führt sein Modell deshalb zur Einsicht in den Subjektcharakter der Natur (ebd.). 151 H. Plessner, „Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen“ (1950), in: H. Pless ner, Conditio humana, Gesammelte Schriften, Bd. 8, Darmstadt 2003, S. 77-87. 152 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 330.
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mung des Menschen aus dem Gesetz der natürlichen Künstlichkeit.153 Aber alle diese Hinsichten beinhalten eine implizite Abgrenzung sowohl von einer unkritischen Übertragung des Uexküllschen Umweltbegriffs auf den Menschen als auch von seiner vollkommenen Dispensierung zugunsten eines Weltbegriffs im Sinne Schelers. Auch in seiner Analyse des Umwelt- und Weltverhältnisses des Menschen würdigt Plessner zunächst Uexkülls Umweltbegriff als ein wichtiges „methodisches Mittel, um der Biologie eine von anthropomorphen Maßstäben freie Analyse der verschiedenen Planordnungen tierischen Verhaltens zu ermöglichen“.154 Nach Plessner ergeben sich aus diesem Ansatz jedoch zwei miteinander verbundene Abgrenzungsprobleme: das eine besteht in der Unterscheidung von ‚Umwelt‘ und ‚Umgebung‘, das zweite resultiert aus der Frage, inwieweit sich die (für Menschen) prinzipiell nach allen Seiten hin grenzenlos erweiterbare Umgebung überhaupt noch als Umwelt fassen lässt. Beide Probleme sind methodisch im Fall der biologischen Verhaltensforschung miteinander verwoben, weil die zur Umwelt des Menschen gewordene Umgebung die Umwelten anderer Lebewesen insoweit einschließen soll, als diese Umwelten nun zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung werden. Damit entsteht ein dialektisches und selbstreferentielles Verhältnis, das später Humberto Maturana – auch er in enger Anlehnung an den Uexküllschen Gedanken ohne allerdings dessen Nennung155 – dadurch bestimmt, dass der Beobachter gleichzeitig den Gegenstand, den er untersucht (einen Organismus) betrachtet, als auch die Welt, in der sich dieser Gegenstand befindet und dabei zudem diese spezielle Beobachtung bestimmt ist durch den Umstand, dass der Beobachter mit dem Beobachtungsgegenstand eine enge Wesensverwandtschaft besitzt: „Der Beobachter ist ein menschliches Wesen, d. h.
153 Ebd., S. 382 ff. 154 H. Plessner, „Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen“, S. 77. 155 H. Maturana (Biologie der Realität, Frankfurt a. M., S. 28 f.) hat dieses folgendermaßen ausgedrückt: „Der Beobachter betrachtet Organismus und Umwelt gleichzeitig; er betrachtet jenen Teil der Umwelt als die Nische des Organismus, den er als in dessen Interaktionsbereich liegend beobachtet. Mit Bezug auf den Beobachter erscheint die Nische daher als ein Teil der Umwelt, für den beobachteten Organismus stellt die Nische hingegen den gesamten ihm zugehörigen Interaktionsbereich dar […]. Nische und Umwelt überschneiden sich daher nur in dem Maße, in dem der Beobachter (einschließlich seiner Instrumente) und der Organismus vergleichbare Organisationen besitzen.“
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ein lebendes System, und alles was lebende Systeme kennzeichnet, kennzeichnet auch ihn.“156 Für Plessner stellt diese besondere Relation der gebrochenen Wechselbeziehungen nicht nur ein technisches, sondern vielmehr ein grundsätzliches Problem für Biologie und Philosophie dar157 – man könnte auch formulieren: für die Biophilosophie.158 Wissenschaftsmethodologisch zeigt sich dieses Problem etwa in der Absicht, die nur subjektiv erfassbare, weil durch Momente des Erlebens geprägte, Sphäre einer tierischen ‚Umwelt‘ wegen der oben genannten wissenschaftlichen Objektivitätsforderung in den Grenzen und Begriffen einer auf die ‚Umgebung‘ gemünzten Außenbetrachtung abbilden zu wollen. Zugleich ergibt sich mit der je perspektivischen Ordnung der Umwelten (als auf Lebewesen zugeschnittener Ausschnitte der Umgebung) auch die Frage, inwiefern menschlich-wissenschaftliche Erfassung (als besondere Form menschlichen Erlebens) in diesem Sinne stets umweltrelativ, d. h. perspektivisch, bleiben muss. Damit resultierte bei aller postulierten Weltoffenheit (als Ablösung von dem je situativem Umweltbezug) stets nur eine umwelttypische, prinzipiell wandel- und revidierbare und damit je zeitgebundene Analyse. Hier, so Plessner, wird deutlich: „Die schematische, heute so beliebte Korrelation zwischen Tier und Umwelt, Mensch und Welt macht es sich doch wohl zu leicht.“159 Insofern ergibt sich schon aus der logischen Struktur des Verhältnisses beider Begriffe (Umwelt/Welt) als korrelativer Gegenbegriffe deren stete Bezogenheit aufeinander. Die Konstatierung einer ‚Umwelt‘ erfolgt immer vor dem selbst nicht zugänglichen Hintergrund, den der Begriff ‚Welt‘ markiert. Umgekehrt erlaubt die Konstatierung von ‚Welt‘ Umweltbildungen, ohne auf sie angewiesen zu sein. Kritisch gegenüber Uexküll ist deshalb anzumerken, dass er beide Begriffe genau in diesem Sinne zur Richtschnur einer biologischen Untersuchung erklärt, wobei er – wir erwähnten es – sich zugleich an Kant orientiert. Mit diesem Bezug auf Kant wird nach Plessner ‚Welt‘ auf eine 156 Ebd., S. 25. 157 H. Plessner, „Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen“, S. 77. 158 Vgl. dazu K. Köchy, „Selbstreferentialität. Die methodischen Vorgaben der kogni tiven Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem“, in: J. C. Heilinger (Hrsg.), Naturgeschichte der Freiheit, Berlin, New York 2007, S. 179-208; K. Köchy, „Os servazione“, in: F. Michelini, J. Davies (Hrsg.), Frontiere della Biologia. Prospettive filosofiche sulle scienze della vita, Milano 2013, S. 279-294. 159 H. Plessner, „Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen“, S. 78.
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Natur bezogen, „deren Entwurf der Mensch sich selbst verdankt“.160 Während jedoch der Kantische Begriff für Plessner letztlich aus dem Interesse der Sicherung einer sittlichen Weltordnung resultiert, transformiert die Biologie dieses Konzept in den Gedanken einer planvollen Ordnung der Natur und damit in einen Vitalismus, der mit Kant nichts mehr zu tun hat. Insofern wird eine Kritik Plessners an den „lebensphilosophischen Hintergründe[n]“ von Uexkülls Versuch deutlich, die aber zugleich mit einer Würdigung seines Werts und seiner Unverzichtbarkeit „für die empirische Lebensforschung“ einhergeht.161 Aus der bisher nur bedingt geklärten Beziehung zwischen Umwelt- und Weltnatur des Menschen haben sich nach Plessner zwei Grundströmungen entwickelt: Die biologistische Strömung degradiert den Menschen, indem sie ihn auf das „Niveau umweltgebundenen Lebens“ beschränkt. Die Gegenströmung hingegen löst den Menschen mit dem Hinweis auf prinzipielle Weltoffenheit und Nichtgebundenheit vollkommen aus allen Lebensbezügen heraus. Womit beide Ansätze nach Plessner allerdings nicht gerechnet haben, ist die „Möglichkeit, daß beim Menschen Umweltgebundenheit und Weltoffenheit kollidieren und nur im Verhältnis einer nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung gelten“.162 Für Plessner bedeutet demnach der Uexküllsche Umweltgedanke die Vorstellung einer strengen Entsprechung zwischen dem Bauplan eines Tieres und dem zu ihm passenden Ausschnitt der Umgebung, was sowohl eine Interessenbedingtheit und Subjektivität („in einer dem tierischen Organismus gemäßen Bedeutung verstanden“163) involviert. Damit wird eine notwendige Anbindung an oder ein Aufgehen in den tierischen Aktionsmöglichkeiten betont. Der dem Menschen zugängliche Sachcharakter der Beziehung entgeht nach dem Obigen den Tieren. Der so gegebenen planvollen Einpassung in die Umwelt bei Tieren steht 160 Ebd. 161 Ebd., S. 79. Noch einmal unterstreicht Plessner: „Die Uexküllsche Terminologie mag vielfach gewollt sein, doch bleibt der Versuch einer Analyse des tierischen Subjekts unter Vermeidung psychologischer oder physikalischer Analogien, ohne Tierpsychologie und ohne Pseudoexaktheit im Stil des alten Behaviorismus ein wesentlicher Fortschritt. […] Wie sich die perspektivische Ordnung dem Lebewesen in den Sektoren seines Merkens und Wirkens präsentiert, bleibt dem Menschen verschlossen. Aber daß und unter welchen Umständen sie sich präsentiert, daß das Lebewesen kein bloßes Ding, sondern eine Mitte ist […], darf auch die exakte Ethologie keinen Augenblick außer acht lassen.“ 162 Ebd., S. 80 f. 163 Ebd., S. 82.
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die menschliche Möglichkeit gegenüber, überall zu leben und überall zu Hause zu sein. Diese erwächst allerdings aus dessen existenzieller Bestimmung, biologisch betrachtet „nirgends zu Hause“ zu sein.164 Das Feld des Menschen ist damit die Welt, „eine offene Ordnung verborgener Hintergründigkeit, mit deren latenten Möglichkeiten und Eigenschaften er rechnet, in deren unerschöpflichen Reichtum er sich stets von neuem versenkt, deren Überraschungen er in aller Planung ausgeliefert ist.“165 Der Mensch als Vitalwesen ist zwar in die Umweltlichkeit im Uexküllschen Sinne eingebunden, als Kulturwesen hingegen, „setzt sich die Umweltlichkeit des Daseinsrahmens mit seinen Bedeutsamkeiten und Lebensbezügen von einem zumindest latent gegenwärtigen Hintergrund von Welt ab.“166 Zudem ist auch die Umweltbeziehung nicht einfach biologisch gegeben oder gewachsen, sondern sie ist kulturell gefärbt oder gemacht. Gerade die von Uexküll immer wieder gewählten Beispiele von menschlichen Umwelten, die den Förster oder den Holzbauer ins Analogieverhältnis zu tierischen Waldbewohnern setzen,167 nimmt Plessner kritisch als Gegenbeispiele gegen die simple Umwelteinbindung des Menschen. Hier zeige sich gerade in der Per spektivität unterschiedlicher Berufe und Haltungen die Abhebbarkeit, Verknüpfbarkeit und Fundiertheit der wechselnden Aspekte: „Bauer, Förster, Jäger, Verfolgter, Spaziergänger wissen voneinander und der Situationsbedingtheit ihrer Aspekte, die sie gegebenenfalls sogar in ein und derselben Person vereinigen können. Der Wald bleibt für sie nicht nur in der Haltung des Zuschauers, sondern auch des interessierten Mitspielers schließlich derselbe, wobei das ‚schließlich‘ die Durchbrochenheit und Gelegentlichkeit des interessenbedingten Aspekts zum Ausdruck bringt.“168 Damit sind die genuin menschlichen Zugänge – sowohl im Modus des distanziert-zuschauenden Beobachters als auch im Modus des involviert-teilnehmenden Mitspielers – als menschliche durch ihre Austauschbarkeit, ihre Vermittelbarkeit und ihre Aufhebbarkeit (zugunsten eines bleibenden Bildes) charakterisiert. Nur der Mensch weiß über die Aspekthaftigkeit der jeweiligen Umweltbezüge und 164 Ebd. 165 Ebd. 166 Ebd., S. 84. 167 J. v. Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 94 ff. 168 H. Plessner, „Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen“, S. 84.
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kann sich gerade dadurch aus den Interessestrukturen rein lebendiger Aktivitätsbezüge erheben und befreien. Bei allen Ähnlichkeiten, die es ermöglichen, im Leben des Menschen in kulturellen Systemen und deren Tradierungen die für ‚Umwelten‘ spezifische Strukturen wieder zu erkennen, trennt Plessner doch rigoros: „So wie ein geistiges Gerüst aus Sprache, Werten, Gütern und Sitte in all seiner Geschlossenheit und Unüberbrückbarkeit zugleich auch nach außen offen bleibt und Brücken zu anderen geistigen Gerüsten der Vorzeit und Mitwelt bildet, Durchblicke in fremdes Geistesleben gewährt, hebt es sich deutlich von den auch umwelthaften Bindungen rein vitalen und emotionalen Charakters ab, in denen wir Menschen mit unserer Tiefenperson, vorbewußt, affektiv, instinktiv leben.“169
169 Ebd., S. 86.
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Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur
1. Begegnung im Hause und im Geiste Schelers Plessner lernte Frederik Jacobus Johannes Buytendijk (1887–1974) um 1923 in Schelers Kölner Privatwohnung persönlich kennen, nachdem er ihn wahrscheinlich (so genau vermag er es rückblickend selbst nicht mehr zu sagen) im Wintersemester 1920/21 „in einem grossen Hör saal der alten, gerade zur Universität erhobenen Handelshochschule Köln [...] zum ersten Male“ gesehen hatte.1 Buytendijk, wie Plessners Vater zunächst Nervenarzt, war von 1919 bis 1925 Ordinarius für All gemeine Biologie an der Freien Universität Amsterdam und kam auf Schelers Einladung zu Gastvorträgen häufiger an den Rhein. Auch die Bekanntschaft mit Hans Driesch (der bis 1921 ebenfalls in Köln lehrte) fällt in diese Zeit. Den „großen Einfluß“, den Scheler auf Buytendijk ausgeübt hat, kann man gar nicht überschätzen.2 Scheler hat Buyten dijk zur Phänomenologie und letztlich wohl auch zum Katholizismus ,bekehrt‘.3 In den dreißiger Jahren begann Buytendijk, Heidegger zu 1 2
3
H. Plessner, „Unsere Begegnung“, in: Rencontre – Encounter – Begegnung. Contri� ������� butions a une psychologie humaine dédiées au Prof. F. J. J. Buytendijk, Utrecht, Ant werpen 1957, S. 331-338, hier S. 331. F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie, Reinbek bei Hamburg 1958, S. 126. Vgl. auch ders., Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958, S. IX: „Ich möchte nicht unterlassen, meine damals erwachte Verehrung für Max Scheler und den Einfluß, den sein Denken auf mich ausübte, zu erwähnen.“ Die Wertschätzung beruhte offenbar auf Gegen seitigkeit, wie sich Plessner erinnert: Scheler hielt „große Stücke auf Sie [...] Sie und [Abraham Anton] Grünbaum waren die Künder seines Ruhms in Holland, dem glücklichen Ausland vor unseren Toren, fremd und nah zugleich.“ (H. Plessner, „Unsere Begegnung“, S. 331) So W. J. M. Dekkers, „F. J. J. Buytendijk’s Concept of an Anthropological Physio logy“, in: Theoretical Medicine 16 (1)/1995, S. 15-39, hier S. 18, und T. Dehue, Changing the rules. Psychology in the Netherlands, 1900–1985, New York 1995, S. 73. 1937 konvertierte Buytendijk von der reformierten Kirche der Niederlande
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rezipieren, dann Merleau-Ponty, der seinerseits Buytendijks Schriften studiert hatte,4 und noch später auch Husserl. Den Weg in die phäno menologische Methode ebnete ihm aber Schelers Personalismus, an dem vor allem drei Aspekte für Buytendijk wichtig wurden: die Be deutung des Ausdrucksphänomens in der Fremdwahrnehmung, die anticartesianische Lehre von der psychophysischen Indifferenz und die Liebesmetaphysik. Auch wenn er in der ersten Gemeinschaftsarbeit mit Plessner Sche lers Lehre von der Wahrnehmung des Fremdpsychischen kritisieren wird,5 hält Buytendijk doch an der phänomenologischen Beschreibung des mimischen Ausdrucks fest. Die Emotion ist im Ausdruck nicht so gegeben wie eine sprachliche Bedeutung im Zeichen. Während das Wort ,Zorn‘ als arbiträrer Signifikant (im Englischen ,wrath‘, im Französischen ,colère‘) auf das Signifikat Zorn verweist, gehört die – zumeist unwillkürliche – zornige Mimik zum Zorn selbst dazu. Der Zorn drückt sich in der betreffenden Physiognomie unmittelbar aus – der Ausdruck denotiert nicht die Emotion, aber er konnotiert sie auch nicht, da er überhaupt nicht auf eine Bedeutung, weder als Hauptnoch als Nebenbedeutung referiert. Auch das Saussuresche Merkmal der Konventionalität von Zeichen lässt sich nicht ohne weiteres auf Ausdrücke übertragen – der Ausdruck erscheint uns ursprünglicher als die an Konventionen gebundene Sphäre der Sprache zu sein und Sprachgrenzen sogar zu überschreiten (wir erkennen Freude häufig auch dort, wo wir die Sprache einer fremden Kultur nicht sprechen). Dass freilich das Verstehen einer Ausdrucksbewegung an bestimmte Bedingungen gebunden ist und es die Möglichkeit des Missverstehens gibt, widerspricht nicht der phänomenal „untrennbaren Einheit von erscheinender Leibgestalt und Sinngehalt“,6 an der jedes Verstehen schon ansetzen muss.
4 5 6
zum katholischen Glauben, während Scheler sich bereits 1924 (also vier Jahre vor seinem Tod 1928) vom Theismus und der katholischen Kirche öffentlich lossagte. Vgl. dazu W. Henckmann, Max Scheler, Beck’sche Reihe Denker, München 1998, S. 30 ff., S. 254. Zu Buytendijk und Merleau-Ponty vgl. W. J. M. Dekkers, „F. J. J. Buytendijk’s Con cept of an Anthropological Physiology“. Siehe unten, Abschnitt 3. F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Bei trag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“, in: H. Plessner, Gesammelte Schriften, hrsg. von G. Dux, O. Marquard und E. Ströker, 10 Bde., Frankfurt a. M. 1981–1985, Bd. 7, S. 67-130, hier S. 93.
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Das Ausdrucksphänomen konterkariert die radikale Trennung zwi schen einer psychischen Innen- und einer physischen Außenwelt, da es beiden gleichermaßen angehört. Der Ausdruck der Angst ist nicht die bloß mittelbare Repräsentation, sondern die unmittelbare Prä senz dieses Gefühls in der Physiognomie der Person, die Angst hat (man denke etwa an Munchs Bild Der Schrei). Diese Einheit vor aller analytischen Differenz nennt Scheler ,psychophysische Indifferenz‘.7 So sind der Leib, die Person und das Verhältnis zwischen Individuum und Umwelt jeweils psychophysisch indifferente Einheiten. Plessners frühe Grundlegung einer Ästhesiologie des Geistes (1923) ist von Schelers „Zwischenreich der psychophysischen Indifferenz“8 ebenso beeinflusst wie Buytendijks anticartesianisch orientierte Tierpsycho logie. Mit Ludwig Binswanger wird er später gelegentlich die cartesi anische „Lehre von der Subjekt-Objekt-Spaltung der ,Welt‘“ als das „Krebsübel aller Psychologie“9 bezeichnen. Und so wie Binswanger von Heideggers Daseinsanalyse des In-der-Welt-seins ausgeht, knüpft Buytendijk an Schelers psychophysischer Indifferenz an. Ein dritter Bezugspunkt findet sich in der Bedeutung, die Sche ler der Liebe für das philosophische Wesenswissen im Gegensatz zum wissenschaftlichen Herrschaftswissen gibt. In seinem Beitrag für die Festschrift zu Buytendijks 70. Geburtstag schreibt Plessner: „Um es mit Scheler und Grünbaum zu sagen: Die Erkenntnisweise des Herr schens suchten Sie der Erkenntnisweise der Liebe anzunähern und einzuordnen. Nicht die Natur in den Griff bekommen, sollte das Ziel sein, sondern ihren Augen begegnen.“10 Der in Amsterdam wirken de Psychologe Abraham Anton Grünbaum (1885–1932) veröffent lichte 1925 eine Abhandlung mit dem Titel Herrschen und Lieben als Grundmotive der philosophischen Weltanschauung, zu der Scheler 7 Vgl. M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, hrsg. von M. Scheler, 7. Aufl., Bonn 2000, S. 157 f. (Anm.). 8 H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 7-315, hier S. 20: Auf dieses Zwischenreich hat „wohl zuerst Scheler in seiner Ethik hingewiesen“. 9 L. Binswanger, „Über die daseinsanalytische Forschungsrichtung in der Psychiatrie“, in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 3, hrsg. von M. Herzog, Heidelberg 1994, S. 231257, hier S. 234. Vgl. F. J. J. Buytendijk, „Zur Phänomenologie der Begegnung“, in: ders., Das Menschliche, S. 60-100, hier S. 65; ders., Prolegomena einer anthropolo� gischen Physiologie, übers. von F. van der Sander, Salzburg 1967, S. 13. 10 H. Plessner, „Unsere Begegnung“, S. 338. Grünbaum zählte Plessner neben Buyten dijk zu den „Künder[n]“ von Schelers „Ruhm in Holland“ (S. 331).
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das Geleitwort verfasste.11 In seinem eigenen Formalismus-Werk un terscheidet dieser selbst zwischen einer „Haltung gegen die Welt“, die in der Natur etwas Chaotisches sieht, „was zu formen, zu organisieren, was zu ,beherrschen‘ ist“, und der „Liebe zur Welt“, die geprägt ist „von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe an sie“.12 Wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, gewinnt diese Fähigkeit zur Hingabe in Buytendijks Anthropologie eine Schlüsselstellung, die sie von Plessners Lehre der distanzierenden Exzentrizität unterscheidet.
2. „mein Aufenthalt hat verheerend gewirkt“: Hermeneutische Phänomenologie des Lebens Wenn Scheler Buytendijk den Weg in die Phänomenologie wies, dann öffnete Plessner ihm den Horizont der Hermeneutik. So sah es zu mindest Plessner selbst, wie aus seinem Neujahrsbrief an Josef König vom 31. Dezember 1924 hervorgeht. Buytendijk hatte gerade einen Ruf nach Groningen „an das größte physiologische Institut, wie man sagt, Europas“ erhalten und angenommen. Seine Antrittsvorlesung hielt er am 17. Januar 1925 unter dem Titel „Over het verstaan der levensverschijnselen“, zu deutsch: „Über das Verstehen der Lebenser scheinungen“. Ursprünglich wollte Plessner die Rede in seiner Zeit schrift Philosophischer Anzeiger, an der unter anderen auch Buyten dijk mitwirkte,13 veröffentlichen. Stattdessen erschien sie als schmales Bändchen in der von dem Kölner Biologen Hans André herausgege benen Schriftenreihe Bücher der neuen Biologie und Anthropologie und folgte damit unmittelbar dem Band Die Weisheit der Ameisen, dessen Original De wijsheid der mieren von 1922 André selbst eben falls 1925 aus dem Holländischen übersetzt hatte.14 In seinem Brief an 11 Nun in: M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 14, hrsg. von M. S. Frings, S. 414-418. 12 M. Scheler, Der Formalismus, S. 86. 13 H. Plessner (Hrsg.), Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft, in Verbindung mit A. Baumgarten, F. J. J. Buytendijk, E. R. Curtius, A. Grünbaum, N. Hartmann, J. Hashagen, M. Heidegger, H. Heimsoeth, G. Hübener, J. Kroll, G. Misch, G. Müller, K. Reidemeister, G. Schnei der, V. v. Weizsäcker, W. Worringer, Bde. 1-4, Bonn 1925–1930. 14 Vgl. F. J. J. Buytendijk, Die Weisheit der Ameisen, übers. von H. André, Habelschwerdt o. J. (1925); ders., Über das Verstehen der Lebenserscheinungen, übers. von B. Thilsch, Habelschwerdt o. J. (1925).
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König erwähnt Plessner nun Buytendijks bevorstehende Antrittsvor lesung „über ,Verstehende Physiologie‘“ und fügt in Klammern hin zu: „mein Aufenthalt hat verheerend gewirkt“.15 Mit dieser ironischen Bemerkung spielt Plessner auf die Monate Mai und Juni 1924 an, die er an Buytendijks Institut in Amsterdam verbrachte, um mit ihm ge meinsam an der Studie „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ zu arbeiten.16 Offenbar erkannte der Jüngere also in des Älteren Konzeption einer verstehenden gegenüber einer erklärenden Physiologie eigene Ein flüsse wieder.17 Welcher Art diese Einflüsse sind, wird noch deutlicher dadurch, dass Plessner nur einen Satz, bevor er auf Buytendijk zu sprechen kommt, König von einem erst wenige Wochen zurückliegenden Be such Heideggers in Köln berichtet. Heidegger kam am 3. Dezember 1924 auf Einladung Schelers, der Vorsitzender der Kölner Kant-Ge sellschaft war, um über „Dasein und Wahrsein nach Aristoteles“ (eine Interpretation des sechsten Buchs der Nikomachischen Ethik) vorzu tragen. In einem persönlichen Gespräch bei dieser Gelegenheit habe Heidegger zu Plessner gesagt, dass Scheler „mit den alten Begriffen von Geist, Leib, Seele usw.“ arbeite, während er selbst „sich gleich zu Anfang [seines Vortrages] gegen die Fehlerhaftigkeit des Subjekt-Ob jektansatzes“ gewandt habe. „Also ein trefflicher Mann. Er steuert hin auf eine Hermeneutik, also Dilthey-Husserl-Tradition, daher Misch sehr engagiert für ihn.“18 Im nächsten Absatz geht Plessner, nur durch einen Gedankenstrich getrennt, zu Buytendijk über. Der Strich trennt hier jedoch nicht Gedanken – er verbindet zwei Beiträge zur Herme neutik. Plessners philosophisches Hauptprojekt der 1920er Jahre besteht in der Fundierung der Hermeneutik Diltheyscher Prägung durch Na turphilosophie: „Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der 15 J. König, H. Plessner, Briefwechsel 1923–1933, hrsg. von H.-U. Lessing und A. Mut zenbecher, Freiburg, München 1994, S. 74. 16 Siehe unten, Abschnitt 3. Der Aufsatz erschien 1925 im ersten Band des Philoso� phischen Anzeigers. Zu diesem Aufenthalt vgl. H. Plessner, „Unsere Begegnung“, S. 332 f., sowie ders., „Selbstdarstellung“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 302-341, hier S. 324. 17 Buytendijk wollte in seiner Antrittsvorlesung „die verstehende phänomenologische Methode gegenüber der kausal erklärenden“ hervorheben (F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier, S. 127). 18 J. König, H. Plessner, Briefwechsel, S. 73 f.
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menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen.“19 Im Vorwort zu Grenzen der Gemeinschaft kündigt Plessner Anfang 1924 ein Werk mit dem Titel „Pflanze, Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form“ an, aus dem schließlich 1928 die Stufen wer den sollten.20 Methodisch handelt es sich um eine phänomenologische Hermeneutik des Lebens, deren Vorgehen Plessner (der betreffende Abschnitt dürfte aus seiner Feder stammen) in „Die Deutung des mi mischen Ausdrucks“ erläutert. Die Untersuchung beginnt phänome nologisch: „Sie setzt am Phänomen ein, wie es im vorproblematischen Leben da ist, und geht Schritt für Schritt in innerer Strukturerhel lung, in immanenter Beschreibung der zum ,Sinn‘, zu den Bedingun gen der Erscheinungen gehörenden Züge vor. So wird sie von Schicht zu Schicht getragen und von den anschaulichen zu den erschaubaren Tatbeständen, den Wesenheiten, weitergeführt. Hat sie also sorgsam darauf zu achten, die Nähe zur Sache sich nicht durch Theorien über die Sache, und mögen sie noch soviel wissenschaftlichen Wahrheitsge halt besitzen, verderben zu lassen, so darf sie doch nicht in der Freude der Anschauung verlorengehen.“21 Hier geht die an Husserls „Prinzip aller Prinzipien“22 orientierte phänomenologische Beschreibung jetzt in das hermeneutische Verstehen über: „Läßt phänomenologisch Ge fundenes auch keine weitere Erklärung [!] zu, so hat die Philosophie immer die Aufgabe, zu den Urphänomenen weiterzustreben, was aller dings auf rein phänomenologische Weise nicht mehr gelingt.“ Es gilt daher, „mit der Herausarbeitung des anschaulichen Tatbestandes [zu beginnen], um mit dem Verstehen [!] des Tatbestandes zu enden.“23 In der hermeneutischen Phänomenologie des Lebens hat es mit dem anschauenden Bewusstsein der lebendigen Form nicht sein Be wenden – vielmehr geht es darum, ihren Sinn zu verstehen. ,Sinn‘ de finieren Plessner und Buytendijk in ihrer ersten Gemeinschaftsarbeit 19 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso� phische Anthropologie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 63. 20 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 7-133, hier S. 12. 21 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 76. 22 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 3/1, hrsg. von K. Schuhmann, Den Haag 1976, S. 51. 23 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 76.
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als „Gerichtetsein durch irgend etwas“.24 Lebendiges ist intentional auf eine Umwelt bezogen (Umweltintentionalität). Auf diese Weise entwi ckelt sich parallel zu Heideggers existenzphilosophischer Variante eine eigene naturphilosophische Spielart phänomenologischer Hermeneu tik. Dort steht das In-der-Welt-sein des Menschen, hier das In-derUmwelt-sein von Tieren einschließlich des Menschen im Mittelpunkt. Die entscheidende Weiterung von Husserls Intentionalitätsbegriff, den dieser selbst über das menschliche Bewusstsein hinaus auch auf orga nisches Leben ausdehnt,25 erfolgt in beiden Fällen durch den Verste hensbegriff. Die spezifische Zumutung des Ansatzes von Plessner und Buytendijk besteht darin, dass sie das Wechselspiel von Organismus und Umwelt als eine intentionale Verhaltensstruktur auffassen, die verstanden werden kann. Die Physiologie, so plädiert Buytendijk in seiner Groninger Antrittsvorlesung, soll (biotisches) Leben nicht bloß erklären, sondern auch verstehen. Für sein Anliegen einer ,verstehenden Physiologie‘ verwendet Buy tendijk immer wieder die Leitmetaphern der Musik und der Schrift. Von Uexküll übernimmt er das Bild der Melodie: Das Verhalten eines Tieres in seiner Umwelt hat eine bestimmte Gestalt wie eine Melo die, die wir auch in der Transposition wiedererkennen. Für sie gilt wie für jede Gestalt, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. Doch damit bleiben wir noch auf der phänomenologischen Stufe der Anschauung. „Eine Melodie ist eine Gestalt auch für den Unmusikali schen. Der Musikalische aber erfaßt außer der Gestalt noch etwas We sentliches, was in der Melodie selbst drinsteckt, nämlich ihren ,Sinn‘“: „das Motiv in der Gestalt“.26 Tierisches Verhalten besitzt demnach nicht nur eine spezifische Gestalt, sondern wie eine Melodie auch ein Motiv, d. h. es trägt einen Sinn. Die Schriftmetapher leitet die Rede vom Buch der Natur. In dem von Plessner übersetzten und diesem auch gewidmeten Werk Wege 24 Ebd., S. 86. Darin, dass jedes Verhalten und jede Erfahrung einen Sinn haben, sieht Buytendijk später eine Gemeinsamkeit von Phänomenologie, Psychoanalyse und Gestaltpsychologie. Vgl. dazu F. J. J. Buytendijk, „Husserl’s Phenomenology and Its Significance for Contemporary Psychology“, in: Phenomenological Psychology. The Dutch School, hrsg. von J. J. Kockelmans, Dordrecht, Boston, Lancaster 1987, S. 31-44. 25 Vgl. dazu R. Becker, „Die Sprache des Lebens. Husserl und Maturana über Beschrei bung als Unterscheidung“, in: J. Jonas und K.-H. Lembeck (Hrsg.), Mensch – Leben – Technik. Aktuelle Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie, Würzburg 2006, S. 243-256. 26 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 85.
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zum Verständnis der Tiere (1938) greift Buytendijk den berühmten Satz Galileis auf, „daß das Buch der Natur nur mit Hilfe der Mathe matik gelesen werden kann“, um ihn auf den unbelebten Teil der Na tur einzuschränken. Das möge für die Physik gelten – „die Lettern des Textes der lebendigen Natur jedenfalls bilden nicht mathematische Figuren und Zahlen. Sie spricht eine andere Sprache, um deren Ent zifferung von Aristoteles an alle großen Philosophen bis zu Goethe und Schelling bemüht gewesen sind. Noch in unserer Zeit hat vor nehmlich die deutsche Phänomenologie, die mit den Namen Husserls und Schelers für immer verbunden ist, diese edle Tradition erneuert und mit zukunftskräftigem Leben erfüllt. Ihr weiß ich mich dankbar verpflichtet. So widme ich das Buch, dieser Dankbarkeit zum Zeichen, dem Forscher und langjährigen Freunde Professor Dr. Helmuth Pleß ner, der als einer der Ersten wieder um eine philosophische Betrach tung der lebendigen Natur, um eine Sicherung der Sonderstellung des Menschen in ihr bemüht gewesen ist. Mit ihm verbindet mich nicht zuletzt die Ueberzeugung von der inneren Verständlichkeit der leben digen Phänomene. Sie bildet den Leitgedanken meiner Untersuchun gen des Verhaltens der Tiere, das Prinzip seines Verstehens auf dem Boden experimenteller Erfahrung.“27 Buytendijks Danksagung und Widmung unterstreichen noch einmal Plessners Beitrag zum ,Verste hen der Lebenserscheinungen‘. Freilich trug die „Kameradschaft“ zwischen Plessner und Buy tendijk – ein „seltener Glücksfall im Spezialistenbetrieb der moder nen Wissenschaft“28 – nicht bloß auf einer Seite geistige Früchte. Der studierte Zoologe Plessner weiß zeitlebens die empirisch fundierten wie naturphilosophisch orientierten Arbeiten des Physiologen und Psychologen zu schätzen. Dies beginnt mit der ersten Gemeinschafts arbeit, deren Auftakt ein Verhaltensexperiment von 1917 bildet, das Buytendijk an Kröten durchführte, reicht über den Vortrag „Anschau liche Kennzeichen des Organischen“, der 1928 in Plessners Philoso� phischem Anzeiger erschien und mit Blick auf den Grenzbegriff auch
27 F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, übers. von H. Plessner, Zürich/ Leipzig o. J. (1938), S. 11. „So fragt die Biologie nach dem Logos des Lebens, nach dem Sinn der Rede, welchen die Erscheinungen reden.“ (Ebd., S. 17) – Vgl. G. Galilei, Il Saggiatore, in: ders., Le Opere, nuova ristampa della edizione nazionale, hrsg. von G. Saragat, Bd. 6, Firenze 1968, S. 199-372, hier S. 232: „Egli [l’universo] è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche“. 28 H. Plessner, „Unsere Begegnung“, S. 338.
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in den Stufen Erwähnung findet,29 bis hin zu der späteren Wertschät zung der Bewegungsstudien in der Allgemeinen Theorie der mensch� lichen Haltung und Bewegung.30 Dies sind exemplarische Beispiele für Referenzen, die Plessner zumeist anführt, um seine philosophisch abstrakteren Überlegungen durch eine systematisch gewonnene empi rische Anschauung zu sättigen. Schließlich sollte nicht verschwiegen werden, dass Plessner Buy tendijk nicht nur intellektuell, sondern ganz existentiell viel zu ver danken hatte. Von den Nazis als „Halbjude“ eingestuft, musste er die Universität Köln verlassen und fand mit Buytendijks Hilfe in Gro ningen Exil, das er am 8. Januar 1934 antrat. Finanziert durch ver schiedene Fonds konnte er sich gerade so über Wasser halten. Seinen Arbeitsplatz fand er an einem Schreibtisch neben Buytendijk in des sen Büro am Institut für Physiologie. Acht Jahre arbeiteten die beiden zusammen – es entstanden die gemeinsam verfassten Studien „Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows“ (1935) sowie „Tier und Mensch“ (1938), Plessners Überset zung von Buytendijks Wege zum Verständnis der Tiere (1938), aber auch seine eigenständigen Werke Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche (1935), Buytendijk gewidmet und später wieder aufgelegt unter dem Titel Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1959), sowie Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941). Andere Projekte, wie eine „Kategorienlehre der Evolution“ oder die Gründung der internationalen Zeitschrift Vox critica zerschlugen sich.31 Zwei Jahre nach Beginn der deutschen Be satzung der Niederlande, also 1942, wurde Plessner vom zuständigen Reichskommissar entlassen, und er tauchte zunächst in Utrecht, dann in Amsterdam unter. Buytendijk geriet in Gefangenschaft der Gestapo;
29 Vgl. F. J. J. Buytendijk, „Anschauliche Kennzeichen des Organischen“, in: Philoso phischer Anzeiger 2 (1927–1928), S. 391-402, sowie H. Plessner, Die Stufen, S. 178, sowie ders., Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, hrsg. von H.-U. Lessing, Berlin 2002, S. 107 ff. 30 Siehe unten, Abschnitt 6. 31 Vgl. dazu C. Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985, Göttingen 2006, S. 100, S. 123-129. Vgl. ebd., S. 154, auch zu dem gemeinsam verfassten Brief an den deutschen Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, in dem Buytendijk die Einladung in seiner Eigenschaft als Mitglied des Olympischen Komitees zu einem Kongress von Sportstudenten im Rahmen der Olympischen Spiele in Berlin ausschlägt.
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während dieser Zeit schrieb er die Abhandlung Über den Schmerz, die zuerst auf Holländisch 1943 und dann, wiederum von Plessner über setzt, 1948 in deutscher Sprache erschien. Die letzten beiden Kriegs jahre tauchte auch Buytendijk unter und arbeitete an seiner Allgemei� nen Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung.32 1946 wurde er Professor für Allgemeine Psychologie in Utrecht, während Plessner im selben Jahr ein Ordinariat für Philosophie in Groningen erhielt, in das Buytendijk ihn noch offiziell einführte. Damit endete für beide eine Epoche.33
3. „phänomenologische spekulative Radikalität im Schafspelz der Empirie“: Kritik an Darwin und Scheler (1924/25) Die erste Gemeinschaftsarbeit über „Die Deutung des mimischen Ausdrucks“ setzt sich kritisch mit einem Werk Charles Darwins aus einander: The Expression of the Emotions in Man and Animals, in deutscher Übersetzung: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren (beides 1872). Darwin vertritt die These, dass bestimmte Ausdrucksbewegungen, also Mimiken und Körperhaltungen ontogenetisch angeboren und phylogenetisch aus zweckmäßigen Handlungen hervorgegangen sind, die „gewohnheits mäßig mit gewissen Seelenzuständen assoziiert und ausgeführt“ wer den.34 Darwins Werk enthält einige Schautafeln mit tierischen und menschlichen Ausdrucksbewegungen, die beispielsweise Tiere in De mutsgesten, aggressiven, zärtlichen und anderen Stimmungen sowie Menschen mit freudigem, ängstlichem, zornigem oder einem anderen Gesichtsausdruck zeigen. Diese Aufnahmen sollen die Universalität der Bedeutung der jeweils dargestellten Emotion demonstrieren. Die stammesgeschichtliche Herleitung dient dabei als Erklärung für die vermeintlich kulturunspezifische Interpretation der Bilder. Buytendijk und Plessner widersprechen Darwin in zwei zentralen Punkten. Erstens setze Darwin fälschlicherweise voraus, „daß die Aus 32 Vgl. F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier, S. 127. 33 Vgl. H. Plessner, „Unsere Begegnung“, S. 338. 34 C. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, nach der Übers. von J. V. Carus, in: ders., Gesammelte Werke, Neu Isenburg 2006, S. 1163-1370, hier S. 1184.
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drucksbewegungsbilder als Bilder schon objektiven Sinn besitzen“.35 Dagegen versuchen die beiden Autoren empirisch zu belegen, dass das Verstehen der Ausdrucksbewegungen eines Organismus (ob Tier oder Mensch) abhängig ist von der Situation, in der dieser sich befindet. „Bis auf die Ausdrucksbilder des Lachens und Weinens ist eigentlich alles variabel. Serien von Tests, die an zahlreichen Personen verschiedenster Altersstufen gemacht worden sind, ergaben diese teilweise überra schenden Resultate, zumal da sie unter Zugrundelegung der in Dar wins Werk publizierten Photos, die Darwin als eindeutige Ausdrucks bilder anspricht, gewonnen worden sind. Allein die konkrete Situation mit ihren bestimmten Möglichkeiten engt die Ausdrucksbedeutung ein (wenn von der Sprache abgesehen wird).“36 Später gesteht Plessner, dass die Stichprobengröße bei den Tests, in denen Personen (u. a. Schü lerinnen einer Montessori-Schule in Amsterdam) die Darwinschen Bilder deuten sollten, nicht ausreichend gewesen ist, um wirklich be lastbare Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Protokolle hätten nicht so sehr als „Daten“, sondern vielmehr „als Vehikel für die Besinnung“ fungiert.37 In einem zeitgenössischen Brief an König bekennt Pless ner freimütig, dass er und Buytendijk „Versuchsreihen, Tests und dies alles nur“ durchgeführt hätten, „um unsere phänomenologische spe kulative Radikalität im Schafspelz der Empirie einzuführen.“38 Freilich war auch die empirische Basis, auf die Darwin seine Aussagen über die Interkulturalität des Ausdrucksverstehens stützte, durchaus dürftig. Die eigentliche Kritik an Darwin setzt daher auf einer anderen Ebe ne als der empirischen an: Die „Bildtheorie des Ausdrucksverstehens“39 überspringt zweitens die „Schicht des Verhaltens“,40 in die sowohl Ausdrucksbewegungen als auch Handlungen des Organismus einge bettet sind. Buytendijk und Plessner unterscheiden Ausdrucksbewe gung und Handlung als zwei „Grundrichtungen“ in der Auffassung des Verhaltens: Die Handlung ist zielgerichtet, der Ausdruck „hat sein Ziel in sich, erfüllt sich an sich selbst, ist seinem Wesen nach auf nichts zweckmäßig eingestellt“. „Beim Ausdruck fragt man: was kann das
35 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 108. 36 Ebd., S. 126 – Die Autoren konzedieren, dass es das reine Ausdrucksverstehen bei uns Menschen kaum gibt, da immer schon Sprache beteiligt ist (ebd., S. 126). 37 H. Plessner, „Unsere Begegnung“, S. 332. 38 J. König, H. Plessner, Briefwechsel, S. 43. 39 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 109. 40 Ebd., S. 77 ff.
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sein, bei der Handlung: wo führt das hin?“41 Deshalb kann der Aus druck auch nicht aus einer Handlung abgeleitet werden, wie Darwin vorschlägt – Ausdrucksbewegungen haben einen Seinswert, Handlun gen einen Funktionswert. Im Verhalten erkennen die Autoren gegen über dieser idealtypischen Dualität eine „neutrale, ursprüngliche Sphä re des Lebens, auf die Ausdrucksbewegung und Zweckbewegung [...] gleichermaßen zu beziehen“ sind.42 Um eine Ausdrucksbewegung oder eine Handlung zu verstehen, muss ich das Verhalten des Organismus in seiner Umwelt beobachten. Die ,Schicht des Verhaltens‘ umfasst das Individuum und seine Umgebung, mit der es interagiert. Die „dyna mische Beziehungsform zwischen Leib und Umgebung“ im Verhalten nennen Buytendijk und Plessner „Umweltintentionalität“.43 41 Ebd., S. 90 f.; vgl. ebd., S. 93, zur Abgrenzung der Ausdrucksbewegung wie der Handlung vom zwischen diesen beiden stehenden sprachlichen Bedeuten als einem bezeichnenden Verhalten, das dem Menschen eigentümlich ist und zu dem Buyten dijk auch die Geste zählt; vgl. F. J. J. Buytendijk, „Zur Phänomenologie der Begeg nung“, in: ders., Das Menschliche, S. 60-100, hier S. 98. Später unterscheidet Buy tendijk drei Grundformen „des tierischen Lebens“: Ausdrucksbewegung, Handlung und Spiel. Vgl. F. J. J. Buytendijk, „Schatten der Erkenntnis“, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 61/1951, S. 158-170, hier S. 161. Zum Spiel vgl. ders., Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen des Menschen und der Tiere als Er� scheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933. In ders., Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung als Verbindung und Gegenüberstellung von physiologischer und psychologischer Betrachtungsweise, Berlin, Göttingen, Heidel berg 1956 betrachtet Buytendijk mit Plessner außerdem Lachen und Weinen als Grenzfälle menschlichen Verhaltens. 42 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 108. Zur Kritik an der darwinisti schen Reduktion des Lebendigen auf die Zweckmäßigkeit vgl. F. J. J. Buytendijk, Die Weisheit der Ameisen, S. 19: „Der Darwinismus ist aus der Reihe der wissenschaft lichen Theorien zu streichen.“ Bei diesem Zitat handelt es sich um die wörtliche Übernahme eines Satzes aus: Jakob von Uexküll, Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von F. Groß, München 1913, S. 17. Vgl. des weiteren F. J. J. Buytendijk, Die Weisheit der Ameisen, S. 61: Das „Wesen des Organischen“ liegt „nicht im Zweckmäßigen, sondern im Reichtum“. Dafür lie fert auch der Ausdruck ein Indiz: „Ein Ausdruck, z. B. ein Gesichtsausdruck, hat aber keinen Zweck, wenn er auch Mittel zu einer zweckmäßigen Handlung sein kann. In dem Ausdruck selber liegt sein Sinn, er enthält den Sinn in sich.“ (Ebd., S. 13) Später nennt Buytendijk dies den demonstrativen Seinswert des Organischen (vgl. ders., „Anschauliche Kennzeichen des Organischen“, S. 400). Vgl. auch Plessners Rezen sion von Buytendijks Wesen und Sinn des Spiels unter dem Titel „Das Geheimnis des Spielens“, in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt 1/1934, S. 8: „Gegen die Vorurteile des Darwinismus sollen neben den bislang ausschließlich gesehenen Leistungseigenschaften die ursprünglichen Seins- und Darstellungs eigenschaften des Lebens wieder zu Ehren kommen.“ 43 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 79, S. 122.
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Umweltintentional zu sein, bedeutet, auf und durch Umweltli ches gerichtet zu sein. Entsprechend ist das Verständliche einer Aus drucksbewegung, ihr Sinn, eine Haltung des betreffenden Tiers oder Menschen gegenüber seiner Umgebung. Eine Ausdrucksbewegung zu verstehen, heißt so viel, wie das Motiv einer Melodie zu identifizieren. Scham, Reue, Zorn, Gram, Angriff und Flucht sind Beispiele für solche Motive, die einer „Bewegungsmelodie“ (nach einem Wort Uexkülls) Sinn geben, weil sie eine Haltung gegenüber der Umwelt ausdrü cken.44 Das gleiche gilt für die zielgerichtete Handlung, wie Buytendijk anhand eines selbst durchgeführten Experiments mit Kröten erläutert. Die Haltung einer hungrigen Kröte zu ihrer Umgebung ändert sich, nachdem man sie mit Nahrung angefüttert hat. Zuvor unberücksich tigte tote, ungenießbare Gegenstände nimmt sie plötzlich als potenti elle Beute wahr, schnappt nach ihnen, um sie anschließend wieder aus zuspucken. „Nach einiger Zeit und einigen derartigen Fehlreaktionen klingt der Bedeutungswert der toten Gegenstände ab, bis zuletzt diese wieder so reizlos daliegen wie zuvor. Die toten Gegenstände machen also einen Bedeutungswandel durch. Bestand die echte Beute aus einem Stückchen Wurm, so sind es die Streichholzteile, war die Beute eine Spinne, so sind es die Moosfasern, welche für die Wahrnehmung des Tieres einen neuen Erscheinungswert bekommen.“45 Das Verhal 44 Vgl. ebd., S. 123: „Wenn man sagt: ich sehe ihm an, daß er sich schämt, daß er bereut, wütend ist, sich grämt, so heißt das nicht, daß mir das Sein und die Weise seines Scham-, Reue-, Zorn-, Gramerlebens gegeben ist, sondern nur, daß die spielenden Formen seines Verhaltens gegeben sind, die in bezug zur Umgebung eine bestimm te Haltung festlegen. Aus Haltungen, Verhaltungen besteht das intersubjektive Miteinander, und dem Verständnisdrang ist Genüge geschehen, wenn in diese sich abwechselnden Haltungen Zusammenhang kommt und die Einheit der Situation zwischen dem betrachteten Leib und seiner Umgebung (zu der eventuell ich mitge höre) im Fortgang des Ganzen gewahrt bleibt.“ – Zum Ausdruck ,Bewegungsmelo die‘ vgl. J. v. Uexküll, Bausteine, S. 94: Uexküll bezeichnet als Bewegungsmelodie die zum Wiedererkennen eines Gegenstandes bei dessen Wahrnehmung wesentlichen propriozeptiven Bewegungsempfindungen. Das „optische Schema“ eines Objekts ist demnach nicht Vorstellung, Bild oder Begriff, „sondern eine Bewegungsmelodie unseres Blickes. Diese Melodie muß anklingen, wenn wir einen Gegenstand wieder erkennen wollen.“ Vgl. auch ebd., S. 57 sowie S. 146-150: „Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß diese Bewegungsmelodie das gleiche ist, was Kant unter dem empirischen Schema der Gegenstände verstanden hat [...]“ (ebd., S. 146). Bei Uex küll geht es also um das Objekt in der Merkwelt eines Organismus, bei Buytendijk und Plessner hingegen um das Verhalten dieses Organismus in seiner Umwelt. Vgl. auch den Beitrag von Köchy in diesem Band. 45 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 71.
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ten der Kröte resultiert nicht aus der mechanisch abrufbaren Reak tion auf einen isolierten Reiz, sondern variiert mit der „Feldstruktur der Umgebung“46 und den Bedeutungswerten der in ihr vorhandenen Objekte. Im geschilderten Experiment bekommt die gesamte Umge bung „durch irgendeine partielle Änderung eine andere Struktur für das Tier, mit anderen Dominanten und anderen Nebensachen.“47 Diese Feldstruktur wird weder einseitig durch den Organismus (hungrige Kröte), noch einseitig durch die Umwelt (Beute) determiniert, sondern korreliert mit der „Zwischensphäre“48 des Verhaltens. In ihrem „Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ wenden sich Buytendijk und Plessner nicht nur gegen Darwins Bild theorie, sondern auch gegen Schelers „Wahrnehmungstheorie des Ausdrucksverstehens“,49 der zufolge wir eine ursprüngliche Wahrneh mungsfähigkeit für Fremdpsychisches als solches besitzen. So wie wir einen inneren Sinn für unsere eigene Innenwelt und einen äußeren Sinn für die physischen Dinge der Außenwelt haben, so sollen wir auch über einen ,sympathetischen‘ Sinn für die Mitwelt anderer Personen verfü gen.50 Nach Buytendijk und Plessner begeht Scheler mit der Annahme eines solchen ,dritten Sinnes‘ den methodologischen Fehler, dass er eine Anschauungsweise einführt, deren Gültigkeit diejenigen, die das Pro blem der Fremdwahrnehmung stellen, leugnen „und deren Leugnung sie gerade durch die Art der Fragestellung bekräftigen.“51 Scheler löst, salopp formuliert, das Problem, indem er sich von dem Problem löst. Da mit übersieht er aber, „daß die Wahrnehmung Grundlagen hat, daß sie nicht in einem rein passiven Sichhingeben besteht, sondern im Rahmen einer gewissen dem Menschen unwillkürlich, sinngemäß zugehörenden
46 Ebd., S. 74. 47 F. J. J. Buytendijk, „Zur Untersuchung des Wesensunterschiedes von Mensch und Tier“, in: Blätter für deutsche Philosophie. Zeitschrift der Deutschen Philosophi� schen Gesellschaft 3/1929, S. 33-66, hier S. 39. Das Zitat bezieht sich auf ein Experi ment an Seesternen, beschreibt aber denselben Effekt. Man beachte die musikalische Metapher der Dominante. 48 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 88. 49 Ebd., S. 127. 50 Vgl. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 7, hrsg. von M. S. Frings, Bern, München 1973, S. 7-258. 51 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 119 f.; vgl. ebd., S. 119: „Unseres Erachtens beantwortet die Theorie nicht die Möglichkeitsfrage der Wahrnehmbarkeit des fremden Psychischen, sondern setzt eben an die Stelle dieses Problems nur das neue Problem einer ,inneren‘ Wahrnehmung.“
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Erwartung, auf einem formalen Hintergrund erst Wahrnehmung ist.“52 Die Grundlage der Wahrnehmung ist die „Sphäre des Verhaltens, de ren Grundzug Gegenseitigkeit, Gegensinnigkeit ist. So gewiß jeder sich selbst als Körperleib die Weise des Verhaltens zur Umwelt beimißt (wo mit gesagt sein soll, daß Körperleib und Umwelt aufeinander einspielen), so gewiß muß er anderen Körpern diese Existenzweise ebenfalls [...] anschauungsfähig zubilligen. [...] Der Leib ist nicht darum Leib, weil er von innen her durchfühlbar und impulsiv beherrschbar ist, sondern weil er eine Umwelt hat, auf welche er, [und] die auf ihn einspielt.“53 Das Bewusstsein vom anderen Ich gründet daher nicht in einem sympatheti schen Wahrnehmungsvermögen, sondern in der Umweltintentionalität des Leibes, die andere Leiber mit einschließt. Buytendijk und Plessner würdigen ausdrücklich, dass ihre eigene Theorie des mimischen Ausdrucks ohne Schelers Entdeckung der psy chophysischen Indifferenz des Leibes nicht möglich geworden wäre.54 Allerdings betrachten sie den Leib nicht wie Scheler von der Wahrneh mung, sondern vom Verhalten her. In der Umweltintentionalität des Leibes durchkreuzen sich Innenwelt und Umwelt eines Organismus. Das Verhalten, dessen Struktur eben jene Umweltintentionalität ist, hat seinerseits einen Sinn, der zu verstehen ist.55 Das Verständnis einer Ausdrucksbewegung (wie einer Handlung) unterliegt zwei Bedingun gen: erstens der Beobachtung des Verhaltens eines Organismus in seiner Umwelt und zweitens der eigenen umweltintentionalen Leiblichkeit. Denn das wechselseitige ,Aufeinander Einspielen‘ von Körperleib und Umwelt im Verhalten ist ja gerade die Grundlage der Wahrnehmung eines anderen Subjekts. Nur derjenige, der selbst mitspielt im Spiel des Lebens, vermag Leben zu verstehen.56
52 Ebd., S. 121. 53 Ebd., S. 121 f.; vgl. auch ebd., S. 114: Umwelt und Leib sind in der Schicht des Verhal tens „gegenseitig aufeinanderbezogen, indem das Tier in seiner Ortsbewegung sich als Lebenszentrum gegen eine Außensphäre absetzt und mit ihr in Wechselbezie hung bleibt.“ Hier kündigt sich bereits die spätere Konzeption der Stufen (Grenze, zentrische Organisationsform des tierischen Lebens) an. 54 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 127. 55 Zu Buytendijks kritischer Auseinandersetzung mit Uexküll vgl. F. J. J. Buytendijk, „Das Umweltproblem“, in: Schweizer Rundschau. Monatsschrift für Geistesleben und Kultur 46/1946, S. 554-563. 56 Die Autoren unterscheiden grundsätzlich das methodische, psychologische Ver ständnis, „wie es sich mit Hilfe der Wissenschaft der differentiellen Psychologie und Charakterologie, der Psychoanalyse und anderer Deutungsmethoden herbeiführen
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4. Die Sprache der Phänomene und die Sprache der Wissenschaft: Kritik an Pawlow (1934/35) Zehn Jahre nach ihrer ersten Zusammenarbeit verfassen Buytendijk und Plessner ihren zweiten gemeinsamen Aufsatz, der das Thema von Buytendijks Antrittsvorlesung wieder aufgreift: Es geht um die Gren zen einer rein erklärenden, analytischen Physiologie und die Not wendigkeit, sie um eine verstehende Biologie zu erweitern. Pawlows Reflextheorie der tierischen Handlung dient als Fallstudie für das all gemeine Anliegen, Verhalten in ,natürlicher Ansicht‘ „ohne Vorurteile zu beschreiben und zu verstehen. Das Interesse an einer physiologi schen und speziell an einer neurophysiologischen Kausalanalyse darf die Beachtung dieser Pflicht nicht gefährden.“ Eine solche ,Rettung der Phänomene‘ durch Beschreibung erscheint den Autoren geboten, weil ansonsten sehr schnell der Eindruck entstehen kann, „als sprächen die Phänomene selber eine neurologische Sprache und nicht der von ihnen redende Reflexneurologe.“57 Die von Pawlow angewandte ex perimentelle Methode verdeckt, dass der Forscher nicht rein induktiv verfährt, sondern ,Tatsachen‘ aus dem Begriff des bedingten Reflexes deduziert.58 Der angeborene Reflex (z. B. Kniesehnenreflex oder Lid schlussreflex) dient Pawlow als Modell für erlernte Verhaltensweisen, die er nun als bedingte Reflexe von den unbedingten unterscheidet. Dieses Modell, das erworbenes Verhalten nach dem Schema angebore ner Reaktionen analysiert, erhebt einen „Grenzfall“ zur Norm. Denn der Reflex ist bloß die verkürzte Antwort auf einen festen Umweltreiz, die sich selbst verfestigt hat, als Verhalten aber trotzdem kein bloßer „Vorgang“ ist.59 läßt“, vom „natürlichen, oberflächlichen Verstehen“, das die Grundlage des ersteren bildet (F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die Deutung“, S. 124). 57 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows“, in: H. Plessner, Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 7-32, hier S. 19; vgl. ebd., S. 23 die Aussage: „Das Verhalten selbst hat aber nicht seinen Sitz in den nervösen Zentren, von denen es – und sicherlich nicht allein – gesteuert wird.“ Dieser Ansatz kehrt aktuell im amerikanisch geprägten Embodiment-Diskurs (z. B. bei Alva Noë) wieder. 58 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die physiologische Erklärung“, S. 21. 59 Ebd., S. 31. Vgl. auch F. J. J. Buytendijk „Kritik der Reflextheorie auf Grund der Erforschung der Verhaltungsweisen beim Tiere“, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 43/1931, S. 24-33, hier S. 25: Der Reflex ist der „Grenzfall einer Handlung“; sowie ders., Die Weisheit der Ameisen, S. 57: Reflexe sind „eine besondere Art psychischer Prozesse [...], die ihren scheinbar mechani
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„Verhalten heißt antworten“ auf die Fragen, die dem tierischen Organismus die Umwelt stellt.60 Eine Antwort ist mehr als eine bloß mechanische Reaktion. Das macht der Vergleich mit der Physik deut lich. Nach dem dritten Newtonschen Axiom trifft in der Natur eine Wirkung immer auf eine gleich große Gegenwirkung; actio est reactio. Übe ich z. B. auf einen massiven Körper Druck aus, so wirkt ein dem Druck entsprechender Widerstand zurück. Diese strenge Proportio nalität gilt nicht in der gleichen Form für Lebewesen, da die Gegen wirkung davon abhängt, welche Bedeutung eine Wirkung für das Tier hat.61 Antworten haben im Gegensatz zu physikalischen Reaktionen einen Sinn.62 ,Sinn‘ steht auch hier für die Gerichtetheit des Organis mus, d. h. für seine Umweltintentionalität. Weil Verhalten diese Art von Sinn hat, kann man es als eine Antwort nur dann verstehen, wenn man den Bewegungsablauf in Beziehung zur Situation setzt, in die er eingebettet ist. Ohne diesen „natürlichen Situationszusammenhang“ verliert das Verhalten seine „Verständlichkeit“. Hat es aber aufgehört, verständlich zu sein, „müssen Ordnungsprinzipien hinzuerfunden werden, um das Geschehen wieder verständlich zu machen. Solch ein Ordnungsprinzip ist der Reflex“.63 Das Ordnungsprinzip ,Reflex‘ opfert jedoch „einem Erklärungs schema zuliebe“, das den Grenzfall normalisiert, „die Erfahrung und das ihr gemäße Verständnis“, während es der empirischen Wissen schaft gerade darum gehen sollte, „in den Grenzen der Erfahrung“ zu bleiben.64 Der Reflex wird so zu einem metaphysischen Begriff, der sich auf einen empirischen Gegenstand beziehen soll, auch wenn ihm
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schen Charakter den Umständen verdanken, unter denen sie auftreten, nämlich dem häufigen Wiederholen fester Reize, worauf feste Antworten biologisch notwendig sind.“ Der Reflex ist „ein Grenzfall eines Instinktes, das heißt ein Instinkt mit sehr geringer sensorischer und motorischer Breite. Durch Einschränkung der Variabilität verändert sich ein Instinkt in einen Reflex.“ (Ebd., S. 59) F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die physiologische Erklärung“, S. 31. Vgl. A. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Eine philosophische Abhandlung, in: ders., Werke in fünf Bänden, hrsg. von L. Lütkehaus, Bd. 3, Zürich 1991, S. 7-168, hier S. 59. Vgl. F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, „Die physiologische Erklärung“, S. 26 (Anm.): „Benehmen [d. i. Verhalten] verlangt zu seiner Erfassung Sinndeutung, aber nur deshalb, weil Sinnhaftigkeit dem tierischen Lebewesen in seiner Umfeldbezogenheit vorbehalten ist. Nicht daß gedeutet bzw. verstanden werden muß, ist die Crux der Wissenschaft, sondern wie.“ Ebd., S. 31. Ebd., S. 32.
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keine Anschauung korrespondiert. Buytendijk und Plessner verglei chen den Reflex deshalb mit der Idee des Äthers, an der die Physik lange Zeit – obwohl ein solches Medium niemals nachgewiesen wer den konnte – festhielt, bis man sie erst im 20. Jahrhundert verwarf.65 Den Vergleich mit der Physik führen die Autoren weiter, indem sie auf das Messproblem eingehen: Der Akt der Beobachtung beeinflusst den Beobachtungsgegenstand. In der Verhaltensforschung macht sich diese Verschränkung darin bemerkbar, dass Tiere auf die Situation des Ex periments als solche reagieren und ihre Reaktion entsprechend anders ausfallen kann als in ihrer natürlichen Umwelt. Wenn nun die Laborsi tuation das übliche umweltintentionale Verhalten artifiziell reduziert, weil das Tier von seinem Milieu isoliert wird, wundert es kaum, dass ein reduziertes Schema genau die Verhaltensweisen (im schlimmsten Fall so genannte experimentelle Neurosen) erklären können soll, die der Versuch erst hervorgebracht hat. Pawlow macht in seinen Experi menten aus Tieren „Reflexmaschinen“, indem er sie aus dem Bezie hungsgeflecht mit ihrer natürlichen Umgebung herausreißt und sie monotonen Stimulationen aussetzt. Umso wichtiger ist der Abgleich des im Labor beobachteten Verhaltens mit demjenigen unter normalen Lebensbedingungen.66 Buytendijks und Plessners Sensibilität für die Beschreibungsspra che der Biologie gründet in ihrem hermeneutischen Ansatz. Wenn tie risches Verhalten einen verständlichen Sinn hat, dann muss sich die Deutung dieses Sinns an der ,Antwort‘ wie an einem Text orientieren. Die „Verarmung in den beschreibenden Ausdrücken“ muss ebenso ver mieden werden wie „eine Umschreibung des an sich problematischen Vorganges in einer noch viel problematischeren Sprache“.67 Pawlows Antwort auf seine Beobachtungen ist der wahre Reflex, nicht die be obachtete Antwort der Versuchstiere.68 Der Physiologe hat von der „physiognomische[n] Verständlichkeit“ des Verhaltens auszugehen – Wissenschaft, so zitieren die Autoren „im Sinne von Helmholtz“, ist „eine künstlerische Auseinandersetzung der Tatsachen“.69 Vor diesem Hintergrund muss man auch den folgenden Vergleich sehen: Kausal analytische und verstehende Physiologie verhalten sich zueinander 65 66 67 68 69
Vgl. ebd., S. 27 f. Ebd., S. 31 f. Zudem ist die Laborsituation anthropomorph (ebd., S. 30). Ebd., S. 24, S. 26. Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 29.
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wie physikalische Akustik und Musiklehre.70 Wie die Akustik eine Tonfolge in einzelne Töne zerlegt und diese als Luftschwingungen in terpretiert, so zerlegt die Physiologie eines Pawlow die tierische Bewe gung in einzelne Reizreaktionen und interpretiert diese als eine Kette von Reflexen. Wie die Musiklehre die Formprinzipien von Kompositi onen untersucht und Motive in Melodien identifiziert, so untersucht die verstehende Physiologie die umweltintentionale Form tierischen Verhaltens und macht den Sinn einer Bewegung (das Motiv einer ,Be wegungsmelodie‘) verständlich.71
5. Das Pathos der Bindung und das Pathos der Distanz: die letzte Gemeinschaftsarbeit (1938/46) Seinen ersten Vortrag auf deutschem Boden nach 1933 hält Plessner in Hamburg auf einer Tagung anlässlich des 300. Geburtstages von Leibniz. Er spricht über das Thema: „Mensch und Tier“. Der veröffent lichten Fassung fügt er die Anmerkung hinzu, dass der Text „in Vielem dem Gedankengang und den Formulierungen“ eines Aufsatzes folge, der 1938 in der Neuen Rundschau nur unter dem Namen Buytendijks erschienen sei. „Mein Name durfte aus politischen Gründen nicht ge nannt werden.“72 Diese Camouflage ist jedoch nicht die einzige Beson derheit der dritten und letzten Gemeinschaftsarbeit von Buytendijk und Plessner – sie unterscheidet sich von den früheren auch dadurch, 70 Vgl. ebd., S. 23. 71 Vgl. auch F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, S. 35: „Es ist nur eine von den Behavioristen theoretisch formulierte Annahme, daß ,objektiv‘ allein meßbare Größen sind und Gestalten, sinnvolle Beziehungen, situationsgebundenes Verhalten nur subjektive Deutungen darstellen.“ 72 H. Plessner, „Mensch und Tier“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 52-65, hier S. 65 (im Folgenden: MT); F. J. J. Buytendijk, „Tier und Mensch“, in: Die neue Rundschau 49 (10)/1938, S. 313-337 (im Folgenden: TM). J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München 2008, S. 330 (Anm.) ist der Auffassung, dass „Ideen und Schreibstil des Artikels von 1938 eher für Buytendijks Autorschaft bei Beratung durch den in Groningen am Schreib tisch vor Ort anwesenden Plessner“ sprechen. Ein Textvergleich ergibt jedoch so viele Übereinstimmungen bis in den Wortlaut, dass es fraglich erscheint, ob Plessner tatsächlich einen Text, bei dessen Entstehung er nur in beratender Funktion tätig war, allein unter seinem Namen publiziert. Vielmehr handelt es sich bei dem Vor trag von 1946 um die gekürzte Version des Aufsatzes 1938 mit einigen deutlichen Abweichungen vornehmlich im abschließenden Abschnitt.
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dass der wissenschaftliche Gegenstand (die anthropologische Diffe renz) in einen politischen Kontext eingebettet wird. Plessner beginnt seinen Vortrag 1946 mit den Worten, dass er über eine Frage spreche, „deren Aktualität wir alle am eigenen Leibe erlebt haben, die Frage nach der Grenze zwischen Tier und Mensch, nach der Sonderstellung des Menschen in der Natur.“73 Diese Virulenz erläutern die Verfasser bereits 1938: Die Entwicklung des Selbstvertrauens des Menschen in seine Fähigkeiten stehe in einem merkwürdigen Missverhältnis zur Selbsteinschätzung seines Wertes. Je größer demnach die Macht, des to geringer das Selbstwertgefühl. „Die Entgötterung des Lebens, im Zeichen der Erhöhung des Menschen begonnen, rächt sich an ihm, da sie im Zeichen seiner Erniedrigung endet.“74 Das Freiheitsbewusstsein tritt hinter ein bloßes Könnensbewusstsein zurück, und dies führt schließlich zur „dämonische[n] Abwertung der Menschenidee zu gunsten der untermenschlichen Kräfte“.75 Die Abwertung besteht genau darin, dass die Idee des Menschen mit der „Idee des menschlichen Körpers gleichgesetzt“ wird.76 „Als Körper wird der Mensch Tier.“77 Problematisch ist die Reduktion des Menschen auf seine physischen Merkmale deshalb, weil damit zugleich seine kognitiven Fähigkeiten auf technische Intelligenz be schränkt werden. Wie Scheler unterscheiden die Autoren zwischen Geist (bzw. Vernunft) und Intelligenz: „Intelligenz ist eine biologische Kategorie [...] Geist dagegen ist eine transbiologische Größe“.78 Da rauf zielt erneut die Kritik am ökonomistischen Prinzip des Darwi nismus, der „alles dazu getan hat, die Sapientia zur Prudentia, zum technisch-rechnerischen Verstande zu verarmen“.79 So reduplizieren Buytendijk und Plessner in der Anthropologie, was sie in der Biolo gie für das Ausdrucksphänomen zeigen wollten. Denn hinsichtlich der Zweckmäßigkeit verhält sich die Handlung zur Ausdrucksbewegung wie die Intelligenz zum Geist. Der Geist interessiert sich nicht für die Funktionswerte der Dinge, er entdeckt ihren Seinswert. Dadurch be freit er den Menschen aus der tierischen Umwelt und öffnet ihn für die Welt, deren Interieur nicht nur einen Bedeutungs- und Funkti 73 74 75 76 77 78 79
MT, S. 52. TM, S. 313; vgl. MT, S. 52 f. TM, S. 315. MT, S. 54; vgl. TM, S. 316. Ebd.; vgl. MT, S. 53. TM, S. 331; vgl. MT, S. 56: „Vernunft [ist] eine transbiologische Gabe“. TM, S. 325; vgl. MT, S. 55.
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onswert, sondern einen Sachgehalt besitzt. Voraussetzung für diese Versachlichung ist aber die Freiheit von der animalischen Trieb- und Instinktbindung.80 Bis zur vorletzten Seite des Aufsatzes von 1938 sind die inhaltli chen Übereinstimmungen mit dem Vortrag von 1946 wesentlich grö ßer als die Abweichungen, so dass der jüngere Text wie eine gekürzte und sprachlich überarbeitete Version des älteren erscheint. Erst in den letzten Absätzen tritt eine deutliche Differenz zu Tage. Buytendijk interpretiert den Gegensatz von tierischer Umweltgebundenheit und menschlicher Weltoffenheit am Leitfaden der „zugleich bindenden und distanzierenden Beziehung“ der Liebe, während Plessner „nur in der Abstandnahme“ den sachlichen Charakter der Welt begründet.81 Kulminiert der Aufsatz von 1938 im Pathos der Bindung, so endet der Vortrag von 1946 mit einem Pathos der Distanz. Ist der Mensch bei Buytendijk das liebend-geliebte Ich in einer Welt, in der ihm der An dere als ein anderes Ich begegnet, vermag er bei Plessner „von allem Abstand zu nehmen und gerade darum zu allem eine sachliche, eine hingebende Beziehung zu finden“.82 Hier gründet die Sachlichkeit in der Liebe, dort die Liebe in der Sachlichkeit.83 Nach Buytendijk befä higt erst die Liebe dazu, die Welt als Objekt zu erkennen – für Plessner geht der Rückzug jeder Hingabe voraus, die letztlich die Ausnahme bleibt und sich auch nur auf Einzelne und Weniges richten kann. Hält es Buytendijk für möglich, „auch dem Fremden als seinem Bruder in die Augen zu blicken“,84 so sieht dies der Autor der Grenzen 80 Ebd., S. 56 sowie S. 64; vgl. TM, S. 331. „Jede biologische Umweltinterpretation muß in letzter Instanz auf einem außerbiologischen Weltbegriff ruhen. An dieser Frage setzt die Philosophische Anthropologie ein.“ (MT, S. 59) Hier gehen Buyten dijk und Plessner über Uexküll hinaus, mit dem sie sich gerade in ihrer Kritik am Darwinismus einig sind, wenn sie die Idee eines passiv seiner Umwelt ausgesetzten Organismus zurückweisen. Vgl. F. J. J. Buytendijk, „Zur Untersuchung des Wesens unterschiedes“, S. 44: Die „Beziehung von Innenwelt und Umwelt des Tieres [kann] nicht so gedacht werden [...], daß eine Einpassung des Tieres in seine Umgebung nach Art der Einpassung eines Schlüssels in ein Schloß vorliegt.“ 81 TM, S. 337; vgl. MT, S. 64. 82 Ebd. 83 Vgl. F. J. J. Buytendijk, „Zur Untersuchung des Wesensunterschiedes“, S. 48: „Mit einer wirklichen, objektiv gegebenen Welt in Verbindung treten zu können, bedeu� tet Menschwerdung. Sie entsteht und wird verfestigt durch Liebe. [...] Mit anderen Worten, die Liebe ist die Bedingung für die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis.“ So spricht Buytendijk auch 1938 von der „Liebeskraft als des Fundamentes seines [d. i. des Menschen] geistigen Daseins“ (TM, S. 337). 84 TM, S. 337.
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der Gemeinschaft nicht einmal für erstrebenswert an. Die Gemein schaft beschränkt Plessner auf den lebensweltlichen Nahbereich (wie Partnerschaft, Familie oder Freundschaft) und grenzt sie von der Ge sellschaft ab, deren Aufgabe gerade darin besteht, die Menschen auf einen für die Freiheit Aller bekömmlichen Abstand zu halten. Die Aus dehnung des Gemeinschaftsgedankens auf die gesellschaftliche Sphäre führt in den sozialen Radikalismus, den der Liberale Plessner in der linken wie in der rechten Variante ablehnt. 1946 blickt er auf die unse lige Beschwörung von ,Blut und Boden‘ zurück, durch die Menschen an eine Heimat gebunden werden sollen, die sie nie hatten noch haben werden. Steht Boden für vegetative Orts- und Blut für animalische Sippengebundenheit, so ist dem Menschen aufgrund der Indirektheit seines Weltbezugs beides versagt. Konstitutionell wurzellos, ist er ein „Emigrant der Natur“, der sich seine Heimat erst schaffen muss.85 Der Verlust der tierischen Umweltbindung, der mit der exzentrischen Position einhergeht, bringt uns in die prekäre Lage, kompensieren zu müssen, was die Natur uns versagt hat.86 Darin beruht sowohl die geis tige Freiheit zur Gestaltung als auch die Gefahr der Überkompensati on. Die regressive Tendenz zur Naturalisierung seiner selbst verlangt daher nach einer Besinnung auf die natürliche Künstlichkeit des Men schen, der noch in der Leugnung der Autonomie des Geistigen seine biologische Heimatlosigkeit unter Beweis stellt.
6. Ein Kreis schließt sich: Referenzen und Reverenzen nach 1946 Mit der Einführung Plessners in sein neues Groninger Amt als Phi losophieprofessor durch Buytendijk schließt sich 1946 für die beiden „ein Kreis“, der sich gut zwei Jahrzehnte zuvor mit der Arbeit über die Deutung des mimischen Ausdrucks geöffnet hatte. Dennoch: „die Kameradschaft bleibt.“87 In Form wechselseitiger Reverenz bekunden dies die beiden Festschriftbeiträge anlässlich von Buytendijks 70. sowie Plessners 65. Geburtstag, die ins selbe Jahr 1957 fallen.88 Aber auch im 85 86 87 88
MT, S. 64. Vgl. ebd., S. 65; vgl. ebd., S. 60, die polemische Bemerkung zu Gehlen. H. Plessner, „Unsere Begegnung“, S. 338. Vgl. H. Plessner, „Unsere Begegnung“; F. J. J. Buytendijk, „Der Geschmack“, in: Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, hrsg. von
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Gedankenaustausch bleiben die beiden Autoren miteinander verbun den. Wiederholt verweist Buytendijk auf Plessners Studie über Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhal� tens, die noch am gemeinsamen Arbeitsplatz in Groningen entstanden ist. Lachen und Weinen unterlaufen die Dichotomie von Ausdrucks bewegung und Handlung, indem sie an einer spezifisch menschlichen Grenze auftreten. Wir lachen oder weinen, wenn wir weder mit ei ner Ausdrucksbewegung, noch mit einer Handlung reagieren können und als geistige Wesen unsere Selbstbeherrschung verlieren. Buyten dijk referiert Plessners Lehre in seinem Werk Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung als Verbindung und Gegen� überstellung von physiologischer und psychologischer Betrachtungs� weise unter der Überschrift „Expression durch Kapitulation“.89 Der Lachende kapituliert vor einer doppelsinnig-ambivalenten, der Wei nende vor einer überwältigend-ergreifenden Situation. In Ermange lung einer anderen Antwort auf diese beiden Arten unbeantwortbarer Situationen verliert die Person jeweils die Beherrschung über ihren Körper. Lachen und Weinen sind daher nur zwei unterschiedliche, da verschieden zustande gekommene Formen einer „Desorganisation der Beziehung des Menschen zu seinem Leib“90 zwischen unwillkürlichem Mienenspiel und zielgerichteter Handlung. Plessner erwähnt die Allgemeine Theorie seinerseits im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen (1966). Buytendijk habe „sinnfäl lig“ gemacht, dass sich menschliches Verhalten „in der Fülle seiner Möglichkeiten [...] nicht unter einem Teilaspekt“, physiologisch oder psychologisch, begreifen lasse.91 Ausdrucksbewegungen, Gebärden, Sprachen, Handlungen, Spiele, Lachen, Lächeln und Weinen sind psy chophysisch indifferente Verhaltensformen, die – gemäß dem Unter titel der Allgemeinen Theorie – in „Verbindung und Gegenüberstel lung von physiologischer und psychologischer Betrachtungsweise“ beschrieben werden müssen. „Dieses Werk“, hebt Plessner in seinem Festschriftbeitrag für Buytendijk hervor, „ist die Frucht Ihres ganzen Lebens, die Durchführung des anthropologischen Prinzips in der vol len Breite physiologischer und psychologischer Erfahrung: dass im Le K. Ziegler, Göttingen 1957, S. 42-57. Die Widmung von Plessners Die verspätete Nation für Buytendijk wurde bereits erwähnt. 89 F. J. J. Buytendijk, Allgemeine Theorie, S. 245-249. 90 Ebd., S. 248. 91 H. Plessner, Stufen, S. 27.
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bendigen das Geistige bereits – ,wie in einer Anspielung‘ müssen wir das Wort zinspelend übersetzen – erscheint, während umgekehrt sogar im Menschen noch dort, wo er am menschlichsten ist, blinde Notwen digkeit wirkt.“92 Das Projekt einer verstehenden Biologie bleibt inso fern gegenwärtig. Im Nachtrag, ebenfalls zur zweiten Auflage der Stufen, führt Pless ner eine Gemeinschaftsarbeit Buytendijks mit Paul Christian an, in der sich die Autoren kritisch mit der kybernetischen Maschinenthe orie des Organischen auseinandersetzen.93 Sie vertreten die These, ein mechanischer Regelkreis könne das Verhalten eines Lebewesens hinsichtlich seiner Leistung lediglich simulieren. Vom Original unter scheidet sich die technische Simulation aber darin, dass „nur das Lebe wesen – also ein ,Selbst‘ von positionalem Charakter – ,sich‘ verhalten kann“.94 Buytendijk und Christian stellen mit dem Attribut der Positi onalität Plessner in die Reihe derer, die reduktionistische Erklärungen des Verhaltens ablehnen. Neben Plessner berufen sich die Verfasser auf Merleau-Ponty („corps-sujet“), Victor von Weizsäcker („Gestalt kreis“) und Husserl („fungierende Intentionalität“). Lebewesen sind Subjekte, weil sie empfänglich für eine bedeutsame Umwelt sind, der gegenüber sie im Verhalten Stellung beziehen.95 Interessanterweise ist Plessner seinerseits bereit, dem Reduktio nismus größere Zugeständnisse zu machen als Buytendijk. Das ky bernetische Modell vom Organismus vermehrt die „operativen Mög lichkeiten zur Reduktion vitaler Prozesse auf Prozesse chemischer und physikalischer Art“.96 Operativ muß sich die Biologie also durchaus an dem Ideal eines „Newton des Grashalms“ orientieren, der – nach dem Gedanken Kants – Lebewesen rein kausal, ohne Zweckbegriffe zu erklären vermag. Dieses Vorgehen beschädigt nach Plessner aber kei neswegs die Autonomie der Lebenserscheinungen als Erscheinungen. So wie die physikalische Definition von Licht als Welle „nicht wirkli cher“ ist als „das ihr ,entsprechende‘ Grün“, so ist auch die biochemi sche oder biophysikalische Analyse des Organischen nicht wirklicher 92 H. Plessner, „Unsere Begegnung“, S. 336. 93 H. Plessner, Stufen, S. 426 f.; vgl. F. J. J. Buytendijk, P. Christian, „Kybernetik und Gestaltkreis als Erklärungsprinzipien des Verhaltens“, in: Der Nervenarzt 34 (3)/ 1963, S. 97-104. 94 Ebd., S. 97. 95 Vgl. außerdem F. J. J. Buytendijk, Prolegomena, S. 28; zur Kritik an der kyberneti schen Biologie ebd., S. 181-202. 96 H. Plessner, Stufen, S. 427.
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als die Erscheinung des Organismus in ganzheitlicher Gestalt. „Denn Erscheinung ist nicht Schein.“ Vor diesem Hintergrund grenzt Pless ner zwei Erkenntnisinteressen voneinander ab: In den Stufen geht es ihm um die „Darstellung der Bedingungen, unter welchen Leben als Erscheinung möglich wird. Seine Wirklichkeitsbedingungen ermitteln die Naturwissenschaften.“97 Die Kritik, die Buytendijk und Christian an der Kybernetik üben, trifft daher weniger die empirische Forschung als das, was Plessner selbst „Logik der lebendigen Form“ genannt hat.98 Eine solche Logik kann es aber nur geben, wenn das Leben logos be sitzt, das heißt einen Sinn (Gerichtetheit) hat, um dessen Verständnis man sich mühen kann.99 Es ist diese Bemühung, die Buytendijk und Plessner zu Gefährten auf einem gemeinsamen Weg macht.
97 Ebd., S. 428 f. Mit diesem Aperçu korrespondiert die folgende Bemerkung aus Buy tendijks Allgemeine Theorie, S. 352 (Anm.): „Merleau-Ponty (La structure du com portement, Paris 1942) sagt mit Recht, daß eine Form keine Ursache hat, sondern daß es nur Bedingungen gibt für ihr Erscheinen.“ 98 H. Plessner, „Selbstdarstellung“, S. 327. 99 Vgl. F. J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, S. 17.
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Georg Toepfer
Helmuth Plessner und Hans Driesch. Naturphilosophischer versus naturwissenschaftlicher Vitalismus
1. Biografische Parallelen und persönliche Begegnungen „In Heidelberg hatte ich das Glück, in Hans Driesch einen Lehrer zu finden, dessen Kombination von Biologie und Philosophie mich begeisterte“ – so schreibt 1982 der neunzigjährige Helmuth Plessner rückblickend auf seine sieben Jahrzehnte zurückliegenden Studienjahre.1 Das Interesse für biologische und philosophische Fragen ist bei Plessner schon früh vorhanden. Aufgewachsen in der Familie eines Arztes in Wiesbaden, ist er bereits als Schüler von der Biologie fasziniert und liest mit vierzehn Jahren Wilhelm Bölsches populärwissenschaftliche Schrift Die Abstammung des Menschen (erschienen 1904). Im Mai 1910 beginnt er ein Studium der Medizin in Freiburg im Breisgau. Nach zwei Semestern wechselt er im Sommer 1911 nach Heidelberg, um hier ein Studium der Zoologie und zugleich der Philosophie aufzunehmen. In Heidelberg wird der Vitalist Driesch zu einem prägenden akademischen Lehrer Plessners; Driesch liest sowohl über Naturphilosophie und die Philosophie der Psychologie als auch die Klassiker der Philosophie. In der Zoologie gerät Plessner aber gleichzeitig unter den Einfluss massiver Kritiker Drieschs, die dessen Vitalismus ablehnen. Zu diesen zählt insbesondere der Protozoen-Forscher Otto Bütschli.2 Im Gegensatz zu anderen vehementen Kritikern Drieschs setzt sich Bütschli differenziert mit Drieschs Vitalismus auseinander und kritisiert ihn vor allem auf methodologischer Grundlage, insofern er die Biologie als Naturwissenschaft auf den Mechanismus verpflichtet 1
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H. Plessner, „Autobiographische Einführung“, in: ders., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 3-8, hier S. 3; sehr ähnlich: H. Plessner, „Selbstdarstellung“ (1975), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1985, S. 302-341, hier S. 305. Vgl. S. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophischanthropologischen Denkens, Freiburg im Breisgau 1992, S. 92 f.; C. Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985, Göttingen 2006, S. 29 ff.
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sieht.3 Die Konstellation von methodologischer Verpflichtung auf den Mechanismus bei gleichzeitiger naturphilosophischer Anerkennung der Eigenständigkeit des Lebendigen bleibt für Plessner zeitlebens grundlegend für seine biophilosophische Position. Bereits nach einem Jahr Studium beginnt Plessner im Sommer 1912 mit der Arbeit an einer zoologischen Dissertation, in der es um das Regenerationsvermögen eines Krebses ging. Die experimentellen Arbeiten dazu, die teilweise auf Helgoland durchgeführt werden, nehmen die Tagesstunden in Anspruch, während Plessner sich nachts dem Studium der Philosophie widmet.4 Über das Verhältnis von empirischer Wissenschaft zu Philosophie macht sich Plessner in einigen Beiträgen in einer studentischen Monatsschrift Gedanken. Darin macht er deutlich, dass die empirischen Wissenschaften als Material für die Philosophie dienen könnten, wobei die Philosophie in der Rolle des Ordners und Kritikers auftrete.5 Von Driesch war Plessner begeistert, weil er es verstand, empirische Erkenntnisse der Biologie auf theoretische Probleme der Philosophie zu beziehen. Für Plessner besonders einflussreich war dabei Drieschs kleine Schrift Die Logik als Aufgabe (1913), die Plessner versteht als einen „Versuch, Logik mit Denkpsychologie zu verbinden, ohne in Psychologismus zu verfallen“6 und von der er bemerkt, sie „feuerte mich zu meiner ersten philosophischen Arbeit an“7 – die dann noch im selben Jahr wie Drieschs Buch erscheint. Diese erste philosophische Monografie veröffentlicht Plessner im Alter von 21 Jahren und widmet sie „Hans Driesch in herzlicher
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O. Bütschli, Mechanismus und Vitalismus, Leipzig 1901. Bütschli charakterisiert den Mechanismus durch die These, dass es prinzipiell möglich sei, „die Lebensformen und Lebenserscheinungen auf Grund komplizirter physikochemischer Bedingungen zu begreifen“ (ebd., S. 8). Der klassische Vitalismus leugnet nach Bütschli diese Möglichkeit. Allerdings lasse sich eine Variante des Vitalismus, die mit dem Mechanismus vereinbar sei, verteidigen. Diese Variante bestehe in der Einsicht, „dass Lebewesen, als besondere Klassen natürlicher Objekte, ihre eigenthümlichen sekundären Gesetzmässigkeiten besitzen“ (ebd., S. 98). H. Plessner, „Selbstdarstellung“, S. 306. H. Plessner, „Vom notwendigen Verhältnis des Studenten zur Philosophie“, in: Studentische Monatshefte vom Oberrhein 1911, S. 3-7, hier S. 4 f.; vgl. K. Schüßler, Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2000, S. 11 f.; C. Dietze, Nachgeholtes Leben, S. 31. H. Plessner, „Selbstdarstellung“, S. 306. H. Plessner, „Autobiographische Einführung“, S. 3.
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Verehrung“.8 Die Schrift, im Titel Die wissenschaftliche Idee, ist nicht im engeren Sinne biophilosophisch ausgerichtet, sondern handelt allgemein vom Fortschritt der Wissenschaften und ihrer Tendenz zur zunehmenden Systematizität, in Plessners Worten lautet sein Ziel: „Rechtfertigung des immanenten Zwanges zur Einheit durch die Aufdeckung des ihm zugrunde liegenden Momentes (mittels der Wissenschaftstheorie), mithin des monistischen Ideals selbst“.9 Ein Bezug zu Drieschs Schriften liegt einerseits in dem Versuch einer Verhältnisbestimmung von empirischer Wissenschaft und Philosophie und andererseits dem Anspruch einer umfassenden Ordnung des Wissens, bei Plessner strukturiert in einen „umfassenden Begründungszusammenhang, eine Kontinuität der Ideate“, legitimiert, insofern die „innere Ordnung […] das Zentralmoment alles wissenschaftlichen Gebarens“ darstelle und letztlich motiviert sei durch den „Einheitstrieb der Vernunft“.10 In seiner rückblickenden Selbstdarstellung geht Plessner allerdings auf deutliche Distanz zu seiner ersten Monografie. Er bemängelt, dass „ein so massives, in sich differenziertes Kulturprodukt wie ‚die Wissenschaft‘“ nicht ausgehend von einem einzelnen determinierenden Prinzip wie dem „Husserlschen Begriff der Ideation wachsenden Allgemeinheitsgrades“ begriffen werden könne.11 Driesch ist in dieser Zeit nicht nur akademischer Lehrer Plessners, er ist es auch, der Edmund Husserl in einem Brief vom 3. Juli 1914 darum bittet, Plessners philosophische Monografie für eine Annahme als Dissertation zu prüfen, nachdem Wilhelm Windelband in Heidelberg eine eher ablehnende Haltung dazu eingenommen habe und Plessner sich für Husserls Phänomenologie interessiert gezeigt hatte („Plessner ist in erster Linie durch Sie beeinflusst“, schreibt Driesch12). 8 H. Plessner, Die wissenschaftliche Idee. Ein Entwurf über ihre Form, Heidelberg 1913; auch in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 7-141, hier S. 8. 9 Ebd., S. 15. 10 Ebd., S. 75, S. 103, S. 141; vgl. dazu auch S. Pietrowicz, Helmuth Plessner, S. 97 ff. 11 H. Plessner, „Selbstdarstellung“, S. 308. 12 H. Driesch, „[Brief an E. Husserl vom 3. Juli 1914]“, in: Briefwechsel Edmund Husserl, Bd. 6, Philosophenbriefe (= Husserliana, Bd. 3, 6), Dordrecht 1994, S. 57-58, hier S. 58. Dieser Brief, der in eine politisch hoch brisante Zeit fällt, ist der einzige erhaltene von Driesch an Husserl; einige Monate zuvor hatte Driesch einige seiner Schriften Husserl gesendet, für die dieser sich in einem kurzen Brief vom 24. Mai 1914 bedankte. Der Nachlass Drieschs umfasst insgesamt neun Briefe Husserls. Das von Thomas Miller 1991 veröffentlichte Verzeichnis der Briefe Drieschs enthält keine Hinweise auf den Briefwechsel zwischen Driesch und Plessner (vgl. T. Miller,
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Dieser Brief enthält eine der wenige Passagen, in denen sich Driesch direkt über sein Verhältnis zu Plessner äußert: Er bemerkt gleich zu Beginn seines Schreibens, dieses erfolge „im Interesse eines jungen Freundes und Schülers von mir“.13 Neben seinem direkten Einfluss auf Plessner durch seine naturphilosophische Lehre wirkte Driesch also an wichtiger Stelle als Türöffner für Plessner. Dies gilt nicht nur für die Herstellung des Kontakts zu Husserl, sondern auch für die Einführung Plessners in den wöchentlichen „Sonntagskreis“ im Heidelberger Haus Max Webers, in dem unter anderem Ernst Troeltsch, Georg Lukács und Ernst Bloch verkehrten.14 Bei aller persönlichen Freundschaft und Verehrung blieb Plessner aber auf einer sachlichen Ebene durchaus auf Distanz zu Driesch. Rückblickend bezeichnet er sich als „Schüler des ominösen Driesch“ und hält fest, dass ihn Drieschs Vitalismus „nicht überzeugte“.15 Zumindest in einigen seiner frühen anthropologischen Schriften ist Driesch trotz dieser inhaltlichen Distanz ein wichtiger Bezugspunkt Plessners. In seiner biophilosophischen und anthropologischen Grundlagenschrift von 1928, Die Stufen des Organischen und der Mensch, ist Driesch nach Kant (aber vor Descartes, Hegel, Buytendijk und von Uexküll) der am zweithäufigsten zitierte Autor (nach dem Namensregister der zweiten Auflage wird in zwanzig, zum Teil sehr umfangreichen Passagen auf ihn verwiesen). Umgekehrt geht Driesch in seinen Schriften fast überhaupt nicht auf die Arbeiten seines „Freundes und Schülers“ ein. Die einzige etwas ausführlichere Auseinandersetzung erfolgt in einem Buch aus dem Jahr 1930, in dem Driesch sich der Vorwürfe einiger seiner Kritiker erwehrt und daneben allgemeine Ratschläge zum philosophischen Denken und Konstruktion und Begründung. Zur Struktur und Relevanz der Philosophie Hans Drieschs, Hildesheim 1991, S. 313-321). Ein Brief Plessners an Driesch vom Mai 1934 liegt im Archiv der UB Leipzig (C. Dietze, Nachgeholtes Leben, S. 100, S. 105). Briefe, die Plessner in den 1920er bis 1940er Jahren an Driesch und später an dessen Witwe nach Leipzig schrieb, liegen im Archiv der Universitätsbibliothek in Groningen (C. Dejung, Helmuth Plessner. Ein deutscher Philosoph zwischen Kaiserreich und Bonner Republik, Zürich 2003, S. 600; C. Dietze, Nachgeholtes Leben, S. 32). Dejung charakterisiert die Beziehung von Plessner zu Driesch als „von Anfang an eine der persönlichen Freundschaft bei kritischer Distanzierung in Sachfragen“ (C. Dejung, Helmuth Plessner, S. 143). 13 H. Driesch, „[Brief an E. Husserl]“, S. 57. 14 Vgl. K. Schüßler, Helmuth Plessner, S. 16 f. 15 H. Plessner, „Selbstdarstellung“, S. 305; vgl. ders., „Autobiographische Einführung“, S. 3.
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Lehren erteilt.16 Aber auch hier umfasst die Auseinandersetzung mit Plessners Position lediglich fünf Seiten. Die zentrale Kritik Drieschs an den Stufen lautet, Plessner würde darin den theoretisch gut begründeten klassischen Dualismus von Körper und Geist angreifen und einen „Hylozoismus“ begründen wollen. Plessner erfährt von dem Vorwurf des Hylozoismus schon vor Erscheinen von Drieschs im Buch veröffentlichter Kritik. Bereits in einem Brief an seinen Freund Josef König vom 22. Februar 1928, kurz nach Erscheinen der Stufen Anfang des Jahres, berichtet er davon.17 In Plessners Worten ist die Einschätzung Drieschs „überwiegend kritisch“, er erkenne aber „den Reichtum an viel Neuem“ an und Plessners Fazit lautet: „Grundton sehr positiv“.18 Keine Rolle spielte in Drieschs Wahrnehmung offenbar der Vorwurf, Plessners Werk sei ein Plagiat der anthropologischen Grundgedanken Max Schelers, Drieschs Kollegen in Köln. Driesch konzentriert sich in seiner Auseinandersetzung mit Plessner auf die biophilosophischen Aspekte in dessen Schrift, die eine Kritik seiner eigenen, Drieschs, Position darstellen, und die bei Scheler nicht erscheinen. Ausführlicher als Drieschs (schriftlich wohl nicht überlieferten) Kommentar referiert Plessner in dem Brief an König die (wenigen) emphatischen Reaktionen auf sein Buch (insbesondere die Rezeption durch Georg Misch, der nach Plessner „geradezu hingerissen“ gewesen sei). Von seinem Lehrer Driesch (der Köln bereits 1921 Richtung Leipzig verließ) und noch mehr den anderen Kölner Kollegen fühlte sich Plessner aber weitgehend missverstanden. In seiner Kölner Zeit „nicht sehr glücklich“, wolle er von dort „ja nun wirklich mal bald weg, zu Menschen, die mehr Gefühl auch für meine Dinge haben“, wie er in dem Brief an seinen Freund gesteht.19 Auf die 1930 von Driesch publizierte Kritik reagiert Plessner ausführlicher und öffentlich erst Jahrzehnte später, in 16 H. Driesch, Philosophische Forschungswege. Ratschläge und Warnungen, Leipzig 1930, S. 59-63. 17 H. Plessner, „[Brief an J. König vom 22. Feb. 1928]“, in: H.-U. Lessing, A. Mutzen becher (Hrsg.), Josef König, Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, Freiburg 1994, S. 172-182, hier S. 175. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 182. Bei aller persönlichen Unzufriedenheit kann man aber doch der Ansicht sein, Plessner erlebte in Köln „die fruchtbarsten Jahre seines wissenschaftlichen Lebens“ (G. Arlt, Anthropologie und Politik. Ein Schlüssel zum Werk Helmut Pless ners, München 1996, S. 15). Ein Biograf urteilt, Plessners dreizehn Jahre in Köln seien „eine äußerst produktive und zugleich entscheidende Phase seines Schaffens“ gewesen (S. Pietrowicz, Helmuth Plessner, S. 16). Ein anderer Biograf meint auch: „Plessners Wesen paßte zur Hochburg des rheinischen Karnveals. Auch er liebte
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einem Beitrag zur Festschrift für Josef König, die 1964 erscheint (zum Inhalt der Auseinandersetzung siehe Abschnitt 3).20 Plessner bemerkt in seinem Brief an Josef König auch, dass Driesch die Stufen für eine Neuauflage seiner umfassenden Philosophie des Organischen „begrüßt“. Tatsächlich verweist Driesch in der vierten Auflage dieses Werks, die im gleichen Jahr wie Plessners Stufen erscheint, aber lediglich an einer Stelle und kommentarlos auf Plessners Schrift.21 Auch in anderen Schriften der 1930er und 1940er Jahre, in denen Driesch sich viel mit seinen Kritikern auseinandersetzt, findet sich kein Bezug zu Plessner.22 Selbst in seinen 1951 erschienenen Lebenserinnerungen erwähnt Driesch Plessner nicht – im Gegensatz zu anderen Philosophen und Biophilosophen wie Max Scheler, Jakob von Uexküll und obwohl er seine Zeit in Heidelberg und Köln würdigt und dabei unter anderem auch auf den Sonntagskreis im Hause Max Webers eingeht. Driesch gesteht allerdings auch, dass er in diesem Kreis „nicht so recht warm“ wurde, was er auch damit erklärt, dass die Vertreter der Naturwissenschaften „etwas mitleidig von oben herab betrachtet“ wurden.23 Daran vermochte auch der junge Kollege, der zu dieser Zeit noch in erster Linie Zoologe war, nichts zu ändern. Das weitgehende Ignorieren der eigenen biophilosophischen Arbei ten durch seinen väterlichen Freund und akademischen Lehrer minderte aber offenbar nicht die Verehrung und Achtung, die Plessner zeitlebens Driesch entgegenbrachte. Besonders deutlich werden diese Einstellungen in dem Nachruf, den Plessner nach dem Tod Drieschs 1941 verfasst. Die gemeinsamen akademischen Stationen in Heidel-
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angriffigen Witz, konnte aber auch auf versöhnliche und befreiende Art über sich selbst lachen“ (C. Dejung, Helmuth Plessner, S. 134). H. Plessner, „Ein Newton des Grashalms?“, in: H. Delius, G. Patzig (Hrsg.), Argumentationen. Festschrift für Josef König, Göttingen 1964, S. 192-207. H. Driesch, Philosophie des Organischen, 4. Aufl., Leipzig 1928, S. 124. Vgl. H. Driesch, „Das Wesen des Organismus“, in: H. Driesch, R. Woltereck (Hrsg.), Das Lebensproblem im Lichte der modernen Forschung, Leipzig 1931, S. 384-450; ders., Die Maschine und der Organismus, Leipzig 1935; ders., Die Überwindung des Materialismus, Zürich 1935 (nur eine versteckte Anspielung auf Plessner auf S. 83); ders., „Kausalität und Vitalismus“, in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 26/1939, S. 3-80; ders., Biologische Probleme höherer Ordnung, Leipzig 1941. H. Driesch, Lebenserinnerungen. Aufzeichnungen eines Forschers und Denkers in entscheidender Zeit, Basel 1951, S. 149. Christoph Dejung erklärt die Isolation Drieschs im Weberschen Sonntagskreis damit, dass sein philosophischer Ansatz zu sehr vom Individuum ausging und „das Gesellschaftliche, Geschichtliche“ seinem Denken gefehlt habe (C. Dejung, Helmuth Plessner, S. 101).
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berg und Köln sowie insbesondere die verwandte disziplinäre Positionierung zwischen den etablierten Fächern der Biologie und Philosophie – einschließlich der daraus folgenden nur eingeschränkten Anerkennung unter den Fachkollegen – ermöglichten es Plessner, einen empathischen Ton anzuschlagen, der vermuten lässt, er schreibe in dem Bericht über Driesch auch immer über seine eigenen Erfahrungen. Plessner schildert Driesch als einen Suchenden, der neue Pfade beschreitet, von denen ungewiss ist, wohin sie führen werden – ganz gemäß dem Cromwell-Motto: „niemand kommt weiter als der, der nicht weiß, wohin er geht“.24 Dieser Mut zum Aufbruch ins Ungewisse zeige sich auch darin, dass Driesch zu einem findigen Experimentator in der Zoologie wurde, in Zeiten, in denen dies eine Seltenheit gewesen sei. Darüber hinaus führten die Experimente Driesch zum Nachweis der „Unmöglichkeit einer mechanistischen Analyse des Entwicklungsvorganges“, so dass er sich, wie Plessner es darstellt, nicht nur gegen die Neigung der Zeit, sondern auch „gegen seine eigene Neigung“ gezwungen sah, zusätzliche spezifisch organische Kräfte einzuführen.25 Plessner lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass er diesem Weg nicht folgen konnte, weil er die Methodologie einer Naturwissenschaft in eine Aporie führe: „Warum dann noch Experimente, wenn das Objekt die Möglichkeit hat, sich seinen Bedingungen zu entziehen; wenn es sich grundsätzlich nicht kausal verstehen läßt?“26 Plessner schätzt an Driesch einerseits dessen „sehr hanseatische, nach Ordnung und Erledigung drängende Nüchternheit“ und andererseits den „Kampf um die Eigengesetzlichkeit des Organischen“, „ständig kreisend um das Faktum der Undurchsichtigkeit der Lebensvorgänge“.27 Die Anerkennung dieser beiden Prinzipien, des „Ideals grenzenloser Rationalisierung“ und der irreduziblen Autonomie des Lebendigen, machte ihn in seiner Zeit zu einem „großen Outsider“ sowohl der Biologie als auch der Philosophie28 – wie auch Plessner einer war. Bei allen Parallelen in der Biografie und der Verwandtschaft der biophilosophischen Interessen bleibt aber doch ein wichtiger Unter24 H. Plessner, „In memoriam Hans Driesch“, in: Tijdschrift voor Philosophie 3/1941, S. 399-404, zit. nach: S. Giammusso, H.-U. Lessing (Hrsg.), Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge. Helmuth Plessner, München 2001, S. 304-310, hier S. 304. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 305. 27 Ebd., S. 310. 28 Ebd., S. 310, S. 307.
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schied in der inhaltlichen Ausrichtung der Philosophie Drieschs und Plessners bestehen: Drieschs Interesse blieb wesentlich auf die Naturphilosophie beschränkt; sein Anliegen war es, das Besondere der Lebewesen ausgehend von den Prozessen ihrer Entwicklung, wissenschaftlich und philosophisch präzise zu fassen. Für Plessner bildete die Naturphilosophie dagegen nur den Rahmen für die Entwicklung einer anthropologischen Position, die es erlaubt, zugleich die natürlichen und die geistigen Aspekte des Menschen zu begreifen. Für die Verbindung von Biologie und Philosophie konnte Driesch für Plessner ein Vorbild sein, in Bezug auf das er seine eigene Position finden konnte, für seine anthropologischen Ambitionen hatte er sich aber an anderen Autoren zu orientieren.
2. Plessners Kommentar zu Drieschs Auseinandersetzung mit Wolfgang Köhler Die umfangreichste Kritik an Driesch, die Plessner in den Stufen des Organischen und der Mensch äußert, hat ihren Ausgangspunkt in Plessners Stellungahme zu einer Kontroverse, die Driesch in den frühen 1920er Jahren mit dem Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler hatte.29 Driesch argumentierte seit den späten 1890er Jahren dafür, das Spezifische des Organischen in Phänomenen der Regulation und Reparatur zu sehen, die anorganische Körper wie Maschinen gerade nicht aufwiesen. Im Organischen sei es möglich, dass die Teile nicht eine feste Rolle im Ganzen des Systems spielen, sondern je nach Zustand des Systems andere Aufgaben wahrnehmen. Die Lage im Ganzen würde die Funktion eines Teils determinieren.
29 Plessners Kommentar zu dieser Kontroverse hat in der Literatur bereits einige Auf merksamkeit erhalten; vgl. B. Bühler, Lebende Körper. Biologisches und anthropo logisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg 2004, S. 83-88; V. Rasini, Theorien der organischen Realität und Subjektivität bei Helmuth Plessner und Victor von Weizsäcker, Würzburg 2008, S. 31-39; K. Köchy, „Organismen und Ma schinen. Das historische Fallbeispiel der Debatte von Plessner, Driesch und Köhler“, in: G. Toepfer, F. Michelini (Hrsg.), Organismus. Die Erklärung der Lebendigkeit, Freiburg, München 2015 (im Druck).
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Köhler akzeptiert diese Beschreibung organischer Ganzheiten, wendet aber ein, dass diese nicht spezifisch für den Bereich des Organischen sei, damit also noch kein Beweis des Vitalismus gewonnen sei: „Denn daß Eigenschaften und Funktionen eines Teiles von seiner Lage in einem Ganzen abhängen, dem der Teil angehört, ist eine Grundeigenschaft all derjenigen – auch anorganischen – Gebilde, mit denen sich die sog. Gestalttheorie beschäftigt.“30 Auch im Anorganischen gibt es nach Köhler also ganzheitliche Systeme, deren Teile auf das Ganze bezogen sind. Köhlers Beispiele dafür sind die Verteilung der Temperatur in einem spontan entstehenden stationären Zustand eines Körpers, die Ausbreitung des stationären elektrischen Stroms in einem kontinuierlich zusammenhängenden System oder die Verteilung der Ladungen in einem System von Kondensatoren. Von diesen Systemen sagt Köhler, sie seien das Ergebnis einer „Spontangruppierung“, die von den Bedingungen und Konfigurationen der Systeme selbst abhingen und bei der sich „jeder Punkt prinzipiell nach dem Gesamtkomplex sämtlicher gegebener Bedingungen“ richte.31 Driesch kritisiert an Köhler die seiner Ansicht nach unscharfe Verwendung der Begriffe. Er bemängelt, dass Köhler „die Begriffe UndVerbindung, Einheit und Ganzheit nicht sachentsprechend scheidet“ und auf verhängnisvolle Weise „bloße Wirkungseinheiten für Ganzheiten nimmt“.32 Den wesentlichen Unterschied einer anorganischen Wirkungseinheit und einer organischen Ganzheit sieht Driesch darin, dass die Einheit der anorganischen Gestalten durch äußere Faktoren aufgezwungen würden, organische Systeme ihre Einheit dagegen selbst hervorbringen würden: „[P]hysische unbelebte Strukturen [sind] nicht aus sich, nicht aus ihrem eigenen Wesen heraus Ganzheiten. Sie selbst sind aus eignem Wesen heraus nur Wirkungseinheiten, und alle ‚Ganzheit‘ an ihnen, wenn anders sie überhaupt im tieferen Sinne des Wortes ganz be-
30 W. Köhler, „Gestaltprobleme und Anfänge einer Gestalttheorie“, in: Jahresbericht über die gesamte Physiologie und experimentelle Pharmakologie, Bd. 3. Bericht über das Jahr 1922, 1. Hälfte: Übersichtsreferate, München, Berlin 1925, S. 512-539, hier S. 514. 31 Ebd., S. 528. 32 H. Driesch, „‚Physische Gestalten‘ und Organismen“, in: Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik 5/1926, S. 1-11, hier S. 2.
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steht, ist ihnen durch fremdes, nämlich eben durch die ‚Topographie‘ aufgezwungen.“33 Köhlers „physische Gestalten“ gingen also gerade nicht, wie er meinte, „spontan aus innerer Dynamik“34 hervor. Sie könnten zwar als „Einheiten“ gelten, aufgrund der Wechselwirkung ihrer Teile auch als „Wirkungseinheiten“, nicht aber als Ganzheiten, weil sie ihre Einheit nicht aus spontaner innerer Dynamik bilden würden. Driesch betont außerdem, dass die von Köhler analysierten Spontanverteilungen von physikalischen Größen wie Temperatur, stationärem Strom oder Ladung nicht als Analoga des organischen Geschehens fungieren könnten, weil sie weit davon entfernt seien, die Eigenheiten dieses Geschehens, insbesondere die „restitutiven Phänomene“ in ihrer Entwicklung, für die Driesch das Schlagwort der „harmonischen Äquipotentialität“ findet, zu beschreiben.35 Plessner stimmt mit Driesch im Ziel seiner Argumentation überein: Auch Plessner geht es darum, die Eigengesetzlichkeit des Organischen zu verteidigen. Er unternimmt dies aber auf andere Weise und kritisiert an Driesch zweierlei: zum einen, dass dieser nicht bemerkt habe, welcher Fortschritt mit Köhlers Lehre der physischen Gestalten in Richtung eines Verständnisses von auch organischen Ganzheiten erreicht worden sei, und zum anderen, dass Driesch rein negativ die fehlende Tragfähigkeit der physischen Gestaltlehre festgestellt habe, ohne selbst die Differenz zwischen anorganischen Gestalten und organischen Ganzheiten präzise herauszuarbeiten.36 Nach Plessners Einschätzung ist durch Köhlers Beitrag die Auseinandersetzung zwischen Mechanismus und Vitalismus „auf ein höheres Niveau gekommen, weil die Gegner sich nähergerückt sind, als sie es je früher waren“.37 Denn es sei gelungen, eine „mechanische“ Erklärung von Gestalten als Wirkungseinheiten zu liefern. Dieses Verdienst der Gestaltlehre verkannt zu haben, ist in den Augen Plessners ein großer Fehler Drieschs gewesen.38 Plessner hält damit am Programm Drieschs fest, einen „Wesensunterschied zwischen toter und lebendiger Gestalt“ bestimmen zu 33 34 35 36
Ebd., S. 5. W. Köhler, „Gestaltprobleme“, S. 527. H. Driesch, „Physische Gestalten“, S. 6. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1981, S. 145 ff. 37 Ebd., S. 145. 38 Vgl. V. Rasini, Theorien, S. 33.
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wollen. Sein diesbezügliches Angebot bewegt sich allerdings auf einer anderen Ebene, nach eigener Einschätzung „eine Stufe höher und in einer Seinsebene anderer Ordnung, als sie durch das Wesen der Gestalt bestimmt ist“.39 Plessner gibt Köhler auf der Ebene der empirischen Forschung recht: „Nach ihren in Raum und Zeit kontrollierbaren Merkmalen unterscheidet sich die Ganzheit nicht von einer Gestalt.“40 Daher urteilt er eindeutig: „Vom Standpunkt empirischer Naturwissenschaft müßte Köhler recht, Driesch unrecht behalten.“41 Es gibt aber eine andere Ebene, auf der Plessner Driesch recht gibt, nämlich den „Standpunkt der Anschauung“. Weil sich dieser Standpunkt außerhalb der empirischen Forschung befindet, ist für Plessner dem Problem mit rein naturwissenschaftlichen Methoden nicht beizukommen. Er verlagert es auf die Ebene der Naturphilosophie.
3. Plessners Anleihen bei Driesch: geschaute Ganzheit, Apriorismus, der Dualismus von Offenheit und Geschlossenheit sowie die temporalen Dimensionen des Lebendigen Auf welche Weise Plessner die Antwort auf die Frage nach dem „Wesensunterschied“ zwischen dem Lebendigen und dem Leblosen von der Ebene der Naturwissenschaft auf die der Naturphilosophie verschiebt, wird am deutlichsten in der spezifischen Verstärkung und teilweisen Umformung von Begriffen, die Plessner von Driesch übernimmt. Ein zentraler dieser Begriffe ist der der Ganzheit. Driesch behauptete in der in erster Auflage 1912 erschienenen Ordnungslehre, die eine der wichtigsten Anregungen für den jungen Plessner bedeutete: „Ganzheit ist Ursetzung; sie kann nicht definiert werden“.42 In der ein Jahr später erschienenen Schrift Die Logik als Aufgabe rechnet Driesch den Begriff der Ganzheit zu den „Ordnungszeichen“, die dadurch bestimmt seien, dass sie in einem Erlebnis eine bestimmte Ordnung herstellen. Nach Driesch sind diese Ordnungszeichen selbst „Letzt-Erlebnisinhalte“, 39 40 41 42
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 145. Ebd., S. 156. Ebd., S. 156 f. H. Driesch, Ordnungslehre. Ein System des nichtmetaphysischen Teiles der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Lehre vom Werden, 2. Aufl., Leipzig 1923, S. 285; vgl. 1. Aufl., Jena 1912, S. 83, in der auch schon von „Ursetzung“ die Rede ist.
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d. h. eine besondere, nicht weiter zu zergliedernde „Erlebensart“, ein irreduzibles „Bedeutungserlebnis“.43 Ausführlicher erläutert Driesch in der zweiten Auflage seiner Philosophie des Organischen von 1921: „Der Begriff Ganzheit oder das Begriffspaar das Ganze und die Teile gehört zu den Urbedeutungen oder Urordnungszeichen im Reiche des vor dem Ich stehenden ‚Etwas‘ überhaupt, ebenso wie die Bedeutungen ‚dieses‘, ‚nicht‘, ‚Beziehung‘, ‚Soviel‘ usw. Solche Urbedeutungen lassen sich aber nicht ‚ableiten‘, ja, auch nicht ‚definieren‘. Man begeht jedesmal einen Zirkel, wenn man hier Ableitung oder Definition versucht. Schauen kann ich – (wenn man so sagen will: auf Grund von Selbstbesinnung) –, daß diese Bedeutungen das Etwas, welches mir gegenübersteht, sozusagen durchtränken, daß eben sie es zu einem geordneten machen. Das ist alles.“44 Plessner folgt den Grundzügen dieser Analyse. In den Stufen heißt es bei Plessner sehr ähnlich (ohne dass er an dieser Stelle auf Driesch verweisen würde): „Der Ordnungstypus Ganzheit gehört zur Klasse der nur erschaubaren Gehalte. Insofern geht er wohl in die Wahrnehmung des Organischen ein, darf aber den Fortgang der die Biologie bildenden Erfahrung nicht bestimmen, da er sich jeder Feststellung entzieht. Als Wesenheit hat Ganzheit keine spezifische Gegebenheitsweise. Sie kann ebenso gut optisch wie taktil zur Erscheinung kommen, eben weil sie selbst sensu strictu gar nicht zur Erscheinung kommt. Es erscheint lediglich die Gestalt des organischen Systems.“45 Die Ganzheit gehört damit auch für Plessner zu den Sachverhalten oder Ideen, „welche einer sog. Wesensanschauung oder Schau entsprechen“.46 Plessner trennt diese Wesensschau deutlich von einer Erkenntnis, die auf Wahrnehmung und Erfahrung beruht. Während sich die wahrnehmungsbasierte Erkenntnis auf gegebene Dinge beziehe, die hinter den Erscheinungen liegen, hätten die „nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte“ das Schicksal, „in die Erfahrung ein-
43 H. Driesch, Die Logik als Aufgabe. Eine Studie über die Beziehung zwischen Phänomenologie und Logik. Zugleich eine Einleitung in die Ordnungslehre, Tübingen 1913, S. 43; vgl. S. 98. 44 H. Driesch, Philosophie des Organischen, 2. Aufl., Leipzig 1921, S. 535; fast ebenso in der 4. Aufl., Leipzig 1928, S. 365 f. 45 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 173. 46 Ebd., S. 172.
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zugehen, ohne im Fortgang der Erfahrung bestimmbar zu werden“.47 Die Anschauungsgehalte würden in die Erfahrung eingehen, insofern sie qualitative Einheiten liefern, reine „Wasgehalte“, wie sie Plessner an anderer Stelle nennt.48 Trotz ihrer Beteiligung an der empirischen Erkenntnis sind die Anschauungsgehalte nach Plessner aber selbst unbestimmbar. Ihre nähere Bestimmung erfolge nicht in der Naturwissenschaft, sondern der Naturphilosophie. Er löst sich damit anders als Driesch, der für die Naturwissenschaft akausale Faktoren postuliert, von der Ebene der Empirie. Wie bereits angedeutet, wirft Driesch Plessner in seiner 1930 veröffentlichten fünfseitigen Kritik „Hylozoismus“ vor, genauer meint er, Plessners Lehre sei „hylozoistischer parallelistischer Dogmatismus“.49 Um einen Dogmatismus handelt es sich nach Driesch, weil Befunde der empirischen Biologie, wie das von Driesch beschriebene und von Plessner anerkannte entwicklungsbiologische Phänomen der harmonischen Äquipotenzialität zu einer notwendigen, apriorischen Bestimmung le bendiger Systeme erklärt würde.50 Für Driesch mündet die philosophische Reflexion in Dogmatismus, wenn sie empirische Befunde zu theoretischen Notwendigkeiten erklärt. „Stark hylozoistisch“ erscheint Driesch Plessners Position – „vielleicht ohne sein Wissen“ –, weil dieser den Kartesianismus mit seiner Trennung von materieller Natur und Erlebenswelt bekämpfe und den Versuch unternehme, die Prinzipien des Organischen und Mentalen in der materiellen Natur zu verankern.51 Als „parallelistisch“ sieht Driesch die Lehre seines ehemaligen Schülers schließlich, weil dieser, wie es Driesch darstellt, das Materielle und das Organische als „‚dasselbe‘ unter verschiedenen Aspekten“ ansehe.52 Driesch hält es dabei insbesondere für eine theoretische Unmöglichkeit, an der These von der Autonomie des Organischen festzuhalten und gleichzeitig Organismen für vollständig physikalisch-chemisch („mechanistisch“) analysierbar anzusehen. Die Autonomie des Organischen kann für Driesch nur durch die Annah47 Ebd.; vgl. J. Beaufort, Die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Helmuth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“, Würzburg 2000, S. 39. 48 H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1980, S. 7-315, hier S. 83. 49 H. Driesch, Philosophische Forschungswege, S. 63. 50 Ebd., S. 29. 51 Ebd., S. 61. 52 Ebd., S. 63.
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me eines spezifischen Naturfaktors, seiner Entelechie, gesichert werden. Gerade von einer phänomenologischen Position aus, die Driesch Plessner zuschreibt, müsse die Eigenart des Lebendigen „unabweislich in seiner Wesenssonderung“53 anerkannt und damit ein zusätzlicher Kausalfaktor postuliert werden. Plessner akzeptiert in seiner 34 Jahre nach Drieschs Kritik veröffentlichten Stellungnahme in der König-Festschrift den Vorwurf des Hylozoismus. In diesem Wort stecke „ein Kern von Wahrheit“, ebenso hätte man ihn aber auch einen „Materialisten, besser noch einen dialektischen Materialisten“ nennen können, so Plessner 1964.54 Als Hylozoismus könne seine Position verstanden werden, so legt es Plessner nahe, weil er „die Autonomie des Lebendigen in seiner Erscheinung“ ausgehend von dessen spezifischen (materiellen) Eigenschaften begründen wolle. Wegen der Begründung in materiellen (Grenz-)Verhältnissen hat diese Ansicht nach Plessners Selbsteinschätzung materialistische Momente; Driesch habe sie aber andererseits gerade nicht materialistisch erscheinen können, weil ein Materialist oder Mechanist nach Drieschs Auffassung, so wie sie Plessner sieht, „die Dimensionsfülle dem Leben in Wirklichkeit abspricht“.55 Plessner wendet den Vorwurf des Hylozoismus also positiv; er charakterisiert den Hylozoismus durch eine doppelte Ablehnung von einerseits dem Postulat vitalistischer Wirkungsfaktoren (wie Drieschs Entelechie) und andererseits einem rein materialistischen Denken, das dem Lebendigen seine „spezifischen Fähigkeiten“ abspricht. Plessner sieht sich auch durch die historische Entwicklung der Biologie bestätigt und erwägt gar, dass dem „sog. Hylozoismus die Zukunft gehören“ könnte.56 Er wiederholt dabei seine Kritik an Driesch, dass die Annahme eines gegenüber den physikalischen und chemischen Bedingungen des Lebens „zusätzlichen Faktors“ naturwissenschaftlich nicht begründet und methodologisch unmöglich sei. Daraus folgt für ihn aber ausdrücklich nicht, dass „die Autonomie lebendiger Systeme“ nicht zu begründen sei. Diese ergibt sich für Plessner aber nicht aus einem ganzmachenden kausalen Faktor, sondern aus dem „Positionscharakter eines Lebewesens“ und seiner damit zusammenhängenden spezifischen Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize. Diese „Dimensio53 54 55 56
Ebd., S. 62. H. Plessner, „Ein Newton des Grashalms?“, S. 202. Ebd., S. 203. Ebd., S. 203.
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nierung belebter Materie“, d. h. die Eigenschaft von Lebewesen, Zentren mit einer selektiv konstituierten und steigerungsfähigen Umgebung zu sein, hält Plessner selbst für immateriell und sie entziehe sich damit der naturwissenschaftlichen Methodik, könne zwar „in biochemischer Sprache nicht gesagt werden“, sei aber trotzdem real.57 Plessner bekräftigt damit seine Ansicht, dass das Spezifische des Lebendigen nicht auf naturwissenschaftlicher, sondern lediglich auf naturphilosophischer Ebene bestimmt werden könne. Dass diese naturphilosophische Ebene für die Naturwissenschaft selbst von Bedeutung ist – diese Einsicht gewann der junge Plessner gerade in Auseinandersetzung mit den Schriften Drieschs. Zu diesen Schriften gehört Drieschs Text „Über Aufgabe und Begriff der Naturphilosophie“ von 1910. Der Gegenstand der Naturphilosophie wird darin bestimmt als die „vollständige Entwicklung des Gerüstes alles möglichen Wissens über Natur als Gegenstand“.58 In einer kurzen Buchbesprechung aus dem Jahr 1912 betont der zwanzigjährige Plessner die transzendentalphilosophische Grundlage dieses Ansatzes und spricht von einer „Ordnung nach a priori möglichen Schematen“.59 Was damit genau gemeint ist, wird an einer anderen Unterscheidung deutlich, die Plessner von Driesch übernimmt: die Differenz von offenem und geschlossenem Körperbautyp. Driesch führt diese Unterscheidung 1894 ein60 und erläutert später: „‚Offene‘ Formen sind […] alle Organisationstypen mit nicht begrenztem Wachstum, also die meis ten Pflanzen“;61 für Tiere gelte dagegen, sie „erreichen einen Punkt, auf dem sie fertig sind“.62 Plessner übernimmt diese Terminologie in die Stufen,63 versteht die Begriffe der Offenheit und Geschlossenheit der Form allerdings 57 Ebd., S. 203 f. 58 H. Driesch, „Über Aufgabe und Begriff der Naturphilosophie“, in: ders., Zwei Vorträge zur Naturphilosophie, Leipzig 1910, S. 21-38, hier S. 31. 59 H. Plessner, „[Besprechung von Hans Driesch, Zwei Vorträge zur Naturphilosophie, 1910]“, in: Studentische Monatshefte vom Oberrhein 1912, S. 21-22, hier S. 21. 60 H. Driesch, Analytische Theorie der organischen Entwicklung, Leipzig 1894, S. 106; ders., Naturbegriffe und Natururteile, Leipzig 1904, S. 229. 61 H. Driesch, „Die Physiologie der tierischen Form“, in: Ergebnisse der Physiologie 5/1906, S. 1-107, hier S. 66. 62 H. Driesch, Philosophie des Organischen, Bd. I, Leipzig 1909, S. 48; vgl. 2. Aufl., S. 40. 63 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 282 ff.; ebenso in: Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, Berlin 2002, S. 119 ff.
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anders als Driesch nicht empirisch, sondern als apriorische Konzepte, als „Ideen“, wie er sie ausdrücklich nennt: „Pflanzen und Tiere lassen sich nicht nach empirischen Merkmalen wesensmäßig unterscheiden. Ihre Differenz ist in voller Realität ideell. Offene und geschlossene Form sind Ideen, nach denen die wirklichen lebendigen Körper organisch sein müssen.“64 Andere Bezüge zu Begriffen Drieschs, die dieser in empirischer Anwendung verwendet und die Plessner naturphilosophisch einbindet, betreffen die allgemeinen Merkmale aller Lebewesen, die Plessner im Anschluss an Adolf Meyer organische Modale nennt (siehe unten). Dazu gehört als elementare Grundfunktion die Assimilation, die den Organismus unmittelbar in seine Umwelt einbindet. Die enge Verflechtung des Organismus mit seiner Umwelt wird von Driesch vielfach betont: „Die organische Form bezieht dauernd von außen fremden Stoff und gibt dauernd nach außen eigenen Stoff ab.“65 Er konstatiert eine wechselseitige Bezogenheit, die auch in sinnesphysiologischer Hinsicht bestehe. Schließlich lehnt sich Plessner auch in Bezug auf seine Lehre von der konstitutiven Bezogenheit des Organismus auf zugleich Zukunft und Vergangenheit an Driesch an: Für den Entwicklungsbiologen Driesch ist ein Organismus auf die Entfaltung von Potenzen, die als Anlagen vorhanden sind, angelegt; Driesch spricht von der „pro spektiven Potenz“ der organischen Teile im Entwicklungsgeschehen.66 Plessner macht daraus eine fundamentale naturphilosophische Bestimmung: Das Sein eines lebendigen Körpers sei aufgrund seiner sukzessive sich entfaltenden Potenzen stets „ihm selber vorweg“, Plessner spricht von einer „Zukunftsfundierung“, die auch der eigentliche Grund für die „immanente Teleologie“ des Organischen sei.67 Daneben betont Plessner auch die Vergangenheitsbedingtheit der organischen Verhältnisse – und hier kann er wiederum an ein Konzept Drieschs anschließen, nämlich die „historische Reaktionsbasis“.68 Von Driesch übernimmt er dabei sogar (ohne dies zu kennzeichnen) den Vergleich eines Organismus mit einem „Phonographen“, der „im Spezifischen
64 Ebd., S. 301; vgl. S. Pietrowicz, Helmuth Plessner, S. 397. 65 H. Driesch, Der Begriff der organischen Form, Berlin 1919, S. 18. 66 H. Driesch, Analytische Theorie, S. 77 f.; ders., Philosophie des Organischen, 4. Aufl., S. 100. 67 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 237. 68 H. Driesch, Philosophie des Organischen, 2. Aufl., S. 336.
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seiner Reaktionen durch das Spezifische seiner Geschichte bestimmt“ sei.69
4. Drieschs Vitalismus und Plessners Vitalismus Bei aller Verschiedenheit in Bezug auf die Verbindlichkeit mechanistischen Denkens auf der Ebene der naturwissenschaftlichen Forschung bekennen sich Driesch und Plessner doch beide zum Vitalismus. Die Differenzen beider Positionen werden besonders deutlich, wenn man sich die Verortung des Vitalismus ansieht. Der Ausgangspunkt für Drieschs Vitalismus sind seine Entwicklungsversuche an Seeigel eiern Anfang der 1890er Jahre. Dabei beobachtet Driesch ausgeprägte Leistungen der Regulation und Regeneration des sich entwickelnden Keims, und er gelangt deshalb zu der Überzeugung, dass die Entwicklung des Seeigels nicht über einen deterministischen Vorgang erfolgen könne. Für Driesch betrifft der Vitalismus die Frage nach dem Ursprung der Zweckmäßigkeit der Lebensvorgänge;70 das Pro blem bestehe darin, „ob das Zweckmäßige an ihnen einer besonderen Konstellation von Faktoren entspringe, welche aus den Wissenschaften vom Anorganischen bekannt sind, oder ob es Ausfluß ihrer Eigengesetzlichkeit ist“.71 Die Frage muss nach Driesch in der zweiten Weise beantwortet werden, weil es organische Phänomene gebe, die dem Bereich des Anorganischen fremd seien. Dies seien vor allem die
69 Ebd., S. 337; vgl. S. Pietrowicz, Helmuth Plessner, S. 415. In seinem Nachruf auf Driesch verweist Plessner auf das Novaliswort „Natur ist lauter Vergangenheit“ (H. Plessner, „In memoriam Hans Driesch“, S. 305). 70 ��������������������������������������������������������������������������� Auch für Plessner kommt der Zweckmäßigkeit der Lebenserscheinungen eine besondere Rolle zu, um ihre Eigenart zu spezifizieren. In den Stufen des Organischen thematisiert er die organische Zweckmäßigkeit allerdings nur am Rande („Erst als Einheit von Zweck und Mittel ist der lebendige Körper Ganzheit oder autonomes System“, S. 231). Der Begriff und seine Ableitungen erscheinen nicht im Inhaltsverzeichnis und Register dieses Buches. Das Spezifische der organischen Ganzheit wird hier primär über seine Grenzrealisierung bestimmt. In seiner Vorlesung zur Metaphysik im Wintersemester 1931–32 sagt Plessner dagegen an exponierter Stelle am Ende des Abschnitts über Ganzheit und Gestalt deutlich, das „Mehrsein“ der organischen Ganzheit gegenüber der bloßen Einheit der physischen Gestalt liege im „Zwecksein“ des Ganzen gegenüber den Teilen (H. Plessner, Elemente der Metaphysik, S. 105). 71 H. Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig 1905, S. 1.
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beiden Grundkennzeichen der Zweckmäßigkeit, die „Harmonie“ und die „Regulation“. Die Harmonie des Organischen bezieht Driesch auf die Entwicklung eines Organismus durch die wechselseitige Einwirkung seiner Teile („Kausalharmonie“), ihre Formung zu einer Einheit („Kompositionsharmonie“) und ihr funktionales Zusammenwirken („Funktionalharmonie“).72 Die Regulationen beziehen sich auf die Fähigkeit von Organismen, Umweltstörungen oder Schädigungen von Teilen in ihrer Entwicklung und in ihrem Lebensvollzug kompensierend auszugleichen. Diese Fähigkeit der Funktionswiederherstellung nach Störungen ist es, die Driesch als „ersten Beweis des Vitalismus“ anführt. Driesch ist der Auffassung, diese „Geschehnisse an belebten Körpern sind von einer solchen Art, daß sie sich nicht aus einer Kenntnis der Koordination (Lagen), Kräfte und Geschwindigkeiten der einzelnen körperlichen Elemente herleiten lassen“.73 Der Organismus sei daher etwas anderes als eine Maschine, die eben aus der Anordnung ihrer Teile erklärt werden könne, und stehe damit jenseits des Bereichs der Physik. Er folgert die These des Vitalismus: „Das Leben, die Formbildung wenigstens, ist nicht eine besondere Anordnung anorganischer Ereignisse; die Biologie ist daher nicht angewandte Physik und Chemie; das Leben ist eine Sache für sich, und die Biologie ist eine unabhängige Grundwissenschaft.“74 Zur Erklärung der Leistungen eines organischen Systems ist nach Driesch die Annahme eines über die Physik hinausgehenden Naturfaktors notwendig. Dieser stelle ein elementares, nicht auf eine Kombination anderer Faktoren reduzierbares, neues Prinzip dar, das auch nicht „auf Konstellationen einzelner physikalischer und chemischer Akte gegründet ist“.75 Driesch nennt diesen „ganzmachenden Naturfaktor“ in Anlehnung an Aristoteles Entelechie. Er beschreibt diesen nur in einzelnen Individuen wirksamen Faktor als unräumlich und immateriell; er stelle auch keine Form von Energie dar. Ihre wesentliche Funktion bestehe in „Ordnungsleistungen“, die sich besonders während der Entwicklung eines Organismus zeigen würden.76 Die Entelechie sorge für die Ordnung von kausalen Prozessen, die ohne 72 73 74 75 76
Ebd., S. 175 f. H. Driesch, Philosophie des Organischen, 4. Aufl., S. 126 (3. Aufl., S. 139). Ebd. (4. Aufl.), S. 125. Ebd., S. 124. Ebd., S. 298.
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sie unkontrolliert verlaufen würden. Sie wird verstanden als derjenige Faktor, der die richtige Anordnung der Teile im Ganzen bewirkt. Selbst eine rätselhafte, zwar nicht direkt zu beobachtende, aber doch zu erschließende „Suspension anorganischen Geschehens“ liegt nach Driesch in der Macht der Entelechie.77 Drieschs Argumentation weist insgesamt eine erhebliche Ambivalenz auf: Er argumentiert zugleich als Experimentalwissenschaftler und als Biologe, der von der Sonderstellung des Lebendigen überzeugt ist. Er zielt damit sowohl auf eine vollständige experimentelle Analyse der Lebensvorgänge als auch auf den Nachweis ihrer qualitativen Differenz vom anorganischen Geschehen. Weil sich Drieschs Vitalismus aus seiner kausal-mechanischen Analyse der Entwicklungsprozesse ergibt (oder er es zumindest so darstellt), kann dieser mit gewissem Recht als eine „Spielart des Determinismus“ verstanden werden, der „mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild in Einklang“ bleiben will.78 Plessner kritisiert an Driesch, dass sich seine Argumentation selbst auf der Ebene mechanistischer Kausalität bewegt. Vorsichtig formuliert er, es bestehe die Gefahr, dass die Verteidigung der „Autonomie des Lebendigen“ „Dinge zur Verteidigung heranzieht, die der Sphäre physischer Wirkungseinheit angehören und damit eben nicht dem Vitalen vorbehalten sind“.79 Plessner hält die „Waffen“, die Driesch ins Feld führt, für nicht tauglich gegen die physikalischen Gestalttheorien etwas auszurichten, weil sie selbst auf der Ebene kausaler Wirkungen operieren würden. Besonders deutlich macht er dies in seinem Nachwort zur zweiten Auflage der Stufen, das 1965 erscheint. Dort spricht er von der „zu simplen Vorstellung von Mechanismus und Maschine“, die Drieschs Vitalismus beherrsche, und er verweist auf die „kybernetischen Modelle“, mit deren Hilfe auch die Probleme der „Regenera-
77 Ebd., S. 304. 78 G. Fitzi, „Anthropologische Hermeneutik als Phänomenologie der menschlichen Lebensform. Helmuth Plessners Programm zur Begründung der Anthropologie und der Vitalismus von Hans Driesch“, in: T. Keller, W. Eßbach (Hrsg.), Leben und Geschichte. Anthropologie und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit, München 2006, S. 82-112, hier S. 106; vgl. dazu auch T. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens. Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie, Berlin 2012, S. 43. 79 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 148.
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tion, Reduplikation, Ausdifferenzierung“ einer wissenschaftlichen Analyse zugeführt werden könnten.80 Ausdrücklich abgelehnt wird von Plessner Drieschs Entelechie im Sinne eines „Naturfaktors“, der „mit den feststellbaren und berechenbaren Faktoren der Energie in Konkurrenz treten“ könne.81 Nicht als Naturfaktor, sondern als „Seinsmodus“ und spezifische „Grenzbedingung“ verteidigt Plessner aber die Entelechie; er verwendet sie als Name für die ontologische Besonderheit des Organischen.82 Bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1922, der in einer ärztlichen Wochenschrift erscheint, bemerkt Plessner, mit Drieschs Entelechie könne man in den Naturwissenschaften nicht arbeiten, denn sie beinhalte eine „logische Außerkraftsetzung des Grundprinzips experimenteller Erforschung des Naturgeschehens“.83 Die naturwissenschaftliche Untersuchung des Lebendigen ist für Plessner auf mechanistische Analysen festgelegt.84 Die Entelechie habe aber andererseits eine „unbestreitbare Anschaulichkeit und Denkbarkeit“ und ihr komme ein „ordnender Wert für das qualitativ erlebte Weltbild“ zu; all das habe aber „nur Bedeutung für die Philosophie“.85 Denn die „Erkenntnis der Qualitäten“ sei Aufgabe der Philosophie. Ihr komme es zu, „qualitative Stufen“ und „Anordnungen“ der Welt zu erfassen.86 Plessner ordnet damit die Position des Vitalismus der Philosophie zu – „Theoretisch gehört Vita80 H. Plessner, „Nachtrag“ (1965), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1981, S. 426-442, hier S. 426 f. 81 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 203; vgl. ders., Elemente der Metaphysik, S. 95: „Wir können niemals die Hoffnung haben, daß es der Naturwissenschaft gelingen wird, diesen Faktor [d. i. die Entelechie] zu bestimmen.“ 82 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 203. 83 H. Plessner, „Vitalismus und ärztliches Denken“ (1922), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1985, S. 7-27, hier S. 17. Plessner schließt damit an ältere naturwissenschaftliche Kritiker der Entelechie im Sinne Drieschs an, etwa an Wilhelm Roux, der 1912 feststellt, es sei „diese Entelechie kein in der exacten Naturforschung verwendbarer Begriff“ (W. Roux, „Lebewesen“, in: ders. (Hrsg.), Terminologie der Entwicklungsmechanik der Tiere und Pflanzen, Leipzig 1912, S. 241). 84 Dies wird in der neueren Plessnerforschung immer wieder bekräftigt: „In zahl reichen Passagen der Stufen insistiert Plessner auf dem unbedingten Geltungsan spruch des Mechanismus, wo es um naturwissenschaftliche Objektivierungen geht“ (T. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens, S. 52); vgl. auch O. Mitscherlich, Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin 2007, S. 79. 85 H. Plessner, „Vitalismus“, S. 19. 86 Ebd., S. 26.
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lismus in die Philosophie, nicht in die Naturwissenschaft“87 –, in der er sie verteidigen will: „Man kann Vitalist sein, und der Schreiber dieser Zeilen ist es aus philosophischen Gründen“.88 Auch wenn er also Drieschs Argumenten nicht folgt, geht es Plessner doch um die gleiche Sache und das gleiche Ziel: die „Kennzeichnung der spezifisch organischen Einheitsform“,89 zu der der Begriff der physischen Gestalt nicht ausreiche.90 An anderer Stelle bekennt sich Plessner 1923 in Auseinandersetzung mit Victor von Weizsäcker91 zu „praktischem Vitalismus“ und einem „Gesinnungsvitalismus“. Darunter will er die Einsicht verstehen, „daß die ärztliche Gesamthandlung nicht nur unter der Perspektive naturwissenschaftlicher Objektivierung, sondern ebenso aus dem Miteinander einer konkreten Lebenslage geformt wird“.92 Im Sinne Drieschs als naturwissenschaftliche Position verstanden, sei der Vitalismus dagegen unhaltbar.93 Denn die Naturwissenschaften, zu denen Plessner die Biologie rechnet, müssten die „Spielregeln der eindeutigen Bestimmbarkeit einhalten“ und aus ihnen könnten keine „Wesensaussagen“ gewonnen werden:94 „So wenig die Physik uns über das Wesen der Qualität einer Farbe, eines Klanges Aufschluß gibt, so wenig kann uns die Biologie die qualitativen Erscheinungen des Lebens verständlich machen.“95 Plessner räumt aber doch ein, dass die Biologie diejenige Naturwissenschaft 87 88 89 90
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Ebd. Ebd., S. 19. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 155. Thomas Ebke bezeichnet Plessners Auseinandersetzung mit Drieschs Vitalismus als eine „Dekonstruktion“. Es würden die Begriffe in ihrem Zusammenhang rekonstruiert, um dann durch das Aufdecken ihrer Widersprüchlichkeit eine eigene Position zu finden (T. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens, S. 42): „Plessner arbeitet die von ihm im Ganzen kritisierte Position von innen heraus um, bis neue Ausgangsunterscheidungen hervorgebracht sind, an denen gemessen die in Rede stehende Position dann unplausibel und transformationsbedürftig erscheint“ (ebd., S. 54). Vgl. den Beitrag von Rasini in diesem Band. H. Plessner, „Über die Erkenntnisquellen des Arztes“ (1923), S. 54. Der Ausdruck „Gesinnungsvitalismus“ geht auf von Weizsäcker zurück, der damit Plessners Position charakterisieren will: „[…] eine philosophische Grundansicht, eine Maxime und Bedingung biologischer Fragestellung und überdies eine praktische Überzeugung des Arztes am Krankenbett“ (V. von Weizsäcker, „Über Gesinnungsvitalismus“ (1923), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1998, S. 359367, hier S. 359). H. Plessner, „Vitalismus“, S. 26; vgl. V. Rasini, Theorien, S. 38. H. Plessner, „Vitalismus“, S. 19. Ebd., S. 26.
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sei, der es auch um die Begründung qualitativer Unterschiede gehe; ihr Ziel, von dem sie aber noch „unendlich weit entfernt“ sei, bestehe in der „Darstellung qualitativer Differenzierung nach quantitativen Funktionen“.96 Die Differenz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, um die es Plessner geht, scheint also weniger eindeutig zu sein, als Plessner sie meist ausgibt. Auch der Philosophie kann es um „eindeutige Bestimmbarkeit“ gehen, und auch die Biologie zielt auf die Erklärung qualitativer Differenzen. Plessner verteidigt den Vitalismus auch nicht nur in Bezug auf praktische Kontexte wie das ärztliche Handeln,97 sondern zudem als methodologisches Prinzip, das die Biologie als Wissenschaft überhaupt erst möglich mache: „Vitalismus gehört, als Maxime der Forschung, zu den Bedingungen jeder biologischen Fragestellung; denn Einheit des Organismus ist die selbstverständliche Leitidee, unter der wir allein streng kausal in diesem Gebiet arbeiten können.“98 Rückblickend, im Nachtrag zur zweiten Auflage der Stufen von 1965 distanziert sich Plessner allerdings auch vom Begriff des Vitalismus. Der erste Satz dieses Nachtrags beginnt mit den Worten: „Nach meiner Überzeugung sind die Zeiten des Vitalismus für immer vorbei“.99 Plessner schreibt dem Vitalismus an dieser Stelle die Annahme eines zusätzlichen Wirkfaktors zu und zieht ihn damit auf die Ebene der Naturwissenschaft. Von einem Vitalismus als naturphilosophische Position oder gar einem „Gesinnungsvitalismus“, der Bedingung für die biologische Forschung sei, ist hier nicht mehr die Rede. In seinen älteren Schriften verteidigt Plessner den Vitalismus aber doch als ontologische Position, nicht jedoch als methodologisches Programm, das für die empirische Forschung fruchtbar sein könnte. Auf der empirischen Ebene der kausalen Analysen können nach Plessner nur Bestätigungen mechanistischer Modelle gefunden werden. Auf dieser Ebene unterscheiden sich also die anorganischen Gestalten nicht von den organischen Ganzheiten; empirisch feststellbar ist für Plessner allein die Gestalthaftigkeit. In seiner Argumentation der 1920er Jahre verfolgt Plessner damit insgesamt eine (an Kants Position der Kritik der Urteilskraft angelehnte) Doppelstrategie, in der er einerseits auf 96 Ebd., S. 20. 97 Seine Verteidigung des Vitalismus auf ontologischer und phänomenologischer Ebe ne geht nicht nur von einem „Primat der Klinik“ aus (T. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens, S. 45). 98 H. Plessner, „Vitalismus“, S. 26. 99 H. Plessner, „Nachtrag“, S. 426.
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naturwissenschaftlich-methodologischer Ebene den reduktionistischmechanistischen Ansatz für unumgänglich hält und andererseits auf ontologisch-phänomenologischer Ebene die Sonderstellung des Lebendigen anerkennt. Zumindest auf der zweiten Ebene folgt er damit dem Grundsatz eines „Nein zu einem Generalnenner“.100 Die Ebene der Naturphilosophie kann nach einer Analyse der Position Plessners, die besonders von Jan Beaufort vertreten wird, in zwei Bereiche gegliedert werden: eine phänomenologische Deskription, die im Wesentlichen in der Identifikation von Lebewesen als eigenständigen Wesenheiten besteht, und eine Konstitutionsanalyse, die eine nicht-empirische, apriorische Untersuchung der Bedingungen der Existenzweise und Sonderstellung der Lebewesen liefert.101 Plessner bleibt also nicht bei der phänomenologischen Evidenz der ontologischen Sonderstellung von Lebewesen stehen, sondern identifiziert einzelne Elemente, die er im Anschluss an Adolf Meyer102 organische Modale nennt.103 Zu diesen Modalen gehört nach Plessner die seit der Antike genannte Menge der Charakteristika oder Grundfunktionen der Lebewesen, nach Plessner „Assimilation, Vererbung, Regulation, Entwicklung, Altern“.104 In ihrer theoretischen Begründung und ihrem philosophischen Status vergleicht Plessner die bestehenden Listen der Lebenscharakteristika mit den Listen von Kategorien der Erkenntnis vor Kant.105 Es komme daher darauf an, die organische Modale an einem Leitfaden zu entfalten und in ein System zu bringen. Plessner zielt damit auf eine „apriorische Theorie der organischen Wesensmerkmale“.106 Die Modale sind für Plessner ähnlich
100 O. Mitscherlich, Natur und Geschichte, S. 78; vgl. S. 51 f.; H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 209. In der grundsätzlichen Ansicht, „daß das Sein nicht auf einen Generalnenner gebracht werden darf“, stimmt auch Josef König mit Plessner überein, vgl. dessen Brief vom 31. Oktober 1927 an Plessner (H.-U. Lessing, A. Mutzenbecher (Hrsg.), Briefwechsel, S. 160-165, hier S. 162). 101 J. Beaufort, „Anthropologie und Naturphilosophie. Überlegungen zur Methode in Helmuth Plessners ‚Die Stufen des Organischen und der Mensch‘“, in: J. Beaufort, P. Prechtl (Hrsg.), Rationalität und Prärationalität. Festschrift für Alfred Schöpf, Würzburg 1998, S. 119-138, hier S. 129 f.; ders., Die gesellschaftliche Konstitution der Natur, S. 50 f.; vgl. auch S. Pietrowicz, Helmuth Plessner, S. 343, S. 347. 102 A. Meyer, Logik der Morphologie im Rahmen einer Logik der gesamten Biologie, Berlin 1926, S. 30. 103 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 158. 104 Ebd., S. 168. 105 Ebd., S. 165. 106 Ebd., S. 158.
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elementare Letztheiten der Anschauung wie die qualitativen Sinnesempfindungen (z. B. die qualitative Farbwahrnehmung). Zusammen machen die Modale für Plessner eine „geschlossene Sphäre anschauungsfähigen, aber nicht direkt meßfähigen, quantifizierbaren ‚Seins‘“ aus,107 auf diese Weise würden sie einen in Stufen geordneten „großen Zusammenhang“108 bilden. Diese Darstellung Plessners wirft viele Fragen auf, unter anderem danach, warum gerade diese Modale aus der großen und variablen Menge von grundlegenden Merkmalen und Funktionen der Lebewesen ausgewählt wurden und worin genau ihr „großer Zusammenhang“ besteht. Diese Fragen werden von Plessner nicht direkt behandelt. Sein besonderes Augenmerk ist darauf gerichtet, ein fundierendes Prinzip für die Menge der organischen Modale auszuweisen, einen Leitfaden, mit dessen Hilfe sie gefunden und begründet werden können. Dieses findet er in der besonderen Art der Begrenzung der Lebewesen: Im Gegensatz zu anorganischen Gebilden verfügen die Lebewesen nach Plessner über eine vom Lebewesen selbst gesetzte Grenze; diese gehöre dem Lebewesen selbst an und werde von ihm aktiv stabilisiert. Gleichzeitig diene die Grenze aber auch der kontrollierten Überschreitung des Körpers und seiner gezielten Inbezugsetzung zu Elementen der Umwelt. Plessner bezeichnet diese besondere Innen-Außen-Beziehung der Lebewesen als ihre Doppelaspektivität: Die vom Lebewesen selbst gesetzte Grenze begrenzt zugleich seine Gestalt und Ganzheit und öffnet sie für die Beziehung zu anderem. Im Gegensatz zum Begriff der Ganzheit kann nach Plessner über den der Doppelaspektivität der Grenze eines Lebewesens dessen Autonomie hinreichend bestimmt werden: seine „Eigengegründetheit, Selbständigkeit, das In ihm selber Sein und Aus ihm selber Sein eines lebendigen Dinges“.109 Weil die Grenze eines Lebewesens aber nicht nur das räumliche Ende eines seiner Teile ist, sondern von seiner Ganzheit ausgeht, durch diese konstituiert wird und auf diese reflexiv bezogen ist, hat die organische Grenzrealisierung für Plessner eine unmittelbare Beziehung zur Ganzheit des Lebewesens.110 Auch die Doppelaspektivität versteht Plessner als ein Modal des Lebendigen; er hält sie für das zentrale und fundierende Modal, das auf 107 108 109 110
Ebd., S. 160. Ebd., S. 167. Ebd., S. 155. Vgl. O. Mitscherlich, Natur und Geschichte, S. 101.
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einer argumentativ basalen Ebene steht.111 Plessner betont in Bezug auf dieses Modal „das seltsame Überwiegen über die anderen Eigenschaften, indem es sie alle durchdringt und sich somit ihnen allen aus dem Dingkern heraus mitzuteilen scheint“.112 Allerdings erläutert Plessner nicht genau, wie die anderen Modale der biologischen Grundfunktionen sich alle aus diesem einen zentralen Modal ergeben.113 Es hat doch zunächst nur eine vordergründige Plausibilität, dass sich die Grenzrealisierung der Lebewesen notwendig nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit entfaltet und Lebewesen daher notwendig (aus apriorischen Gründen) einer Entwicklung und einem Altern unterliegen müssen.114 Etwas unklar bleibt auch der Zusammenhang der Doppelaspektivität mit anderen von Plessner identifizierten „Grundmodalen“, insbesondere der Zentralität und Positionalität der Lebewesen, die ebenfalls die doppelsinnige Selbst- und Fremdbeziehung der in einem Körper zentrierten und lokalisierten Lebewesen betreffen.115 111 Dieser Charakter wird von vielen Interpreten herausgestellt: Die Doppelaspekti vität gilt als „das fundierende Modal“ (J. Beaufort, „Anthropologie und Natur philosophie“, S. 132; ders., Die gesellschaftliche Konstitution der Natur, S. 58); die „Grenzrealisierung“ sei die „Fundamentaleigenschaft des lebendigen physi schen Dings“ (O. Mitscherlich, Natur und Geschichte, S. 247); von Positionalität und Zentralität wird behauptet, sie seien die „Basis der Organisationsformen des Lebewesens“ (F. Michelini, „Modelle des Organischen. Helmuth Plessner versus Hans Jonas“, in: P. Grüneberg (Hrsg.), Das modellierte Individuum. Biologische Modelle und ihre ethischen Implikationen, Bielefeld 2012, S. 147-169, hier S. 155); die Doppelaspektivität sei „eine Eigenschaft aus der Summe aller Eigenschaften eines lebendigen Dings“, ihr komme eine „Sonderfunktion“ zu, aus der sich „die besondere Qualität des Gebildes als eines lebendigen ergeben“ solle (K. Köchy, „Organismen und Maschinen“, S. [13]). 112 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 185. 113 Olivia Mitscherlich argumentiert gegen ein Verhältnis der Fundierung und spricht davon, Grenzrealisierung und Lebensmodale würden sich „in ihrer Gleichursprünglichkeit wechselseitig tragen“: Einerseits würden die Lebensmodale als physische Eigenschaften des Lebewesens, die sich auf der Ebene der Wirkkausalität bewegen, die Grenzrealisierung ermöglichen, andererseits stelle die Grenzrealisierung in ihrer qualitativen Dimension „den Grund für die selbstbezügliche Erscheinung des Lebendigen“ dar (O. Mitscherlich, Natur und Geschichte, S. 247). 114 Vgl. zu dieser Kritik auch M. Grene, „Positionality in the Philosophy of Helmuth Plessner“, in: Review of Metaphysics 20/1966, S. 250-277; unter dem Titel „Helmuth Plessner’s theory of organic modals“, in: dies., The Understanding of Nature. Essays in the Philosophy of Biology, Dordrecht 1974, S. 320-345; S. Pietrowicz, Helmuth Plessner, S. 375 ff. 115 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 184 f.; vgl. J. Beaufort, „Anthropologie und Naturphilosophie“, S. 134; F. Michelini, „Modelle des Organischen“, S. 156.
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Doppelaspektivität, Grenzrealisierung und Positionalität sind für Plessner alle Ausdruck davon, dass „Lebendigkeit immaterielle Aspekte miteinschließt“.116 Dies könnte so verstanden werden, dass diese Begriffe einen funktionalen Zustand bezeichnen, der über verschiedene materielle Mittel verwirklicht werden kann. Seine Immaterialität würde dann darin liegen, dass er nicht an einer bestimmten chemischen oder physikalischen Materialisierung hängt, sondern, modern gesprochen, über diesen supervenieren würde. Bei Plessner kommt allerdings hinzu, dass er die Positionalität für ein in der empirischen Erforschung der Gegenstände nicht feststellbares Phänomen hält. Sie zeigt sich allein in dem nicht mehr der Naturwissenschaft, sondern der Naturphilosophie zugehörigen Vermögen der Anschauung. Auch die Lebendigkeit, die unmittelbar an der Positionalität hängt, wird damit zu einem nicht mehr rein empirischen Phänomen.117 Weil Doppelaspektivität, Grenzrealisierung und Positionalität nicht in naturwissenschaftlicher Einstellung, sondern nur in philosophischer Reflexion zu bestimmen sind und weil an ihnen Plessners Verteidigung der Autonomie des Lebendigen, d. h. sein Vitalismus hängt, muss Plessner auch behaupten: „Es gibt keinen naturwissenschaftlich darstellbaren Vitalismus. Denn eine theoretische Erfassung des Lebensphänomens gelingt nicht nach der Methode der Naturwissenschaften“.118 Es gibt, resümierend gesagt, also eine gewisse Verwandtschaft in der Argumentationsstruktur von Driesch und Plessner. Die Struktur ist verwandt, insofern ein empirisch nicht näher ausweisbares Prinzip postuliert wird. Das Postulat dieses Prinzips bewegt sich nur auf unterschiedlichen Ebenen: Für Driesch ist es ein im Bereich der empirischen Realität selbst aktiver Faktor, für Plessner eine in der Anschauung erscheinende Evidenz, die naturwissenschaftlich nicht dingfest zu machen ist, aber der naturwissenschaftlichen Forschung vorausliegt, weil sie allererst den Gegenstand liefert: das Lebewesen als ein ontologisch besonderes Naturding. 116 H. Plessner, „Ein Newton des Grashalms?“, S. 207. 117 Vgl. J. Beaufort, „Gesetzte Grenzen, begrenzte Setzungen. Fichte’sche Begriff lichkeit in Helmuth Plessners Phänomenologie des Lebendigen“, in: Deutsche Zeit schrift für Philosophie 48/2000, S. 213-236, hier S. 234; K. Köchy betont, „Ganz heit“ könne bei Plessner zwar in die Wahrnehmung des Organischen eingehen, „entzieht sich aber der darstellenden Fragestellung und ist insofern nicht in der Lage, den Fortgang der biologischen Erfahrung zu bestimmen“ (K. Köchy, „Orga nismen und Maschinen“, S. [14]). 118 H. Plessner, „Über die Erkenntnisquellen des Arztes“, S. 46.
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5. Driesch und Plessner aus Perspektive der späteren biophilosophischen Debatte Die Philosophie Plessners hat in der philosophischen Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg, und insbesondere der letzten Jahrzehnte, eine weit größere Aufmerksamkeit erfahren als diejenige Drieschs. Während Drieschs Ansicht als weitgehend überholt und überwunden gilt und es in den letzten Jahren überhaupt nur wenige Auseinandersetzungen mit seinem biophilosophischen Ansatz gibt,119 bleibt Plessners Position weiterhin ein philosophisch ernstgenommener Anknüpfungspunkt. Dies gilt insbesondere für seine Anthropologie, in geringerem Maße aber auch für seine Philosophie der Lebenswissenschaften.120 Die meisten Arbeiten zu Plessners biophilosophischen Schriften bestehen allerdings in referierenden und seine Position rekonstruierenden Ansätzen. In der internationalen, auf Englisch geführten Debatte um die Bestimmung der Eigenart und Rechtfertigung der „Autonomie“ der Lebewesen spielt die Position Plessners, im Gegensatz zu der anderer klassischer Autoren wie insbesondere Kants, dagegen keine Rolle.121 Neuere Ansätze folgen doch eher Kant, indem sie die Relation der Teile zueinander, ihre wechselseitige Herstellung („Autopoiese“122) 119 T. Miller, Konstruktion und Begründung; M. Weber, „Hans Drieschs Argumente für den Vitalismus“, in: Philosophia naturalis 36/1999, S. 263-293; G. Fitzi, „Anthropologische Hermeneutik“. 120 Vgl. z. B. J. Beaufort, „Gesetzte Grenzen“; K. Köchy, Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie, Paderborn 2003, S. 315-338; H.-W. Ingensiep, „Lebens-Grenzen und Lebensstufen in Pless ners Biophilosophie. Perspektiven moderner Biotheorie“, in: U. Bröckling et al. (Hrsg.), Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, S. 35-46; G. Gamm, M. Gutmann, A. Manzei (Hrsg.), Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie – Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, Bielefeld 2005; O. Mitscherlich, Natur und Geschichte; T. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens; F. Michelini, „Modelle des Organischen“; G. Hartung, „Leben birgt Existenz. Helmuth Plessners Deduktion der Kategorien der Lebendigkeit“, in: S. Schaede, G. Hartung und T. Kleffmann (Hrsg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. 2, Tübingen 2012, S. 345-364. 121 Ein Grund dafür ist auch: „his terminology seems to the readers of today rather obscure“ (N. Milkov, „The logical form of biological objects“, in: A.-T. Tymieniecka (Hrsg.), The Creative Matrix of the Origins. Dynamisms, Forces and the Shaping of Life, Bd. 2, Dordrecht 2002, S. 13-28, hier S. 19). 122 Plessner selbst erwog es offenbar, den Begriff der „Autopoiese“ für seine Analyse zu verwenden (vgl. C. von Ferber, „Die Soziologie – ein Werkzeug der Freiheit?“, in: J. Friedrich, B. Westermann (Hrsg.), Unter offenem Horizont. Anthropologie
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und ihre wechselseitige Abhängigkeit in ontologischer und epistemischer Hinsicht, als das fundierende Verhältnis ansehen, demgegenüber die „Grenzrealisierung“ nicht die grundlegende, sondern eine abgeleitete Eigenschaft ist. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits zu Plessners Studienzeiten ab. Richard Kroner, zu dem Plessner in Heidelberg sicher auch Kontakt hatte, weil er im März 1912 dort Privatdozent für Philosophie wurde, schreibt in seiner Habilitationsschrift über Zweck und Gesetz in der Biologie 1912: „Alle spezifisch organischen Prozesse haben gemeinsam, daß sie sich an oder in einem zusammenhängenden Ganzen vollziehen und zwar so, daß sie nur als Teilvorgänge, die dem Ganzen irgendwie einund untergeordnet sind, begriffen werden können. Die Herrschaft eines organisierten Ganzen über seine Teile – das ist das hervorstechendste Charakteristikum alles Lebens. Wenn irgendwo, so werden wir in diesem Ganzen den Faktor suchen müssen, durch den sich das Organische vom Anorganischen unterscheidet.“123 Von Seiten der Gestalt- und Ganzheitslehren der 1920er Jahre werden diese Gedanken aufgegriffen, und sie werden auch dezidiert gegen Drieschs Vitalismus gewendet. Der Vorwurf lautet dabei, sein Vitalismus entspreche im Grundmuster der Argumentation, in der das Lebensspezifische an einem einzelnen „Faktor“ festgemacht werde, immer noch einem mechanistischen Modell. Die Rückführung auf einen isolierten Faktor stehe dem eigentlich organismischen Denken entgegen, das den Organismus als ein Wechselverhältnis zwischen verschiedenen Gliedern eines Ganzen entwirft. Die Autonomie der Lebenswissenschaften zeige sich insofern nicht im Nachweis eines lebensspezifischen Faktors, sondern gerade im Fehlen eines solchen. Leben sei nicht das Ergebnis einer zentralen Steuerung, sondern einer dezentralen Organisation. Zusammenfassend wirft Othmar Spann Driesch vor, „den Ganzheitsbegriff nicht verstanden“ zu haben,124 denn er stelle sich die Ganzheit als einen Faktor vor, als die Entelechie oder den Faktor E, der nicht aus der Organisation selbst entstehe, sonnach Helmuth Plessner, Frankfurt a. M. 1995, S. 327-335, hier S. 332). Wenig bekannt ist auch, dass der Ausdruck bereits lange vor Maturana und Varela in den 1930er Jahren in Gebrauch war (A. Spitzer, „Über Nervenwirbel (Ein elementarer funktioneller Mechanismus des Nervensystems)“, in: Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie 51/1934, S. 267-276, hier S. 269). 123 R. Kroner, Zweck und Gesetz in der Biologie. Eine logische Untersuchung, Tübin gen 1913, S. 31. 124 O. Spann, Kategorienlehre (1924/39), Graz 1969, S. 23.
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dern eine von außen eingreifende Kraft darstelle. Dadurch aber werde die Ganzheit „selber wieder auf ursächliche, unganzheitliche Kraft gedacht“.125 Nach Spann darf die Ganzheit dagegen nicht nach dem Modell der Ursächlichkeit konzipiert werden. Die Ganzheit habe kein Dasein neben ihren Gliedern, sondern erschöpfe sich in deren Verhältnis zueinander. Prägnant kann das Scheitern des Vitalismus also aus einer systemtheoretischen Perspektive, die die wechselseitige Abhängigkeit der Prozesse in einem Organismus betont, zum Ausdruck gebracht werden. Der Begründer der biologischen Systemtheorie, Ludwig von Bertalanffy, setzt seinen Ansatz in gleichem Maße vom Mechanismus wie vom Vitalismus ab und bemerkt 1932: „Mechanismus wie Vitalismus beruhen auf der Maschinentheorie“.126 Den Vitalismus rückt von Bertalanffy in die Nähe der Maschinentheorie des Lebens, weil die Annahme eines einzelnen Faktors, der die gestörte Organisation repariert, am Modell eines Mechanikers orientiert ist, der von außen eingreift, um den Defekt eines Systems zu beheben. Systemtheoretisch werde diese Reparaturleistung allein aus dem organisierten Miteinander der Teile verständlich. Als den „Fehler des Vitalismus“ sieht von Bertalanffy, „daß er die organische Ganzheit nicht im lebendigen System selbst suchte, sondern in einer zu dessen atomistischen Teilen aus dem Unräumlichen hinzutretenden Entelechie“.127 Allgemein anerkannt ist es seit der Etablierung der Systemtheorie, die Organisation, d. h. die besondere Form der Anordnung der Materie in den Lebewesen, für ihre speziellen Leistungen verantwortlich zu machen – also gerade diejenigen Aspekte des Organischen, die Driesch als „maschinenhaft“ und damit nicht hinreichend für eine Spezifizierung der Organismen ansah.128 Weniger die von Plessner so betonte „Grenzregulierung“ des Lebewesens als das Verhältnis der organischen Teile zueinander steht in den Debatten um die Auszeichnung der biologischen Autonomie im Vordergrund. Plessner hat allerdings insofern die Richtung gewiesen, als er die Selbstbezüglichkeit als eine wichtige Komponente der Auto125 Ebd. 126 L. von Bertalanffy, Theoretische Biologie, Bd. 1, Berlin 1932, S. 69. 127 Ebd., S. 80; vgl. auch M. Weingarten, Organismen – Objekte oder Subjekte der Evolution? Philosophische Studien zum Paradigmawechsel in der Evolutionsbiologie, Darmstadt 1993, S. 100. 128 Vgl. H. Driesch, „Zur Kritik des ‚Holismus‘“, in: Acta Biotheoretica 1/1935, S. 185-202; ders., Die Maschine und der Organismus.
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nomie anerkannte. Die Systemtheorie und Autopoieseforschung hat darauf aufgebaut und die Bedeutung des von den Lebewesen erzeugten und sie gleichzeitig konstituierenden Körpers für ihre Autonomie betont.129 Der Körper eines Organismus wird im Rahmen dieser Ansätze als ein zu den physikalischen Prinzipien hinzukommender Bedingungsfaktor („constraint“) interpretiert, der die Eigengesetzlichkeit und Autonomie des Organismus begründet.130 Retrospektiv geurteilt hat Plessner also etwas vorschnell die argumentative Position aufgegeben, dass die besondere Struktur der Lebewesen sich auch in naturwissenschaftlich-mechanistischen Begriffen charakterisieren lässt. Aus Sicht der späteren biophilosophischen Arbeiten erscheint es verfrüht, die „übergestalthafte Selbstbezüglichkeit des Lebendigen“131 allein in der naturphilosophischen Ebene der geschauten Qualitäten und nicht auch in der naturwissenschaftlichen Ebene der kausalen Muster und systemtheoretischen Analysen der faktischen Existenz von Lebewesen zu situieren. Vitalisten, die mit dem Begriff einer okkulten Lebenskraft oder anderen naturwissenschaftlich nicht transparent zu machenden Faktoren operieren, um die Autonomie des Lebendigen zu begründen, wurden als „ungeduldige“ Forscher beschrieben, die eine spätere Analyse des Problems nicht abwarten können.132 Driesch und Plessner hatten beide diese Ungeduld: Driesch postuliert vorschnell nichtphysikalische Kräfte, die im Bereich des Lebendigen wirken sollen, Plessner gibt vorschnell die Möglichkeit auf, über systemische Prinzipien auf Ebene der kausalen Struktur von Organismen ihre Eigenart zu charakterisieren und nimmt stattdessen Zuflucht zu einer zwar empirisch informierten, aber doch apriorisch verfassten, rein naturphilosophischen Ebene. Die Entwicklung des 20. Jahrhunderts hat mit den Ansätzen der Sys129 Ein Pionier diesbezüglich war Paul Weiss: „Through their results, dynamics modify the setting for subsequent dynamics. Dynamically created forms, if somehow consolidated, become molds for the course of future activity“ (P. Weiss, „1 + 1 ≠ 2 (When one plus one does not equal two)“, in: G. C. Quarton, T. Melnechuk, F. O. Schmitt (Hrsg.), The Neurosciences, New York 1967, S. 801-821, hier S. 804). 130 „[B]iological organisms realize a specific kind of causal regime […], i. e., a distinct level of causation, operating in addition to physical laws, generated by the action of material structures acting as constraints“ (M. Mossio, A. Moreno, „Organisational closure in biological organisms“, in: History and Philosophy of the Life Sciences 32/2010, S. 269-288, hier S. 269). 131 O. Mitscherlich, Natur und Geschichte, S. 80. 132 R. B. Perry, General Theory of Value. Its Meaning and Basic Principles Construed in Terms of Interest (1926), Cambridge 1967, S. 148.
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temtheorie, Kybernetik und Autopoiesetheorie einen Weg verfolgt, den Plessner zwar begonnen, dann aber vorzeitig abgebrochen hat: die Anlehnung der naturphilosophischen Analyse an die empirische Erforschung der Prozessmuster auf kausaler Ebene. Die Entwicklung hat auch gezeigt, dass diese Anlehnung an die empirische Wissenschaft keineswegs in den Reduktionismus führen muss, sondern durchaus Argumente für die (minimalvitalistische) These von der kategorialen Verschiedenheit des Lebendigen vom Leblosen liefern kann und darüber hinaus damit deutlich macht, dass die philosophische Perspektive, die dafür Konzepte erarbeitet, von der empirischen Arbeit wohl unterschieden ist.
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Helmuth Plessner und Viktor von Weizsäcker Zu den Konvergenzen in ihren Theorien der Lebewesen
1. Naturwissenschaftler und Philosoph Von dem in aller Breite sich entfaltenden Interesse am Wert und den Grundlagen von Biowissenschaften und Anthropologie, welches von der wissenschaftlichen und philosophischen Auseinandersetzung im Europa des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts angestoßen wurde, ist auch der geistige Werdegang des Neurophysiologen Viktor von Weizsäcker und des Philosophen Helmuth Plessner betroffen.1 Beiden ist die Reflexion gemeinsam sowohl auf die Notwendigkeit einer Erneuerung der logischen und methodologischen Instrumente der Forschung als auch auf einige ausschlaggebende Themen, z. B. auf die Fragen, welche Bedeutung dem Leben, dem Begriff der Subjektivität oder der Stellung des Menschen gegenüber Natur und Kultur zukommt. Jedoch ergeben sich nicht genügend Hinweise, um von einem gegenseitigen Einfluss oder einem direkten Gedankenaustausch dieser beiden Denker sprechen zu können, obwohl sich Weizsäcker und Plessner über ihre jeweilige berufliche Tätigkeit kennen gelernt hatten. Im Jahre 1927 veröffentlicht Weizsäcker den Aufsatz Über medizinische Anthropologie in der von Plessner gegründeten 1
Siehe V. von Weizsäcker, Natur und Geist (1954) und Begegnungen und Entschei dungen (1949), in: ders., Gesammelte Schriften, 10 Bde., Frankfurt a. M. 1986 ff., Bd. 1, S. 11-194 und S. 195-399; ders., Meines Lebens hauptsächliches Bemühen (1955), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 372-393. Siehe außerdem: T. Henkelmann, Viktor von Weizsäcker (1886–1957). Materialien zu Leben und Werk, Heidelberg 1986; M. Wein, Die Weizsäckers. Geschichte einer deutschen Familie, Stuttgart 1988, S. 341-410; und auch http://www.viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/ index.php?id=1 (Viktor von Weizsäcker Gesellschaft). Betreffs Plessners biografischen Notizen, siehe seine „Selbstdarstellung“, in: ders., Gesammelte Schrif ten, hrsg. von G. Dux, O. Marquard und E. Ströker, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1985, S. 302-334; zur Bibliographie: S. Giammusso, „Bibliographie Helmuth Plessners“, in: Dilthey Jahrbuch 7, 1990–91, S. 323-341, sowie ebenso: http://www.helmuthplessner.de (Helmuth Plessner Gesellschaft).
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und herausgegebenen Zeitschrift „Philosophischer Anzeiger“. Davor noch, im Jahre 1923, hatte er die Tragweite der „philosophischen Auslegung“ des Vitalismus von Hans Driesch kommentiert, der von Plessner in einem im Jahre zuvor in der Fachzeitschrift „Klinische Wochenschrift“ erschienenen Artikel vorgestellt wurde.2 Ansonsten finden sich nur sporadische Bezüge.3 Während seiner physiologischen Studien besucht Weizsäcker zunächst das von Johannes von Kries geleitete Institut in Freiburg, danach die renommierte Neurologische Klinik in Heidelberg, die Ludolf von Krehl leitet. Hier arbeitet er an einem Projekt zur Entwicklung der pathologischen Sinnesphysiologie, das er weiterführt und vertieft, als er nach dem Krieg Direktor der neurologischen Abteilung der Klinik wird. Die Öffnung gegenüber dem außermedizinischen Bereich, insbesondere zur Psychologie und Philosophie, wirkt sich zudem auf seine theoretischen Überlegungen fruchtbar aus. Weizsäckers Leidenschaft für die philosophische Reflexion setzt schon früh ein und ist nachweisbar anhand seiner ausdauernden Teilnahme an Seminaren des Neukantianers Windelband. Der Anlass dazu ergab sich vermutlich aus seiner engen Freundschaft zu dem gleichaltrigen Franz Rosenzweig. Diese Leidenschaft zeigt sich sowohl in seiner experimentellen Forschungsarbeit und in seinem Beruf als Mediziner als auch in seinen theoretischen Schriften zur Biologie. Helmuth Plessner ist nur um sechs Jahre jünger und zeigt, obwohl er sich dezidiert der Philosophie zuwendet, konstantes Interesse an Medizin und Biologie. Nicht nur belegt er unterschiedliche naturwissenschaftlich ausgerichtete Universitätskurse – in Freiburg, Heidelberg, Berlin und Göttingen –, sondern vertieft als Gasthörer am Institut für Physiologie in Groningen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten jene Ideen anhand von Experimenten, die ihn schließlich dazu führen, sich überwiegend dem Thema des Lebens zu widmen und die
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H. Plessner, „Vitalismus und ärztliches Denken“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 7-27, und V. von Weizsäcker, „Über Gesinnungsvitalismus“, in: ders., Ge sammelte Schriften, Bd. 2, S. 359-367. Plessner wird erwähnt beispielsweise in seinen autobiographischen Schriften, an gelegentlich einer Begegnung mit Max Scheler bei der Kant-Gesellschaft in Köln (siehe: V. von Weizsäcker, Natur und Geist, S. 31), zusammen mit einigen flüchtigen Bezügen auf seine Werke. Weizsäcker wird erwähnt in H. Plessner, „Anthropologie der Sinne“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1980, S. 392, erwähnt.
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„Naturphilosophie“ zu entwickeln, die in seinem Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch4 greifbare Form annimmt. Universitäres Umfeld und kulturelles Klima, die auf Plessner und Weizsäcker eingewirkt haben (mit wenigen Jahren Altersabstand), sind demnach die gleichen. Beide lassen sich von denselben Vertretern eines philosophischen und wissenschaftlichen Wissens5 faszinieren und sich von unterschiedlichen Fachrichtungen zu Auffassungen anregen, die auffallend konvergieren. In kritischer Distanz zum positivistisch-mechanistischen System, welches den Wissenschaftsbereich dominiert und die philosophische Theorie beeinflusst, unterstützen beide die Idee der strukturellen Einheit der organischen Natur und ihres Wirkens. Ein neues Instrumentarium ist demnach erforderlich, um die Spontaneität des Lebens zu erfassen und um rigid rationalistische Sichtweisen zu überwinden; und das meint u. a. das Einfordern des Werts von Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Körperlichkeit. Unter der Annahme der psychophysischen Einheit des Organismus wird eine Revision der Bewertungsparameter von Raum- und Zeitdimension des Lebenden verlangt, was im Folgenden die Unangemessenheit eines rigiden Mechanismus verdeutlicht. Auf ontologischer Ebene führt der dialektische oder „antinomische“ Charakter des organischen Wesens – in Weizsäckers Konzeption „pathisch“, in derjenigen von Plessner „positional“ genannt – zu einer Unterscheidung der Wesensstruktur des Lebenden von derjenigen einfacher physischer Körper, einer Unterscheidung, die von den beiden Autoren mit weitestgehend übereinstimmenden Begriffen erarbeitet wird und in beiden Fällen zur Errichtung eines „subjektiven Prinzips“ führt, das dem Lebenden zu Grunde liegt: ein Prinzip, Träger jenes dialektischen und antinomischen Charakters, dessen höchster und schillerndster Ausdruck die tiefe Unruhe des Menschen ist.
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H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 4. Auch F. J. J. Buytendijk stand in Beziehung zu beiden. Vgl. dazu den Beitrag von Becker in diesem Band.
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2. Antilogik und organische Dialektik „Antilogik nenne ich die fröhliche Freiheit des Lebens, die Vernunft nur soweit zu brauchen, als vernünftig ist“, erklärt Weizsäcker, „den Rest aber zum Fenster hinaus zu werfen.“6 Das antilogische Prinzip zeigt in aphoristischer Verschlüsselung das ganze Potenzial, mit dem es gelingt, das Lebende zu identifizieren: die Unmöglichkeit, das biologisch Seiende einer rigoros rationalen Ordnung gleichzustellen. Bewegungsautonomie und Unberechenbarkeit des Wirkens sind für Weizsäcker die authentischsten Eigenschaften des Lebens; mit ihnen müssen daher die Verstehenskriterien konform gehen. Das Leben regelt sich über die abrupte Veränderbarkeit der Modalitäten und der Mittel, durch welche es seine Zwecke erzielt. Aus diesem Grund lässt es sich nicht als „in-sich-selbst“ widersprüchlich betrachten: Dieses ist es nicht, da in der Spontaneität der Fortbewegung das Leben sich nicht selbst widerspricht. Im Gegenteil, gerade der Wechsel, die unterschiedlichen Möglichkeiten, der Gegensatz der Modalitäten, vermittels derer sich das Leben verwirklicht, gehören ihm intrinsisch an. Der Widerspruch als solcher, d. h. der Widerspruch, der zu Selbstvernichtung und Sinnlosigkeit führt – so Weizsäcker – betrifft nicht das Leben, sondern nur die Logik, soll heißen: jenes rationale und abstrakte Ordnungssystem der Wirklichkeit, welches den Satz vom Widerspruch sich zum Angelpunkt gemacht und Unvorhersehbarkeit und Variation aus seinem Erklärungsmodell des Wirklichen verbannt hat. Daher lässt sich annehmen, dass der Widerspruch keine reale Gegebenheit, sondern eine „Erfindung“ jenes Ordnungssystems ist. Das Nachdenken über das Leben und über den unvermeidlichen und beständigen Gegensatz, der sich zwischen Geist und Körper, zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen verschiedenen Modalitäten der Erfahrung ergibt, hat Weizsäckers Arbeit begleitet, von den neurophysiologischen Experimenten der Anfangszeit bis hin zur ausgearbeiteten pathosophischen Spekulation der Reifezeit, mit der er die vielseitige Idee des Gestaltkreises7 generierte. Dieser „anschauliche Begriff“ hat die Aufgabe, die dialektische Bedeutung des biologischen 6 7
V. von Weizsäcker, „Das Antilogische“ (1950), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 316-322, hier S. 317. V. von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart 1940, nunmehr in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 83337.
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Werdens einzufangen und darzustellen. Hier muss jedoch gesagt werden, dass Weizsäcker den Begriff „Dialektik“ nicht gern benutzt. An seiner Stelle bevorzugt er „Antilogik“, um ihn damit von der Last des historisch-philosophischen „Dialektik“-Begriffs8 zu befreien. Das antilogische Prinzip setzt fest, dass das Leben nicht systematisierbar ist: Was sich einem logischen System der Weltdarstellung entgegenstellt, lässt sich nicht in ein bestimmtes System einsperren. Jeder „antilogische Übergang“ konstituiert nämlich einen „Sprung“, einen Moment der Diskontinuität. Jede Position, jede Wahrheit öffnet einen Abgrund und impliziert ein Nicht-Wissen. Dieses Nicht-Wissen begleitet ganz unvermeidbar die Unberechenbarkeit des Lebenden. Die Verhaltensweisen des biologisch Seienden, die begangenen Taten zum Überleben sind prinzipiell unbestimmbar, d. h. sie werden ausgelöst von nicht mit letzter Sicherheit bestimmbaren (zwar absichtsvollen, aber nicht notwendigerweise willentlichen) Entscheidungen. Die Vorstellung daher, dass der Grundsatz zur Anerkenntnis der Realität des Lebenden „antilogisch“ sei, geht einher mit der Vorstellung einer „stets offenen Möglichkeit“, die für die anorganische Wirklichkeit nicht gilt. In den Wahrnehmungsprozessen, auf denen das Leben beruht, wahr oder nicht wahr, tatsächlich oder angenommen, sind solche nicht, sondern sie zeigen sich zufolge der jeweiligen Situation: Eine Wahrnehmung – sagt Weizsäcker – hört auf, etwas für wahr zu halten, wenn in ihr ein illusorischer Charakter entdeckt wird, d. h. wenn neue Kenntnisse auftreten, die zeigen, dass diese oder jene spezifische Wirklichkeit sich als antilogisch präsentiert. In der empirischen Erkenntnis kann deshalb heute wahr sein, was morgen falsch ist, da die empirische Erkenntnis nur wahr ist als Komponente einer Geschichte, eines Verlaufs des Wissens und nicht als „Erkenntnis an sich“: Das Wissen, wie auch das Leben, hat zu tun mit dem Werden, mit dem beständigen Wechsel. Das gesamte Leben besteht mithin aus Gegensätzen, aus einer Folge von Widersprüchen, die Sinn-voll sind: „Leben ist Werden“, behauptet Weizsäcker. „Werden aber ist die Wesensbestimmung, in der etwas 8
Weizsäckers Antilogik wurzelt jedenfalls in der Dialektik des Idealismus. Weiz säcker erkennt ausdrücklich Hegels Verdienst an „die dialektische Beschaffenheit des Lebens erfasst zu haben, da schon die Dialektik ‚den Grundlagen der Biologie nahekommt‘; dennoch“, fügt er hinzu, „Hegels System, das mit dieser Erkenntnis die kritische Philosophie so sehr übertrifft, überschreitet die Grenze der Philosophie, indem sie den Bereich des Lebens selbst zu betreten sucht“ (V. von Weizsäcker, Begegnungen und Entscheidungen (1949), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 195-399, hier S. 369).
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weder ist noch etwas nicht ist, sondern ein Sein gerade eben verliert und zugleich ein Sein gerade bekommt. Das Werden enthält immer diesen logischen Widerspruch und daher ist das werdende Leben ein Widerspruch in sich, ist, wie wir sagen wollen, antilogisch.“9 Der Wert des antilogischen Prinzips verstärkt sich mit der Ausdehnung seiner ontologischen Reichweite, und wird von einer einfachen physiologischen Regel zum fundamentalen Lebensgesetz. Eine erste Kostprobe zu dieser Ausweitung zeigt sich schon in der „Kleinen Schrift“ Das Antilogische aus dem Jahr 1923. In Beziehung gesetzt zur Geschichtlichkeit des Lebenden und zur persönlichen Individualität wird sich das Prinzip dann als wesentliches Fundament erweisen nicht nur für die anthropologische Forschung, sondern auch allgemein für die biologische Forschung. Nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem während des Zweiten Weltkrieges wird sich Weizsäckers Interesse für die geistige und religiöse Bedeutung des Lebens in Beziehung zu seiner Praxis als Wissenschaftler und Arzt kontinuierlich verstärken, während die Bedeutung des Gegensatzes in der Dimension des Lebens immer dramatischere Töne und eine zunehmend als „pathosophisch“10 bezeichnete Konnotation annimmt. Wie Weizsäcker betont auch Plessner in seinem Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch, dass die Grenze zwischen dem NichtLebenden und der organischen Wirklichkeit eine Seinsmodalität ist, die nur als nicht im klassischen Sinn logischer und sogar widersprüchlicher Dynamismus begriffen werden kann. Auch Plessner scheint den Begriff „Dialektik“ höchst ungern zu verwenden, kann ihm aber seine Berechtigung nicht gänzlich absprechen. In der Bewertung der methodologischen Tragweite seiner Arbeit stellt er nämlich fest: „Eine derartige apriorische Theorie des Organischen hat, so scheint, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie“.11 9 V. von Weizsäcker, „Anonyma“ (1946), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 43-89, hier S. 50. 10 Zur Ausrichtung von Weizsäckers Denken sind die Begegnungen mit einigen be deutenden Vertretern der zeitgenössischen Kultur bestimmend (darunter Barth, Guardini, Buber, Scheler). Die autobiografische Schrift Begegnungen und Entschei dungen aus dem Jahr 1949 ist ihnen gewidmet. Aufschlussreich zu besagter Aus richtung ist der Aufsatz „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Grundfragen der Naturphilosophie“ von 1954 (in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 263350). 11 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 167. Bezüglich des dialektischen Charakters der Ableitung der organischen Modale verweise ich auf V. Rasini, „Filosofia della natura e antropologia nel pensiero di Helmuth Plessner“, in:
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Unmissverständlich dialektisch hingegen ist die Wesensstruktur des Menschen; gleichfalls dialektisch ist, dem noch vorausgehend, die Struktur des biologischen Körpers als solchem. Auf der Basis eines „positionalen Prinzips“ versucht Plessner eine Ableitung der „organischen Modale“, soll heißen: eine Klassifizierung der Kategorien, die die Wesensmerkmale des Lebenden bestimmen. Das Prinzip hat als Kern die Beziehung des Körpers zu seiner Grenze. Genau hier liegt der Ursprung der spezifischen Dynamik, die das Organische in allen seinen „modalen Verwirklichungen“ begleitet. Vom Gesichtspunkt der Logik aus kann die Idee der „Körpergrenze“ zwei Bedeutungen haben: Entweder ist die Grenze nur die virtuelle Grenze des Körpers und der Körper hat ausschließlich in der Grenze seinen Anfangs- bzw. Endpunkt bezüglich dessen, was ihn umgibt (wie es für jeden physischen Körper als solchem zutrifft) oder die Grenze gehört tatsächlich dem Körper an als seine authentische Grenze, als „seine Grenze“ oder „verwirklichte Grenze“. Im letzteren Fall – dem Fall, der den lebenden Organismus charakterisiert – befindet sich der Körper zur gleichen Zeit in sich und über sich hinaus, in einem zu sich selbst und gleichzeitig über sich hinaus gerichteten Werden.12 Das Lebende hat positionalen Charakter dank einer kontinuierlichen Vermittlungsdynamik: In jedem Aspekt seines Seins – als in sich organisiertes System und als Lebensprozess – ist der Organismus seinem Wesen nach eine Einheit von entgegengesetzten Momenten. Seine Vitalität manifestiert sich in Form eines ständigen Werdens „dessen, was er nicht ist“, obwohl er „das [bleibt], was er ist: und die klassische Logik kann sicherlich keine valide Hilfe liefern“.
3. Das pathisch Seiende und der positionale Körper Weizsäckers Gestaltkreis beschreibt die organische Realität in ihrer Dynamizität, erfasst die Konfiguration der Aktivität des Lebens. Darin werden zwei Komponenten klar voneinander unterschieden: die Kreisförmigkeit, die ein Verbleiben des Seienden im Wandel (vermitAnnali del Dipartimento di Filosofia dell’Università di Firenze, 1/1995, S. 59-77; siehe außerdem den Band von H. H. Holz, Mensch – Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie, Bielefeld 2003. 12 Siehe H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 151 ff.
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tels einer Wiederkehr) bezeichnet, sowie die Form, die die Durchführung dieses Wandels (die sich augenblicklich in der Intuition ausprägt) darstellt. Der Gestaltkreis verdeutlicht den Begriff der „Antilogik des Lebens“ und das fortlaufende Werden des Organismus trotz seiner Seinsstabilität.13 „Immer ist das Lebendige“, sagt Weizsäcker, „ein veränderliches Gleichbleibendes.“14 Obwohl Weizsäckers Untersuchungen und Experimente direkt auf den Menschen bezogen sind, haben seine theoretischen Überlegungen einen viel allgemeineren Geltungsbereich und betreffen das Lebende überhaupt. Die erste Ausformulierung des Gestaltkreis-Begriffs soll die Beziehung klären, die zwischen der Wahrnehmung und der Bewegung im Bereich der Humanphysiologie besteht. Sogleich zeigt sich aber die vielgefächerte Erklärungsfähigkeit, wie in einer Bemerkung aus den Vorlesungsvorbereitungen für das Jahr 1945 zu entnehmen ist: Der Gestaltkreis stellt im Übrigen eine Beziehung zwischen Psyche und Soma, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Subjekt und Prädikat dar.15 Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff „Gestaltkreis“ die Art und Weise des Seins und Handelns des Lebenden, eine Objekttypologie, die nicht vermittels streng ontologischer Bestimmungen definiert werden kann, weil die Natur des Objekts – gleichermaßen aktiv und passiv, reaktiv und rezeptiv – sich nicht fassen lässt mittels der Kategorie des „Seins“. Unter Gestaltkreis, so Weizsäcker, „verstehe ich eine wesentliche Struktur des pathisch begriffenen lebendigen Aktes.“16 Mit dem Terminus „pathisch“ bezeichnet Weizsäcker daher das Lebende als solches, und er setzt ihn ab von „ontisch“, mit dem er den nicht lebenden physischen Körper meint. Das Pathische und das Ontische bezeichnen zwei Kategorien, die die Seienden auf der Ebene der Existenz unterscheiden, d. h. vermittels ihrer Zugehörigkeit zu einer Welt und der Form der Beziehung zu dieser. Der physische Körper ist ganz einfach in einer Welt, befindet sich in dieser, ist errichtet in einer objektivierbaren Raum-Zeit-Beziehung, die vermittels des Bezugs und gegenübergestellt zu anderen Objekten beschreibbar ist: Deswegen, so behauptet Weizsäcker, sagt „die Ist-Aussage […] alles aus und genügt
13 14 15 16
Siehe V. von Weizsäcker, „Anonyma“, S. 53 f. und S. 85 f. Ebd., S. 50. Siehe T. Henkelmann, Viktor von Weizsäcker (1886–1957), S. 149. V. von Weizsäcker, „Anonyma“, S. 54.
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auch.“17 Für die Kategorie des Pathischen ist das anders: Der Organismus setzt sich mit der Umgebung zu einem Mitzugehörigkeitsverhältnis zusammen, er korreliert in antilogischer Modalität mit dem Außen, dem gegenüber er wirkt oder leidet. Das Leben besteht aus einer Reihe komplizierter Prozesse und aus einem beständigen Wandel; und um seine tiefste Bedeutung zu verstehen, ist es unerlässlich, den „Erlebnis“-Aspekt hervor zu heben, d. h. die Tatsache, dass implizit immer ein „Erleiden“, ein „Ertragen“, eine „Passion“ vorhanden ist: „Nicht nur setzt es sich selbst und ist so aktiv“, erklärt Weizsäcker, „es geschieht ihm auch zu sein, und so ist es passiv. Unsere Aussagen darüber treffen nicht Ontisches allein, sondern Pathisches.“18 Die einfachen, logischen und banalen Behauptungen über das Sein der Körper sind ungenügend. Sie drücken den Sinn des Pathischen nicht aus. Sie erfassen den Wesenscharakter des Lebenden nicht. Dafür ist es notwendig, das Begriffsinventarium zu erneuern und eine „philosophische Wende“ im Bereich der Naturwissenschaften einzuleiten: „Wo der Biologe sich darauf beschränken möchte“, so Weizsäcker, „die Erscheinungen nur zu beschreiben und nicht auch zu erklären, da hat Biologie noch nicht begonnen.“19 Zu den Wesensbestimmungen der organischen Realität zurück zu gehen, ist die spezifische Aufgabe des Biologen, der sich dazu der Zeugenschaft bedienen muss, die die empirische Beobachtung liefert. Phänomene wie Erwartung und Überraschung in Beziehung zur Umwelt und im Allgemeinen in der spezifischen Dynamik der organischen Realität sind Hinweise auf eine Situation und auf eine existenzielle Modalität, die zusammen mit der Bestimmung der „Pathizität“ eine unmissverständlich ontologische Charakterisierung erhalten. Da dem Leben Unbeweglichkeit völlig abgeht, ist es nicht einfach „Sein“. Es ist beständiges Werden, eine Korrelation mit der Umwelt, geprägt durch die Schnelligkeit, mit der die Strukturen dieser Beziehung sich wandeln: Seine Beharrlichkeit findet statt im Vorübergehenden. Das Attribut der „Pathizität“ hebt die Bedingung des Lebenden hervor, immer im Zwischenbereich von Sein und Nicht-Sein, immer der Krise ausgesetzt. Der Begriff „Krise“ bezeichnet jedweden Bruch, jeden Übergang, jeden Wechsel und enthüllt am besten die Bedeutung des Pathischen, „[d]enn das in der Krise befindliche Wesen ist aktuell 17 Ebd., S. 49. 18 V. von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, S. 313. 19 Ebd.
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nichts und potentiell alles“.20 Die Pathizität ist „die Aufhebung des Ontischen“ und eine Wandlungskrise „zeigt das pathische Attribut im Kampf auf Leben und Tod mit dem Ontischen“.21 Im symbolischen Bild des Gestaltkreises wird diese spezifische Unterscheidung vermittelt, mit seiner (des Gestaltkreises) dialektischen Bedeutung, und so, wie er das Merkmal des biologischen Aktes verständlich macht, erlaubt er, die Verbindung des Lebenden zum eigenen Ursprung zu erfassen: „Sein Vergehen ist mit seinem Bestehen gleichsam auf Tod und Leben verbündet und die Wiederkunft ist das ewige Symbol dieses Bundes. Sie knüpft das Ende an den Anfang und den Anfang an das Ende; im endlosen Wandel des Werdens erscheint in ewiger Wiederkunft der beständige Ursprung.“22 Berührungspunkte zwischen Weizsäckers Konzeption der pathischen Realität und Plessners positionaler Struktur gibt es offensichtlich viele. Es wurde bereits gesagt, wie die positionale organische Modalität im Denken Plessners sich nur in einer logisch-dialektischen Darstellung wiedergeben lässt: Damit die wesensmäßige Duplizität des Organischen in einheitlicher Weise erfasst werden und damit ihre dynamische Eigenschaft Ausdruck finden kann. Das Wesentliche ist – wie auch für Weizsäcker – die Transformation, das beständige Werden zu erfassen – „ein Ding positionalen Charakters kann nur sein, indem es wird“23 – ohne dennoch den Dauerhaftigkeitsaspekt zu vernachlässigen: „Das Werden“, erklärt Plessner in den Stufen, „bestimmt sich als das Werden eines Etwas (des Beharrenden) in dem Modus, daß das Beharren das Werden ‚trägt‘, oder das Beharren bestimmt sich als das Etwas eines Werdens, wobei das Werden das Beharren trägt.“24 Die doppelte Valenz von „Setzen“ – von der der Begriff der „Positionalität“ abgeleitet ist – differenziert das Organische, indem es auf eine andere Ebene gestellt wird, bezogen auf das einfache „Sein“ des Anorganischen, das fremd ist gegenüber dem Dynamismus, den ihm die Verwirklichung der eigenen Grenze zuerteilt. Der physische Körper „befindet sich“ passiv in einer bestimmten raumzeitlichen Stellung, „ist“ an einem Ort, und „nimmt“ dort einen objektiv bestimmbaren Raum „ein“, und er verbraucht sich oder modifiziert sich im 20 Ebd., S. 314. 21 Ebd. Der Gebrauch des Begriffs „Aufhebung“ in der Tradition Hegels ist nicht zu fällig. 22 V. von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, S. 321. 23 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 187. 24 Ebd., S. 189.
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Durchlaufen einer mit physikalischen Instrumenten messbaren Zeit. Für den Organismus verhält es sich anders, seine Eigenschaften müssen sich demnach auch auf begrifflicher Ebene von jenen physischgegenständlichen unterscheiden. „Ein Lebewesen“, schreibt Plessner, „erscheint gegen seine Umgebung gestellt. Von ihm aus geht die Beziehung auf das Feld, in dem es ist, und im Gegensinne die Beziehung zu ihm zurück.“25 Der Organismus erhebt sich gegenüber der Umwelt in charakteristischer Weise, weil er sich in eine Welt „setzt“, zu der er ein wechselseitiges Verhältnis eingeht; eben das wird durch den Begriff „Positionalität“ zum Ausdruck gebracht. Der organische Körper gehört tatsächlich der Umwelt an, und seine Beziehung ist umso komplexer und reicher, desto größer die „Distanz“ von ihr ist oder das Bewusstsein seines Andersseins. Aus diesem Grund zeigt sich der Organismus vor allem als autonomes Seiendes, und bereits die Intuition erfasst diese seine Eigenschaft vermittels der Bewegung.26 Eine rhythmische, nicht mechanische Dynamik teilt ihm eine ganz eigene Variabilität zu. Seine Form tritt „frei“ in Erscheinung und ist bis zu einem gewissen Grad unvorhersehbar in der Bewegung, die sie modelliert: flüchtig und gespannt, unberechenbar und nur Schritt für Schritt bestimmbar. Die Bewegung des anorganischen Körpers „präsentiert sich als absolut determiniert ‚so wie sie ist‘; fällt ihre Form restlos mit der von ihr beschriebenen Bahn zusammen, ist sie, so liegt es bei der lebendigen Bewegung anders. Hier hat jede faktisch abgelaufene Phase, weil sie durch eine Tendenz begründet und hervorgerufen zu sein scheint, das Merkmal, in jedem Punkte ihrer Bahn indeterminiert gewesen zu sein. Sie präsentiert sich als eine Bewegung, die auch anders hätte erfolgen können, als sie wirklich erfolgt ist.“27 Der selbe Charakter von Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit gehört dem von Weizsäcker konzipierten Wesen des biologischen Aktes konstitutiv an, für den die Wahl oder die Entscheidung in jedem Moment einen Sprung, den Bruch einer Kontinuität darstellt.28 Zwischen Erwartung und Erfüllung eines jeden Aktes richtet sich das Mögliche ein, das unberechenbare Produkt der Vitalität. Gleicherweise hebt Plessner deutlich hervor: „In der Abgehobenheit der Erwartung, in dem Moment der Spannung, die ihre Lösung finden soll, liegt je25 26 27 28
Ebd., S. 186. Ebd., S. 185. Ebd., S. 179 f. Siehe zum Beispiel, V. von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, S. 316.
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ner Hiatus des Vorweg, den nur ein spontaner, aus einer Beliebigkeit herauskommender Akt überbrückt.“29 Auch hierbei sind eine unvorhersehbare Beziehung zwischen der Erwartung und der Erfüllung und eine paradoxe Situation im Spiel. Auch hierbei behauptet sich der „proleptische“ Wert der organischen Prozessualität, verstanden als Wandel und Umgestaltung. Da das Seiende in seinem Anders-Werden sich dennoch in sich selbst erhält, ist seine konkrete Transformation vor allem ein Prozess der Neugestaltung, eine dynamische Neuanordnung der Form.30
4. Subjekt und Mensch Die Biologie kümmert sich nicht um „Objekte“ im engeren Sinn, sondern um Subjekte: das macht diese Wissenschaft zur besonderen und das Lebende nicht dem einfachen physischen Körper homologisierbar. Das Prinzip der „Einführung des Subjekts in die Biologie“ liegt Weizsäckers „anthropologischen Wende“ zu Grunde.31 Es erweist sich als äußerst tauglich und entwicklungsfähig, vor allem auf praktischem Gebiet, in der Beziehung zwischen Arzt und Patient. Seine Bedeutung aber erstreckt sich auch auf das Gebiet der Psychoanalyse und der sozialen Medizin. Die Einführung der Subjektivität in die Lebenswissenschaften hat in erster Hinsicht den Wert einer „Forschungsmaxime“, nicht nur für die Medizin oder Anthropologie, sondern für die Erforschung des Lebenden überhaupt. Mit der Berufung auf dieses Prinzip erweist sich eine Spaltung zwischen einem subjektiven Bereich (demjenigen des Beobachters, außenstehend und gegenüber etwas positioniert, das zu beobachten ist) und dem objektiven Bereich des Beob-
29 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 180. 30 Ebd., S. 193. 31 Siehe T. Henkelmann, Viktor von Weizsäcker, S. 15. Zu Weizsäckers anthropologischer Medizin lassen sich konsultieren: E. Luther, Historische und erkenntnis theoretische Wurzeln der medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers, Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität, Halle 1967; U. Zonn, Zum Menschenbild Viktor von Weizsäckers, Zürich 1970; S. Dressler, Viktor von Weizsäcker. Medizinische Anthropologie und Philosophie, Wien, Berlin 1989; R. Wiehl, „Ontologie und pathische Existenz. Zur philosophisch-medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers“, in: Zeitschrift für klinische Psychologie, Psy chopathologie und Psychotherapie 38/1990, S. 263-288.
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achteten als unmöglich: Die Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem ist ein Verhältnis zwischen Subjekten, deren Distanz voneinander nicht die Bedeutung einer gegenseitigen „Fremdheit“ hat, sondern eine gegenseitige Vereinnahmung impliziert. Die Bedeutung des „Subjekts“ ist ontologisch erweitert verglichen mit der verfestigten Tradition, die die Sphäre der Subjektivität mit dem psychischen und rationalen Bereich identifizierte. Wie gesehen, auch innerhalb der Theorie der organischen Realität Plessners gehört die Subjektivität zur lebenden Natur selbst: Sie entsteht mit dem Organischen und konstituiert dazu das spezifischste Wesensmerkmal. In Weizsäckers Denken nimmt das Lebende als Wesenszug jene Seinsform an, die ihm Aktivität und Passivität zugleich zukommen lässt. Das pathisch Seiende fühlt und reagiert, „es erleidet“, im Unterschied zu jedem anderen „ontischen Körper“. Die Anwesenheit des Subjekts ist verantwortlich für diesen ontologischen Zug; und sie ist die Ursache der „Leidens“-Auslegung, die Weizsäcker dem lebenden Körper beimisst. Der ganze Lebensbereich, die gesamte Domäne des Pathischen, spricht sich aus in einer Art „Schmerzensordnung“; und auf unmittelbar praktischer Ebene erweist sich der Schmerz als Anreiz zur intersubjektiven Beanspruchung, Ursache des Kontakts und der Interaktion zwischen Subjekten.32 Der Organismus durchläuft seine Lebensspanne im Schwanken, der Krise ständig ausgesetzt. Das Phänomen der Krise stellt das Subjektive bloß: Mit dem Bruch im regulären und planbaren Verlauf wird die Typik der Lebensrealität deutlich; Improvisation und die Unmöglichkeit eines kausalen Gefüges sind hier charakteristisch.33 Die Krise ist nicht als Wirkung einer Ursache ableitbar; und als Ursache verstanden lässt sie keine Wirkungen als Ableitung zu. Der Krisenstatus ist nämlich keine banale Wirkung, sondern ein neues Ereignis, das sich in plötzlicher Weise und unabsehbar im geregelten Gang des Lebensprozesses einstellt: Er ist ein Riss im Inneren des Subjekts. Das Verständnis seines Sich-Verwirklichens nötigt zur Aufgabe des Kontinuitätsprinzips. Der Bruch greift in die subjektive Identität ein, sodass sich ein neuer Verlauf ergibt. Die Subjektivität findet ihr Wesen nicht in stabiler Ruhe; es ist das Werden, das dem spezifischen Sein des Lebenden den Rhythmus vorgibt und Subjektivität kann sich lediglich in der Unruhe einer fortschreiten32 V. von Weizsäcker, „Die Schmerzen“ (1926), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 27-49, hier S. 49. 33 V. von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, S. 297.
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den Rekonstruktion konstituieren: „Man kann sagen: Wir merken das Subjekt erst richtig, wenn es in der Krise zu verschwinden droht. Man glaubt erst dann an manche Dinge“, so Weizsäcker, „wenn man sie nicht mehr hat. Das Subjekt ist kein fester Besitz, man muss es unablässig erwerben, um es zu besitzen.“34 Der Nexus zwischen subjektiv und objektiv, der Weizsäckers Konzeption durchzieht, taucht auch auf in der Bewertung der positionalen Existenz im Denken Plessners. Wenn bei Weizsäcker dieser Nexus sich in besonderer Weise vermittels der Krisenphänomene zeigt, dann bei Plessner auf der höchsten Stufe in der Reflexivität, die für die Positionalität des Menschen typisch ist. Der Mensch ist bei Plessner kulturelles und natürliches „Subjekt-Objekt“. Die Wurzel der psychophysischen Einheit, von der allein ausgehend es möglich ist, die Form seiner Subjektivität zu bestimmen, befindet sich in seiner spezifischen biologischen Natur. Subjektivität ist nicht exklusives Sonderrecht des Menschen und der höher entwickelten Tiere; sie hat keine eindeutige Bedeutung und Valenz. Entstehung und Entwicklung ihrer Formen verlaufen parallel zur Abstufung des Einheitsprinzips der Vitalität, deswegen repräsentiert das Subjekt-Sein eine Funktion der organischen „positionalen Vermittlung“. Das vom Organismus erreichte Subjektivitäts-„Niveau“ entspricht der „Tiefe“ der Verwirklichungsstufe des positionalen Prozesses (zu dem auch das Bewusstsein als Resultat gehören kann). Das alles hat nichts mehr zu tun mit der Vorstellung von Subjektivität, an die uns abendländisches Denken gewöhnt hatte.35 Der positionale Körper, auch auf unterster Stufe, ist wesentlich ein Selbst, dem eigenen „einen-Körper-haben“ unterstellt im Gegenüber einer umweltlichen Andersheit. Völlig bar jedweder psychologischen Valenz repräsentieren dieses „Selbst“ und dieses „Haben“ spezifische Modalitäten des strukturell organischen Wesens. Der Subjekt-Begriff ist voll und ganz synonym mit „Organismus“ und seine Eigenschaften modifizieren sich konform mit den Stufen des positionalen Organismus. Das Lebende als solches, das positionale Sein in seinen konstitutiven Modalitäten ist Subjekt als „Träger“ seines ontischen Zustands. Subjektiv ist nach Plessner jener Seinsmodus des Körpers, demzufolge – indem das Seiende sich 34 Ebd., S. 300 f. 35 Spätestens ab Kant wird das Subjektive generell gleichgesetzt mit dem Bewusstsein als solchem, mit dem sich selbst bewussten Ich, mit der Gesamtheit der psychischen Phänomene, die auf den Bezug auf das Selbst hindeuten.
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ins Verhältnis setzt zu sich selbst und zu dem von sich Unterschiedenen – eine vermittelnde und vermittelte Individualität konstituiert wird. Das Bewusstsein tritt lediglich als gesonderte Modalität jener charakteristischen und bedeutungsträchtigen Art und Weise des „Habens“ und des „Seins“ auf, die das subjektiv Seiende charakterisiert; d. h. es repräsentiert nur eine ganz besondere Art von reflexiver Selbstvermittlung. Und in gleicher Weise, in der Subjektivität und Bewusstsein nicht übereinstimmen, sind auch Bewusstsein und Ichheit nicht gleichbedeutend.36 Der Übergang vom einfachen Bewusstsein des eigenen Körpers und der Umwelt, mit dem auch das Tier ausgestattet ist, zum Bewusstsein, ein „Selbst“ zu sein und sich gegenüber Objekten (gegenüber nicht nur Gebrauchs-, sondern objektivierten Dingen) zu befinden, bestimmt sich vermittels der „totalen Reflexion“ des Lebenden auf sich selbst. Auf diese Weise erhält der positionale Körper Selbstbewusstsein, indem er sich perspektivisch „hinter sich“ oder jenseits seiner selbst beobachten kann. Als Ichheit ist der Mensch zweifach von sich fern: als „Selbst“ von seinem „Leib“ und als Ich von seinem „Selbst“: In die Mitte seiner Existenz gestellt, kennt er seine Position und ist deshalb außerhalb seiner selbst geworfen. Trotz seiner animalischen Zentrizität wird er „exzentrisch“. Die exzentrische Position stellt Plessners Menschen jenseits seiner selbst, sie zwingt ihn sich mit seinem „Zentrum-Sein“ auseinanderzusetzen, seine Entfernung von sich selbst und das Vorhandensein fester Grenzen zu erfahren, die seiner Fähigkeit zum Überleben und seinen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Welt und auf sich selbst vorgegebenen sind. Vermittels der Reflexion verschafft er sich Gewissheit über seine Begrenztheit und er projiziert sich in die „Möglichkeit des Unendlichen“. Das Exzentrische wird sich also seiner Wurzellosigkeit bewusst, seiner Instabilität und seiner Gewissheiten, indem es das Bewusstsein seiner Nichtigkeit zusammen mit der Nichtigkeit der Welt erfährt.37 Die Reflexion auf die antilogische Natur des Lebens führt auch Weizsäcker immer wieder zu dieser Schlussfolgerung: „Im Sprung, zeitlos stürzend in den Abgrund, oder auch ihn überschwebend, existieren wir aber im Nichts.“38 Im Denken Plessners erfährt das Bruchmoment (Hiatus) – äqui36 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 112. Siehe außerdem: Ebd., S. 310. 37 Ebd., S. 149. 38 V. von Weizsäcker, Begegnungen und Entscheidungen, S. 372.
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valent zu Weizsäckers „Sprung“ in Bezug auf die Krise – zunehmendes Gewicht im dialektischen Evolutionsschema, in dem das Motiv der „Spaltung“ – und der Nichtrückführbarkeit der Kontraste – der organischen Prozessstruktur eine Neigung zum „Ungleichgewicht“ und zur „Disharmonie“ erzeugt. Diese Tendenz repräsentiert für sich nicht unbedingt eine tatsächliche Affirmation des Negativen. Dennoch bereitet sie den Weg hin zu einem äußersten Konflikt, der charakteristisch ist für das selbstbewusste Subjekt, das im „Selbstverlust“ die Leere der existenziellen Inkonsistenz findet. Andererseits begegnet der Organismus in der Abfolge der biologischen Entwicklungsphasen, d. h. in der konkreten Dimension der materiellen Existenz, notwendigerweise dem Tode, einem entscheidenden, nicht mehr vermittelbaren Negativ. Das Subjekt, das auf dieser Gegebenheit verharrt, kann sich laut Weizsäcker nicht dem Gedanken entziehen, dass „hier nicht mehr a negativo konstruiert und operiert wird, sondern hier ex nihilo gelebt und gestorben wird.“39 Indem das dialektische Prinzip dem Leben den Weg eröffnet, verurteilt es dasselbe zur Unruhe – so das unausweichliche Ergebnis der Reflexion Plessners und stets wiederkehrendes Thema in den Schriften Weizsäckers, der präzisiert: „Der tiefere Grund der pathischen Unruhe ist der, daß ein Lebewesen nicht in sich ruht, sondern zugleich dasselbe und doch ein sich änderndes, also ein werdendes Wesen ist.“40 Um sich wiederzufinden, muss der Mensch umkehren, muss sich erneut betrachten und sein Fundament, auch wenn es unerreichbar ist, suchen. Das „Drehtürprinzip“,41 demzufolge das In-Erscheinung-Tretende notwendigerweise seinen eigenen Gegenpart verhüllt, bedingt die Verdunkelung dessen, von dem sich der Blick abwendet, bedingt den fatalen Ausschluss eines Teils von sich selbst und der eigenen Existenz: „Wir erfahren dabei“, schreibt Weizsäcker, „auch etwas über den Grund der Unruhe, der offenbar der Ausdruck der Widerspruchsnatur unserer Existenz ist.“42 Der wiederholte Verlust ist Voraussetzung des möglichen Wiederfindens und das Subjekt muss – um sich selbst zu identifizieren – immer erneut dem Krisenprozess sich übergeben: „Das Wesentliche der Krise ist nicht nur der Übergang von einer Ordnung zu einer anderen, sondern die Preisgabe der Kontinuität oder Identität 39 40 41 42
Ebd. V. von Weizsäcker, „Anonyma“, S. 53. Zum „Drehtürprinzip“ siehe V. von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, S. 124 f. V. von Weizsäcker, „Anonyma“, S. 55.
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des Subjekts.“43 Die Stabilität des Subjekts durchläuft notwendigerweise Akte der Transzendenz. Das gleiche trifft für Plessners exzentrischen Menschen zu: Die Transzendierung ist ihm wesentlich. Die Anerkenntnis der Individualität der Welt, der eigenen Einzigartigkeit und das „Anders-Sein“-Können enthüllen ihm die Zufälligkeit seines Hier-und-jetzt-Seins und zwingen ihn, sich über den letzten Grund der Welt zu befragen. Die Suche nach dem Absoluten – auf Grund des Bedürfnisses nach einem „festen Punkt“, nach einer Prima Causa – stellt den Menschen an einen „utopischen Standort“; hier wurzelt die Religion. Die Religiosität versucht den Menschen eines definitivum zu versichern, d. h., dessen, was ihm Natur und Geist nicht geben können. Die Unruhe jedoch hört nicht auf. Da der Mensch nie da ist, wo er sich befindet, wird auch die Transzendierung selbst oft transzendiert, sodass der Mensch das Opfer von Unsicherheit bleibt: „Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer Standort zwingt ihn den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten.“44 Ein offensichtlicher Unterschied ist dabei nicht gering zu achten. Weizsäckers Gedankengänge (besonders die des späten Weizsäckers) nehmen oft eine mystische Konnotation und dunkle, leidende Töne an. Die Unmöglichkeit einer Antwort auf die Frage nach dem Fundament der Realität wird als Versagen empfunden, als Niederlage des Menschen, der dem Bösen allein gegenüber steht.45 Eine Möglichkeit zur Rebellion gegen diesen Sachverhalt zeigt sich im Erfahren eines amor fati, das nur vage an Nietzsche erinnert. Dieser amor fati ist gleichfalls stolz, aber weniger fröhlich und mächtig: „[…] der Fromme erfährt solches als Gotteswille und Gnade“, schreibt Weizsäcker, „der Unfromme als große eigene Leidenschaft.“46 Im Übrigen sieht die „monadische“47 Kondition des Menschen eine gewisse Freiheit vor, gestattet aber ausschließlich flüchtige, unbeständige „Begegnungen“, wenig mehr als „anonyme Erfahrungen“.48 Plessners Mensch ist nicht gleichermaßen eingefangen in eine „pathische“ Dimension. Obwohl zu fortwährender Suche und Unbefriedigtsein bestimmt, ist das ex43 44 45 46 47 48
V. von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, S. 298. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 424. Siehe V. von Weizsäcker, „Anonyma“, S. 67 f. Ebd., S. 68. Ebd., S. 61. Ebd., S. 63 f.
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zentrische Sein schon von vornherein in eine „Mitwelt“ gestellt, partizipiert an Weltanschauungen, an kollektiven Entwürfen. Sein Sinn für Solidarität bietet ihm die Chance, die Einsamkeit der Individualität zu überwinden und an das soziale Leben zu glauben.49
49 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 422.
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Helmuth Plessner und Adolf Portmann. Zur philosophischen Bestimmung des Menschen durch Exzentrizität und Frühgeburt
1. Helmuth Plessner und Adolf Portmann: zwei Outsider Plessner beeinflusst Portmann sicher stärker als umgekehrt Portmann Plessner und seine Stufen beeinflusst. Und das nicht nur aus anagraphischen Gründen, sondern eher weil ihre jeweiligen Grundwerke mit einem Abstand von fünfzehn Jahren erscheinen, d. h. 1928 Die Stufen des Organischen und der Mensch und 1944 Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Portmann erkennt außerdem schon in den Biologischen Fragmenten an, was er Plessner verdankt – der mit gutem Recht zu seinen wichtigen philosophischen Bezugspersonen gerechnet werden kann.1 Portmann hingegen wird vor allem von Plessner ab den sechziger Jahren massiv rezipiert. Beide Denker agieren im Klima der anthropologischen Wende, indem sie sogar als bedeutsame Protagonisten auftreten. Über die seit Jahren virulente Frage, wer der Gründer oder wer die Gründer der philosophischen Anthropologie seien, hinaus, ist festzuhalten, dass neben Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos, Plessners Die Stu fen des Organischen und der Mensch oder Gehlens Der Mensch auch Portmanns Zoologie und das neue Bild des Menschen2 ohne Zweifel zu den Eckpfeilern des anthropologischen Gedankens in der Zeit seiner größten Verbreitung gehört – d. h. bis zu den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Michael Landmann rechnet es zu den sechs anthropologischen Klassikern der Gegenwart3 und Hans-Eduard Hengs-
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Dazu gehören sicher auch Frederik Buytendijk, Martin Heidegger, Karl Jaspers, Wil helm Szilasi. Vgl. zu den Beziehungen zu Szilasi H. Müller, Philosophische Grund lagen der Anthropologie Adolf Portmanns, Weinheim 1988, S. 19-25. A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1951, S. 1-145. Mit Plessner, Gehlen, Rothacker, Alsberg und Cassirer; vgl. M. Landmann, Philoso phische Anthropologie, Berlin 1976, S. 201.
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tenberg zögert nicht, von einem „Portmann-Phänomen“ zu sprechen. Auch als Marjorie Grene in den USA die philosophische Biologie verbreitet, bezieht sie sich auf fünf Autoren: Helmuth Plessner, Adolf Portmann, Frederik J. J. Buytendijk,4 Erwin W. Strauss und Kurt Goldstein als die Förderer eines geistigen Ansatzes, der „als neuer Ansatz einer ideologiefreien, der Sonderstellung des Menschen verpflichteten anthropologischen Betrachtungsweise unsere humane Eigenart mitten in dieser wissenschaftlich-technischen Zivilisation von Spaltung und Zerstörung bewahren will.“5 Adolf Portmann hat zwar nie versucht, eine systematische Aufarbeitung seines philosophischen Gedankens vorzuschlagen, sein biologischer Ansatz jedoch hat sich als einer der ertragreichsten im Bereich der anthropologischen Philosophie erwiesen. Der von Joachim Fischer vorgeschlagenen Leseart folgend, stammen Portmann und Plessner, im Unterschied etwa zu Gehlen und Rothacker, die zum Reich gehörten, aus der Peripherie des Reiches;6 und das nicht nur im politischen, sondern auch im akademischen Sinne. Keiner von beiden gehört tatsächlich zum „Club“, wie es Illies formuliert, und zwar genau betrachtet, weil beide als Andersdenkende zur dominierenden wissenschaftlichen Ideologie der damaligen Universitäten in Opposition treten.7 Beide überarbeiten ihre Konzeption vor dem gemeinsamen Hintergrund der Forschung von Uexküll,8 Buytendijk und André.9 Sie eignen sich hauptsächlich das Konzept der Weltoffenheit an – wobei sich beide gleichermaßen von einer reduzierten Interpretation der menschlichen 4 5 6 7
8 9
Zu Plessner und Buytendijk vgl. den Beitrag von Becker in diesem Band. J. Illies, Das Geheimnis des Lebendigen. Leben und Werk des Biologen Adolf Port mann, München 1976, S. 189. (Zitat M. Grene) J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München 2008, S. 135. Portmann fehlt paradoxerweise in den Lehrbüchern der Biologie, obwohl er bei den Philosophen – von Heidegger bis Jaspers, Plessner, Gehlen usw. – dank seines Beitrags zur Theorie des Menschen zu den einflussreichsten Denkern zählt. Vgl. J. Illies, Das Geheimnis des Lebendigen, S. 133. Vgl. den Beitrag von Köchy in diesem Band. In den 1930er Jahren interessiert sich Portmann für Plessner vermittelt durch den Botaniker Hans André, mit dem er eine lange Brieffreundschaft pflegte – und hatte mit Plessner später direkten, persönlichen Kontakt. Fischer berichtet, dass Portmann Plessner in ein Projekt involvierte, das die Gründung der Werner-Reimers-Stiftung vorsah, die sich der anthropologischen Forschung widmete. Vgl. J. Illies, Das Ge heimnis des Lebendigen, S. 24 und S. 166; J. Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 345-361.
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Umwelt abgrenzen; beide heben den Erscheinungscharakter von Lebewesen hervor, einen Ansatz, den sie mit Buytendijk teilen, der jedoch vom demonstrativen Seinswert der Organismen spricht.10 Außerdem verbindet sie eine klare Distanzierung von Schelers Auffassung des Geistes. Die Isolierung des Menschen, die er – und Klages –, erzeugen, indem sie ein typisch Menschliches, den Geist, behaupten, lässt jede Art von übergreifender Lebensforschung unmöglich werden.11 Scheler stellt sich der Idee entgegen, dass der Mensch auch in seiner Tierheit von Anfang an mit dem Geist eins sein kann, indem er den Geist auf Grund seiner metaphysischen Orientierung als gegensätzlich zum Leben konzipiert: Das, was den Menschen ausmacht, steht damit außerhalb von dem, was wir Leben nennen. Und so ist Portmann davon überzeugt, der Einfluss Schelers steigere „eine Auffassung vom Menschen, welche die jetzt sich formende Anthropologie schon seit beträchtlicher Zeit in immer wieder erneuten Versuchen überwinden möchte. So wie die Biologie in der Erforschung des tierischen Lebens die Spaltung in Soma und Psyche durch den Rückgriff auf eine neutralere Sphäre, auf das Verhalten, zu überwinden sucht, so trachtet in den erwähnten Versuchen auch die Anthropologie nach einem Standort, der gegenüber den Trennungen in Leib, Seele und Geist neutralisiert ist. Schon einzelne frühere Versuche der Deutung des Menschen, wie sie etwa Marx unternommen hat oder später in Amerika John Dewey, gelten diesem Bestreben. Helmuth Plessner hat in seiner bedeutsamen Abhandlung von 1928 an der gleichen Zielsetzung mitgeholfen.“12
10 Auf diese Beziehung weist auch F. J. J. Buytendijk hin, indem er vom „demonstra tiven Seinswert der Organismen“ spricht, im Unterschied zu Portmann, der vom „Darstellungswert der Gestalten“ spricht (A. Portmann, „Die Biologie und das Phä nomen des Geistigen“, in: ders., Biologie und Geist, Freiburg, Basel, Wien 1963, S. 22). Vgl. A. Portmann, Die Tiergestalt, Freiburg, Basel, Wien 1965, S. 227. 11 Vgl. A. Portmann, „Der Mensch. Ein Mängelwesen?“, in: ders., Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 1970, S. 207; A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, Zürich 1965, S. 236-237. A. Portmann, Biologie und Geist, S. 34: „Schelers Auffassung der biologisch erfaßbaren Aspekte des Menschen war trotz seiner Kampfposition eben doch bestimmt durch die in seiner Zeit gangbarsten wissenschaftlichen Meinungen und durch eine metaphysische Voreinstellung zum Geist.“ 12 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 237.
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2. Zur Bedeutung Plessners für Portmanns Anthropologie Plessners Stufen stellen daher einen wichtigen Bezugspunkt für Portmann dar und das zeigen auch die vielen Verweise, die wir in den verschiedenen Werken des Biologen finden.13 Die Anlage der Gedankengänge Portmanns ist eng mit dem von Plessner geleisteten Versuch der exzentrischen Positionalität verbunden. Wir könnten sogar sagen, dass er die Idee der Expressivität des Lebewesens verwendet (vgl. Plessner und Buytendijk) und ebenso die Idee der Grenze, die er in die Zoologie zu übertragen versucht. Bei seinem Versuch, eine Morphologie als Wissenschaft zu erarbeiten, behauptet Portmann, dass die Formen der Lebewesen ein Mittel sind, dank dessen das Leben nicht nur die Selbsterhaltung des Individuums und der Art sicherstellt, sondern vor allem auch sich selbst ausdrückt.14 Auf Grund seiner zahlreichen und bekannten Studien zur Mimikry, zum Gefieder der Vögel oder zur Färbung der Fische zeigt er, wie der Primärzweck des Lebens ästhetischer Natur ist; die auffallende Vielfalt an Formen und Farben entspringt dem Wunsch der Natur, sich selbst darzustellen. Diese „Selbstdarstellung“ ist das primäre Ziel des Lebens. Jener Erscheinungscharakter verstärkt sich übermäßig, wenn man von tendenziell transparenten, halbtransparenten oder opaleszierenden Organismen – die durch eine perfekte Übereinstimmung von interner und äußerer Gestalt geprägt sind – zu Organismen mit undurchsichtiger Oberfläche übergeht. Die undurchsichtige Oberfläche wird ein vollkommenes Organ, dessen Ziel nicht nur ist, das Innere zu schützen und eine Wechselwirkung mit dem Äußeren zu ermöglichen, sondern Innerlichkeit auszudrücken und zu vermitteln. Mit dem Übergang zur undurchsichtigen Form zeichnet sich, in anderen Worten, eine Opposition zwischen Innen und Außen ab, die bei den
13 So etwa (um nur einige der deutlichsten Passagen zu nennen) in A. Portmann, Entläßt die Natur den Menschen?, S. 18-19, S. 40-57, S. 107; A. Portmann, Biologie und Geist, S. 3-45, S. 160, S. 266-271; A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 13-32, S. 33-57, S. 158, S. 237, S. 241, S. 243; A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 11, S. 66. 14 A. Portmann, „Selbstdarstellung als Motiv der lebendigen Formbildung“, in: Geist und Werk. Aus der Werkstatt unserer Autoren. Zum 75. Geburtstag von Dr. Daniel Brody, Zürich 1958, S. 166: „Wenn Lebewesen nicht deshalb da wären, damit Stoffwechsel getrieben werden, sondern Stoffwechsel treiben, damit das Besondere, das sich in Weltbeziehung und Selbstdarstellung verwirklicht, eine Weile in der Welt Bestand habe?“
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durchsichtigen Organismen nicht existiert und die die Geburt eines zweidimensionalen Systems markiert, das „weitgehend unabhängig von den Strukturen des Innern“15 ist und das die Bildung des zentralen Nervensystems fördert. Diese Zentralität führt dazu, dass die Einbindung des Tieres in die Welt über Akte der Vermittlung erfolgt, so dass die Innerlichkeit (das Ganze der mit der Umwelt verbundenen Tätigkeiten) sich immer häufiger des äußeren Anscheins des Organismus bedient. Das Äußere oder das vom Inneren Getrennte bringt die Geburt einer Grundform der Innerlichkeit mit sich. Der ganze Organismus entwickelt indirekte Kommunikationsfähigkeiten der Selbstdarstellung, durch die er lernt, symbolisch mit dem Äußeren in Kontakt zu treten und zwar mit Hilfe von Farben, Verzierungen, Zeichnungen, Wörtern usw. Die Undurchsichtigkeit erlaubt vor allem eine Art von Verstecktsein und somit eine erste Form der Nichtidentifizierung mit dem Inneren selbst; sie gibt dem Organismus die Möglichkeit, sich selbst sowohl darzustellen als auch zu verstecken, sich sowohl auszugleichen, eine innere Funktionalität auszudrücken, als auch eine freie veranschaulichende Wiedergabe des Selbst zu liefern.16 „Was H. Plessner 1928 in seiner Darstellung der ‚Grenze‘ hervorgehoben hat, daß sie nämlich zum Organismus gehört, aber über ihn hinauswirkend Weltbeziehung durch Überschreiten der Körperlichkeit stiftet, das gilt in einer ganz besonderen Weise von der opaken Grenze, die durch Erscheinen im Licht zu einer Fläche der Darstellung, der Kundgabe wird. Die Grenzfläche, die opak wird, stellt einen höheren Grad der ‚Grenzmöglichkeiten‘ dar […].“17 In einem gewissen Sinne erkennt Portmann, dass sein Konzept der undurchsichtigen Grenze in Plessners Theorie der Expressivität voll entfaltet wird und auf eine gewisse Weise den Kern von dessen Gedanken darstellt. Die Grenze in Kontakt mit dem Licht, erlaubt die Ausbildung nicht adressierter Kommunikationsmöglichkeiten, die sich an kein Lebewesen wenden, sondern im wahrsten Sinne des Wortes 15 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 16. 16 Vgl. A. Portmann, „Um eine basale Anthropologie“, in: ders., Biologie und Geist, S. 244: „[…] sieht man die lebendigen Tätigkeiten in ihrem vollen Reichtum, so erhalten auch Verhaltensweisen eine Bedeutung, die nicht unmittelbar dem elementaren Erhaltungskreislauf eingegliedert, sondern zum Beispiel Ausdruck einer Hochstimmung sind, denen also kein sozialer Signalwert, sondern ein Darstellungswert zukommt.“ 17 A. Portmann, Entläßt die Natur den Menschen?, S. 54.
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Ausdruck der Innerlichkeit sind.18 Plessners Annahme einer Grenze – darin inbegriffen die Unterscheidung von exzentrisch und konzentrisch, die sie mit sich bringt und die Artikulierung von Körper-haben und Leib-sein19 – ermöglicht Portmann philosophisch die Einführung anthropologischer Voraussetzungen seiner Konzeption der Selbstdarstellung des Lebendigen und der extrauterinen Frühzeit. Im Menschen erlebt diese Selbstdarstellung ihren Höhepunkt. Nur bei ihm können wir, Portmann zufolge, von Innerlichkeit in voller Bedeutung im Sinne von Reflexivität oder Bewusstsein sprechen. Da der Mensch eine Frühgeburt ist – Portmanns bekannter Theorie der extra uterinen Frühzeit zufolge – lebt er sein erstes Jahr in einem sozialen Uterus. Jede seiner Kundgebungen, sei sie auf die Erhaltung oder auf den Ausdruck gerichtet, gehört in den Bereich der Wahlentscheidungen, stellt also eine künstliche und schöpferische Weise dar, historisch frei und flexibel auf natürliche Notwendigkeiten zu reagieren. „Dieser Darstellungsfunktion dient nicht nur die Stimme, die Gebärde, sondern auch die gesamte menschliche Technik. Sie ist von allem Anbeginn an mehr als der Ausgleich von Mängeln, sie leistet mehr als die bloße Kompensation von organischen Schwächen, sie ist nicht nur ein Ersatz fehlender somatischer Organe durch geistige Werke, sondern stets auch eine Organ-Überbietung, in der sich der Drang nach Selbststeigerung als Glied unserer humanen Darstellungsfunktion machtvoll äußert.“20 Die Weltoffenheit, Tochter der physiologischen Frühgeburt, befreit den Menschen einerseits, andererseits zwingt sie ihn jedoch zu einer Ursprungsgesellschaft, in der das „wir“ vor dem „ich“ kommt. Sie zwingt ihn außerdem noch zu handeln, um seine künstliche, indirekte und utopische Reife zu erreichen, die immer erreicht werden muss. Der Mensch, der eine stabilisierte Frühgeburt ist, ein dürftig entwickelter Nesthocker,21 ist um seine Zukunft besorgt, sieht voraus und plant, programmiert sich durch Erziehung, technische Rationalität und agiert in der Geschichte. Mit anderen Worten, Portmann ist davon überzeugt, „die Evolution des Lebendigen sei von jetzt an in unsere 18 Ebd.; A. Portmann, „Um eine basale Anthropologie“, S. 240: „Das Äußere wird zu einem Erscheinungsfelde, das der Darstellung und der Kundgabe dient und das sich stark von der Apparatur der Erhaltung absondert.“ 19 Vgl. A. Portmann, „Spiel und Leben“, in: ders., Entläßt die Natur den Menschen?, S. 236; A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 66. 20 A. Portmann, „Um eine basale Anthropologie“, S. 238. 21 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 38.
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Hand gegeben, wir seien voll verantwortlich für sie und damit auch verpflichtet, die neue Aufgabe zu erfassen und durchzuführen“.22 Portmann eignet sich mindestens die ersten beiden anthropologischen Grundgesetze der Stufen an und tritt damit, auch anhand seines Konzepts der Frühgeburt, in die Fußstapfen Plessners: Der Mensch ist von Natur aus ein geistiges Wesen, das eine sekundäre Welt erschafft und das sich indirekt in die Welt einfügt: „Diese Anerkennung des Geistigen als ein Glied unserer zweiten Natur, dieser ‚natürlichen Künstlichkeit‘, wie H. Plessner unsere Lebensform genannt hat, hat schließlich in den letzten Jahren dazu geführt, so extrem abweichende Vertreter wie P. Teilhard de Chardin und Sir Julian Huxley in einem Lager zu vereinigen, in dem im übrigen recht Verschiedenes sich zusammengefunden hat.“23 Daher ist der Mensch im Wesentlichen ein historisches und künstliches Wesen: Er ist gezwungen, in seiner Unmittelbarkeit, künstlich in seiner Naturalität,24 sozial in seiner Individualität, relativiert zu werden. Die Tatsache, während des einjährigen Aufenthaltes im sozialen Uterus überlebt zu haben, lässt den Menschen zu einem einzigartigen Wesen werden, in dem das „wir“ einen grundlegenden Vorrang vor dem „ich“ besitzt und das von Anfang an im Flussbett einer zweiten Natur agiert, die sich neben die Natur in ihrer selektiven und wandelbaren Rolle stellt. Im Gegensatz zu der Annahme der Neodarwinisten „sind die entscheidenden menschlichen Varianten nicht die erblichen Mutationen, sondern die Träger besonderer geistiger Leistungen auf den verschiedensten Gebieten des Soziallebens, die Träger schöpferischer Ideen“.25
3. Die Wiedergewinnung Portmanns durch Plessner Vom Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts an und vor allem in den sechziger Jahren wird die Interaktion zwischen den beiden Autoren intensiver. Jetzt ist es Plessner, der sich die Biologie Port22 A. Portmann, Entläßt die Natur den Menschen?, S. 345. 23 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 241; In Biologie und Geist (S. 268 f.) spricht Portmann ausdrücklich von „natürlicher Künstlichkeit unserer Kultur formen“. 24 Es ist offensichtlich, dass „die natürliche Wesensart des Menschen ‚historisch‘ ge schichtlich ist“ (ebd.). Vgl. auch S. 40 f. 25 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 240.
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manns zunutze macht und in gewissem Sinne seine Stufen neu im Licht des extrauterinen Frühjahrs liest. 1957 hatte Portmann zu der Festschrift für Helmuth Plessner durch einen wichtigen Aufsatz mit dem Titel Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfeld26 beigetragen. Plessner veröffentlicht darauf eine Reihe von Aufsätzen, in denen er sich mehr oder weniger auf die Arbeit Portmanns bezieht und seine Verdienste anerkennt: Conditio humana (1961), Ein Newton des Grashalms (1964), Der Mensch als Naturereignis (1965), das Vorwort zur zweiten Ausgabe der Stufen (1965).27 1967 erscheint dann der bedeutungsvolle Aufsatz Plessners zum 70. Geburtstag von Adolf Portmann Der Mensch als Lebewesen.28 Im zuletzt genannten Beitrag benutzt er die Theorie der Frühgeburt, um der exzentrischen Positionalität eine biologische Grundlage zu geben und so gelingt es ihm, die Geistlichkeit des Menschen zu erklären, ohne weder dem Biologismus noch dem Spiritualismus zu verfallen. Mit anderen Worten, so wie Portmann die Exzentrizität Plessners aufgewertet hatte, um seinen Gedanken vom Ausdrucksund Darstellungswert hervorzuheben, so benutzt Plessner die Idee der extrauterinen Frühzeit, um der Theorie von der exzentrischen Personalität ein biologisches Fundament zu geben, indem er sie in ihrer genetischen Dimension erfasst. Auf diese Weise antwortet Plessner indirekt denjenigen, die gegen ihn einwenden, er habe die Exzentrizität nicht in ihrer historischen und sozialen Entwicklungsdimension analysiert und nicht geklärt, ob sie das Ergebnis einer historisch-genetischen Entwicklung sei oder aber eine feste transzendentale Struktur des Menschen darstelle.29 26 A. Portmann, „Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde“, in: ders., Entläßt die Natur den Menschen?, S. 40-57. 27 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. VII-XXIII. 28 H. Plessner, „Der Mensch als Lebewesen“, in: ders., Conditio humana, Gesammelte Schriften, hrsg. G. Dux et al., Bd. 8, Frankfurt a. M. 2003, S. 314-327. 29 Nach Günter Dux gilt: „Die von Plessner entworfene Anthropologie bleibt, gebun den an eine absolutistische Denkstruktur, darin fundamentalistisch, daß sie diese Verschränkung als statische Gegebenheit einer auf den Begriff der exzentrischen Positionalität fixierten Verfassung einschreibt. In dieser Fundamentalisierung bleibt die Geistigkeit selbst undurchsichtig; sie wird einer letztendlich absolut gedachten und eben deshalb unergründlichen Substanz im Menschen zugeschrieben. Exakt darin gehen wir in einer historisch-genetischen Theorie über Plessner hinaus.“ (G. Dux, „Für eine Anthropologie in historisch-genetischer Absicht. Überlegungen zur philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners“, in: U. Wenzel, G. Dux (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen
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In einer bestimmten Hinsicht erweisen Plessner und Portmann sich gegenseitig als zweckdienlich, da die jeweiligen Theorien des anderen in der Lage sind, der eigenen Theorie eine Grundlage zu geben. So haben die hier genannten Texte von Plessner den Verdienst oder die Charakteristik, versuchsweise eine Erklärung der Conditio huma na als Naturereignis zu geben. Besonders in Menschen als Lebewesen versucht Plessner, die Kategorie in seinen Gedanken zu deklinieren, als er die Ideen Portmanns erfasste. So wird die Fähigkeit des Menschen, sich von außen als ein Ganzes zu sehen, sich als ein „Ich“ zu bezeichnen, den eigenen Körper zu manipulieren, im eigenen Körper zu sein und einen Körper zu haben, Prothesen zu erstellen – ein Prothesenproteus zu werden – künstlich zu sein, in engem Zusammenhang mit den ersten Jahren des menschlichen Lebens gesehen. „Adolf Portmann hat das große Verdienst, den Charakter dieser Vorbereitungszeit biologisch zum ersten Mal deutlich bestimmt zu haben.“30 Das extrauterine Frühjahr, zusammen mit dem aufrechten Gang und der Sprache versetzen den Menschen in einen Zustand der endgültigen Trennung vom Tier, der Invalidität, aber auch der Exzentrizität, des Risikos, aber auch der Kreativität. Die Positionalität, die auf dem Konzept der Grenze basiert, die das Innere und das Äußere in Kommunikation miteinander bringt und somit Innerlichkeit schafft, drückt sich auf eklatante Weise in der undurchsichtigen Grenze Portmanns aus. Umgekehrt liefert die biologische Frühreife des Menschen, der vorzüglichsten Art, die Grenze zu realisieren und auszudrücken, eine biologische Grundlage, die den Menschen ausmacht: Die Exzentrizität, mit all dem, was sie an Mittelbarem und Künstlichem mit sich bringt, hat in der extrauterinen Frühzeit eine ihrer Voraussetzungen. „Mit dem Durchbruch zum Ich ist jedenfalls eine Positionsform etabliert, die ihrer eigenen Mitte ansichtig sein kann und muß und darum nicht mehr in sich ruht. Sie hat ihren Schwerpunkt außer sich, weshalb ich von exzentrischer Positionsform spreche. Die Monopolstellung des Menschen als animal rationale, als zoon logon echon ist darin eingeschlossen, weil Vernunft, Einsicht, Versachlichung, Wortsprache nur dank des Außersichseins dieser Art Entwicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994, S. 114. Der Einwand wird von H. Fahrenbach erwidert in seinem Beitrag „‚Phänomenologisch-transzendentale‘ oder ‚historisch-genetische‘ Anthropologie – eine Alternative?“, in: U. Wenzel, G. Dux (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte, S. 64-91. 30 H. Plessner, „Der Mensch als Lebewesen“, S. 322.
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Lebewesen möglich werden.“31 Die Theorie der Positionalität Plessners basiert auf der Voraussetzung der Idee der Expressivität des Lebenden, die sie auch in sich trägt und die Portmann zu meistern versucht. Die Theorie der extrauterinen Frühzeit – mit der Weltoffenheit und der Teilinvalidität, die sie mit sich bringt – hilft Plessner, den Übergang zu legitimieren zu dem spezifischen Modus, die Grenze zu leben und zu erleben, der typisch für den Menschen ist. Dieses ist ihre mittelbare und künstliche Expressivität, die die Exzentrizität ausmacht. In demselben Aufsatz zeigt sich eine tiefe Übereinstimmung sowohl in Bezug auf die „umfassende“ Idee der Evolution als auch bezüglich der Unmöglichkeit, ohne Zweifel eine Sonderstellung des Menschen zu konstatieren. Dem außergewöhnlichen Erscheinen eines Wesens gegenüber, das in der Lage ist, die eigene Innerlichkeit in die Äußerlichkeit zu setzen (in das, was außen steht) – das also fähig ist, den eigenen Körper als ein Werkzeug wahrzunehmen, das entblößt oder geschmückt werden kann – ist die Versuchung naheliegend, den Weg des Finalismus oder den des Materialismus zu wählen. Den Menschen, so wie Teilhard de Chardin es tat, entweder als den Gipfel eines ehrgeizigen Projektes der Natur, „das vorgesehene, geheime Ziel des Lebens“ oder aber einfach als einen „Fehltritt der organischen Welt“32 zu betrachten. Zu diesem Dilemma aber wagt Plessner „nicht zu entscheiden“. Man sollte sowohl die metaphysische Drift des Idealismus als auch eine reduzierende Verhaltensordnung verhindern. Man sollte sowohl den Entwicklungsoptimismus von Schelling, Haeckel usw. vermeiden, die den Menschen an der ersten Stelle der Schöpfung, also mit Gott gleichgestellt, sehen, als auch die Vereinfachung der Ethologie, die den Menschen in allem mit dem Tier gleichstellt. Die Wahrheit lautet für Plessner: „Nach wie vor sind die Triebkräfte der Evolution unbekannt. Natürliche Auslese und Mutation spielen zweifellos dabei eine Rolle, aber zur Erklärung der transspezifischen Metamorphosen in der Geschichte des Lebens reichen beide Faktoren nicht aus.“33 Die Idee, dass die geheime Absicht der evolutionären Entwicklung im Menschen erreicht wird, ist höchst unwahrscheinlich und zwar gerade wegen einiger Argumente, die Portmann hoch schätzt. Der Reichtum, der in der 31 Ebd., S. 323. 32 Plessner, ebenso wie Portmann, ist gegen die Idee einer „orthogenetischen“ Rich tungskraft. Vgl. H. Plessner, „Der Mensch als Lebewesen“, S. 323. 33 Ebd., S. 325.
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Natur feststellbaren Formen, die Üppigkeit lebender Strukturen, die Vielfalt der Wege, die das Leben einzuschlagen versucht, um weiterzukommen, scheinen auf die Abwesenheit eines auf den Menschen hin ausgelegten Plans, hinzuweisen.34 Der auch von einem biologischen Standpunkt aus feststellbare Luxus, die „spielerische Gestaltenfülle“ – die die Morphologie auf sich nimmt – ist Zeichen einer kreativen und überschießenden Phantasie, die die Existenz eines Wesens ermöglicht, das von Natur aus „invalid“, weltoffen ist und daher zur Gebrochenheit verdammt, zur Distanz zu sich selbst, zur Kenntnis des Todes.35 Mit anderen Worten, im Menschen kann man, mehr als alles andere, „einen Antagonisten zur Sterblichkeit alles Lebens sehen, ein Aufbegehren der Natur gegen sich selbst.“36
4. Das Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen Mit der gleichen Absicht, die sich in den eben zitierten Texten zeigt, versieht Plessner 1965 die Stufen mit einem zweiten Vorwort. Dieses hat das Verdienst uns einen Schlüssel anzubieten, um die intellektuelle Verwandtschaft, die die Forschung der beiden Autoren verbindet und ihre gemeinsamen Interessen zu erschließen. Sicher fechten beide eine neodarwinistische Interpretation der Evolution an. Bekannt ist die Stellungnahme Portmanns, für den nicht alles das, was in der Natur erscheint, erklärt werden kann, indem man sich auf den Wert der Mutationen und auf die Aktion der selektiven Faktoren bezieht. Im Gegenteil, in gewissem Sinne muss Darwins Prinzip des Kampfes um das Überleben (struggle for life) als ein Element der Selbstentwicklung und der Selbstdarstellung angesehen werden,37 womit behauptet wird, dass im Leben des Organischen 34 Ebd.: „[…] entscheidend für die Zweifel am einsinnigen Entwicklungssinn ist die überwältigende Vielfalt organischer Grundformen […]“. 35 In diesem Punkt überwiegt bei Portmann die Tendenz, die Gestaltenfülle positiver und die Distanz des Menschen zur Natur weniger antagonistisch zu interpretieren. 36 Ebd., S. 327. Daher „dürfen wir das Ereignis der Anthropogenese nicht als in der Entwicklung des Lebens schon präformiert betrachten. Daß sie eine Umwälzung ausgelöst hat, die unabsehbare Folgen hat, ist für ihren Ereignischarakter typisch.“ (Ebd., S. 326) 37 Vgl. A. Portmann, „Kampf und Frieden in biologischer Sicht“, in: ders., Aufbruch der Lebensforschung, S. 89-116.
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der Überlebenswert (survival value) dem Ausdruckswert zweckmäßig funktionsgerecht ist. So könnten die kreative Phantasie der Natur und die Verbreitung der Formen erklärt werden. Die Form darf nicht nur als zweckgerecht angesehen werden, sondern als „Zeugnis der Innerlichkeit“.38 Die Morphologie hat die Aufgabe, den Akzent auf den Wert der Vorstellung der Form zu setzen (Phaneroskopie). Die Erscheinung einer sozial geschützten Innerlichkeit begünstigt außerdem die Entwicklung eines Wesens, das fähig ist, eine freie und nicht im Sinne purer Überlebenssicherung funktionale oder zweckorientierte Beziehung mit Raum und Zeit aufzubauen. Der frühreife und weltoffene Mensch „spielt“ mit der Welt: im Menschen bilden sich spielerischer Raum und spielerische Zeit, in denen das Leben sich selbst ausdrückt.39 Der monistische Evolutionismus ist eines der Hauptziele Portmanns. Es ist jedoch emblematisch, dass gerade Plessner, im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen, darüber klagt, wie er, zum 100. Jahrestag von On the Origin of Species, Gefahr läuft, als „evolutionsfeindlich, wohl gar ein Anhänger idealistischer Morphologie“40 zu erscheinen. Und das nicht nur auf Grund des Titels seines Meisterwerks.41 Und so ist es im Vorwort unübersehbar, dass er sich Portmanns Überlegungen bedient, um die Beziehung zwischen Form, Erscheinung und Selbsterhaltung neu zu definieren: „Das Aussehen als Lockmittel, Schutz (Mimikry), Abschreckung, Imponiergehabe ist in den Lebenszyklus eingebaut, aber als Aussehen und Darstellung wird die Gestalt des Organismus, wie A. Portmann sagt, zur ‚eigentlichen Erscheinung‘. ‚Selbstdarstellung muß als eine der Selbsterhaltung und der Arterhaltung gleichzusetzende Grundtatsache des Lebendigen aufgefaßt werden‘.“42 Mit dieser ausdrücklichen Dimension, die die Autoren vereint, ist die Anerkennung der spielerischen Funktion des Lebens auch durch Plessner verbunden. Nicht nur „die kreative Phantasie, die spielerische Gestaltenfülle spottet jeden Versuchs eintönig fortschreitender Evo-
38 A. Portmann, Die Tiergestalt, S. 212: „[...] die Gestaltung des Tierkörpers über die elementaren Notwendigkeiten der Erhaltung weit hinausgeht“. 39 �������������������������������������������������������������������������������� In Bezug auf das Spiel in seiner ethologischen und kosmologischen Dimension verweise ich auf meinen Aufsatz „Antropologia del gioco: A. Portmann“, in: G. Sorgi (Hrsg.), Le scienze dello sport. Il laboratorio atriano, Roma 2012, S. 157-169. 40 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. IX. 41 Der Originaltitel hätte wie folgt lauten müssen: Pflanze, Tier, Mensch. Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form. 42 Ebd., S. XXIII.
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lution, die im Menschen kulminiert“,43 sondern auch in der organischen Realisierung „liegt ein Moment absoluter Beliebigkeit, dessen wesensnotwendige Auswirkung die Irrationalität der Stammform der Organisation darstellt. Ohne diesen Wesenszug spielerischer Willkür wäre das Leben nicht mehr Leben.“44 Eng mit dem vorhergehenden Punkt verbunden ist die Ablehnung des Dualismus von Descartes, zusammen mit der dazugehörigen Kritik an einem alles erläuternden Mechanismus. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist die Übereinstimmung zwischen Plessner und Portmann bezüglich der Notwendigkeit einer Revision der „divisio mundi“45 und der totalen Äquivalenz zwischen Ausdehnung und Messbarkeit, physischer Realität und Berechenbarkeit, vollständig. Jener Ansatz sieht tatsächlich vor, dass „die meßfremden, qualitativen Eigenschaften der Körper nicht zum Wesen der Körperlichkeit gehören.“46 Das würde allerdings das Plus, das dem Organischen eigen ist und an das beide Denker sich zwecks einer erweiterten und problematischen Analyse der Realität wenden, ausschließen. Man muss hingegen den Mut haben, „die ausschließliche Sachdienlichkeit der exakten Methoden für die Naturerkenntnis zu bestreiten.“47„Es gibt infolgedessen viel mehr in der Welt, als an ihr feststellbar ist.“48 In diesem Sinne erschöpfen die physischen Eigenschaften das Lebewesen ganz und gar nicht; in dieses Missverständnis gerät man nur, wenn die wissenschaftliche Methode auf reduzierende Weise betrachtet wird: „Erst wenn man glaubt, die exakte Methode sei die einzige Art der Naturerkenntnis, will man im Gegenstande nichts da sein lassen, was sie nicht erklären kann.“49 Wie Plessner und Portmann jedoch in ihrer Analyse der Form, der Grenze und der organischen Grundeigenschaft gezeigt haben: „Aufgelöst wird das Organische durch seine Erklärung
H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen, S. 325. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 170. Ebd., S. 97. Ebd., S. 43; „Wogegen sich eine anticartesianische Bewegung richten muß, ist die Identifizierung von Körperlichkeit und Ausdehnung, physischem Dasein und Meßbarkeit, die es verschuldet hat, daß wir für die meßfremden Eigenschaften der körperlichen Natur blind geworden sind.“ (Ebd., S. 42) 47 Ebd., S. 41. 48 Ebd., S. 119. Plessner fährt bezüglich der organischen Grundeigenschaften fort: „Alle nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte haben dieses Schicksal, in die Erfahrung einzugeben, ohne im Fortgang der Erfahrung bestimmbar zu werden.“ 49 Ebd., S. 86. 43 44 45 46
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nicht.“50 Das ruft einerseits die Zentralität des Protoplasmas (Portmann), die formelle Idee der Totalität, die in den Dingen ist und deren Entwicklung antizipiert,51 die innerliche Teleologie des Lebenden, auf die die Biologen stoßen, zurück; andererseits verweist es auf eine unterschiedliche Interpretation des wissenschaftlichen Wissens, das sich nicht mit reduzierender, mechanischer Analyse begnügt. Ähnlich wie Plessner bekräftigt auch Portmann, wie unmöglich es inzwischen ist, den Menschen vollkommen zu verstehen, ohne eine vergleichende Studie mit dem Tier und den lebenden Formen im Allgemeinen vorzunehmen. Nicht zufällig reiht deshalb Odo Marquard52 Portmann bei der Hervorhebung des Einflusses der Biologen und Mediziner auf die philosophische Anthropologie in die Reihe derjenigen ein, die es für nötig halten, den Menschen auf natürliche Weise zu verstehen.53 Portmann teilt außerdem mit Plessner die Einsicht in die Notwendigkeit, sich den empirischen Befunden der Wissenschaft zu stellen, den Menschen also in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen54 (gegen den Ontologismus) vor dem Hintergrund der biologischen Mechanismen und Dynamiken, die ihn mit der übrigen Welt des Organischen verbinden, zu studieren. Plessner sieht in Portmann einen Alliierten gegen die von Heideg ger eingeschlagene „Richtung nach innen“.55 Indem Heidegger die philosophische Anthropologie als regionale Ontologie abstempelte, musste auch die philosophische Reflexion über den Menschen in den Rahmen einer größeren ontologischen Betrachtung eingeordnet werden.56 Diese Forderung jedoch beeinträchtigte den vollständigen anthropologischen Ansatz Plessners, die Untersuchung des Menschen ‚von 50 Ebd., S. 109. 51 Ebd., S. 168-169. 52 O. Marquard, „Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropologie‘ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel, Stuttgart 1965, S. XV. 53 Vgl. R. Kugler, Philosophische Aspekte der Biologie Adolf Portmanns, Zürich 1967, S. 45; J. Dewitte, „Animalité et Humanité: Une comparaison fondamentale. Sur la démarche d’Adolf Portmann“, in: Revue européenne de sciences sociales, XXXVII (115)/1999, S. 9-31. 54 Vgl. H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, S. 64. 55 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XIII. 56 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 51991; H. Fahrenbach, „Heidegger und das Problem einer ‚philosophischen‘ Anthropologie“, in: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970, S. 118 f.
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unten‘ zu beginnen, indem er den Menschen in das „Meer des Seins“57 hineinstellte; ein Versuch, der Plessner bis an die Schwelle der Metaphysik führt, ohne diese jedoch zu überschreiten. Er tut dies in der Überzeugung, dass jedes metaphysische Apriori (Geist oder Dasein) nicht die Möglichkeit berücksichtigt, dass von der Welt grundsätzliche Hilfe zum Verständnis des Lebens kommen kann. Nicht zufällig drückt sich Plessner diesbezüglich schneidend scharf aus: „Von Natur gibt es keinen Menschen. Er wird zu einem solchen durch seine Beziehung zu Gott. Der Theomorphie des Menschen im Sinne Schelers entspricht die Ontomorphie in Heideggers Sinn.“58 Plessner bezieht in seine Abgrenzung Löwith mit ein und bekräftigt, dass für Heidegger: „[…] die Seinsweise des Lebens, nur privativ, vom existierenden Dasein her, zugänglich sei.“ Damit „entstand der Anschein, als seien beim Menschen Geburt, Leben und Tod reduzierbar auf ‚Geworfenheit‘, ‚Existieren‘ und ‚Sein zum Ende‘. Desgleichen wurde die Welt zu einem ‚Existenzial‘ […]. Die lebendige Welt, die Nietzsche mit großen Opfern wieder entdeckte […] ist, in eins mit dem leibhaftigen Menschen, im Existenzialismus wieder verlorengegangen.“59 Plessner ist hingegen auf der Seite Nietzsches und damit auch auf der Seite Portmanns und stellt sich gegen denjenigen, der das Dasein vom Leben trennt. In diesem Sinne werden Portmanns Untersuchungen der Innerlichkeit und das extrauterine Frühjahr von Plessner als Mittel benutzt, das gegen die Rückkehr des Subjektivismus, gegen den in der Linie Husserl-Heideg ger anhaltenden verschleierten Idealismus, eingesetzt werden muss: Gegen die Idee, dass das Leben in seiner physischen Dimension, angefangen vom existierenden Dasein, nur in privativen Bestandteilen fassbar ist. „Mit dieser These bekam die seit den Tagen des deutschen Idealismus der Philosophie zur lieben Gewohnheit gewordene Richtung nach innen wieder Oberwasser.“60 Das heißt aber nicht, dass gilt für Portmann mehr noch als für Plessner, dass dem Menschen nicht doch eine privilegierte Rolle zugeschrieben wird, von dessen Standpunkt aus die restliche Welt des Lebens analysiert werden soll, womit Portmann vor allem unter dem Einfluss Szilasis und Heideggers, den Weg von unten herauf nicht vollständig übernimmt.61 Die Allianz zwi57 58 59 60 61
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. V. Ebd., S. XI. Ebd., S. XII (Karl Löwith zitierend). Ebd., S. XIII. Vgl. H. Müller, Philosophische Grundlagen der Anthropologie Adolf Portmanns, S. 63.
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schen Plessner und Portmann ist allerdings stark, da beide davon überzeugt sind, dass uns das Leben helfen kann, den Menschen und das Geheimnis, auf dem er ruht, zu verstehen. Dazu bedarf es allerdings einer reiferen Wissenschaft62 als der offiziellen. Was Plessner und Portmann vereint, ist eine umfassende Idee von Wissenschaft – wie sie Plessner initiiert hatte –, die in der Lage ist, jene Zäsur zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu überwinden, die am Anfang des Jahrhunderts etabliert wurde; in der Lage, eine Brücke zu schlagen zwischen Erklären und Verstehen. In der Streitfrage um die Konzepte von Erklären und Verstehen bekräftigt Portmann mehrmals die Bedeutung des Verstehens als ein Mittel, die Phänomene von einem höheren Standpunkt aus ganzheitlich zu erfassen (in Analogie zur Morphologie) und sie damit in einer Weise zugänglich zu machen, die nicht nur funktional ist.63 Plessner negierte die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Ansatzes allerdings nie. Das Verständnis des Lebenden, als geordnete Totalität, ist nur möglich, wenn man lebendige Mechanismen betrachtet, die einzelnen Phänomene also unter dem Licht der Totalität und der Ordnung des Ganzen untersucht, die jeden lebenden Geist leitet und die sich im Isomorphismus offenbart. (Demnach scheint es so, als gäbe es eine Korrespondenz zwischen einer angeborenen Struktur in der Innerlichkeit des Organismus und der Wirklichkeit).64 Plessner hält das Hinterfragen der wissenschaftlichen Dignität für eine Wissenschaft des Geistes mit Sicherheit für falsch. Er erkennt vielmehr an, dass geistige Phänomene mit der gleichen Sicherheit untersucht werden können wie natürliche Phänomene, wenn man ein anderes Verfahren verwendet als das konstruktiv experimentelle.65 Sicher erkennt er, dass die Geisteswissenschaften auf dem Ausdruckscharakter ihrer Gegenstände basieren, die sich nicht darauf begrenzen, Sinn zu haben, sondern die diesen auch mitteilen. Indem sich Plessner 62 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 29. 63 A. Portmann, „Gestalt als erstes und letztes Problem der Lebensforschung“, in: Er anos-Jahrbuch XXXIV/1965, Zürich 1966, S. 447-482. „Den Raum des Verstehens zu erweitern, aus der Enge einer einseitigen Geltung der genetischen Erklärungsversuche herauszuführen, statt einer ausschließlich sanktionierten Deutungsart, den Möglichkeiten des ‚sowohl – als auch‘ Erhaltungs- als auch Darstellungsfunktion zu ihren Recht zu verhelfen –, das ist die Absicht unserer Umschau“. 64 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 79: „Ein Tier mit einem angeborenen Bild vom Sternenhimmel!“ 65 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 39.
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auf Dilthey bezieht, erkennt er jedoch „die Unmöglichkeit eines vollkommenen Desinteressements der Theorie der Geisteswissenschaften an der Natur. […] Sogar die Methode des Verstehens bleibt wie der Mensch leiblich gebunden.“66 Trotz des Anscheins „gibt die Natur in vielen ihrer Schichten den Gegenstand oder den Hintergrund oder das Mittel oder das Prinzip ab, vor dem bzw. mit dem der Mensch seine geistige Existenz führt; so daß Natur und geistige Welt doppelt miteinander verklammert sind, indem die eine die andere trägt und bedingt und gleichzeitig von der anderen Qualifizierung und Deutung empfängt.“67 Die philosophische Anthropologie Plessners setzt also voraus, dass die historisch-geistige Wahrheit und die Natur in einer Perspektive zusammengefasst werden müssen. Die Hermeneutik der geistigen, kulturellen Geste beruht somit auf einem vorhergehenden Verständnis der reifen Ausdruckskraft des Menschen, in der sie wurzelt.68 Zu behaupten: „Ohne Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen“,69 heißt, das hermeneutische geistige Verständnis auf einem vorhergehenden Verständnis der Sprache der physischen Welt, der lebendigen Welt zu gründen; einer Welt, die als lebende eine eigene Morphologie, eine eigene Mimik, eine eigene natürliche Ausdruckskraft besitzt. Diese Ausdruckskraft ist an und für sich – dieses liegt auf der Linie von Portmanns Gedanken – an den Lebensbereich gebunden, zu dem sie gehört, daher geht sie ursprünglich von der Totalität aus, die sich selbst versteht, die man instinktiv versteht und von der der Mensch ein Teil ist. Mit anderen Worten ist auch die menschliche Kommunikation nur der höchste Grad einer kommunikativen Verbindung und eines Verständnisses, die das Leben von Anfang an auszeichnet. Der hermeneutischen Interpretation des Lebens in ihrem geistigen Ausdruck geht die Interpretation der morphologischen Ausdruckskraft der Lebenden voraus. Wenn wir nur kurz den Akzent auf „morphologisch“ legen, wird uns klar, wie sehr der gesamte von Portmann erarbeitete Gedanke – 66 Ebd., S. 21. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 23: „Philosophische Hermeneutik als die systematische Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte läßt sich nur in Angriff nehmen – oder gar durchführen – auf Grund einer Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks.“ 69 Ebd., S. 26.
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die Idee von Morphologie als Wissenschaft einer universellen Kommunikation, eines Isomorphismus – gerade diese Intuition Plessners wieder aufnimmt und vertieft. Ein lebender Körper, mit seinen Formen und Bewegungen, ist an und für sich bereits ein Bedeutungsträger; seine Bewegungen sind mit Sinn ausgestattet, egal ob man sie nun versteht oder nicht. Deshalb gilt: „In derselben Unmittelbarkeit und Lebenshöhe, die der Mensch existentiell zu sich hat, zu seinen Mitmenschen, zu seiner Zeit, in der er sich ausspricht und von sich weiß, weiß er auch von der Natur.“70 Die arglose Ausgangssituation ist die einer ursprünglichen Verbindung von Kommunikation und Verständnis, der die Wissenschaft mit der Zeit eine interpretierende objektivierende Form übergeordnet, dabei jedoch jenen Ursprung vergessen hat. Der Mensch als Lebewesen ist insofern von einer ursprünglichen Kommunikation umgeben. Die Hypertrophie des Ich, die Verabsolutierung eines objektivierenden Ansatzes, die Reduzierung auf die physischen Daten eines sich bewegenden Lebewesens, die Desertifikation der „Primärwelt“ zum Vorteil der „Sekundärwelt“, um weiterhin mit Portmanns Worten zu sprechen, die Überbewertung eines begriffsmäßigen Wissens und die Abwertung dessen, was man gefühlsmäßig versteht (die Sensibilität und die Intuition)71 haben aus der Wissenschaft ein mächtiges Mittel gemacht, das jedoch dem Leben gegenüber blind ist. Für Plessner und Portmann ist eine reifere Wissenschaft notwendig, die in der Lage ist, die Limitiertheit der eigenen Gedankenfülle, die strenge Dichotomie zwischen Erklären und Verstehen zum Vorteil des Verstehens, zu überwinden.
5. Schlusswort Zwischen den beiden Autoren verbleibt jedoch ein grundsätzlicher Unterschied: Die Lehre Plessners findet keinen Abschluss. Das exzentrische Tier bleibt ein utopischer Ort, immer bereit, jede dazugewonnene Wahrheit, jeden religiösen Grundsatz zu untergraben. Die Verwurzelung der geistigen in der physischen Welt hindert den Menschen nicht daran, sich gegen die Natur, deren Sohn er ist, aufzulehnen. Die 70 Ebd., S. 27. 71 Ebd., S. 53.
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ursprüngliche Kommunikation unter den Lebewesen ist keine Garantie für einen umfassenden Sinn. Es fehlt Plessner – im Gegensatz zu Portmann – das Vertrauen darin, die Ausdruckskraft der primären Welt könne einen umfassenden Sinn verstecken. Es fehlt der Gedanke, dass Totalität und Ordnung ein Vorverständnis ermöglichen, um die Mechanismen des Lebens zu lesen und zu verstehen. Beide lehnen es ab, den Menschen im Sinne Teilhard de Chardins zu verstehen. Bei Portmann lassen jedoch die Ästhetik und die Fülle der lebendigen Formen, die Sonderstellung des Menschen, der „Geheimnisgrund“, aus dem alles hervorgeht,72 einen Sinn erahnen. Es scheint so, als ob eine Harmonie und eine gegenseitige Abhängigkeit der Seiten existiert, es eine kosmische Kommunikation (Isomorphie) gibt, die sich Gott, der Wiedererlangung des mythischen und phantastischen Gedanken öffnet: Die Sehnsucht nach der primären Welt. Sollte es wahr sein, dass die Öffnung der Welt uns Ptolemäern erlaubt, kopernikanisch zu werden und die Sicherheit der Primärwelt für die Unsicherheit der Sekundärwelt zu verlassen, dann ist es noch richtiger, dass wir, eher Ptolemäer als Exzentriker, die Pflicht haben, die Erde als Heimat73 zu bewahren. (Übersetzung: Brigitte Schäffer)
72 A. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 112. 73 A. Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, S. 147.
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Gestalt und Grenze. Helmuth Plessner und die Gestaltpsychologie
Helmuth Plessners Verhältnis zur Gestaltpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts ist bisher noch nicht erforscht worden. Mit dieser Studie soll ein Anfang gemacht werden, indem eine Beziehung zwischen Plessners Schriften und denjenigen der Gestaltpsychologie, vor allem den Abhandlungen von Max Wertheimer und Wolfgang Köhler, hergestellt wird.1 Dieses Verfahren ist keineswegs willkürlich, legt doch Plessner selbst die Fährte, wenn er im dritten Kapitel seines Hauptwerkes Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), das schlichtweg den Titel „Die These“ trägt, seine Hauptthese von der „Doppelaspektivität des belebten Wahrnehmungsdinges“ in den Kontext gestaltpsychologischer Forschungen stellt.2 Meine These lautet: In Plessners philosophischer Anthropologie wird ein Grundproblem der Gestaltpsychologie, die behauptete Übersummenhaftigkeit und Andersheit der Gestalt gegenüber der Relation und Summe ihrer Elemente, integriert und als fundamentales Problem der Naturphilosophie und Anthropologie reformuliert. Diese These ist anspruchsvoll, da sie sowohl ein neues Licht auf ein systematisches Problem innerhalb der Philosophie Plessners als auch auf eine Debatte innerhalb der Psychologie um 1900 wirft. Um meine These zu stützen, werde ich eine grobe philosophie- und wissenschaftshistorische Linie durch das 19. Jahrhundert ziehen. Dabei setze ich voraus, dass die Tendenz der psychologischen Forschung in Anlehnung an Herbart als einer mathematisch-analytischen Psychologie, die vornehmlich an inneren und äußeren „Tatsachen“ interes-
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Plessner findet bspw. keine Erwähnung in der großen Studie von M. G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the Quest for Objectivity, Cambridge 1998. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl., Berlin, New York 1975, S. 80-122.
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siert ist, bekannt ist.3 Denn vor allem als Reaktion auf diese Entwicklung wird verständlich, dass Fragen des „Aufbaus“ der psychischen Realität an Phänomene der „Gestalt“ geknüpft werden, die sich schon in der Morphologie Goethes einem analytischen Blick entziehen. In dieser nicht-analytischen Psychologie geht es nicht um „Tatsachen“ und „Dinge“, also Quantitäten, sondern vor allem um „Gestalten“ und „Strukturen“, also Qualitäten. Max Dessoir hat in seinem Abriß einer Geschichte der Psychologie (1911) rückblickend auf das 19. Jahrhundert vermerkt, dass die analytische Beschreibung „der Lebensfülle des Bewußtseins nicht besser [entspricht] als ein Schattenriß dem wirklichen blutdurchströmten Körper.“4 Das ist ein grober Hinweis auf eine, beim zweiten Blick doch differenziert erscheinende Lage, die ich in einem ersten Schritt darstellen möchte. In einem zweiten Schritt werde ich die Wende innerhalb der Psychologie zu gestaltpsychologischen Problemstellungen nachzeichnen; auch wenn es sich hierbei um eine „Suche nach Ganzheit“ handelt, werde ich mich nicht dazu hinreißen lassen, den Bogen der Darstellung zu überspannen.5 In einem dritten Schritt erst werde ich Plessners Rezeption und Verarbeitung der Gestaltpsychologie behandeln.6 Vorweg sei darauf hingewiesen, dass die (noch zu erhärtende) Behauptung, dass Plessner die Gestaltpsychologie philosophisch ernst nimmt, nicht ohne Vergleich in seiner Zeit ist, wie ein Seitenblick auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Bd. 3, 1929),7 auf Maurice Merleau-Pontys Le primat de la perception […] (1933–1946)8 3 4 5 6 7 8
Vgl. K. Bühler, Die Krise der Psychologie (1927), 3. Aufl., Stuttgart 1965, S. 1-28; K. Sachs-Hombach, Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Ihre Entstehung und Problemgeschichte, Freiburg, München 1993. Vgl. M. Dessoir, Abriß einer Geschichte der Psychologie (Die Psychologie in Einzeldarstellungen. Bd. 4), Heidelberg 1911, S. 193. Vgl. dagegen A. Harrington, Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologischpsychologischer Ganzheitslehren: vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2002. Vgl. G. Hartung, „Organismus und Person. Über die Grenzen einer Biologie der Person“, in: I. Römer, M. Wunsch (Hrsg.), Person: Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven, Münster 2013, S. 257-277. Vgl. G. Hartung, Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, 2. Aufl., Weilerswist 2004, hier S. 224-240. Lambert Wiesing nennt für die Rezeption der Gestalttheorie im Nachwort zu M. Merleau-Ponty, Das Primat der Wahrnehmung (Frankfurt a. M. 2003, hier S. 97) die Arbeit von S. de Chadarevian, Zwischen den Diskursen. Merleau-Ponty und die Wissenschaften, Würzburg 1990, S. 29-70; vgl. auch L. Embree, „Merleau-Ponty’s
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oder auf die Schriften von Moritz Schlick und anderer Vertreter des Wiener Kreises zeigt.9
1. Zur Debatte über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie Der Gründer des Leipziger Instituts für experimentelle Psychologie (1879), Wilhelm Wundt, stellt in seinem Grundriss der Psychologie (1896) ein Aufbauschema dar, das mit den psychischen Elementen (Empfindungen, einfachen Gefühlen) ansetzt, dann psychische Gebilde (Vorstellungen, zusammengesetzte Gefühle, Affekte und Willensvorgänge) analysiert, um abschließend das Bewusstsein als „Zusammenhang der psychischen Gebilde“ zu erfassen.10 Bewusstsein bezeichnet nichts, was „neben den psychischen Vorgängen vorhanden“ ist, aber es ist auch nicht bloß deren Summe.11 Beispielsweise belegen „Bewusstseinsstörungen“, dass es auf die funktionale Struktur der psychischen Vorgänge ankommt, deren Einheit ein individueller tierischer Organismus ist. Dieser ist Träger der Symptome eines individuellen Bewusstseins.12 Wundt bezieht sich damit auf eine Problemlage, die von der analytisch-mathematischen Psychologie, die im Bewusstsein lediglich eine Verbindung elementarer Strukturen sieht, geprägt ist. Sein psychologischer Ansatz basiert auf einem Rückgriff auf Herbarts (bei Leibniz und Kant schon entwickeltes) Konzept der „Apperzeption“.13 Die Apperzeptionspsychologie impliziert zum einen eine vollständige Beschreibung der „Tatsachen des Bewusstseins“. „Der Zusammenhang der psychischen Vorgänge, der das Wesen des Bewußtseins ausmacht, hat seine letzte Quelle in Verbindungsprozessen, die fortwährend zwischen den Elementen der einzelnen Bewußtseinsinhalte stattfinden. Wie solche Prozesse [Assoziationen/ passiv, Apperzeptionen/ aktiv. Zusatz G. H.] schon bei der Entstehung der einzelnen psychischen
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Examination of Gestalt Psychology“, in: J. Sallis (Hrsg.), Merleau-Ponty. Perception, Structure, Language, New York 1981, S. 89-121. Vgl. S. Kluck, Gestaltpsychologie und Wiener Kreis. Stationen einer bedeutsamen Beziehung, Freiburg, München 2008. W. Wundt, Grundriss der Psychologie, 7. Aufl., Leipzig 1905. Ebd., S. 246. Ebd., S. 247. Vgl. W. Wundt, System der Philosophie, Bd. 2, 3. Aufl., Leipzig 1907, S. 140-145.
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Gebilde wirksam sind, so geht aus ihnen sowohl die simultane Einheit des in einem gegebenen Moment vorhandenen Bewußtseinszustandes, wie die Kontinuität der sukzessiven Bewußtseinszustände hervor.“14 Wundt hat seiner Psychologie in den Grundzügen der physiologischen Psychologie (1874) eine ergänzende Studie an die Seite gestellt.15 In der Physiologie geht es ihm um den Nachweis einer Entsprechung von Einzelorganismus und Einzelbewusstsein.16 Dementsprechend wird das Nervensystem als individuell wie auch das Bewusstsein als gebunden an einen Organismus, und somit selbst als individuell und einheitlich angesehen. Von der organischen Basis des bewussten Lebens ausgehend, kann Wundt die Annahme von den Bewusstseinseinheiten und -graden unterstreichen. „Sowohl die psychischen wie die physischen Bedingungen des Bewusstseins weisen uns […] darauf hin, dass das Gebiet des bewussten Lebens mannigfache Grade umfassen kann. In der That finden wir schon in uns selbst je nach äußern und innern Bedingungen wechselnde Grade der Bewusstheit, und auf ähnliche bleibende Unterschiede lässt die Beobachtung anderer Wesen schließen.“17 Wundt entwickelt eine experimentelle Psychologie. In seiner Abhandlung Die Messung psychischer Vorgänge (1870/1871) sucht er beispielsweise den Widerspruch zu lösen, dass einerseits das Bewusstsein kein äußeres Maß haben soll, aber andererseits alles, was das Bewusstsein liefert, „ein maßvoll geordnetes Bild der äußeren Welt“ zeigt.18 Die Frage ist nun, in welchem Sinne von einer Entsprechung der Bewusstseinstatsachen und der äußeren Welt gesprochen werden kann. Wundts experimentelle Untersuchungen, so seine Messung der Reaktionszeit auf visuelle Reize, führen ihn zur Annahme einer Strukturgleichheit von Bewusstsein und Sinnesvermögen. „So gleicht also das Bewusstsein in bezug auf die Vorstellungen, die es in einem gegebenen Augenblick umfaßt, einigermaßen dem Sehfeld des äußeren Auges.“19 14 W. Wundt, Grundriss der Psychologie, S. 270 f. 15 W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 3, 5. Aufl., Leipzig 1903. 16 Ebd., S. 322: „Einem Einzelorganismus aber entspricht immer auch ein Einzelbe wusstsein.“ 17 Ebd., S. 324. 18 W. Wundt, „Die Messung psychischer Vorgänge“ (1870–1871), in: ders., Essays, 2. Aufl., Leipzig 1906, S. 213-242, hier S. 213. 19 Ebd., S. 232.
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Letztendlich soll die Messung psychischer Vorgänge den Nachweis erbringen, dass über den analytischen Weg der Zerlegung von „Tatsachen des Bewusstsein“ in ihre Elemente, z. B. in den zeitlichen Verlauf der Vorstellungen, die quantitativen und qualitativen Merkmale sowie die Gesetze der Vorstellungsverbindung, der Koexistenz und Aufeinanderfolge der inneren Vorgänge, zu erklären sind. In der Anwendung dieser methodologischen Vorgaben erweist sich die Psychologie als „eine der Naturwissenschaft coordinirte Erfahrungswissenschaft“.20 Die Wundtsche Assoziationspsychologie ist in den letzten Jahrzehnten, gerade aufgrund der Einbindung experimenteller Verfahren in theoretische Überlegungen zur Bestimmung psychischer Prozesse, führend. Unter den wenigen kritischen Stimmen, die nicht in metaphysische Spekulationen zurückfallen, ist Wilhelm Dilthey hervorzuheben.21 Diltheys Abhandlung Ideen über eine vergleichende und zergliedernde Psychologie (1894) erhebt die Stimme gegenüber der analytisch-mathematischen Psychologie von Herbart bis Wundt. Dilthey geht es um die Klärung des Verhältnisses von Erkenntnistheorie und Psychologie. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „Erkenntnistheorie […] Psychologie in Bewegung“22 ist, weil wir es in der Analyse mit einem „lebendigen Bewußtsein“ zu tun haben. Das Bewusstsein erhält seine Lebendigkeit nicht von außen, sondern durch seine Integration in ein „Seelenleben“ – eine Metapher, die er von Hermann Lotze übernimmt.23 Dilthey meint damit, dass wir uns selbst immer als Ganzheit erleben; jedes Erlebnis wird von der „Totalität des Seelenlebens“24 getragen; diesen Zusammenhang erleben wir unmittelbar.25 Dilthey resümiert die Debatten über das Bewusstsein, die das 19. Jahrhundert geführt hat, indem er sie in einer Konstellation von be20 W. Wundt, „Über die Definition der Psychologie“, in: Philosophische Studien, XII/ 1896, S. 1-66, hier S. 12. 21 W. Dilthey, „Ideen über eine vergleichende und zergliedernde Psychologie“ (1894), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, 2. Aufl., Stuttgart-Göttingen 1957, S. 139240. 22 Ebd., S. 151. 23 H. Lotze, „Seele und Seelenleben“, in: ders., Kleine Schriften, Bd. 2, Leipzig 1886, S. 1-204, hier S. 13. 24 W. Dilthey, „Ideen über eine vergleichende und zergliedernde Psychologie“, S. 172. 25 Ebd., S. 172: „Und wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne uns faßbar zu machen. Eben daß wir im Bewußtsein von dem Zusammenhang des Ganzen leben, macht uns möglich, einen einzelnen Satz, eine einzelne Gebärde oder eine einzelne Handlung zu verstehen.“
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schreibender und zergliedernder Psychologie zusammenfasst. In seiner Perspektive bleibt nur ein Weg, um die Einheit des Bewusstseins im Gesamtzusammenhang des Lebens zu begreifen: „Der psychische Lebensprozeß ist ursprünglich und überall von seinen elementarsten bis zu seinen höchsten Formen eine Einheit. Das Seelenleben wächst nicht aus Teilen zusammen; es bildet sich nicht aus Elementen; es ist nicht ein Kompositum, nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungsatome oder Gefühlsatome: es ist ursprünglich und immer eine übergreifende Einheit. Aus dieser Einheit haben sich seelische Funktionen differenziert, verbleiben aber dabei an ihren Zusammenhang gebunden. Diese Tatsache, deren Ausdruck auf der höchsten Stufe die Einheit des Bewußtseins und die Einheit der Person ist, unterscheidet das Seelenleben total von der körperlichen Welt.“26 Diltheys wirksamster Gedanke, dass die Einheit des Psychischen nicht bottom up zu erklären ist, weil sie nicht ein „Kompositum“ einzelner Elemente, sondern im psychischen Erleben immer schon eine Einheit ist, hat die Erfolgsgeschichte einer naturwissenschaftlich orientierten Psychologie nicht aufhalten können. Andererseits hat ihr aber auch die Kritik des ehemaligen Kollegen Hermann Ebbinghaus wenig anhaben können.27 Zwar trifft Ebbinghaus‘ These, dass der von Dilthey behauptete Unterschied von erklärender und beschreibender Psychologie nur eine scheinbare Differenz markiert, einen strategischen Punkt der Darstellung Diltheys.28 Jedoch die Intuition Diltheys, dass eine Psychologie, die von der elementaren Struktur der psychischen Einzelphänomene ausgeht, das ursprüngliche Phänomen des Psychischen, die Einheit seelischen Erlebens, und damit ein Stück von psychischem Realitätsgehalt, verpasst, bleibt von dieser Kritik unangetastet. Für unseren Zusammenhang ist diese Konstellation festzuhalten: Einer analytischen (zergliedernden) Psychologie tritt eine synthetisch (beschreibende) Psychologie entgegen. Letzterer ist es um die Realität des psychischen Erlebens zu tun. Prägnant ist dieser Gedanke in William James‘ Principles of Psychology (1890) gefasst: „Consciousness, then, does not appear to itself chopped up in bits. Such words as ‚chain‘ or ‚train‘ do not describe it fitly as it presents itself in the first instance. 26 Ebd., S. 211. 27 H. Ebbinghaus, „Über erklärende und beschreibende Psychologie“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, IX/1896, S. 161-205. 28 Ebd., S. 196.
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It is nothing jointed; it flows. A ‚river‘ or a ‚stream‘ are the metaphors by which it is most naturally described. In talking of it hereafter, let us call it the stream of thought, of consciousness, of a subjective life.“29 In diese Richtung geht auch George Herbert Mead, der die Definitionsansätze für das Psychische bei Wundt, Oswald Külpe, Hugo Münsterberg, F. H. Bradley und Francis Herbert Bosanquet, James Ward, George Frederick Stout und William James erörtert, um anschließend seinen eigenen Standpunkt mit der Frage einzuleiten, ob „wir eine andere Definition des Psychischen versuchen [sollten], die es in Bezug setzt zur unmittelbaren Erfahrung, zur Reflexion und zu den aus der Reflexion entstehenden Objekten und Verhaltensweisen, eine Definition, die die Beziehung des Psychischen auf das Individuum und des Individuums auf die Reflexion bewahrt?“30 Die Einheit des psychischen Erlebens wird in die unmittelbare und direkte Erfahrung verlegt. Auf diese Weise wird der psychische Prozess einer analytischen Betrachtung und einer Reduktion auf elementare Strukturen entzogen. Die Individualpsychologie wird einem begründenden Verweis auf eine Sinnesphysiologie entzogen. Die Entgegensetzung zu einer an den Naturwissenschaften orientierten Psychologie könnte nicht größer sein.
2. Zur Entstehung und Profilbildung der Gestaltpsychologie Im Schatten dieser Konstellation einer analytischen, auf allgemeine Messdaten psychischer Vorgänge, und einer synthetischen, auf die individuelle Unmittelbarkeit psychischen Erlebens setzenden Psychologie regt sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Bedürfnis nach einem Mittelweg psychologischer Theoriebildung. Es handelt sich hierbei um die Suche nach Wirklichkeit, d. h. nach nichtkonstruktiven, aber auch nicht auf eine materiale Basis reduzierbaren, Strukturen im psychischen Prozess. Der Gewährsmann dieser Forschungsrichtung ist Ernst Mach, der in seiner aufsehenerregenden Studie Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886) Überlegungen über die Raumemp-
29 W. James, The Principles of Psychology, Vol. 1, New York 1890, S. 239. 30 G. H. Mead, „Die Definition des Psychischen“ (1903), in: H. Joas (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 83-148, hier S. 113.
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findungen des Auges anstellt.31 Mach untersucht, „welcher Art die Raumempfindungen sind, welche physiologisch das Wiedererkennen einer Gestalt bedingen.“32 Er kommt zu der Hypothese, dass Raumempfindungen mit dem motorischen Apparat der Augen zusammenhängen, d. h. es spricht seiner Ansicht viel dafür, dass „physiologische Eigenschaften eines Raumgebildes […] die erste Anregung zu geometrischen Untersuchungen gegeben“ haben.33 Die Forschung folgt einem Hinweis Machs, dass vor allem räumliche Erscheinungen „keine rein optischen [sind], sondern […] von einer unverkennbaren Bewegungsempfindung des ganzen Leibes begleitet“ werden.34 Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Carl Stumpf, einem weiteren Impulsgeber der psychologischen Forschungen, der in seinen Abhandlungen Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellungen (1873) neben den „psychologischen“ auch die „physiologischen“ Fragen in den Blick genommen hat. Auch wenn Stumpf der „Nervenphysiologie“ kein Wissen, sondern bloße Meinungen zutraut, so spricht er doch den physischen Bedingungen einen Einfluss auf Qualität und Intensität der Empfindungen zu. In seiner Analyse der Farbwahrnehmungen unterscheidet er von der „objectiven Oertlichkeit des Nervenprozesses“ die „empfundene“ und die „vorgestellte Oertlichkeit“; die Annahme eines Zusammenhangs zwischen den genannten Dimensionen impliziert seiner Auffassung nach, „dass der vorgestellten Oertlichkeit irgend etwas am physischen Reiz und Nervenprocess entspreche.“35 Entgegen der Lehrmeinung seines Lehrers Hermann Lotze, dem er seine Schrift zueignet, verweist Stumpf darauf, „dass der Ortsunterschied der einzelnen Nervenfasern ein wirklicher Unterschied ist.“36 Gerade die physische Bedingtheit der Vorstellungen hatte Lotze in seiner Schrift Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele (1852) vehement zurückgewiesen, um die Seele frei von äußeren Ein-
31 E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 9. Aufl., Jena 1922. Darin befindet sich die Abhandlung „Die Raumempfindungen des Auges“ (S. 84-100). 32 Ebd., S. 87. 33 Ebd., S. 99. 34 Ebd., S. 120. 35 C. Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung (1873), Ams terdam 1965, S. 146. 36 Ebd., S. 149.
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wirkungen, von zufälligen physischen Umständen zu halten.37 Stumpf hingegen sieht in den objektiven Ortsbestimmungen der Nervenfasern sogar eine wirkungsfähige Größe für die Qualitätsbestimmungen der Empfindungen. In der Nachfolge von Mach und Stumpf nimmt das Forschungsinteresse an einem Zusammenhang zwischen Raumempfindung, ihrer Lokalisierung und motorischen Prozessen zu. Auf diese Weise wird in der Forschung der Gegensatz von analytischer und synthetischer Psychologie unterlaufen. Am Wirklichkeitsgehalt des jeweiligen Phänomens, beispielsweise der Raumvorstellung oder der Farbwahrnehmung, wird die Opposition von Natur- und Geisteswissenschaften allmählich hinfällig. Damit ist der Boden bereitet, auf dem die Gestaltpsychologie als ein besonderer Zweig psychologischer Forschungen entstehen kann. 2.1. Die Debatte über Gestaltqualitäten Christian von Ehrenfels Abhandlung „Ueber Gestaltqualitäten“, die im Jahr 1890 in der Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie erscheint, gilt als Startschuss für eine Debatte über die Qualität von Empfindungen und Wahrnehmungen, die sich nicht aus der elementaren Struktur von Empfindungsreizen berechnen lässt.38 Von Ehrenfels setzt ein mit der Frage, ob eine „Raumgestalt“ eine bloße Zusammenfassung von Elementen oder diesen gegenüber etwas Neues ist. Seine Antwort lautet: Gestalten sind etwas anderes als die Summe von Elementen. „Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein von Vorstellungscomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits aus von einander trennbaren (d. h. ohne einander vorstellbaren Elementen) bestehen.“39 Von Ehrenfels unterscheidet Raumgestalten des Gesichts und des Tastsinnes und erkennt ihnen, durch verschiedene Beispiele illustriert, eine erhebliche Bedeutung im psychischen Leben zu. Gestalten haben eine besondere Qualität, die sich quantitativer Bestimmung 37 Vgl. H. Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele, Buch 2, Kapitel 4: Von den räumlichen Anschauungen, Leipzig 1852, S. 325-452. 38 C. Ehrenfels, „Ueber Gestaltqualitäten“, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, XIV(3)/1890, S. 249-292. 39 Ebd., S. 262.
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entzieht. Von Ehrenfels spricht vom Geist als einem menschlichen Vermögen, psychische Elemente zu verbinden und durch ihre Kombination „Neues“ zu schaffen. „Aber nicht nur in der Reproduction, auch in ihrer freien Erzeugung durch die schöpferische Thätigkeit der Phantasie unterscheiden sich die Gestaltqualitäten wesentlich von den Elementarvorstellungen.“40 An diesen wenigen Zitaten wird schon deutlich, dass von Ehrenfels eher eine Problemanzeige denn eine Lösung für ein Grundproblem der Psychologie liefert. Es bleibt nämlich unklar, ob das qualitative Moment in Empfindung und Gestaltwahrnehmung auf eine innere „schöpferische Tätigkeit“ oder auf eine Struktur am Wahrnehmungsgegenstand, die in der Reproduktion hervortritt, zurückzuführen ist. Die Unentschiedenheit ist allerdings in der Rezeption produktiv genutzt worden. So wendet sich Oswald Külpe in seinem Grundriss der Psychologie (1893) gegen das metaphysische Vorurteil einer Trennung von Seelischem und Körperhaftem, wie es im Cartesianismus festgeschrieben ist.41 Seiner Ansicht nach haben bestimmte Bewusstseinsvorgänge auch räumliche Eigenschaften; das betrifft beispielsweise Gesichtsempfindungen und Tastempfindungen. „Der Name Gestalt oder Form faßt alles das zusammen, was als räumliche Eigenschaft von einem Eindruck ausgesagt werden kann.“ Präziser versteht Külpe unter Gestalt eine „Summe von Ausdehnungen“.42 Auch Theodor Lipps hat in seinen Psychologischen Studien (1905) die Ansicht vertreten, dass wir im optischen Wahrnehmungsgebilde die einzelnen Bilder oder Empfindungsinhalte räumlich so nebeneinander ordnen, wie die „objektiven“ Punkte in der wirklichen Welt räumlich nebeneinander geordnet sind, aber er stimmt den bisher vorliegenden Erklärungen dieses Sachverhalts nicht zu.43 Seiner Auffassung nach gibt es einen Prozess der Herausbildung „konstanter Zusammenordnungen der Eindrücke“, der mit einer Konstanz der Reizempfindung, bspw. der Anordnung des Reizeingangs auf der Netzhaut unseres Auges, zusammenhängt. Lipps’ Theorie der Raumwahrnehmung ist „nativistisch“ in Bezug auf das Individuum und zudem genetisch in Bezug auf das Gattungswesen 40 Ebd., S. 283. 41 O. Külpe, Grundriss der Psychologie. Auf experimenteller Grundlage dargestellt, Leipzig 1893, S. 346. 42 Ebd., S. 348 f. 43 T. Lipps, Psychologische Studien, 2. Aufl., Leipzig 1905.
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Mensch. Das heißt, dass wir von Geburt an ein System der Zuordnungen und Sonderungen von Reizempfindungen und Wahrnehmungen besitzen, das sich in der Folge der Generationen ausgebildet hat.44 Karl Bühlers Studie Die Gestaltwahrnehmungen. Experimentelle Untersuchungen zur psychologischen und ästhetischen Analyse der Raum- und Zeitanschauung (1913) ist der erste Versuch einer Systematisierung des Forschungsfeldes.45 Bühler nimmt die Diskussion über Gestaltqualitäten im Rückgriff auf Mach und Ehrenfels auf und kritisiert, dass es bei einem indirekten Nachweis der Existenz von Gestaltqualitäten bleibt. Wie aber ein Aggregat von Empfindungen mit einem weiteren Bewusstseinsinhalt, genannt „Gestaltqualität“ zusammenkommt, das bleibt ungelöst.46 Gegen Lipps und Mach wendet er sich gegen eine physiologische Verkürzung der Perspektive und plädiert – noch einmal – für den Aufbau der Wahrnehmung von elementaren Strukturen zu einem Gestalteindruck (beim Anblick eines Tieres, einer Hausfassade usw.).47 Angesichts dieser desolaten Lage, dass ein Thema fortdauernd behandelt wird, ohne dass die Diskussion zu methodischer und begrifflicher Klarheit kommt, ist ein skeptisches Zwischenresümee von Adhémar Gelb verständlich. In seiner Abhandlung Theoretisches über ‚Gestaltqualitäten‘ (1911) möchte er die Debatte mit einem Rundum-
44 Ebd., S. 63. Und S. 64: „Es ist uns ein geläufiger Gedanke, daß in der Folge der Ge nerationen alle Sinne mit ihren Organen aus einem Allgemeinsinn, alle einzelnen Empfindungsarten aus einer einheitlichen Empfindungsart sich herausdifferenziert haben. Natürlich gab es für diese ursprüngliche Empfindungsart keine Räumlich keit. Und nun kann man sagen: Als sich unsere jetzige, der Räumlichkeit bedürftige Lichtempfindung aus der Urempfindung heraus entwickelte, gab es sofort ein Ne beneinander von einzelnen Lichteindrücken, und es bildete sich demgemäß auch sogleich auf dem Wege des erfahrungsmäßigen Zusammenwachsens und Sichson derns der Eindrücke der verschiedenen Punkte des Organs, eine der Wirklichkeit angepaßte Lokalisation heraus; und indem in der Folge der Generationen die Her ausdifferenzierung der Lichtempfindung sich fortsetzte, das Organ sich verfeinerte und das gleichzeitige Entstehen zahlreicherer Eindrücke ermöglichte, erweiterte sich zugleich das System der Zusammenordnungen und Sonderungen, und voll endete sich mehr und mehr jene Anpassung.“ 45 K. Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen. Experimentelle Untersuchungen zur psychologischen und ästhetischen Analyse der Raum und Zeitanschauung, Bd. 1, Stuttgart 1913. 46 Ebd., S. 10. 47 Ebd., S. 53.
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schlag beenden.48 Gelb bezieht sich auf sprachphilosophische und psychologische Studien von Anton Marty (Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie, Halle a. S. 1908), Josef Klemens Kreibig (Die intellektuellen Funktionen. Untersuchungen über Grenzfragen der Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie, Wien, Leipzig 1909) und Alexius Meinong („Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 2, 1891, S. 245-265), um die Schwachstellen einer deskriptiven Psychologie, die sich auf Ehrenfels‘ Lehre von den Gestaltqualitäten bezieht, herauszuarbeiten. Das Ergebnis ist negativ: „Man sieht daraus wenigstens mit Sicherheit, daß nach Meinong die Gestaltqualitäten, die fundierten Inhalte, keine Summen von Relationen sein können.“49 Auch ein Blick in die Schriften von Husserl (Philosophie der Arithmetik. Psychologische und logische Untersuchungen, 1891) und in die Arbeiten von Stumpf verhilft uns lediglich zu der Hypothese, dass Einheitsmomente in der Wahrnehmung durch „Verschmelzung“ der Glieder und ihrer gegenseitigen Relationen entstehen. Weil dieser Vorgang aber weniger erklärt als verdeckt, kommt Gelb zu dem Ergebnis, dass Gestalten nichts anderes sind, als Gruppen von Empfindungen, zwischen denen besondere Verhältnisse bestehen. Gelb betont zudem, dass „neben den Sinnesinhalten und ihren gegenseitigen Relationen keine erscheinungsmässigen Inhalte vorzufinden sind: und die Beantwortung gerade dieser Frage verlangte das Problem der Gestaltqualitäten.“50 Damit ist die Gestaltpsychologie jedoch gegenstandlos geworden. Gelbs provokante Abrechnung ist nicht unwidersprochen geblieben. Eine prominente Antwort hat Alois Höfler unter dem Titel Gestalt und Beziehung – Gestalt und Anschauung (1912) veröffentlicht.51 Höfler zufolge wiederholt Gelb nur Martys Angriff auf die Gestaltqualitäten, deren Hauptargument lautet, „daß die ‚Form‘ im Sinne der Gestalt evidentermassen nichts anderes als eine besondere Art und Summe
48 A. Gelb, „Theoretisches über ‚Gestaltqualitäten‘“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I. Abteilung, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 58, Leipzig 1911, S. 1-58. 49 Ebd., S. 25. 50 Ebd., S. 57. 51 A. Höfler, „Gestalt und Beziehung – Gestalt und Anschauung“, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. I. Abteilung, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 60, Leipzig 1912, S. 161-228.
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von Verhältnissen ist“.52 Höfler insistiert auf die Wendung „besondere Art und Summe von Verhältnissen“, denn hier wird offensichtlich eine Differenz zwischen gestalthaften und nicht-gestalthaften Verhältnissen eingeräumt. Wenn das der Fall ist, dann werden das Forschungsprogramm und die Aufgabe der Gestaltlehre indirekt bestätigt. Höfler skizziert ein Forschungsfeld der psychologischen Gestaltforschung, die im Wesentlichen zwei Forschungsaufgaben bearbeiten soll: 1. Wie bestimmt die Relationalität von Teilen und Ganzem in der Wahrnehmung die Gestaltqualität? 2. Was heißt es für bestimmte Organismen, dass sie für Gestalten empfänglich sind?53 Mit diesen Problemstellungen soll sich die Forschung, so Höfler, wieder den Sachen zuwenden und von einem Streit um Worte ablassen. 2.2. Gestaltpsychologie als wissenschaftliches Programm Offensichtlich ist die von Ehrenfels inaugurierte Forschungsrichtung der Gestaltpsychologie als Forschungsprogramm umstritten oder sogar erledigt, bevor sie zu einer konzeptionellen Form gefunden hat. Diesem Streit um Worte weitgehend ungeachtet gibt es in den 1910er Jahren eine prosperierende Forschung, aus der aber erst zu Beginn der 1920er Jahre ein neuer Anlauf resultiert, die Gestaltpsychologie als eine eigenständige Forschungsrichtung zu etablieren. Diese neuere Entwicklung ist mit den Namen Kurt Koffka, Wolfgang Köhler und Max Wertheimer verbunden. Unter den genannten Forschern ragt Max Wertheimer hervor, da er zum einen mit seinen Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt I. das Manifest der Gestaltpsychologie vorlegt54 und zum anderen mit dem Vortrag Über Gestalttheorie, einer am 17. Dezember 1924 vor der Kant-Gesellschaft Berlin gehaltenen Rede, maßgeblich zu ihrer Anerkennung beigetragen hat.55 Wertheimer greift die selbstverständliche Lehrmeinung der Psychologie des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge Herbarts an, dass das „Psychische“ 52 Ebd. zitiert von A. Höfler, S. 168. 53 Ebd., S. 201. 54 M. Wertheimer, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. I. Prinzipielle Bemer kungen“, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenz wissenschaften, Bd. 1, Berlin 1922, S. 47-58. 55 M. Wertheimer, „Über Gestalttheorie. Vortrag gehalten in der Kant-Gesellschaft Berlin, am 17. Dezember 1924“, in: Sonderdrucke des Symposion, Heft 1, Erlangen 1925.
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durch den Aufweis von Elementen, eine Gesetzmäßigkeit in der Kombination der Elemente und die Beschreibung von Und-Verbindungen zur Erklärung komplexer Vorgänge zureichend erfasst werden könne. Er wendet sich gegen die „Mosaik- oder Bündelthese“56 sowie die „Assoziationsthese“.57 „Prinzipiell identisch ist in den beiden Thesen – und darauf soll es hier ankommen – das Und-Summenhafte: der Aufbau aus Stücken, die, das eine und das andere und ein drittes […] zunächst, primäre, alles Weitere fundierend gegeben sind; in Und-Verbindung; im AuchDasein; gegeneinander inhaltlich prinzipiell beliebig und ohne Ingerenz, es sei denn eine solche, die stückhaft von ‚unten her‘ – wieder von Stücken her – gemeint ist; entstehen darüber höhere Gebilde, Verbindungen, Komplexe, so bauen sich diese sekundär, von unten her, auf der Und-Summe der Stücke auf (wobei etwa wieder sachlich beliebig hinzutretende Funktionen, Akte, Verhaltungsweisen der Aufmerksamkeit usw. eine Rolle spielen.“58 Dagegen stellt er das Argument und liefert hierfür eine ganze Reihe experimenteller Befunde – dass das „Und-Summenhafte und Stückhafte“ nur selten als Empfindungsmoment vorliegt, sondern wir es zumeist mit Stücken als Teilen in „Ganzvorgängen“ zu tun haben. „Das Gegebene ist an sich, in verschiedenem Grade ‚gestaltet‘: gegeben sind mehr oder weniger durchstrukturierte, mehr oder weniger bestimmte Ganze und Ganzprozesse, mit vielfach sehr konkreten Ganzeigenschaften, mit inneren Gesetzlichkeiten, charakteristischen Ganztendenzen, mit Ganzbedingtheiten für ihre Teile.“59 Die empirische Untersuchung zeigt nicht einen Aufbau unserer Wahrnehmungswelt aus Stücken. Was zusammengefasst erscheint, das erweist sich von konkreten „Gestaltgesetzen“ her bedingt. Die natürliche Denkweise des lebendig empfindenden Menschen erweist, so Wertheimer, die Richtigkeit dieser Thesen. Die Generalthese der Gestalttheorie Wertheimers lautet denn auch, dass die Wahrnehmungswelt nicht aus Elementen zusammengesetzt ist und die reale Welt des Menschen einen Aufbau von unten nach oben zulässt. „Man kann sagen: In einem gewissen Sinn kann nicht echt Sinnvolles er56 M. Wertheimer, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. I. Prinzipielle Bemer kungen“, S. 48 f. 57 Ebd., S. 49 f. 58 Ebd., S. 50. 59 Ebd., S. 52.
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reicht werden durch Ausgehen ‚von unten nach oben‘.“60 In seinen Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II. liefert Wertheimer die empirischen Befunde seiner psychologischen Forschungen, um die Generalthese zu verdeutlichen.61 An den Wahrnehmungsobjekten Haus, Baum, Himmel, Gesichter und Melodien zeigt er, dass Ganzeigenschaften wie „Geschlossenheit“, „Symmetrie“, „inneres Gleichgewicht“ eine entscheidende Rolle im Wahrnehmungsprozess spielen. An einem Beispiel wird diese Überlegung prägnant dargestellt: „Ich komme, im Mondschein, an ein stilles dunkles Wasser: was ist da dort gegenüber für ein wunderliches helles Gebilde? Es ist eine kleine helle geschwungene Brücke, die sich im Wasser spiegelt; aber wie sieht das aus? Brücke und Spiegelung zusammen zeigen ein wunderliches Ganzes, ganz anders, als es irgend in wirklicher Erfahrung gewohnt wäre. Wer könnte so ein sonderbares Gebilde da vermuten? Es ist gänzlich unwahrscheinlich, wie es aussieht. Und: trotzdem ich weiß, daß es eine Brücke ist und ihre Spiegelung, und das Gebilde, so wie ich’s sehe, so unwahrscheinlich wie nur möglich ist, hilft das gar nicht einfach: ‚Zusammen‘ und ‚Geteiltheit‘ verlaufen nicht nach ‚Brücke‘ plus ‚Spiegelbild‘, sondern ganz anders, im Sinn der besprochenen Gesetzmäßigkeiten, im Sinn des symmetrisch sich Schließenden (und es ist ja auch ganz und gar nicht so, daß etwa die Erfahrung in der Wirklichkeit Symmetrie so bevorzugt darböte –).“62 Wertheimer geht der Frage nach, auf welchen Grundlagen dieses synthetische Wissen beruht, wenn uns die empirische Forschung nahelegt, dass für unsere Fassung der Wirklichkeit im natürlichen Leben in der Regel nicht die „stückhaft summierten Einzelerfahrungen“ eine begründende Funktion einnehmen können. Sein Verdacht zielt dahin, dass es wahrscheinlich biologische Gesetzlichkeiten sind, die unsere Wahrnehmung regulieren. Ist es, so fragt er weitergehend, nicht „biologisch sehr allgemein so, daß Einrichtungen, Verhaltungsweisen gesetzlich allgemeiner Art da sind, [die] in ihrer Gesetzlichkeit biologisch regulären Bedingungen sehr adäquat“ sind? Seine Antwort lautet: „Die Natur scheint ganz und gar nicht in beliebig summierten
60 Ebd., S. 57. 61 M. Wertheimer, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II“, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften, Bd. 4 [Festschrift für Carl Stumpf], Berlin 1923, S. 301-350. 62 Ebd., S. 336.
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Einzelanpassungen zu fungieren, sondern im Entstehen in sich gesetzlicher biologisch typisch adäquater Gebilde und Funktionsweisen.“63 Wertheimer vertieft diese abstrakten Vorannahmen vor allem in einer Analyse des optischen Nervensystems. Seiner Ansicht nach sind zwei Hypothesen naturwissenschaftlich berechtigt, denn einerseits können wir das optische Nervensystem als mechanistisch funktionierend auffassen, andererseits können wir die stationären Zustände des Nervensystems als Spontanverteilungen aufgrund eines inneren Geschehens verstehen. Die Gestalttheorie entscheidet sich für die zweite Möglichkeit, weil a) nur in diesem Fall der räumlichen Gliederung, den Formen und Formeigenschaften in Gesichtsfeldern eine physische Realität in den somatischen Hergängen entspricht und weil b) nur in diesem Fall verständlich wird, dass sich Gliederung und Formung in Gesichtsfeldern und Gestalten nach den sachlichen Eigenschaften der bedingenden Faktoren, vor allem der Reize, Reizunterschiede und Reizkonfigurationen richtet, weil c) nur unter dieser Voraussetzung Teile und Teileigenschaften von Gesichtsfeldern und Gestalten von den jeweiligen Totalbedingungen (Ganzen) abhängen können und müssen und weil d) nur dann alle Arten der „Transposition“ im Gesichtsfeld aus den gleichartigen Invarianzen in der stationären somatischen Spontanverteilung unmittelbar folgen.64 Zusammengefasst optiert Wertheimer für die Annahme einer spontanen Selbstgliederung der optischen Prozesse. Er bemerkt zudem, dass das Gestaltproblem in der Wahrnehmung eine empiristische Reduktion nicht zulässt. Positiv ausgedrückt plädiert er für ein Ausgehen „von oben nach unten“, von den „Ganzbedingungen her nach unten zu den Unterganzen und Teilen“. Wenn die empirische Forschung diesen Weg geht, der ihr in der Analyse des Wahrnehmungsprozesses nahegelegt wird, dann „kommen die einzelnen Teile (‚Elemente‘) in Wirklichkeit nicht primär als Stücke in Und-Summe in Betracht, sondern von vornherein als Teile eines Ganzen.“65
63 Ebd. Und er fügt (S. 336 f.) hinzu: „Das Nervensystem hat sich unter den Bedin gungen der biologischen Umwelt ausgebildet; die Gestalttendenzen, die sich dabei ausgebildet haben, sind nicht wunderbarerweise den regulären Bedingungen der Umgebung entsprechend; und dabei ist die Entwicklung sicherlich wohl nicht im Sinne des Entstehens von Spezialapparaturen mechanischer Art zu denken.“ 64 M. Wertheimer, Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie (1925), Darmstadt 1967, S. 530. 65 M. Wertheimer, „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II“, S. 350.
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In diesem Zusammenhang tritt das biologische Problem in der Wahrnehmungstheorie hervor und die Grenzen einer mechanistischen Theoriebildung werden offensichtlich. Wertheimer zufolge kann es zwar sein, dass manchem die Fähigkeit zur spontanen Selbstgliederung von Wahrnehmungsprozessen wunderbar erscheinen mag, aber die Verwunderung nimmt ab, wenn wir erkennen, dass jedes in sich zusammenhängende System der unorganischen Welt eine ähnliche Eigenschaft aufweist. Wertheimer zitiert die Arbeiten von Wolfgang Köhler, insbesondere dessen Studie Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand (1. Auflage 1920). Für unsere Absichten, einen Überblick zur gestaltpsychologischen Forschung zu geben, ist es hilfreich, Köhlers Übersichtsreferat Gestaltprobleme und die Anfänge einer Gestalttheorie (1925) heranzuziehen.66 Köhler erwähnt die Ergebnisse seiner Forschungen, die den Nachweis liefern, dass am Organismus die Einwirkungen von außen als lokale Vorgänge jederzeit „geordnet und eingeordnet nach den Bedürfnissen und der Lage des ganzen Organismus“ verlaufen.67 Wenn nun Vitalisten und Mechanisten in Streit darüber geraten, wie eine passende Zusammenordnung von Vorgängen im Organismus zu denken ist, dann gewinnt immer der Vitalist. Schon Drieschs Argument, dass im Organismus die Eigenschaften und Funktionen eines Teils von seiner Lage in einem Ganzen abhängen, übersteigt die mechanistische Erklärung. Jedoch irrt Driesch nach Köhlers Auffassung, wenn er nicht einsieht, dass diese Gesetzlichkeit auch für anorganische Gebilde gilt, und daher nicht eine exklusive Eigenschaft organischen Lebens bezeichnet. Die Gestalttheorie beschäftigt sich mit der Frage, ob und mit welchem Recht in der gesamten Natur Gestaltgesetzlichkeiten aufzuweisen sind. Dafür aber verlangt sie zuerst einmal wieder „ein unbefangenes Sehen“.68 „Wer […] gesehen hat, daß diese Art Gliederung des Gesichtsfeldes [beim ‚Sehen‘ eines Tintenfasses G. H.] anstatt von äußerlichen anatomischen Bedingungen von den sachlichen Eigenschaften der jeweiligen retinalen Reizverteilung, insbesondere von der räumlichen Verteilung der gleichen und verschiedenen Farbreize abhängt, der wird doch 66 W. Köhler, „Gestaltprobleme und die Anfänge einer Gestalttheorie. Übersichtsrefe rat“, in: Jahresbericht für die gesamte Physiologie und experimentelle Pharmako logie, 3/1925, S. 512-539. 67 Ebd., S. 512. 68 Ebd., S. 516.
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wohl schon hier auf den Gedanken geführt, diese Gliederung könnte eine spontane Selbstgliederung der optischen Prozesse durch ihre eignen physikalisch-chemischen Eigenschaften und Kräfte in jedem Fall sein, – womit denn freilich die mechanistische Ordnungshypothese aufgegeben wäre.“69 Die Pointe der Gestalttheorie liegt, das wird bei Köhler vollauf deutlich, in der Behauptung eines objektiven Korrelats der Wahrnehmungseigenschaften in den realen physischen Vorgängen.70 Das ist, biologisch oder ontologisch gedeutet, eine starke Korrelationsthese, die sich von einem Standpunkt neukantianischer Erkenntnistheorie erheblicher Kritik aussetzt,71 auch wenn Köhler keinen Zweifel daran lässt, dass er die Stärke der Gestalttheorie gerade in einem strikten Antireduktionismus sieht: „Das Gestaltproblem in der Wahrnehmung läßt eine empiristische Reduktion nicht zu.“72 Auf dem Höhepunkt der Debatten über die Leistungsfähigkeit der Gestalttheorie hat Kurt Koffka in seiner instruktiven Studie Zur Krisis der Psychologie (1926) die Grundgedanken dieser neuen Richtung psychologischer Forschung in philosophischer Absicht dargestellt.73 Seiner Ansicht nach ist die Gestalttheorie der einzig ernstzunehmende Versuch, die Krisis der Psychologie auf einem neuen Weg zu lösen und damit nicht in die unfruchtbaren Streitigkeiten von Materialismus und Vitalismus zu geraten.74 Der besondere Vorzug der Gestalttheorie 69 Ebd., S. 517. 70 Ebd., S. 519: Entscheidend ist, „daß alle Vorstellungen über Entsprechung von phä nomenalen Gegebenheiten und Hirnzuständen dahin drängen, als objektives Korre lat von Wahrnehmungseigenschaften reale physische Vorgänge und deren Real eigenschaften anzusehen.“ 71 Vgl. M. G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967, S. 146-147. Ebenso der obige Abschnitt II. 1. dieses Textes. 72 W. Köhler, „Gestaltprobleme und die Anfänge einer Gestalttheorie. Übersichtsre ferat“, S. 520. Vgl. auch G. Hartung, „Organismus und Umwelt. Hans Jonas‘ An satz zu einer Theorie der menschlichen Umwelt“, in: G. Hartung, K. Köchy, J. C. Schmidt, G. Hofmeister (Hrsg.), Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik. Zur Aktualität von Hans Jonas, Freiburg 2013, S. 75-99. 73 K. Koffka, „Zur Krisis der Psychologie“, in: Die Naturwissenschaften, 14. Jg., Heft 25 v. 18. Juni 1926, S. 581-586. 74 Vgl. dagegen K. Bühler, Die Krise der Psychologie (1926), S. 115: „Mich dünkt, es gehöre mit zur philosophischen Besinnung der Psychologie, den Blick aufs Ganze zu schärfen, auf daß nicht ein integrierender Teil ihres Gegenstandes übersehen bleibt, und wir die einseitige Formel der Assoziationstheorie durch die kaum minder einseitige von dem systembedingten Geschehen und den systembedingten Gebilden eintauschen. Die Befreiung, das Aufatmen in der neuen Luft des Ganzheitsgedan-
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liegt seiner Ansicht nach darin, schon in der physischen Welt „Gebilde, die Ganz- oder Gestalteigenschaften besitzen, d. h. die nicht summativ aus lauter einzelnen Teilen zusammengesetzt sind, sondern in denen alle Teile sich gegenseitig tragen und in ihren Lagen und Eigenschaften vom Ganzen her bestimmt sind [, aufzufinden]. Die Gestalttheorie versucht also organisches Geschehen als Geschehen an physischen Gestalten zu erklären.“75 Auf diese Weise wird die fundamentale Frage der Psychologie, wie Wahrnehmungsprozesse ablaufen, auf ein anderes Niveau gehoben, denn es zeigt sich, dass die Reaktionen eines lebendigen Organismus – hierzu zählen Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle wie auch Körperbewegungen und elementare Vorgänge wie bspw. das Erröten und Schwitzen – allesamt gestaltmäßig verlaufen, also mehr als eine bloße Summe von Teilreaktionen sind. Zusammengefasst können wir sagen, dass die Gestalttheorie die Intuition der Diltheyschen Kritik an einer analytischen Psychologie vor einem anderen Hintergrund – gemeint ist der Durchbruch einer experimentellen Psychologie und die vitalistische Gegenbewegung – reformuliert. An diese Stelle des „Seelenlebens“ als einer Synthesis inneren Erlebens tritt die „Gestalt“ als Indiz einer Realitätsgegebenheit der Außenwelt für einen wahrnehmenden, der Gestalt zugänglichen Organismus. Von ihren philosophischen Prämissen her ist die Gestalttheorie realistisch und anti-reduktionistisch, womit die Nähe zum Theorieprogramm der philosophischen Anthropologie Plessners markiert ist.
3. Gestalt und Grenze – Helmuth Plessners Aneignung der Gestalttheorie Helmuth Plessner knüpft an die, hier nur skizzenhaft dargestellte, Debatte über die Anfänge und den systematischen Ertrag der Gestaltpsychologie an. Insbesondere der Versuch von Wertheimer, Köhler und kens wirkt erfrischend; er wird seine historische Mission um so vollkommener erfüllen, je reiner wir ihn denken und je weniger wir ihn mit unerfüllbaren Leistungshoffnungen belasten. Zu seiner Reinheit gehört die logisch fundierte Einsicht, daß Ganzheiten ohne Teile in jenes Gebiet der Gegenstandstheorie gehören, wo vom hölzernen Eisen die Rede ist, und daß, soweit unsere Blicke reichen, Form ohne Stoff keine Realität konstituiert.“ 75 K. Koffka, „Zur Krisis der Psychologie“, S. 584 f.
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Koffka, „organisches Geschehen als Geschehen an physischen Gestalten zu erklären“, findet Eingang in die Grundthese seines Hauptwerkes aus dem Jahr 1928. Plessners Vorteil ist, dass die Debatte bereits geführt wurde und die neue Wissensdisziplin der Gestalttheorie sich um die Mitte der 1920er Jahre auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung befindet. Kurzum: die Argumente liegen auf dem Tisch.76 Als Schüler von Hans Driesch bricht Plessner allerdings eine Lanze für den modernen Vitalismus, der von den Vertretern der Gestalttheorie stark kritisiert wird.77 Driesch gebührt nach Plessners Ansicht Anerkennung dafür, dass er gegen mechanistische Theorien des Organischen die Kategorie der Ganzheit verteidigt habe. Zwar erkennt Driesch die Geltung physikalischer Gesetze auch in der organischen Welt an, er sieht jedoch auch, dass die physikalische Analyse am spezifischen Charakter der Lebendigkeit eines Körperdings vorbeigeht, der eben nicht im Detail steckt, sondern auf die Ganzheit gerichtet ist.78 „Ganzheit“ wird von Driesch als Kategorie des organischen Lebens eingeführt oder gegen Kants Verdikt in die Philosophie des Organischen zurückgeholt.79 Die sich gegen Driesch richtende Kritik vertritt die Ansicht, dass es auch im anorganischen Bereich Ganzheit gibt. Wie wir bereits gesehen haben, bestreitet Köhler, dass die Grenze zwischen der anorganischen und organischen Welt eine Grenze des Lebens im Sinne von Driesch darstellt. Plessner nutzt die strittigen Punkte für seine eigenen Überlegungen. Für ihn ist entscheidend, dass sowohl die Konzeption der Ganz76 Einen ersten, sehr guten Überblick gibt M. Scherer, ‚Die Lehre von der Gestalt‘. Ihre Methode und ihr psychologischer Gegenstand, Berlin, Leipzig 1931, insbes. Teil I., S. 14-158. Hier finden sich immerhin erste, aber vage Andeutungen zu einer Beziehung zwischen Gestaltpsychologie und Plessners Philosophie, insofern Plessners Zustimmung zur „Theorie physischer Gestalten“ (ebd., S. 326) und die Verbindung einer Theorie der Gestalt zu anthropologisch-philosophischen Konzeptionen der „Person“ (ebd., S. 388) behauptet wird. 77 Vgl. den Beitrag von Toepfer in diesem Band. 78 H. Driesch, Philosophie des Organischen (Gifford-Vorlesungen, gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907–1908), 2. Aufl., Leipzig 1921, S. 10, wo die Problemstellung formuliert wird: „Wir kennen Leben nur in Verbindung mit Körpern: anders gesagt, wir kennen lebende Körper und nennen diese Organismen. Es ist das letzte Ziel aller Biologie auszumachen, was es eigentlich heißt zu sagen, daß ein Körper belebt sei, und in welcher Beziehung Körper und Leben zueinander stehen.“ 79 Vgl. G. Hartung, „Teleologie und Leben. Kants Kritik des teleologischen Denkens“, in: P. Bahr, S. Schaede (Hrsg.), Das Leben I. Historisch-Systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Tübingen 2009, S. 365-382.
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heit (Driesch) als auch diejenige der Gestalt (Köhler) darauf abzielen, die Einheiten des Lebens nicht als bloße Summenverhältnisse zu bestimmen. Während es für Köhler „Übersummenhaftes“ auch im anorganischen Bereich gibt, z. B. bei der Restitution von elektrischer Ladung oder im Hinblick auf die Form des Wassertropfens, die sich erhält, selbst wenn man Wassermoleküle entfernt, nennt Driesch die hier vorgestellten Formen nur „Einheiten“, jedoch nicht „Ganzheiten“, weil diesen die innere Kraft zur Gestaltung, durch die sich allein Ganzheiten auszeichnen, fehlt.80 In Anlehnung an die Darstellung von Adolf Meyer (1926) sieht Plessner hier nur einen Unterschied in der Phänomenbeschreibung, aber keine logische Differenz.81 Insofern treten die von Köhler und Driesch verhandelten Differenzen zurück und werden bei Plessner, der die seiner Ansicht nach vordringliche philosophische Aufgabe der Zeit – den philosophischen Primat des Objekts zu verkünden und zu beweisen82 – in Angriff nimmt, zu nachgeordneten Problemen. Es geht seiner Ansicht nach auch in der Köhler-Driesch-Debatte vor allem um Worte, denn die Erforschung der Aspekte „Ganzheit“ und „Gestalthaftigkeit“ zielen doch gemeinsam auf eine Überwindung der vulgärcartesianischen, d. h. ausschließenden Alternative von Körperansicht und Bewusstseinsansicht. Diese Zielsetzung bestimmt Plessners folgende Überlegungen, in denen Aspekte der Gestalttheorie in eigenwilliger Aneignung wiederkehren. Wenn wir mit Plessner vom Primat des Objekts ausgehen, dann ist nicht mehr die primäre Frage, wie wir den Gegenstand wahrnehmen, sondern wie er sich uns zeigt. Plessner spricht an dieser Stelle vom „Doppelaspekt“ in der Erscheinungsweise eines Wahrnehmungsdinges, den es zu bestimmen gilt. Am Beispiel des „Baumdinges“ wird dies deutlich, wenn wir sehen, dass die wahrgenommene Seite des Dinges
80 H. Driesch, Philosophie des Organischen, S. 564: „Was W. Köhler […] vorbringt, betrifft nur Einheitszüge der unbelebten Welt, berührt aber das Problem echter Ganzheit, und daher das Lebensproblem, durchaus nicht.“ 81 A. Meyer, Logik der Morphologie im Rahmen einer Logik der gesamten Biologie, Berlin 1926. Dort heißt es bspw. auf S. 31: Hinsichtlich der Erkenntnismittel – Empirismen, Apriorismen, Ideen – besteht zwischen Biologie (Physiologie) und Physik kein prinzipieller Unterschied. Beide Wissenschaften untersuchen die körperhaften Eigenschaften und Vorgänge ihrer Gegenstände. Die Physiologie ist „nichts anderes als die Erstreckung der Physik in organische Bereiche, die ‚Physik des Organischen‘.“ 82 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 79.
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auf das ganze Ding verweist. Dieser Verweisungszusammenhang impliziert mehr als eine bloße Relation von Teil und Ganzem; vielmehr zielt der Verweis auf eine „Kernsubstanz des Dinges“, in der die jeweilige Seite eingelagert erscheint. Obwohl Plessners Wortprägungen eigenwillig sind, können wir doch feststellen, dass es hier um einen bekannten Sachverhalt geht: Teile verweisen auf ein Ganzes, welches an jedem der Teile haftet, aber nicht auf deren Materialität reduziert werden kann. Für Plessner ist es phänomenal unabweisbar, dass das Wahrnehmungsding von sich aus auf das tragende Ganze hinweist. Diesen Verweisungszusammenhang nennt er „Transgredienz“.83 Insofern Ganzheit hier als „Kernsubstanz“ verstanden wird, interessiert ihn weitergehend – mit Bezug zu Kant, Hegel und Husserl – warum die Kernsubstanz am Ding „abgeschattet“ ist, d. h. nicht zur Erscheinung kommt. Den Grund für die „Abschattung“ des Kerns sieht er nicht in der Subjektivität des Wahrnehmenden, sondern im Wahrnehmungsding, „weil im Wesen der Erscheinung eines Etwas, das mehr als nur Scheinendes ist, die Aspektivität, das Von einer Seite Sein liegt.“84 In unserer Beziehung zu den Dingen der Welt liegt eine unvermeidbare „Aspektivität“ der Wahrnehmung, die nicht auf einen subjektiven Faktor zurückgeführt werden kann. Es ist vielmehr umgekehrt: Das Ding erscheint als „tiefes“ Kontinuum von Aspekten. Plessner stellt sich mit dieser Argumentation einer transzendentalphilosophischen Lehrmeinung in Erkenntnistheorie und Psychologie entgegen, der zufolge die Aspektkontinuität in Empfindung und Wahrnehmung eine Leistung des Empfindenden und Wahrnehmenden selbst sei. Dieser Auffassung entgegen erläutert er, dass ein gereiftes Wahrnehmungsbewusstsein an den Dingen Substanzeigenschaftsstrukturen erfasst. Auf diese Weise ist eine Konzeption von Substantialität rehabilitiert, die sowohl in der natürlichen als auch in der wissenschaftlichen Einstellung zu den Dingen vorherrscht. Hegels Deskription des „Für-Wahr-Nehmen“ (Phänomenologie des Geistes) kommt diesen Überlegungen durchaus nah. Der Hinweis auf Hegel – und weitergehend auf die neuere Physik – wird von Plessner um eine Warnung vor erkenntnistheoretischer Naivität ergänzt: Wer an den Dingen Substanzeigenschaftsstrukturen, also etwas in der Wahrnehmung Beharrendes, das nicht dem Wahrnehmenden zugerechnet wer83 Ebd., S. 82 f.: Die Transgredienz hat eine doppelte Richtung: vom Phänomen „in“ das Ding „hinein“ und vom Phänomen „um“ das Ding „herum“. 84 Ebd., S. 83.
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den kann, erkennt, der vertritt doch keine naive Substanzen-Ontologie. Zur Erläuterung fügt er hinzu, dass auch in der neueren Physik die Rede von der Substantialität von Elektronen und Energien nicht das impliziert, woraus ein Ding material besteht. Wenn Plessner davon handelt, dass wir an Dingen Substanzeigenschaftsstrukturen anschaulich erfassen, dann ist damit gemeint, dass wir im Wahrnehmungsvorgang das Phänomen nicht nur anhand seiner äußeren Strukturen, sondern zugleich auch im Hinblick auf innere Strukturmerkmale wahrnehmen, die einen Ganzheits- und Gestaltcharakter haben. Was das jedoch meint, das entzieht sich der empirischen Erforschung. Der Rückgriff der Gestalttheorie auf physikalische oder biologische Gesetzmäßigkeiten bedeutet für Plessner einen unzulässigen, methodisch nicht abgesicherten Schritt. „Daß es sich bei dem Innen-Außenverhältnis überhaupt um eine echte Aspektdivergenz und nicht um das Verhältnis einer relativen Verborgenheit des durch’s Äußere verdeckten Inneren handelt, leuchtet erst durch philosophische Überlegung ein.“85 Um diese Behauptung zu bekräftigen, wendet Plessner sich der Klasse von Wahrnehmungsdingen zu, deren Vorteil für seine Analyse darin besteht, dass an ihnen die Außen-Innenbeziehung selbst gegenständlich und gegenstandbedingend anschaulich wird. Dieses Kriterium erfüllt seiner Ansicht nach allein die Klasse der lebendigen Dinge. Bei lebendigen Dingen handelt es sich um körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt. Mit der Innenbeziehung ist die materielle Zusammensetzung des Körperdinges, z. B. eines Organismus, gemeint; mit der Außenbeziehung eine formale Erscheinungsweise, z. B. der mimische Ausdruck. Lebendige Dinge haben „das Plus jener rätselhaften Eigenschaft des Lebens, die […] nicht nur material die Erscheinung des betreffenden Dinges, sondern darüber hinaus auch formal seine Erscheinungsweise verändert.“86 In Übernahme einer Denkfigur der Gestalttheorie argumentiert Plessner sowohl für den summenhaften Aufbau der Gegenstände als auch deren übersummenhafte, ganzheitliche Erscheinung. In der erlebten Erscheinung gibt es nur ganzheitliche Veränderungen, denn durch die Fortnahme eines isolierten Elements wird die „Totalvaria-
85 Ebd., S. 89. 86 Ebd.
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tion des Gesamtgebildes“ bewirkt.87 Plessner greift hier auf Köhlers Gestalttheorie zurück, nach der „echte Ganzheit“ bereits in anorganischen Gebilden gegeben ist, d. h. Funktionen und Eigenschaften eines Teils hängen von ihrer Lage in einem Ganzen ab. „Damit wird [aber] nach Driesch nur der Wesensunterschied anorganischer und organischer Funktionen und Eigenschaften verdeckt; im ersten Fall sind es bloße quantitative Variationen der Kraft und der Energie, im zweiten sind es komplizierte Leistungen und die Vermögen dazu.“88 Plessner diskutiert die Positionen der Köhler-Driesch-Debatte, die ihm, wie er rückblickend sagt (vgl. Vorwort zur 2. Auflage), sogar „Anlass“89 zu seiner Studien war – aber er entscheidet sich nicht für eine Seite. Während Mechanisten wie Köhler näher am Phänomen sind, haben Vitalisten wie Driesch für sich das Argument, dass die „Betrachtung“ eines Phänomens in seiner Ganzheit auf ein Moment, eine Struktur, ein Wesensmerkmal trifft, das den Dingkörper in seiner Erscheinung als Ganzen bestimmt und daher den anderen Eigenschaften „übergeordnet“ ist.90 In diesem Streit bleibt, so Plessner, das Rätsel der „Eigenschaft der Lebendigkeit“ ungelöst, aber immerhin wird die Problemstellung präzisiert. Es geht nämlich in Anlehnung an Köhler um die kategorial entscheidende Frage, ob das „Übersummenhafte“ nur graduell oder prinzipiell im Aufbau der Teile einer anorganischen oder organischen Einheit zu unterscheiden ist. Und im Ausgang von Driesch ist „die Frage [zu verhandeln], ob die organische Form auf gestalthafter oder übergestalthafter Ordnungsweise beruht.“91
4. Die Ganzheit des lebendigen Körpers – ontologische Differenz und anthropologische Konsequenz Plessner sucht Fehler der Einseitigkeit in mechanistischen und vitalistischen Denkansätzen zu vermeiden. „Der Vitalist hat das Phänomen eines Wirklichen vor Augen, welches seiner nur anschauungsfähigen Schichten noch nicht entkleidet ist. Der Mechanist dagegen achtet 87 88 89 90 91
Ebd., S. 90. Ebd., S. 95. Ebd., Vorwort zur zweiten Auflage (1965), S. xxi. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99.
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allein auf die Reduzibilität dieser Schichten, ohne sich […] über die Irreduzibilität der in ihr befaßten Qualitäten oder Modale den Kopf zu zerbrechen.“92 Als Beispiel rekurriert Plessner auf die Qualität der „Ganzheit“. Die systematische Frage geht auf den Nachweis einer Grenze, die positiv überschritten werden muss, damit eine Gestalt die spezifischen Prädikate der Ganzheit zeigt – wo also das Gestalthafte zum Übergestalthaften überschritten wird. Was macht die Ganzheit eines lebendigen Körpers aus? Eine empirische Analyse verfehlt nach Plessner seine anschaubare Ganzheit. Eine phänomenal-deskriptive Analyse hingegen legt die Vermutung nah, dass das Phänomen der Lebendigkeit auf dem besonderen Verhältnis eines Körpers zu seiner Grenze beruht. „Eine derartige Deduktion der Kategorien oder Modale des Organischen – wohlgemerkt nicht aus dem Sachverhalt der Grenzrealisierung, denn den gibt es ja für sich nicht, sondern unter dem Gesichtspunkt seiner Realisierung – bildet den Zentralteil der Philosophie des Lebens.“93 Am Gesichtspunkt der Realisierung einer Grenzbeziehung hält Plessner in der Durchführung fest. Der methodische Zugriff erfordert, dass lebendige Körper nicht als bloße Gegebenheiten aufgefasst werden. Gefragt wird vielmehr, wie sie uns erscheinen, d. h. wie sie sich als Ganzheiten gegenüber einer Umwelt abgrenzen, d. i. realisieren. Für den lebendigen Körper gilt der Befund, dass er Plastizität, Stetigkeit im Unstetigen; regelmäßige Unregelmäßigkeit zeigt. Phänomene der Rhythmik im Lebensvollzug lassen sich nachweisen. Eine Spontaneität des Lebendigen dokumentiert sich als „Freiheit gegen die Form unter der Form.“94 Lebendige Körper haben eine erscheinende, anschauliche Grenze; diese Grenze ist der Rand eines Dinges; dieses Anfangen oder Aufhören an einer Grenze bestimmt die Gestalt. Das Ding hat eine bestimmte Oberflächenbeschaffenheit, Gewicht, Farbe. Diese Eigenschaften sind das Ding selbst als auch seine Eigenschaften; bspw. hat das Ding die Farbe rot und es ist auch rot. Die Zweideutigkeit bezieht sich auch auf die Gestalt (Grenzkontur), denn diese kann verkleinert und vergrößert werden; auch diese hat das Ding und ist es zugleich. Das besondere Moment der „Grenzkontur“ oder der Gestalt ist, dass es sowohl in Erscheinung tretende räumliche Grenze ist als auch Aspektgrenze, an der ein Umschlag zweier Richtungen (von 92 Ebd., S. 109. 93 Ebd., S. 123. 94 Ebd., S. 126.
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Innen nach Außen, von Außen nach Innen) stattfindet. Aus der systematischen Einsicht in die Doppelaspektivität der Grenzkontur folgt für Plessner, „daß die organische Formgrenze als Gestalt einen übergestalthaften, mit Gestalt nicht erschöpften Charakter haben muß.“95 Um diese Paradoxie denken zu können, bedarf es eines Körpers, der außer seiner Begrenzung (Gestalthaftes) zugleich den Grenzübergang (Übergestalthaftes) als Eigenschaft hat. Das Verhalten des Körpers zu seiner Grenze verändert nicht die materiale Struktur, sondern nur formal seine Erscheinung. Statt mit einer Differenz im Erscheinungsgehalt haben wir es mit einer Differenz in der Erscheinungsweise zu tun. Für das Verhältnis des begrenzten Körpers zu seiner Grenze sind nach Plessner zwei Verhältnisbestimmungen denkbar: 1. Die Grenze ist nur das „virtuelle Zwischen“ dem Körper und den anstoßenden Medien; in diesem Fall gehört die Grenze sowohl dem Körper wie auch den anstoßenden Medien an; wo das Eine endet, fängt das andere an. 2. Die Grenze gehört „reell“ dem Körper an; die Grenze ist insofern seiend, weil sie von sich aus das durch sie begrenzte Gebilde als solches von dem Anderen als Anderem prinzipiell unterscheidet.96 Diese Differenz ist nicht bloß wahrnehmungs- und erkenntnistheoretisch zu verstehen. Schon Köhler, Wertheimer und Driesch geht es, trotz aller Unterschiede, um eine Erkenntnis der Strukturgesetzlichkeit der Sache selbst. Plessner argumentiert in folgenden Schritten: Wenn es gelingt, aus dem in Fall 2 gegebenen Ansatz die Grundfunktionen zu entwickeln, deren Vorhandensein an belebten Körpern als charakteristisch für ihre Sonderstellung geltend gemacht wird, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Unterschied von Fall 1 und 2 „ein Seinsunterschied, d. h. – und diesen Satz halte man sich während der Lektüre des Buches ständig vor Augen – kein für sich, sondern nur in seinen Konsequenzen oder seiner Erscheinung erfahrbarer Unterschied ist.“97 So beiläufig das klingt, wir stehen vor der entscheidenden Begründungsfigur einer Theorie des lebendigen Körpers, die auf einen „Seins unterschied“ verweist, der gleichwohl nur ein „in der Erscheinung erfahrbarer Unterschied“ ist. Wenn wir nun gemäß Fall 2 annehmen, 95 Ebd., S. 102. 96 Ebd., S. 103. 97 Ebd., S. 106.
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dass die Grenze reell zum Körper gehört, und von einem „Seinsunterschied“ sprechen, dann legen wir die ontologische Differenz zwischen dem unbelebten und belebten Körper auf die Ebene der Wahrnehmung des Doppelaspekts der Grenzkontur (Gestalt). Das aber impliziert, wie Plessner hinzufügt, lediglich einen Grund (und nicht die Ursache) der Lebenserscheinungen, die wir in die Klasse der lebendigen Dinge einordnen und von der Klasse der unbelebten Dinge unterscheiden. Plessner setzt der Gestalttheorie Köhlers das Argument entgegen, dass sie die qualitative Differenz der Lebendigkeit im Anschauungsprozess verpasst. Hier konvergiert Plessners Konzeption ein weiteres Mal mit Drieschs Intuition, dass es einer qualitativen, nicht auf quantitative Bestimmungen reduziblen, Einheit des Erlebens der Ganzheit bedarf. Allerdings geht ihm Drieschs Erklärung der „eigentümlichen Autokratie des lebendigen Systems“ durch Rückgriff auf ein Prinzip der Entelechie zu weit.98 Der Seinsunterschied, von dem hier die Rede ist, ist eben kein „für sich“ erfahrbarer Unterschied; daher ist die Annahme einer bestimmten Ursache oder Kraft, die ihn hervorruft, der Problemstellung Plessners nicht angemessen. Plessner resümiert die Köhler-Driesch-Debatte dahingehend, dass der Vitalismus zwar für sich reklamieren kann, gegen eine vorschnelle Identifizierung des Lebendigen mit Unbelebtem zu opponieren. Zugleich schießt er jedoch über das Ziel hinaus, da er die Autonomie einer Schicht des Lebendigen behauptet, die sich angeblich dem denkenden und forschenden Zugriff entzieht. Der Vitalismus, auch in seiner neuesten Fassung bei Driesch, hat sich somit vom Erbe der Lebensphilosophie nicht weit genug entfernt.99 Plessner vermeidet es, auf Drieschs Konzept der Entelechie zurückzugreifen und sichert den phänomenalen Befund der Lebendigkeit allein durch ein Form-Moment des Naturkörpers, das er mit dem Begriff „Positionalität“ kennzeichnet. „In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper
98 Ebd., S. 104 f. 99 Vgl. H. Driesch, Philosophie des Organischen, S. 349, S. 372 und passim. Vgl. M. Scheler, „Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson“, in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, 4. Aufl., Bern 1955, S. 314-339. Dazu G. Hartung: „Lebensphilosophie“, in: S. Schaede, G. Hartung, T. Kleffmann (Hrsg.), Leben II. Historisch-Systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Tübingen 2012, S. 309-326.
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vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität.“100 Positionalität meint ein Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze, das nicht statisch, sondern dynamisch und dadurch anschaulich ist. Lebendigkeit zeigt sich in diesem Grenzverhältnis eines Naturkörpers, insofern alles Lebendige Plastizität seiner Ausdehnung, also: Dehnbarkeit und Verschiebbarkeit der Grenzkonturen (Gestalt) zeigt. Nur lebendige Dinge haben die Möglichkeit, ihren Bezug zur Außenwelt dynamisch und variabel zu gestalten, und je mehr ein Naturkörper dies tut, desto lebendiger erscheint er uns. Mit dem Konzept der „Positionalität“ hat Plessner seine Antwort auf das Grundproblem der Gestalttheorie gefunden. Das „übersummenhafte“ Moment ist bereits an unbelebten Gestalten erfahrbar. Doch nur der lebendige Körper erscheint in übergestalthafter Weise, denn nur an ihm zeigt sich eine Dehnbarkeit und Verschiebbarkeit der Grenzkonturen. Die ontologische Differenz, die der Mechanist bestreitet und der Vitalist unter Zuhilfenahme unerklärbarer Kräfte behauptet, wird von Plessner als ein nur in der Erscheinung erfahrbarer Unterschied deklariert. Das aber hat erhebliche Konsequenzen für den Stufenaufbau der organischen Welt. Von der Pflanze bis zum Tier zeigt diese den phänomenal-deskriptiven Befund einer graduellen Zunahme der Lebendigkeit; die entscheidende ontologische Differenz liegt dieser Stufenfolge schon voraus. Worauf es Plessner hier ankommt, wird in der Wiederholung des Satzes, den wir uns „während der Lektüre des Buches ständig vor Augen“ halten sollen, deutlich: der „Seinsunterschied [zwischen Unbelebtem und Lebendigem ist ein] nur in seinen Konsequenzen oder seiner Erscheinung erfahrbarer Unterschied“. Die Erfahrbarkeit dieses Unterschieds impliziert einen lebendigen Körper, der nicht nur in seiner Positionalität „übersummenhaft“ (Köhler) und „übergestalthaft“ (Driesch) ist, sondern dem zugleich im Wahrnehmungsvorgang die einzelnen Elemente „nicht primär als Stücke in Und-Summe in Betracht [kommen], sondern von vornherein als Teile eines Ganzen“ (Wertheimer). 100 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 129. Vgl. F. J. J. Buytendijk, „Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier“, in: Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958, S. 21-59; hier insb. S. 26, der statt „Positionalität“ den Begriff der „Zentralbezogenheit“ verwendet. Vgl. dazu den Beitrag von Becker in diesem Band.
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Von hier aus wird ein Grundgedanke der philosophischen Anthropologie Plessners im Kontext der Gestalttheorie deutlich: Auf der ontologischen Differenz zwischen Unbelebtem und Lebendigem ruht die anthropologische Differenz einer Seinsweise, die sich nicht nur durch Positionalität (Pflanze) und zentrische Positionalität (Tier), sondern durch exzentrische Positionalität auszeichnet: der Mensch. Plessner gibt eine Antwort auf die von Max Wertheimer formulierte Frage, wie es zu verstehen ist, dass unsere Erfahrung im natürlichen Leben in der Regel nicht in „stückhaft summierte Einzelerfahrungen“ zerfällt. Wertheimers Verdacht, dass es wahrscheinlich biologische Gesetzlichkeiten sind, die unsere Wahrnehmung als Anpassungsleistungen an eine äußere Welt regulieren, widerspricht Plessner allerdings vehement. In Plessners eigenwilliger Aneignung der Gestalttheorie wird deren anti-reduktionistischer Forschungsansatz prägnant herausgearbeitet. Die entscheidende (und schon von Alois Höfler gestellte) Frage, was es für bestimmte Organismen heißt, dass sie für Gestalten empfänglich sind, lenkt Plessners Blick auf eine ontologische Differenz und eine ihr entsprechende, sie eigentlich erst erfahrbar machende anthropologische Konsequenz. Das Übersummenhafte des physischen Körpers und das Übergestalthafte des lebendigen Körpers erscheinen als Bedingungen der exzentrischen Seinsweise des Menschen, der als lebendiger Körper selbst übergestalthaft ist, aufgrund seines Wahrnehmungsvermögens für Gestalten auch empfänglich ist – und als Gestalter seiner Welt diese Doppelaspektivität objektiviert. Plessners Auseinandersetzung mit der Gestalttheorie enthält, wie wir ausführlich dargestellt haben, die Begründungsstrukturen seiner philosophischen Anthropologie. Nicht von ungefähr heißt der Abschnitt seines Hauptwerkes Die Stufen des Organischen und der Mensch, der dieser Thematik gewidmet ist: „die These“. Zusammengefasst lautet die These des Buches: Allein am Menschen als dem übergestalthaften und der Gestaltwahrnehmung empfänglichen, lebendigen Körper wird eine ontologische Differenz („Seinsunterschied“) sichtbar, insofern sie in der Objektivation einer besonderen Seinsweise (exzentrisch) erfahrbar wird.
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II. Helmuth Plessner im Dialog mit der Philosophie
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Helmuth Plessner und Henri Bergson. Das Leben als Subjekt und Objekt des Denkens
„[U]nter welchen Bedingungen läßt sich der Mensch als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit, als sittliche Person von Verantwortungsbewußtsein in ebenderselben Richtung betrachten, die durch seine physische Stammesgeschichte und seine Stellung im Naturganzen bestimmt ist? […] Gelingt die Wahrung des Einen Grundaspekts nicht, so folgt unmittelbar daraus eine doppelte Wahrheit, […] der Mensch als Selbst, als Ich, als Subjekt eines freien Willens und der Mensch als Natur, als Ding, als Objekt kausaler Determination. Dann hat man die unwürdige und unerträgliche Lage […], den Menschen als Produkt einer Phylogenie und die Phylogenie als Produkt des Menschen, des irgendwie im Menschen Ereignis gewordenen schöpferischen Geistes gelten zu lassen. Wie vorsichtig man bei der Herstellung des einen Grundaspekts sein muß, hat Bergson in seiner Kritik Spencers gezeigt.“1 „Erkenntnistheorie und Lebenstheorie […] müssen sich […] immer weiter vorwärts treiben. […] [G]elänge ihr gemeinsames Unternehmen, so führten sie uns die Bildung der Intelligenz und damit die Entstehung jener Materie selbst vor Augen, deren allgemeine Beschaffenheit unsere Intelligenz abbildet. Sie würden bis zur Wurzel von Natur und Geist hinabsteigen. Den falschen Evolutionismus Spencers – der darin besteht, die aktuelle, schon entwickelte Wirklichkeit in kleine, nicht minder entwickelte Stücke zu zerschneiden, sie dann wieder aus diesen Bruchstücken zusammenzusetzen und so von Anfang an alles vorauszusetzen, was es erst zu erklären galt – würden sie durch
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H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl., Berlin, New York 1975, S. 6.
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einen echten Evolutionismus ersetzen, der die Wirklichkeit in ihrer Entstehung und ihrem Wachstum verfolgen würde.“2 Der virtuelle Dialog zwischen Plessner und Bergson, der sich in beiden Zitaten ankündigt, ebenso wie der Punkt, an dem sie sich trennen – dieser Dialog wurde bereits von Max Scheler abgebrochen. Zunächst (1913) und wirkmächtig hat nämlich Scheler Bergsons Philosophie als „Versuch einer Philosophie des Lebens“ neben Nietzsche und Dilthey klassifiziert. Er liest Bergson dabei wie fast die gesamte deutsche Rezeption nach ihm: psychologistisch, als Philosophie des inneren Lebens; intuitionistisch und biologistisch. Schöpferische Evolution (1907), dasjenige Hauptwerk Bergsons, das – gemeinsam mit Materie und Gedächtnis (1896) – der Philosophischen Anthropologie sehr nahe kommt,3 fand Scheler „merkwürdig“ und „sehr problematisch“. Bergson biete darin ein eher „künstlerisch empfundenes Gesamtgemälde“, als eine Philosophie des Lebens. Bergsons Fund ist für ihn die enge Verbindung von Erkenntnis- und Lebenstheorie, die den „Zirkel“ der „entwicklungsgeschichtlich-biologischen Ableitung der Intelligenz z. B. durch Herbert Spencer“ korrigiert.4 Darüber hinaus habe Bergson aber allenfalls ein erstes „Antippen der philosophischen Probleme der Biologie“ vollbracht, eine Aufgabe, für die Scheler die Philosophische Anthropologie vorsieht, und zwar in einer „genaueren, strengeren – und deutscheren Art des Verfahrens“. Sie werde „wie der erste Tritt eines jahrelang in einem dunklen Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten“ sein.5 Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, lässt sich sagen, dass in dieser Bergson-Lektüre die Kritik an einer als monistisch verstandenen Metaphysik überwiegt.6 Hat Scheler die Modernität Bergsons übersehen müssen, weil er selbst noch zu altmodisch, zu cartesianisch dachte? Die 2 3
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H. Bergson, Schöpferische Evolution (1907), Hamburg 2013, S. 7 f. H. Delitz, „Henri Bergson: Matière et Mémoire und L’évolution créatrice – die doppelte Grundschrift der Philosophischen Anthropologie à la française“, in: J. Fischer (Hrsg.), Philosophische Anthropologie – Hauptautoren und Grundschriften, Nordhausen 2015 (im Druck). M. Scheler, „Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson“ (1913), in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Gesammelte Werke, Bd. 3, Bern 1955, S. 313-339, hier S. 338 und S. 337. M. Scheler, „Versuche einer Philosophie des Lebens“, S. 339. Vgl. W. Henckmann, „La réception de la philosophie de Bergson par Max Scheler“, in: Annales Bergsoniennes II, Paris 2004, S. 363-389, v. a. S. 382 ff.; A. François, „La critique schélérienne des philosophies nietzschéenne et bergsonienne de la vie“, in:
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zentralen Konzepte sind ihm jedenfalls entgangen: die allgemeine Philosophie der Differenz anstelle der Identitätsphilosophie, sowie das ihr entsprechende, temporal angelegte Immanenzkonzept. Auch Plessner hebt die Kritik an ‚Spencers Zirkel‘ als Leistung Bergsons hervor. Wie Scheler liest er ihn ansonsten als Intuitionist, sowie als den Verzauberer des Lebens, das es nun zu entzaubern gelte. So lasen Bergson fast alle Zeitgenossen, hierzulande7 und auch in Frankreich selbst. Auch dort hat man die „Originalität und Kraft“ des bergsonschen Denkens verkannt;8 zu lange suchte man in ihm nur die „einfachen Antithesen der Thesen seiner Widersacher“.9 An diesen Lektüren ist Bergson im Übrigen nicht unschuldig. Die Wahl seiner Begriffe war wenig glücklich.10 In den 1950ern jedenfalls setzte eine französische Neulektüre Bergsons ein, bei so illustren Autoren wie Jean Wahl, Jean Hyppolite, Maurice Merleau-Ponty, Georges Canguilhem und Gilles Deleuze. Seither gilt Bergson als Erfinder einer singulären Philosophie, die quer zur philosophischen Tradition liegt, quer auch zu den Schubläden der Lebensphilosophie oder der Philosophie des inneren Lebens. Seither erscheint auch Bergsons Intuition in anderem Licht: als strenge Methode mit präzise angebbaren Schritten. In der Reformulierung des Konzeptes des élan vital gilt diese Philosophie schließlich auch nicht mehr als alter, substanzontologischer Vitalismus, sondern als Neuer Vitalismus im Sinne des Denkens des
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Bulletin d’analyse phénoménologique VI, n. 2: La nature vivante (Actes n. 2), 2010, S. 73-85. Vgl. zur deutschen Bergson-Rezeption R. W. Meyer, „Bergson in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Zeitauffassung“, in: R. Boehm, W. N. Krewani, R. W. Meyer, E. W. Orth, Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München 1982, S. 10-64; G. Pflug, „Die BergsonRezeption in Deutschland“, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 45/1991, S. 256-266; G. Raulet, „Ein fruchtbares Missverständnis. Zur Geschichte der Bergson-Rezeption in Deutschland“, in: G. Plas, G. Raulet (Hrsg.), Konkurrenz der Paradigmata. Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie, Nordhausen 2011, 1. Tb., S. 231-278. J. Hyppolite, „Vie et existence d’âpres Bergson“ (1950), in: ders., Figures de la pensée philosophique. Ecrits de Jean Hyppolite (1931-1968) I, Paris 1971, S. 489-498, hier S. 490. M. Merleau-Ponty, „Lob der Philosophie“ (1953), in: ders., Vorlesungen 1, Berlin 1973, S. 15-50, hier S. 20. Vgl. zu Bergsons Begriffswahl und der Aufschlüsselung ihrer Bedeutungen F. Worms, „Vocabulaire de Bergson“, in: J.-P. Zarader (Hrsg.), Vocabulaire des Philosophes (XX siècle), Paris 2002, S. 15-19.
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Lebens als Subjekt und Objekt. Vieles davon ist auch das Verdienst von Deleuze, der Bergsons Philosophie als allgemeine Philosophie der Differenz11 (v. a. Schöpferische Evolution) und als allgemeine Philosophie der Immanenz (v. a. Materie und Gedächtnis) sichtbar machte.12 In Bergson sieht die französische Forschung seither eine Position, welche die identitätslogische Philosophie als Denken in Zuständen und Pseudoproblemen ersetzt, indem sie das Werden an die Stelle des Seins, der Identität setzt, weswegen es richtiger eine Philosophie der Differentiation13 hieße. Grundlegend ist für Bergson die ständige, unvorhersehbare Veränderung, das Anders-Werden. Seine Immanenzontologie wiederum beinhaltet einen radikalen Nichtcartesianismus, die Aufhebung der Trennungen von Unausgedehntem und Ausgedehntem, Körper und Geist, Materie und Vorstellung in einem (wie Deleuze sagt) pluralen Monismus. Dieser neu gelesene Bergson, den es hierzulande erst sichtbar zu machen gilt – weshalb er im Folgenden mehr Raum erhält als der mittlerweile ‚remigrierte‘ Plessner – erweist sich heute als aktueller denn je. Dieser Bergson ist (ebenso wie Plessner) unser Zeitgenosse, sofern das sozial- und kulturwissenschaftliche Denken die Materialität, die Artefakte, die Affekte, den Körper in deren Eigendynamik neu entdeckt. Bergson ist der Autor einer eigenen, französischen philosophischen Anthropologie inklusive der Kritik aller reduktionistischen Selbstverständnisse des Menschen.14
1. Plessner über Bergson (der reale Monolog) Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man feststellt, dass Plessners Hauptwerk – im Ziel einer distanzierten oder ‚nüchternen‘ Philosophie des Lebens – von der ersten Seite mit, aber auch gegen Berg11 Vgl. z. B. G. Deleuze, „Henri Bergson, 1859–1941“ (1956), in: ders., Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953–1974, Frankfurt a. M. 2003, S. 28-44. 12 Z. B. in G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung (1966), Hamburg 1989. 13 Resp. „différent/ciation“: G. Deleuze, „Die Methode der Dramatisierung“ (1967), in: ders., Die einsame Insel, Frankfurt a. M. 2003, S. 139-170, hier S. 143; ders., „Cours sur le Chap. III de l’évolution créatrice de Bergson“ (1960), in: Annales bergsoniennes 2. Bergson, Deleuze, la phénoménologie, Paris 2008, S. 166-188. 14 J. Fischer, „Philosophische Anthropologie als kritische Theorie?“, in: G. Plas, G. Rau let, M. Gangl (Hrsg.), Philosophische Anthropologie und Politik, Nordhausen 2013, S. 61-76.
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son entworfen sei. Mit Bergson: insofern Bergson eine philosophische Biologie entfaltet hat und insofern er buchstäblich vitalistisch dachte, die vitalen, tragenden Kräfte im Menschen sichtbar machend.15 Und gegen Bergson: insofern Plessner stets zugleich gegen die „Lebens ideologie“, gegen die Bezauberung seiner Zeit durch den Begriff des Lebens anschreibt.16 In diesem Kontext wird Plessner sagen, dass eine recht verstandene Philosophie des Lebens immer den „Einen Grundaspekt“ finden müsse, von dem aus beide Aspekte menschlichen Lebens erreichbar sind: das organische wie das kulturelle Leben, das „Objekt kausaler Determination“ ebenso wie das „Subjekt eines freien Willens“. Bergson habe in seiner Spencer-Kritik immerhin gezeigt, „wie vorsichtig“ man bei der Konzeption dieses einigenden Grundaspekts sein müsse.17 Herbert Spencer wollte die apriorischen Voraussetzungen des Erkennens empirisch klären, die Kategorien zu Anpassungsergebnissen machend, die er aber zugleich voraussetzen musste. In der Aufdeckung dieses Zirkels sieht Plessner (wie schon Scheler) also Bergsons Leistung. Und Bergsons positiven Vorschlag deutet sich Plessner ebenfalls wie Scheler: als „Irrationalismus“, als „unbestimmte Anschauung vom schöpferischen Wesen des Lebens“ in der Opposition gegen die Naturwissenschaft, deren Quelle (der Intellekt) nur eine „Spielform des Lebens“ unter anderen sei.18 Im Zentrum dieser Bergson-Lektüre steht erneut der (missverständliche) Begriff Intuition; auch Pless15 Vgl. dazu J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg, München 2008 (Bergson hielt neben Driesch für Plessner die „Möglichkeit einer nichtmechanistischen philosophischen Biologie […] offen“, S. 36). Und dezidiert gegenüber allen, die Plessner verharmlosend lesen: Es sei der „Explosivcharakter der philosophisch-anthropologischen Kategorie ‚exzentrische Positionalität‘“ zu betonen, wozu „theoriegeschichtlich auch einmal die Bedeutung des lebensphilosophischen Ansatzes“ für seine Philosophie „ganz ernst“ genommen werden müsste, und zwar derjenigen Bergsons. Ohne sie ist Plessner „nicht zu verstehen, so sehr er ihn selbst in der Theoriebildung ‚entzaubert‘ und verwandelt hat. Plessner hat die Kategorie der ‚exzentrischen Positionalität‘ auch gebildet, um […] den Einbruch oder Ausbruch des A-rationalen, den Wirbel des Irrationalen, des Exzesses, der ‚Exzentrik‘ in die menschliche Lebensform begreifbar zu machen“. J. Fischer, „Ekstatik der exzentrischen Positionalität. Lachen und Weinen als Pless ners Hauptwerk“, in: B. Accarino, M. Schloßberger (Hrsg.), Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Berlin 2008, S. 253-270, hier S. 265. 16 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 3 f. 17 Ebd., S. 6. 18 Ebd., S. 12.
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ner versteht Bergsons Ansatz als Theorie innermenschlichen Lebens. Bergson suche in den Lebensphänomenen das „Einfühlbare“.19 Wie alle Zeitgenossen versteht Plessner Bergson zugleich auch als Irrationalisten, der die Kultur zur „Ausgeburt des schöpferischen Lebens wie all die wunderlichen Gebilde der Pflanzen und Tiere“ mache.20 Schließlich habe Bergson den einigenden ‚Grundaspekt‘, auf den es in der Betrachtung des Menschen als natürlichem und kulturellem Wesen ankommt, auch noch metaphysisch gefasst: im élan vital als „von außen“ wirkender „Kraft“.21 Den Menschen als Subjekt von Kultur, Wissen, Gesellschaft könne er daher nicht denken, Geist und Körper nicht gleichermaßen ernst nehmen. All dies führt Plessner dazu, in Bergson letztlich einen Autor zu sehen, der dem „Denken den Mut“ nehme,22 indem dieser zwar die richtige Frage gestellt, aber die falsche Antwort gegeben habe. In Schicksal deutschen Geistes wird Bergson 1935 sogar als ein Hauptautor der Zerstörung der Vernunft dargestellt, L’évolution créatrice als eine Hauptetappe im Misstrauen gegen Fortschritt, Toleranz, Humanität.23 1949 findet Plessner Bergsons Denken dann überholt.24 1961 kommt er ein letztes Mal auf ihn zurück: Bergson habe das menschliche Leben als Subjekt und Objekt zu denken gesucht und sei damit (nach Schopenhauer, Schelling und Nietzsche) der „unmittelbare Vorgänger der philosophischen Anthropologie“. Erneut spricht Plessner hier auch die Kritik an ‚Spencers Zirkel‘ an, als Grund, weshalb Bergson für die Entstehung des Denkens eine andere Quelle gesucht habe. „Die Lehre von der schöpferischen Entwicklung auf Grund der lebendigen Schwungkraft […] verweist die Modelle des Zusammenhangs von Ursache-Wirkung und von Zweckmitteln in den Bereich der Rationalität und des diskursiven Verstandes. Leben 19 20 21 22
Ebd., S. 225. Ebd., S. 9. Ebd., S. 12. Ebd. Vgl. zur intuitionistischen Methode bei Bergson und der Kritik an ihr sowie zu Bergsons Kritik an Spencer auch H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1980, S. 106-119. Ebd. geht Plessner auf die in Materie und Gedächtnis entwickelte Erkenntnistheorie (Wahrnehmung als Selektion ‚in der Aufmerksamkeit auf das Leben‘) ein, ohne das Buch indes zu nennen. 23 H. Plessner, Die verspätete Nation (1935/1959), Frankfurt a. M. 1988, S. 17 und S. 188. 24 H. Plessner, „Lebensphilosophie und Phänomenologie“ (1949), in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, München 2001, S. 231-255, hier S. 231.
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können sie nicht fassen. […] Nur die Intuition […] führt uns auf den Spuren erlebter verlorener Zeit an das grund- und ziellose Wesen der Lebendigkeit. Mit dieser Abwendung von der proleptischen Geste des tatverwandten Wissens […] entwindet sich Bergson dem Zirkel Spencers und gewinnt zugleich die Freiheit für eine Philosophie der lebendigen Natur und der Stellung des Menschen in ihr.“25 Es sei dies der Versuch, das Leben als natura naturans zu denken,26 was sich indes kaum in Begriffe fassen lasse. Wäre der ‚Dialog‘ zwischen Plessner und Bergson (der ein Monolog war, da Bergson Plessner nicht wahrnahm) anders ausgefallen, hätte Plessner die französischen Neulektüren gekannt?
2. Plessner und Bergson (der virtuelle Dialog) Womöglich hätte es sich ihm so dargestellt, dass Bergson ein ähnliches, umgekehrt angelegtes Projekt habe: dem temporalen Gesichtspunkt folgend, entlang von Zeitkategorien denkend, während Plessner in dieser Arbeitsteilung der Raumdenker wäre, der Denker der Grenze, der Position. Ist es sein Ziel, mit den Stufen der „horizontalen“ (dem Vergleich der Kulturgebiete) die „vertikale“ Betrachtung des Menschen zur Seite zu stellen, diesen als Organismus mit anderen Organismen zu vergleichen,27 den Menschen also als Subjekt-Objekt der Natur zu verstehen – so handelt es sich bei Bergson um dasselbe Projekt. Für Canguilhem jedenfalls bietet dieser ein neues Denken des Lebens, in dem Konzept und Leben vereint sind, einen neuen Vitalismus.28 Und 25 H. Plessner, Die Frage nach der conditio humana (1961), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1985, S. 136-217, hier S. 154 f. 26 Diesen Begriff hatte Bergson 1932 gebraucht: H. Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932), Frankfurt a. M. 1992, S. 46: „Wenn wir von der sozialen Solidarität zur menschlichen Brüderlichkeit fortschreiten, dann brechen wir […] mit einer gewissen Natur, nicht aber der ganzen Natur. Man könnte sagen […], wir lösten uns von der natura naturata, um zur natura naturans zurückzukehren.“ Vgl. zu dieser Denkfigur der bergsonschen Gesellschaftstheorie H. Delitz, BergsonEffekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerswist 2015, Kap. II. 27 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 32. 28 G. Canguilhem, „Aspekte des Vitalismus“ (1952), in: ders., Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 149-181. Vgl. C. Canguilhem., „La nouvelle connaissance de la vie: Le concept et la vie“ (1966), in: ders., Études d’histoire et de philosophie
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noch enger an Plessner formuliert: Bergsons Philosophie denke den Menschen als Subjekt und Objekt des Lebens. Für Bergson dürfe der Verstand „sich auf das Leben nur beziehen, wenn er die Originalität des Lebens anerkennt. Das Denken des Lebendigen muss die Idee des Lebendigen dem Leben selbst entnehmen.“29 Für dieses Projekt fällt ein Kernsatz in Materie und Gedächtnis, wenn Bergson hier immer erneut sagt, dass es sich auch bei den kognitiven Aktivitäten um die eines Lebewesens handele, um eine Aktivität in der Aufmerksamkeit auf das Leben.30 Der andere Kernsatz fällt in Schöpferische Evolution: Indeterminiertheit ist das Kennzeichen des Lebens, und für menschliches Leben gilt dies potenziert. Es ist diese „Freiheit, die die menschliche Form in sich aufnimmt“.31 Im geteilten Vorhaben eines neuen Denkens des Lebens hat also Bergson einen eigenen Ansatz und ein eigenes Ziel: Im Ausgang von der temporalen Dimension der Wirklichkeit ist es sein Ziel, die menschliche Freiheit adäquat zu denken. 2.1 Vorklärungen Bergsons Schlüsselkonzepte Um diesen Bergson zu sehen, ist es zunächst nötig, seine zentralen Konzepte kurz zu erläutern. Zentral sind die Konzepte der intuition (die Methode); des élan vital (das Konzept für die temporale Existenzweise des Lebens als permanenter, sich differenzierender Aktualisierung des Virtuellen); und der Dauer (das kontinuierliche Nachein ander, durée gegenüber der verräumlichten, diskontinuierlichen, in Abschnitte geteilten Zeit, temps). Nie handelt es sich für Bergson bei des sciences, Paris 1968, S. 335-364. Zu Canguilhem und Plessner siehe Th. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens. Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie, Berlin 2012; zu Pless ner und Bergson jetzt auch ders., „Life, concept and subject. Plessner’s vital turn in the light of Kant and Bergson“, in: J. de Mul (Hrsg.), Artifical by Nature. Plessner’s Anthropology: Perspectives and Prospects, Amsterdam 2014, S. 99-110. 29 G. Canguilhem, „Das Denken und das Lebendige“ (Einleitung), (1952), in: ders., Die Erkenntnis des Lebens, Berlin 2009, S. 15-22, hier S. 22. 30 H. Bergson, Materie und Gedächtnis, Jena 1919, z. B. S. VI: „So enthält unser zerebraler Zustand mehr oder weniger von unserem geistigen Zustand, je nachdem ob wir unser seelisches Leben mehr in Tätigkeit veräußerlichen oder mehr in reine Erkenntnis verinnerlichen. […] je nach dem Grade unserer Aufmerksamkeit auf das Leben. Das ist eine der Leitideen des vorliegenden Werkes [...].“ 31 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 301.
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der Realität um einen Zustand, stets um ein Werden, und die durée soll erlauben, dieses kontinuierliche „Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt“, zu denken – als Prozess, in dem immer neue Realitäten entstehen. Das ist die Grundidee. „Je tiefer wir das Wesen der Zeit ergründen, desto mehr begreifen wir, daß Dauer Erfindung, Schöpfung von Formen, kontinuierliche Bildung von absolut Neuem bedeutet.“ Und weiter: „Zeit ist Erfindung oder überhaupt nichts.“32 Seit seiner Dissertation Essai sur les données immédiates de la conscience 1889 kreist Bergson um diese Schlüsselidee. Im Übrigen habe ein Philosoph stets einen einzigen Gedanken: „Ein Philosoph, der dieses Namens würdig ist, hat im Grunde nur immer eine einzige Sache im Auge gehabt: außerdem hat er mehr versucht, diese Sache auszusprechen, als daß er sie direkt ausgesprochen hätte.“33 Die Unterscheidung von temps und durée, Zeit und Raum (von Intensivem/ Extensivem, Heterogenem/Homogenem, Kontinuierlichem/Diskontinuierlichem) erklärt also alle weiteren Konzepte Bergsons – die Intuition als die Methode, entlang des Temporalen zu denken, sich an die Veränderung anzuschmiegen; der élan vital als Konzept für das Leben, das wegen der ständig weiterlaufenden Veränderung nur retrospektiv aussagbar ist. Zwei Dinge sind also zumindest zu klären, um den Dialog mit der philosophischen Anthropologie Plessners erneut in Gang zu bringen: Was meint Bergson mit der Methode der Intuition, und was verbirgt sich im Konzept des élan vital? ‚Intuition‘ bezeichnet ein methodisches Verfahren. Bergson ist sich der Problematik des Begriffes bewusst: „‚Intuition‘ ist übrigens ein Wort, bei dem wir länger zögerten. Von allen Ausdrücken, die einen Modus der Erkenntnis bezeichnen, ist es der passendste, und dennoch gibt er leicht Anlaß zur Unklarheit: weil ein Schelling, ein Schopenhauer u. a. schon sich auf die Intuition berufen haben, weil sie mehr oder weniger die Intuition der Intelligenz entgegengestellt haben, konnte man glauben, daß wir dieselbe Methode anwendeten.“34 Stattdessen will er seine Methode so verstanden wissen (und wir folgen hier ganz der Interpretation von Deleuze35): Sie verläuft erstens sehr 32 Ebd., S. 21 und S. 384. 33 H. Bergson, „Die philosophische Intuition“ (1911), in: ders., Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Meisenheim 1948, S. 126-145, hier S. 131. 34 H. Bergson, „Einleitung (Zweiter Teil)“, in: ders., Denken und Schöpferisches Werden, S. 42. 35 Siehe v. a. G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, Kap. 1 (Intuition als Methode).
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wohl sprachlich, nämlich über die Begriffe „Dauer, qualitative oder heterogene Mannigfaltigkeit, Unterbewußtsein, – sogar Differential, wenn man den Begriff in seiner anfänglichen Bedeutung nimmt.“36 Zweitens enthalte die Methode eine „Vielfalt der Funktionen und Aspekte“,37 genauer, einen Dreischritt. Die Methode problematisiert, differenziert und verzeitlicht, sie stellt die Probleme in Begriffen der Zeit. Bergson dringt zunächst stets darauf, den inneren Linien, den ‚wirklichen‘ Gliederungen des Wirklichen zu folgen. Die Intuition erscheint in diesem Aspekt als „Teilungsmethode: Sie teilt das Gemisch in zwei Tendenzen, die sich dem Wesen nach unterscheiden“,38 und zwar, um falsche Vermengungen (von Raum und Zeit, Erinnerung und Empfindung, Materie und Dauer, Pflanze, Tier und Mensch, geschlossenen und offenen Gesellschaften, Mythos und Religion) und falsche Differenzierungen (von Negativem versus Positivem, Ausgedehntem versus Unausgedehntem, Körper versus Geist) durch die tatsächlichen Differenzen zu ersetzen. Im zweiten Schritt deckt die Methode Pseudoprobleme auf, die aus den falschen Differenzierungen stammen; dieser Aspekt der Methode beinhaltet die berühmte Kritik negativer Begriffe, auf die wir unten kurz eingehen müssen. Der dritte Aspekt liegt in der Erfindung dynamischer Begriffe, die sich der Temporalität des Wirklichen anschmiegen. Die Suche nach „beweglichen, fast fließenden“ Begriffen39 reformuliert Bergsons Leitidee, philosophische Probleme eher unter dem Aspekt der Zeit als des Raumes zu betrachten. Und worauf will Bergson hinaus, wenn er vom élan vital spricht? Bei der Entwicklung des Lebens (beides ist identisch: Leben ist Werden) handelt es sich, so Deleuze, um eine „in der Aktualisierung begriffene Virtualität, um ein in der Differenzierung begriffenes Einfaches, um eine in der Aufspaltung begriffene Totalität“.40 Der Weg, den das Leben in temporaler Hinsicht einschlägt, ist Zerlegung oder Differenzierung; und diese ist das Vermögen des Lebens als eines, das an sich einfach ist, da es die durch die einzelnen Lebensformen hindurchlaufende, unteilbare Bewegung, das Werden ist. Die Differenzierung der Lebens36 Ebd., S. 47. 37 H. Bergson, „Comment doivent écrire les philosophes“ (Lettre à C. Bourquin 1924), in: Philosophie 54/1997, S. 3-8, hier S. 7. Vgl. H. Bergson, „Einleitung (Zweiter Teil)“, S. 46. 38 G. Deleuze, „Bergson 1859–1941“, S. 34. 39 H. Bergson, „Einführung in die Metaphysik“ (1903), in: ders., Denken und schöpferisches Werden, S. 180-225, hier S. 190. 40 G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, S. 119.
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formen rührt für Bergson dabei vom Widerstand der Materie her, die einzelnen Lebensformen sind andere Wege, sich ihrer zu bemächtigen. Die Differenzierung erklärt sich aber auch aus dem Leben selbst, insofern es als in sich bereits differenziert (oder differentiiert) erscheint. „Die Materie unterteilt faktisch, was zuvor nur virtuell multipel war“, so heißt es bei Bergson.41 Mit dem Begriff élan vital ist also die permanente Veränderung als das Wesentliche des (organischen) Lebens gekennzeichnet, die durch die Individuen hindurch verläuft und sich in ihnen als gemeinsame Tendenz offenbart, wobei Bergson die Tendenz so definiert, dass sie sich stets spalte oder differenziere. Tendenz heißt Bifurkation, und als Tendenz besitzt sie nur Existenz, insofern sie sich aktualisiert. Die Aktualisierung verläuft also stets in divergenten Richtungen (Pflanze und Tier, Mollusken und Vertebrata etc.). Leben heißt für Bergson Differenzierung, und zwar eine Differenzierung, deren Enden aufeinander verwiesen bleiben, in der sich also die „fortbestehende Totalität“ des Lebens „durchweg bekunde[t]“.42 Daher unterscheidet Bergson die Lebensformen nicht nur, sondern betont stets ihre Komplementarität. Will man das Leben angemessen denken, sind alle Lebensformen in Gegenwart wie Vergangenheit einzubeziehen; daher muss man mit dem Intellekt auch den Instinkt betrachten, und mit diesem das ‚subtrahierte Bewusstsein‘ der Pflanze (s. u.). Die Virtualität des Lebens wird darüber hinaus so gedacht werden müssen, dass sie jenseits der Aktualisierungen auf eine bestimmte Weise existiert,43 sofern der élan vital keine Substanz ist, sondern das Leben als kontinuierlichen Akt des Werdens bezeichnet. Bergsons Kritik an Spencer Dieses Werden hat nun in der Evolutionsbiologie – die doch beansprucht, die Evolution des Lebens zu denken! – keinen Platz. Bergsons Kritik an Spencer gilt dem ‚falschen Evolutionismus‘, der mit Kant einen verräumlichten Begriff der Zeit teilt, insofern die Zeit hier ein dem Raum homologes Medium ist, in dem unsere Handlungen und Gedanken stattfinden; und insofern für Spencer die Evolution eine Reihe kausal bestimmter Sprünge, eine Folge von Abschnitten darstellt. Spencer definiert die Zeit in Sekunden, Minuten usw. getrennt und 41 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 293. 42 G. Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, S. 120. 43 Ebd., S. 119.
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abhängig vom durchmessenen Raum; er zerschneidet also die „schon entwickelte Wirklichkeit in kleine, nicht minder entwickelte Stücke“ und setzt diese dann zusammen. Kurz, er stellt sich eine Zeitlinie vor, deren Teile man wie Raumteile nebeneinander legen könnte, womit er Evolution allenfalls als Abwicklung, und nicht als Entwicklung zu denken vermag. Der falsche Evolutionismus nimmt damit „von Anfang an alles […] [vorweg], was es erst zu erklären galt“.44 Stattdessen ist doch die recht verstandene Zeit das Nacheinander, Zeit ist das, worauf man warten muss, unvorhersehbares Werden – nichts, was vor uns bereits ausgebreitet liegt und sich nur noch abwickeln müsste. Spencer „hatte verheißen, eine Genese nachzuzeichnen, und da war er und tat etwas ganz anderes. Seine Lehre trug wohl den Namen des Evolutionismus; sie gab vor, den Lauf des universalen Werdens hinauf- und dann wieder hinabzusteigen. In Wirklichkeit war darin aber weder von Werden noch von Evolution die Rede. […] Sagen wir einfach, daß der durchgängige Kunstgriff der Methode Spencers darin besteht, die Evolution aus Bruchstücken des schon Entwickelten zu rekonstruieren.“45 Dies ist Bergsons Hauptkritik an Spencer: der falsche Evolutionismus, der nur vorgibt, sich um die Evolution des Lebens zu drehen, da er die Zeit annihiliert. Dieser Evolutionismus kann und will in der Entwicklung des Lebens keine permanente und unvorhersehbare Individuation sehen, in der Annahme kausaler Mechanismen sieht er stets „nur den Aspekt der Ähnlichkeit oder Wiederholung“ am Werk, für ihn gibt es nur Gleiches, das Gleiches erzeugt.46 Das Neue stellt sich also genau genommen nur als Neuanordnung bekannter Elemente dar, er addiert Entwickeltes zu Entwickeltem und meint, darin Veränderung zu sehen. Kurz, Spencer macht „tabula rasa mit der Zeit“.47 Bergson kreist stets erneut um diesen Punkt. Spencer nimmt die Realität in ihrer „aktuellen Form, bricht sie entzwei und zersplittert sie in Fragmente, die er in den Wind wirft, dann ‚integriert‘ er diese Fragmente und ‚zerstreut ihre Bewegung‘“. Für diesen Evolutionismus ist von vornherein alles gegeben – er bildet sich nur ein, eine „Genese gegeben zu haben“.48 Diese Kritik erklärt allererst, warum Bergson dermaßen auf der schöpferischen Evolution beharrt. Sicher, die Kritik am ‚Zirkel‘ 44 45 46 47 48
H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 8. Ebd., S. 409. Ebd., S. 59 f. Ebd., S. 60. Ebd., S. 410. Vgl. H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“, in: ders., Denken und schöpferisches Werden, S. 21-41, hier S. 22.
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wird auch formuliert, aber nur am Rand und erneut im Kontext der Kritik an jenem Evolutionismus, der das Werden verkennt: „[N]icht durch die Zusammensetzung von schon Entwickeltem mit sich selbst wird man die Evolution reproduzieren […]. Durch die Kombination von Reflex mit Reflex glaubt Spencer Zug um Zug den Instinkt und den vernünftigen Willen entstehen zu lassen. Er sieht nicht, daß der spezialisierte Reflex, da er ebenso wie der konsolidierte Wille einen Endpunkt der Evolution darstellt, nicht am Anfang vorausgesetzt werden kann. […] Man müßte damit beginnen, das Reflexmäßige und das Willensgesteuerte zusammenzumischen. Man müßte sich dann auf die Suche nach jener flüssigen Realität begeben, die unter dieser doppelten Form ausfällend dahinstürzt und die zweifellos an der einen wie der anderen teilhat, ohne eine von beiden zu sein.“49 Die bergsonsche Aufgabe der Philosophie Was will Bergson nun positiv, wozu die Dekonstruktion Spencers? Es geht um eine Philosophie, die jenseits der verräumlichten Zeit die Dauer (durée) als Wesen der Realität bestimmt – ständige Veränderung, Werden, „radikales Umschmelzen des Ganzen“. Die Philosophie muss sich in dieses Werden versetzen, denn es ist das einzige, worin es „Erzeugung und nicht nur Kombination von Teilen gibt“.50 Es geht Bergson um einen „echten Evolutionismus“, dem die gesamte Realität als „ununterbrochenes Emporschießen von Neuheiten“ erscheint.51 Der Charakter der Dauer gilt also nicht allein für das innere Leben. Das Psychische, für das sich Bergson bis zu Materie und Gedächtnis nicht sonderlich interessiert habe,52 ist nur ein einleuchtendes Beispiel für den Charakter der Realität insgesamt, in ständiger Veränderung begriffen zu sein. Es geht also nicht allein um anthropologische, sondern
49 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 411 f. Rückblickend hat Bergson diese Spencer-Kritik als Motiv seiner gesamten Philosophie sichtbar gemacht. „Eines schönen Tages bemerkte ich, daß die Zeit in diesem System nichts bedeutete, ja daß sie völlig unwirksam blieb“, während sie doch ‚etwas‘ sei, nämlich das, „was verhindert, daß alles auf einmal gegeben ist“. „Sollte die Tatsache der Zeit nicht beweisen, daß das Innerste der Dinge indeterminiert ist? Und sollte die Zeit nicht gerade diese Indetermination selbst sein?“, H. Bergson, „Das Mögliche und das Wirkliche“ (1930), in: ders., Denken und schöpferisches Werden, S. 110-125, hier S. 112 f. 50 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 408, S. 415. 51 Ebd., S. 414 und S. 62. 52 H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“, S. 24.
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um ontologische Fragen – darum, ob die Philosophie das Sein oder das Werden zu privilegieren habe, und Bergson beansprucht hier sehr wohl Wahrheit: Wahr ist die Ontologie, wenn sie das Werden nicht mehr als „Minderung“ oder „Verwässerung der Ewigkeit“ verurteilt, wenn sie das Vorurteil der antiken Philosophie nicht mehr teilt, der es stets darum gegangen sei, das Bestehende zu konservieren. Da zwar die moderne Wissenschaft um die permanente Veränderung weiß, sich aber darauf beschränkt, „Momentaufnahmen“ zu machen, braucht es eine, sie ergänzende, komplementäre, neue Metaphysik, welche die „kontinuierliche Erfindung neuer Formen“, also die „Dauer selbst zum Gegenstand“ hat.53 Nötig sind entsprechende Begriffe und eine adäquate Methode. Bergsons ‚echter Evolutionismus‘ wird nun einerseits als Philosophische Anthropologie entfaltet, im Blick für die Freiheit der menschlichen Lebensform. Insofern es Bergson hier darum geht, wissenschaftliche Fehlverständnisse zu verhindern (der Mensch als determiniert durch Natur, Kultur, Ökonomie, etc.), insofern gibt diese Philosophie dem Menschen sehr wohl alle Verantwortung zurück – ebenso wie Plessner (in den Stufen wie in Macht und menschliche Natur). Andererseits geht es Bergson nicht nur um Philosophische Anthropologie und Lebenstheorie: Das Sein insgesamt muss dynamisiert werden, es geht um Metaphysik oder um Ontologie. Selbst im Anorganischen muss der „Philosoph, der nichts beiseite lassen will“, das Werden beschreiben – überall ist es seine Aufgabe, das Wirkliche als „fortdauernde Schöpfung, ununterbrochenes Hervorquellen von Neuem“ sichtbar zu machen.54 2.2 Plessner und Bergson: Definitionen der differenten Lebensformen und des Lebens insgesamt Inwiefern haben wir es mit einem Vorhaben zu tun, das sich in Plessners Projekt der Philosophie einfügt und sich zugleich als komplementäre Art zeigt, das menschliche Leben im Blick zu halten? Zunächst, insofern sich Plessners Annäherung an das Leben als räumliche, mit Raumbegriffen operierende erweist, während Bergson dieselbe Unterscheidung des Anorganischen vom Organischen sowie der Lebens53 H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 387 f. 54 H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“, S. 31 und S. 28.
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formen in Zeitbegriffen, entlang der Temporalität vornimmt. Plessner definiert das Leben bekanntlich durch die Kategorien Grenze und Positionalität: Lebendige Dinge scheiden sich von anorganischen in ihrer grenzrealisierenden Aktivität, dadurch, dass sie in ihre Grenzen gesetzt sind und diese haben; dass sie hauthaft umschlossen sind. Von dieser Raumkategorie her erschließt Plessner auch die temporale Dimension. So heißt es in Bezug auf die Zukunftszugewandtheit der Lebewesen: „Sofern der lebendige Körper in ihm hineingesetzt ist (raumhaft) und er mit diesem Charakter der Positionalität einen raumbehauptenden Körper darstellt, ist er […] ihm selber vorweg.“ Und ausdrücklich heißt es hier weiter, aus den „raumbezüglichen“ Eigenschaften der Positionalität bestimme sich die „Zeitbezüglichkeit des lebendigen Körpers“. Zur Positionalität „gehört“ es, zeitlich zu sein.55 Zwar will Plessner den „positionalen Charakter“ an anderen Stellen auch als gleichermaßen konstitutiv für Raum- und Zeitbezug verstehen – die Grenze sei gegenüber „Räumlichkeit und Zeitlichkeit indifferent“, begrenze den Körper räumlich wie zeitlich. Gleichwohl impliziert das Konzept der Positionalität primär ein räumliches Denken, eines der Zustände, der Abschließung, der Form-Fixierung statt Veränderung. „Positionalität heißt Gesetztheit“.56 Und noch deutlicher: Das Sein des Organischen ist ein „Gegenverhältnis zum Zeitstrom“.57 Die einzelnen Lebensformen werden ihrerseits entlang der Probleme des Raumes definiert (offene oder geschlossene; dezentrale, zentrale oder exzentrische Positionalität); ebenso die Weltsphären exzentrischer Positionalität (Innenwelt, Außenwelt, Mitwelt) und die Definition der Person (das „Lebendige ist Körper, im Körper […] und außer dem Körper, als Blickpunkt, von dem aus es beides ist“58). Dasselbe ließe sich für die Formulierung der anthropologischen Grundgesetze sagen, zumindest tendenziell und insofern Gesellschaftlichkeit und kulturelle Historizität im Sinne ständig erneuter Abschließungen, Formfixierungen deren doppeltes Zentrum sind. Erinnern wir kurz an Plessners siebentes Kapitel: Menschliches Leben ist sich selbst nur vermittelt zugänglich, über Umwege; es muss sich künstliche Horizonte schaffen, sich entäußern, um sich zu finden. Nicht „im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos“, muss der Mensch durch seine Institutionen „etwas wer55 56 57 58
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 177. Ebd., S. 183. Ebd., S. 177, S. 179, meine Hervorhebung, H. D. Ebd., S. 293.
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den“, durch seine artifiziellere Dinge, also die gesamte Kultur.59 Die Differenz zur bergsonschen philosophischen Anthropologie wird dabei am deutlichsten im folgenden Satz: dass nämlich der „Prozeß“, in dem der Mensch „wesenhaft lebt“, das „Kontinuum diskontinuierlich sich absetzender, auskristallisierender Ereignisse“ sei.60 Wie definiert Bergson die Lebewesen, speziell die menschlichen? Der lebende Körper besteht wie alle Körper zweifellos aus einem „Stück Ausgedehntheit, das mit der übrigen Ausgedehntheit verknüpft ist“, und denselben Gesetzen unterliegt. Indes werden die anorganischen Körper von unserer Wahrnehmung eingeteilt, während lebende Körper „von der Natur selbst“ eingeteilt und geschlossen werden, in sich aus heterogenen, komplementären Teilen bestehen.61 Mit anderen Worten, anders als anorganische Dinge sind lebendige Körper Individuen, wobei ihre „Individualität unendlich viele Grade“62 aufweist und nirgends vollkommen realisiert ist, da die Wesenszüge des Lebens „weniger Zustände als vielmehr Tendenzen“ sind,63 differenzierende Tendenzen zu Individuation einerseits und Fortpflanzung andererseits. Das zentrale Merkmal lebendiger Körper ist daher für Bergson, sich ständig zu verändern. Der lebendige Organismus ist das, was dauert, d. i.: dessen Vergangenheit sich vollständig in seine Gegenwart erstreckt und in ihr „aktuell“ bleibt. „Überall, wo etwas lebt, gibt es irgendwo ein offenes Register, in das die Zeit sich einschreibt.“64 Bergson nennt die Dauer (durée) auch das „Bindeglied“ zwischen den Individuationen. Will man also ein „natürliches System“ erkennen, muss man sein „Intervall der Dauer“ kennen, im Gegenteil zu dem, was bei den künstlichen Systemen der Fall ist – hier genügt die Kenntnis der „Endpunkte“.65 Bergson erscheint mithin das Leben als das, was durch die Mittlerschaft des entwickelten Organismus „von Keim zu Keim fließt“. Das durch die Individuen sich hindurch ziehende Leben ist das, was ihn interessiert, die „sich unbegrenzt weiter fortsetzende Kontinuität“.66 Sein Blick gilt daher der gesamten Evolution des Le-
59 60 61 62 63 64 65 66
Ebd., S. 310 f. Ebd., S. 339. H. Bergson, Schöpferische Evolution, S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 35. Ebd., S. 40.
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bens, da diese eben „durch die Einheit und die Kontinuität der belebten Materie […] eine einzige unteilbare Geschichte bildet.“67 Aktuell aber wird diese Kontinuität nur in den einzelnen Lebensformen; in deren Gesamtheit ist das Leben allein existent. Die einzelnen Lebensformen nun unterscheiden sich hinsichtlich der Intensität des Werdens, der Veränderung, oder ihrer Geschwindigkeit. Der anorganische Körper ist ein Mechanismus, über den die Dauer wesentlich „hinweggleitet, ohne in ihn einzudringen“;68 diejenige Lebensform hingegen, die die intensivste Dauer aufweist, bei der die Gegenwart die meiste Vergangenheit fortbestehen lässt, ist die des Menschen. Dazwischen liegen die Pflanzen und die zunehmend zentral gesteuerten Tiere. Kurz, die Lebenstheorie und Anthropologie folgt dem temporalen Aspekt: Leben ist kontinuierliches Werden, und wenn es sich in den Gattungen, Arten und Individuen aktualisiert, so nur vorübergehend. Bergson konzipiert diese Aktualisierungen wie erwähnt als Divergenzen. Die Gesamtheit des Lebens bietet das Bild einer Zerstreuung, ständiger Bifurkationen, die sich aus umgekehrten Umgangsweisen mit der Materie erklären, aus der die Lebewesen durch ihre Organe die zu Wachstum, Handlung, Vermehrung nötige Energie beziehen. Wenn sich für Bergson Pflanze, Tier und Mensch also durch verschiedene Intensitäten des Bewusstseins, des Fortbestehens der Vergangenheit, durch Wahlfähigkeit (Dumpfheit, Instinkt, Intellekt) kennzeichnen, dann meint er das jeweilige Gefüge des Körpers, seiner Aktivität in Bezug auf die Umwelt, seines Vermögens, Vergangenheit mitzuführen und entsprechend frei zu handeln, und der Menge und Intensität der Energie, über die der Körper verfügt. Pflanze, Tier, Mensch sind differente Lebensformen wegen ihrer Art der Energieversorgung, des Energiepotentials, damit der Schnelligkeit der Bewegungen und kognitiven Aktionen – der Freiheit. Die Ausdehnung des Universums legt zunächst nahe, überall ein ständiges Werden als grundlegend anzunehmen. Nur hat es verschiedene Intensitäten und entsprechende Freiheitsgrade: Der Abspannung (Entropie) im Anorganischen steht die unvorhersehbare Anspannung (Negentropie) im Organischen gegenüber. Für diesen Aufschwung, diese Anspannung steht das Bild des élan vital, das uns Bergson als ständigen Impuls des Lebens übersetzt, der „von einer Keimgeneration zur nächsten weitergegeben wird“ und die Ursache der Differenz der 67 Ebd., S. 51. 68 Ebd.
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Lebensformen im Lauf der Evolution ist.69 Ausgangspunkt dieser Differenzierung ist das gemeinsame Problem des Lebens, die Sonne dazu zu bringen, „zeitweilig ihre unaufhörliche Abgabe nutzbarer Energie“ zu suspendieren und eine gewisse Menge „Energie in geeigneten Speichern“ einzulagern, aus denen diese „im gewünschten Moment, am gewünschten Ort und in gewünschter Richtung ausfließen“ kann. „Die Substanzen, von denen sich die Tiere ernähren, sind gerade genau solche Speicher dieser Art.“70 Während das Tier zu immer freierer Ausgabe diskontinuierlicher Energiemengen, plötzlicheren Bewegungen tendiert, ist die pflanzliche Lebensform lokal fixierte Energieansammlung im Rückgriff auf die Stickstoff- und Ammoniakherstellung der Mikroben. Ihr entspricht jene Form der kognitiven Aktivität, die Bergson als ‚Dumpfheit‘ (torpeur) fasst. Hierbei kommt es darauf an, motorische, sensorische und kognitive Aktivität als untrennbar zu denken. Aus dieser Perspektive definiert sich das Tier durch „Empfindungsvermögen und waches Bewußtsein“, die Pflanze demgegenüber durch Empfindungslosigkeit und „schlafendes Bewußtsein“. Sie erzeugt organische Substanzen direkt, was es ihr erspart, sich zu „bewegen und folglich auch etwas empfinden zu müssen“.71 Tiere sind zur Nahrungssuche gezwungen, zu Fortbewegung, und besitzen entsprechend ein zunehmend intensives Bewusstsein. Menschliches Leben ist wie tierisches motorisch. Zwischen Reiz und Reaktion besteht hier indes ein zerebraler Spalt,72 in den die Sprache eintritt – wegen dieser Zwischenzone zeichnet sich diese Lebensform durch Kreativität aus, die Erfindung von Werkzeugen, Energiequellen, Gefühlen, Gedanken. Es ist diese „Freiheit, die die menschliche Form in sich aufnimmt.“73 Von allen anderen Körpern unterscheidet sich der menschliche darin, dass er neue, anorganische Werkzeuge bastelt; von allen anderen Arten der Energieversorgung dadurch, die Materie neu zu entdecken; von allen anderen Nervensystemen durch die unbegrenzte „Zahl der Mechanismen, die es generieren kann“. Es ist ein Wesensunterschied zum Bewusstsein noch des intelligentesten Tieres, wobei Bewusstsein das „Vermögen der Wahl“ meint, „koex-
69 70 71 72
Ebd., S. 107. Ebd., S. 137. Ebd., S. 134. Die ‚zerebralen Mechanismen, die den Worten entsprechen‘, hemmen sich gegen seitig: Ebd., S. 211 f. 73 Ebd., S. 301.
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tensiv“ zur Vielfalt der möglichen Handlungen.74 Bergson ist erneut die Unvorhersehbarkeit wichtig. Es hätte andere Lebensformen geben können, auf anderen Planeten könnte das Leben unter Formen ‚abrollen‘, von denen wir keine Vorstellung haben.75 2.3 Plessner und Bergson: Das Politische und die Unergründlichkeit menschlichen Lebens Der virtuelle Dialog zwischen Bergson und Plessner vermag auch ein wenig Licht auf Plessners komplizierten Text Macht und menschliche Natur (1931) zu werfen. Auch hier hat Plessner auf Bergson verwiesen, wenn auch beiläufig. In diesem Buch sucht er bekanntlich eine Grundlegung der politischen Anthropologie, die Antwort auf die Frage, weshalb der Mensch nicht als Menschheit, sondern in Stämmen, Ethnien, Völkern, Nationen differenziert vorkommt – weshalb er ‚volkhaft‘ oder politisch lebt. Die Begründung liegt für Plessner in der Unergründlichkeit dieses Lebewesens, seiner Unbestimmbarkeit und Unerschöpflichkeit. Diese Begriffe seien keine „negativen Grenzbegriffe“, sie suchten keine „asymptotische Anschmiegung an das Leben […] (vgl. Bergson)“, vielmehr gehe es um eine „positive Haltung im Leben zum Leben, die um seiner selber willen die Unbestimmtheitsrelation zu sich einnimmt“. Indem sich der Mensch als nicht festgestellt, offen, unerschöpflich erkennt, fasst er sich „als Macht“, als Können – als Fülle an Möglichkeiten. Deren Aktualisierung ist stets ein Akt der Differenz. Indem man eine Möglichkeit ergreift, grenzt man „unendlich andere Möglichkeiten des Selbstverständnisses und des Weltbegreifens“ aus.76 Plessner erläutert diese zentrale Passage mit Verweis auf Wilhelm Dilthey und seinen Interpreten Georg Misch. Den Menschen als sich selber unergründlich sehen, heiße, „in der Richtung des Lebens selber denken, das von Individuation zu Individuation fortschreitet“, ohne einen tragenden „Lebensuntergrund“ anzunehmen. Vielmehr sei das „‚natürliche‘ Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart“ als Verhältnis der „Immanenz“ zu denken. Die Vergangenheit durch74 Ebd., S. 298. 75 Ebd., S. 289 f. 76 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1985, S. 135234, hier S. 189.
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dringe unser Leben als ‚Herkunft‘ und öffne sich in die Gegenwart, „in das hinein, was wir faktisch schon sind“.77 Unergründlichkeit heißt mithin, dass sich das menschliche Leben als „vergangenes und gewordenes“ entdeckt und damit als eines, bei dem nicht fest steht, wohin es geht, das unvorhersehbar ist. Im Blick auf die offene Zukunft entdeckt der Mensch „seine Macht über die Vergangenheit“ – die theoretische Macht, diese zu definieren und die politische Macht, die Vergangenheit zu gestalten. Jede Generation wirkt „auf die Geschichte zurück und macht sie darin zu jenem Unabgeschlossenen, Offenen und ewig sich Erneuernden […]. Das Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen ist die zugleich theoretische und praktische Fassung des Menschen als eines historischen und darum politischen Wesens.“78 Die Immanenz von Vergangenheit und Gegenwart, die Abhängigkeit der Vergangenheit von der Gegenwart und die Unvorhersehbarkeit – all dies sind prominente bergsonsche Konzepte. Vergangenheit und Gegenwart dürfen wir uns, so hatte Bergson in Materie und Gedächtnis gezeigt, nicht als einander ablösende Zeitabschnitte vorstellen. Vielmehr ist die Erinnerung eine Aktivität in der ‚Aufmerksamkeit auf das Leben‘, auf die aktuelle Situation im Dienst der Handlung. Im Grenzfall der ‚reinen‘ Erinnerung ist die Aufmerksamkeit auf das Leben dabei entspannt, während sie im Fall der aktuellen Handlung auf das größtmögliche Maß gespannt ist. Der Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist nur graduell und fließend. Damit hört die Vergangenheit auf, ein fixes Reservoir möglicher Handlungen zu sein, die das Handeln determinieren. Die Gegenwart ist nicht in der Vergangenheit vorgebildet, vielmehr ist sie es, welche die Erinnerungen schafft.79 Das Problem dominierte bereits Zeit und Freiheit80 (ebenso wie die Grundidee der Unterscheidung zweier Mannigfaltigkeiten, von temps und durée als simultane respektive sukzessive Vielfalt, dis77 Ebd., S. 186 f. 78 Ebd., S. 183 f. 79 Vgl. H. Bergson, Materie und Gedächtnis, Kap. II. In der Vorlesung Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, Berlin 2002, nimmt Plessner auf diese bergsonsche ‚Erinnerung‘ ausdrücklich Bezug: „Mein Erinnerungsschatz wächst dauernd in der Richtung meines Lebens. Bergsons Darstellung: [Skizze] Der Schatz der Erinnerung wächst in dem Maße, als sich die Spitze in das Zukünftige hineinstößt.“ (Ebd., S. 54) Bei Bergson (Materie und Gedächtnis, S. 67) hieß es, unser Leib sei die „vordringende[n] Spitze, die unsere Vergangenheit unaufhörlich in unsere Zukunft stößt.“ 80 H. Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen (1889), Hamburg 1994.
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kontinuierliche Vielfalt des Neben- und kontinuierliche Vielfalt des Nacheinander): Das Problem nämlich, die menschliche Freiheit so zu formulieren, dass man es wirklich mit einem Denken der Kreativität, des Neuen zu tun hat – ein Denken der Freiheit als Indeterminiertheit. Halten wir also fest, dass Plessners Unergründlichkeit mit Bergsons Unvorhersehbarkeit übereinkommt. Halten wir weiter fest, dass dies die zentrale Einsicht Bergsons ist, sein stets wiederkehrendes Argument – das bereits angesprochene Argument, das sich gegen die Auffassung des Wirklichen als Sein richtet.81 Der üblichen retrograden Logik scheint die Wirklichkeit im Begriff des Möglichen immer schon existiert zu haben; die Gegenwart erscheint als Verwirklichung bestehender Möglichkeiten. Impliziert ist in einem solchen Denken der historischen (und politischen) Existenz des Menschen stets, dass nie „etwas neu auftaucht“, nichts „geschaffen wird“.82 Das ganze bergsonsche Projekt ist demgegenüber, die Realität als „unaufhörliche Schaffung von Möglichkeiten und nicht allein von Wirklichkeiten“ sichtbar zu machen.83 Dass das Wirkliche unvorhersehbare, ständige Veränderung ist, gilt nicht allein für das menschliche Leben, aber vor allem für dieses; nicht zuletzt für das soziale oder politische Leben. „Die Tür wird offen bleiben für immer neue Schöpfungen“, heißt es in Die beiden Quellen der Moral und der Religion in Bezug auf affektive soziale Ideen, um die herum Institutionen, Kollektive, Gesellschaften entstehen. Institutionen wie Gesellschaften gehen weder auseinander hervor, noch sind sie aus fixen Bedürfnissen erklärbar. Es handelt sich um veritable soziale Erfindungen.84 Insofern es dieser Philosophie also immer erneut (auch im Blick auf das politische Selbstverständnis des 81 Die ‚retrograde‘ oder ‚retroaktive Bewegung des Wahren‘ wird kritisiert in: H. Berg son, „Einleitung (Erster Teil)“; die Kritik negativer Begriffe (des Möglichen gegen über dem Wirklichen; des Nichts gegenüber dem Sein; der Unordnung gegenüber der Ordnung) in: H. Bergson, Schöpferische Evolution, Kap. IV. Vgl. H. Bergson, „Das Mögliche und das Wirkliche“, und H. Bergson, Philosophie der Dauer, hrsg. von G. Deleuze (Mémoire et vie, 1957), Hamburg 2013. 82 H. Bergson, „Einleitung (Erster Teil)“, S. 34 und S. 37 f. 83 Ebd., S. 32. 84 H. Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932), Frankfurt a. M. 1992, S. 60 f. Bergsons vitalistische Gesellschaftstheorie wird u. a. implizit von C. Castoriadis fortgeführt: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie (1964/1975), Frankfurt a. M. 1984. Vgl. zu diesen und anderen Bergson-Übernahmen H. Delitz, Bergson-Effekte, Kap. III und R. Seyfert, Das Leben der Institutionen. Aspekte einer Allgemeinen Theorie der Institutionalisierung, Weilerswist 2011.
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Menschen) und durchaus emphatisch um die menschliche Freiheit geht, insofern ergänzt sie Plessners Projekt erneut kongenial. Fazit Plessner und Bergson waren einander nicht wirklich Zeitgenossen, nicht so sehr, weil Bergsons Hauptwerke Jahrzehnte vorher erschienen, sondern weil er erst spät besser verstanden wurde. Zieht man beide Philosophien des organischen und menschlichen Lebens zusammen, erlaubt dies zunächst – von Plessner zu Bergson gesehen –, die französische philosophische Anthropologie als solche, d. h. als Konzeption des Menschen zu verstehen, und zwar entlang jener Perspektive, in der sich jede Realität als werdende sowie als eine darstellt, die sich durch Intensitäten (verschiedene durées) auszeichnet; und als jene Perspektive, die alle philosophischen Probleme als Probleme der Zeit behandelt. Selbst die anorganische Materie hat ihr Werden, Potentiale der Formung, die in die Individuierung der Lebewesen involviert sind.85 Von Bergson aus zu Plessner geblickt, wird die Philosophische Anthropologie als eine sichtbar, die eher vom Denken des Raumes her argumentiert. Daher erscheinen beide Lebenstheorien und ihre soziologischen Theorien als komplementär. Natura naturans und natura naturata; das unvorhersehbare Werden (Unergründlichkeit) und die stets vorläufige, kontingente Individuation – die Aufmerksamkeiten liegen jeweils auf der anderen Seite. In jedem Fall teilen beide die Betonung der kreativen Form des Menschen, der positiven, Institutionenschaffenden Fähigkeit. Letztlich speisen sich beide aus einem womöglich identischen Antrieb: Indem sie das Leben als Subjekt und Objekt denken, vollziehen beide den „vital turn“86 im Denken des Menschen wie seiner Sozialverhältnisse, seiner sozialen Erfindungen, Bedürfnisse und Affekte.
85 G. Simondon, L’individu et sa genèse physico-biologique; l’individuation à la lumière des notions de forme et d’information, Paris 1964; ders., L’individuation psychique et collective: A la lumière des notions de Forme, Information, Potentiel et Métastabilité (posthum 1989/unveröffentlicht 1964), Paris 2007; vgl. ders., Die Existenzweise technischer Objekte (1958), Zürich 2012. 86 J. Fischer, „Kommentar zu Heike Delitz“, in: ders., S. Moebius (Hrsg.), Kultursoziologie im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2014, S. 52-56, hier S. 54 f.
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Anthropologie und Hermeneutische Logik. Helmuth Plessner und Georg Misch
1. Einleitung und Problemstellung Mit Helmuth Plessner (1892–1985) und Georg Misch (1878–1965) sind zwei Philosophen angesprochen, deren systematisches Projekt auf den ersten Blick wenig verbindet. Während bei Plessner eine Philosophische Anthropologie als systematische Philosophie im Zentrum steht, lassen sich die Arbeiten von Misch als Beiträge zur Hermeneutischen Logik verstehen. Gleichwohl können zahlreiche Bezüge zwischen den Autoren gefunden werden: Misch referiert in erheblichem Ausmaße sowohl auf Plessners Die Einheit der Sinne (1923) als auch auf Die Stufen des Organischen (1928), um Phänomene des „außer- und vorsprachlichen“ Ausdrucks für sein Projekt des „Aufbaues einer Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens“ nutzbar zu machen. Die Zustimmung sowohl im Einzelnen als auch in der Gesamtausrichtung ist hier so deutlich, dass es kaum lohnen würde, auf die Differenzen hinzuweisen. Allerdings gibt es einen zentralen Unterschied, der beide regelrecht in ein spiegelbildliches1 Verhältnis zueinander setzt: Mischs Ausgang vom „logischen Ausdruck“.2 Die Rede vom „Logischen“3 wird dabei in ausdrücklicher Absetzung von einem formalen, an wissenschaftlichen Fragestellungen orientierten Verständnis entfaltet; es handelt 1
2 3
Die Metapher erscheint umso berechtigter, als Misch nicht müde wird, den „meta physischen“ Charakter seiner Überlegungen zu betonen – während sich Plessners Ansatz als explizit nicht-metaphysisch versteht (vgl. dazu Königs Analyse im „Brief essay“; J. König, H. Plessner, Briefwechsel 1923–1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Plessners „Die Einheit der Sinne“, Freiburg, München 1994, S. 239 ff. sowie S. 302 ff.). Vgl. G. Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens, Freiburg, München 1994. Ebd., S. 51 ff.
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sich vielmehr um eine Theorie des Wissens, die sich an sprachlichen Tätigkeits- und Formmomenten orientiert.4 Demgegenüber versteht sich das Plessnersche Projekt als Konstitutionsprogramm, das eine Bestimmung von einfachen zu komplexen Lebensformen vornimmt, ohne dabei die begrifflich genutzten Sprachmittel und Redeformen selber zum Gegenstand zu machen. Um diese Differenzen und Verengungen des Plessnerschen Ansatzes aufzuzeigen (welche sich trotz Ähnlichkeiten zu Misch ergeben),5 ist es zunächst nötig dessen Programm ausführlich zu rekonstruieren (zweites Kapitel), um daran dilemmatische Implikationen zu verdeutlichen. Im dritten Kapitel lässt sich sodann in Anlehnung an Misch zeigen, dass durch das systematische Projekt einer Hermeneutischen Logik die begriffslogischen Mittel bereitgestellt werden können, die das Dilemma bei Plessner vermeiden. Im Anschluss an Wilhelm Dilthey (1833–1911) ist dieses Projekt zu einer Hermeneutik des Lebens erweitert worden; entscheidende Aspekte wurden von Mischs Schüler Josef König (1893–1974) begriffslogisch beigetragen.
2. Plessners Ausgangspunkt Plessner sieht die Philosophie mit dem Problem konfrontiert, einerseits in der Zuwendung zu Fragestellungen, welche vornehmlich die naturwissenschaftliche Forschung betreffen, andererseits in der Abwendung von Resultaten oder Methoden gerade dieser Wissenschaften sich selbst bestimmen zu müssen. Die Eigenständigkeit von Philosophie gegenüber den positiven Wissenschaften zu wahren und dennoch deren Relevanz für jene zu verdeutlichen – sich also nicht in der Metaphorik des „über oder unter, aber nicht neben den Naturwissenschaften“6-Stehens zu beruhigen –, diese Möglichkeit 4
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„Alles Gegenständliche entspringt und empfängt Ordnung, Zusammenhang und Bestimmtheit, ja Dasein selber dadurch, daß es in den Zusammenhang des logischen Denkens und seiner Funktionen, der Handlungen des Verstandes aufgenommen wird und durch die logischen Formen, die diesem Verstande eigen sind, bestimmt, gestaltet, geformt, kurz aufgebaut oder, wie Kant sagt, konstituiert wird.“ (Ebd., S. 68) Neben Plessner finden sich bei Misch Bezüge auch auf die Arbeiten weiterer von Plessner her bekannten biologischen oder biotheoretischen Autoren wie etwa Uexküll oder Köhler. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 18. Aufl., Frankfurt a. M. 1984, S. 41.
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bindet Plessner u. a. an den Einsatz phänomenologischer Methodik.7 Daran zeigt sich eine Spannung, welche die neuzeitliche Philosophie seit je charakterisierte – bis in die aktuelle Auseinandersetzung um den Status des Philosophierens selber und die Notwendigkeit der Bezugnahme auf Naturwissenschaften.8 Schon in einer frühen Schrift versucht Plessner in Zusammenarbeit mit F. J. J. Buytendijk9 einen Ausgangspunkt zu finden, der als Anfang für die positiven Wissenschaften gelten könne. Dieser Anfang wird im „vorproblematischen Leben“ gefunden, von dem aus zu jenen „Schichten“ vorzudringen wäre, welche den positiven Wissenschaften zugleich Fundament als auch Ausgang sei: „So wird sie [die phänomenologische Untersuchung, die Autoren] von Schicht zu Schicht getragen und von den anschaulichen zu den erschaubaren Tatbeständen, den Wesenheiten, weitergeführt. Hat sie also sorgsam darauf zu achten, die Nähe zur Sache sich nicht durch Theorien über die Sache, und mögen sie noch soviel wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt besitzen, verderben zu lassen, so darf sie doch nicht in der Freude der Anschauung verlorengehen. Läßt phänomenologisch Gefundenes auch keine weitere Erklärung zu, so hat die Philosophie immer die Aufgabe, zu den Urphänomenen weiterzustreben, was allerdings auf rein phänomenologischer Weise nicht mehr gelingt.“10 7 Dazu vgl. u. a. H. Plessner, Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang (1918), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 143-310. 8 Exemplarisch dazu P. Churchland, Neurophilosophy. Toward a Unified Science of the Mind-Brain, Cambridge 1989; M. Donald, Triumph des Bewusstseins. Die �������� Evolution des menschlichen Geistes, Stuttgart 2008; P. Janich, Was ist Information? Kritik einer Legende, Frankfurt a. M. 2006; P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2009. Auch die intensiven Versuche, Plessners eigene Verhältnisbestimmung für die Bearbeitung sowohl methodischer wie normativer, aber auch empirischer Fragestellungen zu nutzen, legt entsprechend eine nähere Befassung mit dem zugrundeliegenden Ansatz nahe (etwa J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenetik?, Frankfurt a. M. 2001; G. Lindemann, „Soziologie – Anthropologie und die Analyse gesellschaftlicher Grenzregimes“, in: H.-P. Krüger, G. Lindemann (Hrsg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 42-66; J. Fischer, Philosophische Anthropologie: Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2009; H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. 1, Berlin 1999 und Bd. 2, Berlin 2001). 9 H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925), in: H. Plessner, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M. 2003, S. 67-129, hier S. 76. Vgl. dazu auch den Beitrag von Becker in diesem Band. 10 H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“, S. 76.
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Trotz dieser Abgrenzung ähnelt das Anliegen methodisch dem von Husserl (1981) eingeschlagenen Vorgehen, in Absehung wissenschaftlicher Sachverhalte und Theorien zu den ῥιζώματα πάντων (den „Wurzeln der Dinge“) vorzustoßen; eine Bewegung, die auch andere zeitgenössische Positionen aus je unterschiedlicher Perspektive zeigen.11 Diese Doppelbewegung der Abgrenzung gegenüber wissenschaftlichen Darstellungen des vorproblematischen Lebens einerseits und dessen Aufzeigung andererseits soll möglich werden, indem das Zugrundeliegende gleichsam „durch die wissenschaftlichen Bestimmungen hindurch“ ent-deckt wird,12 wobei sich die Gewissheit dieser Entdeckung aus einem überraschend einfachen Sachverhalt ergibt: „In solcher psychophysisch neutralen oder gegen eine derartige Antithese noch gleichgültigen Schicht leben wir selbst als Leibwesen wie auch die Tiere. In verschiedenem Grade, in verschiedener Art nehmen Mensch und Tier an der Sphäre der sensomotorischen Verhältnisformen teil, so daß ein Lebewesen das andere erblicken und anblicken, ergreifen und angreifen kann. [...] Immer erwarten wir in dieser Daseinsschicht vom Anschaulichen selbst ohne Zeichensystem, ohne Sprache bedeutet zu werden und sind enttäuscht, wenn es nicht gelingt. Auf dieser Möglichkeit zum unmittelbaren Mitgehen mit dem anderen Lebewesen, besonders der gleichen Art, beruht ihr ganzes Verhalten untereinander, das nicht jeder einzelne Organismus für sich erst aus der Erfahrung durch eine Reihe von Assoziationen hindurch verstehen lernt, sondern dessen ursprüngliche Verständlichkeit seinerseits eine vorgegebene Bedingung für das erfahrungsmäßige Lernen und die Stiftung der Assoziation darstellt.“13 Der Geltungsausweis dieser „ursprünglichen Verständlichkeit“ kann nicht in dem direkten Bezug auf wissenschaftliche Beschreibungen erfolgen – dies widerspricht schon der Forderung der Ursprüng11 P. Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1921), Vaduz 2002; M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), 19. Aufl., Tübingen 2006; M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, Frankfurt a. M. 2010; E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), Darmstadt 1980; E. Cassirer, „Zur Metaphysik der symbolischen Formen“, in: M. Krois (Hrsg.), Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1, Hamburg 1995; E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Die Sprache (1923), Bd. 1, Darmstadt 2010. 12 Die Analyse bleibt also hinsichtlich der Geltung der Resultate an die Investition po sitiven Wissens gebunden. Dies kann allerdings nur ein ausgewähltes Wissen sein; wir kommen auf die methodologischen Probleme dieser Auswahl noch zurück. 13 H. Plessner, F. J. J. Buytendijk, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“, S. 81 f.
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lichkeit. Daher kommt es auch nicht zu einer Reflexion auf die in dieser Bestimmung verwendeten Ausdrücke (wie etwa „der Mensch“, „das Tier“, „die Art“ etc.). Stattdessen suchen die Autoren einen Anfang in den Formen der wissenschaftlichen Thematisierung dieser Sinnschichten. So gründete z. B. die Verstehbarkeit des Tieres – der Möglichkeit nach – in der Seinsverfasstheit von Mensch und Tier, welche in wichtiger Hinsicht identisch sei. Insofern ließen sich die gesuchten Verhaltensformen, die durch ihre wissenschaftliche Darstellung ausdrücklich „verdorben“ würden, unmittelbar verständig aufnehmen: „Die Formschicht [der einfachen Anschauungswelt, die Autoren] ist einfach da und wird von einem jeden wahrgenommen, wenn er das Lebewesen nicht als ein bloß sich Bewegendes, sondern als ein sich Verhaltendes auffaßt.“14 Trotz aller Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Methodik bleibt aber zumindest anfänglich die Bindung an positives Wissen erhalten, welche nur geltungsmäßig nachgeordnet ist.15 Genau daraus allerdings ergeben sich für einen derartigen Ansatz, der sich als Seins-Analyse versteht, gewisse methodologische Schwächen: Zum einen darf das naturwissenschaftliche Wissen nicht die Grundlage für Beurteilung der Richtigkeit der Seins-Analyse bilden; zum anderen kann aber nur unter Orientierung an eben diesem Wissen der Ansatz für die Analyse gefunden werden, woraus eine dilemmatische Situation folgt: 1. Wird auf naturwissenschaftliches Wissen (wie z. B. die Uexküllschen Darstellungen des Organismus-Umwelt-Verhältnisses oder Drieschs Ganzheitsanalysen) zurückgegriffen, dann sieht sich das Resultat mit dem Auswahlproblem konfrontiert, welches naturwissenschaftliche Wissens investiert werden soll. Wird hier eine Invarianz bezüglich jeder empirischen Wissensform gefordert, dann müsste diese Invarianz wiederum unabhängig von naturwissenschaftlichem Wissen selber gerechtfertigt werden können, indem die Kriterien gänzlich der Seinsanalyse entnommen werden.
14 Ebd., S. 82. 15 Explizit bezeichnet Plessner die Problematik in der „Ästhesiologie der Sinne“: „Die Alternative, zwischen der der Erkenntnistheoretiker zu wählen hat, heißt zunächst: Zurück zu Kant oder vorwärts zur neuen Ontologie“ (H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1980, S. 7-315); Plessners Weg soll durchaus beides berücksichtigen.
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2. Soll zugleich das Resultat dieser Seinsanalyse als Begründung für die Möglichkeit der lebenswissenschaftlichen Forschung gelten, dann müsste dieser Ausweis unabhängig von dem dadurch begründeten Wissen erfolgen. Ein solcher Ausweis muss aber schon vorliegen, damit die Seinsanalyse selber stattfinden kann. Es wäre also die Grundlegung der Lebenswissenschaften zu leisten, welche den seinsanalytischen Resultaten entspricht, und zugleich – aber unabhängig von den in Anspruch genommenen Resultaten der Lebenswissenschaft – diese Analyse in Geltung zu setzen. Die weiteren Durchführungen werden zeigen, dass Plessner nur in Richtung bestimmter Formen empirischen Wissens argumentiert, was Umfang, Relevanz und Geltung für die Grundlegung „der“ Lebenswissenschaften einschränkt. Zugleich lässt sich zeigen, dass die dabei vernachlässigte sprachkritische Reflexion auf eigene begriffliche Mittel die Geltung der Analyse sowie (in der Umkehrung) der Grundlegung opak werden lässt. Wir wollen im Weiteren zunächst das ontologische Verständnis rekonstruieren, welches Plessner der Prädikation zugrunde legt, um in einem zweiten Schritt die Konsequenzen für die ontischen Charakteristika lebendiger Körper bei Plessner entwickeln zu können. Auf dieser Grundlage wird schließlich in einem abschließenden Teil die Differenz zur Mischschen Form der Lebensphilosophie skizziert, die sich wesentlich als hermeneutische Logik versteht. 2.1 Ontologische Grundlagen Der lebensphilosophischen Ausformulierung der Eigenheiten des Lebendigen liegt die Unterscheidung zweier Formen von Körpern zugrunde; der Unterschied von lebendigen und nicht-lebendigen Körpern. Dieser ist als absoluter gefasst; die Unterscheidung ist also vollständig disjunkt. Gleichwohl ist beiden Formen das Körper-Sein gemeinsam und als Ding-Sein wie folgt bestimmt: „Jedes in seinem vollen Dingcharakter wahrgenommene Ding erscheint seiner räumlichen Begrenzung entsprechend als kernhaft geordnete Einheit von Eigenschaften.“16 Die von Plessner in diesem Zusammenhang als „Doppelaspektivität“ angesprochene „Außen-Innen-Beziehung“ haben lebendige 16 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 3. Aufl., Berlin, New York 1975, S. 81.
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ebenfalls mit allen Körpern gemeinsam; nur liegt sie bei lebendigen Dingen in einer bestimmten Weise vor. Während bei unbelebten Körpern diese Außen-Innen-Beziehung als Grenze mit den Konturen des Körpers zusammenfällt (also physikalisch gesprochen den Medienwechsel bezeichnet – etwa den Übergang von fest als Eigenschaft eines im Wasser befindlichen Steines zu flüssig als Eigenschaft des diesen umgebenden Mediums) und sich der Doppelaspekt in der allerdings substantiell verstandenen Relation von Eigenschaften und Ding erschöpft,17 ist dies bei lebendigen Dingen grundsätzlich anders: „Ausdrücklich ist in der These festgelegt, daß die Doppelaspektivität gegenständlich am Ding, in Eigenschaftsstellung also, auftreten muß, damit das Ding den Namen eines lebendigen verdient. Das bedeutet für die Anschauung, daß die erscheinende Gesamtheit des Dingkörpers als Außenseite eines unaufweisbaren Innern sich darbietet, welches Innere – wohlgemerkt – nicht die Substanz des Dinges ist, sondern mit zu seinen (sonst aufweisbaren) Eigenschaften gehört.“18 Die Substanzhaftigkeit des lebendigen Dinges, die sich selber nicht sehen lässt, besteht in seiner Zentralität, „von welcher die spezifischen vitalen Äußerungen ausgehend und gehalten angeschaut werden.“19 Nicht-belebte Körper haben eine Grenze, belebte sind diese. Es stellt sich nun aber die Frage, worin eigentlich die – oben explizit so benannte – anschauliche Grenze bei Lebewesen sich vorfindet.20 Die weiteren Erläuterungen zeigen, dass Plessner die sprachkritisch und sprachlogisch konzipierten Überlegungen Hegels (s. u.) zwar aufnimmt, aber als wesentlich substantielle versteht. Denn im Gegensatz zur begrifflichen Konstruktion der Grenze, welche den Bezug zwei17 Auch diese Unterscheidung zeigt exemplarisch, dass sich Plessner zwar immer wieder des Momentes der Relation bewusst ist, dies aber gleichwohl in Form substantieller Rede bestimmt. Im Gegensatz etwa zu Josef König, der den formalen Unterschied „des Dinges und seiner Eigenschaften“ entwickelt, und den kategorialen Charakter der Rede vom Ding sprachkritisch herausarbeitet, fehlt hier eine Entsprechung zum linguistic turn. 18 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 100. 19 Ebd. Da die ontischen Bestimmungen, die Plessner zur Charakterisierung lebendi ger Dinge verwendet, nicht Gegenstand der empirischen Forschung sein können, wird der Ausdruck „Zentralität“ zugleich auch in einem weiteren, der Empirie nä her stehenden Sinn verwandt. Es ist damit vor allem die Organisationsform „des Tieres“ bestimmt, im Gegensatz zu „der Pflanze“. 20 Die Schwierigkeiten der Bestimmung dessen, worin denn eigentlich die Grenzen eines lebendigen Körpers bestehen, dokumentiert eindrücklich die Anmerkung zu Oparin (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 354 ff.).
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er Formen des Wissens und der damit verbundenen Reden bedeutet, nimmt Plessner seinen Anfang bei der Charakterisierung von Körpern mit gewissen Eigenschaften. Nun wurde oben das Innen-Außenverhältnis aller Körper als Verhältnis von Ding und seinen Eigenschaften angegeben. Diese Eigenschaften sind das „am Ding“ erscheinende, welches selber allerdings als „Kern“ gerade nicht sichtbar ist. Für unbelebte Körper lässt sich die Grenze so verstehen, dass sie aus einer tatsächlichen Teilung von Körpern hervorgegangenen sei. Wie Plessner feststellt, könne sie durch eine Linie repräsentiert werden. Würde man versuchen, die Frage zu beantworten, was durch diese Linie repräsentiert werde, so lässt sich etwa sagen: der Schnitt.21 Dieser ist in der Tat nicht eine eindimensionale Wirklichkeit, sondern bezeichnet das Resultat eines Tuns an einem Körper, wobei für die resultierende Schnittfläche (!) eine eindimensionale Projektion – etwa in Aufsicht – angemessen sein kann. Nun ist wohl unstrittig, dass die Fläche etwas „am Körper“ sei, und auch für die Fläche die Unterscheidung von Ding („Fläche“) und ihren Eigenschaften (z. B. „glatt“) gilt. Der Körper aber, an dem sich die Fläche identifizieren lässt, ist an eben dieser Stelle „flach“ (und darauf ist der Ausdruck „Fläche“ bezogen).22 Es sind also offenkundig zwei Redeweisen von „Ding“ im Spiel, die von Plessner unversehens miteinander identifiziert werden. Durch diese Identifikation wird zugleich das „Sich-Äußern“ von etwas als Hervorbringung eines Dinges konzipierbar, das den Ausdruck gleichsam an sich hat. Das Ding ist zunächst, es hat Eigenschaften und zu diesen gehört das Sich-Ausdrücken. Im Gegensatz zur begrifflichen Konstruktion der Grenze bei Hegel, welche den Bezug zweier Formen des Wissens und der damit verbundenen Reden meint, bestimmt Plessner die Grenze ausschließlich als Eigenschaft von Körpern.23 Die methodologischen Schwierigkeiten, welche eine solche Fassung zu gewärtigen hat, lassen sich verdeutlichen, wenn wir auf die Darstellung der begrifflichen Form des Ausdrucks „Grenze“ in der Hegelschen Konzeption rekurrieren. 21 Die mit dem Grenzproblem methodisch verbundenen Probleme werden schon von Aristoteles (etwa in Aristoteles, Über die Seele, Hamburg 1995, III, 6, 430a 26 ff.; Aristoteles, Physik, zweiter Halbband, Hamburg 1988, insb. VI) umfassend gewürdigt; auch hier besteht die Lösung wesentlich in der Reflexion auf die genutzten sprachlichen Ausdrücke. 22 Vgl. P. Janich, Euklids Erbe: Ist der Raum dreidimensional?, München 1989. 23 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 102 ff. Vgl. dazu auch Kapitel 2.2.
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2.1.1 Die Grenze als begriffliche Struktur Werden die spezifischen seinslogischen Fragen der Grenzbestimmung innerhalb des Hegelschen Projektes zunächst zur Seite gestellt, dann zeigt sich, dass der Ausdruck „Grenze“ eine Form der Rede darstellt, welche nur scheinbar in der Einstelligkeit von „A hat eine Grenze“ oder „A ist ein Begrenztes“ aufgeht: „Es ist eine Bestimmtheit derselben [der in Negation zueinander bestimmten Etwas, die Autoren], welche sowohl mit dem Insichsein der Etwas identisch [ist], als Negation der Negation, als auch, indem diese Negationen als andere Etwas gegeneinander sind, sie aus ihnen selbst zusammenschließt und ebenso voneinander, jedes das Andere negierend, abscheidet, – die Grenze.“24 Noch vor aller gegenständlichen Darstellung von etwas „als Grenze“ oder „als Begrenztes“ ist der relationale Charakter des Ausdrucks deutlich. Die Entwicklung des Begriffes – denn dies zunächst ist „Grenze“ auch dann (und man möchte sagen insbesondere dann), wenn sie gegenständlich als „an etwas“ oder „von etwas“ thematisiert wird – zeigt sogleich die Verbindung mit der Tätigkeit des Unterscheidens. Durch die Bestimmung von etwas als etwas ergibt sich ein Unterschied, demgemäß gilt: „Die Entwicklung dieses Begriffs ist zu sehen, welche sich aber vielmehr als Verwicklung und Widerspruch zeigt. Dieser ist sogleich darin vorhanden, daß die Grenze als in sich reflektierte Negation des Etwas die Momente des Etwas und des Anderen in ihr ideell enthält, und diese als unterschiedene Momente zugleich in der Sphäre des Daseins als reell, qualitativ unterschieden gesetzt sind.“25 Die Form der Rede von der „Grenze“ – im Sinne von abgrenzen und unterscheiden – bestimmt Hegel demnach als ein Verhältnis. Dieses Verhältnis ist „ideell“, denn es wird durch die mindestens zweistellige Form des Ausdrucks „abgrenzen“ erzeugt. Es zeigt sich allerdings qualitativ an etwas als „reelle“ Differenz. Die Relate der Relation sind insofern jeweils identisch („als des Etwas überhaupt“26). Die Grenze ist daher dasjenige, was Etwas qualitativ bestimmt und „dieses ist durch sie das, was es ist, hat in ihr seine Qualität.“27 Da diese Relation wechselseitig gilt, ergibt sich die nur scheinbar paradoxale Situation im Verhältnis von Etwas zu Etwas: „Etwas ist also als unmittelbares Dasein die Grenze gegen anderes Etwas, aber es hat sie an ihm selbst 24 25 26 27
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1986, S. 135. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd.
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und ist Etwas durch die Vermittlung derselben, die ebensosehr sein Nichtsein ist. Sie ist die Vermittlung, wodurch Etwas und Anderes sowohl ist als nicht ist.“28 Das „an-sich“ Haben von einer Grenze ist daher immer ein bezügliches, was für die Rede von Etwas „in seiner Grenze“ dargelegt werden kann: Denn hier gilt, dass die Grenze dasjenige bestimmt, was sich „innerhalb“ ihrer befindet. Doch täuscht diese Rede eine unmittelbare Dinglichkeit vor. Am geometrischen Beispiel verdeutlicht Hegel allerdings den rein formalen Charakter (der gleichwohl das „Sein“29 bestimmt). Die Grenze ist dasjenige, was selber nicht in Erscheinung tritt. Sie ist das „noch nicht“ oder „nicht mehr“; gleichsam wie ein Punkt den Anfang und das Ende einer Linie definiert, eine Linie die Grenze einer Fläche aufzeigt oder die Fläche die Grenze eines Körpers abgrenzt. ‚Grenzen‘ sind also für Hegel Anfang und Ende zugleich für das, was durch sie begrenzt wird. Sie sind das „Prinzip dessen, das sie begrenzen; wie das Eins, z. B. als Hundertstes, Grenze ist, aber auch Element des ganzen Hundert.“30 Schon diese kurze Darstellung der logischen Aspekte der Rede von „Grenze“ bei Hegel verdeutlicht, dass es sich nicht um zwei Bestimmungen handelt, die gleichsam zusammenkommend etwas gegenüber etwas abgrenzen, sondern dass die „Grenze“ eine Bestimmung von etwas ist, insofern es „etwas“ überhaupt ist. 2.1.2 Die Grenze und das Lebendige Plessners Auffassung der Grenze als Eigenschaft eines Körpers, dem Eigenschaften gleichsam wie ein Mantel anhaften, führt dazu, dass die Unterscheidung von „Kern“ und „Mantel“ selber in der Logik von Ding und Eigenschaften gedacht wird:31 28 29 30 31
Ebd. Im Sinne des prädizierenden Redens. Ebd., S. 138. Es sei hier wiederum auf Hegels Durchführung der Grenzproblematik als wesens logisches Problem von Ding und Eigenschaft verwiesen. Dem „substantialistischen“ Verständnis von Eigenschaften ließe sich exemplarisch ein relationistisches Verständnis entgegensetzen: „Ein Ding hat Eigenschaften; sie sind erstlich seine bestimmten Beziehungen auf Anderes; die Eigenschaft ist nur vorhanden als eine Weise des Verhaltens zueinander; [...]. Aber zweitens ist das Ding in diesem Gesetztsein an sich; es erhält sich in der Beziehung auf Anderes; es ist also allerdings nur eine Oberfläche, mit der die Existenz sich dem Werden des Seins und der Veränderung preisgibt; die Eigenschaft verliert sich darin nicht. Ein Ding hat die Eigenschaft,
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„Der Grenzkontur gehört als Eigenschaft zum Mantel, welcher den Kern des Dinges umgibt, in welchen der Kern ausstrahlt. Im Verhältnis zu diesem nie manifest werdenden Innen liegt der Grenzkontur in der Außensphäre des Dinges. Als Raumgrenze ist er Ansatzzone einer nur relativen Richtungsdivergenz, während er als Eigenschaft (im Rahmen der absoluten Aspektdivergenz der Körperdinglichkeit) selbst eine Außenbestimmheit darstellt.“32 Die Tatsache, dass die Grenze als Eigenschaft nicht manifest wird, hängt ersichtlich mit dem skizzierten ontischen Verständnis des Ausdrucks „Eigenschaft“ zusammen. Denn es stellt sich sofort eine Iteration der Rede von Kern und Mantel ein, wenn etwa nach dem Sein des Mantels33 gefragt wird; hat dieser als Mantel selber Eigenschaften, die er wohl haben muss, um zumindest vom Kern unterscheidbar zu sein, ist der Regress kaum aufzuhalten. Die Rede von der Grenze ist bei Plessner somit eine Bestimmung von und an Körpern, die sich als Raumgrenze gegenständlich manifestiert und zur „Eigenschaft“ wird.34 Im Gegensatz zu unbelebten Körpern werden lebendige Körper nun dadurch ausgewiesen, dass bei ihnen die Grenze nicht einfach nur Raumgrenze ist, sondern zugleich die Eigenschaft „der absoluten Aspketdivergenz“35 bestimmt.36 Für die Auszeichnung der „Wesens-
32 33 34
35 36
dies oder jenes im Anderen zu bewirken und auf eine eigentümliche Weise sich in seiner Beziehung zu äußern. Es beweist diese Eigenschaft nur unter der Bedingung einer entsprechenden Beschaffenheit des anderen Dinges, aber sie ist ihm zugleich eigentümlich und seine mit sich identische Grundlage; – diese reflektierte Qualität heißt darum Eigenschaft.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1986, S. 133 f.) Die Weigerung Plessners, die sprachlogischen Formen des Redens von Dingen und Eigenschaften zu rekonstruieren, führt dazu, beide Weisen, Verhältnisse zueinander auszudrücken, als Aussagen über je einzelne Körper zu verstehen. Dies ist eine jederzeit mögliche, jedoch eben nicht hinreichende Rede; die epistemische Komponente der Bestimmung dieser Verhältnisse ist daher ganz abgeblendet, sodass der grammatische Schein des So-Seins von Dingen unabhängig von ihrer Beschreibung entsteht. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 102. Oder alternativ des Kerns; es gilt dann das gleiche. Diese Rede von Eigenschaft ist wiederum dinglich, sodass Plessner nun rein sprach lich gezwungen ist, auch diesem Ding (der Eigenschaft) wiederum Eigenschaften zuzusprechen – hier also, dass sie eine „Außenbestimmtheit darstellt“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 102). Ebd. Versteht man – Hegels Hinweis auf den begrifflichen Charakter des Ausdrucks nicht folgend – die Grenze zunächst und vor allem als Eigenschaft „an einem Körper“ so wird der von Plessner anvisierte Unterschied von Formen der Grenzbildung konsequenterweise zu einem Seinsunterschied in der Weise des Körperseins.
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merkmale des Lebendigen“ ist hier der Bezug auf die „Ganzheit“ notwendig, von welcher allerdings zugleich gilt, dass sie sich „nicht abstrakt verwirklichen“ lasse, sondern nur konkret. Die Ableitung dieser Kategorien des Lebendigen soll dabei ausdrücklich nicht als rein logisches Unterfangen verstanden werden; vielmehr sei diese nach Plessner überhaupt nur „indirekt“ möglich – nämlich durch Ausweis der „Reihe der Bedingungen [...] unter welchen allein eine Gestalt Ganzheit hat“.37 Es kommt daher zu einer eigenartigen Verschränkung dessen, was gezeigt werden soll (die „Kategorien oder Modale des Organischen“38) mit dem „Gesichtspunkt der Realisierung“ dessen, wodurch es gezeigt werden soll. Obgleich ausdrücklich von Deduktion die Rede ist, gilt für die Kategorien nämlich: „Gerade in dieser Hinsicht erweisen sich die Kategorien als selbst nicht ableitbare, nicht logisch zu begründende, ursprüngliche Weisen der Realisierung eines für sich und in sich nicht realisierbaren Sachverhaltes.“39 Dies kann insofern nicht überraschen, als das Organische erst unter dem Gesichtspunkt der eigenen Grenzrealisierung als Sachverhalt (der Grenzrealisierung) verstanden werden kann. Die eigentliche Ableitungsarbeit beginnt für Plessner mit der Charakterisierung des Lebendigen als sich selbst-begrenzendes Ding, das durch die Art der Grenzkonstitution sich selbst bestimmt. Der resultierende Antagonismus der Bezugsrichtungen (der des über sich hinausseienden Körpers einerseits, der „des Ihm entgegen Seins“40 andererseits) unterscheidet sich von der Grenzkontur eines unbelebten Körpers durch zwei zentrale Merkmale: 1. Erstens kann die Besonderheit des Lebendigen nicht festgestellt, sondern nur erschaut werden.41 Diese Schau ist allerdings nicht als Methode zu verstehen (wie etwa die Epoché im Husserlschen Sinne, die noch einen Anspruch auf gewisse Formen der Operationalisierbarkeit erheben mag). 2. Zweitens ist aber die „Intuierbarkeit“42 des Grenzverhältnisses immerhin anhand des Gestaltcharakters der zugrundeliegenden Lebewesen demonstrierbar.43 37 38 39 40 41 42 43
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 122. Ebd. Ebd. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Plessner unterstreicht damit die Differenz zur Deduzierbarkeit. Ebd., S. 128.
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Wie passen diese beiden Merkmale zusammen? Plessner versucht die Identifikation der „organischen Modale“ als Angleichung zu be stimmen: „Formal betrachtet muß infolgedessen die Untersuchung das Ziel haben, die beiden gegebenen Größen einander anzugleichen, sodaß in allen Bestimmtheiten des wirklichen physischen Dinges die ‚Forderungen‘ der Wesenheit Ganzheit erfüllt sind. In diesem Sinne verläuft die Untersuchung ‚deduktiv‘“.44 Doch auch die Rede vom „Angleichen“ verweist auf die Notwendigkeit von Gelingensbedingungen der damit verbundenen Handlung. Hier liegt ein mindestens dreistelliger Tätigkeitsausdruck vor, da „jemand A nach Maßgabe von Kriterium (K) an B“ angleicht. Das Resultat wird dann vermutlich gewisse formale Eigenschaften aufweisen, die es erlauben, dasjenige, was erhalten wurde (also in unserem Fall A), als an etwas anderes angeglichenes zu bezeichnen. Der eigentliche Tatausdruck „angleichen“ kann dann nach Maßgabe der im Kriterium K zum Ausdruck gebrachten Zwecke ersetzt werden.45 Eine solche Orientierung kennt auch der Plessnersche Ansatz. Obzwar der Versuch einer Identifikation der „organischen Modale“ „von unten auf, von der Empirie her“46 erfolglos sein werde, ist doch die Investition positiven Wissens notwendig: „Wohl darf die Orientierung an der Erfahrung nie abreißen, doch soll die Erfahrung hier nicht diktieren. Was wirklich Modal genannt zu werden verdient, irreduzible Letztheit, Wesensmerkmal, lehrt Erfahrung niemals, sondern setzt es unbewußt bereits voraus.“47 An den Resultaten der empirischen Forschung kann – da sie die Modale ontisch schon voraussetzen – auch die geforderte Orien tierung gewonnen werden. Doch bleibt die Frage unbeantwortet,48 woher wir dies wissen können. Letztlich sind nämlich die Resultate selber als schon gültig der Wissenschaft zu entnehmen, da die Frage nach deren Berechtigung nur im Lichte einer von dieser unabhängigen Beurteilung erfolgen könnte. Konsequent weist Plessner an dieser Stelle auf die wesentliche Unableitbarkeit der Modale hin. Da sie in eine „nicht direkt meßfähige, quantifizierbare“ und zudem „durch-
44 Ebd., S. 121. 45 Ein einfaches handwerkliches Beispiel wäre die Kürzung eines Holzstabes (A) an die Länge (K) eines zweiten Holzstabes (B) etwa beim Bau eines Ruders. 46 Ebd., S. 111. 47 Ebd. 48 Und innerhalb des Ansatzes auch nicht zu beantworten.
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aus geschlossene Sphäre“49 gehören, können sie nicht Gegenstand der „Wirklichkeitsbeschreibung“50 werden. Sie lassen sich also auch nicht zählen oder anderwärts metrisieren. Dem widerspräche nicht die Möglichkeit einer „Theorie der Modale“; gleichwohl erreiche eine solche niemals die „Modalität“ selber. 51 Der Verweis auf die „Einheit der Sinne“, in welcher eine „Theorie der Modale des unbelebten Seins“ vorgelegt worden sei, erlaubt immerhin die formale Charakterisierung des Ausdrucks „Modal“ durch den der „Qualität“ und mithin der Eigenschaft, welchen die „eigenen Wirklichkeitswerte“ nicht abzusprechen seien.52 Eine Auflistung von Modalen würde also notwendig in einen Selbstwiderspruch der genutzten Analysemethode führen. Immerhin gibt Plessner ein nicht-lebenswissenschaftliches Beispiel für die notwendige Orientierung an empirischem Wissen – nämlich die Erkundung der Möglichkeitsbedingungen des Energieerhaltungssatzes: „So wurde beispielsweise der erste Hauptsatz der Energetik, der Erhaltungssatz, durch Mayer und Helmholtz empirisch nachgewiesen, obwohl in ihm (im Unterschied zum zweiten Hauptsatz, dem Satz von der Entropie) eine apriorische Wahrheit zum Ausdruck kommt. Trotzdem kann man aus dieser nicht die speziellen Gleichungen gewinnen. Erst die Messung bestätigt, daß ‚unsere‘ Natur wirklich eine ‚Natur‘ ist, zu deren Möglichkeitsbedingungen die (relative) Systemgeschlossenheit apriorisch gehört. Überall da, wo der Fortschritt der empirischen Begriffsbildung eine gewisse Reife erreicht hat, umfaßt er Tatbestände, die bei nachträglicher Besinnung auch apriorische Komponenten erkennen lassen.“53 Dass der Energieerhaltungssatz gerade für „geschlossene Systeme“ definiert ist,54 zeigt jedoch nicht, dass die „Natur“ selber einen systemischen Charakter habe. Es zeigt nur, dass für energetisch definierte Systeme bestimmte Verläufe experimentell reproduziert werden kön-
49 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 108. 50 Ebd. 51 Diese Differenz verweist auf den formalen Unterschied der beiden Verwendungen des Ausdrucks „Ding“, den Plessner zwar in Anspruch nimmt, nicht jedoch entwickelt (dazu J. König, „Einige Bemerkungen über den formalen Charakter des Unterschiedes von Ding und Eigenschaft“ (1967), in: G. Patzig (Hrsg.), Vorträge und Aufsätze, Freiburg 1978, S. 338-367). 52 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 108. 53 Ebd., S. 117. 54 Die Geschlossenheit gilt nur aspektuell, bezogen auf die Energiewerte von System und Umgebung.
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nen. Die „Möglichkeitsbedingungen“ wären danach wesentlich der Strukturierung von Naturstücken als Systeme (im Zusammenhang der investierten experimentellen Mittel) und nicht dem glückhaften Umstand des Systemcharakters der Natur zu danken. Wären nun aber die beschreibungssprachlichen Mittel bei Plessner selber Gegenstand der Reflexion, dann könnte der Rede von „Natur“ sprachkritisch dadurch begegnet werden, dass es sich hier um Beschreibungen von Naturstücken als Elemente eines Systems handelt. Daraus folgt aber weder, dass die Natur ein solches System ist, noch dass die beobachtbaren und messbaren Vorgänge durch die für solche Systeme geltenden Gesetze hinreichend beschreibbar sind.55 2.1.3 Modale und Biologie Der für die Biowissenschaften aufgespannte Rahmen bewegt sich bei Plessner grundsätzlich zwischen den antagonistischen Positionen von „Vitalismus“ und „Mechanizismus“. Hinzu kommt noch (neben Vertretern der zeitgenössischen Morphologie, Verhaltenslehre und Gestalttheorie56) der für die deutsche Biotheorie der 1920er Jahre wichtige Jakob Johann von Uexküll, dessen Konzept von Bauplan und Funktionskreis für die Plessnerschen Konzeption der organischen Stufen (insbesondere „des Tieres“) relevant ist.57 Diese Auswahl, welche beispielsweise ohne wesentlichen Bezug zur sich entwickelnden Genetik (im weiteren Sinne) vorgenommen wird, umfasst Theorien, die sich in Prämisse und Konsequenz nicht nur unterscheiden, sondern gelegentlich sogar widersprechen. Gleichwohl lässt sich ein Grundbestand von Merkmalen auszeichnen, der sie verbindet und zugleich den Anfang der Modalidentifikation liefert: „Der Empiriker wird eines Tages erklären können, daß es keine ‚Anpassung‘ mehr gibt, sondern nur noch ‚Regulationen‘, keine ‚Regulationen‘ mehr, sondern nur noch bestimmt geartet, chemisch zu definierende Vorgänge: was an der Modalität ‚Anpassung‘ oder ‚Regulation‘ empirisch ist, hat dann seine Bestimmung durch Zurückfüh55 Die bis heute anhaltende Debatte über den Status nicht nur des zweiten Hauptsat zes, sondern der Grundlagen der Thermodynamik zeigen die mit solchen Modellie rungen und der Beurteilung ihrer Adäquatheit verbundenen Probleme – sozusagen „anschaulich“ (vgl. etwa L. Sklar, „The Reduction (?) of Thermodynamics to sta tistical Mechanics“, in: Philosophical Studies 95/1999, S. 187-202). 56 Vgl. den Beitrag von Hartung in diesem Band. 57 Vgl. den Beitrag von Köchy in diesem Band.
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rung erfahren. Nie aber kann die Modalität des Modals davon betroffen werden.“58 Regulation, Vererbung, Stoffwechselkreislauf usw. sind jene Merkmale, die zumindest den Anfang der philosophischen Rekonstruktion der Wesensmerkmale des Lebendigen bilden; Plessner legt allerdings den größten Wert auf die grundsätzliche Differenz zwischen den biologisch-empirischen Ausführungen einerseits und dem was mit Modalen (sozusagen „als Modale“) angesprochen wird andererseits: „Empirische Wesensmerkmale sind vergänglich, sie haben nur indikatorischen Wert für eine andere Seinssphäre, deren Erscheinungen sie sind. Die apriorischen Wesensmerkmale werden von dieser Vergänglichkeit nicht berührt, denn sie konstituieren die konstante Schicht konkreter anschaulicher Erscheinung, von der die empirische Wissenschaft immer wieder ihren Ausgang nehmen muß.“59 Darin liegen zwei miteinander verknüpfte Aussagen, was sich als mehreindeutige Relation darstellen lässt: Sosehr nämlich verschiedene empirische Beforschungen von Modalen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen mögen, sosehr bleibt doch deren „eigentliche Eigenheit“ davon unbetroffen. Sie bilden die Invarianten, bezüglich dessen empirische Thematisierungen einen gleichbleibenden Bezugspunkt haben. Diese müssen also gekannt werden, um die Richtigkeit oder Falschheit von empirischen Thematisierungen beurteilen zu können. Es kommt allerdings noch eine zweite These hinzu, die mit der ersten verbunden ist, aus ihr aber nicht notwendig folgt: dass nämlich bei allen Differenzen der empirischen Thematisierung immer wieder in der „phänomenalen Seinsschicht des Lebens“ begonnen werden müsse. Beide Thesen lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Modale sind invariant zu der wissenschaftlichen Forschung und deren Resultaten. Damit ist aber zugleich auch festgeschrieben, dass mit den auf die Modale bezogenen empirischen Formen jeweils dasselbe gemeint ist. Vererbung wäre daher z. B. immer gleich, unabhängig davon, ob es im Rahmen etwa verhaltensbiologischer, morphologischer, embryologischer, molekulargenetischer oder evolutionsbiologischer Theorien verhandelt wird. 2. Es gibt einen absoluten Anfang empirischer Forschung, auf den alle weitergehende Beforschung zurückbezogen werden muss. 58 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 118. 59 Ebd., S. 117 f.
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Dies impliziert die methodische Unabhängigkeit der Modal-Darstellung von empirischen Theorien (die von den Modalen überhaupt erst begründet werden sollen). 2.2 Ontische Konsequenzen Die Frage, ob eine solche methodische Unabhängigkeit gewährleistet ist, ob also das in der Einleitung angezeigte Dilemma wirklich umgangen werden kann, wird sich an der tatsächlichen Durchführung zeigen. Exemplarisch soll das an der Rede von Systemcharakter und Organisiertheit rekonstruieren werden, da beide für den Plessnerschen Ansatz von besonderer Bedeutung sind. 2.2.1 System und Systemcharakter Am Beispiel der „Deduktion“ des Systemcharakters des Lebendigen weist Plessner zunächst auf die Notwendigkeit des Systembegriffes hin. Ihren Ausgang nimmt diese Darstellung im Bereich des Indikatorischen,60 wobei auch „experimentelle Methodik“61 einen Bezug darstellen kann, unabhängig davon, dass sie „das ganze Sein, wie es an ihm selbst und in ihm selbst weset und ist“62 aufschließt. Gleichwohl bleibt diese Bestimmung ausdrücklich ontisch (zutreffender hier: ontologisch63), sodass die Richtungswechsel in der Grenze absolute bleiben: „Die Relativität der Blickstellung, aus der sowohl das eine wie das andere der aneinander stoßenden Gebiete als das umschlossene angesehen werden kann, hebt die Absolutheit des Gegensatzes in sich nicht auf, sondern bestätigt sie.“64 Da dies nicht auf die zur Einführung der „Grenze“ notwendigen (etwa prädikativen) Sprachmittel bezogen wird, gilt auch nicht der 60 61 62 63
Vgl. ebd., S. 123 ff. Ebd., S. 126. Ebd. Das Einziehen dieser Differenz ergibt sich zum einen durch die Konzeption der Grenze als Moment der Seinsverfasstheit von Körpern, ohne dass auf die begrifflichen Momente dieser Rede geachtet würde; sie zeigt sich als Resultat in der Doppelung von seinsmäßiger Verfasstheit des Wesens-Kernes und seinsbedingter Bestimmung des Eigenschafts-Mantels, der Unerreichbarkeit des Lebens als Phänomen und seiner adäquaten Gebung durch (auch biologische) Beschreibungen. 64 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 156.
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Satz, „daß man, um etwas als Grenze zu bestimmen, über sie hinausgelangt sein müsse.“65 Da explizit die Position des etwas als begrenzt sprachlich und begrifflich Thematisierenden für die Betrachtung keine Rolle spielt, muss nun auch der Systemcharakter als eine echte Eigenschaft von Körpern, und zwar zunächst von je einem Körper, verstanden werden. Diese Eigenschaft wird wiederum gebildet durch die ontische Interpretation des Prädikationsschemas (also „x ist A“), wobei das logische Subjekt den Kern, die Prädikate den Mantel bilden. Insofern gilt hier eine einfache Identifikation: „Die Sprache trägt diesem seltsamen Gesetz dadurch Rechnung, daß sie sagt: der lebendige Körper ist ein System, das Teile hat, oder auch: das Lebewesen hat einen Körper mit den und den Teilen. Die Weise des Körpers, vor seiner ihm angehörenden Grenze zu Ende zu sein, sie als reale außer dem Gebiet seiner begrenzten Wirklichkeit zu halten, ist das In ihm Sein oder das Zu ihm, dem Körper, in Beziehung Sein, für welche Art von Beziehung die Sprache nur das Wort Haben zur Verfügung stellt. So ist der lebendige Körper ein Selbst oder das in der Einheit aller seiner Teile nicht allein aufgehende, sondern ebenso in den Einheitspunkt (der zu jeder Einheit gehört) als einen von der Einheit des Ganzen abgelösten Punkt gesetzte Sein.“66 Der (lebendige) Körper ist ein System – und zwar schlechthin. Das Zukommen des Systemseins gilt so wie das Teile-Haben, und beides wird durch den weiteren Ausdruck des „Ganzen“ belegt. Dabei dürfte dieses wesentlich auf den Einheitsaspekt verweisen, ohne welchen nämlich sogleich sichtbar würde, dass die Rede vom System sowohl die Rede vom Teil67 als auch von der Grenze impliziert. Da aber die Grenze nicht als Resultat epistemischer Unterscheidungen, sondern als ein
65 Ebd. 66 Ebd., S. 158. 67 Differenzierte man sprachlich, was Plessner hier nicht unternimmt, so wäre zwis chen „Teil“ und „Komponente“ sowie dem aus den Teilen bestehenden „Gegen stand“ und dem „System“ zu unterscheiden. Das umgekehrte lässt sich mit dem Zweck der Analyse ebenfalls vornehmen, sodass hier „Teil“ das Resultat von Tei lungen wäre, und das, von dem abgeteilt würde, der „Gegenstand“. Wiederum lässt sich dann der Sprachebenenübergang vom „Teil“ zur Komponente und vom „Ge genstand“ zum System machen. Dies aber setzte hier eine Unterscheidung etwa von Lebewesen einerseits und einem „als System beschriebenen“ Lebewesen anderer seits voraus, wobei das Resultat ein – wie auch immer näher bestimmtes – System wäre (zur methodologischen Grundlage vgl. M. Gutmann, „Lebewesen verstehen“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 62(1)/2014, S. 90-107).
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Haben eines Körpers konzipiert wurde, fiele für Plessner – methodologisch gesprochen – die Grenze zum System. Neben der Grenze und den Komponenten ist der dritte Aspekt der System-Semantik aufzunehmen – jener der Relation der Teile zuein ander. Die „Deduktion“ geht wiederum vom substantialistischen Prädikationsschema aus und charakterisiert das Verhältnis der Teile zueinander als durch die „Mitte“ bestimmtes. Es ergibt sich ein auf „Harmonie“ angelegtes Gebilde: „In diesem Vermögen sind alle Elemente des Körpers gleichmäßig zur Einheit gebunden und als Einheit gewährleistet. Insofern das Vermögen die Einheit gegenüber den sie in Wirkeinheit bildenden Elementen gewährleiste, vertritt es die Einheit in jedem der durch sie verbundenen Elemente. Indem in jedem Element des lebendigen Raumdinges und zugleich gegenüber jedem Element die Einheit als Vermögen vertreten ist, sind die Elemente äquipotentiell und bilden als Insgesamt ein harmonisch äquipotentielles System.“68 Die Differenz dieser Konzeption zu Driesch wird zwar betont, gleichwohl ist deutlich, dass der Ausdruck „System“ ein harmonisches Verhältnis der Komponenten weder nahelegt noch impliziert. Da der Ausgangspunkt für Plessner aber in den regulationstheoretischen Beschreibungen entwicklungsbiologischer Experimente durch Driesch lag, werden „auf synthetischem Wege die Ergebnisse von Drieschs Analyse der Restitutionsphänomene“69 bestätigt. Die Verkürzung von Systemen auf harmonische einerseits, und harmonisch regulierte andererseits, legt systemtheoretische wie kybernetische Beschreibungen auf gleichgewichtstheoretische Formen fest. Dies leitet über zu einer zweiten grundlegenden Charakteristik des lebendigen Körpers, nämlich seiner Organisiertheit. 2.2.2 Organismus, Organ und Organisiertheit Die Hauptfunktion der oben entwickelten harmonisch-äquipotentiellen Systeme70 besteht wesentlich in der Erhaltung oder Stabilisierung sowohl der internen wie der externen Strukturen. Mit dem internen 68 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 162. 69 Ebd., S. 163. 70 Auch dieser Ausdruck erscheint in doppelter Weise, einmal zur Charakterisierung einer ontologischen – vorempirischen – Gegebenheit und einmal als empirischer Forschungsgegenstand. Revision kann im Plessnerschen Ansatz immer nur der Letztere erfahren. Allerdings kann es sich nicht um grundsätzliche Revisionen han-
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Aspekt ist das Verhältnis der Teile des Lebewesens zum (ganzen) Körper in den Blick gerückt. Ausgehend von der als Selbstreguliertheit bestimmten Harmonie der Teile des Systems im System bestimmt Plessner den Begriff des Organs, welcher aktualiter der „Baustein“ des (lebendigen) Körpers ist. Insofern er dies unmittelbar ist, ist der lebende Körper tatsächlich nicht mehr als ihr „aktuelles Insgesamt“.71 Der lebende Körper wird unmittelbar und aktualiter ein σῶμα ὀργανίκόν (ein nützlich gegliederter Körper),72 wobei das Verhältnis zum System (Ganzen)73 wie folgt bestimmt wird: „Im Organ hat das Lebewesen sein Mittel: zum Leben. In seinem Körper vermittelt sich das Ganze zum Ganzen. Die In ihm Gesetztheit des organischen Körpers ist wirklich vermittelte Unmittelbarkeit: das Ganze ist in allen seinen Teilen durch ihre in divergenter Spezialität gegebene Übereinstimmung zum Ganzen gegenwärtig, die Teile dienen dem Ganzen. Oder kurz gefaßt: der wirkliche Körper ist in jeder seiner faktisch erreichten Phasen in ihm selbst Zweck.“74 Da die begriffliche Strukturierung von lebendigen Körpern in einer substantialistischen Grammatik verbleibt, ergibt sich nicht nur die angezeigte Nivellierung von Lebewesen und System. Vielmehr wurden ja die Bedingungen der Rede vom System auf die Naturseite geschlagen: das Lebewesen wird ebenso unmittelbar zum Zweck (an ihm selbst), wie der Zweck zur Eigenheit des Systems.75 Hinzu tritt nun
71 72
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deln, denn sonst wäre kein Bezug zur Identifikation der Wesenseigenschaften mehr gegeben. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 167. Dies stimmt mit der einfachen Identifikation von Lebewesen und Organismus einer seits, der Teile desselben mit Organen andererseits bei Thompson (M. Thompson, Life and Action. Elementary Structures of Practice and Practical Thought, Harvard 2012) überein. Eine Differenz zu Aristoteles ergibt sich allerdings, wenn man die epistemische Rolle der Technikvergleiche für die Einführung des σῶμα ὀργανίκόν bedenkt (dazu M. Gutmann, „Lebewesen verstehen“). Letztlich trägt die Rede vom „System“ gegenüber der vom „Ganzen“ nichts weiter aus. Erst in den Ergänzungen verweist Plessner mit Kybernetik und Systemtheorie auf eine begriffliche Dimension, die den hier ontisch vorgetragenen Ansatz aber in dem Moment transzendiert, als kybernetische und systemtheoretische Beschreibungselemente als Mittel der biologischen Strukturierung von Lebewesen verstanden werden (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 349 f.). Ebd., S. 169. Schon J. H. Lambert (vgl. J. H. Lambert, Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, hrsg. von G. Siegwart, Hamburg 1988, S. 126 f.) weist auf den Zweck-Aspekt von „System“ hin; methodisch gewendet geben erst die Zwecke der Beschreibung von etwas „als System“ die Möglichkeit der Beur-
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die Charakterisierung von lebendigen Systemen als organisierten; dies sind sie ebenso an sich selber, wie sie Systeme sind. Doch ist nicht nur die interne Struktur von Lebewesen durch die Orientierung am Harmonie-Gedanken mitbestimmt, sondern auch die zwischen Lebewesen und Umwelt. In enger Anbindung an Uexküll wird die Organisationsform der tierlichen Positionalität als Anpassungszustand aufgefasst: „Der primären Harmonie seiner Organisation und seiner Organfunktionen entspricht eine primäre Harmonie der Gesamtentsprechung zum Medium, aber wie jene muß auch diese regulierbar sein. Dem geschlossenen System des lebendigen Körpers entspricht das geschlossene System des Positionsfeldes, aber wie jener seine Grenzen innehält, indem er zugleich über sie hinaus ist und sie öffnet, muß auch dieses ein offenes System sein, das seine beständige Korrektur erlaubt und verlangt. Infolgedessen trägt die Adaptiertheit den Charakter einer die Adaption bereits mitbedingenden, nicht den einer selbständigen Voraussetzung organischen Lebens.“76 Sowohl die als rein äußerlicher Vorgang bestimmte „Darwinsche“ Variante als auch das Gegenstück in der Form der „Lamarckschen“ werden zurückgewiesen, wobei die absolute Einpassung im Sinne Uexkülls ebenso wenig als notwendig angesehen werden müsse.77 Die Prozessualität des Anpassungsvorgangs, als dessen Resultat die Angepasstheit zu verstehen ist, verbleibt gleichwohl (hier ist der Uexküllsche Gedanke leitend) in der Form der Harmonie.78 Auch für die höchste Form der Organisiertheit – die menschliche79 – gilt dies letztlich noch: gerade die besondere (exzentrische) Positionalität des
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teilung der Adäquatheit der Beschreibung. Systeme liegen dann aber nicht einfach vor, sondern sind zum Zwecke etwa der Modellierung eingeführte Strukturierungen von etwas „als System“. Am Beispiel von Öko-Systemen vgl. M. Gutmann, P. Janich, „Methodologische Grundlagen der Biodiversität“, in: P. Janich, M. Gutmann, K. Prieß, (Hrsg.), Bodiversität. Wissenschaftliche Grundlagen und gesellschaftliche Relevanz, Berlin, Heidelberg, New York 2002, S. 281-353. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 205 f. Vgl. ebd., S. 206 f. Dies schließt „Gefährdungen“ keinesfalls aus (vgl. ebd., S. 207). Die Bedingungen des Gelingens aber der Anpassungen sind an die Form der beiden angezeigten Harmonien gebunden. Diese Reihenfolge findet sich auch in der von Aristoteles begründeten Ontologie; diese erlaubt aber immerhin eine methodische Lesart, die den Menschen als begrifflichen Standard der anderen Lebensformen bestimmte (s. M. Gutmann, „Lebewesen verstehen“).
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Menschen, die diesen zu einem „Apostaten der Natur“80 werden ließ, findet ihren durch die Seinsverfassung erzwungenen Ausgleich der „Ergänzungsbedüftigkeit“ des Menschen in seiner gleichsam natürlichen Künstlichkeit:81 „Nur weil der Mensch von Natur halb ist und (was damit wesensverknüpft ist) über sich steht, bildet Künstlichkeit das Mittel, mit sich und der Welt in’s Gleichgewicht zu kommen. Das bedeutet nicht, daß Kultur eine Überkompensation von Minderwertigkeitskomplexen dar stellt, sondern zielt auf eine durchaus vorpsychologische, ontische Notwendigkeit.“82 Die ontische Notwendigkeit ergibt sich dabei aus der vielzitierten Beschreibung als exzentrisch positionalem Wesen. Mittels dieser Bestimmung wahrt Plessner sowohl gegenüber „spiritualistischen“ wie „naturalistischen“ Theorien der Kulturentstehung kritische Distanz. Sie unterstreicht allerdings den Aspekt der Harmonie als eine Art Meta-Regel, die letztlich auch für den Menschen – als ausnehmend besonderem Tier – gilt:83 „Die konstitutive Gleichgewichtslosigkeit seiner besonderen Positionalitätsart – und nicht erst die Störung eines ursprünglich normal, harmonisch gewesenen und wieder harmonisch werden könnenden Lebenssystems ist der ‚Anlaß‘ zur Kultur. Existentiell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur.“84 An dieser Stelle jedoch schließt sich der Kreis, der oben mit Plessners Begründung des Verstehens von Lebendigem durch die Seinsverfasstheit des Menschen als ein Lebendiges neben anderem eröffnet wurde. Die Bestimmung der Eigenheiten des Menschen als Lebendiges basiert gerade auf jenen biowissenschaftlichen und biotheoretischen Positionen, die Plessner für die Darstellung der Eigenheit lebendiger Körper investiert hat. Eine Unabhängigkeit von diesem Wissen ist da80 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 320. 81 Zu den Schwierigkeiten dieser von Gehlen entwickelten Rede vgl. M. Weingarten, „Versuch über das Missverständnis, der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen“, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie die Biologie 8, Berlin 2001, S. 137-171. 82 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 321. 83 An dieser Stelle bleibt die Frage unbeantwortet, welchen Status die „ontische Not wendigkeit“ beansprucht, und wie ein solcher Anspruch einzulösen wäre; er ist er sichtlich nur unter Annahme der „richtigen“ Bestimmung der menschlichen Natur in der vorgenommenen Form überhaupt zu erbringen. 84 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 316.
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mit aber ebenso wenig gegeben, wie die Unabhängigkeit des Wissens vom Menschen als Lebewesen von diesen biotheoretischen Investitionen.
3. Vermeidung des Dilemmas Der Anspruch Plessners, einen „dritten“ Weg zu weisen, der zwischen philosophischer Immanenz einerseits (sei es in Form der transzendentalen, sei es der phänomenologischen Reflexion), der naturwissenschaftlichen Reduktion andererseits (sei es rein „chemo-physikalisch“, sei es unter Zulassung disziplinärer „Autonomie“) vorgenommen werden kann, hängt in seiner Einlösbarkeit an der Antwort auf das in der Einleitung skizzierte dilemmatische Verhältnis. Die Rekonstruk tion seines lebensphilosophischen Programms sollte zeigen, dass Plessner die Behauptung der Beschreibungsunabhängigkeit seiner Ontologie des Lebendigen nur unter Verzicht auf die Reflexion der von ihm genutzten begrifflichen Mittel einlöst. Das Resultat der begrifflichanalytischen Arbeit weist nicht nur eine starke methodische Bindung an gewisse biowissenschaftliche Argumentationsformen auf, sie bleibt vielmehr wesentlich bezogen auf eine bestimmte Form der Ontologie selber. Dass dies Plessner selber nicht unbemerkt geblieben ist, zeigen seine eigenen Versuche, sich mit nicht berücksichtigten Formen der Lebenswissenschaften in den Anmerkungen zu den Stufen des Organischen auseinanderzusetzen.85 Die Frage nach der Nutzbarkeit der skizzierten Überlegungen im Zusammenhang der positiven Wissenschaften dürfte allerdings weniger davon, als vielmehr von der Reflexion auf die von Plessner verwendeten Mittel und deren begrifflichen Grenzen abhängen.
85 Insbesondere die Frage nach biomembranes als mögliche Kandidaten der Grenzrealisierung (ebd., S. 357 f.) sowie zumindest die Wahrnehmung von Populationsgenetik (ebd., S. 351 f.) und systemtheoretischer und kybernetischer Modellierungen (ebd., S. 349 f.) weisen jedenfalls auf Versuche hin, die eigene Ontologie in eine gewisse Übereinstimmung mit der sich verändernden Lebenswissenschaft zu bringen.
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3.1 Hermeneutische Logik als (Selbst-) Auslegung des Lebens Genau eine solche Reflexion auf die begriffslogischen Mittel versucht Georg Misch in Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens (1994) zu leisten. Über diese Reflexion können die begrifflichen Engführungen und Grenzen bei Plessner vermieden werden; bei aller Übernahme von Resultaten der zeitgenössischen Biologie spielen nämlich empirische Befunde für das zentrale Anliegen, eine „Theorie des Wissens“86 zu konzipieren (als welche Der Aufbau der Logik verstanden werden kann),87 keine Rolle. Es sind vielmehr die Untersuchungen der Redeformen und deren besonderen Referentialität, die Misch eine Verortung naturwissenschaftlichen Wissens ermöglichen, ohne zugleich systematische Philosophie in Abgrenzung oder Übernahme von empirischen Wissen gestalten zu müssen. Dies gelingt Misch vor allem deshalb, weil der Ausgangspunkt beim Ausdrucksphänomen nicht im Sinn der Bestimmung von Eigenschaften (belebter) Dinge genommen wird, sondern in der Charakterisierung jener sprachlichen Mittel, die zur Darstellung des „Im-Ausdruck-Seienden“ genutzt werden. Begriffslogisch bedeutet dies, dass die relationale Struktur des Ausdrucksbegriffs die Möglichkeiten der Grenzbestimmung, wie sie bei Hegel vorgeführt worden sind, in erheblich größerem Maß ausschöpft als die Plessnersche Auffassung der Grenze als Eigenschaft von Körpern. Das Zeichenhafte des Ausdrucks führt zu einer doppelten Reflexion von „Ausgedrückt-Sein“ und „Sein des Ausdrucks“,88 die sich in den Formen des Wissens widerspiegelt und in der Darstellung von Ausdrucksphänomenen genutzt wird. Misch unterscheidet dabei zwei Wissensformen: 1. Zunächst wird wissenschaftliches Wissen an die Form „diskursiver Rede“ gebunden. Die „Objektivität“ rein diskursiver Rede erweist sich in der zentralen Forderung an (natur-) wissenschaftliche Aussagen, dass sie personen- und situationsinvariant sein sollen. 86 Dieser Ausdruck ist Teil des Untertitels bei G. Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. 87 Zur Entwicklung von Grundzügen der Logik als einer „Theorie des Wissens“ vgl. J. König, Georg Misch als Philosoph, Göttingen 1967, S. 219 ff. 88 Es sei an dieser Stelle auf die Aufnahme der Überlegungen Königs „über den bestimmten Eindruck“ als „Eindruck von eines Bestimmten“ verwiesen (J. König, Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie, Tübingen 1969, S. 1). Zur begrifflichen Konstruktion des Eindruckproblems vgl. ebd.
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2. Den Gegensatz zur diskursiven Rede bildet die „evozierende Rede“. Ebenso wie die diskursiv gegliederte Rede kann die evozierende Rede als Form der Artikulation von Sinnzusammenhängen verstanden werden; jedoch nicht in rein darstellender Form. Entscheidend ist vielmehr, dass in einer Äußerung der „Selbstbezug des Äußernden“ unmittelbar Teil der Äußerung selbst ist. Für die diskursive und rein darstellende Rede soll gerade dieser Selbstbezug keine Rolle (mehr) spielen.89 Dieser „Selbstbezug“, der die evozierende Rede bestimmt, stellt diesen in einen klaren Gegensatz zur diskursiven Rede; der Gegensatz ist aber kein kontradiktorischer,90 sondern ein aspektueller bzw. funktioneller.91 Die Funktion dieser Unterscheidung wird an der Charakterisierung „des Menschen“ deutlich: Bei Plessner wäre der Mensch ein Ding unter anderen Dingen, aber durch besondere Eigenschaften ausgezeichnet – nämlich seine „Exzentrizität“. Bei Misch dagegen wird der Mensch im Anschluss an Wilhelm Dilthey wie folgt charakterisiert: „Wir erfahren einen Zusammenhang des Lebens (und der Geschichte), in welchem jeder Teil eine Bedeutung hat. Wie die Buchstaben eines Wortes haben Leben und Geschichte einen Sinn. [...] Wir tragen keinen Sinn von der Welt in das Leben. Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen. Aber nicht im Einzelmenschen, sondern im geschichtlichen Menschen. Denn der Mensch ist ein geschichtliches (Wesen).“ „Wenn hier Leben und Geschichte zusammengenommen werden, so beruht das eben auf der objektiv-allseitigen Richtung des Verständnisses, auf einer vorurteilslosen Interpretation des Lebens aus ihm selber, ohne Zuhilfenahme von jenseitigen Setzungen. Schließlich ist 89 „Wir werden aber, indem wir sie innerhalb der umfassenden Form abgrenzen, fin den, daß sie nur einen Pol in dieser allgemeinen diskursiven Form ausmacht. Ihr gegenüber steht, am andren Pol, eine entgegengesetzte Ausprägung des diskursiven Typus, die dem intuitiven Grundzug des Denkens entspricht“ (G. Misch, Der Auf bau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, S. 433). Damit ist „In tuition“ an Formen des Redens gebunden und nicht als ein ganz anderes Erkennen verstanden. 90 Es liegt vielmehr innerhalb der diskursiven Form eine Differenz zwischen evozierender und diskursiver Rede vor, die durch die Satzstruktur – und dem darin liegenden Subjekt-Prädikat-Schema – beider Äußerungsformen verdeckt wird. 91 Er folgt also eher der Logik des „übergreifenden Allgemeinen“ als der analytischen Konzeption von Gegensätzen.
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die Möglichkeit, zu einem wirklich objektiven Lebensverständnis zu kommen, darauf zu gründen, daß nicht nur wir das Leben auslegen, sondern das Leben sich selbst auslegt, nämlich dadurch sich auslegt, daß es sich objektiviert in den geschichtlichen Schöpfungen der Menschen, die aus dem Leben hervordringen und seinen Sinn zum Ausdruck bringen, wie ich das unter dem Titel der Selbstheit der geisteswissenschaftlichen Gegenstände darlegte.“92 Würde die Darstellung des „Menschen“ der logischen Form des Dinglichen folgen, wie sie bei Plessner entwickelt worden ist, so wäre „der Mensch“ ein Wesen mit gewissen Eigenschaften, zu denen u. a. das Haben von Geschichte gehöre. Allerdings weist Josef König explizit darauf hin, dass Misch gerade solch ein Verständnis vom Menschen ablehnt: „Er [Georg Misch] bezieht sich auf das bekannte Dictum Diltheys ‚Was der Mensch sei, das erfährt er nur durch die Geschichte‘ und fährt fort: ‚Auch dieser Satz ist nicht als eine rein diskursive Feststellung zu verstehen, so daß das Gemeinte in der Aussage voll aufgehoben und rein aus ihr zu entnehmen wäre, sondern als ein Ausspruch, der nach der Art einer ‚evozierenden‘ Formulierung auf die Sache, hier also auf das Verfahren des geschichtlichen Verstehens, zurückweist.‘ Hingegen würde Misch einen Satz wie ‚welche Nummer ein Fernsprechteilnehmer hat, erfährt man im allgemeinen aus dem amtlichen Telephonbuch‘ wahrscheinlich als eine rein diskursive Feststellung ansehen.“93 Diese Einsicht, in die nicht rein diskursive, sondern evozierende Bestimmung dessen, was „der Mensch“ sei, erlaubt eine andere Perspektive, die nicht – primär – an der prädikativen Form von Eigenschaften orientiert ist. Sie zeigt ein Wissen an, das wesentlich ein Selbst-Wissen ist:94 Im Gegensatz zu Plessners Substantialismus kann nach Misch „vom Menschen“ nämlich nicht so gesprochen werden, als würde hier eine Konjunktion zweier Sätze vorliegen – etwa der Art: „Es gibt ein Wesen, welches ein Mensch ist“ und „Eine Eigenschaft dieses Wesens besteht im Haben von Geschichte“. Vielmehr ist die Rede vom „Wesen des Menschen“ bzw. „Sein des Menschen“ nur so zu verstehen, dass sein „Sein“ bzw. „Wesen“ das Haben von Eigenschaften selber ist. Der Mensch, so könnte man paraphrasieren, ist nur, insofern er
92 G. Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, S. 569. 93 J. König, Georg Misch als Philosoph, S. 223. 94 Es wäre also ein Wissen, das weniger theoretischer als praktischer Natur ist.
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Geschichte hat.95 Es würde der Aristotelischen Bestimmung von Lebewesen entsprechen, wonach Lebewesen das „Leben“ nicht als Eigenschaft zukomme, sondern vielmehr die Form ihres Tätigseins selbst beschreibe.96 Entsprechend kann es auch ein Wissen vom Menschen nicht innerhalb einer Philosophischen Anthropologie geben,97 welche der Geschichte oder anderer Formen des „objektiven Geistes“ vorgeordnet wäre:98 Vielmehr ist eine solche anthropologische Darstellung des Menschen als Lebewesen neben anderen (wie bei Plessner) auf eine „rückwendig-produktive Vergegenständlichung der Erlebnisse“99 angewiesen. Die entscheidenden begrifflichen Differenzen zu Plessners Überlegungen sind entsprechend deutlich: Bei Plessner muss notwendig „der Mensch“ in einer Typenlogik bestimmt werden. Das Verhältnis von Individuum und Typus ist der Form nach dasjenige von Exemplar und (im engeren Sinne) logischer Gattung. Bei Misch hingegen lässt sich mittels der evozierenden Redeform von Individuen als sich selber-Individuierende sprechen, deren Individuation u. a. an die Hervorbringung von Sprache gebunden ist, ohne dass damit der Bezug der beiden Redeformen aufeinander als Momente des Diskursiven verloren ginge.100 Das evozierende Reden als Moment der Diskursivität, eingebettet in die Mitteilung als gemeinsames Tun, ermöglicht es also von
95 Dieses „Übergreifen“ eines Merkmals hat dieselbe begriffliche Struktur wie das Sprache-Haben. 96 Also das „τὸ δὲ ζῆν τοῖς ζῶσι τὸ εἶναι ἐστιν“ (Aristoteles, De anima II, 4, 415b13). 97 Wir behalten die Rede hier bei; es ist aber zu bedenken, dass Misch dies in engen Zusammenhang mit dem Problem der Autobiographie stellt, also gerade nicht eines Wissens von „dem“ Menschen, sondern von einem Menschen, insofern er Mensch d. h. individuelles Wesen ist, vgl. J. König, Georg Misch als Philosoph, S. 212 ff. 98 Zum Konzept der Selbstauslegung des Lebens und des Programms der Hermeneutischen Logik s. J. König, Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie, Tübingen 1969. 99 Misch zitiert nach J. König, Georg Misch als Philosoph, S. 227. 100 Von einer „Überschreitung“ des Diskursiven „auf das Evozierende hin“ (H.-G. Gadamer, „Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule“, in: ders., Hermeneutik im Rückblick, Gesammelte Werke, Bd. 10, München 1995, S. 185-205) kann also – genau genommen – nicht die Rede sein; es bleibt ein Gegensatz im Verhältnis des Diskursiven selber. Dies zeigt eine systematische Differenz zwischen „hermeneutischer Philosophie“ an, der sich Gadamers eigenes Denken zuordnen lässt und der im Rahmen der Göttinger Lebensphilosophie entwickelten „hermeneutischen Logik“.
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diesem (d. h. individuierten und besonderten) Menschen101 zu sprechen, insofern er überhaupt ein Mensch ist. 3.2 Ausweg aus dem Dilemma Die Orientierung bei Misch an begriffslogischer Analyse von Redeformen hat zur Folge, dass sie dem oben angezeigten Dilemma in der Konzeption von Plessner entgeht; und zwar aus zwei Gründen: 1. Zunächst führt seine Untersuchung der Redeformen, die in den Wissenschaften verwendet werden, zu einem Zusammenhang, der explizierbar ist, ohne dass auf wissenschaftliches Wissen positiv zurückgegriffen werden müsste. Es bedarf also keines empirischen Wissens, das positiv in Anspruch genommen werden müsste, sondern lediglich der logischen Form (d. h. Redeform) desselben. 2. Daraus ergibt sich die „Begründungs- und Geltungsfunktion“ des bei Misch bestimmten Wissens von selbst. Dieses Wissen liegt nicht in einer besonderen Zugangsweise von Erkenntnis, sondern vielmehr in der besonderen Form des Redens. Wie immer positive, anthropologische Wissenschaft inhaltlich beschaffen wäre, bliebe sie doch wesentlich auf nicht rein-diskursives Reden bezogen, welche die „Bedingung der Möglichkeit“ dieses Wissens darstellen könnte. In der Beziehung von diskursivem zu evozierendem Reden läge nach Misch genau diese Möglichkeit begründet. Die Plessnersche Darstellung „des Menschen“ in der rein diskursiven Weise typisierender Rede lässt sich also über eine begriffslogische Analyse im Rahmen eines hermeneutischen Projekts bei Misch verorten. Die Reduktion auf naturwissenschaftlich-positives Wissen, das in seiner Geltungsfunktion unbegründet bleibt, wird durch diese hermeneutische Ausrichtung ebenso vermieden, wie die Forderung nach einem „ganz anderen“, welches in begrifflicher Form nicht mehr explizierbar wäre.
101 Ein Verweis auf Mischs Autobiographie-Projekt könnte sich an dieser Stelle nicht nur als historisch, sondern als systematisch relevant erweisen; vgl. J. König, Georg Misch als Philosoph, S. 212 ff.
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Anthropologie des geistigen Seins und Ontologie des Menschen bei Helmuth Plessner und Nicolai Hartmann
Die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners weckt seit mehr als zwanzig Jahren wieder großes Forschungsinteresse. Das zeigt sich an einer stattlichen Anzahl von Arbeiten, die seine Position systematisch und argumentativ rekonstruieren, sie in Beziehung zum philosophischen und wissenschaftlichen Kontext ihrer Zeit setzen und für den Diskurs der Gegenwartsphilosophie fruchtbar machen. In Hinblick auf die Position Nicolai Hartmanns ergab sich bis vor kurzer Zeit ein ganz anderes Bild. Sie befand sich, obwohl Hartmann zu Lebzeiten als der im Vergleich zu Plessner bedeutendere Philosoph galt, noch immer in der Vergessenheit, in die sie etwa ein Jahrzehnt nach seinem Tod im Jahre 1950 versunken war. Mittlerweile gibt es allerdings eine Reihe von Anzeichen für eine Wiederentdeckung Hartmanns: Im Anschluss an Hartmann-Konferenzen sind zwei Sammelbände zum gesamten Spektrum seiner Philosophie publiziert worden (2011 und 2012);1 das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat den Hartmann-Nachlass angekauft (2013) und damit neue Forschungsmöglichkeiten eröffnet; es ist ein Hartmann-Studienbuch mit den wichtigsten seiner Aufsätze zur Ontologie und Anthropologie erschienen (2014);2 nach einer Pause von sechs Jahrzehnten werden wieder Monographien und Aufsätze Hartmanns ins Englische übersetzt;3 entsprechend liegt inzwischen 1
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R. Poli, R. Scognamiglio, F. Tremblay (Hrsg.), The Philosophy of Nicolai Hartmann, Berlin, New York 2011; G. Hartung, M. Wunsch, C. Strube (Hrsg.), Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie – Nicolai Hartmann, Berlin, Boston 2012. N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, hrsg. v. G. Hartung, M. Wunsch, Berlin, Boston 2014. N. Hartmann, Possibility and Actuality, mit einer Einl. v. R. Poli, übers. v. S. Adair, A. Scott, Berlin, Boston 2013; N. Hartmann, Aesthetics, übers. v. E. Kelly, Berlin, Boston 2014; N. Hartmann, „How Is Critical Ontology Possible? Toward the Foundation of the General Theory of the Categories, Part One“, übers. v. K. R. Peterson, in: Axiomathes 22/2012, S. 315-354. – Vordem waren nur die Ethik (Ethics, 3 vols,
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auch die Veröffentlichung einer neuen englischen Einführung in Hartmanns Gesamtwerk vor (2014).4 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Plessner und Hartmann liegt also bereits durch die Koinzidenz der Reaktualisierung ihrer Ansätze in der Luft. Sie liegt auch deshalb nahe, weil die beiden Philosophen selbst seit ihrem Kennenlernen 1924 in einem engen Arbeitsverhältnis standen. Plessner, der damals Privatdozent an der Universität Köln war, suchte für die von ihm geplante und dann herausgegebene Zeitschrift Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft im Verlag von Friedrich Cohen in Bonn die Unterstützung einer Reihe renommierter Philosophen und Vertreter anderer Wissenschaften. In diesem Zusammenhang fuhr er im Oktober 1924 nach Marburg, wo er sowohl Hartmann als auch Heidegger kennenlernte, die er beide für den Kreis der insgesamt 16 Mitherausgeber der Zeitschrift gewinnen konnte. Besonders von Hartmann, der ihn zu sich nach Hause eingeladen hatte, erhielt Plessner, wie er seinem Freund Josef König brieflich mitteilt, „einen gewaltigen Eindruck“: „Die Stille dieses Menschen, die Versunkenheit in sich, die absolute Lauterkeit zogen mich völlig in ihren Bann. […] Das Zimmer ist fast dürftig möbliert, enthält nur wenige Bücher und wird fast völlig beherrscht von einem gewaltigen weißen Fernrohr. […] Wir verstanden uns, wenn ich nach meinem Gefühl gehen kann, ausgezeichnet. Ich hatte den ganzen Abend das Gefühl, und das wirkt bis heute ungeschwächt nach, einem antiken Philosophen, vielleicht auch einem Hegelschen Geiste, gegenüberzusitzen.“5 In demselben Brief berichtet Plessner, dass Hartmann ihm für das allererste Heft des Philosophischen Anzeigers einen Beitrag, und zwar „die Einleitung zu seiner Ethik“, zugesagt hat.6 Es kam zwar nicht zu dieser Veröffentlichung; aber Hartmann lieferte dann für das zweite Heft des ersten Jahrgangs die Abhandlung „Kategoriale Gesetze“,7 die
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London 1932) und Neue Wege der Ontologie (New Ways of Ontology, Chicago 1953) übersetzt. P. Cicovacki, The Analysis of Wonder. An Introduction to the Philosophy of Nicolai Hartmann, London 2014. Brief Plessners an König vom 11. November 1924, in: Josef König, Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933, hrsg. v. H.-U. Lessing, A. Mutzenbecher, Freiburg, München 1994, S. 57-62, hier S. 58. Ebd., S. 61. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze. Ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen Kategorienlehre“, in: Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit
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für die Entwicklung seiner Neuen Ontologie maßgeblich werden sollte. Als der Text 1926 erschien, waren Plessner und Hartmann bereits Kollegen an der Kölner Universität, an die Hartmann 1925 berufen worden war. Eine inhaltlich-methodische Gemeinsamkeit ergab sich dadurch, dass beide mit ihrer philosophischen Arbeit ein Interesse an den Naturwissenschaften und insbesondere an der Biologie verbanden. Plessner war seiner wissenschaftlichen Ausbildung nach bekanntlich Zoologe, bevor er Philosoph wurde. Er konzipierte nun in Köln eine „philosophische Biologie“, die einen wesentlichen Bestandteil seines Hauptwerks Die Stufen des Organischen und der Mensch ausmachen sollte. Hartmann war dafür ein kompetenter Gesprächspartner. Er hatte nicht nur zwei Semester Medizin studiert, in denen er sich Grundlagen der Physiologie und Biologie aneignete,8 sondern auch eine Monographie zu Philosophischen Grundfragen der Biologie veröffentlicht.9 Entsprechend verfolgte er die Entstehung von Plessners Die Stufen des Organischen mit großem Interesse. In seiner „Selbstdarstellung“ hat Plessner davon berichtet, dass er Hartmann vor dem Erscheinen des Buchs „das ganze Manuskript vorlesen“ konnte.10 Die Frage ist, wie sich das enge Arbeitsverhältnis zwischen Plessner und Hartmann in ihren Texten sachlich niedergeschlagen hat. Welche systematischen Bezüge bestehen zwischen den philosophischen Ansätzen und Positionen beider Autoren? Diese Frage wird im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Meine These ist erstens, dass sich grundlegende Gedanken der von Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) konzipierten Philosophischen Anthropologie von Hartmanns Neuer Ontologie her entwickeln und unterstützen lassen. Zweitens ist auch umgekehrt Hartmanns Konzeption des Menschen in Das Problem des geistigen Seins (1933) in wichtigen Grundzügen von Plessners Philosophischer Anthropologie bestimmt. Beide Autoren stehen in einem produktiven systematischen Wechselverhältnis. Um das im Einzelnen herauszuarbeiten, werde ich in fünf Schritten vorgehen. Nach einer Skizze von Plessners Ausgangsüberlegungen zu einer von Philosophie und Einzelwissenschaft, hrsg. v. H. Plessner, 1(2)/1926, S. 201-266. Erstmals seit seinem Erscheinen ist der Aufsatz inzwischen wieder publiziert worden, und zwar in dem in Anmerkung 2 genannten Hartmann-Studienbuch (S. 123176). 8 Siehe M. Morgenstern, Nicolai Hartmann zur Einführung, Hamburg 1997, S. 16. 9 N. Hartmann, Philosophische Grundfragen der Biologie, Göttingen 1912. 10 H. Plessner, „Selbstdarstellung“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker, Frankfurt a. M. 1985, S. 302-341, hier S. 329.
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Philosophischen Anthropologie (1) widme ich mich Hartmanns Konzeption einer allgemeinen Kategorienlehre, soweit sie bis Ende 1927 vorlag (2). Das ermöglicht es mir, die von Hartmann stammenden ontologischen Grundlagen von Plessners Die Stufen des Organischen als solche kenntlich zu machen (3). Im folgenden Schritt kehre ich die Blickrichtung um und frage nach den von Plessner stammenden anthropologischen Grundlagen von Hartmanns Das Problem des geistigen Seins (4). Folgt man dieser Perspektive weiter, so lässt sich eine wichtige systematische Herausforderung markieren, die sich durch Plessners reflexive Philosophische Anthropologie für die Neue Ontologie Hartmanns ergibt. Um ihr zu begegnen, ließe sich diese durch jene ergänzen; doch auch Plessners Ansatz könnte in einem anderen Punkt systematisch von Hartmann profitieren (5). Meines Erachtens steht daher nicht die Frage „Plessner oder Hartmann?“ zur Diskussion, sondern gilt es, Grundlagen für die systematische Anknüpfung an Plessner und Hartmann zu schaffen.
1. Helmuth Plessners Ansatz einer Grundlegung der Philosophischen Anthropologie In Die Stufen des Organischen und der Mensch geht es um die Grundlegung der Philosophischen Anthropologie.11 Für diesen Zweck, so Plessners Ausgangsdiagnose, sind die bisherigen philosophischen Konzeptionen ungeeignet. Materialistisch-empiristische Philosophien stellen die natürliche Sphäre und idealistisch-aprioristische Philosophien die geistige Sphäre des Menschseins in den Vordergrund. Im Rückgriff auf die kategorialen Elemente und Zusammenhänge der von ihnen begünstigten Sphäre versuchen sie, die Struktur der jeweils anderen Sphäre zu erfassen. Plessner zufolge gelingt es aber beiden nicht, die behauptete kategoriale Abhängigkeit einsichtig zu machen: „Beide Theorien operieren nach demselben Prinzip. Sie setzen eine Sphäre, einmal die physische, das andere Mal die spirituelle absolut 11 „Grundlegung der philosophischen Anthropologie“ war auch der ursprünglich geplante Untertitel von Die Stufen des Organischen, den Plessner dann auf Max Schelers Intervention hin für die Publikation in „Einleitung in die philosophische Anthropologie“ abgeändert hat. Zu den Umständen vgl. H. Plessner, „Selbstdarstellung“, S. 329.
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und machen jeweils die andere Sphäre von ihr abhängig, ohne allerdings imstande zu sein, anzugeben, wie gerade diese Sphäre in Abhängigkeit von der anderen auftritt.“12 Philosophisch gesehen ist das eine Pattsituation zwischen Positionen entgegengesetzter Art, die sich Plessner zufolge nicht zugunsten eines dieser Standpunkte argumentativ auflösen lässt. Beiden Sphären ist in kategorialer Hinsicht ein Eigenrecht zuzugestehen. Die Frage nach einer einheitlichen Theorie der verschiedenen Sphären des Menschseins wird durch diese Einsicht allerdings nicht beantwortet, sondern nur dringender gemacht. Einen Anhaltspunkt für den geplanten Aufbau der Philosophischen Anthropologie gewinnt Plessner an dieser Stelle nicht aus der Philosophie, sondern aus der empirischen Wissenschaft: Menschen gehen samt ihrer geistigen Fähigkeiten aus der Naturgeschichte hervor. In diesem Sinne sind sie durch und durch Naturwesen. Plessner nennt dies an zwei Stellen eine „natürliche, vorproblematische Anschauung“.13 Sie mag in der Zeit ihres Aufkommens einmal als unplausibel oder zumindest problematisch gegolten haben, ist aber bereits zu Plessners Zeit und heute erst recht ein grundlegender Bestandteil unseres Selbstverständnisses, dem das Fragen nach dem Menschen Rechnung tragen muss. Plessner selbst beschreibt sie als eine Position, die „den Menschen aus einer vormenschlichen Stammesgeschichte der Lebewesen hervorgehen läßt und die Entfaltung seiner geistigen Vermögen in der Geschichte zeitlich und räumlich an eine ungeheure biologische Vergangenheit anschließt“.14 Indem Plessner die empirisch induzierte Auffassung, dass der Mensch in dem skizzierten Sinn durch und durch ein Naturwesen ist, zum Anhaltspunkt für seine weiteren Überlegungen macht, grenzt er sich von vornherein von Ansätzen ab, die die philosophische Untersuchung des Menschen gegenüber den Naturwissenschaften abschotten wollen. Die Methode dieser Untersuchung kann zwar nicht selbst naturwissenschaftlich sein, muss seines Erachtens aber „die naturwissenschaftlichen Ergebnisse in ihrer Wahrheit anerkennen“.15 Ebenso wichtig ist ein weiterer Punkt. Die evolutionsbiologische Einsicht, dass der Mensch durch und durch ein Naturwesen ist, löst die beschriebe12 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 3. Auflage, Berlin, New York 1975, S. 5. 13 Ebd., S. 6, S. 12. 14 Ebd., S. 6, vgl. S. 12 f. 15 Ebd., S. 70.
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ne kategoriale Pattsituation nicht auf. Denn der Umstand, dass Menschen „aus einer vormenschlichen Stammesgeschichte der Lebewesen hervorgehen“, impliziert nicht, dass die geistige Sphäre des Menschen kein Eigenrecht besitzt. Plessner zieht aus ihm aber eine wichtige Konsequenz für den kategorialen Ansatz seines Vorhabens: Die philosophische Disziplin, an der in der philosophischen Untersuchung des Menschen kein Weg vorbei führt, ist die Naturphilosophie. Entsprechend heißt es in Die Stufen des Organischen programmatisch: „Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen.“16 Plessners Projekt nimmt demnach die Gestalt einer den Naturwissenschaften gegenüber aufgeschlossenen Naturphilosophie an. Vor dem dargelegten Hintergrund lässt sich nun Plessners Ausgangsfrage erläutern: „Unter welchen Bedingungen läßt sich der Mensch als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit, als sittliche Person von Verantwortungsbewußtsein in eben derselben Richtung betrachten, die durch seine physische Stammesgeschichte und seine Stellung im Naturganzen bestimmt ist?“17 Die Frage erfordert eine Präzisierung. Denn es ist auf den ersten Blick nicht hinreichend klar, worin die gekennzeichnete „Richtung“ besteht. An einer späteren Stelle formuliert Plessner die Frage erneut, variiert dabei aber die betreffende Kennzeichnung. Er schreibt dort, es gehe ihm um die Betrachtungsrichtung, die durch die „körperliche Natur und Stammesgeschichte [des Menschen] festgelegt“18 ist. Von körperlicher Natur ist nicht nur der Mensch, sondern sind auch alle anderen bekannten Lebensformen; und die physische Stammesgeschichte des homo sapiens sapiens verläuft über eine lange Reihe von Organismen anderer Art. Die Betrachtungsrichtung, die eine solche Stammesgeschichte und die Stellung im Naturganzen, in der sich diese Geschichte niederschlägt, erfordern, verläuft vom „Früheren“ zum „Späteren“. Diese Ausdrücke sind nach den Erläuterungen des vorigen Absatzes allerdings nicht naturgeschichtlich, sondern naturphilosophisch zu verstehen. In einer naturphilosophischen Ordnung des „Früheren“ und des „Späteren“ kommt es vor allem auf kategoriale Differenzen zwischen unterschiedlichen Naturdingen und näherhin zwischen Lebewesen an. Es lässt sich aber nur dort auf eine orientierte Weise nach Differenzen fragen, wo die Hinsicht feststeht, in der verglichen wird. Wie die zuletzt genannten 16 Ebd., S. 26. 17 Ebd., S. 5. 18 Ebd., S. 12.
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Zitate schon andeuten, besteht diese Vergleichshinsicht für Plessner in der „körperlichen Natur“ und der damit verbundenen „Stellung im Naturganzen“. In Plessners Ausgangsfrage geht es demnach um eine Betrachtung des Menschen „als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit“, die auf naturphilosophische Weise und in Orientierung an der körperlichen Natur in der Richtung vom kategorial Früheren zum kategorial Späteren durchgeführt wird. Gefragt wird dabei nach den Bedingungen einer solchen Betrachtung. Die Beantwortung der Frage kann damit beginnen, zwei aufeinander aufbauende Voraussetzungen der Durchführung der genannten Betrachtung zu markieren. Erstens wird ein theoretischer Rahmen benötigt, in dem die kategorialen Differenzen zwischen unterschiedlichen Naturdingen und Lebewesen diskutiert werden können. Damit stellt sich die Frage nach einer philosophischen Theorie der Ordnung des kategorial Früheren und Späteren. Zweitens muss diese Theorie in der Weise integrativ sein, dass die Betrachtung des Menschen als geistig-geschichtliches Subjekt nicht mit ihrer Orientierung an der körperlichen Natur in Konflikt gerät. In Plessners Formulierung gilt es, „ein[en] Grundaspekt“ zu identifizieren, der den physischen und den geistigen Aspekt des Menschen vereint und dessen Wahrung dem oben skizzierten evolutionsbiologischen Anhaltspunkt Rechnung trägt, dass der Mensch durch und durch Naturwesen ist.19 Plessner konzipiert diesen Grundaspekt vom Begriff des Lebens her.20 Wer die These vertritt, dass eine Konzeption möglich ist, die den physischen und den geistigen Aspekt des Menschen im Grundaspekt des Lebens vereint, das Eigenrecht des geistigen Aspekts dabei aber nicht preisgibt, legt sich auf die Annahme fest, dass ein Wissen vom Leben möglich ist, das sich grundsätzlich nicht durch die Naturwissen19 Ebd., S. 6, S. 12. 20 Auf eine Weise, die ich hier nicht näher erläutern kann, ist sein Gewährsmann dabei der in der Perspektive von Georg Misch gelesene Wilhelm Dilthey. Vgl. G. Misch, „Die Idee einer Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften“, in: ders., Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M. 1947, S. 3751 (zuerst in: Oesterreichische Rundschau, 20(5)/1924; dann in: Kant-Studien 41/1926). Dilthey entkomme Plessner zufolge „dem sterilen Antagonismus von bloßer Erkenntnistheorie und freier Lebensdeutung“ und eröffne „die Ebene des Lebens“ auf eine Weise, die es erlaubt und erfordert, „geistig-geschichtliche Wirklichkeit und Natur in ein und derselben Erfahrungsrichtung zu erfassen“ (H. Pless ner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 21). Vgl. zum Verhältnis Pless ners zu Misch auch den Beitrag von Gutmann und Rathgeber in diesem Band.
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schaften und insbesondere die Biologie erschöpfen lässt. Plessner sieht dies deutlich und stellt der naturwissenschaftlichen Biologie daher eine „philosophische Biologie“ an die Seite:21 „Den Menschen trägt die lebendige Natur, ihr bleibt er bei aller Vergeistigung verfallen, aus ihr zieht er die Kräfte und Stoffe für jegliche Sublimierung. Deshalb drängt von selbst die Forderung nach einer philosophischen Anthropologie auf die Forderung nach einer philosophischen Biologie“.22 Die philosophische Biologie ist die von Plessner konzipierte philosophische Theorie der Ordnung des kategorial Früheren und Späteren, in der das Leben als der Grundaspekt fungiert, unter dem geistig-geschichtliche Subjektivität ihren Ort im Ganzen der körperlichen Natur gewinnt und der den physischen und den geistigen Aspekt des Menschen vereint.
2. Nicolai Hartmann und die Konzeption der allgemeinen Kategorienlehre Als Plessner Die Stufen des Organischen und der Mensch publizierte, galt Nicolai Hartmann bereits als einer der wichtigsten Philosophen in Deutschland. Neben den Büchern Platos Logik des Seins (1909), Philosophische Grundfragen der Biologie (1912), dem ersten Band der zweibändigen Philosophie des deutschen Idealismus (1923) sowie einer Reihe von Aufsätzen waren bereits die Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921, 21925) und die Ethik (1926) erschienen.23 Hartmann war von 1920 an Professor in Marburg, trat dort 1922 die Nachfolge von Paul Natorp an und wechselte 1925 nach Köln, wo auch Scheler als Professor und Plessner als Privatdozent lehrten. Diese „Kölner Konstellation“ bildete den Nährboden, auf dem sich der Denkansatz der Philosophischen Anthropologie entwickelte,24 der 1927 bzw. 1928 in unterschiedlicher Ausprägung in Max Schelers „Die 21 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. III, S. 66. 22 Ebd., S. 76. 23 Siehe die Hartmann-Bibliographie von Theodor Ballauff in: H. Heimsoeth, R. Heiß (Hrsg.), Nicolai Hartmann. Der Denker und sein Werk, Göttingen 1952, S. 286-312. 24 Vgl. J. Fischer, „Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie. Die Kölner Kon stellation zwischen Scheler, Hartmann und Plessner“, in: G. Hartung, M. Wunsch, C. Strube (Hrsg.), Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie, S. 131-151.
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Sonderstellung des Menschen“25 und eben in Plessners Die Stufen des Organischen Gestalt gewann. Worin Hartmanns Beitrag zur Entwicklung der Denkrichtung der modernen philosophischen Anthropologie genau besteht, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Das hängt damit zusammen, dass der wichtigste Einfluss Hartmanns vom Kernbereich seines eigenen Ansatzes einer „Neuen Ontologie“ her erläutert werden muss, dies aber insofern ein Anachronismus zu sein scheint, als Hartmann die vier Bände seiner Ontologie erst in seiner 1931 beginnenden Berliner Zeit publiziert. Als der erste Band Zur Grundlegung der Ontologie (1935) erscheint,26 war Scheler bereits seit sieben Jahren tot und Plessner zur Emigration gezwungen worden. Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Hartmann und der Philosophischen Anthropologie ist daher entscheidend, dass die Entstehungszeit der Neuen Ontologie in die Zeit der Kölner Dreierkonstellation und noch etwas weiter zurückreicht. Einen „vorläufigen Begriff der Ontologie“ hatte Hartmann bereits in der ersten Auflage der Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921) formuliert. Die „kritisch-analytische Ontologie“, die er dort in Aussicht stellt, hat zwei Aufgaben. In negativer Hinsicht soll sie die alte Ontologie zurückweisen, die vor allem darin fehlgehe, logische Strukturen fraglos auf die Seinssphäre zu übertragen.27 In positiver 25 M. Scheler, „Die Sonderstellung des Menschen“, in: Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung. 8. Buch: Mensch und Erde, hrsg. v. Graf Hermann Keyserling, Darmstadt 1927, S. 161-254. Später als Separatveröffentlichung: M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), heute in: ders., Späte Schriften (= Gesammelte Werke, Bd. 9), hrsg. v. M. Frings. Bonn 21995, S. 7-71. – Auf die sys tematische Bedeutung von Hartmann für Schelers anthropologischen Ansatz bin ich ausführlich eingegangen in M. Wunsch, „Zur Standardkritik an Max Schelers Anthropologie und ihren Grenzen. Ein Plädoyer für Nicolai Hartmanns Kategorienlehre“. XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, 11.-15.09.2011, München 2011. Online im Internet: URL: http://epub.ub.uni-muenchen.de/12502/ (Stand: 15.01.2014). 26 Neben Zur Grundlegung der Ontologie (1935) bilden Möglichkeit und Wirklichkeit (1938), Der Aufbau der realen Welt (1940) und Philosophie der Natur (1950) die vierbändige Ontologie Hartmanns. 27 N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1. Auflage, Berlin, Leipzig 1921, S. 144 f. Für die 1925 erschienene zweite Auflage (und die folgenden Auflagen) des Buchs hat Hartmann die Grundlinie seiner Kritik an der alten Ontologie weiter gezogen. Er wirft dieser vor, eine „zweifache Identitätsthese“ zu vertreten: Die erste setzt die Seinsform der Dinge bzw. die reale Seinsform einerseits und die logische Form, allgemeiner gesagt, die ideale Seinsform andererseits gleich und die zweite Identitätsthese knüpft das Reich der idealen Seinsform an das Reich
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Hinsicht sucht Hartmann einen „Mittelweg“ zwischen den Extremen eines naiven Realismus und den spekulativen Positionen des Idealismus. Er ruft damit die Zwei-Klippen-Metaphorik Kants auf, die ja auch im Hintergrund von Plessners Ausgangsdiagnose steht. Während seine Ontologie gegen den naiven Realismus die „Adäquatheitsthese“ preisgibt, dass sich Erkenntnisbild und Seiendes decken, geht sie gegen die spekulativen Standpunkte von der schon für den Alltagsverstand charakteristischen „Realitätsthese“ aus.28 Die Option für die Realitätsthese ist noch keine Parteinahme für die philosophische Theorie des Realismus, sondern gehört zur „Ausgangsstellung diesseits von Idealismus und Realismus“.29 Der Ontologie geht es um das Seiende als Seiendes und dieses ist „offenbar nicht Seiendes als gesetztes, gemeintes, vorgestelltes“, „nicht Seiendes als subjektbezogenes, nicht als Gegenstand“, sondern Seiendes „als etwas, was auch ohne Gegenstehen und unabhängig von ihm ist, was es ist.“30 Die Realitätsthese gehört also zu dem Phänomen selbst, das es in der Ontologie aufzuklären gilt. Hartmann hat sein Vorhaben, die alte Ontologie zurückzuweisen und einen Mittelweg zwischen extremen Positionen zu finden, in zwei Aufsätzen konkretisiert, die als Schlüsseltexte für die Entwicklung seiner eigenen Position gelten müssen. Bei diesen Aufsätzen handelt es sich um „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“ (1924) und „Kategoriale Gesetze“ (1926).31 Beide tragen mit „Ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen Kategorienlehre“ denselben Untertitel. Ihre Grundgedanken hat Hartmann später in den „Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre“ integriert, den er 1940 unter dem Titel „Der Aufbau der realen Welt“ als dritten Band seiner Ontologie veröffentlicht hat. Hartmanns philosophisches Programm besteht in der umfassenden Neukonzeption der Ontologie im Rahmen einer an der ganzen
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des reinen Denkens. N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 2. ergänzte Auflage, Berlin, Leipzig 1925, S. 182 ff.; 4. Auflage, Berlin 1949, S. 188 ff. N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1. Auflage, S. 146; 4. Auflage, Berlin 1949, S. 188. N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1. Auflage, S. 147; 4. Auflage, S. 194. „Diesseits von Idealismus und Realismus“ ist zugleich der Titel eines bekannten Aufsatzes von Hartmann aus dem Jahr 1924; inzwischen in: N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 19-66. N. Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 1965, S. 39, S. 49. Die beiden Aufsätze sind kürzlich in einem Studienbuch zu Nicolai Hartmann pub liziert worden („Kategoriale Gesetze“ übrigens das erste Mal seit seinem Erschei nen). N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 71-116 u. S. 123-176.
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Breite der Erfahrung orientierten Kategorialanalyse. Dabei beruft er sich auf die alltägliche, die wissenschaftliche und die philosophische Erfahrung. Letztere zeigt uns, was „in dem geschichtlichen Gange menschlicher Denkarbeit als eine lange Reihe von Versuchen, Fehlschlägen und Selbstkorrekturen verzeichnet ist.“32 Wir benötigen sie vor allem deshalb, weil der Etablierung der neuen Ontologie die Kritik der alten vorausgehen muss. Hartmann widmet sich dieser Kritik im Hauptteil seines Aufsatzes „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“, in dem er in systematischer Weise die typischen Fehler der traditionellen Kategorienforschung aufdecken möchte.33 In „Kategoriale Gesetze“ dagegen entwirft Hartmann die Grundzüge seiner eigenen, neuen Ontologie. Hier geht es ihm um „die Herausarbeitung der elementaren Gesetze, die das Kategorienreich überhaupt beherrschen“.34 Diese Gesetze bilden die Struktur der von ihm konzipierten Schichtenontologie. Hartmann unterscheidet mit dem Anorganischen, dem Organischen, dem Seelischen und dem Geistigen vier Schichten des realen Seins. Dabei handelt es sich nicht um Schichten von Dingen, sondern um Kategorienschichten. Wenn Hartmann erklärt, dass Kategorien „Prinzipien aller und jeder Art“ sind, weist er darauf hin, dass es neben den genuinen Kategorien der Schichten des realen Seins, d. h. den Realkategorien, auch Idealkategorien, Erkenntniskategorien und axiologische Kategorien gibt.35 Den Realkategorien als Prinzipien des realen Seins korreliert das durch sie determinierte Konkrete; es muss in methodischer Hinsicht als Ausgangspunkt des erfahrungsgestützten analytischen Verfahrens der Identifizierung der Kategorien gelten.36 Die kategorialen Gesetze bilden die Struktur des Schichtenbaus der Realkategorien. Sie ordnen sich zu vier Gruppen und betreffen erstens den Status und die Geltungsweise der Kategorien (Geltungsgesetze), zweitens die holistisch konzipierten Binnenverhältnisse innerhalb der Kategorienschichten (Kohärenzgesetze), 32 Vgl. dazu N. Hartmann, „Neue Wege der Ontologie“, in: ders. (Hrsg.), Systematische Philosophie, Stuttgart, Berlin 1942, S. 199-311, hier S. 214. 33 Zur Konzeption von Hartmanns „Wie ist kritische Ontologie überhaupt mög lich?“ siehe die einführende Kommentierung des Aufsatzes durch G. Hartung und M. Wunsch in: N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 67-70, und K. R. Peterson, „An Introduction to Hartmann’s Critical Ontology“, in: Axiomathes, 22/2012, S. 291-314. 34 N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 124 f., Anm. 1. 35 N. Hartmann, „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“, S. 78. 36 N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 130.
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drittens die strukturellen Aspekte der vertikalen Ordnung der Kategorienschichten (Schichtungsgesetze) und viertens die Bedingungsund Abhängigkeitsverhältnisse dieser vertikalen Schichtenordnung (Abhängigkeitsgesetze).37
3. Ontologische Grundlagen von Die Stufen des Organischen und der Mensch 3.1 Die Auflösung der kategorialen Pattsituation und die Kategorie des Lebendigen Meine These ist, dass der von Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch konzipierte Ansatz, den ich im ersten Abschnitt meiner Ausführungen dargestellt habe, seine ontologischen Grundlagen in der von Hartmann seit den frühen 1920er Jahren entwickelten Position hat, die ich im zweiten Abschnitt skizziert habe. Plessner ist von der Diagnose einer kategorialen Pattsituation zwischen materialistisch-empiristischen und idealistisch-aprioristischen Philosophiekonzeptionen ausgegangen. Seines Erachtens lässt sich diese Situation nicht zugunsten einer der Konzeptionen argumentativ auflösen. Im Grunde genommen bedarf daher die von ihm beabsichtigte Grundlegung der Anthropologie einer philosophischen Neuausrichtung. An dieser Stelle kommt Hartmann ins Spiel. Er hat die genannte Diagnose selbst schon zuvor aufgebracht und auch Abhilfe für das aus ihr resultierende systematische Problem vorgeschlagen. In „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“ stellt er als einen typischen Fehler der alten Ontologie den „Fehler der Heterogenität“ heraus. Der Fehler wird von solchen Theorien begangen, die „die Prinzipien einer bestimmten Gruppe von Erscheinungen verallgemeinern und über ihren natürlichen Geltungsbereich hinaus ausdehnen.“38 Als Korrektur fordert Hartmann einen ontologischen Neuansatz, der den Weg einer „an der Eigentümlichkeit der Phänomene selbst orientierten Katego37 Vgl. dazu G. Hartung, M. Wunsch, „Einleitung zu ‚Kategoriale Gesetze‘“, in: N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 119-121; siehe bei Hartmann selbst, „Kategoriale Gesetze“, S. 135 ff. 38 N. Hartmann, „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“, S. 86.
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rialanalyse“ nimmt und dadurch die illegitime kategoriale Grenzüberschreitung vermeidet.39 Mit dem Aufsatz „Kategoriale Gesetze“ gibt er diesem Neuansatz die Gestalt einer Schichtenontologie. Deren Struktur wird durch die genannten Gesetzestypen gebildet – Geltungsgesetze, Kohärenzgesetze, Schichtungsgesetze und Abhängigkeitsgesetze –, die jeweils wiederum aus vier kategorialen Gesetzen bestehen. In Hinblick auf den Fehler der Heterogenität ist das zur Gruppe der Geltungsgesetze gehörende „Gesetz der Schichtenzugehörigkeit“ einschlägig: „Jede Kategorienschicht ist zunächst und unmittelbar determinierend nur für die ihr zugehörige Schicht des Konkretums; außerhalb ihrer kann ihre Geltung, wenn überhaupt, so nur modifiziert bestehen.“40 Hartmanns Idee ist, dass Kategorien ursprünglich zu genau einer Kategorienschicht gehören und entsprechend auch nur für bestimmte Züge des Konkretums gelten. Wo also ursprünglich niedere Kategorien als Kategorien höheren Seins gelten, wie beim Biologismus oder Psychologismus, oder wo ursprünglich höhere Kategorien als Kategorien niederen Seins gelten, wie beim Teleologismus oder Anthropomorphismus, da liegt ein Verstoß gegen das Gesetz der Schichtenzugehörigkeit vor.41 Das für die Entwicklung einer philosophischen Biologie vordringlichste Problem ist die adäquate Erfassung der Grundkategorie des Lebendigen. Viele Versuche, dieses Problem zu lösen, können als exemplarische Fälle für den Fehler der Heterogenität gelten. In seiner Erläuterung des Gesetzes der Schichtenzugehörigkeit schreibt Hartmann entsprechend: „Wer z. B. organisches Sein und Lebendigkeit aus mechanischen Kräften und Kausalzusammenhängen erklären will, verstößt gegen dieses Gesetz. Er überträgt Kategorien der leblosen Natur auf das Eigentümliche eines ganz anders gearteten Seins, und zwar eines weit höheren.“42 An späterer Stelle fügt Hartmann hinzu: „Die mechanistische Deutung der Lebenserscheinungen ist ebenso verkehrt wie die psychovitalistische und die teleologische. Beide führen das organische Sein auf Kategorien zurück, die nicht ihm als solchem eigentümlich sind und deswegen seine Eigenart vergewaltigen“.43 Plessner greift diese Überlegungen in seiner Diskussion des Streits um den Be39 40 41 42 43
Ebd., S. 87. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 136. Ebd., S. 137 f. Ebd., S. 137. Ebd., S. 168 f.
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griff der Lebendigkeit zwischen dem modernen Mechanismus Wolfgang Köhlers und dem Neovitalismus Hans Drieschs auf.44 Während Köhler glaubt, die Ganzheitlichkeit des Lebendigen auf Gestalthaftigkeit reduzieren zu können, bestreitet Driesch, dass dies möglich sei, und bestimmt lebendige Ganzheitlichkeit mit Hilfe des Begriffs der Entelechie als ein irreduzibles Phänomen. Plessner verhält sich folgendermaßen zu dem Streit. Er gesteht beiden Theorien eine gewisse Berechtigung zu und prüft zwei Wege, ihren Konflikt aufzulösen. Der erste Weg besteht darin, zwei verschiedene Beurteilungsstandpunkte einzuführen: „Vom Standpunkt empirischer Naturwissenschaft müßte Köhler Recht, Driesch Unrecht behalten. Vom Standpunkt der Anschauung, welcher bekanntlich mit dem der empirischen Feststellung nicht voll zur Deckung zu bringen ist, behielte dagegen Driesch Recht und Köhler Unrecht.“45 Dieser Überlegung zufolge soll der Konflikt durch Relativierung der beiden Positionen auf verschiedene Standpunkte aufgelöst werden. Meines Erachtens ist diese Strategie nicht erfolgreich. Denn wenn man es mit zwei konfligierenden Aussagen A und B zu tun hat und wissen will, welche von beiden wahr ist, dann hilft es nicht weiter, zu wissen, dass A aus der Perspektive P und B aus der verschiedenartigen Perspektive Q gilt. Wir müssen zusätzlich wissen, welche der beiden Perspektiven die richtige ist. Plessner meint nun aber, dass keine der beiden Perspektiven – weder der Standpunkt der Naturwissenschaft noch der Standpunkt der Anschauung – verzichtbar ist; er meint, dass beide richtig sind. Doch wenn dies der Fall ist, besteht der Konflikt zwischen dem, was aus den verschiedenen Perspektiven behauptet wird, fort. Die vorgeschlagene Lösung durch Relativierung der Positionen auf verschiedene Standpunkte ist demnach eine Scheinlösung. „[M]it einer solchen Schlichtung des Streits“, so auch Plessner selbst, hätte man „seinen Gegenstand völlig verfehlt“; die Differenz zwischen Köhler und Driesch betrifft nicht die Frage der richtigen Auffassungsweise des Lebendigen, sondern das Lebendige selbst. Plessner sieht, dass es sich um einen ontologischen Streit handelt. Dies eröffnet ihm aber vor dem Hartmann’schen Hintergrund einen anderen Weg, den Konflikt aufzulösen: Dass „Köhler nur im Rahmen exakter Feststellbarkeit, 44 Vgl. dazu K. Köchy, „Organismen und Maschinen. Das historische Fallbeispiel der Debatte von Plessner, Driesch und Köhler“, in: G. Toepfer, F. Michelini (Hrsg.), Organismus. Die Erklärung der Lebendigkeit, Freiburg, München 2015 (im Druck). 45 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 105.
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Driesch aber im Rahmen der vollen, methodisch nicht restringierten Anschauung Recht hat“, besagt seines Erachtens „eine Trennung im Gegenstande“ zwischen verschiedenen „Schichten“, eine Trennung von „verschiedenen ontischen Ebenen“ des Gegenstandes.46 Plessner übernimmt damit den Gedanken Hartmanns, dass reale Dinge geschichtet sind. Das erlaubt es ihm, Köhler und Driesch in bestimmten Grenzen zuzustimmen, ihre unterschiedlichen Perspektiven zu respektieren und ihren Streit zu schlichten. Dass Gegenstände tatsächlich verschiedene Schichten haben, bedarf allerdings einer eigenen Begründung. Es gilt, für jede behauptete Schicht eine Gruppe von ihr zugehörigen und irreduziblen Kategorien auszuweisen. Plessner widmet sich dieser Aufgabe in Bezug auf die Vitalkategorien. Seine philosophische Biologie wird daher zu einer „Lehre von den Wesensgesetzen oder Kategorien des Lebens“.47 Ihre Hauptaufgabe besteht dann entsprechend in der „systematischen Begründung“ bzw. der „Deduktion“ solcher Vitalkategorien.48 Da es mir um die Klärung der ontologischen Grundlagen von Plessners Konzeption geht, kann ich auf seine Ausarbeitung und Durchführung der Deduktionsaufgabe hier nicht eingehen.49 Für mein Vorhaben ist jedoch ein grundsätzlicher Einwand gegen den schichtenontologischen Ansatz von großer Bedeutung. Er besagt, dass mit der Auffassung, reale Dinge seien geschichtet, der Gedanke der Einheit dieser Dinge preisgegeben wird. Plessner setzt sich selbst nicht mit dem Einwand auseinander. Daher liegt es nahe zu prüfen, ob es in Hartmanns Ontologie Ressourcen gibt, ihm zu begegnen. Sie finden sich dort in der Tat, und zwar vor allem in den Schichtungsgesetzen, die, wie bereits erwähnt, strukturelle Aspekte der vertikalen Ordnung der Kategorienschichten behandeln. Dass überhaupt eine strukturelle Verschiedenheit der Schichten besteht, liegt daran, dass die höhere kategoriale Struktur jeweils eine „neu hinzutretende Einheit aus einem Guß“ ist und die höheren Kategorien „ein spezifisches Novum“ zeigen (Gesetz des Novums).50 Die Schichtenverschiedenheit steht allerdings einer engen Schichtenbin46 47 48 49
Ebd., S. 106, S. 109. Ebd., S. 76, vgl. S. 65 f. Ebd., S. 66, S. 122. Die bislang umfassendste Rekonstruktion von Plessners Deduktion der Vitalkate gorien liefert O. Mitscherlich, Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin 2007. 50 N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 153, S. 150.
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dung nicht entgegen. Im Gegenteil, das Gesetz des Novums basiert geradezu auf einem solchen Zusammenhang, weil die höhere Kategorie zwar nicht in niederen Elementen oder deren Summe aufgeht, aber strukturell aus ihnen zusammengesetzt ist. Die Schichtenbindung selbst wird durch das Gesetz der Wiederkehr und das Gesetz der Abwandlung geregelt, die besagen, dass jede Kategorie einer niederen Schicht auf den höheren Schichten wieder auftaucht und bei dieser Wiederkehr von der höheren Struktur beeinflusst und abgewandelt wird.51 Hartmann zufolge sorgen diese beiden Gesetze für eine durchgehende Verbindung der Schichten.52 Seine Schichtenontologie ist also bereits strukturell so angelegt, dass die Einheit mehrschichtiger realer Dinge nicht gefährdet wird. Davon kann auch Plessners Ansatz profitieren. 3.2 Zur Ausgangsfrage von Die Stufen des Organischen und ihrer Bearbeitung Dass Hartmanns Schichtenlehre als ontologische Grundlage von Pless ners Ansatz gelten kann, zeigt sich auch in Bezug auf dessen Ausgangsfrage. Wie im ersten Abschnitt erörtert, fragt Plessner, unter welchen Bedingungen eine Betrachtung des Menschen als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit erfolgen kann, die auf naturphilosophische Weise und in Orientierung an der körperlichen Natur in der Rich51 Hartmann hat die strikte Formulierung des Gesetzes der Wiederkehr, dass alle niederen Kategorien wiederkehren, später zugunsten der Fassung abgeschwächt, dass einige Kategorien jeder niederen Schicht wiederkehren. Er meint jedoch, das genüge, „um eine außerordentlich straffe und eindeutige Verbundenheit der Seinsschichten im Aufbau der realen Welt zu ergeben“. Vgl. dazu N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 150, mit N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 437. 52 Die durchgehende Verbindung der Schichten wird durch gewisse Fundamentalkate gorien noch verstärkt, deren Ursprung nicht in irgendeiner Schicht des realen Seins liegt, die aber selbst eine Kategorienschicht, und zwar die der Seinsgegensätze ausmachen. In Hartmanns ausgeführter Lehre der Fundamentalkategorien machen die Seinsgegensätze neben den Modalkategorien und den kategorialen Gesetzen eine von drei Gruppen aus. Siehe N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 184188. Zu diesen Seinsgegensätzen zählt Hartmann „Einheit und Mannigfaltigkeit, Polarität und Dimension, Kontinuum und Diskretum, Prinzip und Konkretum, Sein und Nichtsein“; sie kehren an allen Kategorien der Reihe der Realschichten wieder, sodass sie den gesamten Schichtenbau der realen Welt strahlenartig durch laufen und über die abgewandelte Wiederkehr von Realkategorien hinaus weiter verzahnen. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 133, S. 153 f.
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tung vom kategorial Früheren zum kategorial Späteren durchgeführt wird. Meines Erachtens sind die fraglichen Bedingungen ontologischer Art und lassen sich mit Hilfe von Hartmanns Schichtenlehre artikulieren. Seine Schichtenontologie kann als philosophische Theorie der Ordnung des kategorial Früheren und Späteren gelten. „Früher“ sind dabei die Kategorien der niederen Schichten und „später“ die der höheren Schichten, und zwar jeweils in einer doppelten Hinsicht. Die niederen Kategorien sind erstens schichtungsgesetzlich „früher“, weil sie es sind, die auf den höheren Schichten abgewandelt wiederkehren, während umgekehrt die höheren Kategorien nicht auf niederen Schichten, sondern ebenfalls nur auf noch höheren Schichten wiederkehren. Zweitens sind die niederen Kategorien aber auch abhängigkeitsgesetzlich in einem nicht umkehrbaren Sinn „früher“. Verantwortlich dafür ist das von Hartmann als „kategoriales Grundgesetz“ oder „Gesetz der Stärke“ bezeichnete erste Abhängigkeitsgesetz. Es besagt, dass jede höhere Kategorie „immer eine Reihe niederer schon voraus[setzt], aber ihrerseits in diesen nicht vorausgesetzt“ ist, „also allemal die bedingtere, abhängigere und in diesem Sinn schwächere“ ist.53 Die wichtigste Konsequenz des Gesetzes ist, dass die von den Kategorien der höheren Schicht ausgehende Determination grundsätzlich nicht gegen die der niederen Kategorien gehen kann.54 Der theoretische Rahmen der Schichtenontologie erlaubt es, das Leben mit Plessner als einen „Grundaspekt“ zu bestimmen, mit dem sich der physische und der geistige Aspekt des Menschen vereinen lassen und der der evolutionsbiologischen Einsicht gerecht wird, dass Menschen durch und durch Naturwesen sind. Denn das Leben ist eine Grundkategorie, die ursprünglich auf der Schicht des organischen Seins einsetzt, aber auf der des seelischen Seins und dann des geistigen Seins abgewandelt und in neuer Konstellation wiederkehrt. Dabei kann es dem Gesetz der Stärke zufolge nicht zu einer kategorialen Rückbestimmung derart kommen, dass höhere Kategorien kategoriale Strukturen niederer Schichten bestimmen.55 Das bedeutet jedoch umgekehrt nicht, dass kein Raum für die Selbständigkeit des geistigen Aspekts des menschlichen Lebens bliebe. Hartmann spezifiziert die Selb53 Vgl. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 161. 54 Ebd., S. 164. 55 Als Beispiel für den Versuch einer solchen kategorialen Rückbestimmung kann etwa ein Konstruktivismus gelten, der behauptet, dass wir als kulturelle, soziale oder geistige Wesen die Grundstruktur der Natur allererst festlegen.
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ständigkeit der höheren Kategorien durch zwei Abhängigkeitsgesetze, die das Gesetz der Stärke ausbalancieren. Die höheren Kategorien sind zwar von den in sie eingehenden niederen Kategorien existenzabhängig, aber erstens sind diese für sie nur Materie, das heißt die Bildung der höheren Kategorien ist nur durch die Bestimmtheit und Eigenart dieser Materie beschränkt (Gesetz der Materie), und zweitens sind die höheren Kategorien gegenüber den in sie eingehenden niederen Kategorien eine „neuartige, inhaltlich überlegene Formung“ (Gesetz der Freiheit).56 Die Kategorien, die zur geistigen Schicht des Menschen gehören, sind auf diese Weise selbständig und das heißt, es handelt sich um eine „Selbständigkeit in der Abhängigkeit“.57 Plessner bezeichnet die sich vom organischen über das seelische bis zum geistigen Sein durchziehende Grundkategorie des Lebens als „Positionalität“. Dem liegt eine Diskussion der Erscheinungsweise belebter im Unterschied zu unbelebten Dingen zugrunde. Plessners Hypothese ist, dass diejenigen Dinge als lebendig gelten, die uns als in einem dynamischen Verhältnis von wechselseitig aufeinander bezogenem Innen und Außen stehend erscheinen, das durch eine ebenfalls erscheinende und dem Ding selbst angehörende Grenze vermittelt wird, die als Ansatz- und Umschlagspunkt für die Richtungen von Innen nach Außen und von Außen nach Innen fungiert. Der positionale Charakter eines Dinges ist entsprechend derjenige, der „es einerseits über es hinaus setzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt), andererseits in es hineinsetzt (in ihm setzt)“.58 Plessner begreift Positionalität als den sich durch alles Leben bis hin zum menschlichen ziehenden
56 Vgl. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 162. 57 Hartmann selbst hat in einem späteren Text die Formulierung „Selbständigkeit in der Abhängigkeit“ verwendet (N. Hartmann, „Neue Wege der Ontologie“, S. 231, vgl. S. 271). Seine dortigen Äußerungen lassen sich als Kommentar zu Plessners Die Stufen des Organischen lesen: „Die neue Anthropologie […] hat Raum für die Autonomie des geistigen Lebens, weiß aber mit ihr die organische Seinsschicht zu vereinigen. Das ist nur möglich, wenn man bestimmte ontologische Anschauungen zugrunde legt.“ (Ebd., S. 231) Dieser letzte Satz lässt sich als eine implizite Kritik an Arnold Gehlen lesen, der die Schichtenontologie in seinem 1940 erschienenem Buch Der Mensch abgelehnt hatte; was Hartmann nicht davon abgehalten hat, Gehlens Buch in einem Rezensionsaufsatz sehr positiv zu besprechen. Zu den Hintergründen und Belegen siehe G. Hartung, M. Wunsch, „Grundzüge und Aktualität von Nicolai Hartmanns Neuer Ontologie und Anthropologie“, in: N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 6 f. In dem Band findet sich auch der erwähnte Rezensionsaufsatz Hartmanns, ebd., S. 315-332. 58 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 128 f.
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naturphilosophischen Grundzug. Da er seine gesamte Untersuchung an der körperlichen Natur und damit an Dingen orientiert, nimmt seine Anknüpfung an Hartmanns Ontologie eine spezifische Form an. Er formuliert seine Grundlegung der Anthropologie weniger in Begriffen von Kategorienschichten als vielmehr in der Terminologie von Entitätenstufen. Das zeigt sich schon daran, dass im Titel seines Buchs von „Stufen des Organischen“ die Rede ist. Den sachlichen Zusammenhang zwischen Schichten und Stufen macht eine einfache Überlegung verständlich. Die Kategorienschichten sind die strukturelle Grundlage von Seinsschichten, die sich in realen Entitäten in einer Weise überlagern, die eine Stufenordnung dieser Entitäten begründet:59 Je mehr Schichten sich in einer Entität überlagern, desto höher die ontologische Stufe der Entität. Auf diese Weise korrespondiert der Schichtenfolge „anorganisches, organisches, seelisches und geistiges Sein“ die Stufenordnung „materieller Körper, Lebewesen, Lebewesen mit Bewusstsein, geistiges Lebewesen“. In Pflanzen etwa überlagern sich die Schichten des anorganischen und organischen Seins, in Menschen alle vier Schichten des realen Seins. Pflanzen gehören daher zur Stufe der Lebewesen, Menschen aber darüber hinaus zu der der geistigen Lebewesen oder Personen.60 Was Plessner in Die Stufen des Organischen entwickelt, ist eine Theorie der Positionalitätsstufen. Das spiegelt sich in der Kapitelstruktur des Buchs wider. Nach der Einführung (Kap. 1), der Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus (Kap. 2)61 und der Formulierung der „These“ (Kap. 3) startet die Stufenlehre ausgehend von dem Unterschied zwischen unbelebten und belebten Körpern sowie dem Positionalitätsbegriff (Kap. 4): Zur ersten Positionalitätsstufe gehören alle Lebewesen, unabhängig davon, ob sie offen oder geschlossen organisiert sind (Kap. 5); die „Positionalität der geschlossenen Form“ bildet die
59 Vgl. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 132. 60 Im Rahmen einer Stufenontologie des Realen gehören alle realen Dinge zu Stufen. Selbstverständlich bilden aber nicht alle Entitäten einer bestimmten Art eine eigene Stufe. Pflanzen sind dafür ein gutes Beispiel. Die ontologische Stufenbildung sollte nicht gegen das Wohlgeformtheitskriterium verstoßen, dass jede Entität der Stufe k+1 auch eine Entität der Stufe k ist. Es gibt also keine Stufe der Pflanze, weil nicht auch alle höherstufigen Entitäten Pflanzen sind. 61 Dass Plessner auch in seiner Auseinandersetzung mit dem „Cartesianischen Alter nativprinzip“ an Hartmann anknüpft, zeigt S. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg, München 1992, S. 52 f., S. 56-58, S. 61-64.
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zweite Stufe und ist den Tieren (inklusive den Menschen) vorbehalten (Kap. 6); die dritte Stufe ist die der „exzentrischen Positionalität“, das heißt die der Menschen bzw. der Personen (Kap. 7).62 Plessners Betrachtung des Menschen als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit unter den Bedingungen der Schichten- oder, genauer gesagt, der Stufenontologie kulminiert im Konzept der exzentrischen Positionalität. Die Kategorie der exzentrischen Positionalität ergibt sich in dieser Hinsicht als Resultat des naturphilosophischen Aufstiegs einer Stufenfolge, die in Orientierung an der körperlichen Natur vom kategorial Früheren zum kategorial Späteren, also den Seinsbestimmungen der positionierten Dinge überhaupt zu denen der exzentrischen positionierten Dinge verläuft. Die ersteren kehren zunächst bei den Dingen, die durch die Positionalität der geschlossenen Form gekennzeichnet sind, abgewandelt wieder und bilden die Materie für neuartige kategoriale Formungen, wobei sie allerdings die stärkeren bleiben. Im Übergang von der zweiten Positionalitätsstufe zur Stufe der exzentrischen Positionalität setzt sich das fort: „Ist das Leben des Tiers zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch“.63 „Exzentrische Positionalität“ erfasst den Menschen demnach in einem naturphilosophischen Horizont als ein geistiges Wesen, das entsprechend der Hartmann’schen Formel von der „Selbständigkeit in der Abhängigkeit“ lebensgebunden ist.
4. Anthropologische Grundlagen von Das Problem des geistigen Seins Hartmann ist von Plessners Die Stufen des Organischen beeindruckt gewesen. In seinem 1933 erschienenen Das Problem des geistigen Seins knüpft er in einem Abschnitt über das geistige Individuum affirmativ an dessen Konzeption der exzentrischen Positionalität an. Diese ermöglicht es Hartmann, den personalen Geist, der bei ihm eine Grundkategorie des geistigen Seins ist, in die vertikale Ordnung 62 Vgl. dazu M. Wunsch, „Stufenontologien der menschlichen Person“, in: I. Römer, M. Wunsch (Hrsg.), Person: Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven, ethica, Bd. 26, Münster 2013, S. 237-256, hier S. 242 f. – Auf die inhaltliche Bedeutung der „exzentrischen Positionalität“ gehe ich im folgenden Abschnitt näher ein. 63 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 291 f.
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seiner Ontologie zu integrieren. Im Zentrum steht dabei die Kategorie des Bewusstseins, das auf der Schicht des seelischen Seins als ein Novum einsetzt. Es ist nicht auf das es tragende organische Sein reduzierbar, bleibt aber „in die Vitalfunktionen“ und „den Dienst des Organischen“ eingespannt.64 Diese für die Tiere charakteristische Kategorie des Bewusstseins bildet die ontologische Basis für eine neue Bewusstseinskategorie auf der Schicht des geistigen Seins, das geistige Bewusstsein, wie es für Menschen kennzeichnend ist. Hartmann konzipiert die kategoriale Differenz zwischen dem geistlosen und dem geistigen Bewusstsein in explizitem Rekurs auf Plessners Stufenunterschied zwischen der Positionalität der geschlossenen Form und der exzentrischen Positionalität. Er konzentriert sich dabei auf das jeweilige Weltverhältnis: Während die Welt für den Träger des geistlosen Bewusstseins auf ihn zentriert und daher einfach nur „Umwelt“ ist, gibt sich der Träger des geistigen Bewusstseins eine „von ihr aus gesehen“ exzentrische Stellung. Dass die Welt ihr „Zentrum außer ihm hat“, bedeutet, dass er sich auf sie (statt umgekehrt sie auf sich) ausrichtet und sie für ihn in vielem besteht, „das in keiner Weise ihm gilt“.65 Mit dem geistigen Bewusstsein kommt also eine Distanz zu den Sachen inklusive des eigenen Körperleibs und zur eigenen zentrischen Perspektive ins Spiel, die ein neuartiges Weltverhältnis begründet. Das geistige Bewusstsein ist das Bewusstsein von Personen. Für Hartmanns Konzeption der Personalität ist es von großer Bedeutung, dass er das Personsein primär durch relationale Grundzüge bestimmt sieht.66 So betont er von Beginn an, dass die Welt, mit der das geistige Bewusstsein in Beziehung steht, in erster Linie die Welt ist, „in der es als ein Mitlebendes steht“. Das primäre Pendant zur „Umwelt“ des
64 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Berlin 1949, S. 16, S. 108 f. 65 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 110 f. Dass die exzentrische Stellung des Menschen hier so konzipiert ist, dass die Welt ihr „Zentrum außer ihm hat“, ist meines Erachtens in Abgrenzung zu Scheler zu lesen, der ‚Weltexzentrizität‘ umgekehrt so versteht, dass der Mensch sein Zentrum „außerhalb und jenseits der Welt“ hat. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 69, S. 38. 66 Zu Hartmanns relationalem Denken der Person siehe ausführlich seine Bestim mungen in dem Kapitel „Personalität als Realkategorie“, in: N. Hartmann, Das Pro blem des geistigen Seins, S. 130-143, und die diesbezügliche Zusammenfassung, S. 175.
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geistlosen Bewusstseins ist daher die „Mitwelt“ des geistigen.67 Die am Begriff der Mitwelt orientierte Akzentuierung des neuartigen Weltverhältnisses hat eine Reihe von wichtigen anthropologischen Konsequenzen: Erstens wird die Welt als eine gemeinsame geistige Sphäre begriffen. In ihr stehen die Personen zusammen, aber sie selbst ist nicht durch Personalität und deren Kategorien bestimmt. Hartmann führt, um ihre Struktur zu fassen, den Begriff des objektiven Geistes als die neben dem personalen Geist zweite Grundkategorie des geistigen Seins ein.68 Zweitens erschöpft sich das Weltverhältnis des Menschen, wenn Welt primär Mitwelt ist, nicht im „Für-ihn-Sein der Welt“, sondern als ebenso grundlegend muss sein „eigenes Für-dieWelt-Sein“ gelten, also das, was er vom Horizont der anderen her ist und sein soll.69 Drittens wird, indem das Welt- in erster Linie als ein Mitweltverhältnis gefasst wird, das für die traditionelle Konzeption des menschlichen Weltverhältnisses kennzeichnende Primat des Theoretischen aufgegeben. Denn wenn die Grundbeziehung nicht die zu den Objekten der Außenwelt, sondern die zu anderen Menschen der Mitwelt ist, dann ist sie nicht primär die eines erkennenden Subjekts, sondern die „der handelnden und Behandlung erfahrenden Person“. Das gilt Hartmann zufolge für das gesamte Mensch-Welt-Verhältnis. Das bedeutet, dass gegenüber dem in der philosophischen Tradition betonten „ich denke“ der Aspekt des Handelns und damit das „ich arbeite“, „ich will etwas“, „ich finde mich zurecht in gegebenen Umständen“ etc. in den Vordergrund rückt.70 Dass die Mitwelt von anthropologisch grundlegender Bedeutung ist, sah Hartmann überzeugend in Die Stufen des Organischen und der Mensch begründet. Plessner unterscheidet dort Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt, wobei auch für ihn die Welt primär Mitwelt und das menschliche Weltverhältnis in erster Linie ein Mitweltverhältnis ist. 67 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 110 f.; vgl. insbesondere S. 111: „Aus der ‚Umwelt‘, die ein bloßes Feld der Triebe ist, wird eine ‚Mitwelt‘, mit der der Mensch lebt.“ 68 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 126. Zu Hartmanns Konzeption des objektiven Geistes in ihrem historischen und systematischen Zusammenhang siehe A. Da Re, „Objective Spirit and Personal Spirit in Hartmann’s Philosophy“, in: Axiomathes 12/2001, S. 317-326. – Insgesamt unterscheidet Hartmann drei Grundkategorien des geistigen Seins: den personalen, den objektiven und den objektivierten Geist; siehe seine einführende Übersicht in Das Problem des geistigen Seins, S. 71-73. 69 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 126. 70 Ebd., S. 127.
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Entsprechend bringt er die Mitwelt in eine enge Beziehung zur exzentrischen Positionalität: Sie sei „die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfasste Form der eigenen Position.“71 Ausgangspunkt dieser Bestimmung ist jedoch nicht eine für sich bestehende exzentrische Positionsform, die von einem schon entsprechend positionierten Wesen dann in einem zweiten Schritt (etwa einer Art Übertragung) als die Sphäre anderer Menschen erfasst wird. Vielmehr meint Plessner: „Die Existenz der Mitwelt ist die Bedingung der Möglichkeit, daß ein Lebewesen sich in seiner Stellung erfassen kann“.72 Mitweltlichkeit ist demnach eine Vorbedingung für exzentrische Positionalität und das Selbstverständnis als exzentrisch-positioniertes Wesen.73 Entsprechend sind all unsere Selbst- und Weltbezüge grundsätzlich mitwelt imprägniert. Das „exzentrisch geformte Lebewesen“, so Plessner, ist nicht bloß äußerlich, sondern „durch seine Lebensform […] in ein Mitweltverhältnis zu sich (und zu allem was ist) gesetzt“.74 Doch so wie sich die Mitwelt der Person nicht kategorial nachordnen lässt, kann auch umgekehrt die Person der Mitwelt nicht kategorial nachgeordnet werden. Die Mitwelt ist eine Welt der Personen. Sie ist ihrer Möglichkeit nach ebenso an deren Existenz gebunden, wie ihre Existenz selbst Bedingung der Möglichkeit der Personalität ist. Person und Mitwelt lassen sich also nicht mehr in eine ontologische Stufenoder Schichtenordnung bringen. Sie bilden zusammen die „Welt des Geistes“ (Plessner) bzw. das „geistige Sein“ (Hartmann). In Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch wird der Gedanke so formuliert: „Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird. Zwischen mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes“; so „beruht der geistige Charakter der Person in der Wir-form des eigenen Ichs, in dem durchaus einheitlichen Umgriffensein und Umgreifen der eigenen Lebensexistenz nach dem Modus der Exzentrizität.“75 Hartmann nimmt diesen 71 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 302. 72 Ebd., S. 302 f. 73 Bei N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, liest sich das so: „Im Verhältnis der Personen erst ist das ‚Ich‘ das, was es eigentlich ist. Es ist die innere Form des Wissens der Person um sich – im Wissen um die anderen Personen.“ (Ebd., S. 127) „Das Charakteristische des geistigen Lebens ist gerade dieses, daß die Einzelindividuen gar nicht für sich bestehen, ein reales isoliertes Dasein außerhalb der gemeinsamen geistigen Lebenssphäre also gar nicht haben.“ (Ebd., S. 69) 74 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 305 f. 75 Ebd., S. 303.
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Zusammenhang fünf Jahre später in Das Problem des geistigen Seins auf und formuliert ihn für eine ganze Reihe von Inhaltsgebieten des „objektiven Geistes“ im Einzelnen aus: Sprache, Wissenschaft, geltende Moral, herrschender Geschmack und Lebensstil, Religion, Technik und bestehende politische Tendenz. Zusammenfassend erklärt er, dass in seinem Überblick dieser Gebiete ein Grundzug, der das Verhältnis zwischen personalem und objektivem Geist betrifft, immer wieder hervortrat: „Dieses Verhältnis erwies sich als ein gegenseitiges Tragen und Getragensein – nämlich einerseits als ein Übernehmen des Individuums, sein Hineinwachsen in den objektiven Geist, das zugleich sein inhaltliches Heranwachsen an ihn ist, zugleich aber andererseits als ein Leben des objektiven Geistes in den Individuen, das ihr Verhältnis zur gemeinsamen Welt und mittelbar diese selbst gestaltet.“76 Indem deutlich wird, dass eine wechselseitige und dynamische Beziehung zwischen der Mitwelt und dem objektiven Geist einerseits und der menschlichen Person andererseits besteht, deutet sich an, dass letztere nicht nur in einer vertikalen, sondern auch in einer horizontalen ontologischen Ordnung steht. Diese horizontale Ordnung ergibt sich aus dem Umstand, dass die Mitwelt bzw. der objektive Geist selbst ein dynamisches Gebilde, also kulturell sowie geschichtlich variabel ist. Neben der Dimension des Tier-Mensch-Vergleichs eröffnet sich damit eine Vergleichsdimension, in der Menschen verschiedener Soziokulturen und Epochen zueinander stehen. Die naturphilosophische Konzeption „von unten“ der menschlichen Person wird also durch eine geist- und geschichtsphilosophische Konzeption „von der Seite“ ergänzt. Die menschliche Personalität ist demnach einer vertikal-horizontalen Doppelstruktur unterworfen. Diese Struktur ist in systematischer Hinsicht maßgeblich für Untersuchungen zur Personalität und zugleich eröffnet sie kritische Korrekturmöglichkeiten gegenüber solchen Ansätzen, die eindimensional entweder nur die naturphilosophische oder nur die geschichtsphilosophische Linie verfolgen.
76 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 257; vgl. etwa S. 220, S. 233 und schon S. 200.
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5. Der „fremde Stern“ des geistigen Lebens und das Medium der Exzentrizität Während Hartmann sich in seiner Diskussion des geistigen Individuums und des Unterschieds zwischen geistlosem und geistigem Bewusstsein explizit auf Plessners Theorie der Positionalitätsstufen beruft,77 erwähnt Plessner Hartmann in Die Stufen des Organischen ganz selten ausdrücklich.78 In der unmittelbar folgenden Zeit hat sich Plessner allerdings bei zwei Gelegenheiten direkt mit Hartmanns Position auseinandergesetzt. Die erste ergab sich anlässlich einer Tagung der Kant-Gesellschaft Ende Mai 1931 in Halle an der Saale. Hartmann hielt dort seinen Vortrag „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“, dem eine ausführliche Diskussion folgte, an der auch Plessner teilnahm.79 Im gegenwärtigen Zusammenhang möchte ich nur Plessners dabei artikulierte Einschätzung hervorheben, dass Hartmann eine „anthropologische[ ] Wendung“ herbeigeführt habe, indem er die Erkenntnisproblematik vom Begriff eines weltlosen und abstrakten Subjekts auf den Begriff der konkreten Person „mit Haut und Haaren“ umgestellt und deren „Einbettung“ in die „Seinsbeziehungen von Person zu Person und Welt sichtbar“ gemacht habe.80 Die zweite Gelegenheit, die Plessner ergriffen hat, um zu Hartmanns Ansatz Stellung zu beziehen, war die Publikation von Das Problem des geistigen Seins. Er hat Hartmanns Buch noch im Erscheinungsjahr 1933 für die Kantstudien besprochen.81 Obwohl Plessners Rezension weitgehend positiv ausfällt, formuliert er gegen Ende des Textes zwei Kritikpunkte. Der erste besteht darin, dass Hartmann sich zu wenig in methodologischen Fragen enga
77 Ebd., S. 110. 78 Eine Ausnahme ist H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 332, Anm. 1. 79 Hartmanns Vortrag, die (23 Beiträge umfassende) Diskussion und das Schlusswort des Referenten sind kürzlich wiederveröffentlicht worden: N. Hartmann, „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“, in: ders., Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 181-264. 80 Plessners Diskussionsbeitrag findet sich in N. Hartmann, „Zum Problem der Rea litätsgegebenheit“, S. 220-222. 81 Später wäre es ohnehin wohl nicht mehr möglich gewesen. H. Plessner, „Geisti ges Sein. Über ein Buch Nicolai Hartmanns“, in: Kantstudien 38/1933, S. 406-423. Ich zitiere den Text hier nach Plessners Schriften zur Philosophie (= Gesammelte Schriften, Bd. 9, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker), Frankfurt a. M. 1985, S. 73-95.
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giere und insbesondere das Verhältnis zwischen Theorie und Beschreibung in seiner Ontologie des geistigen Seins nicht klar genug werde.82 Plessner ist zwar mit Hartmann darin einig, dass Theorien deshalb ungenügend sein können, weil sie den Phänomenen nicht gerecht werden oder von vorgefassten Standpunkten aus konstruiert werden, meint aber, Hartmann postuliere zu Unrecht eine „philosophisch neutrale Zone“ bzw. „ein noch nicht theoriebedingtes Vorfeld“, von dem her er glaube, die Phänomene rein aufnehmen und ‚standpunktliches‘ Denken kritisieren zu können.83 Dass der Einwand gegen ein solches Postulat in der Sache berechtigt ist, dürfte wissenschaftstheoretisch unstrittig sein. Und es dürfte schwer fallen zu zeigen, dass er an Hartmann vorbeigeht. – Der zweite Kritikpunkt hängt eng mit dem ersten zusammen, reicht aber noch weiter. Er liest sich gewissermaßen als Reminiszenz an Plessners briefliche Erwähnung des „gewaltigen weißen Fernrohrs“ in Hartmanns Studierzimmer84 und besagt, Hartmann sehe „das geistig-geschichtliche Leben wie auf einem fremden Stern sich abspielen“.85 Was Plessner hier moniert ist, dass Hartmann eine falsche Distanz zum geistigen Leben aufbaut. Das muss zwar nicht unmittelbar zu falschen Resultaten führen, birgt aber die Gefahr einer mangelhaften Reflexion des eigenen geistig-geschichtlichen Ortes. Für Plessner ist gerade dieser Anspruch, das heißt die Gewinnung einer reflexiven Philosophischen Anthropologie, zentral. In seinem Diskussionsbeitrag zu Hartmanns erwähntem Vortrag „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“ hatte er nicht nur die Umstellung vom Begriff des abstrakten Subjekts auf den der konkreten Person begrüßt, sondern auch von dieser als „Ausgangs- und Blickpunkt der philosophischen Fragestellung“ gesprochen.86 Die konkrete Person ist aber die in einer konkreten Mitwelt situierte; und eine in dieser Weise historisch und kulturell verortete Person müsste für Plessner also auch Ausgangs- und Blickpunkt derjenigen Fragestellung sein, die er selbst in Die Stufen des Organischen und der Mensch verfolgt. Tatsächlich 82 „Beschreibung“ und „Theorie“ entsprechen dem ersten und dritten Konzept von Hartmanns methodischem Dreischritt „Phänomenologie – Aporetik – Theorie“. Siehe dazu G. Hartung, M. Wunsch, „Grundzüge und Aktualität von Nicolai Hartmanns Neuer Ontologie und Anthropologie“, S. 3 f. 83 H. Plessner, „Geistiges Sein“, S. 92. 84 Siehe oben, Anmerkung 5. 85 H. Plessner, „Geistiges Sein“, S. 93. 86 Siehe Plessners Bemerkung in N. Hartmann, „Zum Problem der Realitätsgegeben heit“, S. 222.
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versucht er die philosophischen Konsequenzen aus genau dieser reflexiven philosophischen Grundhaltung in seiner Arbeit zu ziehen. Dies wird deutlich, wenn er die menschliche Personalität der im vorigen Abschnitt herausgestellten vertikal-horizontalen, naturphilosophischgeistphilosophischen Doppelstruktur nicht nur äußerlich unterworfen sieht, sondern diese Doppelstruktur umgekehrt aus dem „Grundaspekt der Lebenserfahrung“ gewinnt, „den der Mensch in seiner Existenz zu sich und zur Welt einnimmt: naturgewachsen und frei, gewachsen und gemacht, ursprünglich und künstlich zugleich“. Die genannte Doppelstruktur wird also nicht im gewissermaßen astronomischen Blick auf das personale Leben identifiziert, sondern reflektiert nur die Struktur von uns exzentrisch-positionierten Wesen selbst. Auf diese Weise erhält der im Personsein erfahrene „Existenzkonflikt […] eine Bedeutung auch für die philosophische Methode: er weist an der Janushaftigkeit dieses Lebewesens die Notwendigkeit einer Erkenntnis auf, die den Doppelaspekt seines Daseins – nicht etwa aufhebt oder vermittelt, sondern aus einer Grundposition begreift.“87 Diese Grundposition ist für Plessner, wie gesagt, die naturphilosophische des Lebens (Positionalität), deren Entwicklung im Verlauf von Die Stufen des Organischen es ihm dann erlaubt, den genannten Existenzkonflikt mittels des Konzepts der exzentrischen Positionalität begrifflich einzuholen. Aber Exzentrizität ist vor dem Hintergrund von Plessners reflexiver philosophischer Grundhaltung nicht mehr nur das Ergebnis eines Stufengangs zum Menschen, sondern liegt, wenn dieses Ergebnis korrekt ist, dem naturphilosophischen Aufsteigen schon zugrunde. Auf diese Weise kulminiert die Philosophie des Menschen im Begriff der exzentrischen Positionalität, aber die „Situation der Exzentrizität“ ist – wie Plessner in aller Deutlichkeit schon im Vorwort von Die Stufen des Organischen betont – zugleich „Boden und Medium der Philosophie“.88 Der damit hervorgehobene Aspekt von Plessners Konzeption der Exzentrizität ist in seiner systematischen Bedeutung kaum zu überschätzen. Da Hartmann ihn bei seinem Rückgriff auf die Exzentrizitätskonzeption in Das Problem des geistigen Seins, wie Plessner meint, nicht mit einbezieht bzw. den Ort des eigenen Denkens in zu großer Distanz vom betrachteten geistig-geschichtlichen Leben ansiedelt, bescheinigt dieser ihm ein Reflexivitäts-Defizit. Dies muss als eine ernsthafte Herausforderung für Hartmanns Philosophieansatz 87 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 32. 88 Ebd., S. VI.
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gelten. Um sich ihr zu stellen, könnte meines Erachtens auf Plessners Konzeption zurückgegriffen werden. Selbstverständlich sieht sich nicht nur eine Neue Ontologie des Menschen bisher ungelösten Aufgaben gegenüber. Auch eine Philosophische Anthropologie des geistigen Seins steht vor Herausforderungen. Sie müsste etwa das genaue kategoriale Verhältnis zwischen „objektivem Geist“, „Mitwelt“ und „Gesellschaft“ klären. Zudem sollte sie verdeutlichen, wie die Welt des Geistes in die reale Welt insgesamt eingebettet ist. Da das geistige Sein geschichtlich ist, wäre außerdem in methodologischer Hinsicht zu erörtern, wie sich die damit ins Spiel kommende geist- bzw. geschichtsphilosophische Dimension zum ursprünglich naturphilosophischen Ansatz verhält. Inhaltlich ist damit das Problem verbunden, wie es zu verstehen ist, dass der Mensch durch und durch sowohl Natur- als auch Geschichtswesen ist. Dazu, wie sich diese Herausforderungen bewältigen lassen, finden sich in Die Stufen des Organischen und der Mensch bereits Anhaltspunkte, die Plessner teilweise auch in seinem zweiten anthropologischen Hauptwerk – Macht und menschliche Natur (1931)89 – weiterentwickelt. Bei der Lösung dieser Aufgaben kann meines Erachtens darüber hinaus aber auch Hartmanns Neue Ontologie eine wichtige unterstützende Rolle spielen. Das gilt auch für eine weitere Herausforderung, vor der eine Philosophische Anthropologie des geistigen Seins steht und auf die ich abschließend aufmerksam machen möchte. Sie besteht darin, eine befriedigende Konzeption der Materialität des Geistigen zu entwickeln. Dabei lassen sich heuristisch eine naturphilosophische und eine geistphilosophische Problemdimension unterscheiden. In der ersten ginge es um die Frage, wie lebendige Dinge als Träger des Geistigen zu denken sind, und in der zweiten Dimension stellt sich die Frage, wie leblose Dinge mit geistigem Gehalt (Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, technische Geräte, Kunstwerke etc.) zu konzipieren sind. Die Philosophische Anthropologie des geistigen Seins muss also neben einer Biophilosophie des Menschen auch eine Philosophie der Objektivationen des menschlichen Geistes umfassen. Plessner hat sich in Die Stufen des Organischen vor allem dem ersten Punkt gewidmet. Seine Überlegungen ließen sich auch hier gut von Hartmann her ergänzen, der hin89 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker, Frankfurt a. M. 1981, S. 135-234.
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sichtlich des zweiten Punkts in Das Problem des geistigen Seins unter dem Titel „Der objektivierte Geist“ eine ausführliche Philosophie der geistigen Produkte vorgelegt hat.90
90 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 406 ff. Da Hartmann, mehr als Plessner, alle Grundformen des geistigen Seins im Blick hat – in seiner Terminologie: den personalen, den objektiven und den objektivierten Geist –, steht ihm auch eine dritte Aufgabe deutlicher vor Augen, die sich einer Philosophischen Anthropologie des geistigen Seins stellt, und zwar das Problem der Einheit und Ganzheit des Geistigen. – In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es in der philosophischanthropologischen Tradition vielleicht am ehesten Michael Landmann, dessen „Kulturanthropologie“ als eine Weiterentwicklung dieser Problematik gelten kann. Siehe M. Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart (1955), 5. Aufl., Berlin, New York 1982; M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. Geschichts- und Sozialanthropologie, München, Basel 1961.
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Helmuth Plessner und Max Scheler. Parallelaktion zur Überwindung des cartesianischen Dualismus Funktionen und Folgen einer philosophischen Biologie für die Philosophische Anthropologie
Plessner und seine Stufen des Organischen und der Mensch sind zwischen 1923 und 1927 in einem präzise angebbaren intellektuellen ‚Sternbild‘ geboren, der „Kölner Konstellation“ der 1920er Jahre,1 deren anderer Stern – und zugleich ein wirklicher Star seiner Zeit – Max Scheler war. Im programmatischen Zeichen einer „Philosophischen Anthropologie“ strebten beide parallel eine Transformation des cartesianischen Alternativprinzips an, und die Pointe dieses Theorie programms war der konstitutive Einbau einer „philosophischen Biologie“ in bzw. vor eine solche Philosophische Anthropologie. Dieser notorische Rekurs auf eine Philosophie des Lebendigen als Bedingung der Möglichkeit eines vollen, alle Aspekte erschließenden Begriffs des Menschen unterscheidet das Theorieprojekt von Plessner und Scheler mit einem Schlag charakteristisch von anderen prominenten zeitgenössischen Denkprojekten: vom Neukantianismus, von der Phänomenologie der Bewusstseinsintentionalität, von der Existenzphilosophie, von der Kritischen Theorie der Gesellschaft, vom sprachlogisch operierenden Wiener Kreis. An der jeweiligen philosophischen Biologie, die in ihrer Machart zugleich von jedem Naturalismus (der Darwinschen Evolutionsbiologie) sich abhebt, erkennt man Texte des Paradigmas der Philosophischen Anthropologie. Aber damit nicht genug: Auch die Pointe der Theoriepenetration, d. h. der empirischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Erschließungskraft der so gebauten Philosophischen Anthropologie, zündet nur entlang der „philosophischen Biologie“ – das macht deren Status innerhalb der Philosophischen An1
J. Fischer, „Die ‚Kölner Konstellation‘. Scheler, Hartmann, Plessner und der Durch bruch zur modernen Philosophischen Anthropologie“, in: T. Allert, J. Fischer (Hrsg.), Plessner in Wiesbaden, Wiesbaden 2014, S. 89-122. Zur „Kölner Konstellation“ gehörte seit 1925 Nicolai Hartmann, der mit seiner Konzeption einer ‚Neuen On tologie‘ der Schichtungsgesetze eine wichtige philosophische Hintergrundtheorie für Schelers und Plessners Philosophische Anthropologie formulierte. Vgl. dazu den Beitrag von Wunsch in diesem Band.
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thropologie so bedeutsam. Die Philosophie des Lebens muss und soll – auch darin waren Plessner und Scheler sich einig – notwendig Folgen für die sozial- und kulturwissenschaftliche Erschließung konkreter Phänomene der menschlichen Lebenswelt haben, sie übernimmt eine nachhaltige Funktion für die Analytik des Konkreten, damit der cartesianische Dualismus nicht nur im Theorieansatz, sondern auch in der reflektierten Anschauung überwunden ist. Um das zeigen zu können, verfährt der Beitrag in drei Schritten: Zuerst (1) wird gezeigt, inwiefern die „Kölner Konstellation“ zwischen Plessner und Scheler sich der Herausforderung des cartesianischen Dualismus gestellt hat und inwiefern sie sich den entscheidenden Durchbruch von einer selbstverantworteten Philosophie der Natur bzw. Ontologie des Organischen versprochen haben. Dann (2) wird die Parallelaktion herausgearbeitet, in der Plessner und Scheler in den Stufen des Organischen und der Mensch und in der Stellung des Men schen im Kosmos die Philosophie des Lebendigen als Brückenkopf für eine Philosophie des Menschen sorgfältig auf- und einbauen. Schließlich (3) werden die Folgen und Funktionen dieser philosophischen Biologie für die philosophisch-anthropologische Aufklärung von Phänomenen der menschlichen Lebenswelt skizziert: Inwiefern sowohl bei Plessner als auch bei Scheler Figuren der Ontologie des Organischen ihre jeweiligen sozial- und kulturwissenschaftlichen Erschließungen präfigurieren – die Rollenhaftigkeit und Darstellungsverwiesenheit menschlicher Existenz, Weinen und Lachen als spezifisch körperliche Krisenreaktionen des Geistes (Plessner), die heterogene Triebstruktur menschlicher Kultur- und Wissensstabilisierung (Scheler).
1. Scheler und Plessner: Die Kölner Konstellation 1.1 Challenge des cartesianischen Alternativprinzips: Naturalismus und Kulturalismus Das Paradigma der Philosophischen Anthropologie bildet sich also 1927/1928 in Köln durch die einschlägigen Schriften von Max Scheler Die Stellung des Menschen im Kosmos2 und Helmuth Plessner 2
M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: ders., Späte Schriften (= Gesammelte Werke, Bd. 9), hrsg. v. M. Frings, 2. Auflage Bonn 1995, S. 7-71.
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Die Stufen des Organischen und der Mensch.3 Charakteristisch für beide Autoren ist – bei aller Verschiedenheit der Begriffe, der Themen und des Duktus – eine bestimmte gemeinsame Theorietechnik, die sie selbst unter dem Titel einer „Philosophischen Anthropologie“ entfaltet und erprobt haben. Die Herausforderung bildete die durch den Darwinismus einerseits, durch den Neukantianismus andererseits erneuerte cartesianische Doppelbeschreibung des Menschen. Die Philosophischen Anthropologen haben dieses Entweder/Oder für eine Verletzung der ‚Würde des Menschen‘ gehalten; ihr Ziel war es, doch eine Einheit des „Doppelaspekts“ von Körper und Geist darzustellen. Um die Alternative zwischen Naturalismus und Kulturalismus, zwischen Darwinismus und Idealismus zu entkräften, haben sie systematisch Brückenbegriffe gesucht – auch durch das Anzapfen lebensphilosophischer Denkmotive (Nietzsche, Dilthey, Bergson), von denen sie sich zugleich absetzten. Der Kunstgriff der Philosophischen Anthropologie besteht in der Konstruktion einer ‚eigenen‘ philosophischen Biologie. Anders gesagt: Es geht nicht darum, dem Naturalismus sachlich auszuweichen, wie es viele andere Strömungen taten und tun; es geht aber auch nicht darum, in den Kultur- und Sozialwissenschaften und schließlich in der Philosophie selbst endlich dem kognitiven Druck der Evolutionsbiologie als einer neuen Leitwissenschaft nachzugeben und die darwinistischen Annahmen einfach der soziokulturellen Sphäre zugrunde zu legen oder sie dort durchmarschieren zu lassen. Wichtig ist zu Beginn folgende Unterscheidung: Wenn hier von Philosophischer Anthropologie gesprochen wird, dann wird darunter das gleichnamige Paradigma, nicht aber die Disziplin unter demselben Titel verstanden (man kann das graphisch unterscheiden, indem man ‚philosophische Anthropologie‘ als Disziplin klein- und ‚Philosophische Anthropologie‘ als Denkansatz oder Paradigma großschreibt). So-
3
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die phi losophische Anthropologie (1928), 3. Aufl., Berlin, New York 1975. Später stoßen noch Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940/1950), Erich Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie (1948) und Adolf Portmann, Zoologie oder das neue Bild vom Menschen (1956) mit ihren Werken zu dieser Denkergruppe.
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wohl für die Disziplin4 wie für die Theorierichtung5 liegen Übersichten vor. Es geht hier im Folgenden mit Plessner und Scheler allein um dieses Paradigma, diese moderne Theorierichtung der Philosophischen Anthropologie. Es dreht sich um die Theoriestrategie der Philosophischen Anthropologie – der Terminus ‚Theoriestrategie‘ meint hier dann tatsächlich eine Strategie, einen begrifflichen Plan, einen konzeptionellen Feldzug innerhalb des Ringens verschiedener Konzeptionen um die angemessene Erschließung der menschlichen Lebenswelt; man könnte auch sagen: einen Feldzug zur Besetzung, zur begrifflichen Erschließung der menschlichen Lebenswelt. Um den Theorietypus der Philosophischen Anthropologie zu erläutern, muss man zunächst das Spannungsfeld aufmachen, innerhalb dessen Philosophische Anthropologie als eine Theoriestrategie plausibel, prägnant und markant werden kann. Dieses Spannungsfeld ist der cartesianische Dualismus in der Beschreibung der menschlichen Lebenswelt, der sich für Plessner und Scheler bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwandelt hat. Wie man weiß, bestimmt der cartesianische Dualismus seit dem 17. Jahrhundert in immer neuen Varianten die Ordnungen des Wissens, ur sprünglich mit der Trennung der denkenden Substanz von der ausgedehnten Substanz, also zwischen denkendem Subjekt einerseits, der physikalischen Natur (einschließlich des menschlichen Körpers) andererseits. In der Folge kann alles Wissen (einschließlich des Wissens vom Menschen) entweder vom denkenden, autonomen Ich aus entfaltet werden (als Idealismus) oder umgekehrt von der Natur, von der Physik her (als Materialismus oder Naturalismus). Aus dem Cartesianismus gehen zwei sich fortwährend erneuernde verschiedene Paradigmengruppen hervor. Wissenschaftstheoretisch stehen nun seit dem 19. Jahrhundert der neuere Naturalismus des Darwinismus einerseits – als Kernparadigma der Naturwissenschaf4
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M. Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdeutung in Ge schichte und Gegenwart (1956), Berlin 1982; Ch. Thies, Einführung in die phi losophische Anthropologie, Darmstadt 2004; G. Hartung, Philosophische Anthro pologie, Stuttgart 2008. Vgl. J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung im 20. Jahr hundert, Freiburg 2008; K.-S. Rehberg, „Philosophische Anthropologie und die ‚Soziologisierung‘ des Wissens vom Menschen. Einige Zusammenhänge zwischen einer philosophischen Denktradition und der Soziologie in Deutschland“, in: So ziologie in Deutschland und Österreich 1918–1945, Sonderheft 23 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1981, S. 160-197.
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ten, in jedem Fall als Kernparadigma aller Lebenswissenschaftler – und der kulturphilosophisch gestützte neue Kulturalismus innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften andererseits in einem Exklusionsverhältnis. Es kommt ja im 19. Jahrhundert gleichzeitig zu einem Aufstieg der Lebenswissenschaften wie zum Durchbruch der Gruppe der Geis teswissenschaften. Darwin oder Dilthey, Darwin oder Cohen/Cassirer, das sind die neuen cartesianischen Alternativen innerhalb der Wissensordnung, die einander ausschließen. Für den Darwinismus ereignet sich nämlich die Unterscheidung von Natur und Kultur in der Natur selbst, sie ist eine Naturtatsache, für den neukantianischen Konstruktivismus wie für die hermeneutische Philosophie ist die Unterscheidung von Natur und Kultur hingegen eine Apriorileistung der Kultur. Man kann deutlich erkennen, dass beide Theorieansätze in der Erbschaft des Cartesianismus stehen, des cartesianischen Dualismus, also der seit Descartes strikten Trennung zwischen der denkenden Substanz und der ausgedehnten, körperlichen Substanz: das evolutionsbiologische Paradigma auf der Seite des Körpers, der Kulturalismus auf der Seite des Mentalen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden mit der Biologie einerseits, den Geistes-, Sprach- und Sozialwissenschaften andererseits charakteristische Neubesetzungen der jeweiligen Flügel des Cartesianismus vorgenommen: Statt der Physik des unbelebten Körpers nun die evolutionären Mechanismen des Organismus und statt des denkenden Bewusstseinssubjekts nun die Sprache als inter- oder transsubjektives Medium des Denkens. Der cartesianische Dualismus verwandelt sich angesichts der evolutionsbiologischen Herausforderung in wechselseitige Übernahmeversuche der jeweiligen extremen Perspektiven: der über den Materialismus hinausgehende Evolutionismus des Organischen übernimmt aufklärend die sozio-kulturelle Lebenswelt; umgekehrt kassiert der hermeneutische Kulturalismus das evolutionsbiologische Paradigma als ein bloß kulturelles Deutungsschema. Um es vorwegzunehmen: Philosophische Anthropologie als weiteres, von Plessner und Scheler generiertes Paradigma ist ein tiefer Einstieg in die Welt des Naturalismus, ohne selbst ein naturalistischer Ansatz zu sein; zu ihrem konzeptionellen Kern gehört eine philosophische Biologie als Antwort auf den evolutionsbiologischen Naturalismus, so dass eine Kultur- und Sozialwissenschaft möglich wird, die der Komplexität der spezifisch menschlichen Lebenswelt entspricht – und damit der komplexen Erfahrung menschlicher Lebewesen gerecht wird. Dieser Anspruch, eine Einheit des Verschiedenen, eine Übersetzung innerhalb des cartesianischen Alternativprinzips zu leisten,
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steckt im Terminus ‚Philosophie‘ – deshalb muss dieses Paradigma ‚Philosophische Anthropologie‘ heißen. 1.2 Response auf den cartesianischen Dualismus: Ontologie des Organischen als „Conditio humana“ Die Pointe der Philosophischen Anthropologie als Paradigma liegt also in ihrem indirekten Verfahren: nicht mit dem Menschen anzufangen, sondern vor dem Sprechen über den Menschen systematisch vom „Leben“ zu handeln; den Menschen nicht vom Menschen her, von seinen Leistungen her zu verstehen, sondern im Umweg über etwas Anderes – die Natur. Der springende Punkt ist deshalb der theorieinterne Bezug zur Biologie, weil nur darüber die Herausforderung des Darwinismus angenommen werden kann, ohne den Idealismus preiszugeben. Theoriestrategisch charakteristisch für die Philosophische Anthropologie bei Plessner und Scheler ist also die Vorordnung der philosophischen Biologie (der Vergleich der Lebenstypen) vor einer Philosophie der Kulturen (dem Vergleich verschiedener kultureller Lebensformen). Man kann hier bei beiden ein Echo der naturphilosophischen deutschen Denktradition (Schelling, Schopenhauer u. a.) vernehmen, die es nahe legte, bei dem Stichwort ‚Anthropologie‘ eher einen biologischen und lebensphilosophischen Hintergrund aufzurufen als in der englischen und französischen Tradition, in der ‚Anthropologie‘ eine stehende Assoziation mit der Ethnologie und Soziologie einging. Andererseits teilen die Protagonisten ihr Grundmotiv mit Henri Bergson,6 dessen lebensphilosophische Auseinandersetzung mit dem Darwinismus sie angeregte.7 Durch die philosophische Biologie soll in einer Interpretation empirischen Wissens ein eigener Begriff des Organischen (öffentlich) verantwortet werden, der den Erkenntnissen der Natur- und Lebenswissenschaften nicht widerspricht, aber von Beginn an so angelegt und so akzentuiert ist, dass sich die ‚idealistischen‘ Vermutungen der Menschen über sich selbst (Vernunft, Selbstbewusstsein, Intersubjektivität, Kunst, Narrativität, Transzendenzerfahrung) 6 7
H. Bergson, Schöpferische Entwicklung (1907), Jena 1921. Vgl. zu Bergson den Bei trag von Delitz in diesem Band. M. Scheler, „Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Berg son“ (1913), in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (= Gesammelte Werke, Bd. 3), Bern 1955, S. 313-339, hier S. 338 und S. 337.
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nicht als bloße adaptive Epiphänomene einer evolutionären Vitalbasis herausstellen. Auch Karl Löwith8 oder Hans Jonas9 antworten auf diese Weise auf die Evolutionsbiologie – und gehören insofern indirekt zum Paradigma der Philosophischen Anthropologie.10 Für dieses Theorieprogramm einer Überwindung des cartesianischen Dualismus suchen Plessner und Scheler eine sorgfältig vorgenommene Anknüpfung an die Modelle der theoretischen Biologie, die sich als Schlüsselkonzepte des 20. Jahrhunderts herausstellen werden: an Drieschs Theorie der Eigenlogik des Organischen (das nicht auf das Mechanische reduzierbar ist), die später in der Autopoiesis-Theorie ihre Fortsetzung findet, und an die Uexküll’sche Theorie der je spezifischen Korrelationslogik zwischen Organismen und Umwelten, von der die allgemeine System-Umwelt-Lehre ihren Anfang nimmt.11 Im Nachhinein werden bezogen auf die ‚Funktionskreislauf‘-Lehre die Wahlverwandtschaften zwischen Philosophischer Anthropologie und dem, was man „kybernetische Anthropologie“ nennen kann,12 deutlich. Die Philosophische Anthropologie war auch die erste Philosophie, die systematisch die spektakulär einsetzende Primatenforschung auswertete und einbezog.13
2. Das Strukturverhältnis von philosophischer Biologie und Philosophischer Anthropologie: Plessners und Schelers Parallelaktionen 1927/1928 erscheinen die beiden Texte von Scheler und Plessner, in denen sich ein konzeptioneller Durchbruch zu dem dokumentiert, was seitdem als moderne Philosophische Anthropologie identifizierbar ist. 8 K. Löwith, „Zur Frage einer philosophischen Anthropologie“, in: H.-G. Gadamer, P. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 7, München 1975, S. 330-342. 9 H. Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie (1973), Frankfurt a. M. 1994. Zu Jonas vgl. den Beitrag von Michelini in diesem Band. 10 Einen ausgeprägten Sinn für die Originalität der Theorieposition der Autoren der Philosophischen Anthropologie (Plessner, Scheler, Gehlen, Portmann, Jonas etc.) in ihrem Rekurs auf eine philosophische Biologie dokumentiert die Enzyklopädie von G. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, 3 Bde., Stuttgart 2011, v. a. die Stichworte „Leben“, S. 441, S. 459, und „Mensch“, S. 532 f. 11 Zu Driesch vgl. den Beitrag von Toepfer in diesem Band; zu Uexküll den von Köchy. 12 St. Rieger, Kybernetische Anthropologie, Frankfurt a. M. 2005. 13 W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Anthropoiden (1917), 2. Aufl. Berlin 1921.
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Genauer gesagt: 1927 liegen beide Texte Die Stellung des Menschen im Kosmos und Die Stufen des Organischen und der Mensch druckfertig vor, 1928 sind sie dem Publikum zugänglich.14 2.1 Plessner: Prinzip Exzentrizität im Verhältnis zum Prinzip Positionalität Sieht man zuerst auf Plessner, dann lässt sich folgende Genesis seiner Philosophischen Anthropologie skizzieren: Über die Weihnachtsferien 1924 beginnt er mit seinem Projekt unter dem Titel „Kosmologie des Lebens“. „Ich halte im Augenblick auf Blatt 15, einem Blatt wie diesem hier, nur enger beschrieben, also etwa auf Druckseite 20“, schreibt er Silvester 1924 an König. Programmatisch lautet der Titel des I. Teils: „Von der Ästhesiologie des Geistes zur Kosmologie des Lebens“.15 Projektiert ist eine Theorie der „dialektischen Grenzlamellen [?] der lebendigen Form.“ Plessner steht, wie er im gleichen Brief berichtet, unter dem Eindruck des Heidegger-Vortrages zu Aristoteles in Köln Anfang Dezember, der sich gleich zu Beginn gegen die „Fehlerhaftigkeit des Subjekt-Objektansatzes“ wandte.16 Oktober 1925 sitzt er an der genauen Disposition der „Kosmologie des Lebens“, „der ich jetzt den Untertitel gebe: ‚Untersuchungen über die Stellung des Menschen in der Natur‘.“17 April 1926 hat er 40 Seiten der „Kosmologie des Leibes“ geschrieben, wie er König in einem Brief berichtet, in dem er sich kritisch beeindruckt zeigt durch Königs Schilderungen von Heideggers Philosophieren in Marburg.18 Im Oktober 1926 berichtet er Buytendijk über seine Arbeit an „einem größeren Buch, betitelt ‚Die Kategorien des Lebens‘“.19 Ostern 1927 liegt das Manuskript beim Verlag.20 Seit Juli 1927 erhält König von Plessner die Druckfahnen und nimmt Stel14 Zur persönlichen und universitätsstrukturellen Rivalität zwischen Plessner und Scheler um die wissenschaftliche Priorität, deren Eskalation die Ausbildung einer Denkschule der Philosophischen Anthropologie blockiert hat, vgl. die Hintergründe in J. Fischer, Philosophische Anthropologie. 15 J. König, H. Plessner, Briefwechsel 1923–1933, hrsg. von H.-U. Lessing, A. Mutzen becher, Freiburg 1994, S. 71. 16 Ebd., S. 73. 17 Ebd., S. 100. 18 Ebd., S. 129 f. 19 F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, Filosofische Wegwijzer. Correspondentie, Kerckebosch 1993, S. 90. 20 H. Plessner an G. Misch 14.5.1927, Nachlaß Plessner, Universitätsarchiv Groningen, Mappe 142.
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lung in Kommentaren.21 Januar 1928 erscheint das Buch unter dem Titel: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Plessner zielt auf eine „philosophische Biologie und Anthropologie“.22 Wie bekannt, exponiert er für das Organische den Begriff des „grenzrealisierenden Dinges“ (in Abhebung von den anorganischen Dingen, die an ihrem Rand aufhören), transformiert diese Bestimmung in die Kategorie der „Positionalität“, an deren Leitfaden er Eigenschaften des Organischen erläutert, um dann Pflanze, verschiedene Tierformen als „Stufen des Organischen“ – als offene, geschlossene, azentrische und zentrische Positionalitäten – zu interpretieren. Die ausführlich durchgeführte „philosophische Biologie“ ist der thematische Schwerpunkt von Plessners Buch. Die Lebensform des Menschen, deren Explikation ja die Philosophische Anthropologie leisten soll, kennzeichnet er dann durch eine „Exzentrizität“ der Positionalität, also eine Unterbrechung des Lebensprinzips, das in Distanz zu sich selbst gerät und das diese Unterbrochenheit leben, verkörpern muss. Für die Lebensführung dieser „exzentrischen Positionalität“ postuliert Plessner anthropologische Grundgesetze wie „natürliche Künstlichkeit“, „vermittelte Unmittelbarkeit“ und „utopischer Standort“, die es ihm nun gestatten, die menschlichen Monopole wie Technik, Kultur, Sprache, Sozialität, Geschichtlichkeit und Religiosität aufzuschließen – wobei es insgesamt im letzten Kapitel bei Andeutungen bleibt, nicht zur wirklichen Durchführung kommt. Vorweg also die philosophische Biologie als Schlüssel des ganzen Projektes. Der Kern von Plessners philosophischer Biologie ist eine grenztheoretische Interpretation des Organischen. Diese grenztheoretische Philosophie des Organischen ist gerichtet gegen die ganzheitstheoretische Philosophie des Organischen von Hans Driesch, dessen Neovitalismus einen besonderen Entelechiefaktor veranschlagt, um die Eigenqualität des Lebendigen gegenüber allem Anorganischen aufweisen zu können. Plessner sieht hingegen in der Grenzbildung, in der Lebensphänomene von einer Umgebung abgesetzt sind, auf die sie sich zugleich material beziehen, die entscheidende Qualität des Lebendigen. Von dieser einen Qualität der Grenzziehung deduziert er gleichsam alle anderen eigentümlichen Qualitäten des Organischen in den Hauptkapiteln der Stufen: das Phänomen der Entwicklung; die As21 J. König, H. Plessner, Briefwechsel, Brief vom 2.7.1927, S. 150 f. 22 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. IV.
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similation/Dissimilation (also z. B. Stoffwechsel in Atmung und Nahrungskreislauf); Restitution und Regenerationspotentiale des Organischen; Anpassung und Angepasstheit des Organismus; das Phänomen der Fortpflanzung, also das über die eigene Grenzbildung des individuellen Organismus geschehende Fortsetzungsphänomen des Lebendigen; Altern und Tod; die Vielfalt der Arten von Organismustypen; die Organisationsweisen von Pflanzen und Tieren; die Sensomotorik bei tierischen Organismen; und das Neurogewebe, die Hirnbildung, die er ebenfalls grenztheoretisch als Unterbrechung, Verlangsamung von Reiz-Reaktionen und deren Neuverknüpfungsmöglichkeiten deutet. Ohne dieser Argumentation hier im Einzelnen nachzugehen, ist darauf aufmerksam zu machen, dass Plessner diese grenztheoretische Anlage der philosophischen Biologie 1965 im Rekurs auf die modernen Konzepte der theoretischen Biologie durchgehalten hat: vor allem die entscheidende Betonung semipermeabler Membranen für die Herausbildung des Organischen hat er als Bestätigung gesehen. Die Membranbildung aus natürlichen Materialien ist offensichtlich ausschlaggebend für die Bildung einzelner Lebewesen, indem sie es von seiner Umgebung absetzt und dabei doppelsinnig wirkt: „einschließend-abschirmend gegen die Umgebung und aufschließend-vermittelnd zu ihr.“23 Membranen sind nicht bloße Oberflächen des Körpers, seine Ränder, die jeder Körper gleich welchen Aggregatzustandes gegen angrenzende Medien eines anderen Aggregatzustandes hat, sondern sie sind „vermittelnde Oberflächen“, an denen der Körper nicht bloß zu Ende ist, sondern zu „seinem Medium“ in Beziehung gesetzt. Der Eigenbereich, gegen das Medium abgeschirmt und zu ihm geöffnet, steht mit ihm, dem Medium, in „distanziertem Kontakt“. Plessner, der selbst ausgebildeter und zeitweise praktizierender experimenteller Biologe war, setzt also in seiner Theoriestrategie damit an, dass er das Organische vom Anorganischen unterscheidet, indem er nüchtern, aber zugleich äußerst folgenreich oder anschlussfähig das „lebendige Ding“ als ein „grenzrealisierendes Ding“ markiert,24 es also in seiner Eigenphänomenalität als ein Ding kennzeichnet, das durch eine Grenzleistung, im Grenzverkehr mit der Umwelt Eigenkomplexität aufbaut; der Stein hört am Rand auf, der Organismus geht aus seiner Grenze über sie hinaus und kehrt durch sie in den Organismus zurück. Das gibt Plessner nicht nur die Möglichkeit, innerhalb seiner 23 Ebd., S. 357. 24 Ebd., S. 99 f.
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philosophischen Biologie die Merkmale des Lebendigen von dieser Bestimmung des Lebens her zu explizieren, sondern auch Stufen der Lebensorganisation zu verfolgen, Organisationsniveaus der Grenzregulierung. Indem er grenzrealisierende Dinge als „Positionalitäten“ umdefiniert, also anonyme „Gesetztheiten“ in der Natur, unterscheidet er Stufen des Organischen, offene und geschlossene Formen, azentrische von zentrischer Positionalität mit jeweils zugeordneten Positionsfeldern oder Umwelten, wobei letztere – die zentrische Positionalität – als senso-motorisch-neuronal ausdifferenzierte bereits die Primaten verständlich machen will. Typisch für die philosophisch-anthropologische Denkoperation und begriffstechnisch auf den Punkt gebracht ist jetzt Plessners Begriff für den Menschen: „Exzentrische Positionalität“.25 Mit diesem Begriff drückt Plessner die Unterbrochenheit des Lebens im menschlichen Lebewesen aus, das als Lebewesen zugleich auf neue Formen der Überbrückung dieser Diskontinuität angewiesen ist, um am Leben zu bleiben. Man könnte sagen: Im Begriff „Exzentrische Positionalität“ werden die 0,6 oder 1,2 % genetische Differenz zwischen Menschen und Menschenaffen, die von den evolutionären Anthropologen oft als Beweis des Kontinuums innerhalb der Primaten einschließlich des so genannten ‚Menschen‘ angeführt werden, anders gewichtet: die „Exzentrizität“ der Positionalität bringt diese minimale genetische Differenz zum Ausdruck, dieses Minimum, das in jeder Hinsicht das Novum im Leben ausmacht. Exzentrizität meint: „Abstand im Körper zum Körper“, das ist Plessners Übersetzungsformel für „exzentrische Positionalität“, oder Abstand im Leben zum Leben (das ist die theorierelevante Unterscheidung zum cartesianischen Alternativprinzip: einerseits Vernunft/Sprache; andererseits Natur/Leben): Die Naturgeschichte ist im Menschen eine Abstandnahme von der natürlichen Umwelt und der Körperlichkeit (der „Positionalität“), aber eine Abstandnahme innerhalb der Natur, die in der Natur gelebt werden muss. Exzentrische Positionalität kennzeichnet dasjenige Lebewesen, das – im Unterschied zu allen anderen Lebewesen einschließlich der Schimpansen und anderen großen Menschenaffen – in der Natur im Modus der „natürlichen Künstlichkeit“ sein Leben führen muss, anders gesagt: das im Modus der „vermittelten Unmittelbarkeit“, das heißt nur im Umweg über künstliche Medien, Institutionen und Instrumente, die natürlichen Impulse des Lebens zum Vollzug und zur Darstellung bringen 25 Ebd., S. 288 f.
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kann.26 Von dieser körperlichen Grundstruktur des Menschen her – „natürliche Künstlichkeit“ und „vermittelte Unmittelbarkeit“ – klärt die Philosophische Anthropologie perspektivisch die komplexen Phänomene der menschlichen Lebensform (um hier schon eine SchelerFormulierung einzufügen, die auch Plessner unterschrieben hätte) auf: „die spezifischen Monopole, Leistungen und Werke“ – „Sprache, Gewissen, Werkzeug, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die darstellende Funktion der Künste, Mythos, Religion, Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaft“27 – man kann noch mit Plessner ergänzen: Lachen und Weinen, das Lächeln und alle ekstatischen Phänomene wie z. B. den Tanz. 2.2 Scheler: Prinzip Geist im Verhältnis zum Prinzip Leben Nun kann man auf die parallele Genese der Philosophischen Anthropologie bei Max Scheler blicken: Im März 1925 kündigt Scheler Plessner gegenüber an, dass er sich zum Wintersemester 1925/26 beurlauben lasse, „um seine Anthropologie und den ersten Band seiner Metaphysik zu schreiben.“28 Im Sommersemester 1925 liest er in Köln über Philosophische Anthropologie, Ende 1925 nimmt er eine Vortragseinladung des Lebensphilosophen Hermann Graf Keyserling zu einer Tagung an, die unter dem Titel „Mensch und Erde“ stehen sollte. Den Darmstädter Vortrag im April 1927 unter dem Titel ‚Die Sonderstellung des Menschen‘ lässt er abgewandelt schon 1927 in Keyserlings Tagungsband erscheinen, wobei er diesen bittet, im Vorwort zu erwähnen, dass sein – Schelers – „gedruckter Tagungsvortrag […] die Quintessenz seines Hauptwerkes ‚Das Wesen des Menschen, neuer Versuch einer philosophischen Anthropologie‘[…], welcher 1928 erscheinen soll“29 ist. Diesen Beitrag lässt Scheler dann im April 1928 als Separatdruck unter dem – kanonisch werdenden – neuen Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos erscheinen, wobei er nun im Vorwort vermerkt, der knapp einhundert Seiten umfassende Text enthalte kompakt einige Hauptpunkte seiner ‚Philosophischen Anthropologie‘, 26 27 28 29
Ebd., S. 309-341. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 67. F. J. J. Buytendijk, H. Plessner, Filosofische Wegwijzer, S. 78. H. Graf Keyserling, Vorbemerkung des Herausgebers, in: Mensch und Erde, hrsg. von H. Graf Keyserling (Der Leuchter, Bd. VIII), Darmstadt 1927, S. 1.
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die ich seit Jahren unter der Feder habe und die zu Anfang des Jahres 1929 erscheinen wird.“30 Mit der Philosophischen Anthropologie geht es Scheler um eine „philosophische Sach-Anthropologie“.31 Entscheidend ist die Blickführung auf die Sache – auf die Sache des Lebens, auf die Sache des Menschen. Die „Wesensontologie“ ist das „Kernstück“ einer solchen sachorientierten Anthropologie. Dabei verlangt nach Scheler die Sache – die Ontologie des Menschen – eine Ontologie des Lebens. Nach einem kursorischen Durchgang durch die Geschichte der Ideenbildung des Menschen über sich selbst setzt Scheler deshalb systematisch mit einer Explikation des Prinzips Leben ein – des Biopsychischen, des psychophysischen Lebens. Der entscheidende Gedanke Schelers gegen Descartes ist: „Das psychophysische Leben ist eins – und diese Einheit ist eine Tatsache, die für alle Lebewesen gilt; also auch für den Menschen.“32 Eine „Biologie von innen“ ist komplementär zu einer „Biologie von außen“. „Was wir also ‚physiologisch‘ und ‚psychologisch‘ nennen, sind nur zwei Seiten der Betrachtung eines und des selben Lebensvorganges.“33 Von den anorganischen Dingen, die er als „Kraftzentren“ im Kosmos kennzeichnet, unterscheiden sich phänomenal die „Dinge, die wir ‚lebendig‘ nennen“, objektiv durch „Selbstbewegung, Selbstformung, Selbstdifferenzierung, Selbstbegrenzung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht“ – und diese vitalen Dinge besitzen zugleich phänomenal bereits ein „Fürsich- und Innesein“, in dem sie im Ding, das sie sind, „sich selbst inne werden“ – das ist die „psychische Seite der [physiologischen] Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt – das psychische Urphänomen des Lebens.“34 Das kategoriale Novum der lebendigen Dinge im Verhältnis zu den anorganischen Körpern ist laut Scheler der „Drang“, der „Gefühlsdrang“: Anders als die bloßen „Kraftzentren und -felder“ des Anorganischen tendieren sie über ihren Rand hinaus, umgekehrt 30 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 9. 31 M. Scheler, Philosophische Anthropologie, in: ders., Schriften aus dem Nachlaß (= Gesammelte Werke, Bd. 12), Bd. 3, hrsg. von M. S. Frings, Bonn 1987, S. 17. 32 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 60 f. 33 Ebd., S. 58. 34 Ebd., S. 12. Es geht Scheler um eine sachadäquate Zuschreibung der Kategorie des „Psychischen“ – restriktiv nach zwei Seiten: „Die Lehre, das Psychische beginne erst mit dem ‚assoziativen Gedächtnis‘ oder erst im Tiere – oder gar erst im Menschen (Descartes) – hat sich als irrig erwiesen. Willkürlich ist es, dem Anorganischen Psy chisches zuzuschreiben.“ (Fn. ebd.)
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widerfährt ihnen innen etwas von außen: „Ein bloßes ‚Hinzu‘, z. B. zum Licht, und ‚Vonweg‘, eine objektlose Lust und ein objektloses Leiden“ sind die „zwei einzigen Zuständlichkeiten“ des drangerfüllten Dinges.35 Auf dieser Basis des Prinzips Leben rekonstruiert Scheler nun den „Aufbau der biopsychischen Welt“ im Reich vitaler Dinge – er rekonstruiert eine „Stufenfolge der [bio-]psychischen Kräfte und Fähigkeiten“ durch Pflanzen und Tiere bis hin zu den Menschenaffen. Dabei unterscheidet er typologisch vier Stufen des Biopsychischen bzw. Stufen der Organisation des Organischen: „Lebensdrang“, „Instinkt“, „assoziatives Gedächtnis“, „praktische Intelligenz“, wobei er mit dieser letzten Stufe des Organischen die Ebene der Primaten anspricht. Um nun den komplexen Begriff des Menschen, seine „Sonderstellung“ zu erreichen, führt er unter der Voraussetzung des Prinzips Leben, ohne das auch das menschliche Lebewesen nicht existiert, das Prinzip Geist ein, wobei ihm jetzt die Verschränkung beider Prinzipien – von Leben und Geist – die Bildung von charakteristischen Leitbegriffen erlaubt („Neinsagenkönner“, „Weltoffenheit“, „Lenkung und Leitung“ von Trieben), um die menschliche Sphäre zu kennzeichnen und aufzuschließen. Programmatisch bekundet Scheler, von hier aus alle Monopole des Menschen erschließen zu können (die von uns am Ende der Plessner-Darstellung zitiert wurden) – faktisch führt er die Philosophische Anthropologie aber in der Schrift zur Stellung des Menschen nur am Phänomen der religiösen und metaphysischen Disposition des weltoffenen Lebewesens durch. Worauf es zum Verständnis ankommt, ist, warum Scheler mit diesem Text zur Grundlegung einer Philosophischen Anthropologie glauben konnte, einen neuen Theorieschritt innerhalb seiner Denkentwicklung erreicht zu haben – der auch über die bisherige Bindung an die Phänomenologie hinausging. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein 99 Seiten umfassendes, von Scheler geschriebenes Manuskript, das sich unter dem Titel „Monopole des Menschen im Ganzen der Lebewelt“36 im Nachlass findet. Es ist über weite Strecken 35 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 13. 36 Scheler-Nachlass, Universitätsbibliothek München, B I, 17. Der Scheler-Herausgeber Manfred S. Frings („Nachwort des Herausgebers“, in: M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 345 f.) hat den Darmstädter Vortrag von 1927 zunächst nicht auf dieses Manuskript zurückverfolgt, dann aber im Nachwort zu Gesammelte Werke, Bd. 12, das „Vortragsmanuskript“ erwähnt; in diesem Band sind auch Einzelstücke aus diesem Manuskript veröffentlicht: M. Scheler, Philosophische Anthropologie, z. B. S. 192-195. Zu diesem sog. „Vortragsmanuskript“ auch W. Henckmann,
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in Gliederung und Wortlaut mit der später veröffentlichten Fassung deckungsgleich, hat aber in durchgestrichenen und neu einsetzenden Formulierungen den Anschein der ersten Niederschrift. Gleich, ob man mit diesem Manuskript nun die Matrize für den Darmstädter Vortrag oder erst für die spätere Textfassung in Händen hat, aufschlussreich für die pragmatische Differenz zwischen Philosophischer Anthropologie und Phänomenologie ist bereits der Titel des Manuskripts: Mit „Lebewelt“ oder „das Ganze der Lebewelt“ ist begrifflich die Dimension des pflanzlichen und tierischen Lebens, mithin die gesamte organische Welt des Lebendigen als konstitutive Voraussetzung der Reflexion über die spezifisch menschliche „Lebewelt“ (und ihre „Monopole“) einbezogen, was sich offensichtlich konzeptionell prinzipiell unterscheidet von dem von Husserl eingeführten phänomenologischen Begriff der „Le benswelt“, mit dem ja immer strikt der Horizont der sinnhaft bereits vom Menschen erschlossenen menschlichen Lebenswelt angesprochen ist. Was die phänomenologische Philosophie gleichsam von innen her erschließt (als „Lebenswelt“), wird in der nun neuen Philosophischen Anthropologie bei Scheler zugleich von außen, von der Seite aus, in seinem Sitz in der Natur („Lebewelt“) beobachtet und rekonstruiert. Scheler unternimmt von seinem Neueinsatz aus gleichsam eine philosophisch-anthropologische Beobachtung der Bedingungen der Möglichkeit der Phänomenologie, insofern er im Durchgang durch die ‚Lebewelt‘, deren Prinzip durch das Prinzip des Geistes unterbrochen wird, die Bedingungen der Möglichkeit von „Intentionalität“ auftauchen lässt. Und noch etwas anderes ist für den Status der neu konzipierten Philosophischen Anthropologie bei Scheler aufschlussreich, wenn man das erwähnte Manuskript „Monopole des Menschen im Ganzen den Lebewelt“ als Vorstufe des schließlich veröffentlichten Textes mit einbezieht. Es ist offensichtlich, dass Scheler im Verlauf des Veröffentlichungsprozesses mit der Modifikation des Titels „Monopole des Menschen im Ganzen der Lebewelt“ zu „Die Sonderstellung des Menschen“ (Darmstädter Vortrag), wo „Sonderstellung“ den semantischen Konnex mit den menschlichen Monopolen behält, und schließlich zur Stellung des Menschen im Kosmos den Fokus zur metaphysischen Fragestellung hin verlagert. Man sieht aber doch deutlich, „Zur Metaphysik des Menschen in Schelers Schrift ‚Die Stellung des Menschen im Kosmos‘“, in: G. Raulet (Hrsg.), Max Scheler. L’anthropologie philosophique en Allemagne dans l’entre-deux-guerres. Philosophische Anthropologie der Zwischen kriegszeit, Paris 2002, S. 62-95, hier S. 62 f.
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dass er systematisch im Schlüsseltext der Philosophischen Anthropologie diese selbst von der metaphysischen Ambition seiner Philosophie trennt. Scheler hat zwar durchaus Interessen gehabt an einer Metaphysik, an einer modernen „Metaphysik des Absoluten“, aber er hat die „philosophische Anthropologie“ nicht nur ausdrücklich von dieser „Metaphysik des Absoluten“ getrennt, sondern sie sogar als (transzendentale) Voraussetzung einer solchen Metaphysik betrachtet. Mithin liegt bei Scheler nicht immer schon eine ‚metaphysische Anthropologie‘ vor, in der „philosophische Anthropologie“ selbst abhängig gedacht wäre von der Metaphysik des Absoluten, sondern philosophische Anthropologie fungiert umgekehrt als quasitranszendentale Voraussetzung, als „Sprungbrett“ einer solchen Metaphysik. Nur diese Fundierungsordnung erklärt, warum Scheler von „moderner Metaphysik“ spricht. Nach der Kantischen Philosophie kann – sagt Scheler – eine Metaphysik keine „Gegenstandsmetaphysik“ mehr sein, sondern nur „Metanthropologie“.37 In dieser Weise lassen sich die Schlusspassagen von Stellung des Menschen im Kosmos als philosophisch-anthropologische Aufklärung über die religiöse und metaphysische Disposition des weltoffenen Lebewesens verstehen – Dispositionen, die Scheler nicht als bloße Projektionen verstanden wissen will, sondern nach ihrer philosophisch-anthropologischen Rekonstruktion dann in Perspektive einer Metaphysik ausgewertet haben möchte. 2.3 Die strukturelle Parallelität von Plessners und Schelers Philosophischer Anthropologie Man kann feststellen, dass sowohl Scheler als auch Plessner in ihren beiden Schriften unter dem Titel einer ‚philosophischen Anthropologie‘ so etwas wie eine fundamental neue Disziplin der Philosophie ansteuerten – aber in der parallelen Art, wie sie die Sache anfingen, wie sie das Projekt betrieben, eine bei allen Unterschieden charakteristische Vorgehensweise auftauchte, in der unter dem Titel ‚Philosophische Anthropologie‘ eher eine Art neues Paradigma kenntlich wurde.38 Die 37 Diese Erläuterung im zeitgleich verfassten Text „Philosophische Weltanschauung“, in: M. Scheler, Späte Schriften (= Gesammelte Werke, Bd. 9, hrsg. von M. Frings), S. 82 f. 38 Zu dieser Unterscheidung zwischen einer zeitgleich ausgebildeten Disziplin ‚philo sophische Anthropologie‘ (z. B. B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie (1928), Darmstadt 1969; später M. Landmann, Philosophische Anthropologie, Berlin 1955)
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These ist, dass sie bei aller Verschiedenheit des Duktus, der Begriffswahl, der Themenschwerpunkte, der Beweglichkeit in der Anschauung (die bei Scheler ausgeprägter war), vielleicht auch der weiterführenden Absichten sich – ebenso wie die Zeitgenossen, soweit sie Texte zur Kenntnis nahmen – in ihrer 1927 ausbrechenden Rivalität nicht getäuscht haben, als eine doch einschlägige Parallelaktion ihrer nun vorliegenden Entwürfe unter dem Titel der „Philosophischen Anthropologie“ erkennbar wurde. Was war augenscheinlich die in dieser Weise nicht intendierte Gemeinsamkeit? Nicht etwa die Thematik des „Menschen“, sondern die Art des Vorgehens: Die Entwicklung einer „philosophischen Biologie und Anthropologie“ oder besser: die Entfaltung der philosophischen Anthropologie im Durchgang durch eine „philosophische Biologie“ – der „naturphilosophische Ansatz“. Darin beschlossen lag die Wende vom Subjektpol zum Objektpol und der Ansatz von unten her, um über dieses Umwegverfahren idealistische Figuren und die Monopole des Menschen unverkürzt, vielmehr vitalrealistisch angereichert zu erreichen. Wenn naturalistische oder materialistische Theorien zum Theorietypus vertikaler Reduktion gehören, in der alle Aussagen über den Menschen in natur- oder lebenswissenschaftliche Begriffe übersetzt werden und die geistigen Monopole in seine Körperlichkeit abgebaut werden, dann wird sowohl in den Initialschriften von Scheler als auch von Plessner die Philosophische Anthropologie als ein Theorietypus vertikaler Emergenz kenntlich,39 die den Begriff des Lebens im Rahmen einer weder theologischen noch teleologischen Stufentheorie (Stufen des Organischen, biopsychischer Aufbau, kontrastiver Pflanze-Tier-Mensch-Vergleich) so entwickelt, dass sich mit Bezug auf ihn – den Begriff des Lebens – die Sonderstellung des Menschen exponieren kann. Selbstverständlich haben Scheler und Plessner je andere Begriffe für diese „Sonderstellung“ vorgeschlagen. Wenn man die Kategorienbildung bei Scheler und Plessner bezogen auf den Menschen in beiden Schriften aber genauer ansieht, sind sie doch ähnlicher als der erste Anschein der Begriffe vermuten lässt – und das wird den Protagonisten nach der Veröffentlichung bewusst gewesen sein. Scheler verwendet zwar zwei Begriffe („Drang“ und „Geist“) für die Kennzeichnung des Menschen, aber sie werden und einem Paradigma ‚Philosophische Anthropologie‘ vgl. J. Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 482 ff. 39 Zu den Begriffen der vertikalen Reduktion und vertikalen Emergenz: Ch. Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004, S. 19 ff.
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als zwei unabhängige Prinzipien von vornherein im Menschen als einander verschränkt vorgestellt. Plessner hingegen findet einen Kombinationsbegriff „exzentrische Positionalität“ für den Menschen, trennt dabei aber gedanklich systematisch das Prinzip „Exzentrizität“ vom Prinzip „Positionalität“: „Exzentrizität“ ist das formal der „Positionalität“ entzogene Prinzip (d. i. das Schelersche „Aktzentrum“), wobei es aber auf die Positionalität (als Prinzip des Lebens) material bezogen bleibt. Die Verhältnisbestimmung zwischen „Geist“ und „Drang“ ist bei Scheler genauso vorgestellt wie bei Plessner das duale Verhältnis zwischen (nicht zu vergegenständlichender) „Exzentrizität“ und (dinglicher) „Positionalität“, wie es z. B. in Schelers Formulierung deutlich wird: „Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen.“40 Und Scheler formuliert auch die These der gegenseitigen Ergänzung von Positionalität und Exzentrizität und ihrer Hinordnung aufeinander in seinen Termini: „So wesensverschieden aber auch ‚Leben‘ und ‚Geist‘ sind, so sind doch beide Prinzipien im Menschen aufeinander angewiesen: der Geist ideiert das Leben – den Geist aber von seiner einfachsten Aktregung an bis zur Leistung eines Werkes, dem wir geistigen Sinngehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzen und zu verwirk lichen vermag das Leben allein.“41 Sowohl bei Scheler als auch bei Plessner wird Philosophische Anthropologie als eine Theoriestrategie im naturalistischen Zeitalter kenntlich – ein Umdrehen des Spießes des Reduktionismus: Es werden nicht höhere Kategorien auf niedere reduziert, sondern es wird gezeigt, wie höhere im Feld niederer Kategorien auftreten (Nicolai Hartmann). Operative Leitbegriffe sind Unterbrochenheit, Dissoziation in den Naturprozessen, um der Eigenphänomenalität des Organischen; dann Differenz, Suspension, Hiatus im Lebendigen, um der Eigenphänomenalität des Menschen gerecht zu werden. Ohne Natur bzw. Leben kann es nicht zu Geist, ohne Positionalität nicht zu Exzentrizität kommen; aber Geist oder Exzentrizität sind als Prinzipien nicht abhängig vom Prinzip Leben oder vom Prinzip Positionalität; andererseits können sie sich als Prinzipien nur in Anlehnung an das Prinzip Leben oder Positionalität realisieren – eben verkörpern. Mit dieser Theorie40 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 38. 41 Ebd., S. 62.
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strategie sind der Idealismus (die Selbstmacht des setzenden Geistes oder Diskurses) ebenso in Schach gehalten wie der Naturalismus (die Eigenmacht der Natur). Man kann den spezifischen, originären Zugriff der Philosophischen Anthropologie im Vergleich zur Kantischen Doppelformel der „Anthropologie“ deutlich machen, die dem cartesianischen Dualismus nachfolgt: Anthropologie in physiologischer Hinsicht „geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht“; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hingegen geht auf das, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll.“42 Dieser dualistischen Anthropologie gegenüber lassen sich die Verschränkungsformeln der Philosophischen Anthropologie so formulieren: Zu zeigen ist erstens, wie die Natur den Menschen so macht, dass er etwas aus sich selbst machen muss, und zweitens, dass er nur etwas aus sich selbst machen kann in der Natur – oder im Verhältnis zu seinem Körper, den er immer ins Spiel bringen muss. Evident wird damit die Abgrenzung der Philosophischen Anthropologie von anderen Denkrichtungen, vornehmlich vom Naturalismus: Philosophische Anthropologie ist keine letztlich biologische Begründung des menschlichen Lebens – weder bei Scheler noch bei Plessner (oder Gehlen) –, sondern operiert umgekehrt mit einem philosophisch besonnenen Begriff des Lebens, um die menschliche Lebensform in ihrer Sonderstellung zu erreichen. Von der Transzendentalphilosophie bzw. dem Idealismus ist die Philosophische Anthropologie verschieden durch ihre tiefe Konzession an den Naturalismus: nicht bei den Leistungen des Bewusstseins, des denkenden Subjekts, der ‚Setzung‘ anzusetzen, sondern beim anonym gesetzten Leben in seinem Funktionskreislauf. Von der Existenzphilosophie ist das Paradigma unterschieden, weil es den Körper dem Leib vorordnet, also nicht bei dem eigenleiblich gespürten Leib einsetzt. Im Unterschied zur Phänomenologie wird deren Ausgangspunkt – die Intentionalitätsrelation des Bewusstseins – selbst noch einmal in einer vorausgesetzten Korrelation von Organismus-Umwelt fundiert. Gewisse Affinitäten der Philosophischen Anthropologie zu bestimmten anderen Denkansätzen sind seitens der Autoren natürlich früh erkannt und diskutiert worden, so vor allem von Scheler und Gehlen zum amerikanischen Pragmatismus (Dewey, Mead) – zur französischen Phänomenologie (Merleau-Ponty, Sartre) vor allem bei Plessner. 42 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg 1980, S. 3.
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Als Paradigma ist die Philosophische Anthropologie selbstverständlich dann auch einer der spezifischen Denkansätze in der oben erwähnten Disziplin der philosophischen Anthropologie. Oder, um es noch einmal mit einer Analogie zu sagen: Philosophische Anthropologie als Paradigma verhält sich zur philosophischen Anthropologie als Disziplin so wie z. B. die Kritische Theorie der Gesellschaft (als Paradigma) zur Sozialphilosophie (als Disziplin, die mehrere Ansätze kennt, etwa noch den Neoaristotelismus oder die Systemtheorie). Als ein eigenes Paradigma lässt sich die Philosophische Anthropologie dann aber auch – über die Disziplin der philosophischen Anthropologie hinaus – als ein eigener Ansatz in der Erkenntnistheorie, in der Ethik, in der Sprachphilosophie, in der „modernen Metaphysik“ (Scheler) etc. verfolgen – vor allem aber in der Funktion für die Grundlegung der Geistes- und Sozialwissenschaften. 3. Die Pointe: Nachhaltigkeit der Theorie des Lebens in der Erforschung der Welt des Menschen bei Plessner und Scheler Ein Zwischenfazit: Um den cartesianischen Dualismus zu entkräften bzw. zu überwinden, bedarf es sowohl nach Plessner als auch nach Scheler konstitutiv einer genau durchdachten philosophischen Biologie als Voraussetzung einer Philosophischen Anthropologie. Und deutlich wird: Plessner und Scheler haben in Grundzügen einer solchen für die Philosophische Anthropologie konstitutiven Biologie in je eigener Begriffssprache parallel argumentiert – was trotz aller Rivalität die Argumentation in der Sache stärkt (‚doppelt hält besser‘). Die eigentlich interessante Frage bleibt abschließend zu klären: Da die Philosophische Anthropologie bei beiden Denkern wiederum eine Fundierungsfunktion für die Geistes- und Sozialwissenschaften übernehmen sollte: Lassen sich die Funktionen und Folgen dieser Theorie des Lebens für die Theorie des Menschen, des menschlichen Lebens erkennen? Lässt sich eine Nachhaltigkeit der Vitalkategorien bei Plessner und Scheler in den anthropologischen Kategorien zeigen? Inwiefern kehren die Vitalkategorien – exzentrisch oder ‚geistvoll‘ verwandelt – in der sozial- und geisteswissenschaftlichen, hermeneutischen Erschließung des menschlichen Lebens wieder?
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3.1 Die Bedeutung der Biophilosophie für Plessners anthropologische Theorie der „Verkörperung“: Rolle und Darstellung – Lachen und Weinen Inwiefern kehren bei Plessner die Vitalkategorien – allen voran die Schlüsselqualität der Grenzbildung des Organischen – verwandelt in seiner analytischen Durchdringung des menschlichen Lebens wieder? Gibt es eine Abwandlung und Überlagerung dieser Lebenskategorien durch das Novum des menschlichen Lebens? Wie wird Positionalität durch Exzentrizität verwandelt? Und lässt sich die Bedeutung der Biophilosophie für seine kultur- und sozialwissenschaftliche Arbeit nachträglich zeigen, und zwar mit Plessner selbst?43 D. h. unter Hinzuziehung von späteren Schriften von Plessner, wo er durchaus, auch wenn nicht mit letzter Klarheit und Deutlichkeit, die Relevanz der im Theorieansatz hochgefahrenen philosophischen Biologie für die philosophische Anthropologie zeigt? Diese systematische Nachhaltigkeit der Plessnerschen philosophischen Biologie soll an zwei Beispielen gezeigt werden: an der Maskenund Rollentheorie von Plessner sowie an der Grenzreaktionstheorie von Lachen und Weinen. Dieser Aufweis eines inneren Zusammenhanges von philosophischer Biologie und philosophischer Anthropologie bei Plessner selbst ist selbstverständlich exemplarisch und fragmentarisch – tendenziell könnte man diesen Konnex noch in ganz anderen Dimensionen aufzeigen (z. B. der „Ästhesiologie des Geistes“ in der Differenz verschiedener Sinne) –; die philosophische Biologie Plessners im Hinblick auf ihre Funktionen und Folgen für seine Philosophische Anthropologie ist noch ganz unausgeschöpft.44 3.1.1 Die Erscheinungshaftigkeit des Lebens an seiner Grenzfläche und die Kleidertheorie des Menschen Anders als in den Stufen von 1928 hebt der ergänzende Kommentar von 1965 zur 2. Auflage deutlich auf die Erscheinungshaftigkeit des 43 ‚Nachträglich‘ meint: Da Plessner meiner Einschätzung nach diesen Aufweis in dem Stufen-Buch (im 7. Kapitel) nicht wirklich leistet, nicht wirklich durchführt und damit in gewisser Weise zum ausbleibenden Durchbruch seines Hauptwerkes selbst beiträgt, muss man die von ihm gemeinte Relevanz der „philosophischen Biologie“ für die philosophische Anthropologie rekonstruieren. 44 H. Plessner, „Die Frage nach der Conditio Humana“ (1961), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1985, S. 136-217.
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Organischen an seiner Grenzbildung ab. Die philosophische Biologie Plessners mit ihrer grenztheoretischen Deduktion des Organischen will gegen die Reduktion vitaler Prozesse auf Prozesse chemischer und physikalischer Art auf die Eigenqualität des Vitalen hinaus: „dass sie als Gestalten erscheinen und insofern, nämlich erscheinungsmäßig, eine besondere Qualität besitzen, die sich darstellt. Dieser Darstellungsaspekt ist ein Effekt, der als Organisation selbst wieder auf die [vitalen, Hinzufügung J. F.] Prozesse zurückwirkt.“45 „Die Form als Manifestation der Grenze ist ein wesentlicher Index der Lebendigkeit. Deshalb gewinnt das Aussehen in der Skala von primitiver zu hoher Organisation an Bedeutung für den Organismus. Seiner Erscheinung ist dann Lebendigkeit nicht nur anzusehen, sondern sie wird zu einem Organ, zu einem Mittel seines Daseins. Das Aussehen als Lockmittel, Schutz (Mimikry), Abschreckung, Imponiergehabe wird in den Lebenszyklus eingebaut, aber als Aussehen und Darstellung wird die Gestalt des Organismus, wie A. Portmann sagt, zur eigentlichen Erscheinung. ‚Selbstdarstellung muß als eine der Selbsterhaltung und Arterhaltung gleichzusetzende Grundtatsache des Lebendigen aufgefaßt werden.‘ Und anknüpfend an meine Theorie der Grenze sagt er: ‚Die Grenzfläche, die opak wird, stellt einen höheren Grad der ‚Grenzmöglichkeiten‘ dar, die im höheren Organismus eine bedeutsame Rolle spielen: die Darstellung durch Gestaltung der Grenzfläche ist im weitesten Beziehungsfeld der einfacheren Organisation ‚unadressiert‘, nicht auf andere Lebensformen gerichtet, sondern schlichteste Manifestation im Lichtraum. Sie trägt aber in sich schon alle die Potenzen, welche bei höherer Organisation auch die gerichtete, die ‚adressierte‘ Darstellung verwirklichen […]‘.“46 „Damit die Gestalt als solche anlockende oder abstoßende, maskierende oder faszinierende Wirkung auszuüben vermag, sind entsprechende Rezeptoren auf der Gegenseite nötig: Aussehen setzt Sehen voraus.“47 Plessners grenztheoretisch angelegte Biologie bietet also eine These zur Eigenphänomenalität von Phänomenen an ihrer Oberfläche, an der Ausdrucksfläche. Und diese philosophische Biologie der Erscheinungshaftigkeit des Lebens kehrt verwandelt in der Philosophischen Anthropologie der Öffentlichkeit der Menschen wieder, die Plessner in Grundzügen bereits vor den Stufen in seiner sozialtheo45 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 350. 46 Ebd., S. XXIII. 47 Ebd., S. 350.
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retischen Grundschrift Grenzen der Gemeinschaft (1924) exponiert hatte. Wegen ihrer exzentrischen Positioniertheit stehen menschliche Lebewesen in einem besonderen, einem instabilen Erscheinungscharakter voreinander: ihre Grenzfläche, ihr Ausdruck verrät zugleich zu viel und zu wenig von der Innenwelt. Die sich selbst verbergend-aufschließenden Lebewesen benötigen im Blickfeld eine Grenzziehung, die „bei einem Maximum an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ein Maximum an Sicherheit vor dem ironischen Zerstörerblick, bei einem Maximum an seelischem Beziehungsreichtum zwischen den Menschen ein Maximum an gegenseitigem Schutz voreinander verbürgt.“48 Die Individuen müssen sich eine „Form“ geben, in der sie voreinander erscheinen und zugleich unangreifbar werden. Plessner definiert hier die künstliche, irreale Grenze als Medium des Sozialen: „Eine Form, die unangreifbar macht, hat stets zwei Seiten, sie schützt nach innen, und sie wirkt nach außen. Das kann sie aber nur, wenn sie definitiv verhüllt.“ Diese irreale Grenze ist die „Maske“ oder die „Rolle“, die das menschliche Lebewesen spielt, schauspielert: „Mit dieser irrealen Kompensation maskiert sich [...] der Mensch, er verzichtet auf sein Beachtet- und Geachtetwerden als Individualität, um wenigstens in einem stellvertretenden Sinne, in einer besonderen Funktion, repräsentativ zu wirken und geachtet zu sein. [...] Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden.“ Die Maske ist eine Sehnsucht der Seele, aber eine Erfindung des Geistes und eine Durchführung des Körpers: Sie ist eine künstliche Ausdrucksgrenze. In dieser artifiziellen Verfremdung des Ausdruckslebens durch ein System der Masken und „Rollen“ liegt für Plessner „die Rechtfertigung aller gesellschaftlichen Struktur, [...] die Unvermeidlichkeit und Erwünschtheit der sozialen Abstraktionen überhaupt“,49 an die sich erst ökonomische Zweckmäßigkeiten sozialer und funktionaler Differenzierungen anlagern. Plessner fundiert also die soziokulturelle Phänomenalität der ‚Öffentlichkeit‘, genauer der Strukturdifferenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in der Biologie der Erscheinung des Lebendigen überhaupt, das an seiner Grenzfläche immer bereits auf eine regulierte Differenz zwischen Innen und Außen disponiert ist. 48 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), mit einem Nachwort von J. Fischer, Frankfurt a. M. 2002, S. 79. 49 Ebd., S. 83.
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3.1.2 Das Regenerationspotential des Organischen und die salutogenetischen Grenzreaktionen des Lachens und Weinens beim Menschen Plessners philosophische Biologie ist ja vor allem eine Auseinandersetzung und Überbietung von Drieschs Philosophie des Organischen. Der Leitbegriff der Grenzrealisierung soll zugleich die von Driesch im Ganzheitsbegriff kategorial angestrebte Eigenqualität des Lebendigen aufbewahren und Drieschs spekulativen Neovitalismus einhegen, ernüchtern, um so sachlich wie möglich der empirischen Biologie gerecht zu werden. Driesch prägte den Begriff des „harmonisch äquipotentiellen Systems“ für das Phänomen des Organischen (im Unterschied zum Anorganischen), um die beobachtete Regulation, vor allem die Phänomene der Regeneration in verletzten Geweben und Organen und schließlich der Restitution ganzer Organe und Organismen adäquat beschreiben zu können. Diese vitale Wiederherstellung von Ganzheit im Lebensprozess interpretiert Plessner ebenfalls grenztheoretisch.50 Verfolgt man nun bei Plessner die Nachhaltigkeit der philosophischen Biologie in der Philosophischen Anthropologie, dann kehrt die Regenerations- und Restitutionsfähigkeit des Organischen auf der gebrochenen Ebene des menschlichen Lebens wieder, und zwar in den von Plessner nach den Stufen so sorgfältig umkreisten Phänomenen des „Lachen und Weinens“.51 Lachen und Weinen – um es vorweg zu sagen – sind nur dem menschlichen Lebewesen mögliche Salutogenesen in nur ihm möglichen Verletzungen bzw. Traumatisierungen. Gerade hier wird die Pointe der Vorschaltung einer philosophischen Biologie vor die philosophische Anthropologie besonders deutlich, die Vorschaltung der Kategorie „Positionalität“ vor der Kategorie „Exzentrizität“, eine Vorschaltung, die aus systematischen Gründen auch noch für den Begriff „exzentrische Positionalität“ selbst gilt. „Positionalität“ ist derjenige Grundzug von Lebewesen, „welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht.“52 Die Pointe des Begriffs „Positionalität“ ist die Umkehrung des Primats vom Aktbegriffs der „Setzung“, also dem Schlüsselbegriff des Deutschen Idealismus 50 Vgl. dazu den Beitrag von Toepfer in diesem Band. 51 H. Plessner, Lachen und Weinen, Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: ders., Philosophische Anthropologie: Lachen und Weinen; Das Lächeln; Anthropologie der Sinne, hrsg. von G. Dux, Frankfurt a. M 1970, S. 11-171. 52 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 129.
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für den „aktiven“ Akt des Denkens, zum Widerfahrnisbegriff der „Ge setztheit“ als Schlüsselbegriff für das Leben. Plessner hat diese von ihm bewusst vollzogene lebensphilosophische Kehre von Fichtes setzendem und sich selbst setzendem Denksubjekt zum anonym „gesetzten“ Lebenssubjekt ausdrücklich vermerkt. Das „grenzrealisierende Ding“ ist so „gesetzt“, dass „es einerseits über es hinaus setzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt), andererseits in es hineinsetzt (in ihm setzt)“.53 Jede Rede von einem (subjektphilosophisch) aktiv setzenden ‚Ich‘ oder gar (sozialkonstruktivistisch) von einem ‚Wir‘, das eine erste Konstruktion vornimmt, ist damit hinsichtlich des „Lebens“ im Ansatz der Philosophischen Anthropologie vermieden. Lebendige Dinge sind eben nicht – autopoietisch – sich selbst erzeugende, sich selbst konstituierende Dinge, sondern sie finden sich in ihrem physischen Sein in einer Art abhängigen Unabhängigkeit „positioniert“ vor, in einer umweltbezogenen Grenze, die sie durchhalten müssen. Wie skizziert, operiert Plessner dann mit Steigerungsstufen der „Positionalität“, um Lebensniveaus als „Stufen des Organischen“ interpretieren zu können – einschließlich des Menschen. Auf der Ebene des Tieres handelt es sich insofern um die „zentrisch“ vermittelte „Positionalität“, auf der Ebene des Menschen um die „exzentrisch“ vermittelte „Positionalität“. Diese Steigerungsstufen bedeuten Transformationen des Organischen: die als „zentrische Positionalität“ charakterisierte Lebensform kennt sinnliche Wahrnehmung und Verhaltensantworten auf Herausforderungen und Chancen der Umwelt, die als „exzentrische Positionalität“ bestimmte Lebensform des Menschen ist zur Freiheit verurteilt, selbst „Setzungen“, Konstruktionen vorzunehmen, Grenzen zu ziehen. Erst im Grundgesetz der „natürlichen Künstlichkeit“ taucht kategorial die „Setzung“ auf, die aktive Konstruktion, zu der ein exzentrisch positioniertes Lebewesen – mit anderen zusammen – disponiert ist. Aber immer, auch in der „exzentrischen Positionalität“, bleibt das Moment von „Positionalität“ in Kraft, der ‚Es-Charakter‘ des Lebens, der passivische Grundzug des Getragen- und Getriebenseins; auch das menschliche „lebendige Ding“ ist „gesetzt“, eingesetzt, ausgesetzt, in den Kosmos versetzt. Plessners glasklare Formel für das Durchziehen dieser naturphilosophischen Dominante bis in die „exzentrische Positionalität“ ist zugleich ein Zungenbrecher: „Dieses In-
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dividuum ist in das in seine eigene Mitte Gesetztsein gesetzt“ oder die „Grenzgesetztheit des Mensch genannten Dinges“.54 Lachen und Weinen werden nun als eigenartige, aber spezifisch menschliche Phänomene von Plessner aus dem skizzierten Ansatz der Stufen des Organischen und der Mensch erschlossen. Sie sind Äußerungsphänomene, und innerhalb dieser Äußerungsphänomene als Äußerungen scharf von den entlang und innerhalb von Sinnsetzungen sich einspielenden Äußerungen – des Sprechens, der zielgerichteten Körperbewegungen, der transparenten Ausdrucksgebärden – unterschieden. Von der philosophischen Biologie her ist klar, dass alles Verhalten mit energetischem Bezug auf die Umwelt verstanden wird, alles Verhalten – auch das der exzentrischen Positionalität – steht im Spannungsbogen einer Antwort auf eine fragende Situation. Sprechend und handelnd, also mit aktiven Setzungen innerhalb von filternden Sinnsystemen, bewältigt das menschliche Lebewesen die Herausforderungen der „Weltoffenheit“. Anders Lachen und Weinen: „Gemeinsam ist Lachen und Weinen, daß sie Antworten auf eine Grenzlage sind [...] Krisenreaktionen von Antwortcharakter.“55 „Lachen beantwortet die Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte, Weinen die Unterbindung des Verhaltens durch Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins.“ Die Herausforderungslage ist die Epiphanie der „Weltoffenheit“ im Alltäglichen, die plötzliche „Begegnung mit Losgelöstem“, anders gesagt mit ‚Absolutem‘, das nicht innerhalb von Sinnverweisungen abgefiltert werden kann, und eine solche vitale Herausforderungslage ist nur einem exzentrisch positionierten, einem „weltoffenen“ Lebewesen überhaupt möglich. Diesem „Losgelösten“56 oder Absoluten gegenüber antwortet – und zwar zwecks Regeneration der Lebensfähigkeit – eine Restitution von Vitalität in Krisen des Geistes – eine Verselbstständigung des menschlichen Körpers, der Mensch „verfällt ins Lachen, er lässt sich fallen – ins Weinen.“ „Dieses Ins-Lachenund Weinen-Geraten und -Verfallen zeigt, zumal im Hinblick auf den eigentümlich selbständigen Prozeß, der dann einsetzt und sich häufig der Dämpfung und Steuerung bis zur völligen Erschöpfung entzieht, einen Verlust der Beherrschung, ein Zerbrechen der Ausgewogenheit
54 Ebd., S. 290, S. 292. 55 H. Plessner, Lachen und Weinen, S. 165. 56 Ebd., S. 170.
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zwischen Mensch und physischer Existenz.“57 Diese an und in ihm selbst verselbständigte Natur erlebt der Mensch als sinnvolle Antwort – auf Krisen des Sinns, für die es keine Problemlösung aus dem Reservoir der Setzungen und Konstruktionen mehr gibt. „Lachen und Weinen […] kann der Mensch nur, wenn er sich ihnen überläßt. […] Während die Übergangslosigkeit im Lachen gern mit Ausdrücken des Platzens, Berstens, Explodierens angedeutet wird, versteckt sie sich beim Weinen unter der eigentümlich reflexiven Haltung des Weinenden, der sich loslassen muß, um die Lösung zu finden.“58 Alles kommt Plessner darauf an, dass Lachen und Weinen phy siologisch verselbständigte „Grenzreaktionen“ sind, also gerade kei ne sozio-kulturellen Setzungen oder Konstruktionen des Ausdrucks (wohl aber sozio-kulturell modifizierbar), sondern von Natur in die spezifische Körpergestalt des Menschen eingefügte Reaktionsweisen. Lachen und Weinen werden als verselbständigte Körperreaktionen beschrieben, die von sich aus einspringen, wenn die menschliche Sinnorientierung des Geistes situativ an „absolute“ Grenzen stößt. Man kann auch sagen: Wenn die Möglichkeiten der Problemlösung in einer Situation absolut erschöpft sind, dann ist dieses Problem, keine Problemlösung mehr zu haben, für den Menschen von Natur aus in der Verhaltensgestalt seines Körpers bereits gelöst, indem die sich verselbständigende „Positionalität“ ihn durch Krisen seiner „Exzentrizität“ hindurchträgt. Anschließend, nach den im Lachen oder Weinen durchlittenen Zuckungen und Krämpfen der „Positionalität“, wie kurz auch immer, fühlt sich der Mensch in seiner „exzentrischen Positionalität“ wie neugeboren. Lachen und Weinen sind also gleichsam ‚bio-anthropologische‘ Krisenreaktionen – auf die Krisen seines Geistes, also nur dem menschlichen Lebewesen mögliche Krisen und damit trotz der eigendynamischen Naturalität der Antworten auch nur einem sinn orientierten Lebewesen mögliche Antworten; als Typus regenerativer, restitutiver Prozesse allein der „exzentrischen Positionalität“ rekonstruierbar. Plessner fundiert also die menschlichen Monopole des Lachens und Weinens in einer Biologie der Regenerations- und Restitutionspotentiale des Organischen überhaupt.
57 Ebd., S. 149. 58 Ebd., S. 126.
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3.2 Die Bedeutung der Biophilosophie für Schelers Wissensund Kultursoziologie Inwiefern kehren analog dazu bei Scheler die Vitalkategorien, allen voran der „Gefühlsdrang“ und die biopsychischen Stufen, in seiner analytischen Durchdringung der menschlichen Lebenswelt verwandelt wieder? Gibt es eine Abwandlung und Überlagerung dieser Lebenskategorien durch das Novum des geistvollen Lebens? Wie sind das Prinzip Leben und das Prinzip Geist in der konkreten Menschenwelt ineinander verschränkt? Auch Scheler hat die Durchführung, die Theoriepenetration der empirischen Phänomene in den Schriften der 1920er Jahren vorgehabt, aber nicht wirklich zeigen können, und sein relativ früher Tod hat dann die geplante Durchführung – anders als bei Plessner – überhaupt verhindert. Aber es lässt sich nachträglich sehr wohl skizzieren, wie Scheler sich die Nachhaltigkeit seiner philosophischen Biologie in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung vorgestellt hat. Scheler hat Mitte der 1920er Jahre bekanntlich parallel zum Projekt einer Philosophischen Anthropologie, für die eine philosophische Biologie konstitutiv ist, das Projekt einer Kultur- bzw. „Wissenssoziologie“ verfolgt – die Grundlegung eines neuen Forschungsprogrammes der Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit diesem initiativen Vorhaben einer „Wissenssoziologie“ ist Scheler innerhalb der Soziologie so folgenreich gewesen wie mit dem Vorhaben der Philosophischen Anthropologie in der Philosophie. Man muss diese beiden Parallelvorhaben Schelers systematisch aufeinander beziehen – die Kultursoziologie auf die Philosophische Anthropologie –, dann lassen sich auch im Fall Schelers die Folgen und Funktionen einer philosophischen Biologie für die Erforschung der menschlichen Lebenswelt erkennen. Nicht zuletzt hat er in dem Hauptwerk Die Wissensformen und die Gesellschaft59 (1926) fortlaufend in den Anmerkungen auf die „in Kürze“ erscheinende große „Philosophische Anthropologie“ verwiesen (die tatsächlich aber nicht zustande gekommen ist).60 Scheler hat sich in den Zwanziger Jahren für die Realisierung des Geistigen in der Menschheitsgeschichte interessiert. Unter der Voraussetzung der Autonomie, der Eigenlogik des Geistigen (der Sachlich59 M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, Bern 1960. 60 Vgl. die Fußnoten in ebd., S. 19, S. 44, S. 68.
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keit, der Urteile etc.), die er immer erneut zu begründen sucht, war die eigentliche Herausforderung für ihn: Wie verwirklicht sich das Prinzip des Geistes in der Geschichte? Zwei Ansätze galt es aus seiner Sicht für die Kultur- und Sozialgeschichte zu vermeiden: Die idealistische Position Hegels, die menschlichen Lebensverhältnisse alles in allem als einen rein geistigen Entwicklungsprozess zu rekonstruieren, als den sinnlogischen Prozess der Entfaltung eines ‚objektiven Geistes‘. Und umgekehrt der modernen materialistischen Position zu entgehen: Alles Wissen, Religion, Kunst, Philosophie, Recht etc. aus den materiellen Verhältnissen und Interessen selbst abzuleiten. Die letzte Position war für ihn die eigentliche Gegenwartsherausforderung – in Gestalt des Darwinschen Naturalismus, aber auch des Marxschen Ökonomismus und vor allem der Freudschen Sexualtriebtheorie. Scheler hat immer erneut sich ausführlich mit diesen Varianten einer naturalisti schen Reduktion der Formen des Geistes als Varianten einer „naturalistischen Fehldeutung“ auseinandergesetzt.61 Schelers konzeptioneller Lösungsvorschlag für die Rekonstruktion der Kultur- und Sozialgeschichte des Menschen: Der Geist leiht sich die Realisierungskraft des Lebens. Der Geist, die „Idealfaktoren“ sind zwar in sich eigenlogisch und innerhalb dieser Sinnlogik eigendynamisch, aber sie sind ohne Kraft der Realisierung in der Wirklichkeit; nur das Leben, die „Realfaktoren“ liefern ihre Energie zur Verwirklichung des Geistes zu konkreten soziokultur-historischen Gestalten. Dem entspricht Schelers polar und typologisch gedachte „Einteilung der Soziologie in Kultursoziologie und Realsoziologie, Soziologie des Über- und des Unterbaues des gesamten menschlichen Lebensinhaltes.“ Jeweils muss bestimmt werden, was an einer menschlichen Erscheinung „durch die autonome Selbstentfaltung des Geistes, z. B. durch die logisch-rationale Entwicklung des Rechtes, durch die immanente Sinnlogik der Religionsgeschichte usw. bedingt sei, und was andererseits durch die Determination der stets durch eine ‚Triebstruktur‘ bedingten soziologischen Realfaktoren der jeweiligen ‚Institutionen‘ und ihre Eigenkausalität.“62 Methodisch geht es in der Soziologie menschlicher Verhältnisse um „die prinzipielle Art des Zusammenwirkens, in der Idealfaktoren und Realfaktoren, objektiver Geist und reale Lebensverhältnisse, wie ihr 61 M. Scheler, „Die naturalistische Fehldeutung“, in: ders., Schriften zur Anthropologie, hrsg. von M. Arndt, Stuttgart 1994, S. 296 ff. 62 M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 19.
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subjektives menschlichen Korrelat, d. h. die jeweilige ‚Geistesstruktur‘ und die ‚Triebstruktur‘, auf den möglichen Fortgang des sozialhistorischen Seins und Geschehens […] einwirken.“63 „Darum ist für die Kultursoziologie eine Geistlehre des Menschen, und für die Realsoziologie eine Trieblehre des Menschen eine notwendige Voraussetzung“ – und an dieser Stelle verspricht Scheler, in seiner geplanten „Philosophischen Anthropologie beide Theorien ausführlich [zu] entwickeln.“64 Man kann nachträglich rekonstruieren: Die philosophische Biologie in der Philosophischen Anthropologie öffnet nach Scheler den Blick für die Drang- und Realfaktoren, das „universale Lebens-agens“ der menschlichen Lebenswelt.65 Die biopsychische Lebenskraft bildet in ihren verschiedenen Schattierungen nämlich auch die Schubenergie im Menschen: angefangen beim „Gefühlsdrang“, der im Menschen einerseits auftritt als „Subjekt jenes primären Widerstandserlebnisses, das die Wurzel alles Habens von ‚Realität‘, von ‚Wirklichkeit‘ ist“,66 andererseits als vitales Drängen nach „Ausdruck“. Über die spezifizierte Energie des „Instinktes“, der mit seinen immanenten Wertungen von Wirklichkeitswiderständen als abstoßend und anziehend das Verhalten steuert, zum Wiederholungstrieb des Gedächtnisses, das Erfolge und Misserfolge im Umgang mit der Wirklichkeit festhält, bis zu einsichtigen Problemlösungsfiguren, in denen situativ bestimmten Triebzwecken die passenden Mittel der Befriedigung zugeordnet werden (wie bei Köhlers Schimpansen-Experimenten). Aus dem „Drang“ entwickelt das Prinzip „Leben“ die Triebe, und die biophilosophische Trieblehre ist es, die bei Scheler verwandelt auch in der Philosophischen Anthropologie auftritt und nachhaltig seine Analytik der historischkonkreten Lebenswelt bestimmt. „Die wahre Bedeutung des Lebens der Triebe, der mit ihren Regungen verbundenen Affekte und Gefühle einerseits, der triebhaften Aufmerksamkeitsspannungen […] und mo torischen Impulse andererseits für unser gesamtes perzeptives Leben (Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerung, Phantasie, Denken), ist […] heute noch total verkannt.“67 Eine solche Theorie der Triebstruktur, die in einer philosophischen Biologie gründet, ist für Schelers Menschen63 64 65 66 67
Ebd., S. 20. Ebd. Ebd., S. 370. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 16. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 332. Zu „den verschwin denden Ausnahmen“, die die vitale Triebdimension für die Soziokultur angemessen veranschlagen, zählt Scheler an dieser Stelle Schopenhauer (Primat des Willens
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wissenschaft zentral. Mit der Überbau-Unterbau-Metapher nimmt er die Herausforderung des materialistischen Ansatzes z. B. bei Marx auf, um sich von ihm zugleich zu distanzieren: „Ja, in letzter Linie gilt für uns durchaus der Satz von Karl Marx, daß es das Sein der Menschen sei, (freilich nicht nur ihr ökonomisches, ‚materielles‘ Sein, wie Marx gleich mitsetzt), nach dem sich auch all ihr mögliches ‚Bewußtsein‘, ‚Wissen‘, ihrer Verstehens- und Erlebnisgrenzen richten.“68 Die Originalität von Schelers Realsoziologie ist eine differenzierte Theorie von nicht aufeinander rückführbaren menschlichen Trieben, eine „Ursprungslehre der menschlichen Triebe“. „Ich verstehe dabei unter Urtrieben diejenigen Triebsysteme, aus denen alle spezielleren Triebe, teils durch Prozesse vitalpsychischer Differenzierung selbst, teils durch Verknüpfung der Triebimpulse mit geistiger Verarbeitung, hervorgehen.“ Und er nennt immer erneut diese grundlegende Einteilung der Realsoziologie entlang dreier Triebe: „Die wesentlich artdienlichen Sexual- und Fortpflanzungstriebe, die singular- und kollektivdienlich gemischten Machttriebe, und die wesentlich auf die Erhaltung des Einzelwesens gerichteten Nahrungstriebe.“69 Theoriegeschichtlich systematisiert Scheler hier also von drei Denkern drei Teiltheorien, die für ihre jeweiligen Kultur- und Gesellschaftstheorien je einen Trieb monopolisieren: Marx (materiell-ökonomische Bedürfnisse), Nietzsche (Macht), Darwin/Freud (Sexualität). Für die kultur- und sozialwissenschaftliche Analytik ausschlaggebend sind also zwei philosophischanthropologische Kerntheoreme von Schelers Kultursoziologie: a) die zitierte Verbreiterung der Relationierungsbasis der Kultur und des Wissens zu heterogenen Triebpotentialen und b) das Theorem der „Sublimation“, der „Verlebendigung des Geistes“ als Vermeidung eines naturalistischen Reduktionismus: Prinzip Geist und Prinzip Leben sind verschränkt in der geistigen Erhebung der Triebpotentiale durch „Lenkung“ und „Leitung“: der hemmenden und enthemmenden „Lenkung“ der Triebenergien durch die autonome Geistdynamik, der „Leitung“ und Ausrichtung dieser Triebenergien durch Vorhaltung von Ideen und Werte seitens des Geistes.70 Die heterogenen Triebimpulse erscheinen somit „in den Institutionen der realsoziologischen über den Verstand), Eduard von Hartmann, Nietzsche, Bergson, vor allem jedoch Freud und Paul Schilder. 68 Ebd., S. 18. 69 Ebd., S. 49. Vgl. die Formulierung in Stellung des Menschen im Kosmos, S. 64. 70 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 49.
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Wirklichkeit nur objektiviert“ und durch Lenkung und Leitung des Geistes „zugleich in Formen des Rechts in je verschiedener Weise gehemmt und enthemmt“71 – zu „Wirtschafts-Macht-Fortpflanzungsverhältnissen und -formen.“72 An sich und für sich ist der Geist hinsichtlich der Realisierung „ohnmächtig“.73 Scheler veranschlagt in der Lenkung und Leitung zwei Möglichkeiten des Zusammenwirkens von „Geist“ bzw. Idealfaktoren und „Leben“ bzw. Realfaktoren. Vorausgesetzt ist: Der Geist ist ein „Determinationsfaktor“, das Leben aber ein „Realisationsfaktor“. Dann gibt es das Leben als „negativen Realisationsfaktor“ und als „positiven Realisationsfaktor“: „Negative Realisationsfaktoren oder reale Auslesefaktoren aus dem objektiven Spielraum des je durch die geistige verstehbare Motivation Möglichen sind [stets] die realen, triebhaft bedingten Lebensverhältnisse, d. h. die besondere Kombination der Realfaktoren: der Machtverhältnisse, der ökonomischen Produktionsfaktoren und der qualitativen und quantitativen Bevölkerungsverhältnisse.“74 Erst da, wo sich „Ideen“ irgendwelcher Art mit Interessen, Trieben, Kollektivtrieben vereinen, gewinnen sie indirekt Macht- und Wirksamkeitsmöglichkeit. Und Scheler ergänzt seine Theorie der Kultur- und Sozialgeschichte um das andernorts entwickelte Eliten-Theorem von „Vorbildern und Führern“75 als Innovationsfiguren: „Positiver Realisationsfaktor eines rein kulturellen Sinngehaltes [von „Religion, Metaphysik, Wissenschaft, Kunst, Recht“, Hinzufügung J. F.] aber ist stets die freie Tat und der freie Wille der ‚kleinen Zahl‘ von Personen, an erster Stelle der Führer, Vorbilder, Pioniere, die kraft der bekannten Gesetze der Ansteckung, der willkürlichen und unwillkürlichen Nachahmung (Kopierung) durch eine ‚große Zahl‘, eine Mehrheit nachgeahmt werden.“76 In letzter Hinsicht hängt also die Menschheitsgeschichte von konkreten Personen, d. h. leibkörperlich, in konkreten Organismen gebundenem Geist ab – ein weiteres Echo der Philosophie des Lebens in Schelers Soziologie der Weltgeschichte.
M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 49. Ebd., S. 20. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 52. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 21. M. Scheler, „Vorbilder und Führer“, in: ders., Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1 (= Gesammelte Werke, Bd. 10), Bern 1933. 76 M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 21. 71 72 73 74 75
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Der Mensch ist „sich weder der Nächste noch der Fernste“? Helmuth Plessner und Martin Heidegger – eine Annäherung
Martin Heideggers Buch Sein und Zeit aus dem Jahre 1927 gehört zu den wirkmächtigsten Schriften des 20. Jahrhunderts. In ihm legt Heidegger bekanntlich eine Interpretation des Menschen vor, den er terminologisch als „Dasein“ fasst. Ziel der Interpretation ist eine Freilegung der Grundstrukturen des Daseins, der sogenannten „Existenzialien“, vorzunehmen und den „Sinn des Seins“ aufzuweisen. Heideggers „Analytik der Existenzialität der Existenz“ erhebt dabei den Anspruch, keine Kategorien von außen gewissermaßen willkürlich an den Menschen herantragen zu wollen, die sich aus einer „beliebige[n] Idee von Sein und Wirklichkeit“ speisen. Stattdessen intendiert er mit seiner phänomenologischen Methode eine „Zugangs- und Auslegungsart“, mit deren Hilfe es gelingt, das Dasein, wie es sich „an ihm selbst von ihm selbst her zeigen kann“, auch ihm gemäß zu analysieren. Als Ergebnis können dann „wesenhafte Strukturen herausgestellt werden, die in jeder Seinsart des faktischen Daseins sich als seinsbestimmende durchhalten.“1 Achtet man auf die Rezeption, die Sein und Zeit erfahren hat und bis heute weiter erfährt, ist sie kaum mehr zu überschauen. Weltweit wurden und werden Gedanken aus diesem Buch herausgegriffen, kritisiert, heftig bekämpft, verunglimpft, befürwortet, weiter entfaltet oder sich emphatisch einverleibt. Wie kaum ein anderer Denker sprengt Heidegger seine Leserschaft in unterschiedliche Lager auf, die sich häufig mit Unverständnis, häufiger mit harscher Kritik oder sogar purer Polemik mit der jeweiligen Gegenseite auseinandersetzen. Wie von kaum einem anderen Denker gehen von ihm aber auch wichtige philosophische Impulse aus, die nicht nur auf philosophischem Terrain wirken, sondern auch in anderen Bereichen eine Anverwandlung erfahren.
1
M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), 15. Aufl., Tübingen 1984, S. 16 und S. 17.
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Blickt man von hier aus auf Helmuth Plessners Schrift Die Stufen des Organischen und der Mensch mit dem programmatischen Untertitel Einleitung in die philosophische Anthropologie, die ein Jahr später 1928 veröffentlicht wurde, ist diese Schrift sicherlich nicht weniger bedeutsam. Sie konnte allerdings zunächst nicht diese ungeheure Wirkung wie Sein und Zeit entfalten und es blieben ihr die Aufgeregtheiten erspart, die um Sein und Zeit herum in Diskussionen häufig unphilosophische Züge annehmen. Seit etwa 20 Jahren wächst das Interesse am Denken Plessners wieder kontinuierlich an, was nicht zuletzt auch dieser Band ‚handgreiflich‘ belegen kann. Geht es Heidegger in Sein und Zeit in der Untersuchung der Grundstrukturen menschlichen Seins um eine Fundamentalontologie, stellt sich Plessner in seinen Stufen die anspruchsvolle Aufgabe, „eine apriorische Theorie der organischen Wesensmerkmale“ zu entwickeln, die man zumindest in der Kontrastierung zu Heidegger als eine Fundamentalanthropologie im naturphilosophischen Kontext bezeichnen könnte. Unmissverständlich schreibt Plessner zu seiner Theorie: „Apriorisch darf eine solche Theorie nur in dem Sinne heißen, daß sie den Bedingungen der Möglichkeit nachgeht, die erfüllt sein müssen, damit ein bestimmter Sachverhalt unserer Erfahrung stattfinden kann. Apriorisch ist die Theorie also […] kraft ihrer regressiven Methode, zu einem Faktum seine inneren ermöglichenden Bedingungen zu finden.“2 Einfacher gesagt, verfolgt Plessner das Ziel, mit einer „Theorie der organischen Wesensmerkmale“ (meine Hervorhebung K. J.), dazu zählen u. a. Wachstum, Entwicklung, Ernährung und Altern, ein Verständnis des Menschen im Kontext des Organischen zu entwickeln. In dieser Theorie kann sichtbar werden, dass der Mensch nicht aus der belebten Natur herausgestanzt ist und isoliert von anderen Daseinsarten begriffen werden kann, sondern in die Reihe mit allen belebten (und letztlich auch unbelebten) Naturgebilden gehört und seine Spezifik innerhalb dieses Zusammenhangs geklärt werden muss. Ein solcher naturphilosophischer Ansatz kann nicht gelingen, wenn die Orientierung an der Erfahrung ausgeblendet wird; allerdings darf die Orientierung nicht dahingehend missverstanden werden, als würde Plessner von unten, also von der Empirie her, seine Theorie entwickeln. Denn dasjenige, was ein Wesensmerkmal, ein „Modal“ oder auch eine „irreduzible Letztheit“ ist, wird nicht durch das Diktat der 2
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso phische Anthropologie, 3. Aufl., Berlin, New York 1975, S. XX.
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Erfahrung gewonnen, da es dieser bereits vorausgeht.3 So können die Wesensmerkmale als „Kategorien des Lebendigen“ sowohl einzeln als auch insgesamt „nur in der Anschauung voll erfaßt werden. Sie bestimmen das Leben, täuschen es niemals vor.“ 4 Versucht man diese beiden Positionen nun grundsätzlich in eine Beziehung zueinander zu setzen, dann ist das alles andere als eine leichte Aufgabe, da sich die Intentionen, die Methoden und die Kontexte prinzipiell voneinander unterscheiden. Es wäre daher unangemessen, möglichst rasch Harmonisierungsversuche herbeiführen zu wollen, um zu einer ‚gütlichen‘ Zusammenführung dieser beiden Ansätze zu gelangen. Wollte man die Aufgabenstellung begrenzen, bräuchte man zumindest ein Problem bzw. einen Vergleichspunkt, mit dessen Hilfe man die beiden Theorien aufeinander beziehen könnte. Diesen könnte man von außen herantragen oder ihn sich von einer der beiden Positionen an die Hand geben lassen. In den folgenden Ausführungen können wir den zuletzt genannten Weg einschlagen. Dies ist möglich, da sich Plessner in seinen beiden Vorworten zur ersten und zweiten Auflage seiner Stufen explizit zu Heidegger äußert und sich entschieden von ihm absetzt.5 Welche Kritik übt Plessner an Heidegger?6 Für welche Position tritt er ihm gegenüber ein? Welche Probleme/Vergleichspunkte gibt er uns an die Hand? 3 4 5
6
Ebd., S. 111. Ebd., S. 114. Zur Auseinandersetzung Plessners mit Heidegger siehe u. a.: H. Fahrenbach, „‚Le bensphilosophische‘ oder ‚existenzphilosophische‘ Anthropologie. Plessners Aus einandersetzung mit Heidegger“, in: F. Rodi (Hrsg.), Dilthey-Jahrbuch für Philo sophie und Geistesgeschichte, 7/1990–91, S. 71-111. Plessner setzt sich in seinem Aufsatz „Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie“, der 1973 in dem Buch Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag (Hrsg. von H. Fahrenbach, Pfullingen 1973, S. 335-353) erschienen ist, mit Heidegger auseinander und holt hier gewissermaßen die in den Stufen fehlende differenziertere Diskussion mit Heidegger nach. Leitend wird dabei die Frage, was die Existenz fundiert. In den folgenden Erörterungen klammern wir aus methodischen Gründen diesen Aufsatz weitgehend aus, um eine Konzentration auf Sein und Zeit und die Stufen vorzu nehmen und in ein klärendes Gespräch bezüglich der Differenzen der beiden Philoso phen auf der Basis dieser beiden zeitnah erschienenen (!) Grundwerke einzutreten. Heidegger selbst äußert sich zu Plessners Kritik im Vorwort der Stufen in einem Brief: „Die Bemerkung, mit der mich Plessner in seinem Vorwort abfertigt, ist sehr dumm. Andererseits kann er dadurch nicht verdecken, dass er mein Buch doch schon recht vielfach in seiner oberflächlichen Art ausgeschrieben hat.“ (Heidegger an Misch, Todtnauberg, 7. März 1928, Nachlass G. Misch, Cod. Ms. G. Misch 146, Handschriftenabteilung Universität Göttingen). Diesen Hinweis habe ich dem Beitrag entnommen: J. Fischer, „Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie
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Plessners Kritik an Heideggers Überlegungen in Sein und Zeit lässt sich stichwortartig verkürzt auf folgende Gesichtspunkte fokussieren: – Heidegger rückt die Untersuchung menschlichen Seins der Sache nach an die erste Stelle. Unmissverständlich schreibt Plessner, „den Grundsatz Heideggers […] nicht anerkennen [zu] können, daß der Untersuchung außermenschlichen Seins eine Existentialanalytik des Menschen notwendig vorhergehen müsse.“7 – Heidegger blendet bei seiner Analyse der Grundstrukturen menschlichen Seins Pflanzen und Tiere aus. Demgegenüber behauptet Plessner: „Eine Vorstellung von der Daseinsart des Menschen als eines Naturereignisses und Produkts ihrer Geschichte gewinnt man nur im Wege ihrer Kontrastierung mit den anderen uns bekannten Daseinsarten der belebten Natur.“8 – Heidegger trennt die menschliche „Existenz“ vom Leben ab. Zurück bleibt Plessner zufolge eine „freischwebende Existenzdimension“, die das Leibsein des Menschen völlig außer Acht lässt. „Damit ist jedoch das eigentliche Problem nur ausgeklammert, ob nämlich ‚Existenz‘ von ‚Leben‘ nicht nur abhebbar, sondern abtrennbar sei und inwieweit Leben Existenz fundiere.“9 Von jeder dieser kritischen Gegenstellungen aus wäre es möglich, in eine fruchtbare Kontroverse einzutreten, in der man beide Positionen aufeinander beziehen und voneinander absetzen könnte, um schließlich einen eigenen Standpunkt einnehmen zu können. Diesen Weg wollen wir im Rahmen der vorliegenden Ausführungen allerdings nicht einschlagen. Wir konzentrieren uns vielmehr auf eine Äußerung, die Plessner im Anschluss an den oben bereits herausgestellten Satz formuliert. Zitieren wir den Satz erneut und ergänzen wir ihn: „Wenn wir trotzdem zu den (uns erst während der Drucklegung bekannt gewordenen) Forschungen Heideggers, […] in manchem Distanz halten müssen, so hauptsächlich nur darum, weil wir den Grundsatz Heideggers […] nicht anerkennen können, daß der Untersuchung außermenschlichen Seins eine Existentialanalytik des Menschen notwendig vorhergehen müsse.“
7 8 9
der Philosophischen Anthropologie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48, Berlin 2000/2, S. 265-288, hier S. 274. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. V. Ebd., S. XIX. Ebd., S. XIII.
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Und dann kommt Plessner zu seinem eigenen Anliegen, auf das es uns ankommt: „Wir verteidigen im Gegensatz dazu die These – die der Sinn unseres naturphilosophischen Ansatzes und seine Legitimation ist –, daß sich der Mensch in seinem Sein vor allem anderen Sein dadurch auszeichnet, sich weder der Nächste noch der Fernste zu sein […].“10 Im Folgenden wollen wir, wie bereits der Titel dieses Beitrages kenntlich macht, bei dieser Selbstkontrastierung Plessners zu Heideggers Position ansetzen. Dabei sind wir von vornherein ‚weder heideggerianisch noch plessnerianisch‘ eingestellt, weshalb wir in den ersten beiden Schritten möglichst unvoreingenommen die jeweilige Position so weit gleichrangig zu rekonstruieren versuchen, wie es erforderlich ist, um Plessners These hinsichtlich Heidegger und schließlich hinsichtlich seines eigenen Ansatzes verständlich machen zu können. Im Anschluss daran können beide Positionen in einem dritten Schritt aufeinander bezogen werden und es kann eine Stellungnahme erfolgen. Dabei kommt man nicht umhin, die von Plessner akzentuiert formulierte These, es „führt kein Weg von Heidegger zur philosophischen Anthropologie“ aufzugreifen und erneut zu durchdenken.11
1. Heideggers Deutung des Menschen als Dasein: das Nächste und das Fernste? Heideggers Deutung des Menschen als „Dasein“ wird vor dem Hintergrund seiner Kritik an der Tradition verständlich, in der man den Menschen als ein Erkenntnissubjekt gefasst hat, das sich den Objekten gegenüberstellt, um sie zu typisieren, zu kategorisieren und zu analysieren. Im Zuge dieser Dichotomie: hier Mensch – dort Welt, hier Subjekt – dort Objekt, hier Bewusstsein/Denken – dort Ausgedehntes/Körperliches/Gegenständliches, wurde eine erkenntnistheoretisch bedingte Zweiteilung und Trennung herbeigeführt. Und es wurde ein besonderes Augenmerk, wenn man sich mit Heidegger insbesondere
10 Ebd., S. V. 11 Ebd., S. XIV.
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auf René Descartes’ philosophische Konzeption bezieht, auf eine Erörterung des Cogitare gelegt.12 Nimmt man diese beiden Akzentuierungen als Ausgangsbasis neuzeitlichen Philosophierens, hatte man damit eine Grundstellung gewonnen, die fortan weiter ausdifferenziert und untersucht werden konnte. Weitgehend unangetastet blieb dabei die Grundstellung selbst, also die Dichotomie von Mensch und Welt, da man sich unbefragt in dieser bewegte und sie gewissermaßen selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Und es blieb, was für Heidegger von besonderer Relevanz ist, auch das sum in der Wendung Descartes’ sum cogitans unbefragt, „wenngleich es ebenso ursprünglich angesetzt wird wie das cogito.“13 So hielt man sich gleichsam fraglos im Rahmen einer Untersuchung des Denkens auf, bei der die Frage nach „dem nichtverdinglichten Sein des Subjekts, der Seele, des Bewußtseins, des Geistes, der Person“ nicht gestellt wurde.14 Erforderlich ist es daher mit Heidegger sich in einer grundsätzlich verwandelten Weise dem Menschen anzunähern, um dieser dichotomen Zerteilung und der Falle eines Subjektdenkens ebenso zu entgehen wie der Seinsvergessenheit in der bisherigen Geschichte des abendländischen Denkens. Um dies zu leisten und „die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen“, setzt Heidegger in Sein und Zeit beim Menschen selbst an, den er, wie gesagt, terminologisch als „Dasein“ fasst. In den beiden Wortbestandteilen „Da-“ und „-sein“, die untrennbar miteinander verbunden sind, kommt bereits das wechselweise Zusammengehören von Mensch und Sein zum Ausdruck. Im Unterschied zu allem einzelnen nichtmenschlichen Seienden, was räumlich und zeitlich vorzufinden ist, wie beispielsweise diese Buchseite, der Tisch oder der Stein, aber auch im Unterschied zu Pflanzen und Tieren, kommt der Mensch nicht einfach nur vor. Vielmehr ist er z. B. verwundert, irritiert oder erstaunt über sich selbst und bewegt sich dergestalt bereits in einem Seinsverständnis, auch wenn es der Mensch zunächst nicht genauer zu fassen vermag und es ihm buchstäblich verschwimmt: „Wir wissen nicht, was ‚Sein‘ besagt. Aber schon wenn wir fragen: ‚was ist ‚Sein‘?‘ halten wir uns in einem Verständnis des ‚ist‘, ohne daß wir begrifflich 12 Siehe zu Heideggers Kritik an Descartes u. a. den Beitrag von H. L. Dreyfus, „In-derWelt-sein und Weltlichkeit: Heideggers Kritik des Cartesianismus (§§ 19-24)“, in: M. Heidegger, Sein und Zeit, hrsg. von T. Rentsch, Berlin 2001, S. 69-87. 13 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 46. 14 Ebd.
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fixieren könnten, was das ‚ist‘ bedeutet. Wir kennen nicht einmal den Horizont, aus dem her wir den Sinn fassen und fixieren sollten. Dieses durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum.“15 Hier tritt zum Vorschein, dass der Mensch immer schon in einem Seinsverständnis lebt, wodurch ihm Sein stets „erschlossen“ ist: „Erschlossenheit aber ist die Grundart des Daseins, gemäß der es sein Da ist.“16 Wollte man diesen Gedanken näher verfolgen, müsste man Heideggers Analyse der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede darlegen. Denn in der Befindlichkeit, dem Verstehen und der Rede hat der Mensch von vornherein einen Bezug zur Welt und es ist ihm das Dasein als Erschlossenheit zugänglich. Hand in Hand mit dem mit dem Menschen untrennbar verbundenen, zunächst aber eher unklaren Seinsverständnis, geht auch ein Seinsverhältnis einher. Das meint, dass der Mensch die Möglichkeit hat, sich in dieser oder jener Weise zu sich selbst zu verhalten und auch immer verhält, unabhängig davon, wie sich diese Bezugnahme inhaltlich fassen lässt, und ob er sich dessen bewusst ist oder nicht: „Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat.“ 17 Der Vorrang des Menschen vor allem nichtdaseinsmäßigen Seienden geht demnach aus dem wesentlichen Bezug hervor, den der Mensch zum Sein hat. Dieser zeigt sich als ein Bezug, den er zu sich selbst, den Mitmenschen und eben auch zum nicht-menschlichen Seienden entfalten kann. Ein Seinsverhältnis zu haben, heißt daher für den Menschen, dass er nicht bloß ist (wie der Tisch), sondern zu sein hat, was Heidegger mittels der Bestimmung „Zu-Sein“ sprachlich zu fassen versucht. Aufgrund dieses wesentlichen Seinsverhältnisses des Menschen zu sich selbst lässt sich das Sein des Menschen als „Existenz“ fassen: „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz.“ Darin kommt zum Ausdruck, dass das Sein des Menschen keinen Wesenskern hat oder ein sachhaltiges Was ist, sondern prinzipiell ein Bezugnehmenkönnen darstellt.
15 Ebd., S. 5. 16 Ebd., S. 220. 17 Ebd., S. 12.
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Denkt man diese beiden Auszeichnungen des Daseins zusammen, dass der Mensch immer schon ein Seinsverständnis und ein Seinsverhältnis hat, wird die Fundamentalontologie in der Konsequenz „in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden.“18 In dieser Analyse der strukturellen Verfassung des Daseins geht es nämlich darum, keine Konstruktionen vorzunehmen und von außen Bestimmungen an den Menschen heranzutragen, sondern dem Dasein solches kundzugeben, was ihm aufgrund seines Seinsverhältnisses und -verständnisses zwar letztlich erschlossen ist, aber dennoch zunächst verborgen bleibt, nämlich der Sinn von Sein und die Grundstrukturen des Daseins. Es geht in der Analytik der Existenz demnach um eine Auslegung des Seins des Daseins und dergestalt um eine Analyse des menschlichen Lebens in seiner „Alltäglichkeit“, indem seine Grundstrukturen, die sog. „Existenzialien“ aufgedeckt werden. Heideggers Fundamentalontologie erhebt demnach den Anspruch, solches vom Dasein aufzuweisen und zu zeigen, was sich dem Dasein zunächst und zumeist zwar nicht zeigt, weil es verdeckt, verborgen, verstellt oder verschüttet ist, was aber zu diesem so gehört, dass es „seinen Sinn und Grund“ ausmacht. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, Plessners oben in expliziter Gegenstellung zu Heideggers herausgestellte These, „daß sich der Mensch in seinem Sein vor allem anderen Sein dadurch auszeichnet, sich weder der Nächste noch der Fernste zu sein“ im Blick auf Heideg ger zu lesen. Positiv gewendet findet sich bei Heidegger demnach Plessner zufolge die These, dass sich der Mensch der Nächste und der Fernste ist. Auf den ersten Blick mutet eine solche These – vorsichtig gesagt – aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit äußerst befremdlich an. In welchen Hinsichten, so könnte man zur Klärung fragen, spricht Heidegger vom Menschen und dem Nächsten bzw. vom Menschen und dem Fernsten? Wie kann man von Heidegger aus diese Deutung verstehen? Lassen wir Heidegger selbst zu Wort kommen: „Das Dasein ist zwar ontisch nicht nur nahe oder gar das nächste – wir sind es sogar je selbst. Trotzdem oder gerade deshalb ist es ontologisch das Fernste.“19 Und an anderer Stelle heißt es in vergleichbarem Sinne: „Das ontisch
18 Ebd., S. 13. 19 Ebd. S. 15. Siehe auch die Textstelle: „Dasein ist ihm selbst ontisch ‚am nächsten‘, ontologisch am fernsten, aber vorontologisch doch nicht fremd.“ (Ebd., S. 16)
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Nächste und Bekannte ist das ontologisch Fernste, Unerkannte und in seiner ontologischen Bedeutung ständig Übersehene.“20 Heidegger hebt in diesen Kernsätzen explizit die ontische Nähe von der ontologischen Ferne ab. Letztgenannte besteht darin, dass das Dasein sein eigenes „Sein aus dem Seienden“ versteht, „zu dem es sich wesenhaft und ständig und zunächst verhält, aus der ‚Welt‘.“21 Wie die Anführungszeichen bei dem Wort ‚Welt‘ anzeigen, verweist Heidegger mit diesem nicht auf das Existenzial Welt, das in der Wendung „In-der-Welt-sein“ die Seinsverfassung des Daseins zum Ausdruck bringt. Vielmehr meint ‚Welt‘ in dem angeführten Zitat die Summe alles Vorhandenen im traditionellen Sinne also auch die öffentliche Welt des Miteinander, von der her und auf die hin wir uns deuten. Die ontologische Ferne des Daseins zeigt demnach an, dass ein Sich-verstehen aus ‚Welt‘ gerade dazu führt, nicht bei sich selber sein zu können, was aber, wie man in Anlehnung an Emil Kettering sagen kann, keinem „Fehlverhalten“ des Daseins entspringt, da es „wesensmäßig zu seiner eigenen Seinsart“ gehört.22 Die in einer existenzialen Analytik zu vollziehende Seinsauslegung hat daher die Aufgabe, der „Verdeckungstendenz“ des Daseins entgegenzuwirken und „sich das Sein dieses Seienden“ zu erobern. Anders gesagt: Heideggers Projekt einer Existenzialanalytik dient dazu, die ontologische Ferne des Daseins aufzuheben und dem „Verfallen“ des Daseins an die ‚Welt‘ und an die Öffentlichkeit des „Man“ die Stirne zu bieten. Auf diese Weise kann die mit der ontologischen Ferne einhergehende Selbstundurchsichtigkeit des Daseins auf-geklärt werden und das Dasein, das ontisch „nicht nur nahe oder gar das nächste“ ist – wir sind es nämlich jeweils selbst – zu seiner ursprünglichen Seinsverfassung vordringen: „Somit schreibt die Seinsverfassung des Daseins dessen existenzialer Analytik selbst die Methode vor: sie muß von der durchschnittlichen Alltäglichkeit als dem Aufgehen des Daseins in ‚Welt‘ ausgehen, um dann durch Abbau von Verstellungen, durch phänomenologische Hebung, d. h. sozusagen ‚via negationis‘ zur ursprünglichen Seinsverfassung vorzudringen.“23
20 Ebd., S. 43. 21 Ebd., S. 15. 22 E. Kettering, NÄHE. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987, S. 102. Siehe auch seine Abhebung der vier Begriffsverständnisse von Welt, ebd., S. 102. 23 Ebd., S. 107.
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Blicken wir von hier aus auf Plessners gegen Heidegger gerichtete These, der Mensch sei sich weder der Nächste noch der Fernste, ist meines Erachtens das Erstaunliche an ihr, dass sie im strengen Sinne keine Gegenstellung zu Heidegger formuliert, da ihr Heidegger durchaus zustimmen könnte. Denn dem Menschen kommt gewissermaßen eine Zwischenstellung zu, insofern er zwischen Nähe und Ferne ausgespannt ist und sie gegenläufig zueinander ‚anzuordnen‘ sind. So begegnet uns in gnoseologischer Perspektive beim Menschen zunächst als Erstes ontisch-faktisch die durchschnittliche Alltäglichkeit als dem Aufgehen in ‚Welt‘, dem man phänomenologisch im Abbau von Verstellungen und Verdeckungen entgegenwirken kann. Ziel ist es dann, dorthin zu gelangen, was ontologisch gesehen das Ursprünglichste ist, aber als Letztes erkannt werden kann. Da der Mensch sich weder der Nächste noch der Fernste ist, kann es daher letztlich einer Daseinsanalytik und dem Menschen nur darum gehen, eine Ent-Fernung anzustreben, um der im Dasein liegenden „Tendenz auf Nähe“ zu entsprechen.24
2. Plessners Deutung des Menschen: weder sich selbst der Fernste noch der Nächste? Erinnern wir uns erneut an die gegen Ende der Einleitung dieses Beitrages angeführten Äußerungen Plessners, die er explizit in Gegenstellung zu Heideggers Überlegungen in Sein und Zeit formuliert hat. Denkt man von Heidegger und dem bisher Gesagten her, stößt man in begrifflicher Hinsicht auf Schwierigkeiten, wenn mit Plessner vom „nichtseinsmäßigen Charakter seiner Existenz“ (meine Hervorhebung K. J.) gesprochen wird, da der Bezug des Menschen zum Sein zumindest aus der Sicht Heideggers geradezu konstitutiv ist. Auch die Wendung „in eine Reihe mit allen Dingen dieser Welt zu gehören“ (meine Hervorhebung K. J.) klingt äußerst befremdlich, insofern Dinge, mit denen man hantiert und die man gebraucht, aus der Sicht Heideggers unbelebt sind, und seinsmäßig eine prinzipielle Differenz zum Menschen aufweisen. Klammern wir aber die begrifflichen Unterschiede und inhaltlichen Divergenzen aus und lassen uns explizit auf Plessners Konzeption ein, dann dient uns als Schlüssel zum Verständnis seiner 24 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 105.
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Deutung des Menschen die angeführte Wendung der „Exzentrizität seiner Lebensform“ und der Gedanke der Präsenz des Menschen als ein „Element in einem Meer des Seins“. Die Wendung der Exzentrizität der menschlichen Lebensform führt uns zu Plessners bekannter philosophischer Begriffsbildung der „exzentrischen Positionalität“, die er in den Stufen nicht nur eingeführt, sondern auch entfaltet hat. Auch bei Plessner gewinnt man – ähnlich wie bei Martin Heidegger – einen ersten Zugang, wenn man sich die Gegenstellung zum Denken René Descartes’ vor Augen führt. Dieser hatte nämlich einerseits das Selbstverständnis menschlicher Subjektivität vorangetrieben, bei dem sich das denkende Ich in seiner Körperentbundenheit entdeckt und sich seiner Freiheit und Autonomie vergewissert; andererseits konnten dadurch die ausgedehnten Dinge, die Natur und die Körper zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden, denen man sich als Erkenntnisobjekte gegenüber stellte. Angesichts dieser Dichotomie geht es Plessner, grob gesagt, darum, das Denken, genauer formuliert, den Geist, wieder an das Leben zu binden und hineinzuführen, um die Gegenstellung überwinden zu können. Beschränken wir unsere Ausführungen auf die Begriffskategorie der „Positionalität“, worunter Plessner „Gesetzt- oder Gestelltheit des lebendigen Körpers“ versteht, dann können wir die drei Organisationsformen bzw. Stufen des Lebendigen, nämlich Pflanze, Tier und Mensch voneinander abheben.25 Die Pflanze kann als „offene Form“ gedeutet werden, insofern sie kein Zentrum (und keine zentralen Organe) hat: „Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“26 Dem Tier kommt im Unterschied zur Pflanze die „geschlossene Form“ der Positionalität zu: „Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“27 Tiere sind demnach Plessner 25 Ebd., S. 129. Siehe hierzu u. a.: B. Grünewald, „Positionalität und die Grundlegung einer philosophischen Anthropologie bei Helmuth Plessner“, in: P. Baumanns (Hrsg.), Realität und Begriff. Festschrift für Jakob Barion zum 95. Geburtstag, Würzburg 1993, S. 271-300. 26 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 219. 27 Ebd., S. 226.
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zufolge gegenüber ihrer Umwelt selbständig und nicht an einen Ort gebunden, weil sie die Möglichkeit der Fortbewegung haben. Sie haben ein Zentrum, einen Willen und einen Antrieb, das gegenüber der Umwelt „geschlossen“ ist. Im Unterschied zur Pflanze, sind Tiere nicht nur Körper, sondern sie sind in ihrem Körper: „Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte.“28 Und das heißt, dass das Tier zwar zwischen sich und seiner Umwelt unterscheiden kann und im Körperhaben eine Mitte hat, diese aber nicht auf sich selbst zurück beziehen kann. So erlebt es seine Umwelt, ohne sich selbst dabei erleben und zu sich in Distanz treten zu können. Während das Tier demnach „in Selbststellung ganz es selbst ist“ und in eine „positionale Mitte gestellt“ ist und darin aufgeht, gilt für den Menschen „das Gesetz der Exzentrizität, wonach sein im HierJetzt Sein, d. h. sein Aufgehen im Erleben nicht mehr in den Punkt seiner Existenz fällt. Sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens steht der Mensch außerhalb seiner selbst.“29 Er kann demnach jederzeit in ein reflexives Verhältnis zu seinem Leben treten und zu sich in Distanz gehen. Das menschliche ‚aus dem Zentrum Heraustreten‘, sein „außerhalb seiner selbst“ Stehen führt allerdings nicht zur Konstitution eines neuen Ortes über, neben oder hinter der Mitte, ist es doch Ausdruck dieser Mitte selbst. So lässt sich der Zugang zum Menschen bei Plessner nicht mittels der „ontologischen Differenz“ gewinnen, sondern durch eine auf die Mitte bezogene Differenz, in der die Differenz innerstrukturell in der Mitte selbst aufgewiesen werden kann. Das Wort ‚Mitte‘ würde daher in die Irre führen, wenn man es als fixen Mittelpunkt auffassen würde.30 Stattdessen zeichnet den Menschen das Sich-Verhalten zu der Mitte innerhalb der Mitte aus, wodurch er nicht an sie fixiert bleibt, sondern konstitutionell ein Wesen des Zwischen ist, genauer gesagt, ein Zwischen innerhalb seiner Mitte, das ihm den ‚Raum‘ seiner Freiheit – trotz aller Gebundenheit – eröffnet: „Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. Er erlebt die Bindung im absoluten Hier-Jetzt, die Totalkonvergenz des Umfeldes und des 28 Ebd., S. 288. 29 Ebd., S. 298. 30 W. Eßbach, „Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners Philosophische Anthro pologie“, in: G. Dux, U. Wenzel (Hrsg.), Der Prozeß der Geistesgeschichte, Frankfurt a. M. 1994, S. 15-44.
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eigenen Leibes gegen das Zentrum seiner Position und ist darum nicht mehr von ihr gebunden. […] er weiß sich frei und trotz dieser Freiheit in eine Existenz gebannt, die ihn hemmt und mit der er kämpfen muß.“31 Mit der Vorsilbe ‚ex-‘ des Wortes ex-zentrisch im Zusammenhang mit der Orientierung an den Positionalitätsbegriff wird demnach deutlich, dass der Mensch als das „exzentrisch positionierte Lebewesen“ als „das in seine eigene Mitte Gesetztsein gesetzt“ zu begreifen ist, wodurch er zugleich in „seine Grenze gesetzt und deshalb über sie hinaus“ ist.32 Aufgrund der „Grenzgesetztheit des Mensch genannten Dinges“ ist es ex-zentrisch dazu fähig, „sich von sich zu distanzieren, zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen. Dann ist es diesseits und jenseits der Kluft, gebunden im Körper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit und so ist es Mensch.“33 Schaut man sich diese Form des Selbstverhältnisses an, könnte man den Eindruck gewinnen, dass in ihr das Außerhalb, die Differenz, der Unterschied eine Akzentuierung erfährt und bei dem Wort ‚Selbstverhältnis‘ der Wortbestandteil ‚-verhältnis‘ ein größeres Gewicht erlangen würde. Denn Plessner betont immer wieder, dass das ‚Ex-‘ im Sinne eines prinzipiellen Darüber – und zugleich auch eines prinzipiellen Darinnen – konstitutiv für den Menschen ist und durch keinen irgendwie gearteten Vollzug aufgehoben werden kann. Allerdings würde dieser Eindruck in die Irre führen, hängt er doch sicherlich damit zusammen, dass das ‚Selbst‘ als der Fluchtpunkt des Selbstver hältnisses unobjektivierbar ist und hinter Körper und Leib die eigene Innerlichkeit anzeigt und auf diese verweist. Im Unterschied zur philosophischen Tradition wird dabei aber das Selbstbewusstsein, das darin ausgesagt wird, nicht als ein rein geistiges Phänomen erfasst, muss es doch vor dem Hintergrund des Gesagten entsprechend seiner Konzep-
31 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 291. 32 Siehe u. a. die Arbeiten von: F. Hammer, Die exzentrische Position des Menschen. Methode und Grundlinien der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners, Bonn 1967; A. Honneth, H. Joas, „Menschliche Expressivität. Zur anthropologischen Hermeneutik Helmuth Plessners“, in: dies., Soziales Handeln. Anthropo logische Grundlagen der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M., New York 1980, S. 72-88; S. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophischanthropologischen Denkens, Freiburg, München 1992. 33 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 291.
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tion aus seiner biologischen Wurzel heraus entwickelt und von dieser her verstanden werden. Dazu ist ein kurzer Blick auf den „Doppelaspekt“ hilfreich, der der Organisationsweise des Menschen zukommt: denn als Menschen ha ben wir einen Körper und sind zugleich ein Leib:34 „Der Exzentrizität der Struktur des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Lage oder der unaufhebbare Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und Leib, als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des Einen Raum-Zeitkontinuums und als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen.“35 Nimmt man diesen zentralen Befund Plessners ernst, erfährt der einzelne Mensch sich selbst in seinem Verhältnis nach außen, zur Außenwelt als Körper und dergestalt als ein Ding unter vielen anderen Dingen, das heißt als ein Bestandteil einer Außenwelt, in der es auch noch andere Körper gibt. In dieser Sinnsphäre der Außenwelt hebt sich demnach das Bewusstsein als „Ding unter Dingen“ exzentrisch über die Gegenüberstellung von Körper und Leib und von Leib und Ding. Es vollzieht dergestalt die Grenze zwischen Innen und Außen und hat darin gewissermaßen seinen Leib, wie es auch sein Wissen von den Gegenständen haben kann, nämlich als ein inneres Vollziehen der Realität: „Beide Aspekte bestehen nebeneinander, vermittelt lediglich im Punkt der Exzentrizität, im unobjektivierbaren Ich.“36 Aber auch die Seele als Inbegriff des Bewusstseins von der Innenwelt, beinhaltet den Doppelaspekt, nämlich den „Doppelaspekt seiner Existenz als Seele und Erlebnis“. Während die Seele „als vorgegebene Wirklichkeit der Anlagen“ mit Plessner verstanden werden kann, „die sich entwickelt und Gesetzen unterworfen ist“, kommt im Erlebnis „die durchzumachende Wirklichkeit des eigenen Selbst im Hier-Jetzt“ zum Vorschein.37 Aufgrund der bereits herausgestellten exzentrischen 34 Martin Heidegger hat, auf was wir hier nicht näher eingehen können, in seiner Nietzschedeutung geschrieben: „Wir ‚haben‘ nicht einen Leib, sondern wir ‚sind‘ leiblich.“ „Wir leben, indem wir leiben.“ M. Heidegger, Nietzsche, 1. Bd., Pfullingen 1961, S. 118 f. – In diesen Sätzen schwingt ein umfassendes Verständnis des Leibes mit, der von Nietzsche bereits als Einheit-in-Mannigfaltigkeit divergierender Kräfte und Vermögen gedeutet wird und vom Körper, den man ‚hat‘ und den man verobjektivieren kann, unterschieden werden muss. 35 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 294. Siehe auch die Ausführungen von: P. Wilwert, Philosophische Anthropologie als Grundlagenwis senschaft? Studien zu Max Scheler und Helmuth Plessner, Würzburg 2009. 36 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 295. 37 Ebd., S. 296.
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Positionalität des Menschen, kann diese Innenwelt nicht näher inhaltlich bestimmt werden, da sie formal zunächst gewissermaßen ‚negativ‘ eine reine Verhältnisbestimmung im Sinne des Außerhalb-Stehens meint, insofern das Aufgehen des Menschen im Erleben „nicht mehr in den Punkt seiner Existenz fällt“. In der Sinnsphäre der Mitwelt, hat es das Bewusstsein nicht mit Körpern und Dingen (Außenwelt) oder mit Empfindungen (Innenwelt) zu tun, sondern mit Personen. Aufgrund des mit seiner exzen trischen Positionalität verbundenen Doppelaspekts von Körper und Leib bzw. von Seele und Erlebnis drängt sich in dieser Sinnsphäre die Unterscheidung zwischen dem individuellen Ich, das den eigenen Leib repräsentiert, und dem allgemeinen Ich, das auf alle anderen Leiber verweist, auf. Auch wenn aufgrund der reinen Strukturhaftigkeit der Mitwelt, insofern sie die Person nicht „umgibt“ und sie auch nicht „erfüllt“, der Geist keine eigene Realität hat, wird er aber doch in der Mitwelt realisiert, „wenn auch nur eine Person existiert“.38 Deshalb hat der Mensch den Geist nicht, wie er seinen Leib und seine Seele hat, sondern der Geist ist die Sphäre, „kraft deren wir als Personen leben“.39 Wie deutlich wurde, korrelieren die drei angeführten Sinnsphären der Außenwelt, der Innenwelt und der Mitwelt, mit dem Bewusstsein, der Seele und dem Geist und entsprechen der Kennzeichnung der „Person“, die abschließend noch einmal vor Augen geführt werden soll: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, vom dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person. Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“40 Konnten wir uns bei unseren Ausführungen zu Heidegger an seiner Wortverwendung der Nähe und Ferne orientieren und uns deren spezifische Ausdeutung vor Augen führen, gelingt dies bei Plessner nicht, da wir diese Worte in Zusammenhang mit einer Charakterisierung des Menschen vergeblich suchen. Aber der Sache nach sind sie dennoch präsent und haben sich durch die vorangegangenen Dar38 Ebd., S. 303. 39 Ebd., S. 304. 40 Ebd., S. 293.
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legungen wie ein roter Faden gezogen. Behauptet Plessner nämlich in Gegenstellung zu Heidegger die These der Mensch sei weder sich selbst der Fernste noch der Nächste, dann bringt er in ihr äußerst prägnant und treffend seine eigene Deutung zum Ausdruck. Denn der Mensch steht qua Mensch „außerhalb seiner selbst“ und ist niemals voll und ganz bei sich. Er trägt konstitutionell bedingt in sich die Gegensätzlichkeit zwischen „Natur und Geist“, „Gebundenheit und Freiheit“, „Sein und Sollen“ aus, was dazu führt, dass er sich dieser zwar lebenslang stellen und die „Rastlosigkeit unablässigen Tuns“ auf sich nehmen kann, ihr aber prinzipiell nicht entgehen kann. So erlaubt die exzentrische Positionalität keine eindeutige Festlegung und Fixierung auf eine der beiden Seiten der Nähe oder Ferne, des ganz bei sich Seins oder außerhalb seiner selbst Seins und lässt den Menschen auf der „Gerade endloser Unendlichkeit“ lebenslang unterwegs sein.
3. Fundamentalontologie versus philosophische Anthropologie? Konnten wir in der Orientierung an der von Plessner formulierten These, der Mensch sei sich weder der Fernste noch der Nächste, die beiden Positionen von Heidegger und Plessner so weit rekonstruieren, wie es zum Verständnis der jeweiligen Position angesichts dieser These erforderlich ist, so sollen diese beiden Positionen abschließend aufeinander bezogen und miteinander in ein Gespräch gebracht werden. Die Schwierigkeit bei diesem Versuch besteht darin, dass beide gewissermaßen monolithisch für sich stehen und jeweils den Anspruch erheben, den vorgängigen und primären Ansatz zu vertreten. So behauptet Plessner, wie eingangs herausgestellt, es „führt kein Weg von Heideg ger zur philosophischen Anthropologie“ und Heidegger wiederum würde sein in Sein und Zeit entwickeltes Projekt einer Fundamental ontologie der Sache nach als ‚Leitontologie‘ ansehen, der die anderen Ontologien, die nicht den Menschen betreffen, nachgeordnet sind.41 41 Vgl. dazu Heideggers Äußerung: „Wissenschaften sind Seinsweisen des Daseins, in denen es sich auch zu Seiendem verhält, das es nicht selbst zu sein braucht. Zum Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt. Das dem Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie ‚Welt‘ und Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird. Die Ontologien, die Seiendes von nicht daseinsmäßigem Seinscharakter zum Thema haben, sind demnach in der ontischen Struktur des Daseins selbst fundiert
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Der Mensch ist „sich weder der Nächste noch der Fernste“?
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Auf diese Weise würde er Plessners philosophische Deutung von Pflanze, Tier und Mensch in ihrer Bezogenheit aufeinander ablehnen, da sie die Fundierung der Sekundärontologien in der Daseinsontologie außer Acht lässt. Nimmt man jeweils eine solche absolute Denkhaltung ein, führt sie in ihrer Zuspitzung in die Zementierung der eigenen Vorrangstellung. Diese kann nicht an die jeweilige Gegenseite abgetreten werden, da sich von ihr her und aus ihr heraus das Selbstverständnis speist. Ein Aufgeben des Primats des eigenen Ansatzes wäre gleichbedeutend mit einem Aufgeben des Keimgedankens, von dem die Ausdifferenzierungen leben. Würde man eine solche absolute Denkhaltung daher konsequent durchhalten, würde sie, auch wieder in ihrer Zuspitzung vorgestellt, einen Gesprächsabbruch mit sich führen: es kann nur die eine oder andere Position vorgängig und primär sein. Blickt man aus einer solchen Perspektive in die Philosophiegeschichte, ließe sie sich durchaus als Kampfplatz der Theorien lesen, in der die unterschiedlichsten Positionen miteinander, besser gesagt, gegeneinander um ihre theoretische Vorherrschaft streiten. Im Blick ist, wie gesagt, ausschließlich ein Streit, bei dem es nicht konstruktiv um den sachlichen Austausch von Argumenten und das Abwägen von zentralen Gesichtspunkten geht– ein solcher Streit gehört zum philosophischen ‚Geschäft‘–, sondern bei dem ein Rückzug auf das Fundamentale erfolgt. Und das heißt bezogen auf unsere Überlegungen: auf eine Fundamentalontologie oder auf eine Fundamentalanthropologie im Kontext des Organischen. Ohne vorschnelle Harmonisierungen vornehmen zu wollen, könnte man aber diese Fundamentalebene explizit aus methodischen Gründen zum Zwecke des Versuchs einer Annäherung zwischen beiden Positionen verlassen und primär auf Überschneidungen, Übergänge und Anknüpfungspunkte achten. Man bewegt sich dann auf einem schmalen Pfad, bei dem es darauf ankommt, Bezüge zwischen zwei Seiten vorzunehmen, ohne einer der beiden zu verfallen. Dieser schmale Pfad könnte durch die von Plessner aufgestellte – und aus der Perspektive von Heidegger durchaus zuzustimmende – These sein, der Mensch sei sich weder der Nächste noch der Fernste, weshalb wir sie in diesen Beitrag in das Zentrum gerückt haben.
und motiviert, die die Bestimmtheit eines vorontologischen Seinsverständnisses in sich begreift.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 13. Siehe auch ebd., S. 37 f. und S. 247)
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Begibt man sich auf diesen Pfad mit Heidegger, kann man auf die mit dem Dasein verbundene Verdeckungstendenz hinweisen, um dieser entgegenwirken zu können und in der Ent-Fernung wieder eher sich selbst durchsichtig sein zu können und zur ursprünglichen Seinsverfassung zu gelangen. Dies gelingt u. a. in der Achtsamkeit für die mit dem Leib des Menschen einhergehenden Stimmungen, in denen immer schon Verstehen geschieht. Von diesem aus wird man des Körpers als des Sekundärphänomens ansichtig, mit dem man umgehen und hantieren kann, der aber nicht dazu beiträgt ein, diesen Abbau von Verstellungen konstruktiv vorzunehmen – es sei denn in kritischer Hinsicht. Begibt man sich auf diesen Pfad mit Plessner, wird es nun möglich, ebenfalls auf eine Verdeckungstendenz hinzuweisen, um dieser entgegenwirken zu können, nämlich die des Eingebundenseins des Menschen innerhalb des Organischen in Zusammenhang mit seiner exzentrischen Positionalität. Dies gelingt in der Achtsamkeit für das Lebendige, das in der Person in dreifacher Weise präsent ist und in den Sinnsphären der Außenwelt, der Innenwelt und der Mitwelt, mit dem Bewusstsein, der Seele und dem Geist je spezifisch erfasst werden kann: als Körper, im Körper und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Kann man daher auf dem schmalen Pfad der Bestimmung des Menschen‚ weder der Fernste noch der Nächste zu sein, sich voran bewegen, ist beim Ansatz Heideggers kategorial zu konstatieren: „[…] erst Leib, dann Körper als sekundäres Distanzphänomen. Umgekehrt ordnet die Kategorie ‚exzentrische Positionalität‘ als Leitkategorie der Philosophischen Anthropologie: erst Körper, dann Leib“.42 Auf diesem schmalen Pfad schließen sich diese beiden Leitkategorien nicht aus, sondern verweisen jeweils auf die andere Seite, die es in einem integrativen Konzept zu bedenken gibt. Insofern ist die „Philosophische Anthropologie grundsätzlich von der Existenzphilosophie als Denkansatz verschieden“,43 übersehen sollte man dabei allerdings nicht die Berührungspunkte, wovon einer herausgearbeitet wurde.
42 J. Fischer, Exzentrische Positionalität, S. 286. 43 Ebd.
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Francesca Michelini
Helmuth Plessner und Hans Jonas. Geschichte einer verpassten Begegnung
„Das Leibliche [ist] das Schwierigste“ M. Heidegger, Zollikoner Seminare, Frankfurt a. M. 1977, S. 292.
1. Plessners und Jonas’ Philosophie des Organischen: Konvergenzen Es gibt keine Zweifel, dass zwischen den Philosophien von Helmuth Plessner und Hans Jonas zahlreiche Ähnlichkeiten bestehen. Und das gilt insbesondere für die Behandlung der Philosophie des Organischen, die in ihren beiden Hauptwerken Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) und Organismus und Freiheit (1966) konzipiert wird, welche sicherlich zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema zählen. Trotz der Stil- und Strukturunterschiede – Plessners Buch hat eine systematische Gliederung und ist auch stilistisch viel kompakter; Or ganismus und Freiheit hingegen ist letzten Endes nur eine Sammlung von Aufsätzen – stimmen die beiden Werke in ihrer Grundabsicht überein. Indem sie sich in verschiedener Hinsicht auf die Tradition der romantischen Naturphilosophie beziehen und Begriffe aristotelischen Ursprungs wiederaufgreifen, fassen beide Philosophen die Untersuchung von Lebewesen als einleitend und unabdingbar für jede Reflexion anthropologischer und letztendlich, insbesondere im Falle Jonas’, ethischer Natur auf. Helmuth Plessner schreibt dazu: „Erst ist einmal Klarheit darüber zu gewinnen, was als lebendig bezeichnet werden darf, bevor weitere Schritte zur Theorie der Lebenserfahrung in ihrer höchsten menschlichen Schicht unternommen werden.“1 Für Hans Jonas bleibt sogar die Ethik im Grunde genommen noch ein Teil der Philosophie der Natur: „[N]ur eine Ethik, die in der Breite des Seins und 1
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philoso phische Anthropologie (1928), 3. Auflage, Berlin, New York 1975, S. 37.
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nicht lediglich in der Einzigkeit oder Absonderlichkeit des Menschen begründet ist, kann Bedeutung im All der Dinge haben.“2 Aufgabenstellung, Methode und Zweck einer Philosophie des Lebendigen sind für Plessner wie auch für Jonas nicht auf die von den Naturwissenschaften verwendeten Parameter zurückzuführen, und die Funktion einer „philosophischen Biologie“ oder einer „Biophilosophie“ kann sich nicht einfach auf die Klärung der wissenschaftlichen Ergebnisse beschränken. Die allgemeine Grundannahme ist vielmehr, dass es auch abgesehen von der exakten naturwissenschaftlichen Methode möglich ist, eine Form von Naturerkenntnis hervorzubringen, und dass „[e]rst wenn man glaubt, die exakte Methode sei die einzige Art der Naturerkenntnis, […] man im Gegenstande nichts da sein lassen [will], was sie nicht erklären kann“.3 Für Plessner hingegen gibt es „[…] viel mehr in der Welt, als an ihr feststellbar ist“.4 Diese Unmöglichkeit, das Leben allein durch Messung, Überprüfung und Analyse zu erfassen, ist auch von Jonas beispielhaft durch die Fiktion des „Mathematiker-Gottes“ veranschaulicht worden: ein mathematischer Gott – das heißt ein körperloser Zuschauer – wäre mitnichten in der Lage, „den Punkt des Lebens selber“ zu erfassen, seinen „ontologischen Status“,5 denn: „Leben kann nur von Leben erkannt werden.“6 Jonas’ Ausdruck „Leben kann nur von Leben erkannt werden“ verweist auf den begrifflichen Hintergrund, vor dem sowohl Plessner als auch Jonas ihre Philosophie des Organischen ansiedeln. Beide zielen auf das, was man eine „Hermeneutik des Lebendigen“ nennen könnte, also schematischer ausgedrückt auf die begriffliche Gliederung jener „Wahrheit“ über die biologischen Phänomene, die vom empirischen Wissen weder direkt bestätigt noch bestritten werden kann, da die Untersuchung der Naturwissenschaften sie wie einen Interpretationsrahmen voraussetzt, der nur erahnt werden kann, „verstanden“, aber nicht „erklärt“ oder bewiesen werden kann. „Alle nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte“, schreibt Plessner in einem der Hauptkapitel seines Werkes, „haben dieses Schicksal, in die Erfahrung einzuge2 3 4 5 6
H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie (1966: 1. Ausgabe auf Englisch The Phenomenon of Life), Göttingen 1973, S. 342. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 86. Ebd., S. 119. H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 124. Ebd., S. 142. Vgl. auch W. Dilthey, „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Stuttgart, Göttingen 1961, S. 136: „Leben erfaßt hier Leben“
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hen, ohne im Fortgang der Erfahrung bestimmbar zu werden.“7 Und weiter: „Aufgelöst wird das Organische durch seine Erklärung nicht. Die exakte Biologie als Physik des Organischen zeigt, wenn überhaupt, nur das System der Bedingungen und Anlässe für das Auftreten der in ihrer Qualität irreduziblen organischen Modale.“8 Die Unzufriedenheit gegenüber der Reduzierung des Lebendigen und allgemeiner der Natur in ihrer Gesamtheit auf die Erklärung und die Methode der Naturwissenschaften muss zudem in beiden Fällen als Teil der allgemeineren Kritik eines jeden Dualismus betrachtet werden, insbesondere der Zurückweisung des kartesianischen Schemas, der Trennung zwischen einer Welt der reinen Innerlichkeit (res cogi tans), die ausschließlich dem Menschen zugeschrieben wird, und einer rein äußerlichen Welt der Natur (res extensa), aufgefasst als träge Materie. Plessner und Jonas beabsichtigen aber, diese Spaltung dadurch zu überwinden, dass sie auf einen Monismus der Indifferenz zurückgreifen bzw. auf eine metaphysische Einheit, in der die Differenz von Geist und Materie eliminiert wäre.9 Beide halten mithin an der praktischen Nützlichkeit der Unterscheidung von Physischem und Mentalem fest, die zweifellos wesentliche Aspekte des Wirklichen erfasst. Für Plessner zeichnet sich die organische Natur – und das unterscheidet sie vom Anorganischen – dadurch aus, dass sie Träger eines „Doppelaspektes“ bzw. einer „polaren Einheit“ wird; für Jonas ist das Leben an sich „ein Faktum der Polarität“.10
7 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 119. Der Verweis auf die Intuition von Seiten Plessners erfolgt sicherlich in Anlehnung an Diltheys Reflexionen und dessen Unterscheidung zwischen „verstehen“ und „erklären“, eine Unterscheidung, auf die sich auch Jonas beruft, zum Beispiel in Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987, S. 9. 8 H. Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 109 f. 9 Wie Plessner selbst (in Beziehung auf jenes Lebendige, das der Mensch ist) schreibt: „Seit Descartes hat dieser Dualismus die Entwicklung der Physiologie und Psychologie beherrscht und der Ausbildung der Anthropologie im Wege gestanden. Wir müssen begreifen, dass der Mensch eine Einheit ist, aber nicht eine Einheit im Sinne des Materialismus oder des psychischen Monismus, auch nicht im Sinne jener vitalistischen Theorien“ (H. Plessner, „Mensch und Tier“ (1946), in: ders., Conditio Humana. Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1983, S. 52-65, hier S. 65). 10 H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 15. Dieser Bezug auf die Polarität verweist auf die Hegelsche Philosophie. Roberto Franzini Tibaldeo erinnert daran, dass Jonas in einem Präsentationsdokument seiner Forschung, das im Nachlass verwahrt wird und sich auf die erste englische Ausgabe von Organism and Freedom bezieht, behauptet, dass ‚seine logische Struktur die Hegelsche ist: Paradox oder Polarität‘ (HJ-
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Beide, Plessner und Jonas, halten darüber hinaus Distanz zu Formen des Panpsychismus, des Animismus oder des Hylozoismus, also zu jeder Konzeption, die „die Lebendigkeit“ auch der anorganischen Natur zuschreibt. Die Grundthese, die sie somit verbindet, ist vielmehr die, dass die Sphäre der Innerlichkeit kein besonderer Vorzug sei, welcher die menschliche Natur auszeichnet, sondern eher auf das ganze Reich des Lebendigen ausgedehnt gehöre. Laut Plessner gibt es einen „Übergang aus dem Ausdehnungssein in das Innensein, aus der Welt des Seins in die Welt des Habens, nicht nur beim Menschen, soweit er sich philosophisch vornimmt und in sich geht, sondern ebenso überall da, wo Leben ihm entgegentritt.“11 Und Jonas schreibt seinerseits am Anfang von Organismus und Freiheit programmatisch, dass „das Organische schon in seinen niedersten Gebilden das Geistige vorbildet“, und dass „umgekehrt der Geist noch in seiner höchsten Reichweite Teil des Organischen bleibt“.12 Innerlichkeit und Subjektivität sind sonach schon in den ersten Manifestationen des Lebens präsent und werden nicht einfach mit der Sphäre des „Bewusstseins“ oder „Selbstbewusstseins“ identifiziert: „Ein Selbst ist noch kein Bewußtseinssubjekt“.13 In ihren Überlegungen gehen die zwei Philosophen vielmehr von der Leiblichkeit des Subjekts aus: nur weil wir lebendig und leiblich sind – und das ist der entscheidende Sinn des oben genannten Ausdrucks von Jonas „Leben kann nur von Leben erkannt werden“ –, können wir die Phänomene des Lebens nicht auf eine neutrale und distanzierte Weise betrachten, als ob sie „von außerhalb“ des Lebens selbst beobachtet würden, sondern sozusagen „aus dem Inneren heraus“, wobei das Leben nach Kategorien verstanden wird, die dessen innerste Konstitution erfassen, und die Lebewesen selbst als Wesen betrachtet werden, die in der Lage sind, ihr In-der-Welt-sein zu interpretieren. Für Plessner und Jonas kann das Leben weder rein physiologisch noch rein psychologisch erfasst werden. Es sei weder eine geheimnisvolle Kraft, welche die Materie durchdringe, noch etwas, das der körperlichen Realität hinzugefügt würde. Es ist eben keine geheime, versteckte oder verborgene Qualität, im Gegenteil ist der Bezug der 2-12-2) (R. Franzini Tibaldeo, La rivoluzione ontologica di Hans Jonas. Uno studio sulla genesi e il significato di Organismo e Libertà, Milano, Udine 2009, S. 81). 11 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 159. 12 H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 11. 13 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 159.
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beiden Philosophen auf das Leben stets der Bezug auf das Subjekt des Lebens selbst, auf das konkrete ontische Wesen: das Lebewesen. Auch in Bezug auf den lebendigen Organismus und seine Grundmerkmale, mehr noch als wegen der allgemeinen Betrachtungen, die bisher angestellt worden sind, muss man die grundlegende Ähnlichkeit zwischen den beiden Autoren feststellen: die Affinitäten sind in diesem Fall vielleicht sogar noch deutlicher. Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, einige von ihnen schematisch aufzuzählen, und verweise auf eine frühere Arbeit von mir zu einer detaillierteren Untersuchung.14 Zu allererst muss festgestellt werden, dass es für beide Ansätze wesentlich ist, ein Grundkriterium zur Definition des Lebewesens jenseits des Unterschieds von Äußerlichkeit und Innerlichkeit zu finden. Dabei wird ein solcher Unterschied wie schon erwähnt, keineswegs geleugnet, aber doch in eine Differenz verwandelt, die dem Leben selbst wesentlich zugehört. Für beide Philosophen erscheint von diesem Gesichtspunkt her die Thematisierung der „Grenze“ zwischen Außen und Innen als konstitutive Eigenschaft des Lebendigen grundlegend. Für Jonas entsteht die Grenze zwischen Außen und Innen im Wesentlichen auf der Basis des substantiellen Austausches mit der Umgebung, wie er sich im Stoffwechsel vollzieht. Im Stoffwechsel tritt hervor, wie das Lebendige „selbst-zentrierte Individualität ist, für sich seiend und in Gegenstellung gegen alle übrige Welt, mit einer wesentlichen Grenze zwischen Innen und Außen – trotz, ja auf der Grundlage des tatsächlichen Austauschs.“15 Bei Plessner wiederum ist die „Verwirklichung der Grenze“ der entscheidende Punkt um die Doppelaspektivität des Lebewesens zu begründen. Lebendig heißen – so Plessner – die körperlichen „Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt“.16 Das Verhältnis, das der Organismus zu seiner Grenze aufbaut, ist außerdem grundlegend für andere wesentliche Eigenschaften, zum 14 Vgl. F. Michelini, „Modelle des Organischen. Helmut Plessner versus Hans Jonas“, in: P. Grünenberg (Hrsg.), Das modellierte Individuum. Biologische Modelle und ih re ethischen Implikationen, Bielefeld 2012, S. 147-170. Die vorliegende Arbeit geht von den in diesem Aufsatz erzielten Ergebnissen aus und bildet dessen Fortsetzung, wobei versucht wird, auch den Unterschied im Ansatz der beiden Philosophen zu analysieren. 15 H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 124. 16 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 105.
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Beispiel die Tatsache, eine prozessuelle und konstant selbstüberschreitende Ganzheit zu sein. Das Leben „in seinen wesentlichen Erschei nungen“ – schreibt Plessner – kann „als die Reihe der Bedingun gen […], unter welchen allein eine Gestalt Ganzheit ist“ betrachtet werden.17 Sowohl Jonas als auch Plessner unterscheiden die organische Ganzheit von der „abstrakten Form“ oder von der einfachen „Übersummenhaftigkeit“. Für Jonas kann man von einem Organismus als Ganzheit sprechen, wenn ausgehend von der konstanten Erneuerung des Stoffwechsels ein Verhältnis der bedürftigen Freiheit der Form gegenüber der Materie entsteht. Es handelt sich natürlich um eine „Ganzheit“ mit Prozessnatur. Im Unterschied zum rein physischen Körper, der schlechthin sei, werde der Organismus er selbst. Im Prozess werde das Lebendige Anderes und bleibe zugleich es selbst: Die Bewahrung des gegebenen Zustands werde in der Tat durch eine kontinuierliche Veränderung jenseits desselben erreicht. Sein Bestehen sei stets mehr als bloße Bewahrung – dieses wird mehrmals von Jonas in Erinnerung gerufen. Das Lebewesen sei mithin eine Entität, dessen Sein sein Tätig-Sein ist,18 oder, um einen Begriff zu benutzen, der in der gegenwärtigen Forschung wieder verbreitet ist, und den schon Plessner benutzte, es ist eine plastische Entität.19 Diese Entität überschreitet sich kontinuierlich selbst, und die „Tran szendenz“ ist eine weitere Eigenschaft, die sowohl Jonas als auch Plessner dem Lebendigen zuschreiben. Bei Jonas bedeutet sie die kontinuierliche Selbstüberschreitung, welche sich paradigmatisch im Organismus in der Beziehung der Form zur Materie zeigt: „Leben ist wesentlich Bezogenheit auf etwas; und Beziehung als solche impliziert ‚Transzendenz‘, ein Über-sich-Hinausweisen seitens dessen, was die Beziehung unterhält“.20 Plessner meint damit, dass das Lebewesen mit einer inneren Lockerung ausgestattet ist, die es ihm erlaube, sich in die zwei Richtungen des „über sich hinaus“ und des „sich entgegen“ zu überschreiten.21 Das Lebendige „verwirklicht“ seine Grenze, indem es sie überschreitet, und durch die Überschreitung vollendet es den Übergang von sich selbst zum umliegenden Feld. Die Transzendenz besteht
17 Ebd., S. 122. 18 Vgl. H. Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M., Leipzig 1992, S. 82. 19 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 67. 20 H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 16. 21 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 129.
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aus dem Verhältnis, das der Körper zu seiner Umgebung aufbaut, oder in Plessners Sprache: zu seinem „Positionsfeld“. Bei diesem kurzen Überblick über einige der Konvergenzen zwischen den Philosophien des Organischen von Plessner und Jonas darf ein letztes wesentliches Merkmal nicht vergessen werden: es handelt sich um die ‚Zentrizität‘ des Lebendigen. Laut Jonas bildet die Tatsache, „funktional auf ein Zentrum gestützt zu sein“, einen Wesenszug des Organischen.22 Mit dem Ausdruck ‚Zentrizität‘ bezeichnet Plessner etwas komplizierteres: Es ist die positionale Beziehung, in der eine „Trennung“ und eine „Erhebung“ des Organismus über den eigenen Leib entstehen, dank einer organisatorischen Zentralisierung, die ihm einen Vermittlungskontakt zur Umwelt – zu seiner Umwelt – erlaubt, wahrgenommen als vom Körper selbst getrennt. Es handelt sich um gar kein physisches oder räumliches, sondern um ein bloß „virtuelles“ Zentrum, kraft dessen der Organismus als ein Ganzes, als ein System erscheint.23 Durch die Herausbildung eines Zentrums konstituiert sich das Lebewesen als ein „Selbst“, und ausgehend von der Anwesenheit oder dem Fehlen eines solchen Zentrums wird auch der Unterschied zwischen den verschiedenen „Stufen“ des Organischen bestimmt, zwischen der Pflanze, dem Tier und dem Menschen. Den Pflanzen fehle nämlich, so Plessner, noch das zentrale Organ, in welchem ihr Körper verbunden oder repräsentiert würde. Ihnen fehle der Bezug auf den Zusammenhang ihrer Teile, der es ermöglichen würde, sie zu einem zentrierten unum zusammenzufügen. Ihre Individualität ist, mit anderen Worten, unstrukturiert; die Pflanze sei, wie Plessner meint, weniger ein Individuum als ein Dividuum,24 das in sich eine gewisse Autonomie der Teile behalte, wenn auch innerhalb einer für Lebewesen typischen Organizität. Die Pflanze verfüge jedenfalls nicht über jenen Bezugskern, der in der Lage wäre, eine höhere Einheit zu gründen, wie es bei Tieren über die sogenannte „geschlossene Form“25 der Fall sei.
22 Vgl. H. Jonas, „Biological Foundation of Individuality“, in: ders., Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man, Chicago 1974, S. 197. 23 „Der Körper ist auf einen in ihm liegenden Zentralpunkt bezogen, der keine räum liche Stelle hat, wohl aber als Zentrum des umgrenzten Körpergebietes fungiert und damit das Körpergebiet zu einem System macht“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 158). 24 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 220. 25 Ebd., S. 226 f.
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Auch dieser letzte Punkt findet eine bemerkenswerte Übereinstimmung in Jonas’ Gedanken. Der Aufsatz „Bewegung und Gefühl. Über die Tierseele“ – Teil von Organismus und Freiheit – präsentiert eine Gliederung der Grade des Lebendigen, die auf ein ähnliches Prinzip gründet, wenn sie auch nicht – wie Majorie Grene in der Rezension von Jonas’ Werk bemerkt hat – so solide strukturiert ist wie von Plessner in Die Stufen.26
2. „Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt“ In Anbetracht der soeben genannten Konvergenzen ist es erstaunlich zu bemerken, dass es zwischen den beiden Philosophen keinen direkten Einfluss oder wissenschaftlichen Austausch gegeben zu haben scheint. Was aber die Interpreten am meisten verwundert hat, ist die Tatsache, dass Jonas, dessen Werk viele Jahre nach der ersten Ausgabe von Plessners Klassiker erschienen ist, nie offen seine Schuld gegenüber Die Stufen des Organischen, und allgemeiner gegenüber der philosophischen Anthropologie, eingestanden hat. Jonas erwähnt Plessner nur ein einziges Mal und das in einem außerwissenschaftlichen Kontext, bezüglich eines Meinungsaustausches über verlagstechnische Fragen.27 Die erste, die sich darüber gewundert hat, war Majorie Grene, die in der bereits genannten Rezension zu The Phenomenon of Life, unterstrichen hat, dass Jonas neben Plessner auch viele andere Philosophen nicht erwähnt, wie zum Beispiel Merleau-Ponty (und dessen Begriff des Leibes), von dem jedoch ihrer Meinung nach zahlreiche Spuren in
26 „His essay on The Animal Soul puts rather slightly what Plessner argued much more solidly about plants and animals in Die Stufen des Organischen und der Mensch in 1928“ (M. Grene, „Organic Thinking. The Phenomenon of Life. Towards a philosophical biology“, in: Commentary, 42/1996, S. 94-95). Plessners Betrach tungen über Pflanze und Tier sind jedoch nicht nur „more solidly“ als die von Jonas, sondern sie gehen auch von einem anderen Standpunkt aus. Für Plessner ist der Un terschied zwischen Pflanze und Tier nur auf dem, was er die „ideale Ebene“ nennt, feststellbar, aber er kann nie von einem empirischen Standpunkt erfasst werden, ein Punkt, der in Jonas’ Analyse nicht deutlich hervortritt. 27 Vgl. H. Jonas, Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, Frankfurt a. M. 2003, S. 232.
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Jonas’ Denken zu bemerken sind.28 Eine Ausnahme bildet die Philosophie von Alfred North Whitehead, der einzige, dessen Einfluss Jonas offen anerkannt hat29 und dessen Philosophie auf einigen eindringlichen Seiten von Organismus und Freiheit direkt erörtert wird.30 Auch Joachim Fischer hat bemerkt, dass Jonas „seine Argumente in den Kontext von Schelers und Plessners Ideen der 20er Jahre [rückte]“ und dass es gerade deshalb „[a]uffällig sei, dass der Heidegger-Schüler in der amerikanischen Emigration in seinen ästhesiologischen und bildanthropologischen Arbeiten keinerlei Bezug zu den Schlüsselfiguren der deutschen philosophischen Anthropologie herstellt“.31 Vallori Rasini hat ebenfalls hervorgehoben, wie Jonas sich nie offen auf die philosophische Anthropologie und insbesondere auf Plessner bezogen hat und wundert sich zudem im Allgemeinen, dass „Jonas seinen intellektuellen Werdegang als eine einsame und ganz selbständige Entwicklung beschreibt, die gegen jegliche Anregung von Seiten der zeitgenössischen Philosophie, vor allem der deutschen, immun sei“.32 Und sie unterstreicht – genau wie Grene und Fischer –, dass Jo28 M. Grene, „Organic Thinking“, S. 94. Unter denen, die sich gefragt haben, warum Plessner in Jonas’ Werk nicht zitiert wird, muss auch Reinhard Löw erwähnt werden, der jedoch, wie Grene, die Tatsache unterstreicht, dass Jonas fast keinen Philosophen offen zitiert (R. Löw, „Zur Wiederbegründung der organischen Naturphilosophie durch Hans Jonas“, in: D. Böhler (Hrsg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994, S. 69). 29 Vgl. H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 24 f. 30 H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 148 f. In Wirklichkeit zitiert Jonas in dem im Nachlass verwahrten Dokument, das sich auf Organism and Freedom bezieht und bereits in der Fußnote Nr. 10 erwähnt wurde, auch andere Philosophen unter den Quellen für sein Werk. Er behauptet in der Tat, dass die wesentlichen Eigenschaften seines Denkens „aristotelisch und leibnizianisch (aber auch Platon, Kant, Bergson und einige Anregungen der besten zeitgenössischen kontinentalen Ontologie) sind“. Vgl. R. Franzini Tibaldeo, La rivoluzione ontologica di Hans Jonas, S. 81. Was er unter der „besten zeitgenössischen kontinentalen Ontologie“ versteht, wird jedoch nicht näher erläutert. 31 Vgl. J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhun derts, München 2008, S. 366 f. Fischer führt auch ein Urteil von Otto Pöggeler an, demzufolge „Jonas der Sache nach […] Gedankengänge von Scheler wiederholt, ohne sich mit Scheler und der Bergson-Rezeption auseinanderzusetzen“ (O. Pöggeler, „Ausgleich und anderer Anfang. Scheler und Heidegger“, in: Phänomenologische Forschungen, Bd. 28-29/1994, S. 200, zit. in J. Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 367). 32 Vgl. V. Rasini, „Hans Jonas e l’antropologia filosofica tedesca“, in: Rivista di filoso fia, 101(2)/2010, S. 272. Heidegger widmete sogar 1929 seinen Band Kant und das Problem der Metaphysik der Erinnerung Schelers, der ein Jahr vor dessen Veröffentlichung verstorben war.
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nas selbst, zumindest durch seinen Lehrer Heidegger, Scheler kennen musste, da die Philosophie des Seins und die des Lebens die beiden damals dominierenden (und gegnerischen) Paradigmen waren. Es muss auch erwähnt werden, dass einer der besten Freunde von Jonas – der Philosoph Günther Anders – 1926 Assistent von Scheler in Köln war.33 Trotzdem vermeidet Jonas auch in allen seinen autobiographischen Überlegungen jeden Bezug, wobei er ganz im Gegenteil betont, dass das Gebiet der Philosophie des Lebewesens, bevor er sich derselben widmete, fast komplett unerforscht war. Besonders an einer gelinde ausgedrückt verwunderlichen Stelle in Wissenschaft als persönliches Erlebnis behauptet er, als er seinen Gedankengang zurückverfolgt, dass in den Zwanziger Jahren (genau als die Hauptwerke von Scheler und Plessner erschienen), als er ein junger Student war, die Natur ausschließlich Angelegenheit der exakten Wissenschaften gewesen wäre und sich in philosophischen Kreisen nicht der mindesten Aufmerksamkeit erfreute: „Naturphilosophie war längst keine achtbare philosophische Disziplin mehr.“34 Die Schlussfolgerungen von Rasini sind einerseits, dass es unmöglich sei, dass Jonas nicht die deutsche Philosophische Anthropologie kannte, und andererseits, dass seine eigene allgemeinere Rekonstruktion der Einseitigkeit der deutschen Philosophie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – in der das Problem des Lebendigen vollkommen oder nahezu vollkommen fehle – schwer zu rechtfertigen sei, da es sich um die Jahre handele, in denen „Bewegungen entstanden, die nicht nur jede Form von – idealistischem oder materialistischem – Reduktionismus scharf kritisierten, sondern vor allem auf der Notwendigkeit beharrten, die Leiblichkeit des Lebendigen für das philosophische Denken zurückzugewinnen“.35 Warum Jonas sich nicht direkt mit Plessner und mit der philosophischen Anthropologie auseinandersetzt – da er sie wie gesagt kennen musste –, darüber werden allerdings weder von Rasini noch von Grene noch von Fischer konkrete Vermutungen angestellt. Die genannten Autoren beschränken sich darauf, diesen Umstand als Tatsache zu registrieren, wobei sie einerseits das Selbstbild zurückweisen, das Jonas 33 Ebd., S. 276. 34 H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 20. 35 V. Rasini, „Hans Jonas e l’antropologia filosofica tedesca“, S. 274 f. V. Rasini ruft außerdem in Erinnerung, dass Jonas auch nicht zwei für die philosophische Anthropologie wesentliche Autoren zitiert, die er sicherlich gelesen haben musste: J. von Uexküll und H. Driesch (ebd., S. 280).
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von sich als einem der wenigen Wiederbeleber der Naturphilosophie im 20. Jahrhundert zeichnet, und andererseits vorschlagen, sein Werk, wegen der Ähnlichkeiten von Jonas’ Gedanken mit den Themen der philosophischen Anthropologie, rechtmäßig der Wirkungsgeschichte letzterer zuzuschreiben.36 Eigentlich ist der interessante Aspekt jedoch genau der: Was sind die Gründe für das Verschweigen? Man könnte versuchen, die Angelegenheit mit einem Spruch zu erledigen, der nicht von Jonas, sondern gerade von Plessner stammt. Am Ende des Vorworts zur zweiten Ausgabe von Die Stufen (1965) antwortet Plessner jenen, die ihm vorgeworfen hatten, dass er Hegel nicht zitiert habe, oder die ihn auf die Übereinstimmungen zwischen seinen Formulierungen mit denen Merleau-Pontys oder des jungen Sartre aufmerksam machten: „Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluss. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt.“37 Dieser Anregung folgend, aber auf den ‚Fall‘ Jonas angewandt könnte man schließen, dass letzterer, obwohl er übereinstimmende Thesen behauptet, weder Scheler noch Plessner direkt gelesen hat. Und die Annahme seiner Unkenntnis würde auch in der intellektuellen Biographie Jonas’ eine gewisse Stütze finden. Gegen Ende der Zwanziger Jahre, als die philosophische Anthropologie ihren Höhepunkt erreichte (der Entwurf der philosophischen Anthropologie von Scheler erscheint 1928, im selben Jahr wie Die Stufen), beschäftigte Jonas sich mit theologischen und religiösen Fragen (im Jahr 1928 hatte er bei Bultmann und Heidegger über das Thema der Gnosis promoviert) und war außerdem in der zionistischen Bewegung politisch stark engagiert, ein Engagement, das ihn weitblickend dazu bringen wird, Deutschland schon 1933 zu verlassen. Sein Interesse für die Naturwelt beginnt zwar in Gegenüberstellung zu seiner Ablehnung der Welt und des Dualismus, den er im „Prinzip Gnosis“ entdeckte, aber dieses erst in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, und das beste Zeugnis dafür sind die sogenannten Lehrbriefe, die er von der Front an seine Frau Lore schickte: Diese enthalten auf schon sehr konkrete Weise den
36 Dieser Meinung ist J. Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 367. Fischers Bezug sind jedoch vor allem die ästhesiologischen und bildanthropologischen Arbeiten von Jonas, sowie das Das Prinzip Verantwortung, und nicht Jonas’ Philosophie des Organischen in ihrer Gesamtheit. 37 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XXIII.
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Hauptkern von Organismus und Freiheit, und Jonas schreibt sie, ohne irgendeinen Band zur Hand zu haben.38 Wenn auch die fehlende Lektüre von Schelers Werken weniger nachvollziehbar erscheint, so ist es doch nicht schwer zu glauben, dass Jonas in jenen Jahren nicht Die Stufen des Organischen und der Mensch gelesen hat, da das Buch – wie auch Plessner selbst im zweiten Vorwort ausführlich erwähnt – völlig unbemerkt blieb, dank des dominierenden Interesses für die Philosophie der Existenz (Sein und Zeit war 1927 erschienen) und der Feindseligkeit Schelers, der Plessner des Plagiats bezichtigte.39 Auf fast entrüstete, aber zugleich auch im Rückblick etwas triumphierende Art erinnert Plessner 1965 daran, dass die Anhänger von Heidegger Die Stufen des Organischen und der Mensch „keines Blickes würdigten“.40 Angenommen Jonas habe, wie es ja auch plausibel erscheint, in den Zwanziger Jahren bis zu seiner Auswanderung nach Amerika keinerlei Interesse für die philosophische Anthropologie gehabt und er habe in jenen Jahren keines der einschlägigen Werke direkt gelesen, so ist es dennoch schwer verständlich, warum er im Rückblick, als er nunmehr ein berühmter „Philosoph des Organismus“ war, in seinen autobiographischen Überlegungen nicht deren Bedeutung für die Bildung einer Philosophie des Lebewesens in Deutschland würdigend anerkennen konnte. Scheler war zwar 1928 frühzeitig verstorben, aber Jonas hatte, wie schon erwähnt, die Gelegenheit, Plessner persönlich zu treffen und mit ihm zu diskutieren, da letzterer 1962/63 Visiting Professor an der New School for Social Research in New York war, die Universität, an der Jonas von 1955 bis 1976 ununterbrochen Philosophie unterrichtete.41
38 39 40 41
H. Jonas, Lehrbriefe an Lore Jonas, in: ders., Erinnerungen, S. 348 f. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. VII-VIII. Ebd., S. XIV. Plessner war 1962/63 der erste Inhaber der Theodor-Heuss-Professur an der New School for Social Research in New York. Die Professur war mit finanziellen Mitteln der Bundesrepublik Deutschland eingerichtet worden, in Anerkennung der Verdienste, die sich die New School nach 1933 durch die Aufnahme der durch die Nationalsozialisten ins Exil gezwungenen Wissenschaftler erworben hatte. In Plessners Biographie von C. Dietze wird erzählt, dass bei Plessners Ankunft in New York der Dekan der Universität Howard White eine Gartenparty organisiert hatte, um den Neuankömmlingen die Möglichkeit zu geben, die „verbliebenen Emigranten aus der Gründergeneration der Abendhochschule kennenzulernen“, darunter auch „den Heidegger-Schüler“ Hans Jonas. Vgl. dazu C. Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985, Göttingen 2006, S. 511.
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Die plausibelste Annahme ist meiner Meinung nach, dass Jonas nicht Plessner ignorierte, sondern dass er sein eigenes Projekt einer philosophischen Biologie als verschieden betrachtete im Vergleich zum philosophischen Kollegen. Das könnte in gewissem Sinne auch der Spruch „Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt“ nahelegen: eine Konvergenz, die aber von verschiedenen Gedankengängen ausgeht. Diese Annahme soll im dritten und vierten Abschnitt des vorliegenden Beitrags vertieft werden, in denen ich versuchen möchte, zu überprüfen, ob Jonas’ Schweigen eher in einer Selbstbeweihräucherung, in einem mehr oder weniger gewollten Vergessen oder in einem „Anachronismus“-Problem verwurzelt ist,42 oder ob es vielmehr explizit philosophische Begründungen gibt, die das philosophische Projekt von Jonas (wie auch von Plessner) selbst betreffen. Es geht also darum, die Perspektive teilweise zu ändern. Es ist notwendig, von der Verwunderung über das Fehlen auszugehen, um sich zu fragen: Sind wir wirklich sicher, dass es jenseits der oben erwähnten offensichtlichen Konvergenzen zwischen den beiden Philosophen nicht auch derartig gravierende Divergenzen gibt, dass ihr philosophisches Unternehmen letztendlich nicht nur als unterschiedlich, sondern vielmehr als alternativ aufgefasst werden muss? Eine Alternative, wohlbemerkt, im Inneren der Absicht, dasselbe Grundproblem zu lösen, das als unumgänglich empfunden wird: Die Festlegung des Status des Lebendigen, seiner Unterschiede zum Nicht-Lebendigen und der Art, auf die sich jenes Lebendige, das der Mensch ist, in der Natur selbst verwurzelt und sich dennoch von ihr unterscheidet. Welches ist dann der allgemeine Sinn einer „Hermeneutik des Lebewesens“ für Jonas respektive für Plessner? Um auf diese Frage zu antworten, ist es angebracht, nicht nur ihre Konvergenzen zu erkunden, sondern auch die Aspekte, durch die sie sich unterscheiden. Da eine detaillierte Untersuchung eine viel umfangreichere Arbeit als die vorliegende verlangen würde, beschränken wir uns hier nur auf zwei Punkte: die Frage der Ontologie und die der 42 Dieser Ausdruck wird von Rasini gebraucht, um zu sagen, dass „als Jonas, bei der Verfolgung eines Weges, den er als ganz persönlich empfand, die Wende zu einer Philosophie des Lebens erreichte, die zeitliche Entfernung von den intellektuellen Kreisen der 20er Jahre nunmehr unüberbrückbar war (vielleicht auch dank eines gewissen ‚Niedergangs‘ der philosophischen Anthropologie […]) und zu einem verständlichen ‚Gefühlsabstand‘ hinzukommt, der von politischen Enttäuschungen und persönlichen Leiden gezeichnet war“ (Vgl. V. Rasini, „Hans Jonas e l’antropo logia filosofica tedesca“, S. 283).
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Sterblichkeit. Der Grund für diese Auswahl liegt darin, dass es sich um zwei Problematiken handelt, bei denen beispielhaft der Einfluss (im Falle von Jonas) oder der Widerstand (im Falle von Plessner) gegenüber einer ganz bestimmten Philosophie erkennbar ist: derjenigen von Martin Heidegger. Die Gestalt des „Zauberers von Meßkirch“ auf den Spielplan zu rufen, macht die Angelegenheit nicht komplizierter, sondern erweist sich im Gegenteil als unabdingbar. Entscheidend für die hier aufzustellende Annahme ist nämlich, dass es gerade die Beziehung zu Heideggers Philosophie erlaubt, den Sinn des (verfehlten) Verhältnisses zwischen Jonas und Plessner zu erfassen.
3. Die Auseinandersetzung mit Heidegger: Ontologie und Sterblichkeit 3.1 Plessner: Philosophische Anthropologie und Kritik am Ontomorphismus Die letzte Behauptung des vorigen Absatzes könnte erstaunen, denn auf den ersten Blick scheint zu den zahlreichen Gemeinsamkeiten der beiden Philosophen auch die konstante Kritik an Heidegger und im Allgemeinen an den Philosophien existentialistischer Herkunft zu gehören. Es wäre auch vielleicht gar nicht so gewagt zu behaupten, dass beide Philosophen Heidegger als ‚nützlichen‘ Gegner gebrauchen, um ihre eigenen Positionen zu stützen und zu festigen. Das ist offensichtlich im Falle Plessners. Sein Gedankengang zeichnet sich nämlich durch eine regelmäßig wiederkehrende Kritik an Heidegger aus, die auch im Laufe der Jahre konstant bleibt und die der Unterscheidung zwischen einem „frühen“ und einem „späten“ Heidegger keine Bedeutung beimisst. Schon im Vorwort zur ersten Ausgabe der Stufen (also weniger als ein Jahr nach Erscheinen von Sein und Zeit) findet sich, wie man sehen wird, ein bedeutsamer Bezug auf Heidegger, der im Vorwort zur zweiten Ausgabe erweitert und vertieft wird. Die Auseinandersetzung mit Heidegger ist außerdem – und das ist kein Zufall – vor allem in jenen programmatischen Aufsätzen vorhanden, in denen Plessner die Natur und die Zwecke der philosophischen Anthropologie behandelt.43 43 Nachfolgend werde ich mich insbesondere auf H. Plessner, „Immer noch Philoso phische Anthropologie?“ (1963), und auf „Der Aussagewert einer philosophischen
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Es ist bei dieser Gelegenheit nicht möglich, Plessners Kritiken an Heidegger im Detail zu würdigen, und es kann auch nicht festgestellt werden, inwieweit sie gerechtfertigt sind oder wenigstens zum Teil dessen Denken missverstehen.44 Auch die komplexe Frage nach dem Verhältnis zwischen Heidegger und der philosophischen Anthropologie soll hier nicht aufgeworfen werden. Im Hinblick auf das hier gestellte Problem ist es jedoch angemessen, wenigstens kurz auf einige wesentliche Punkte hinzuweisen. Im Allgemeinen betrachtet Plessner Heideggers Philosophie als eine der letzten Verkörperungen jener Gedankentradition dualistischer Herkunft, die die Natur, und insbesondere den Organismus, in ihrer „immensen Verkettung“ mit der menschlichen Welt nicht in Betracht zieht, sondern die letztere komplett der Herrschaft der Biologie und der Wissenschaft überlässt: „In der Tradition Kants, der Identitätsphilosophie, und des Neukantianismus ist Natur das Andere, das Konstituierte, das Produkt schöpferischer Funktionen und selbst als Geist in seinem Anderssein nur ein Zwischenspiel auf dem Rückweg zum Ursprung […]. Auch Heidegger ist als ein weiterer Schritt in dieser Linie zu verstehen“.45 Ausgehend von diesem allgemeinen Hintergrund kann man versuchen, Plessners Kritik an Heidegger in vier Punkten zusammenzufassen, die in Wirklichkeit schwer zu schematisieren sind, da sie eng miteinander verbunden sind: (1) Der Ontomorphismus beziehungsweise die dem „Sein“ im Vergleich zum „Menschen“ verliehene Priorität; (2) die Vergessenheit des Begriffs des Lebens, der für Plessner absolut vorrangig im Vergleich zum „Sein“ ist; (3) die Vergessenheit – unentwirrbar mit der soeben festgestellten verflochten – des Begriffs Anthropologie“ (1973), in: ders., Conditio Humana, S. 235-246 und S. 380-399, beziehen. In dieser letzten Schrift scheint Plessners Interpretation von Heidegger nicht direkt zu sein, sondern stark vermittelt, wie er selbst anerkennt, durch die Lektüre von H. Fahrenbach, „Heidegger und das Problem einer philosophischen Anthropologie“, in: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970, S. 97-131. 44 Ich verweise zu dieser Problematik auf den Aufsatz von Joisten in diesem Band und auf T. Ebke, Plessners Doppelaspekt des Lebens und Heideggers Zweifachheit der Physis: Ein systematischer Vergleich, München 2008. Vgl. auch H. P. Krüger, „Die Leere zwischen Sein und Sinn: Helmuth Plessners Heidegger-Kritik in ‚Macht und menschliche Natur‘ (1931)“, in: W. Bialas, B. Steuzel (Hrsg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur, Weimar, Köln, Wien 1996. 45 H. Plessner, „Immer noch eine philosophischen Anthropologie?“, S. 245.
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der Leiblichkeit zu Gunsten dessen des „Seins“; (4) der Subjektivismus und der Anthropozentrismus, die erneute Darbietung in Sein und Zeit von dem, was Plessner ironisch das „deutsche Märchen vom Ich“ nennt.46 Die erste Kritik ist vielleicht die radikalste, da sie direkt auf das Herz von Heideggers Plan zielt, eine Fundamentalontologie zu begründen. Aufgabe einer Fundamentalontologie ist bekanntermaßen für Heidegger in erster Linie nicht direkt das Verstehen von dem, was er „Dasein“ nennt, sondern die Erschließung des Seins des Daseins. Die Fundamentalontologie muss die Analytik grundlegender Strukturen des Menschseins umfassen, durch die Ausarbeitung dessen, was das Dasein in seinem Sein konstituiert (die sogenannten „Existenzia lien“). Die existentiale Analytik wird so nicht als eine Anthropologie aufgefasst, sie maßt sich nicht an, eine komplette Studie der verschiedenen Züge des Menschen zu liefern, sondern die wesentlichen Existenzialien des Daseins zu offenbaren, und das im Inneren ihrer Leitfrage nach dem Sinn des Seins im Allgemeinen. Die Hauptkritik von Plessner richtet sich genau darauf: Heideggers Untersuchung zum Sein des Daseins wird nicht mit dem Endzweck angelegt, in den Mittelpunkt seiner Konstitution den Menschen zu stellen; sie ist nicht unabhängig, sie hat als solche keinen Wert, sondern hat als Ziel nur das Sein: „Die Analyse der dem Menschen spezifischen Art ‚zu sein‘“, schreibt Plessner beispielhaft im Vorwort zur zweiten Ausgabe der Stufen, „stand nicht für sich. Man hätte sonst alle Vorbehalte für eine Form von philosophischer Anthropologie halten können. Sie gab sich aber als eine Prozedur, um den Sinn des Seins zu finden, als eine Methode zur Fundamentalontologie“.47 In Wahrheit wäre es nicht möglich, zu behaupten, dass die existentiale Analytik Heideggers eine einfache Prozedur hinsichtlich der Fundamentalontologie sei, „weil sich nach Heidegger das Menschsein seine Essenz oder Natur nur aus seinem Verhältnis (geschichtlich wandelbaren) zum Sein bestimmt“.48 Man befindet sich also in der fast paradoxen Lage, in der die „Anthropologie […] so die Fundamentalontologie voraus[setzt] und […] auch auf dem Wege zu ihr sein [soll]“.49 46 H. Plessner, „[Brief an J. König vom 22. Feb. 1928]“, in: H.-U. Lessing, A. Mutzen becher (Hrsg.), Josef König, Helmuth Plessner, Briefwechsel 1923–1933, Freiburg 1994, S. 172-182. 47 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. X. 48 Ebd. 49 H. Plessner, „Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie“, S. 388.
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Letztendlich begeht Heidegger für Plessner einen ähnlichen Fehler wie Max Scheler: zu bestimmen, was der Mensch ist, ausgehend von etwas ihm Äußeren. Da beide Philosophen die Überzeugung teilen, dass es „[v]on Natur […] keinen Menschen [gibt]“,50 müssen sie sich, um ihn zu definieren, jeweils auf das Verhältnis zu Gott im Falle Schelers (Theomorphie) oder im Falle Heideggers auf das Sein selbst (Ontomorphie) beziehen.51 Auf diese Frage kehrt Plessner bis zu seinen letzten Aufsätzen immer wieder zurück, in denen er bekräftigt, dass Heideggers Perspektive „in keine Anthropologie münden [will], sondern in die Frage nach dem Sinn des Seins“, und dass letztere für Heidegger immer vorrangig im Vergleich zu jeder Anthropologie bleibt.52 Somit sind Fundamentalontologie und Anthropologie – wenn Heidegger auch zuweilen „entgegen seiner Absicht“ zu einer anthropologischen Perspektive geführt wird53 – zwei alternative und unvereinbare Wege: „Deshalb“, schließt Plessner, „führt kein Weg von Heidegger zur philosophischen Anthropologie, vor der Kehre nicht und nach der Kehre nicht“.54 Um also „die ontologische Vorprägung“55 zu vermeiden und nicht in den Bannkreis dieser Argumentationen zu fallen – und damit kommen wir zur zweiten Kritik an Heidegger –, ist ein anderer Ausgangspunkt notwendig: Man muss von „unten“ ausgehen – nicht von dem, der fragt, nicht vom Dasein, sondern vom Horizont des Lebens überhaupt. Die zu „wagende“ These ist also: „Leben birgt als eine seiner Möglichkeiten Existenz.“56 Das bedeutet nicht einfach nur, dass es überhaupt nicht notwendig ist, dass so etwas wie die menschliche Art da ist – eine Tatsache, die vom evolutionistischen Standpunkt aus eine reine Feststellung ist; es bedeutet auch, von einem eigentlich Plessnerischen Standpunkt aus, dass das Dasein eine Dimension ist, die nur verstanden werden kann, wenn man von der „Sonderstellung des Menschen als eines Lebewesens“ ausgeht,57 beziehungsweise von seiner exzentrischen Positionalität. Das Dasein ist also zweitrangig und gründet auf jene besondere Verflechtung zwischen Körper und Leib, die die typische Positionalität des Menschen ausmacht. 50 51 52 53 54 55 56 57
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XI. Ebd. H. Plessner, „Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie“, S. 398. Ebd. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XIV. H. Plessner, „Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie“, S. 388. Ebd., S. 390. Ebd.
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Damit haben wir schon den dritten wesentlichen Punkt von Plessners Kritik angesprochen – den Verlust des Körpers und der „natürlichen“ Dimension des Menschen im Existenzialismus – ein Verlust, der mit dem soeben erwähnten allgemeineren Fehlen des Lebens Schritt hält. Plessner erinnert hierzu an die Worte des Heidegger-„Schülers“ Karl Löwith: „Die lebendige Welt […] ist, in eins mit dem leibhaftigen Menschen, im Existenzialismus wieder verloren gegangen“.58 Für Plessner bleibt das Dasein eine „freischwebende Existenz“,59 in der es sich von seiner Leiblichkeit entfernt, von der „unübersehbare[n] Verklammerung der menschlichen Art zu sein mit dem menschlichen Organismus“,60 von jenem Schicksal, das der Mensch mit allen anderen Lebewesen teilt, kraft der Tatsache, dass er geboren wird, lebt und stirbt. In Wirklichkeit macht Heidegger aus dem Problem des Todes den archimedischen Punkt, auf dem die Führung der eigentlichen Existenzform gründet; dennoch wird der Tod eben auf das „Seinzum-Tode“ zurückgeführt, beziehungsweise auf eine Existenzialie, so wie auch andere natürliche Dimensionen, die der Mensch mit allen Lebewesen teilt, als „Existenzialien“ betrachtet werden: Geburt wird „Geworfenheit“, Leben wird „Existieren“.61 Aber für Plessner, wie er schon 1928 in einem Kommentar am Ende des Vorworts schrieb, den Heidegger als „dumm“ abtut, ist es unmöglich, die Voraussetzung der Existenzialien selbst zu akzeptieren, das heißt die Tatsache, dass „der Untersuchung außermenschlichen Seins eine Existentialanalytik des Menschen notwendig vorhergehen müsse“.62 Das zeigt – um zum letzten Punkt der Kritik zu kommen – für Plessner, dass Heidegger noch von jener alten subjektivistischen und anthropozentrischen Tradition geprägt ist, auf Grund derer „der philosophisch Fragende sich selbst existentiell der Nächste [ist]“,63 eine Denktradition, die, wie schon gezeigt worden ist, für Plessner auf die Linie Kant-Husserl und noch weiter zurück auf Augustinus und seinen Rückzug in die Innerlichkeit zurückzuführen ist, während er meint, dass sein eigener Begriff der exzentrischen Positionalität – in
58 59 60 61 62 63
H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XII. Ebd., S. XIV. H. Plessner, „Immer noch eine philosophische Anthropologie?“, S. 244. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XII. Ebd., S. V. Ebd.
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dem der Mensch „weder der Nächste noch der Fernste“ ist64 – das Feld vom „deutschen Märchen vom Ich“ geräumt habe. 3.2 „Eine große, nicht auszulöschende Tatsache in meinem Leben“. Jonas’ Interpretation von Heideggers Existenzialien Die kritische Auseinandersetzung mit Heidegger ist sicherlich auch eine Konstante in der Philosophie von Jonas.65 Sie geht jedoch von einer hohen und ausdrücklichen Anerkennung des Schülers für den Lehrer aus, die in den autobiographischen Worten Jonas’ zusammengefasst werden kann: „Er ist nicht nur einer der bedeutendsten Denker unseres Jahrhunderts, sondern der Mann, von dem ich wie von keinem anderen Philosophen gelernt habe und philosophisch mitgeprägt wurde – eine große, nicht auszulöschende Tatsache in meinem Leben, in meiner philosophischen Existenz.“66 Trotzdem stimmt die Kritik an Heideggers Philosophie in vielerlei Hinsicht mit der Plessners überein, die soeben umrissen worden ist. Letzterem stimmt Jonas in der Tat absolut zu, wenn er sagt, dass Heideggers Philosophie in eine Tradition dualistischer Herkunft einge64 Ebd.; vgl. dazu den Beitrag von Joisten in diesem Band. 65 Jonas’ Auseinandersetzung mit Heidegger betrifft insbesondere den „frühen“ Hei degger und vor allem das Werk Sein und Zeit. In Organismus und Freiheit (S. 309) tritt auch der Bezug auf dessen Schrift Über den Humanismus auf. Der einzige Text, der eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung mit Elementen der Heideg gerschen Spätphilosophie beinhaltet, ist Heidegger und die Theologie (1964), eine Schrift, deren Ursprung die berühmte an der Drew University von New Jersey ge haltene Konferenz ist, die einen solchen Aufruhr verursachte, dass die „New York Times“ auf der ersten Seite titelte: „Scholar breaks with Heidegger“, wie auch Jonas in seinen Erinnerungen erwähnt. (Andeutungen auf den späten Heidegger finden sich auch in H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhun derts, Frankfurt a. M. 1993) Zum Verhältnis zwischen Heidegger und Jonas sei insbesondere auf die Monographie von E. Jacob, Martin Heidegger und Hans Jonas. Die Metaphysik der Subjektivität und die Krise der technologischen Zivilisation, Tübingen, Basel 1996, verwiesen. 66 H. Jonas, Erinnerungen, S. 303. Besonders bedeutsam in diesem Zusammenhang sind auch die Erinnerungen an die von Heidegger an der Universität Freiburg gehaltenen Seminare und noch mehr an das Urerlebnis, das für Jonas die ersten Marburger Vorlesungen von Heidegger darstellten, die Aristoteles’ De Anima gewidmet waren (vgl. H. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung. Gespräch mit Ingo Hermann, Lamuv 1991, S. 40 f. und S. 100 f.; H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 14 f.).
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ordnet werden kann, der Trennung des Menschen von der Natur und der Vergessenheit des Organismus und des Körpers. Es reicht, ein paar Behauptungen dazu zu lesen: „Nie hat eine Philosophie sich so wenig um die Natur gekümmert wie der Existenzialismus, für den sie keine Würde behalten hat.“67 „Bei Heidegger hörte man vom Dasein als Sorge – in geistiger Hinsicht, aber nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens: unserer Leiblichkeit, durch die wir, selber ein Stück Natur, bedürftig-verletzlich in die Umweltnatur verwoben sind […]. Aber in Sein und Zeit war der Leib übergangen und Natur ins bloß Vorhandene abgeschoben.“68 „Der zeitgenössische Existentialismus […] gebannt auf den Menschen allein blickend, pflegt ihm als einzigartige Auszeichnung und Last vieles von dem zuzusprechen, was im organischen Dasein als solchen wurzelt […].“69 „[Bei Heidegger gibt es] die Abweisung jeder definierbaren ‚Natur‘ des Menschen, die seine Existenz einer vorbestimmten Essenz unterstellen und ihn damit zum Teil einer objektiven Ordnung von Essenzen im Naturganzen machen würde.“70 Insbesondere meint Jonas, dass Heideggers Existenzialismus eine Umwandlung von jenem gnostischen (und nihilistischen) „Syndrom“71 sei, das die Natur und die Welt zurückweist und das Jonas nicht nur in den Schulen und in der gnostischen Bewegung des späten Altertums am Werk sieht, sondern das er als eine Art meta-historische Kategorie verwendet, die in verschiedenen Momenten der Geschichte des Denkens aufgespürt werden kann. Es ist bekannt, dass Jonas in der ersten Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, die historisch-religiösen Studien gewidmet war, die brillante Intuition hatte, die spätantike Gnosis durch der existentialen Analytik Heideggers entnommene Kategorien zu interpretieren; und auch, dass in der Folge, seit der Nachkriegszeit, seine existenzialistische Interpretation der Gnosis ihrerseits
67 68 69 70 71
H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 314. H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 19 f. H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 3. Ebd., S. 309 f. H. Jonas, „The Gnostic Syndrome: Typology of Its Thought, Imagination, and Mood“, in: ders., Philosophical Essays, S. 263-276.
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ein ausschlaggebender Faktor für seine Kritik am Existenzialismus und an dem ihm impliziten Nihilismus geworden ist.72 Wie sehr aber die Kritiken an Heidegger insgesamt mit denen von Plessner übereinstimmen mögen, sie fügen sich dennoch in einen ganz unterschiedlichen Rahmen ein und nehmen auch einen anderen Wert bezüglich des philosophischen Programms von Jonas an. Wenn es stimmt, dass Jonas genau wie Plessner beabsichtigt, seine Philosophie des Lebens dem Existenzialismus gegenüberzustellen,73 dann bleibt seine Reflexion doch nicht nur in jedem Fall in einem konstanten Dia log mit der Heideggers – in dem Sinne, dass sie in den Heidegger zufolge wesentlichen Fragen der Philosophie verankert bleibt –, sondern sie zeigt auch eine noch nicht ausreichend untersuchte Übertragung von unverwechselbaren Zügen des Heideggerschen Denkens in die Philosophie des Lebendigen. Das ist besonders offensichtlich in Bezug auf die Grundbestimmungen der existentialen Analytik. Die Aufgabe der Perspektive von Sein und Zeit im Hinblick auf eine antidualistische und antinihilistische philosophische Biologie bringt bei Jonas nicht einen Verzicht oder eine Zurückweisung der Kategorien der existentialen Analytik mit sich, sondern man könnte sagen, sie fordert vielmehr ihre Ausdehnung auf das Lebendige überhaupt. Der Organismus von Jonas weist nämlich als wesentliche Merkmale verschiedene von Heideggers Grundgedanken auf: er müht sich, ist bedürftig, sorgt sich, lebt kontinuierlich dem Risiko und der Angst ausgesetzt und ist sterblich. In einem gewissen Sinne erkennt Jonas das selbst an. In seiner letzten Konferenz, die fast als ein intellektuelles Testament betrachtet werden könnte – Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts – erklärt er, dass eines der großen Verdienste Heideggers darin liegt, das Dasein durch die Existenzialien konzipiert zu haben 72 H. Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 19. Dem Thema ist der Aufsatz „Gnosis, Existentialismus und Nihilismus“ (1955) gewidmet, der in Organismus und Freiheit enthalten ist. Der gnostische Bruch zwischen Seele und Welt könnte für Jonas mit dem zwischen Mensch und Welt verglichen werden, der im Existentialismus erscheint und den Jonas in diesem Aufsatz als eine Form von „anthropologischem Akosmismus“ definiert (H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 298 f.). Es muss bemerkt werden, dass er mit dem Etikett „Existentialismus“ – ein Etikett, das Heidegger allerdings stets von sich gewiesen hat – fast immer ausschließlich die Philosophie des frühen Heidegger meint. 73 „Mein Philosophieren nach dem Krieg stand zunächst im Zeichen der Abkehr von Heideggers Philosophie des Existentialismus, der ich meine Philosophie des Lebens entgegenstellte“ (H. Jonas, Erinnerungen, S. 299).
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und auf diese Weise einen alternativen Begriff des Ichs zum transzendentalen Bewusstsein des Idealismus geschaffen zu haben: „Das Erscheinen von Sein und Zeit im Jahre 1927 bezeichnet das vorerwähnte Erdbeben in der Philosophie unsere Jahrhunderts. Es brachte das ganze, quasi optische Modell eines hauptsächlich erkennenden Bewußtseins zum Einsturz und ließ an seiner Stelle das wollende, sich mühende, bedürftige und sterbliche Ich zum Vorschein kommen.“74 Außerdem erkennt Jonas Heidegger gegenüber an, dass dieser durch seinen Begriff des Interesses den teleologischen Charakter jeder Subjektivität bekräftigt habe: „Der finale Charakter allen Subjektseins tritt an die erste Stelle: es ist wesenhaft zweckgerichtet und sein erster Zweck ist es selbst. Das ‚um … willen‘ beherrscht alle Weltbezüge des Daseins. Die Intentionalität des Bewußtseins, die bei Husserl ganz neutral das Objekthaben als solches bezeichnet, zeigt sich jetzt als durchtränkt von Interesse.“75 Es ist bekannt, dass neben der Bedürftigkeit und der Sterblichkeit gerade die Teleologie einer der Wesenszüge ist, die Jonas dem Lebendigen zuschreibt, ein Merkmal, das für ihn die Zuerkennung von Werten an die Natur begründet und auf die sich seine Ethik der Verantwortung selbst stützt. Die enge Verbindung dieses Merkmals mit den ersten beiden ist eine der tragenden Säule der ganzen philosophischen Biologie von Jonas. Die Teleologie ist für Jonas gleich ursprünglich mit der Bedürftigkeit des Organismus, eine Bedürftigkeit, die auf einer basalen Ebene beispielhaft der Stoffwechsel repräsentiert. Das authentische Sein des Organismus – und seine teleologische Dimension – besteht für Jonas in der kontinuierlichen Dialektik von Mangel und Befriedigung, in der Interaktion mit der Umwelt, die es dem Lebewesen ermöglicht, sich zwischen den beiden Polen der Bezogenheit und der Autonomie selbst zu erneuern. Was Jonas unter „biologische Individualität“ (Selbst) versteht, resultiert aus dem Umstand, dass sie als Ziel immer bedroht ist. In dieser Bedrohtheit des zu erreichenden Ziels wird das organische Selbstsein teleologisch.76 Eben dieses Begriffsgeflecht aus Bedürftigkeit, Bedrohtheit und Teleologie wird von Jonas schon in der Heideggerschen Charakteri-
74 H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, S. 15. 75 Ebd., S. 17. Für Jonas ist der Begriff des Interesses „die tiefere Einsicht Heideggers“ (H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 316). 76 H. Jonas, „Biological Foundation of Individuality“, S. 197.
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sierung des Daseins erkannt – wie meisterhaft in einem weiteren Abschnitt dieses Aufsatzes veranschaulicht: „Aber warum muß es dem Dasein immer um etwas und zuletzt um sich selbst gehen? Antwort: Weil es ohne dieses untergehen würde, weil es ständig dem Nichts ausgesetzt ist. So kommt mit dem Finalen, dem Zweckhaben überhaupt, zugleich das Prekäre, Bedrohte des Daseins in der Definition zu Wort: Weil es sterblich ist, muß es ihm um das Existieren als solches gehen. Dieses ist dem jederzeitigen Bevorstehen des Todes jeweils abzugewinnen: demnach heißt der Grundmodus des Daseins: ‚Sorge‘.“77 So könnte man also damit schließen, dass das, was Plessner Heidegger vorwirft, nämlich er habe die für alle Lebewesen geltenden natürlichen Dimensionen als ausschließliche Existenzialien des Daseins betrachtet („Stimmung und Angst unterworfen sind sogar Tiere“ – behauptet Plessner Heidegger gegenüber),78 umgekehrt gerade zu dem (bio)philosophischen Programm wird, das Jonas zu verwirklichen beabsichtigt: eine Übertragung von Heideggers Hauptexistenzialien auf die ontologische Struktur der biologischen Phänomene.79 Die Vorge77 H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, S. 18. Man kann nicht vermeiden zu bemerken, dass die Beschreibung des Heideggerschen Daseins durch Jonas in diesem Abschnitt seine eigene Philosophie des Organismus nachzeichnet. 78 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XIV. 79 Auch E. Jacob hat hervorgehoben, dass es in den von Jonas beschriebenen ontologi schen Merkmalen des Organismus viele Spuren von Heideggers Existenzialien gibt: „Es scheint hier bisweilen, als hätte Jonas gewisse Grundgedanken aus Heideggers Sein und Zeit übernommen und in ein naturalistisches Kleid gesteckt – trotz der radikalen Abkehr von Heidegger in der zweiten Schaffensphase“ (E. Jacob, Mar tin Heidegger und Hans Jonas, S. 254). Vgl. auch ebd., S. 322: „Dabei bleiben die Reminiszenzen der Heideggerschen Fundamentalontologie unverkennbar, so dass man tatsächlich meinen könnte, einer naturalistischen Abwandlung derselben ge genüberzustehen“. J. Taminiaux stellt fest, dass Organismus und Freiheit von Hei deggers Lehre gezeichnet ist und dass „die von Jonas dargebotene existenziale Inter pretation der biologischen Tatsachen in die Spur der Heideggerschen Interpretation von Aristoteles’ De Anima fällt“ (J. Taminiaux, „Les enjeux de la lecture gnostique de Sein und Zeit“, in: Études phénoménologiques, 17/2001, S. 98). P. Becchi bemerkt, dass Organismus und Freiheit im Inneren der Kategorien von Sein und Zeit bleibe, und behauptet, dass das fast als Antwort auf den nicht niedergeschriebenen Teil vom Werk des Meisters betrachtet werden könne. (P. Becchi, „Introduzione“, in: H. Jonas, Organismo e libertà. Verso una biologia filosofica, Torino 1999, S. XIII) Auch L. Vogel bemerkt: „I shall suggest that, even given the most favorable reading possible of the early Heidegger, Jonas’ diagnosis of and answer to Cartesian dualism and its nihilistic consequences goes much deeper, but precisely by building
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hensweisen, mit denen sie die Grundmerkmale des Organismus entdecken, sind jedoch bei Plessner und bei Jonas verschieden. Für Plessner geht es nicht darum, ein ontologisches Verfahren, das die spezifischen Seinsmodi des Organischen entdecken soll, auszuführen,80 und natürlich noch weniger darum, den Gefühlston der Fundamentalontologie anzunehmen und ihn auf die Stufe des Lebendigen auszudehnen, als vielmehr darum, eine „apriorische Theorie der organischen Wesensmerkmale“ zu begründen.81 Die Hauptmerkmale des Lebendigen können nicht einer rein empirischen Ebene entnommen werden, sondern es ist nötig, deren „apriorische Begründung“ zu verwirklichen, ohne dabei den Fehler zu begehen, ein Konzept des Lebens vorauszusetzen, das diese als vorgegeben einfach annimmt.82 Eine „apriorische“ Begründung bedeutet, dass es notwendig ist, ein unterscheidendes Kriterium der Lebendigkeit zu entdecken, das als Annahme bzw. Postulat genommen werden muss, von dem sich über eine phänomenologischdialektische Methode (eine Methode, die einen der kritischsten Punkte von Plessners Werk darstellt), alle irreduziblen Eigenschaften des Organischen (die Modale) ableiten lassen. Dieses Kriterium ist, wie bekannt, das Verhältnis des Lebendigen zu seiner Grenze, der Grenzvollzug. Der Ansatz der Theorie der organischen Modale rechtfertigt sich für Plessner hypothetisch-deduktiv. Wenn sich ergibt, dass ein physisches Objekt dieses Verhältnis zu seiner Grenze dann hat, wenn es die Modi des Wachstums, der Empfindsamkeit, der Prozessualität, des Alterns und des Todes etc. (also der organischen Modale) annimmt, dann ist der Wert der Kategorie jener Modi erwiesen.
on the categories of Heidegger’s existential analytic in order to yield ‚an existential interpretation of biological facts‘. He borrows more than he intends and more than he needs, from Heidegger himself“ (L. Vogel, „Hans Jonas’s Diagnosis of Nihilism: The case of Heidegger“, in: International Journal of Philosophical Studies, 3/1995, S. 55-73, hier S. 56). Jonas selbst schreibt in einer Passage von The Phenomenon of Life – die in der deutschen Ausgabe verschwinden wird –, dass er eine „existentiale“ Interpretation der biologischen Phänomene geben wolle. Das bedeutet natürlich nicht, dass Jonas die Heideggerschen Existenzialien unkritisch übernommen hätte, vgl. zum Beispiel seine Kritik an ihrer „Zeitlichkeit ohne Gegenwart“ in H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 311 f. 80 Vgl. H. Jonas, „Last und Segen der Sterblichkeit“, in: ders., Philosophische Untersu chungen und metaphysische Vermutungen, S. 82. 81 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 107. 82 „Was wirklich Modal genannt zu werden verdient, irreduzible Letztheit, Wesens merkmal, lehrt Erfahrung niemals, sondern setzt es unbewußt bereits voraus“ (ebd., S. 111).
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Wenn also hier bereits ein Unterschied zwischen Plessner und Jonas auftritt, dann wird der noch größere begriffliche Abstand zwischen den beiden Philosophien jedoch vor allem bei einem Blick auf einen besonderen unter den verschiedenen Seinsmodi des Organismus offensichtlich: seine Sterblichkeit. 3.3 Jonas und Plessner über den Tod Der wichtigste Charakterzug der philosophischen Biologie von Jonas besteht in der Überzeugung, dass der Tod dem Leben wesentlich zugehört. Bei seinen kontinuierlichen Verweisen auf die Sterblichkeit, auf das dem Nichts ausgesetzte Lebendige, auf die Angst und das Risiko, die dessen Existenz bestimmen, sieht man nicht nur, wie soeben erwähnt, eine Übertragung des Heideggerschen Themas vom Sein-zumTode auf das Lebendige überhaupt, sondern auch den Einfluss von Hegels Philosophie. Jonas schreibt in Organismus und Freiheit: „Daß das Leben sterblich ist, ist zwar sein Grundwiderspruch, aber gehört unabtrennbar zu seinem Wesen und ist nicht einmal von ihm wegzudenken. Das Leben ist sterblich nicht obwohl, sondern weil es Leben ist, seiner ursprünglichsten Konstitution nach, denn solcher widerruflicher, unverbürgter Art ist das Verhältnis von Form und Stoff, auf dem es beruht.“83 Eben weil sich die Wurzeln des Todes im Leben selbst befinden, gründet sich Jonas’ philosophische Biologie letztendlich nicht so sehr auf der ontologischen Unterscheidung zwischen dem Menschen und dem Rest der Natur als vielmehr auf derjenigen zwischen dem Lebendigen und dem Anorganischen. Keine Diskontinuität zwischen Leben und Nichtleben zu setzen – und das ist nach Jonas der Fehler von Whitehead gewesen, trotz der Bedeutung, die er immer dessen Philosophie des Organismus beigemessen hat – bedeutet, dem zwischen Sein und Nichtsein existierenden Unterschied keine Aufmerksamkeit zu schenken und somit gerade das Problem des Todes (außer dem des Bösen) zu vergessen. „[W]elches Verständnis des Lebens aber kann es
83 H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 16. Jonas’ Verhältnis zu Hegel ist zweideutig. Wenn er einerseits von Hegel die Struktur der Polarität (vgl. Fußnote Nr. 10) sowie die Idee der Macht des Negativen, des Mangels und des Todes übernimmt, dann weist er andererseits die dialektische Synthese entschieden zurück.
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geben ohne ein Verständnis des Todes?“,84 fragt sich seinerseits Jonas selbst. In dieser Hinsicht kritisiert er all jene Metaphysiken, in denen „die tiefe Angst biologischer Existenz“ keinen Platz finde, in der man nicht „den Stachel“ des Todes fühle, wie die success stories von Hegel und Whitehead.85 So begründet sich auch die Wahl des Stoffwechsels als dem unterscheidenden Merkmal des Lebendigen bei Jonas aus metaphysischen Überlegungen – die wesentliche Zugehörigkeit des Todes zum Leben – und weniger aus biologischen Rücksichten. Durch den Stoffwechsel, durch die Tatsache, dass der Organismus kontinuierlich bedürftig ist, trat für Jonas zum ersten Mal „das Nichtsein […] als eine im Sein selbst enthaltene Alternative“ in die Natur, und erst von diesem Moment an kann man vom Sein im eigentlichen Sinne sprechen.86 Wie lange die einfache physische Sache auch dauern mag, man kann von ihr nicht behaupten, dass sie im wahren Sinne ist. Das Anorganische braucht nichts, das über sich selbst hinausgeht; seine faktische Selbständigkeit ist aber für Jonas kein Zeichen von Autonomie (und dann von „Freiheit“), sondern ausschließlich ein Zeichen der puren Notwendigkeit seines Daseins. Das hat zwei Implikationen. Die erste ist, dass „sein“ kein ein für allemal gegebener oder festgesetzter Zustand ist, sondern „eine ständig aufgegebene Möglichkeit […], stets von neuem abzugewinnen seinem stets anwesenden Gegenteil, dem Nichtsein, von dem es am Ende doch unvermeidlich verschlungen wird.“87 Die zweite, eine direkte Folge der vorigen, ist, dass das Lebendige im Vergleich zum Anorganischen gezwungen ist, sich kontinuierlich zu behaupten, sich fortwährend das eigene Leben wieder anzueignen: das Leben – wie Jonas in seinem ausführlichsten Aufsatz unter dem Titel Last und Segen der Sterblichkeit schreibt,– „sagt ja!“ zu sich selber.88 Und das ist die ontologische Grundannahme von Jonas, oder mit den Worten von Das Prinzip Verantwortung, der „Grundwert aller Werte“.89 Die Mitzugehörigkeit von Tod und Leben, die Tatsache, dass das Leben seine eigene Verneinung in seiner organischen Konstitution trägt, 84 85 86 87 88 89
H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 150. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd. H. Jonas, „Last und Segen der Sterblichkeit“, S. 87. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik der technologischen Zivi lisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 155.
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hat außerdem für Jonas zur Folge, dass mit „sterblich“ nicht nur die Menschen bezeichnet werden, wie es die anthropozentrische westliche Tradition seit ihren Anfängen verlangt (‚Sterblicher‘ war schon in Homers Griechisch ein Synonym für ‚Mensch‘), sondern alle Lebewesen. Die Angst vor dem Tod selbst ist für Jonas wie auch schon für Plessner etwas, was das Lebendige als solches betrifft und nicht nur den Menschen in der Beklemmung der Todeserwartung (hierher rührt auch der Hauptunterschied zu Heidegger).90 Wenn jedoch für Jonas der Tod das unterscheidende Merkmal des Lebens an sich ist, dann gehört dieser ganz im Gegenteil für Plessner überhaupt nicht dazu. Auf den Seiten der Stufen, die dem Altern und Tod gewidmet sind,91 polemisiert Plessner gerade gegen Theorien wie die von Jonas. Insbesondere geht seine Analyse von der Kritik an zwei gegensätzlichen Positionen aus, die er beide für falsch hält. Die erste ist die „empiristisch“ definierte Tendenz, nach der Leben und Tod zwei getrennte und entgegengesetzte Kräfte seien. Plessner entdeckt sie zum Beispiel im Dualismus, nach dem das Leben nach dem Tod des Körpers als ewiges Leben weitergeht. Der Tod wird mit dem körperlichen Verfall identifiziert und das Leben hat ein selbständiges und unendliches Bestehen, „im Sinne endlosen Fortgangs“.92 Das Verhältnis zwischen Leben und Tod erscheint somit in diesen Auffassungen als vollkommen zufällig. Aber Plessner kritisiert auch all jene Theorien, die den vorigen entgegengesetzt sind und die er „aprioristisch“ nennt, auf Grund derer der Tod als im Wesentlichen zum Leben gehörend und das Leben an sich als endlich erscheint (und diese zweite Kategorie könnte auch auf Jonas’ Auffassung zutreffen). Das Leben würde in einem gewissen Sinne nur als eine progressive Verwirklichung des Todes gedacht, und das Sterben würde dasselbe wie das Leben. Plessner hält Theorien dieser Art für einen „gänzlich unbegründete[n] Tragizismus“.93 In Wirk90 H. Jonas, „Last und Segen der Sterblichkeit“, S. 87. 91 Wie Plessner selbst gesagt hat, handelt es sich um ein besonders wichtiges philoso phisches Problem im Rahmen seines Werkes, da „von dessen Lösung auch wohl auf andere Partien dieser Untersuchung Licht fallen mag“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 150). Es handelt sich um einen Teil des Werkes, der noch nicht die verdiente Aufmerksamkeit von Seiten der Interpreten erfahren hat. 92 Ebd., S. 147. 93 Ebd., S. 148. Plessners wichtigster kritischer Bezug ist hier meiner Meinung nach die Philosophie von Scheler und seine Idee, dass „der Drang zu Fortpflanzung und Tod […] der Urdrang alles Lebens“ sei. Vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: ders., Späte Schriften (= Gesammelte Werke, Bd. 9), Bern, München 1976, S. 14.
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lichkeit sind sie, wenn man genauer hinschaut, auch für ihn nicht ganz so tragisch. Diesen Auffassungen zufolge kann der Körper, da er sein Leben nie vollständig erreicht, sondern „ihm dauernd nachläuft“, auch nie „wirklich sterben“.94 Obwohl das Gegenteil der Fall zu sein scheint, ziehen die Theorien, die den Tod als dem Leben wesentlich zugehörig interpretieren, dem Tod wirklich „auf rationale Weise“ den „Stachel“ und in diesem Sinne „[triumphierte] noch in der Sterbensstunde das Leben als bloße Selbstverneinung nicht nur über sich, sondern sogar über den Sinn seiner Verneinung“.95 Wenn man sich in diesen beiden Extremen verfängt, kann man laut Plessner das Problem nicht bewältigen. Er schlägt deshalb den folgenden dritten Weg vor: „[…] der Tod ist dem Leben unmittelbar äußerlich und unwesentlich, wird jedoch durch die lebenswesentliche Form der Entwicklung mittelbar zum unbedingten Schicksal des Lebens“.96 Die empiristischen Theorien sehen also einerseits richtig und haben Recht, wenn sie die Äußerlichkeit des Todes im Vergleich zum Leben unterstreichen, die Tatsache, dass dieser eine völlig unabhängige Realität ist, „dem Leben wesensfremd, mit ihm unvereinbar und keiner Synthese mit ihm fähig“.97 Andererseits gehen sie aber am entscheidenden Punkt vorbei, dass der Tod in jedem Fall das Schicksal des Lebens ist, denn er „wird von der Entwicklung möglich gemacht“.98 Es ist die Entwicklung – in der Weise des Alterns und der Zunahme an Hinfälligkeit – die „die Möglichkeit in das Leben [...], zu vergehen“99 einleitet. In diesem Sinne sagt Plessner: „Leben ist nicht Sterben, sein eigener Abbau, seine Selbstnegation, sondern es geht in der Entwicklung von Altersstufe zu Altersstufe dem Sterben, dem Tod entgegen.“100 94 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 147. 95 Hier denkt Plessner vor allem an die Philosophie Hegels, der im Übrigen auf diesen Seiten viel zitiert wird (zusammen mit Fichte), als der, der durch die dialektische Wende den Tod, den Mangel und das Negative relativiert habe, indem er sie zu einer „Selbstaufhebung des Lebens“ mache, einem „Gegenwurf des Lebens gegen sich“ (ebd., S. 150). Aber in den Topf der „aprioristischen“ Theorien wirft Plessner wahr scheinlich auch Heideggers Philosophie, wie von der kritischen Andeutung auf das Thema der „Antizipation“ des eigenen Todes bestätigt wird. Plessner zufolge ist es nur möglich, „die Nichtheit“ des Lebens zu antizipieren, nicht aber sein „Nichtsein“ (ebd., S. 149). 96 Ebd., S. 148. 97 Ebd., S. 149. Vgl auch S. 153 98 Ebd., S. 149. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 148.
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In seiner Argumentation unterscheidet Plessner zwischen „dem Tod“ und „dem Sterben“, und letzterer ist der zentrale Begriff, um die ihm am Herzen liegende Frage zu verstehen, und zudem der wesentliche Punkt der Entfernung von den Heideggerschen Theorien, die das Sterben zu Gunsten des Sein-zum-Tode vernachlässigt haben. Dieser Heideggersche Begriff ermöglicht eine Lösung für ein Problem – das offen bleibt in den Theorien, die die wesentliche Zugehörigkeit des Todes zum Leben leugnen (also auch in der Plessnerschen) –, das von Plessner so formuliert wird: „[…] wie [kann] etwas, das dem Leben transzendent ist, auf es wirken […], ohne außer dieser Wirksamkeit in irgendeinem Sinne Bestand zu haben?“101 Die Antwort des Philosophen ist eben: durch den Akt des Sterbens. Im Sterben treffen sich nämlich für Plessner die beiden getrennten Wesen – Tod und Leben: aber das geschieht nur per hiatum, das heißt, sie bleiben getrennt und voneinander unabhängig. Der Tod greift ein und bringt den Akt des Sterbens zum Abschluss, aber „nur als ‚von Außen‘ eingreifende Macht“ – eine Tat, die gänzlich dem Leben angehört und keinesfalls, wie man denken könnte, eine Vermittlung zwischen dem Leben und dem Tod ist.102 Der Tod ist dennoch nur in Bezug auf das Leben ein für sich existierendes Wesen, aber er ist nicht unabhängig vom Sterben: Er wird erst aktiv, „wenn das Leben reif dafür ist“.103 Abschließend kann man sagen, dass für Plessner der chorismos104 zwischen dem Tod und dem Lebendigen eine Folge der Hauptthese ist, auf die seine ganze Argumentation gründet: die These der Verwirklichung der Grenzen. Es kann nur sterben, wer die Grenze überschreiten und dem Anderen von sich entgegen gehen kann, also auch dem eigenen Todesschicksal. Auf Grund dieser Annahme bringt das Leben jedoch nicht den eigenen Tod hervor, sondern nur die „Eintrittsbedingungen des Todes“105 (eben das Sterben) durch die wesentlichen Formen des Entwicklungsprozesses: Jugend, Reife, Alter. Diese „Schicksalsformen des Lebens“ sind somit für Plessner keine „Formen des 101 Ebd., S. 153. 102 Ebd. 103 Ebd. Das gilt sicherlich nur für den „natürlichen“ Tod, den Plessner vom unnatür lichen unterscheidet. Der unnatürliche Tod belegt für Plessner umso mehr die Entfernung zwischen Leben und Tod, „die vom Leben geschiedene, seinsmäßig wesenhaft geschiedene Gewalt, von der die Vernichtung ausgeht“ (ebd., S. 150). 104 Ebd., S. 153. 105 Ebd., S. 150.
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Seienden, sondern für das Seiende“106 – und hier muss nochmals der Unterschied zu den Bestimmungen Heideggers bekräftigt werden: Das Sein ist nicht mit ihnen tiefgehend und konstitutiv verwoben, sondern „tritt unter sie und erleidet sie“.107
4. Schlussfolgerungen: „Was fundiert Existenz?“ Angesichts der verschiedenen Gründe, die Jonas dazu geführt haben mögen, Plessner nie direkt zu zitieren, stützt sich die von mir aufgestellte Hypothese nicht so sehr auf biographische Umstände, auf zufällige Episoden oder auf die Tatsache, dass Jonas es fast für überzogen hielt, sich auf Plessner zu beziehen;108 sie betrifft vielmehr das Verständnis seiner philosophischen Unternehmung als eine Vervollständigung oder besser eine Ausdehnung von Heideggers Philosophie selbst und nicht als eine Reflexion, die sich direkt in die Spur der deutschen Philosophischen Anthropologie fügt, eine Gedankenlinie, die Jonas wahrscheinlich vor allem durch die negativen Kritiken des Lehrers kannte. Trotz seiner gegensätzlichen Erklärungen entfaltet sich Jonas’ Werdegang „[…] entlang der vom Lehrer gezeichneten aber nicht begangenen Wege, in einem Dialog, der ebenso kritisch wie bestätigungsbedürftig im Negativen ist“.109 Dass ihn das in Richtung einer Hermeneutik der Natur geführt hat, die sich von Heideggers Philosophie entfernt und sich in vielerlei Hinsicht der Plessners nähert, ist, wie schon im ersten Abschnitt gezeigt worden ist, ganz einleuchtend.
106 Ebd., S. 154. 107 Ebd. Wenn die Kritik an der Heideggerschen Auffassung des Todes in den Stufen nur implizit bleibt, so findet man sie offen u. a. in einem Aufsatz Plessners von 1952 mit dem Titel „Über die Beziehung der Zeit zum Tode“ wieder. Nachdem er hier erneut die Tatsache kritisiert hat, dass die Natur und die außermenschlichen Bereiche außerhalb der Existentialanalyse bleiben, bezieht Plessner sich direkt auf den Tod und fragt: „Wie aber will man dem Tod seine Tiefe bewahren, ohne das durch ihn in Frage gestellte Fortleben in der auch den Menschen tragenden Dimension des Lebens, die ihm mit den Tieren gemeinsam ist, zu verankern?“ (H. Plessner, „Über die Beziehung der Zeit zum Tode“, in: ders., Schriften zur Philosophie, Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1985, S. 259 f.). 108 „Perhaps Jonas thought such references redundant, in which case I think that he was mistaken“ (D. Levy, The integrity of thinking, Columbia 2003, S. 43). 109 Vgl. M. Monaldi, Tecnica, vita, responsabilità. Qualche riflessione su Hans Jonas, Napoli 2000, S. 79.
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Und vielleicht könnte das, ganz im Gegenteil zu dem, was Plessner selbst dachte, die beste Bestätigung für einen Weg sein, der vom Heideggerschen Existenzialismus zur Anthropologie führte, der begehbar wäre, wenn er auch nicht von Heidegger begangen wurde.110 Der Ausgangspunkt, die Gründe und die Zwecke von Jonas’ Philosophie entstammen denselben Grundfragen, auf die die Philosophie Heideggers gründete, oder besser, der Grundfrage: „[…] warum ist etwas und nicht nichts?“ Das ist die alte ontologische Frage, die in der modernen Zeit von Leibniz gestellt, von Schelling wiederaufgegriffen und von Heidegger in den Mittelpunkt seines Denkens gerückt wurde,111 und sie interessiert auch Jonas mehr als jede andere – wie seine Überlegungen zur Sterblichkeit des Organismus bezeugen. Er versucht, auf diese Grundfrage in den verschiedenen Phasen seiner wissenschaftlichen Produktion zu antworten: zuerst durch das Studium der Gnosis, dann mit der Reflexion über den Organismus und schließlich durch die Ethik der Verantwortung. So wird auch seine originelle auf den Stoffwechsel konzentrierte Freiheitstheorie in primis als eine Antwort auf das Problem des Nihilismus ausgearbeitet, in dem sich auch Heidegger verheddert habe, und erst in zweiter Linie mit der Absicht, „die Stellung des Menschen im Kosmos“ zu untersuchen, eine auch für Jonas extrem wichtige Problematik, wie seine im eigentlichen Sinne anthropologischen Aufsätze beweisen,112 aber nur zweitrangig im Vergleich zur Formulierung einer allgemeinen Theorie des Seins.113 110 Zu einer möglichen Annäherung desselben Heideggers an die philosophische An thropologie siehe insbesondere M. Wunsch, „Das Lebendige bei Heidegger. Pro bleme seiner privativen Bestimmung“, in: S. Schaede, G. Hartung, T. Kleffmann, Das Leben II. Historisch-Systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Tübingen 2012, S. 387-409. 111 Vgl. insbesondere seine Antrittsvorlesung: M. Heidegger, Was ist Metaphysik? (1929), 16. Auflage, Frankfurt a. M. 2007. 112 Unter den im eigentlichen Sinne anthropologischen und ästhesiologischen Auf sätzen von Jonas können angeführt werden: „Der Adel des Sehens. Eine Untersu chung zur Phänomenologie der Sinne“ und „Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens“, die beide in Organismus und Freiheit enthalten sind; außerdem muss „Werkzeug, Bild und Grab. Vom Transanimalischen im Menschen“ erwähnt wer den, in: H. Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermu tungen, S. 34-50. Der eventuelle Einfluss der deutschen Philosophischen Anthro pologien und der Philosophie Plessners auf diese Aufsätze würde eine separate Abhandlung verdienen (vgl. Fischer Fußnote Nr. 36). Hier habe ich mich auf ihren allgemeinen Aufbau der Philosophie des Organischen beschränkt. 113 Ganz nachvollziehbar erscheint mir die Interpretation von V. Hösle nach der „Es […] eine unerlaubte Vereinfachung [ist], dieses Buch [Organismus und Freiheit F.
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Plessners philosophische Bemühung zielt hingegen schon von Anfang an darauf ab, den Unterschied zwischen den Formen organischen Lebens zu begründen und vor diesem Hintergrund die Besonderheit des Menschen neu zu überdenken. Wie auch G. Toepfer in diesem Band unterstreicht, bildete für Plessner „die Naturphilosophie […] nur den Rahmen für die Entwicklung einer anthropologischen Position, die es erlaubt, zugleich die natürlichen und die geistigen Aspekte des Menschen zu begreifen“.114 Auch bei seinem peitschenden Angriff, der gegen den späten Heidegger gerichtet ist, kritisiert Jonas nicht so sehr die Tatsache, dass sich der Mittelpunkt der Untersuchung nach der Kehre in Heideggers Philosophie vom Sein des Daseins direkt auf das Sein überhaupt richtet und auf die Frage, „wieso es nämlich den Menschen enthält und erhält und was es damit über sich selbst kundgibt“. Was Jonas ihm vorwirft, ist vielmehr, dass diese Frage von ihm behandelt wird, ohne Rückgriff auf das „physikalisch-biologisch-evolutionäre[n] Zeugnis“.115 Die Frage des Seins – die vom unvollendeten Teil von Sein und Zeit offen gelassene Frage – ist die, die behandelt werden muss; aber sie muss für Jonas ausgehend von der konkreten Leiblichkeit des Menschen neu überdacht werden.116 Schließlich ist auch der direkte Bezug auf die Kategorie des Organismus – mehr als auf einen „psychophysisch neutralen“ Begriff wie Plessners Positionalität – der Philosophie des Lehrers wahrscheinlich etwas mehr schuldig, und das müsste eingehender untersucht werden. Wenn Heidegger oft als negatives Beispiel für sein mangelndes Interesse am Lebendigen und am Körper zitiert wird, dann muss dennoch daran erinnert werden, dass er in den berühmten Vorlesungen von 1929–30 mit dem Titel Die Grundbegriffe der Metaphysik die Linien einer Ontologie des Lebendigen umreißt, die unter Abstandnahme von
M.] nur als einen Beitrag zu einer regionalen Ontologie (nämlich eine Ontologie des Organischen) anzusehen: Jonas’ besonderes Interesse am Lebendigen ist metaphysisch, das heißt, er hofft, durch die Analyse des Lebens einer allgemeinen Theorie des Seins näherzukommen“ (V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: D. Böhler (Hrsg.), Ethik für die Zukunft, S. 108). Jonas erörtert direkt die von Leibniz gestellte ontologische Grundfrage in Das Prinzip Verantwortung (S. 97-99). 114 Vgl. den Beitrag von Toepfer in diesem Band. 115 H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, S. 25. 116 „Von diesem Punkt aus ist es überhaupt erst möglich, eine Theorie des Seins zu entwickeln“ (H. Jonas, Erinnerungen, S. 316).
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jeder Form von Psychismus gerade vom Organismus ausgeht und insbesondere von den einzelligen Organismen.117 Nur vor diesem Hintergrund ist es also meiner Meinung nach möglich, den Sinn der Hermeneutik des Lebendigen von Jonas zu erfassen, und vielleicht liegt darin sein Beweggrund, Plessner nicht als einen „Vorläufer“ zu betrachten, auch wenn es dafür gute Gründe gegeben hätte.118 Dazu möchte ich eine letzte Überlegung anstellen. Wenn es das Ziel dieser Arbeit war, auf die Verwunderung der Interpreten über Jonas’ Schweigen zu Plessner zu antworten, dann wäre die Frage nach Plessners Schweigen bezüglich Jonas genauso gerechtfertigt, obwohl es sich der Chronologie der Werke nach sicherlich um eine weniger heikle Tatsache handelt. Jonas und Plessner haben sich, wie schon erwähnt, während Plessners „amerikanischem“ Jahr kennengelernt. Der damals siebzigjährige Plessner war Rektor der Universität Göttingen und ein renommierter Philosoph (und Soziologe), mit einer Gedankenlinie, die kohärent und fest in der schon 1928 umrissenen anthropologischen Theorie verankert blieb, wenn sie auch in verschiedene Richtungen weiterentwickelt worden war. Das beste Zeugnis für die Kompaktheit und Kohärenz seines Denkens ist die Tatsache, dass er sich 1965 für die Neuveröffentlichung der Stufen entscheidet, ohne irgendeine Änderung vorzunehmen. Jonas, der zwar nur zehn Jahre jünger war, hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht seine beiden philosophischen Hauptwerke, Or ganismus und Freiheit und Das Prinzip Verantwortung, veröffentlicht; er war vor allem für seine Arbeiten über die Gnosis bekannt und dafür, ein Heidegger-Schüler gewesen zu sein (oder sogar immer noch zu
117 „Die Grundthese ist: Alles Lebende ist Organismus. Jedes Lebende ist je ein Lebewesen und dieses ist Organismus“ (M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Me taphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 29/30, hrsg. von F.-W. v. Hermann, Frankfurt a. M. 1983, S. 311). Zu Heideggers Vorlesungen vgl. A. Beelmann, Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff. Eine Analyse sei ner Vorlesung ‚Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit‘, Würzburg 1994, außerdem der bereits zitierte M. Wunsch, „Das Lebendige bei Heidegger“. Jonas hat diese Vorlesungen wahrscheinlich nicht gehört, und deshalb kann man nicht von einem direkten Einfluss sprechen, obwohl sie sicherlich eine Problematik vollendeten, die schon in anderen Heideggerschen Seminaren enthalten war, an denen Jonas teilgenommen hatte und die er also kannte. Zum Einfluss von Heideggers Ontologie des Lebenden auf Jonas, vgl. R. Franzini Tibaldeo, La rivoluzione ontologica di Jonas, S. 150 f. 118 V. Rasini, „Hans Jonas e l’antropologia filosofica tedesca“, S. 282.
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sein).119 Allerdings hatte er bereits mehrere Aufsätze über die Philosophie des Organismus und vor allem 1955 den Aufsatz Ist Gott ein Mathematiker? veröffentlicht, der als Hauptkern seiner originellen philosophischen Biologie betrachtet werden kann und der sicherlich, wie gezeigt worden ist, viele Argumentationen enthält, die Plessners Interesse wecken konnten. Dennoch erscheint Jonas nicht unter den Namen, die Plessner in seiner Selbstdarstellung erwähnt, als er sich auf seinen New Yorker Aufenthalt bezieht,120 und erst recht nicht – und das ist viel interessanter – in seinem Aufsatz von 1973 „Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie“, in dem es hingegen eine höchst passende Gelegenheit gegeben hätte, um Jonas direkt zu nennen. Hier schreibt Plessner nämlich in einem Zusammenhang, in dem er im Gegensatz zu Heidegger bekräftigt, dass die vorrangige Dimension die des Lebens im Vergleich zu der der Existenz sein muss: „Was fundiert Existenz? […] Die Lösung scheint mir der 1928 konzipierte Begriff der exzentrischen Positionalität zu bieten. Er wurde in Unkenntnis von Sein und Zeit geprägt, […]. Da sich in den letzten Jahrzehnten niemand mit der Frage befasst hat – weil sie für Heide gger und seine Schule Tabu war [meine Hervorhebung F. M.] – werde
119 Dass Hans Jonas noch Anfang der 1960er Jahre als ein Heidegger-Anhänger be trachtet wurde, und wahrscheinlich auch von Plessner (der öffentliche Bruch mit Heidegger wird erst, wie erwähnt, 1964 stattfinden), kann man auch in dem Be richt von Monika Plessner über die Empfangsfeier für ihren Mann an der New School bemerken, bei der auch Jonas anwesend war: „In unserer Nachbarschaft ging es inzwischen lebhaft zu. Um den Philosophen und Heidegger-Freund Hans Jonas herum diskutierten, als wäre man im fernen Freiburg, junge Heideggerianer über die anstehende Folge des Meisters. Irgendeiner von ihnen fragte: ‚Und was meinen Sie dazu, Herr Plessner?‘ Helmuth griff den Ball auf: ‚Ich kann Ihnen nur eine Geschichte erzählen, die drüben in aller Munde ist. Ein hoffnungsvoller Aspi rant soll einen anderen mit dem Ausspruch verscheucht haben: Aber Sie werden doch vor der Höhle des Löwen keine Würstchenbude aufstellen‘“ (M. Plessner, Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen, Berlin 1995, S. 81). 120 In der kurzen Erinnerung an sein in New York verbrachtes Jahr erwähnt Pless ner, wenn auch ohne Jonas zu zitieren, dennoch allgemein die Professoren der New School: „Mir selbst hat das New Yorker Jahr oft bedrückende Eindrücke vom Schicksal deutscher Emigranten vermittelt, unten denen die Professoren der New School natürlich die bevorzugten waren“ (H. Plessner, „Selbstdarstellung“, in: ders., Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie. Gesammelte Schriften, Bd. 10, Darmstadt 2003, S. 302-341, hier S. 302).
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Helmuth Plessner und Hans Jonas
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ich sie stellen, um sie auf eine Stufe der Reflexion zu bringen, die ich damals übersprungen hatte.“121 Über die Behauptung, dass die Frage „Was fundiert Existenz?“ ein Tabu für Heidegger sei, könnte man lange diskutieren. Mit Sicherheit war sie das nicht für Jonas, und ganz im Gegenteil kann man behaupten, dass er sein Leben lang versuchte, darauf zu antworten. Für Jonas kann die Existenz nur auf die Leiblichkeit des Menschen gründen, die „das Urbild des Konkreten“, „das Maximum uns bekannter, konkreter ontologischer Vollständigkeit“ ist. Nur ausgehend von unserer psychophysischen Totalität, können „die Klassen des Seins durch fortschreitende ontologische Abzüge bis zum Minimum der bloßen Elementar-Materie reduktiv bestimmt werden“ (meine Hervorhebung F. M.).122 Nur aufgrund dieser psychophysischen Ganzheit – und nicht etwa kraft unserer Vernunft oder kraft unseres Selbstbewusstseins – können wir also als ein Organismus inmitten einer Welt von Organismen das Leben „erkennen“ und im gewissen Sinn „das Maß aller Dinge“ sein, wie Jonas in abweichender Verwendung eines antiken Ausdrucks formuliert.123 Wir wissen nicht, ob Plessner diese Stelle aus Organismus und Freiheit kannte, aber vielleicht hätte ihm Jonas’ „reduktiver“ Weg, der durch „fortschreitende ontologische Abzüge“ verwirklicht wird, noch zu nahe an jener „privativen“ Methode erscheinen können, die er Heidegger in Die Stufen vorwirft: die Methode, durch die „die Seinsweise des Lebens, des körpergebundenen Lebens nur privativ, vom existierenden Dasein her zugänglich sei“ (meine Hervorhebung F. M.).124 Wahrscheinlich hätte Plessner kein Verfahren dieser Art akzeptiert, wenn es bei Jonas auch auf einen anderen und ihm gemeinsamen Ausgangspunkt (eben der Leib) stützt, und er hätte letztendlich den dort verborgenen Anthropomorphismus zurückgewiesen, weil er ihn vielleicht als erneute Umwandlung jenes „deutschen Märchens vom Ich“ aufgefasst hätte, das die exzentrische Positionalität endlich ein für allemal weggefegt hätte. 121 122 123 124
H. Plessner, „Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie“, S. 390. H. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 39. Ebd. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XIII (es handelt sich auch in diesem Fall um ein Zitat von K. Löwith, der sich wahrscheinlich auf die folgende Stelle von Sein und Zeit bezieht: „Leben ist eine eigene Seinsart, aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein. Die Ontologie des Lebens vollzieht sich auf dem Wege einer privativen Interpretation […]“; vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), 15. Aufl., Tübingen 1984, S. 50).
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Ralf Becker ist Gastprofessor für Philosophie an der Universität Ulm. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophischen Anthropologie, Erkenntnistheoriesowie Wissenschafts- und Kulturphilosophie. Monographien: Sinn und Zeitlichkeit (2003), Der menschliche Standpunkt (2011). Heike Delitz ist Soziologin und Privatdozentin für Soziologie an der Universität Bamberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Soziologische Theorie und die Kultursoziologie. Wichtigste Pub likationen: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen (2010), Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken (2015). Joachim Fischer ist Honorarprofessor für Soziologie an der TU Dresden. Er ist seit 2012 Präsident der Helmuth Plessner Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Allgemeinen Soziologie, der Soziologischen Theorie und Sozialphilosophie, der Kultursoziologie und Kulturphilosophie sowie der Philosophischen Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Nicolai Hartmann). Wichtigste Publikationen (Auswahl): Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts (2008/2015), Philosophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler und Helmuth Plessner im Vergleich (Hrsg. mit R. Becker, M. Schloßberger, 2010), Plessner in Wiesbaden (Hrsg. mit T. Allert, 2014). Mathias Gutmann ist promovierter Biologe und Professor für Technikphilosophie an der Universität Karlsruhe (KIT). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Technikphilosophie, der Anthropologie und der Wissenschaftstheorie. Publikationen (Auswahl): Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien
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zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie (2004), „Lebewesen verstehen“ (2014). Gerald Hartung ist Philosoph und Professor für Kulturphilosophie/Ästhetik an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der philosophischen und interdisziplinären Anthropologie sowie der Geschichte der Philosophie und Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Wichtigste Publikationen: Maß des Menschen (2003), Philosophische Anthropologie (2008), Sprach-Kritik (2012). Karen Joisten ist Philosophin und zurzeit Gastprofessorin an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Hermeneutik, der Phänomenologie, der Ethik und der Anthropologie. Wichtigste Publikationen: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie (2003), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (Hrsg.) (2007), Philosophische Hermeneutik (2009). Kristian Köchy ist promovierter Biologe/Philosoph und Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel sowie u. a. Mitglied des LOEWE Schwerpunkts „Tier – Mensch – Gesellschaft“ an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Philosophie der Biologie und der Naturphilosophie. Wichtigste Publikationen (Auswahl): Ganzheit und Wissenschaft (1997), Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie (2003), Biophilosophie (2008). Francesca Michelini ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theoretische Philosophie und Mitglied des LOEWE Schwerpunkts „Tier – Mensch – Gesellschaft“ an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Philosophie der Biowissenschaften, Philosophische Anthropologie und Klassische deutsche Klassische Philosophie (Hegel). Ausgewählte Publikationen: Sostanza e assoluto. La funzione di Spinoza nella Scienza della Logica di Hegel [Die Substanz und das Absolute. Die Funktion von Spinoza in Hegels Wissenschaft der Logik] (2004), Il vivente e la mancanza. Scritti sulla teleologia [Das Lebendige und der Mangel. Schriften über die Teleologie] (2011), Frontiere della Biologia. Prospettive fi-
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losofiche sulle scienze della vita [Grenzen der Biologie. Philosophische Perspektiven auf die Wissenschaft vom Leben] (Hrsg. mit J. Davies) (2013). Vallori Rasini lehrt Ethik an der Universität Modena und Reggio Emilia. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Ethik, der Philosophischen Anthropologie und der Naturphilosophie. Wichtigste Publikationen: Theorien der organischen Realität und Subjektivität (2008), L’essere umano. Percorsi dell’antropologia filosofica contemporanea (2008), L’eccentrico. Filosofia della natura e antropologia in Helmuth Plessner (2013). Benjamin Rathgeber ist promovierter Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Karlsruhe (KIT). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Wissenschaftstheorie und Anthropologie. Publikationen (Auswahl): Modellbildung in den Kognitionswissenschaften (2011), „Wissenschaft als vermitteltes Selbstverhältnis“ (zusammen mit M. Gutmann) (2011). Georg Toepfer, Biologe und Philosoph, ist seit 2012 Leiter des Forschungsbereichs LebensWissen am Berliner Zentrum für Literaturund Kulturforschung. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Philosophie der Biologie, zurzeit insbesondere Fragen zum Verhältnis der Biologie zu den Geistes- und Kulturwissenschaften. Wichtige Publikationen: Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme (2004), Philosophie der Biologie (Hrsg. mit U. Krohs, 2005), Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe (3 Bde., 2011). Oreste Tolone ist Privatdozent für Moralphilosophie und kooperiert mit der Universität „G. d’Annunzio“ (Chieti-Pescara). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Philosophischen Anthropologie, der medizinischen Anthropologie und der Religionsphilosophie. Wichtigste Publikationen: Homo absconditus (2000), Bernard Welte. Filosofia della religione per non credenti (2006), Gott in Plessners Anthropologie (2011), Adolf Portmann: the expressive function of technique (2012), Plessner’s Theory of Eccentricity. A contribution to the Philosophy of medicine (2014).
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Matthias Wunsch ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Wuppertal, Leiter des DFG-Projekts „Personale Lebensform und objektiver Geist“ an der Universität Kassel und dort ebenfalls Mitglied des LOEWE Schwerpunkts „Tier – Mensch – Gesellschaft“ . Seine Schwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes/ der Person, der modernen philosophischen Anthropologie, der Ontologie und der Kantforschung. Monographien: Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant (2007), Fragen nach dem Menschen. Philosophische Anthropologie, Daseinsontologie und Kulturphilosophie (2014).
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