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German Pages 694 [695] Year 2008
Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert
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Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert Herausgegeben von
Ulrich Johannes Schneider
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Der Druck dieser Publikation wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung der
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019822-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin.
GELEITWORT UND DANK Am Titel dieses Tagungsbandes sind sowohl Plural wie Singular mit Bedacht gewählt: „Kulturen des Wissens“ sind variierende Formen und Erscheinungsweisen eines Grundtatbestandes. ‚Das Wissen‘ meint im 18. Jahrhundert eine Weise der Kenntnis, die nicht mehr mit Tradition und Überlieferung identisch ist, sondern als Produkt einer geistigen Anstrengung aufgeklärtes Verhalten impliziert. Die Grundlagen der heutigen Wissensgesellschaft sind damals gelegt worden. Dabei gilt es, mehrere ‚Kulturen‘ des Wissens anzuerkennen, denn in den verschiedenen Bereichen von Tradition und Überlieferung wird der Anspruch des Wissens unterschiedlich manifest. Es gibt historisches und religiöses Wissen, es gibt Wissen im Bereich der Politik und der Kunst, es tritt in Erzählungen und in Theorien auf, kann kritisch und subversiv sein, aber auch affirmativ und dogmatisch. Wer Wert auf Wissen legt, wird dessen Auftrittsbedingungen reflektieren und seine Wirkungen evaluieren müssen. Die Beiträge zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, die im Herbst 2006 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel stattfand, erkunden neue Kulturen des Wissens und revidieren bekannte. Die Autoren entstammen vielerlei Disziplinen und vermitteln ihre Forschungsergebnisse im offenen Raum der gegenwärtigen wissenschaftlichen Kommunikation. Dieser Band mit den überarbeiteten Beiträgen eines Gedankenaustauschs, der von vier Hauptvortragenden und vierzehn Moderatoren als Forschungsdiskussion gestaltet wurde, ist ein authentisches Protokoll aktueller wissenschaftlicher Arbeit am 18. Jahrhundert und ein nachdrücklicher Ausweis der Modernität seiner Problemstellungen. Wesentlich gefördert wurden die Tagung und dieser Band von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Dank dafür gebührt, ein so vielstimmiges Gespräch samt seiner Publikation ermöglicht zu haben. Der Redakteur, Dr. des. Heiko Pollmeier, hat im ständigen Kontakt mit den Autoren und Sektionsleitern das Mammutwerk in vergleichsweise kurzer Zeit einheitlich gestaltet. Der Verlag de Gruyter sorgte für eine rasche und unkomplizierte Drucklegung, die das begonnene Forschungsgespräch weiterzuführen erlaubt. Im August 2008 Helwig Schmidt-Glintzer Wolfenbüttel
Ulrich Johannes Schneider Leipzig
Inhaltsverzeichnis Helwig Schmidt-Glintzer, Ulrich Johannes Schneider Geleitwort und Dank ................................................................................ V
I. Kulturen des Wissens Walther Ch. Zimmerli Wissenskulturen des 18. und 21. Jahrhunderts .................................... Rainer Enskat Aufgeklärtes Wissen. Eine verdrängte Erblast des 18. Jahrhunderts ................................................................................. Bettina Wahrig Geheimnis und Publizität des pharmakon. Verhandlungen über den Umgang mit Giften im 18. Jahrhundert ..................................... Martin Mulsow Die Transmission verbotenen Wissens ................................................. Ulrich Johannes Schneider Der Aufbau der Wissenswelt. Eine phänotypische Beschreibung enzyklopädischer Literatur .............................................
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II. Gelehrte Korrespondenzen Detlef Döring Einführung ................................................................................................. 101 Rainer Falk Die Korrespondenz des ‚gelehrten Buchhändlers‘ Friedrich Nicolai ....................................................................................... 105 Anett Lütteken Freundlich „gegen jedermann, vertraulich gegen wenig“. Bodmers Briefwelten ............................................................................... 113
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Inhaltsverzeichnis
Martin Stuber Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern, 1759–1800 ................................................................ Thomas Wallnig Bernhard Pez OSB im Briefkontakt mit protestantischen Gelehrten ............................................................. Hermann Schüttler Das Kommunikationsnetz der Illuminaten. Aspekte einer Rekonstruktion ................................................................ Nadine Wetzel Newton und Leibniz in Frankreich. Emilie du Châtelets Korrespondenz über nationale Grenzen der République des Lettres .........................................
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III. Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts digital Ulrich Johannes Schneider Einführung ................................................................................................ Annette Meyer „Perhaps the fastest pen in the Scottish Enlightenment“. William Smellies Encyclopædia Britannica in der schottischen Aufklärung .......... Hans-Ulrich Seifert Krünitz online. Planung und Realisierung der digitalen Ausgabe von Johann Georg Krünitz’ Ökonomisch-technologischer Enzyklopädie .................................................... Nico Dorn Zedlers Universal-Lexicon und das Problem seiner inhaltlichen Erschließung ........................................................................
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IV. Privatbibliotheken Gabriele Ball Einführung ................................................................................................ 191 Kathrin Paasch Die fürstlichen Privatbibliotheken am Gothaer Hof im 18. Jahrhundert. Die Sammlungen Herzog Friedrichs III. und seiner Gemahlin Luise Dorothea .................................................. 195
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Martin Engel Die Bibliothek des preußischen Hofarchitekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699–1753) ............................ 203 Diana Stört „Gleimii et amicorum“. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Bibliothek......................... 211 Alexander Ritter Der freie und gelehrte Schriftsteller Johann Gottwerth Müller und seine enzyklopädische Privatbibliothek ........................................ 221
V. Periodische Formen des wissenschaftlichen Denkens, Schreibens und Publizierens Jens Häseler Einführung ................................................................................................ Christian Hippe Gelehrte Kürze. Zum Feindbild der Zeitschriften in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik ............................................... Wolfgang Rother Publizistik im Dienste der Aufklärung. Zum philosophischen Selbstverständnis der Zeitschrift Il Caffè ............................................... Helga Meise Die wissenschaftliche Zeitschrift als Mittler. Von den Prager gelehrten Nachrichten zu den Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften .....................................................................
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VI. Die moralische Ökonomie des Wissens Marian Füssel Einführung ................................................................................................ 259 Iris Fleßenkämper Die Select Society of Edinburgh (1754–1764). Soziale Logik und kommunikative Etikette ......................................... 263 Sebastian Kühn Gelehrte Streitkultur und Wissenskollektive. Das Beispiel des Denis Papin ........................................................................................ 273
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Inhaltsverzeichnis
Daniel Fulda Von der Polyhistorie zur modernen Wissenschaft. Zum politisch-galanten Gelehrtenideal der Frühaufklärung ............. 281 Carlos Spoerhase Zur prosodischen Dimension einer moralischen Ökonomie des Wissens ............................................................................................... 289
VII. Kultur des politischen Wissens im deutschsprachigen Raum des frühen 18. Jahrhunderts Ursula Goldenbaum Einführung ................................................................................................ Arnd Beise „Gute Bürger und Patrioten dem Staat zu pflanzen“. Johann Jakob Bodmers ungedruckte Zürich-Dramen ....................... André Krischer Zeremoniell in der Zeitung. Periodika des 17. und 18. Jahrhunderts als Medien der ständischen Gesellschaft ............... Rainer Bayreuther Kulturpolitik als Beruf. Zum Begriff des Politischen im Wirken Johann Matthesons ..............................................................
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VIII. Popularisierung gelehrter Wissensbestände Ute Schneider Einführung ................................................................................................ Oliver Hochadel Die Fußtruppen der Aufklärung. Umherziehende Elektrisierer im 18. Jahrhundert ................................................................................... Kai F. Hünemörder Strategien einer Schlüsselinstitution der Popularisierung agrarischen Wissens in Kurhannover: Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft (1764–1804) .......................... Maria Remenyi „Popularisierung“ und „Wissenschaft“ – ein Gegensatz? Die mathematischen Wissenschaften und ihre Vermittlung im 18. Jahrhundert ...................................................................................
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Michał Mencfel Physikotheologisches Dilemma. Wunderkammer, Raritätenkabinette und Naturaliensammlungen als Orte des Wissenserwerbs und Wissensverbreitens? Einige Zweifel ......... 355 Joachim Penzel Wie man sehen lernte. Zur Entstehung der Vermittlungspublizistik in Gemäldegalerien des 18. Jahrhunderts ......................... 365 Alexander Košenina Rechtsaufklärung und Kriminalliteratur ............................................... 371
IX. Das andere Wissen: Traum, Wahnsinn, Geisterseherei Alexander Košenina Einführung ................................................................................................ Frauke Berndt Symbolisches Wissen. Zur Ökonomie der ‚anderen‘ Logik bei Alexander Gottlieb Baumgarten ..................................................... Christiane Frey Wissen um Trieb und Laune. Zu einem Widerspruch in Anthropologie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts .............................. Lucas Marco Gisi Die lebhafte Einbildungskraft der ‚Wilden‘ Kamtschatkas als europäisches Konstrukt und außereuropäische Herausforderung .............................................. Albert Schirrmeister „L’art de se rendre heureux par les songes“. Traum, Wissenschaft und Einbildungskraft ........................................ Matthias Rothe „Spontan“. Modifikation eines Begriffs im 18. Jahrhundert ............. Yvonne Wübben Traum, Wahn und Wahnwissen. Karl Philipp Moritz als Sammler psychologischer Erfahrungsberichte .............................. Robert Leventhal Vorstudien zur Hysterie. Marcus Herz’ Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moriz Krankengeschichte (1798) ..........
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Inhaltsverzeichnis
Ralf Klausnitzer „Wer sich auf Chifern versteht, wird schwerlich glauben, daß dies von ungefähr ist.“ Saint-Martins Epistemologie der Gegenaufklärung im Widerstreit ............................................................ 441
X. Die Erziehung des Auges. Wissen und visuelle Praxis Robert Felfe Einführung ................................................................................................. 451 Regina Schubert Perspektivlehre im 18. Jahrhundert. Normierung des Blicks oder Zugewinn künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten? ................. 455 Natalie Binczek Gewebe/Gewänder. Die verhüllende Sichtbarkeit in der Mikroskopie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts: Wilhelm Heinses Ardinghello ................................................................... 463 Isabelle von Marschall Bei Licht gesehen. Zur Popularisierung des Newtonschen Sehkonzepts und dessen Folgen für die Aquarellmalerei .................. 471 Julia Sedda Antikes Wissen. Die Wiederentdeckung der Linie und der Farbe Schwarz am Beispiel der Scherenschnitte von Luise Duttenhofer (1776–1829) .................................................... 479 Julia Gelshorn Erziehung des Auges – Erziehung des Körpers. Die geschwungene Linie als visuelle Ausdrucksform sozialer Normierung ..................................... 489 Bettina Noak Schule der Wahrnehmung. Johannes Florentinus Martinets Katechismus der natuur......................... 499 Margrit Vogt Eine kleine Schule des Sehens – oder: Johann Heinrich Mercks Zeitschriftenbeitrag Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in ** ............... 507 Peter Heering Populäre Bilder. Die Visualisierung des Mikrokosmos in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts .............................................. 515
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Jan Altmann Pazifische Impulse. Entdeckungsreisen und visuelle Techniken der naturhistorischen Wissensrepräsentation ........................................ 523
XI. Gärten als epistemologische Modelle Holger Zaunstöck Einführung ................................................................................................ Christiane Holm Garten im Text und Garten als Text. Beschreibungen des Landschaftsgartens von Machern am Ende des 18. Jahrhunderts ............................................................... Sascha Winter Ewige Fortschreitung zur Vollkommenheit. Das Grab im Garten und das Geheimbundwesen um 1800 ............. Rainer Godel Epistemologie der Aufklärung? Gartentheorie des späten 18. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Publizistik ............. Björn Brüsch „Ein dem Publico wohlthätiges und nützliches Vergnügen“. Der Garten als epistemologischer Raum um 1800 .................................
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XII. Darstellungsformen medizinischen Wissens Simone De Angelis Einführung ................................................................................................ 571 Cornelia Zumbusch Darstellung des Unbekannten. Narrative und Metaphern in der Debatte um die Pockeninokulation ........................................... 577 Janina Wellmann Keine Ikone der Entwicklung. Die Icones embryonum humanorum von Samuel Thomas Soemmerring ....................................................... 585
XIII. Naturgeschichte. Epistemologie und material culture Bettina Dietz Einführung ................................................................................................ 595
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Inhaltsverzeichnis
Thomas Nutz Wissen aus Objekten. Naturgeschichte des Menschen und Menschheitsgeschichte .................................................................... 599 Thomas Biskup Sammeln und Reisen in deutsch-englischen Gelehrtennetzwerken im späten 18. Jahrhundert ............................... 607 Bettina Dietz Die Naturgeschichte und ihre prekären Objekte ................................ 615
XIV. Ästhetik zwischen Norm und Geschichtlichkeit Ulrike Zeuch Einführung ................................................................................................ Michael Eggers „Vergleichung ist ein gefährlicher Feind des Genusses.“ Zur Epistemologie des Vergleichs in der deutschen Ästhetik um 1800 .................................................................. Johannes Endres Poetologien des Schneidens ................................................................... Gilbert Heß Winckelmann und die Folgen. Transformationen des Wissens über Griechenland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert .......... Sabine Huschka Episteme choreografierter Körper im ballet en action. Zum ästhetischen Widerstreit von techné und Einfühlung ..................... Christina Oberstebrink Das Schöne, das Schreckliche und das Hässliche. Die Aristotelische Poetik zwischen Norm und Modernität ............... Christoph Schmälzle Deutsche Klassik im System der „augusteischen“ Zeitalter ..............
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Abbildungsnachweise ................................................................................... 681
I. KULTUREN DES WISSENS Wissenskulturen des 18. und 21. Jahrhunderts Walther Ch. Zimmerli Einer weit verbreiteten Fassung zufolge ist das 18. Jahrhundert das Jahrhundert der Aufklärung. Das ist allerdings nur bedingt zutreffend. Schon im 18. Jahrhundert hat nämlich die Aufklärung mindestens ebenso viel Kritik wie Zustimmung gefunden. Außerdem ist es so, dass die Kennzeichnung des 18. Jahrhunderts als des Jahrhunderts der Aufklärung dem Verdikt der Dialektik der Aufklärung verfällt, demzufolge die Aufklärung sich gegen sich selber wendet. Der locus classicus der reflexiven, im 20. Jahrhundert formulierten Form dieser Aufklärungsdialektik findet sich an prominenter Stelle in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung: Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen, aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.1
Es soll im Folgenden um die Frage gehen: Haben wir heute das 20. Jahrhundert schon so weit hinter uns gelassen, dass wir derzeit eine erneute, eine reflexive dialektische Wendung der Dialektik der Aufklärung erleben? Verhält es vielleicht so, dass wir zu einer neuen Affirmation der Aufklärung durch die Dialektik der Aufklärung hindurch gekommen sind? Stellt vielleicht das triumphale Unheil, in dem die vollends aufgeklärte Erde
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Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1988. Zur europäischen Aufklärung im Allgemeinen und zum 18. Jahrhundert im Besonderen vgl. im Folgenden auch: Kopper, Joachim, Einführung in die Philosophie der Aufklärung. Die theoretischen Grundlagen, Darmstadt 1979; Schneiders, Werner, Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg i. Br. 1974; ders., Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990; Pütz, Peter, Die deutsche Aufklärung, Darmstadt 1978; ders. (Hrsg.), Erforschung der deutschen Aufklärung, Königstein/Ts. 1980; Schrader, Wolfgang H., Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, Hamburg 1984; Vierhaus, Rudolf (Hrsg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985; Wieckenberg, Ernst P. (Hrsg.), Einladung ins 18. Jahrhundert, München 1988; Guthke, Karl S., Literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland und der Schweiz, Bern, München 1975.
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Wissenskulturen des 18. und 21. Jahrhunderts
strahlt, – „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Hölderlin)2 – die Rettung, und damit eine neue Aufklärung dar? Um diese radikale Vermutung weiterzutreiben, gilt es, sich auf etwas ganz Elementares zu besinnen, nämlich darauf, dass uns die Aufklärung – und damit ist nicht die historische Epoche, sondern die systematische Nutzung unserer Vernunft gemeint – seit der Antike in regelmäßigen Abständen immer wieder begegnet. Es sei nicht verschwiegen, dass die in diesem Sinne kompromisslosesten Aufklärer der Antike die sogenannten Sophisten gewesen sind.3 Bei der Aufklärung handelt es sich generell um eine, vielleicht sogar um die Vernunftorientierung unseres Denkens schlechthin und seit dem 18. Jahrhundert um die prononcierteste Vernunftorientierung des neuzeitlichen Denkens. Diese liegt jeder Dialektik der Aufklärung insofern sozusagen unvorgreiflich bereits voraus, als – und dies ist eine transzendentale Denkfigur, wie sie von Kant und dem Kantianismus entwickelt worden ist – jede Vernunftkritik ihrerseits sich der Argumente der Vernunft bedienen muss. Anders: Rationalität bleibt der Felsen, an den unser Denken prometheisch geschmiedet bleibt, selbst, wenn wir dieser Bindung zu entkommen versuchen. Es gibt eben keine andere Möglichkeit, etwas denkend zu kritisieren, als es argumentativ zu kritisieren. Auch das geht auf die Antike zurück. Bei Diogenes Laertius finden wir z. B. eine von Hegel zitierte Stelle, in der Diogenes der Kyniker zur Widerlegung der Zenonischen Bewegungsparadoxien stillschweigend aufstand und hin und her ging. Als aber einer seiner Schüler mit dieser Widerlegung zufrieden war, wurde dieser zu Recht von Diogenes mit den Worten gerügt, „da der Lehrer mit Gründen gestritten, er ihn auch nur eine Widerlegung mit Gründen gelten lassen dürfe.“4 Kurz: Wir sind Vernunftwesen, und bleiben das auch; zugleich sind wir aber nicht nur Vernunftwesen; wenn wir jedoch die Kritik unserer Vernunft ihrerseits kritisieren, oder wenn wir die Kritik unserer Vernunft ipso facto durchführen, können wir das nur leisten, indem wir es argumentativ tun. Trotz alldem aber bleibt nicht alles beim Alten. Es ist nicht etwa so, dass wir sagen könnten: Weil es sich so verhält, weil eben auch die Aufklärungskritik selbst ihrerseits Aufklärung betreibt, bewegen wir uns immer noch im 18. Jahrhundert, sondern es hat sich vieles verändert.
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Hölderlin, Friedrich, „Patmos: ‚Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott./Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch‘“, in: Jochen Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen ‚Friedensfeier‘, ‚Der Einzige‘, ‚Patmos‘, Darmstadt 1990. Vgl. Classen, Carl Joachim (Hrsg.), Sophistik. Wege der Forschung, Darmstadt 1976. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Suhrkamp Werkausgabe, Bd. 18), Frankfurt am Main 1971, S. 306.
Walther Ch. Zimmerli
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1. Säkulare Vorurteile Um aber zunächst dann doch etwas Wasser in den Wein zu gießen, möchte ich daran erinnern, dass wir die reflexiven Formen der aufklärerischen Vorurteilskritik auch in Bezug auf die Vorurteile, die wir selber investieren, anwenden müssen. Wir können die Aufklärung in die drei Begriffe ‚Vorurteilskritik‘, ‚Vernunftorientierung‘ und ‚Aufklärung im Sinne der Erhellung‘ teilen, und insofern ist die Vorurteilskritik selbstverständlich auch reflexiv. Vermutlich hegen wir nämlich eine Reihe von Vorurteilen, die wir kritisieren und rehabilitieren müssen. Hans-Georg Gadamer hat bekanntlich die Rehabilitierung des Vorurteils thematisiert5: Von gewissen Vorurteilen dürfen wir nicht lassen. Umgekehrt gibt es das Vorurteil gegen Vorurteile, das wir kritisieren müssen: Wir müssen kritisch unterscheiden zwischen dem, was die Tradition uns lehrt, und dem, was wir von der Tradition nicht übernehmen dürfen. Daher ist die Vernunftkritik selber Aufklärung, ebenso wie die Gegenaufklärung selber Aufklärung ist. Wenn wir uns aber die säkularen Vorurteile anschauen, dann müssen wir noch einen Schritt weitergehen. Wir folgen seit der Antike der Vorstellung, dass sich die Geschichte in drei, den mikrokosmischen menschlichen Entwicklungsphasen makrokosmisch entsprechende Zeitalter aufteile: die Antike, das Mittelalter und die Neuzeit. Darin lässt sich zwar eine gewisse Rationalität entdecken, weil sich die Jugend, das Erwachsensein und das Alter des Menschen in der Tat in diese drei Schritte einteilen. Die demografische Entwicklung zeigt uns aber, dass wir wohl heute eher in vier Phasen zu denken haben, weil wir das dritte Lebensalter in Wahrheit wiederum teilen müssen. Noch künstlicher ist die Unterteilung in Jahrhunderte. Bisher unterteilen wir unsere europäische Geistesgeschichte in größenordnungsmäßig siebenundzwanzig Jahrhunderte; wären wir Chinesen, würden wir vielleicht 60 Jahrhunderte ansetzen, während wir in einem anderen kulturellen Umfeld vielleicht gar nicht in Jahrhunderten rechnen. Bei uns allerdings denken wir in dezimalen Systemen. Warum wir immer von Jahrhunderten ausgehen, verstehen wir erst, wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden, dass dies unserer Grund- und Hauptrechnungsart entspricht. Wären wir in einem Duo-Dezimalsystem oder gar in einem dualen System, in dem wir uns technologisch jetzt bewegen, aufgewachsen, würden wir unsere Geschichte ganz anders einteilen. Die Einteilung des Jahres ebenso wie die Einteilung der großen Epochen mögen noch eine naturhafte Be-
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Gadamer, Hans G., Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, bes. S. 261ff.; zur Vorurteilskritik in der Aufklärung vgl. auch Schneiders, Werner, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983.
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Wissenskulturen des 18. und 21. Jahrhunderts
gründung finden, während die Einteilung der Jahrhunderte sich ausschließlich dem Dezimalsystem verdankt. Wenn das aber so ist, dann gilt natürlich auch, dass die Rede von Jahrhunderten, also auch die Rede von unserem geliebten 18. Jahrhundert, in hohem Maße konstruiert ist; oder pointierter formuliert: Das 18. Jahrhundert gibt es gar nicht. Was wir 18. Jahrhundert nennen, reicht weit ins 17., 16. und ein wenig sogar noch ins 15. Jahrhundert zurück, und es ist auch im 19. und 20. Jahrhundert selbstverständlich noch nicht beendet. Das 21. Jahrhundert aber gibt es deswegen nicht, weil es weit ins 20. Jahrhundert zurückgreift und wir über das 21. selbst noch kaum etwas wissen. Infolgedessen gilt es also, sich der säkularen Vorurteile bewusst zu sein, wenn wir uns dem anderen Vorurteil zuwenden, nämlich dem der Wissenskultur. Denn auch Wissenskulturen sind selbstverständlich Konstrukte, und zwar schon deswegen, weil Kultur selbst ein Konstrukt ist. Um dem einen „turn“ einen anderen „turn“ hinzuzufügen: der „culturalistic turn“ ist eine Wendung, in der sich Elemente unserer klassischen Disziplinen, aus denen wir kommen, seit etwa 20 Jahren wiederfinden. Der „culturalistic turn“ hat diese Disziplinen in „Cultural Studies“ transformiert. Diese sind sozusagen zum Auffangbecken für alles das geworden, was man in der Philosophie als Ideologiekritik, in der Literaturtheorie als Literaturwissenschaft linker Provenienz sowie in allen möglichen Zusammenhängen der Geschichtswissenschaft in dieser Form nicht mehr weiterführen konnte, nun kreativ neu zusammenfasst. So geschieht Wissenschaftsentwicklung. Das 18. Jahrhundert – so können wir, wenn wir jetzt durchschaut haben, dass Wissenskultur ein Konstrukt ist, das stark an diesem „culturalistic turn“ hängt, und wenn wir durchschaut haben, dass die Jahrhunderteinteilung ebenfalls ein, wenn auch sehr bewährtes, trotzdem dezimales Konstrukt ist, können wir trotzdem fragen: Wodurch ist denn nun, wenn Wissenskultur so etwas heißen soll, wie die Art und Weise, wie mit Wissen umgegangen wird, die Wissenskultur des 18. Jahrhunderts charakterisiert? Und da gilt natürlich zunächst einmal, dass das 18. Jahrhundert – vielleicht mehr als andere Jahrhunderte – durch das Buch geprägt ist, das gedruckte Buch, das seinerseits nicht nur auf den Buchdruck mit beweglichen Lettern, sondern auch auf eine Kulturtechnik zurückgreift, nämlich auf das Lesen- und Schreibenkönnen inklusive des Vorlesens als Lehrenkönnens. Die Weitergabe und die Wissensentwicklung geschehen durch technisch vervielfältigte Schrift, und das ist eigentlich etwas Ungeheuerliches! Man muss sich klar machen, dass Homer deswegen als blinder Sänger geschildert wird, weil damit angezeigt werden soll, dass er nicht – und das ist die Zeit, in der die Schriftkultur nach dem „dark age“ in unserer Tradition überhaupt erst beginnt – ein Buch vorgelesen haben kann, weil er blind
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war, sondern dass er alles auswendig können musste; die Arbeiten der Oralist School haben uns mit einer reichen Evidenzensammlung dafür versorgt, dass die klassische Form der Wissensvermittlung als mündliche Wissensvermittlung nur eine ziemlich beschränkte Menge umfassen konnte, nämlich genau das, was ein Mensch – ich sage das despektierlich – zwischen seinen zwei Ohren speichern kann. Nun muss man sich den ungeheuren Schritt vorstellen, der darin besteht, dass wir uns einen externen Wissensspeicher zulegen, nämlich einen Wissensspeicher aufgeschriebener Texte. Das gilt für das Kalkulierenkönnen ebenso wie für das Argumentieren, das gilt für die Traditionsfähigkeit, also die Fähigkeit für Überlieferung ebenso wie für die unmittelbare Kommunikation: Es ist ein riesiger Schritt, den die Menschheit mit dieser Fähigkeit zur Kulturtechnik der Schrift gemacht hat.6 Und wenn wir jetzt die Schrift noch technisch vervielfältigen können, wenn wir also eine Kulturtechnik haben, die technisch multipliziert werden kann, dann erst bewegt man sich in Richtung einer Wissenskultur, die von sich tatsächlich sagen kann: Wir stehen auf den Schultern unserer Vorgänger; wir wachsen dadurch, dass wir das, was unsere Vorgänger schon entwickelt haben, weitergeben. Erst so macht das Wort von der Tradition als Weitergabe von Kultur Sinn; erst dadurch, dass man über ein externes Speichermedium verfügt, lassen sich Wissen und Kultur weitergeben. Wenn es sich so verhält, dass Wissen Repräsentation der Welt im Denken, anders: Abbildung oder sogar zweite Schöpfung der Welt im Denken ist, dann bedeutet Wissen im 18. Jahrhundert: Repräsentation der Welt in Büchern und insbesondere auch in Bücher-Büchern, in Metabüchern, also in Büchern, die uns erlauben, das, was wir an Wissen in den einzelnen Büchern gespeichert haben, zu erschließen. Denn wir können nicht alles einfach so lesen, dazu ist es viel zu viel. Wir können uns ja einfach einmal aufgrund unserer Lebenserwartung, die bei Frauen signifikant, bei Männern etwas weniger signifikant gestiegen ist, überlegen, wie viele Bücher wir im Verlauf unseres Lebens lesen können; das ist schon desillusionierend, insbesondere wenn man sich langsam von der Akme, der Blütezeit, entfernt, wenn man also den besseren Teil des auswendiglernfähigen Alters hinter sich hat, erkennt man plötzlich, wie wenig man nur noch lesen kann. Was tut man, und was tat das 18. Jahrhundert in diesem Falle? Es entwickelte Techniken, die erlauben, Wissen in Form eines Metawissens zu erschließen, eine weise Erfindung, die ihrerseits zu allerhand interessanten semantischen Proble-
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Vgl. Zimmerli, Walther Ch., „Information und Kultur. Information als verbindendes Element der Kulturen“, in: Eduard J. Kroker/Bruno Dechamps (Hrsg.), Information – eine dritte Wirklichkeitsart neben Materie und Geist, Frankfurt am Main 1995, S. 39-52.
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Wissenskulturen des 18. und 21. Jahrhunderts
men führt, etwa zu der berühmten semantischen Antinomie, nämlich der Frage, ob es möglich ist, einen Katalog aller Kataloge zu erstellen, die sich selbst nicht beinhalten. Das ist ein interessantes, aber unlösbares Problem, das zeigt, in welcher Weise solche Erschließungstechniken, solche Findbücher eigentlich erst das Wissen zum Wissen machen. Wir können nämlich so viel speichern, wie wir wollen, solange wir keinen Zugang dazu haben, haben wir auch kein Nutzen. Und hier ist das 21. Jahrhundert im Begriff nochmals einen gewaltigen Schritt zu tun, einen Schritt, den wir schon eingeleitet haben: die Repräsentation der Welt in Datenbanken durch vernetzte Suchmaschinen, also durch Metatechniken einer nochmals gesteigerten Art. Man muss nur einmal das potenzielle Wissen, das in Büchern sowie in Archiven versammelt ist, betrachten und überlegen, wie wenig Platz es einnehmen würde, wenn es digital gespeichert wäre und welche gigantischen Wissensbibliotheken wir anbieten könnten, wenn wir alles digital speichern würden – und wie wenig wir trotzdem wissen würden, wenn wir alles digital gespeichert hätten... Das ist eben das Dumme bei allen Wissensspeichern: Wir können die größten Speicher mit den besten Suchmaschinen haben, wir können „the knowledge of the world at our fingertips“ haben, nur das ist eben nur „at our fingertips“; wissen tun wir dadurch immer noch nichts. Man kann auch andersherum sagen: Wir leben in einer Zeit, in der Kapieren durch Kopieren ersetzt zu werden scheint, in der also der Versuch unternommen wird, Wissensbestände dadurch in Wissen zu verwandeln, dass die Repräsentation der Speicher des Wissens kopiert wird, nur reicht das eben nicht aus. Mit anderen Worten: die Repräsentation der Welt in Datenbanken und Suchmaschinen ist genau so wenig ein Wissen, wie ein Katalog schon Wissen ist. Nun könnte man fragen: Wie steht es denn mit Wikipedia, wie steht es denn allgemein mit den Open-Source-Systemen, bei denen wir plötzlich eine Autorenmultiplikation bis ins Unendliche haben? Und die Antwort lautet: Da wird es noch schlimmer, weil nämlich nicht einmal mehr sichergestellt ist, dass die Qualität der Inhalte auf eine Quelle zurückgeht, sondern wir haben keine Ahnung, woher die Inhalte stammen, weswegen die Suchmaschinen und die Enzyklopädien, die auf Open-Source-Systemen beruhen, gegenwärtig vor allen Dingen ein Problem haben, nämlich das Problem der Qualitätssicherung. Wissenskultur heißt ursprünglich: Umgang mit der im Denken repräsentierten Welt. Und das bedeutete im 18. Jahrhundert: Umgang mit Büchern und Bücher-Büchern, also Metabüchern, im 21. Jahrhundert zusätzlich Umgang mit Datenbanken und Suchmaschinen, also mit Datenbanken und Meta-Datenbanken.
Walther Ch. Zimmerli
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Worüber ich die ganze Zeit gesprochen habe, ist offenkundig Bildung. Keiner von uns aber kann heute wagen von sich zu behaupten, er sei insofern gebildet, als er das Wissen seiner Zeit im enzyklopädischen Definitionssinne in seinem Denken repräsentieren könne. Das zu behaupten wäre absurd. Aber auch die Formel, der letzte Universalgelehrte sei Leibniz gewesen, ist – so verstanden – Unsinn. Natürlich hat auch Leibniz das Wissen seiner Zeit nicht in seinem Verstande repräsentiert. Man braucht sich nur in den Bibliotheken des 18. Jahrhunderts umzuschauen und sich dann noch zusätzlich die Bestände des 16., 15. und 17. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen und sich klarzumachen, dass niemand, kein Leibniz und kein Hegel, das Wissen seiner Zeit im Denken repräsentieren kann, und genau deswegen braucht man Bildung. Bildung ist sozusagen die Kompensation dafür, dass wir nicht alles wissen können. Gebildet ist nämlich, wer weiß, wo er findet, was er nicht weiß. Ein Satz, über den man lange, lange nachdenken kann. Wir werden diesem Satz von Georg Simmel ein wenig nachdenken, und zwar entlang von drei Begriffspaaren: „Glauben und Wissen“, „Wissen und Machen“ sowie „Machen und Nichtwissen“. Anhand dieser drei Begriffspaare versuche ich – eher impressionistisch – auch die beiden Denkformen oder die beiden Wissenskulturen des 18. und des 21. Jahrhunderts gleichsam gegeneinander aufleuchten zu lassen. 2. Glauben und Wissen Das 18. Jahrhundert setzte nicht Wissen gegen Glauben, wie man häufig vermutet hat. Man muss sich nur die Aufklärer anschauen und sich fragen, wer eigentlich kein Aufklärer war im 18. Jahrhundert, um sich klarzumachen, dass es nicht um diese Frontstellung ging, und wer sich dann genauer anschaut, worum es sich eigentlich drehte, der sieht sofort, dass es um die Gegenüberstellung von Wissen versus Aberglauben ging, also auch im Sinne Kants nicht um Glauben, denn die aufklärerische Kritik hat ja die Funktion, das Wissen aufzuheben, um für den Glauben Platz zu machen.7 Aufklärung war nie gegen Glauben gerichtet, nur gegen Aberglauben, gegen das, was falsch ist am Glauben, oder das, was den Glauben sozusagen wissenshinderlich werden lassen könnte. Das Wissen ist geradezu als auf Glauben beruhend zu verstehen. Aber trotzdem findet sich im 18. Jahrhundert eine ganze Reihe von großen Debatten über das Verhältnis von Glauben und Wissen, zuletzt
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Kant, Immanuel, „Kritik der reinen Vernunft“, in: ders., Werkausgabe in 12 Bänden, Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Frankfurt am Main 1984, Bd. 3–4.
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Wissenskulturen des 18. und 21. Jahrhunderts
und in unserem Kulturkreis natürlich die Debatte um Jacobi. Dabei geht es immer um die Frage: Wie viel Glauben brauchen wir eigentlich, um zu wissen? Das bedeutet auch, dass der Begriff der Religion sich ändert. Hermann Lübbe hat verschiedentlich über die „Religion nach der Aufklärung“ gehandelt und hat gezeigt, dass es seit der Aufklärung, genauer seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, mit wenigen Ausnahmen keinen Widerspruch mehr gibt zwischen dem, was man weiß, und dem, was man glaubt.8 Eine schöne Anekdote aus dem 19. Jahrhundert, die er in diesem Zusammenhang häufig zitiert, handelt von der Frau des Bischofs von Worcester, die, als sie von der Darwinschen Lehre gehört hatte, das Stoßgebet ausgestoßen haben soll: Herr, lass es nicht wahr sein! Aber sicherheitshalber hinzufügte: Und wenn es doch wahr ist, so sorge dafür, dass es nicht weiter bekannt wird!9 Das ist dann aber auch schon das letzte Aufflackern, und dann gibt es noch den berühmten Streit im preußischen Landtag am 23. und 26. Februar 1883 um die Frage der Abstammungslehre10, aber sonst löst sich nach Hermann Lübbe diese Frontstellung zwischen Glauben und Wissen auf. So plausibel dies auch erscheinen mag, hier irrt sich Lübbe: Das 21. Jahrhundert belehrt uns eines anderen, und zwar jetzt tatsächlich erst das 21. Jahrhundert. Im Zuge der Globalisierung zeigt sich ein neuer Glaubenskrieg, ein Dschihad gegen das westliche Wissen, und das westliche Wissen ist zugleich das Weltwissen. Dabei regen sich tatsächlich Glaubenskulturen, die das Weltwissen grundsätzlich ablehnen. Das führt erneut zu einer erheblich härteren Frontstellung des Glaubens gegen das Wissen, und zwar bis hin zu kreuzzugartigen Entwicklungen. Hans Meier hat in einem lesenswerten kleinen Aufsatz in der Neuen Zürcher Zeitung sogar darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir verstehen wollen, was sich zur Zeit zwischen den zwei (oder drei) mosaischen Religionen, also zwischen dem Judentum, dem Christentum und dem Islam abspielt, beim Islam in der Tat wieder die Phase der Kreuzzüge entdecken können.11 Das 18. Jahrhundert ist, wenn wir noch einmal auf seine Religionsformen zurückblenden, auch nicht etwa ein Jahrhundert des Polytheismus, sondern es ist – jedenfalls in Europa – ein monotheistisches Jahrhundert, dem es allerdings langsam aufzugehen beginnt, dass es nicht nur eine monotheistische Religion gibt, sondern viele. Hierzulande weht im 18. Jahr-
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Lübbe, Hermann, Religion nach der Aufklärung, Paderborn 2004. Ders., „Wissenschaftskulturelle Voraussetzungen der Religion nach der Aufklärung“, in: Willi Oelmüller (Hrsg.), Wiederkehr von Religion? Perspektiven, Argumente, Fragen, Paderborn, München u. a. 1984, S. 136. Ders., Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, 2. Aufl. Bern, Heidelberg u. a. 1994, S. 35ff. Meier, Hans, „Über Gewalt im Christentum“, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.10.2006.
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hundert der Geist Lessings und damit der aufklärerische Geist Nathan des Weisen; insofern ist auch klar, wovon hier die Rede ist: von einem Wissen um die Vielheit der Religionen, das zugleich die Toleranzforderung und zudem etwas, was wir heute im Rückblick einen Pluralismus erster Ordnung nennen können, zur Konsequenz hat. Es gibt verschiedene Religionen, verschiedene Wertsysteme, verschiedene politische Systeme, die sich auf diesen Wertsystemen aufbauen; sie alle sind zu prüfen, weil wir nicht genau wissen, welches die richtige ist. Aber es gibt eine richtige, denn nur der Glaube daran, dass es eine richtige Religion gibt, dass also in der Ringparabel ein echter Ring darunter ist, lässt überhaupt Differenz entstehen.12 Dagegen ist das, was wir im 21. Jahrhundert erleben, nicht etwa, wie Max Weber das im 20. Jahrhundert gemeint hat, ein Polytheismus der Werte, sondern etwas viel Härteres: ein Antagonismus der Werte. Wenn ich andere Werte im Sinne der Aufklärung, des aufklärerischen 18. Jahrhunderts dulde, dann brauche ich mich nicht zu wundern, wenn sich darunter auch solche Werte finden, die ich nicht dulden wollte. Um es in Abwandlung eines von Robert Spaemann zitierten Diktum von Elisabeth Anscombe zu formulieren13: dann muss man sich auch darauf gefasst machen, dass es weniger nette Religionen, als diejenigen gibt, die man meint, wenn man, ausgehend von der Lessingschen Ringparabel, die Duldung anderer Religionen empfiehlt. Der Antagonismus der Werte führt im 21. Jahrhundert nicht nur zur Anerkennung von, sondern zur Forderung nach Multikulturalismus. Die Multikulti-Mode ist zwar genau so vergangen wie die Postmoderne, aber das harte Programm des Multikulturalismus ist damit nicht erloschen, wir stehen erst am Anfang. Ich empfehle – um das nur exemplarisch zu illustrieren – allen, die einmal eine multikulturelle Gesellschaft kennenlernen wollen, nach Trinidad oder nach Südafrika zu fahren, Länder, in denen Dutzende unterschiedliche Ethnien unter einem Dach zusammenleben. Wir Schweizer sind schon stolz auf unsere 3 bis 4 Nationalsprachen; in Südafrika aber finden wir 11 offiziell anerkannte Landessprachen, von denen nur zwei dem Sprachkreis angehören, den wir kennen, und von denen nur zwei über eine lange Schrifttradition verfügen, die anderen offiziellen Landessprachen Südafrikas kennen das nicht. Mit anderen Worten: Im 21. Jahrhundert dulden wir nicht nur Vielheit, sondern wir fordern sie geradezu. Das aber ist Pluralismus zweiter Ordnung. Der Pluralismus zweiter Ordnung ruft nach einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Wertsysteme, unterschiedliche Meinungen, unter-
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Lessing, Gotthold E., Nathan der Weise, Ditzingen 2000. Spaemann, Robert, „Diskussionsbemerkung“, in: Oelmüller (Hrsg.), Wiederkehr von Religion?, S. 152.
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schiedliche Religionen präsent nicht nur sein dürfen, sondern sein sollen.14 Indem der Pluralismus zweiter Stufe das tut, fordert er aber ipso facto den Antagonismus, und damit die Konsequenzen der Tatsache, dass es auch weniger nette Religionen gibt. 3. Wissen und Machen Damit will ich es erst einmal mit dieser Gegenüberstellung, dieser nicht nur impressionistischen, sondern vielleicht sogar pointillistischen, d. h. kleine Aspekte ausleuchtenden Betrachtung zum Verhältnis von Glauben und Wissen sein Bewenden haben lassen und gehe zu etwas anderem über, zu etwas, was wir in unserer ideengeschichtlich geleiteten Rekonstruktion der Aufklärung des 18. Jahrhunderts systematisch ausgeblendet haben (und auch immer noch ausblenden!), nämlich zum Verhältnis von Wissen und Machen. Wir alle kennen die zum Sprichwort gewordene Maxime „Wissen ist Macht“, und in der gelehrten Lektüre finden sich ausführliche Debatten darüber, ob Francis Bacon das so formuliert hat. To cut a long story short: Er hat; und zwar schon im 17. Jahrhundert. Abgeleitet an dieser Spruchweisheit gibt einen ausgesprochen geistreichen Scherz-Syllogismus. Er heißt: „Wissen ist Macht. / Ich weiß nichts; / macht nichts!“ „Quaternio“ oder „quaternatio terminorsum“ nennt der Logiker den Fehler, auf dem dieser Scherz beruht. Er sieht aus wie ein gültiger Syllogismus, ist aber keiner, weil „Macht“ in doppelter Bedeutung vorkommt. Und dann gilt der Syllogismus leider nicht, er ist dann nicht logisch korrekt, aber um zu kalauern: macht nichts! Er ist dafür ausgesprochen geistreich. „Wissen ist Macht“, hat Francis Bacon gesagt, und vielleicht macht es ja wirklich nichts, wenn man nichts weiß und dadurch möglicherweise keine Macht hat. Francis Bacon hat bei genauerem Zusehen allerdings nicht „Wissen ist Macht!“, sondern tatsächlich „Wissenschaft“ gesagt, wobei „Wissenschaft“ und „Wissen“ im ausgehenden 16. Jahrhundert noch durchaus synonym verwendet werden konnte, zumal wenn man Latein spricht: „Ipsa scientia potestas est“15, Wissenschaft selbst ist Verfü-
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Vgl. Zimmerli, Walther Ch., „Hat der Pluralismus eine eigene Philosophie? Gedanken zur geistigen Zukunft Europas“, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung, 100/1993, 6, S. 497-513; ders., „Second order pluralism“, in: Dirk Hertzog/Etienne Britz u. a. (Hrsg.), Gesprek sonder grense. Huldigingsbundel ter ere van Johan Degenaar se 80ste verjaarsdag, Stellenbosch 2006, S. 324-343. Dass die meisten Sekundärautoren der Auffassung sind, dieses Diktum werde Bacon fälschlicherweise zugeschrieben, liegt daran, dass sie an der falschen Stelle suchen. Zu
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gungsmacht, lautet Bacons Formulierung. Das war gewiss ein Pfeifen im dunklen Keller, denn was gab es denn zur damaligen Zeit an Macht der Wissenschaften? Wie viel konnte man im Ausgang des 16. Jahrhunderts machtvoll mit Wissenschaft anfangen? Relativ wenig. Man konnte vielleicht einige Kugeln eine schiefe Ebene herunterlaufen lassen. Man wusste ein wenig von Ballistik, aber so richtig viel war das damals noch nicht; es war eher ein programmatischer Punkt, der aber noch mehr Sinn macht, wenn man ihn mit einem weit entfernten anderen programmatischen Gedanken kombiniert, nämlich mit dem sogenannten Vico-Axiom: „Verum ipsum factum.“16 Giambattista Vico hatte das 1710 allerdings anders gemeint, da er davon überzeugt war, Wissen sei im engeren Sinne nur das, was wir selbst gemacht haben. In diesem Sinne können wir das nur als wahres Wissen bezeichnen, was wir selbst hervorgebracht haben, also nicht die Natur, denn die hat ja Gott gemacht, sondern die menschliche Geschichte und Sprache, denn die haben wir Menschen selbst gemacht, nur die können wir wirklich verstehen, weil wir sie im Wortsinne auch gemacht haben. Dieses Buch haben wir Menschen geschrieben, anders als das „liber naturae“, das Gott geschrieben hat; das Buch der Sprache und Geschichte haben wir selbst geschrieben, und dieses Buch können wir deswegen auch lesen. Damit ist aber auch gesagt – und das gilt es festzuhalten –, dass die Topologie der aufklärerischen Wissenskultur im 18. Jahrhundert – anders als wir es seit dem 19. Jahrhundert tun – durchaus dem, was man später „die Geisteswissenschaften“ nennen wird, einen Vorrang vor den sogenannten „Naturwissenschaften“ einräumt. Im Zusammenhang mit dem Bacon-Prinzip macht das Vico-Axiom heute aber einen nochmals anderen Sinn; in dieser Zusammenstellung erhält es nämlich eine Bedeutung, die wir erst im 21. Jahrhundert richtig sehen können. Das 20. Jahrhundert hat uns bereits gelehrt, dass in einem sehr viel stärkeren Maße, als wir es zuvor vielleicht geglaubt hatten, die Kombination von Bacons Prinzip und Vicos Axiom die Realität beschreibt. Hier findet sich nämlich eine Antwort auf die Frage, warum wir plötzlich die Natur verstehen können: Weil wir auch die Natur im Zuge der Technologisierung unserer Welt nun selber machen, und zwar Wortsinne, bis in die lebende Natur hinein. Die Technologisierung, z. B. als Informatisierung der Welt führt dazu, dass wir seit der Mitte des letzten Jahrhunderts ein Weltverständnis entwickeln, das uns erlaubt, die Welt als
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finden ist es in den „Meditationes sacrae“ [1597], in: The Works of Francis Bacon, J. Spedding (Hrsg.), Bd. 14, New York 1864, S. 79. Vico, Giambattista, Liber Metaphysicus. De antiquissima Italorum sapientia liber primus, Neapel 1710, ND München 1979, S. 34; vgl. dazu Fellmann, Ferdinand, Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg i. Br. 1978.
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Imitation zu verstehen. Alles das aber, was wir imitieren können, können wir auch machen. Die Turingmaschine, von Alan Turing konzeptionell entwickelt, verkörpert das Grundprinzip unserer modernen Rechner, das besagt, dass eine Turingmaschine dadurch definiert ist, dass sie alles das imitieren kann, was andere Maschinenleisten können. Turing hat im gleichen aber auch den Turingtest entwickelt, der de facto eine operative Definition von Maschinendenken ist: Wenn man nämlich die Leistungen einer Maschine von den kognitiven Leistungen eines Menschen nicht mehr unterscheiden kann, darf mit Fug und Recht gesagt werden, die Maschine denke. Das war – von fast niemandem bemerkt – der Übergang zu einer Wissenskultur der denkenden Maschine.17 Es war allerdings erst der Anfang, und das Imitationsspiel war noch harmlos. Allan Turing sprach noch über individuelle Menschen, die einzelne Maschinen bedienen. Heute befinden wir uns längst in einer Situation der Vernetzung all dieser Maschinen. Nach der Artificial Intelligence haben wir nun die Super Artificial Intelligence oder, wie das terminologisch heißt, die DAI, die Distributed Artificial Intelligence erreicht, d. h. die Möglichkeit, über alle in das Netz integrierten Knotenpunkte Zugriff auf alles in diesem Netz repräsentierte Wissen zu erhalten. Anders gesagt: Wir leben eine Ausdehnung der Imitation, genauer: des Imitationsspieles auf die ganze Welt. Im Grundsatz jedenfalls könnten wir jeden Wissensbestand der ganzen Welt in unserer eigenen technologischen Wissensrepräsentation wiederfinden. Was bedeutet das nun aber für die Frage nach der Wirklichkeit? Bis jetzt haben wir ja von Imitation gesprochen. Wie steht es denn mit der Wirklichkeit? Wie steht es mit den Tests, mit dem „experimentum crucis“, dem sich jede theoretische Projektion stellen muss, wenn die Frage gestellt wird: Stimmt denn diese Projektion oder nicht? Die Antwort, die die Aufklärung darauf gibt, war das Experiment18, und im 19. Jahrhundert dann das Laborexperiment. Die Erfindung des Experiments wird im Regelfalle Galileo Galilei zugeschrieben. Das trifft zwar wissenschaftstheoretisch nicht zu, trotzdem ist es nicht ganz falsch, es mit dem Zeitalter des Galilei zu identifizieren, das Experiment ist sozusagen der Test, mit dem wir die Natur zwingen (um Kant zu variieren), vor dem Gerichtshof unserer Vernunft Rede und Antwort zu stehen. Allerdings wird seit der Transformation des Experiments zum Laborexperiment eines genauer klar: Jeder weiß, dass es in der Wirklichkeit nicht
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Zimmerli, Walther Ch. / Wolf, Stefan (Hrsg.), Künstliche Intelligenz. Philosophische Probleme, 2. Aufl., Stuttgart 2002. Vgl. Galison, Peter, How Experiments End, Chicago 1987.
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wie im Labor zugeht, ganz im Gegenteil: wir blenden im Labor alle realen Faktoren gerade aus, wir konstruieren eine Wirklichkeit und testen unsere konstruierten Vermutungen an dieser konstruierten Wirklichkeit. Was wir damit normalerweise in Kauf nehmen, ist das, was die Denker seit dem 18. Jahrhundert – nicht nur die Materialisten und erst recht nicht nur die Französischen Materialisten unter den Materialisten – bereits in Kauf genommen haben, nämlich eine mechanistische, stark reduktionistische Vorstellung von Leben, und diese stark reduktionistische, mechanistische, deterministische Vorstellung erlaubt uns, unter Laborbedingungen zu testen, was die Welt im Innersten zusammen hält. Damit aber kommen wir in eine Situation, in der (Stichwort ‚Atomismus‘), wie in jedem Reduktionismus, die Teile über das Ganze herrschen, es fehlt leider – mit Goethe – nur das geistige Band! Mit anderen Worten: das 18. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch den Bezug auf den mechanischen Determinismus und die reduktionistische Form, was die Wissenskultur betrifft. Im 21. Jahrhundert erleben wir nun erstaunlicherweise, um es pointiert zu formulieren, eine Wiederkehr des Lebens. Warum? Weil das Laborexperiment verschwindet. Gewiss, das ist eine gewagte These, aber man braucht sich nur einmal die Labors z. B. unserer Molekularbiologen anzusehen, und man wird feststellen, dass diese aussehen wie diejenigen anderer rechnender Disziplinen auch, d. h. die Petrischale und die chemischen Reaktionen gibt es zwar auch noch, aber sie wurden zunächst einmal durch intelligente Maschinen ergänzt und später ersetzt, die zunächst einmal alle möglichen Kombinationen ausrechnen und einige davon später auch testen. Das Leben aus der Retorte ist in Tat und Wahrheit zunächst eine Computersimulation. Wir finden wieder dasselbe Prinzip: Das Bild, das Simulacrum, wird auf einem Rechner hergestellt und daher ist der mechanische Determinismus des 18. Jahrhunderts mittlerweile durch einen biotechnologischen Determinismus ersetzt. Hier aber finden tatsächlich wieder Weltanschauungsschlachten statt, die an die erinnern, die damals um den Darwinismus tobten. Man denke nur an die wieder aufflammenden Debatten über die Frage der Willensfreiheit: Gibt es einen freien Willen, oder wird es nicht nur an der genetischen und molekularbiologischen, sondern vordringlich auch an der neurobiologischen Front diskutiert?19 Plötzlich lebt eine Debatte, die längst als vergangen gewähnt wurde, wieder auf und zwar unter dem Vorzeichen des biologischen Determinismus.
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Roth, Gerhard / Singer, Wolf, Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt am Main 2003.
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Es handelt sich um die Nachfolgedebatte zu derjenigen um die Diktatur der Gene. Dawkins sprach bekanntlich vom „Egoismus der Gene“.20 Natürlich handelt es sich dabei um einen Kategorienfehler, aber alle Wissenschaft beruht zunächst einmal auf Kategorienfehlern, bis diese terminologisch und dann zulässig geworden sind. Es ist ein Kategorienfehler, von der Diktatur und dem Egoismus der Gene zu sprechen, trotzdem entzündete sich die letzte große Weltanschauungsdebatte im Rahmen der Wissenschaft an der Frage, ob die Gene unsere Willensfreiheit so einschränken, dass wir nicht mehr davon reden können, frei zu sein. Und gegenwärtig tobt die Schlacht um die Willensfreiheit nicht nur an der genetischen und molekularbiologischen, sondern vordringlich auch an der neurobiologischen Front. 4. Machen und Nichtwissen Sehen wir nun auf ein anderes, allerdings hiermit zusammenhängendes Feld. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass das 18. Jahrhundert bei aller Fokussierung auf die Vernunft sich im Zuge von Toleranz und Pluralismus de facto von der theoretischen einen Wahrheit verabschiedet hat. Ein damit zusammenhängendes Charakteristikum der – jedenfalls deutschen – Wissenskultur des 18. Jahrhunderts will ich mit einem Begriff von Christian Thomasius benennen, nämlich mit dem Begriff „Handgreifliche Vernunft“21, der auf den durch die üblichen Gegendarstellungen von „Rationalismus versus Empirismus“ verstellten Pragmatismus des 18. Jahrhunderts hinweisen soll. Das Wissen hat nämlich keineswegs immer nur die eine Wahrheit zum Ergebnis – das ist eine nachträgliche Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts –, sondern das 18. Jahrhundert wollte durchaus auch nützliches Wissen produzieren. Jeder weiß, dass im 18. Jahrhundert die bedeutende Aufklärungsuniversität Göttingen gegründet worden ist; weniger bekannt dagegen ist, dass kaum ein Jahrzehnt später das Collegium Carolinum in Braunschweig eröffnet wurde, beides Aufklärungsgründungen. Das Collegium Carolinum schrieb sich das nützliche pragmatische Wissen auf die Fahne, die handgreifliche Vernunft, d. h. das, was umsetzbar ist. Und das bestätigt auch der internationale Befund: Wenn wir z. B. in die Gründungsdokumente der Royal Society oder der Académie des Sciences in Frankreich schauen, beide
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Dawkins, Richard, Das egoistische Gen, Heidelberg 1994. Thomasius, Christian, Kurzer Entwurf der politischen Klugheit, Leipzig 1744; vgl. Zimmerli, Walther Ch., „‚Schulfüchsische‘ und ‚handgreifliche‘ Rationalität – oder: Stehen dunkler Tiefsinn und Common Sense im Widerspruch?“, in: Hans Poser (Hrsg.), Wandel des Vernunftbegriffs, Freiburg, München 1981, S. 137-176.
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schon im 17. Jahrhundert gegründet, dann stellen wir fest, dass das erklärte Ziel dieser gelehrten Gesellschaften nicht Gelehrsamkeit und Wissen um seiner selbst willen, sondern die Verbesserung von nützlichen Fertigkeiten22, wie zum Beispiel des Ackerbaus – ein Gedanke übrigens, den man fast wörtlich auch bei Descartes findet23, der aber aufgrund der Scheuklappen einer rein rationalistischen Descartes-Interpretation im Regelfalle überlesen wird. Wenn man in Descartes einen bloßen Vernunfttheoretiker sucht, der weit entfernt ist davon, das „britische Übel“ zu teilen, nämlich bei allem immer nur auf den Nutzen zu setzen, dann wird man ihn auch so finden. Vor diesem Hintergrund kommt auch dem Nichtwissen eine neue Bedeutung zu. Denken wir nur an die Rolle, welche die Figur des Sokrates in den, jedenfalls deutschsprachigen Schriften des 18. Jahrhunderts spielt. Besonders charakteristisch ist dabei die Figur des bewussten Verzichts auf Wissen, die sich als Aufklärungsgestus in Lessings Diktum äußert, wenn er vor Gott stünde, würde er lieber das Streben nach Wahrheit als die Wahrheit selbst wollen.24 Das 18. Jahrhundert kennt also auch neben Kant (s.o.) durchaus die pragmatische Einschränkung auf das Wissen, das es einzuschränken gilt, um dem Glauben Platz zu machen, eine Einschränkung, die sich ipso facto in die große sokratische Tradition des Nichtwissens einfügen lässt. Wie steht es damit im 21. Jahrhundert? Bereits im 20. Jahrhundert haben wir uns vom Kumulationsmodell des Wissens verabschiedet, das der Überzeugung Ausdruck verleiht, wir könnten, wenn wir immer mehr wissen, irgendwann einmal alles wissen. Es gibt ein von Popper entwickeltes temporales Standardargument gegen dieses Modell. Das Standardargument heißt: Wenn wir alles wissen würden, dann würden wir auch wissen, was wir in Zukunft wissen werden. Das aber ist ein Widerspruch, denn wenn wir jetzt schon wüssten, was wir in Zukunft wissen werden, wäre es nicht das, was wir in Zukunft wissen, sondern wir wissen es schon jetzt.25 Mit anderen Worten: Wir müssen das Kumulationsmodell des Wissens durch ein anderes ersetzen: Mit jedem Stück Wissen, das wir uns aneignen, wächst uns zugleich ein neues Stück Nichtwissen zu, d. h. jede beantwortete Frage gebiert gleichsam neue Fragen. Die Dynamik des Wissens folgt also nicht dem Modell: Wir kumulieren Wissen, und irgendwann einmal ist der Speicher voll, und wir wissen alles, sondern eher nach dem Muster einer Hydra: Jeden Nichtwissens-
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Vgl. Musson, Albert E. (Hrsg.), Wissenschaft, Technik und Wirtschaftswachstum im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1977. Descartes, René, Discours de la Méthode [1637], dt. hrsg. v. A. Buchenau, Leipzig 1905. Vgl. Hofmann, Michael, Aufklärung, Ditzingen 1999. Popper, Karl R., Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, XIf.
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kopf, den wir mit einer Antwort abschlagen, die lehrbuchfähig wird, erzeugt sieben, neun, hundert, tausende von neuen Nichtwissensbeständen, und wenn wir das in die Sprache der Gegenwart übersetzen, wird jedes angewandte wissenschaftliche Wissen, alles technisch umgesetzte Wissen eben dadurch, dass es realisiert wird, selbst zum Generator von neuen ungelösten Problemen. Um uns das zu vergegenwärtigen, müssen wir nur an die Frage der Energie, an die Frage der Umweltverschmutzung, auch an die Frage der geistigen Umweltverschmutzung denken, also an die Frage, was wir mit unseren Medien anrichten, und wir werden genau das feststellen: dass jedes umgesetzte wissenschaftliche Wissen gleichsam eine Art Aura von neuen Möglichkeiten des Nichtwissens konstruiert. Die Soziologin und Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny hat den Terminus „Modus 2“ des Wissens eingeführt.26 „Wissen vom Modus 2“ heißt, dass wir uns in eine Wissenskultur und eine Wissensorganisation hinein bewegen, die strukturell anders aussieht als das, was wir darüber zu wissen meinen, die das Wissen im Diskurs lässt, die nur vorläufige Antworten gibt, und stärker den Prozess betrachtet, der in „invisible colleges“ stattfindet, die aus Personen und Interaktionen bestehen, die nicht an Institutionen geknüpft sind, sondern sich ad hoc zusammenfinden und ebenso auch wieder auseinandergehen. Dabei handelt es sich um Zukunftslabors, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht wie andere Labors einem der Grundprinzipien aller Institutionen gehorchen, nämlich sich, wenn sie einmal gegründet sind, im Regelfalle selber am Leben zu erhalten (n. b. eine der Hauptschwächen unserer Universitäten). Das Nichtwissen erobert somit das Wissen und wird von diesem zugleich selbst erobert. Denken wir nur an die vielen Beispiele, die das 20. Jahrhundert für uns bereithält, Beispiele einer Differenzierung des vorher opaken undifferenzierten Bereichs des Nichtwissens. Es ist keineswegs der Fall, dass alles Nichtwissen gleich ist, sondern es gibt ganz verschiedene Sorten des Nichtwissens.27 Wir kennen Nichtwissen, dessen Nichtwissbarkeit bewiesen ist. Dafür sind Goedels Unvollständigkeitsbeweis ebenso wie Eisenbergs Unschärferelation Beispiele. Wir kennen Nichtwissen, das darauf beruht, dass wir uns disziplinäre Scheuklappen zugelegt haben, von denen wir uns nicht befreien können, es sei denn, wir beginnen Wissen und Modelle aus anderen Disziplinen in die eigene zu importieren. Dadurch könnten wir lernen,
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Nowotny, Helga, „Die Dynamik der Innovation. Über die Multiplizität des Neuen“, in: Werner Rammert/Gotthard Bechmann (Hrsg.), Innovation – Prozesse, Produkte, Politik (Technik und Gesellschaft, 9), Frankfurt am Main, New York 1997, S. 35-54. Zimmerli, Walther Ch., Technologie als Kultur, 2. Aufl., Hildesheim 2005.
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dass es auf unsere Fragen Antworten gibt, die sich in ganz anderen Disziplinen finden. Nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im metawissenschaftlichen Bereich ist die Bedeutung des Nichtwissens erkannt worden. So gibt es z. B. in den letzten 20 Jahren eine exponentiell anwachsende Forschungsliteratur, die sich mit dem Thema ‚Ignoranz‘ befasst.28 Damit ist nicht Ignoranz im moralischen Sinne gemeint, sondern vielmehr der Status und die Rolle, die die Ignoranz, das reflexive Nichtwissen, die „docta ignorantia“, für die Entwicklung von Wissen haben könnte. Das ist gemeint mit der Formel, dass wir sukzessive diesen Bereich des Nichtwissens erobern. Das 18. Jahrhundert sah sich einer ersten bewussten Wissensexplosion gegenüber. Natürlich hat es das explodierende Wissen immer gegeben, aber das 18. Jahrhundert war sich dessen bewusst, und das unterscheidet es von anderen. Die angemessene Reaktion auf diesen Befund ist allerdings nicht die Kapitulation, sondern, wie bereits gesagt, das Metabuch. Es sind die erschlossenen Bibliotheken, es sind die Enzyklopädien, die ja zurückgehen auf das platonische Modell der „enkyklios paieia“ der umfassenden, kreisförmig gestalteten Bildung, die sich ihrerseits in den „septem artes liberales“ fokussierte.29 Außerdem haben wir aber auch vergessen, dass es dazu noch die „artes mechanicae“ gab30, die, weil eben von Martianus Capella weder an dieser Stelle, noch auch überhaupt so prominent formuliert, nicht vorkamen, die aber für das Machen im Zusammenhang des Nichtwissens mindestens so bedeutend sind wie die „artes liberales“. Und damit komme ich zu einem vorletzten Missverständnis, das es noch aufzuklären gilt. Ebenso wie wir gemeint haben, das 18. Jahrhundert sei ein Jahrhundert der klassischen Vernunftaufklärung, meinen wir jetzt, das 21. Jahrhundert sei das Jahrhundert der Wissensgesellschaft. Wenn man darunter versteht, dass wir heute mehr wissen als frühere Generationen, kann das aus verschiedenen Gründen gar nicht der Fall sein. Man möge sich nur einmal überlegen, über wie viel an Konkurrenzwissen die eigenen akademischen Lehrer im Gegensatz zu dem, was man selber weiß, verfügten, wie viel parallel abrufbare, im eigenen Gedächtnis auswendig gewusste Stellen, Bibelzitate, Literatur etc., in einem solchen gelehrten Hirn gespeichert waren! Da wird jeder von uns still und bescheiden in sich gehen und sagen: im Verhältnis dazu weiß ich gar nichts. So betrachtet, leben wir fraglos nicht in einer Wissensgesellschaft. Eher schon
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Ebd. Capella, Martianus, De nuptiis Philologiae et Mercurii, Tübingen 1979. Vgl. Zimmerli, Technologie als Kultur.
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leben wir in einer Gesellschaft, in der wir wissen, wo wir finden können, was wir nicht wissen. Kurz: die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist eigentlich eine Nichtwissensgesellschaft. Je mehr Wissen wir potenziell zur Verfügung haben, desto weniger wissen wir selbst. Dafür aber können wir mehr, wir können – und da schlägt jeder von uns seine akademischen Lehrer um Längen – in dem Wissen navigieren, wir verfügen über Wissens-Navigationsfähigkeiten, und genau das ist das funktionale Äquivalent dazu, was die aufklärerische Idee der Enzyklopädie eigentlich leisten sollte. 5. Wissenskultur des Managements Managen heißt, etwas stattdessen tun, wer managt, tut etwas, was er statt etwas anderem tut. Deswegen ist auch der Begriff ‚Wissensmanagement‘ völlig irreführend: Wenn wir Wissen hätten, dann brauchten wir es nicht zu managen; gemanagt werden muss unser Nichtwissen, d. h. die Krücken, mit denen wir unser Wissen via Metaebene ausbreiten und die von den Enzyklopädien bis zu den Suchmaschinen reichen, sind Hilfen, mit denen wir etwas tun anstelle dessen, dass wir es wissen. Wir können es nämlich nicht wissen, und daher tun wir etwas anderes. Das 18. Jahrhundert hat dafür bereits einen eigenen Typus von Theorien entwickelt. In unserer Ökonomievergessenheit haben wir verdrängt, dass das 18. Jahrhundert sich u. a. mit Adam Smiths’ Theorie der „invisible hand“ befasst31; also mit dem, was hinter dem eigenen Rücken geschieht, nicht nur mit dem, was wir direkt wissen können, sondern vielmehr mit dem, was wir reflexiv erschließen können, um zu verstehen, wie das, was wir wissen können zusammenhängt, ohne dass wir es wissen können. In der Wissenskultur des 18. Jahrhunderts gibt es viele Theorien dieses Typus. Das transzendentale Denken, das Denken in, wie wir heute sagen würden, schwachen Kausalitäten32, ist ein solches Beispiel, nämlich das Wissen um die Bedingungen der Möglichkeit unseres Denkens und Erkennens. Wenn wir denn das, was wir denken und erkennen, schon selber nicht direkt erfassen können, können wir mindestens mögliche Grenzen unseres Denkens erfassen, und zwar aufgrund der reflexiven Vergegenwärtigung dessen, was hinter unserem Rücken geschieht.
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Smith, Adam, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1904. Zimmerli, Walther Ch., „Transzendentale Argumente oder: Die Frage nach der der Philosophie als Frage nach dem Philosophieren“, in: Martin Götze/Christian Lotz u. a. (Hrsg.), Philosophie als Denkwerkzeug. Zur Aktualität transzendental-philosophischer Argumentation. Festschrift für Albert Mues zum 60. Geburtstag, Würzburg 1998, S. 119-135.
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Und im 18. Jahrhundert geschieht noch etwas anderes. Gewiss, Patente gibt es schon sehr viel länger: am 10. März 1474 wurde das erste Patent vom Senat der Republik Venedig erteilt, und von da an ist das Patent ein Element unserer abendländischen Entwicklung, aber im 18. Jahrhundert steigt, wie uns die Industrie-Historiker belehren, die Anzahl der Patente sprunghaft an. Von 1760 bis 1830 entwickeln sich die Patente geradezu inflationär.33 Patente aber sind nichts anderes, als Möglichkeiten, das geistige Eigentum zu schützen. Sie sind ein ökonomischer Schutzmechanismus. Wenn wir dies alles zusammennehmen, die reflexive Rationalität, die Marktmechanismen und den Schutz des geistigen Eigentums, und uns fragen, was im 21. Jahrhundert daraus geworden ist, dann ist leicht zu sehen, dass die zwei getrennten Bereiche, der Bereich der Wissenskultur, den im Regelfall die Geisteshistoriker untersuchen, auf der einen Seite und der Bereich des Marktes und der Marktentwicklung auf der anderen, also nicht nur der Theorie, sondern der Praxis des Marktes, die im 17. und dann insbesondere im 18. Jahrhundert zusammen gedacht, im 19. Jahrhundert getrennt und säuberlich auseinander gehalten wurden, und zwar so, dass ein Patent zu halten für einen richtigen Grundlagenforscher beinah etwas Ehrenrühriges war. Heute allerdings hat sich das drastisch geändert, heute werden bei Berufungen die Patente fast genauso behandelt und gewichtet wie die Publikationen, d. h. mit anderen Worten: wir sind längst in einer Wissenswirtschaft und einem Bildungsmarkt angelangt, der die transzendentale Fragestellung, die Fragestellung nach dem, was hinter unserem Rücken als Bedingung der Möglichkeit existiert, insoweit überwindet, als das Transzendentale, um es paradox zu formulieren, heute selber hergestellt wird. Hier nur als Illustration aus einem anderen Gebiet das Beispiel der Transformation des Individual-Aprioris in das Gattungs-Aposteriori. Die evolutionäre Erkenntnistheorie hat uns belehrt, dass sich viele der Befunde, die wir im 18. Jahrhundert individuell für apriorische Elemente halten, die aller Erfahrung immer vorausgesetzt sein müssen, etwa die Anschauungsformen von Raum und Zeit, die Kategorientafel, die Ideen etc. bei Kant, als Gattungs-Aposteriori erweisen, also als Erfahrungsprodukt der Entwicklung des Menschheit und damit der Entwicklung der menschlichen Wissenskultur. Und wir konstatieren statt der Fokussierung auf die Invention und das geistige Eigentum, das sich ja noch rein auf der Seite der Wissenskultur bewegte und noch nicht in Wissenswirtschaft hineingeht, heute eine Fokussierung auf die Innovation. „Innovation“ – so könnten wir bereits seit
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Mathias, Peter, „Wer entfesselte Prometheus? Naturwissenschaft und technischer Wandel (1600–1800)“, in: Musson, Wissenschaft, Technik und Wirtschaftswachstum, S. 83–112.
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Schumpeter, also seit Anfang des 20. Jahrhunderts wissen, heißt eine Invention, die sich erfolgreich am Markt durchsetzt.34 Alle reden heute von Innovation und von der erforderlichen Steigung der Innovativität des Wissens, sie meinen damit allerdings im Regelfall gerade das nicht. Aber die ökonomisch unterlegte Grobdefinition von Innovation wird sich in Zukunft in der Wissenskultur des 21. Jahrhunderts verstärkt durchsetzen, d. h. die vermarktete oder erfolgreich vermarktbare Invention wird ins Zentrum der Bemühungen um Innovation rücken. Das lässt sich abschließend noch auf die Institutionen beziehen. Der Nationalismus ist zwar ein Kind des 19. Jahrhunderts, aber die Institutionen, die dahin führen, fußen auf dem 18. Jahrhundert. Von Bill Reading stammt die Gegenüberstellung der Universität der Nation mit derjenigen, der Kultur35, also der Universität, die wir mit dem Namen von Humboldt verknüpfen. In unserer Tradition ist es diese Person gewesen, die die Universität als Kultur erst im 19. Jahrhundert begründet hat. Sie greift aber zurück auf die Universitätstradition des 18. Jahrhunderts. Die Universität der Kultur ist allerdings eine Kaderschmiede der Nation, eine staatliche Einrichtung, die zu diesem Zwecke erst geschaffen wurde. Sie ist keineswegs selbstverständlich, die staatliche Universität; das lernen wir heute langsam wieder, wo die öffentliche Hand die Universitäten nicht mehr vollständig finanzieren kann, und es gibt dazu die Kompensationen dieser Institutionalisierung durch den „common sense“; diese zwei Instanzen werden im 18. Jahrhundert zusammengeführt, im 21. Jahrhundert geht das nicht mehr. Wir können heute nicht mehr allein mit common sense, mit der gesunden Urteilskraft, die Leistungen von Universitäten beurteilen, dazu benötigen wir eine eigene Metadisziplin. All dies wird es in Zukunft in dieser Form kaum mehr geben, und auch die Abkopplung von Wissenschaft und Wirtschaft wird in Zukunft nicht mehr existieren. Statt dessen erleben wir die Ablösung der nationalen Universitäten der Kultur durch eine internationale Institutionalisierung des Wissens in Form der Universität der Exzellenz. Die kulturelle Differenz ist zwar noch etwas, was beiherspielt, aber die Universität der Exzellenz setzt sich international durch. Die Kompensation dazu ist nicht mehr common sense, weil dieser nicht in der Lage ist, das zu kompensieren, sondern die Alltagsorientierung, die wie ein roter Faden sich durch alle kulturwissenschaftlichen Elemente der Entwicklung unserer neuen Universität der Exzellenz hindurchzieht.
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Schumpeter, Joseph, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 2006. Readings, Bill, „The University Without Culture?“, in: New Literary History, 26/1995, S. 465492.
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Und schließlich wird das Wissen nicht mehr in Form von Curricula, von ganzen Durchläufen und Studiengängen, sondern modularisiert gedacht. Der entscheidende Effekt der Bologna-Reform unserer Hochschulen ist nicht das gestufte Studium, das kennen wir schon seit dem Mittelalter und es soll sich keiner täuschen: das was jetzt Bachelor heißt, war der Baccalaureus, und den kennen wir aus der europäischen Hochschule des Mittelalters und ebenso den Magister bzw. den Master. Gestufte Studiengänge sind nicht das Besondere – wir erfüllen damit nur eine Nachholverpflichtung, die wir schon lange vor uns herschieben – sondern die Modularisierung des Wissens, die uns die Möglichkeit gibt, nicht mehr über ganze Curricula, ganze Studiengänge, sondern über einzelne Elemente von Studiengängen, im Grundsatz alles mit allem kombinieren zu können, im Grundsatz also Enzyklopädie im Wortsinne und nicht Curriculum zu realisieren. Das ist es, was die Wissenskultur des 21. Jahrhunderts uns bringen wird; die Kluft zwischen Bildung und Wirtschaft wird in immer stärkerem Maße überwunden werden. Dass dies alles etwas kostet, und zwar nicht nur im finanziellen Sinne, sondern dass wir eine Gewinn-Verlust-Bilanz auch in Bezug auf Bildung erstellen müssen, verwundert kaum. Der Pragmatismus ist das Bindeglied: Wissen ist längst das geworden, was im 18. Jahrhundert programmatisch formuliert worden ist, Wissen ist längst Machen geworden, und zwar im doppelten Sinne: Das, was wir selber machen, das wissen wir. Wenn wir Dolly konstruieren können, dann wissen wir etwas, hingegen wenn wir nur die Theorie dazu haben, Dolly zu konstruieren, dann wissen wir es noch nicht. Machen aber heißt auch noch: die experimentellen Bedingungen herstellen, unter denen wir etwas überprüfen. Machen heißt also simulieren, um zu produzieren, und damit haben wir nun den Übergang in die Phase der zweiten Dialektik der Aufklärung erreicht. Eingangs ging ich davon aus, dass die AdornoHorkheimersche Dialektik der Aufklärung immer nur auf die Selbstverkehrung der Aufklärung und ihre Beseitigung der Fähigkeit, durch Aufklärung Freiheit zu realisieren, ziele. Heute, wo wir Aufklärung wieder neu denken dürfen, ist Aufklärung zu etwas anderem geworden, nämlich zur Einsicht, dass das technologisch realisierte Wissen als Machen heute – positiv wie negativ – zu unserer Kultur unabdingbar dazugehört.36 Die Zeit, in der es sich für einen anständigen Geisteswissenschaftler gehörte, nicht zu wissen, wie ein Rechner funktioniert, ist definitiv vorbei, damit ist aber auch die Zeit, in der es scheinbar nur zum anständigen Naturwissenschaftler und Ingenieurwissenschaftler gehört, wissen zu kön-
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Zimmerli, Technologie als Kultur.
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nen, wie ein Rechner funktioniert, vorbei. Wir leben auch hier in der Phase der Modularisierung, in der nicht nur die Laien, sondern auch die Experten der einen jeweils auf die Experten der anderen Seite angewiesen sind. Niklas Luhmann hat das seherisch vorweggenommen, indem er gesagt hat, wir leben in einer Zeit, in der Vertrauen das Wesentliche wird, und zwar das Vertrauen darauf, dass die anderen, die jeweils Experten sind, das besser können, als wir.37 In dieser Zeit ist die technologische Zivilisation ein Teil unserer Gegenwartskultur geworden. Galt bislang Georg Simmels Bestimmung, gebildet sei, wer wisse, wo er finde, was er nicht weiß38, gilt nun: Gebildet ist, wer weiß, wie er machen kann, was er nicht weiß.
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Luhmann, Niklas, Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 2000. Vgl. Knischek, Stefan (Hrsg.), Lebensweisheiten berühmter Philosophen, Hannover 2005, S. 168.
Aufgeklärtes Wissen. Eine verdrängte Erblast des 18. Jahrhunderts Rainer Enskat
1. Die Gesellschaften für die Erforschung des 18. Jahrhunderts haben es mit dem Jahrhundert zu tun, das sich selbst den Namen des Jahrhunderts der Aufklärung gegeben hat. Inzwischen ist der Gebrauch dieses Namens nicht nur in den Geisteswissenschaften schon längst zu einer rhetorischen Konvention geworden. Unter diesen Umständen sollte es zu denken geben, dass ein ebenso nüchterner wie skeptischer und tiefblickender Zeitzeuge wie Kant durchaus schwankt, ob er im Rückblick auf seine unmittelbare Vergangenheit und Gegenwart von dem – also dem einzigen oder ersten – Zeitalter der Aufklärung oder von einem – also von einem unter mehreren – Zeitaltern der Aufklärung sprechen sollte.1 Gewissheit bekundet Kant lediglich mit Blick auf die Wichtigkeit, die Aktualität und die relativ günstigen Chancen der Aufgabe, vor allem die Aufklärung über die Religion zu fördern.2 Die rhetorische Konvention, von dem Jahrhundert der Aufklärung zu sprechen, kann immerhin unter zwei Aspekten gerechtfertigt werden. Zum einen wird das inzwischen traditionell gewordene Aufklärungsvokabular überhaupt erst im 18. Jahrhundert in allen europäischen Nationalsprachen ausgeprägt, sein Gebrauch wächst im Laufe des Jahrhunderts exponentiell, seine begriffliche Eindeutigkeit nimmt allerdings auch dementsprechend inflationär ab. Der sprachstatistische Befund rechtfertigt es jedenfalls immerhin nach den Methodenkriterien der philologischen, der literaturwissenschaftlichen und der historischen Disziplinen, vom Taufjahrhundert der Aufklärung zu sprechen. Erst im zweiten Schritt können die diversen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ihre konkreten thematischen Orientierungen zu Hilfe nehmen _____________ 1 2
Vgl. Kant, Immanuel, „Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?“, in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe = Ak.), Berlin 1900ff., Bd. 8, S. 40f. Vgl. ebd., S. 41f.
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und die unzähligen überlieferten Verwendungskontexte des Aufklärungsvokabulars im 18. Jahrhundert so interpretieren, analysieren und beurteilen, dass die leitenden Aspekte, die Grade der Tragfähigkeit und der Tragweite der miteinander kooperierenden und der gegeneinander konkurrierenden Aufklärungskonzeptionen – aber auch die der entsprechenden Gegenaufklärungskonzeptionen – geklärt werden können. Immerhin lässt die Einheitlichkeit des Aufklärungsvokabulars inmitten der unüberschaubaren Vielheit der Aufklärungskonzeptionen neben der Taufrolle diese Vokabulars auch noch eine evokative Funktion erkennen: Die Einheit der Aufklärung in der unüberschaubaren Vielheit ihrer wirklichen und ihrer scheinbaren Aufgaben soll bis zum erhofften Ende ihrer Selbstbesinnung mit Hilfe eines einfachen und suggestiven Namens wenigstens beschworen werden können. 2. Wenn die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts ihre diesmalige Jahrestagung dem Thema der Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert gewidmet hat, dann lenkt sie die Aufmerksamkeit auf eine Textsorte, in der eine ganz besondere methodische Einstellung zu den Bemühungen um die Aufklärung dokumentiert ist. Denn die Frage nach der Rolle, die dem Wissen für die Aufklärung zukommt, nötigt schon aus formalen Gründen zu einer Reflexion auf Bedingungen und Möglichkeiten, auf Grenzen und Chancen sowie auf Aufgaben und Risiken der Aufklärung. Das liegt daran, dass der Begriff der Aufklärung – ähnlich wie der Begriff des Wissens – ein auch kognitiver Begriff ist. Zwar ist der Begriff der Aufklärung nicht ein ausschließlich kognitiver Begriff. Von alters her enthält der Begriff der Aufklärung auch eine eminente praktische Komponente: Niemand ist aufgeklärt, der nicht in praktischer Hinsicht aufgeklärt ist. Doch die metaphorischen Komponenten des Aufklärungsvokabulars – also Licht und Klarheit – ebenso wie das zentrale, bekanntlich von Platon erfundene Symbol der Aufklärung – die Sonne – geben eindeutig und unübersehbar zu verstehen, dass das praktische Format eines aufgeklärten Menschen aus der Errungenschaft einer kognitiven Anstrengung hervorgeht. Doch was für eine Struktur hat diese kognitive Anstrengung? Und was für eine Struktur hat die kognitive Errungenschaft, die aus ihr im günstigsten Fall hervorgeht? Hat diese kognitive Errungenschaft die Struktur des Wissens? Muss also ein aufgeklärter Mensch über so etwas wie aufgeklärtes Wissen verfügen? Doch welche Struktur hat dieses eminente Wissen, wenn die Erkenntnistheorie bisher noch nicht einmal zu einem Konsens in der Frage gelangt ist, wie man wahre Meinungen von Wissen unter-
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scheiden kann3 – also schon gar nicht von aufgeklärtem Wissen? Durchschauen Wissensgesellschaften ihre eigenen Grundlagen nicht, solange die Struktur des Wissens noch nicht geklärt ist? Mit welchem Recht identifizieren sich die Bewohner Westeuropas und Nordamerikas mit den Erben der Aufklärung, um die sich das 18. Jahrhundert bemüht hat, wenn es ihnen bis heut nicht gelungen ist, sich über die Grundlagen dessen aufzuklären, worauf sie sich in ihrer öffentlichen Rhetorik inzwischen mit inflationärer Tendenz berufen – darauf nämlich, aufgeklärt zu sein, Wissensgesellschaften zu sein, Wissen zu produzieren, zu konstruieren, zu kommunizieren, zu tradieren und zu kultivieren? Doch das 18. Jahrhundert ist nicht nur das Taufjahrhundert der Aufklärung. Die inflationäre Tendenz, mit der das Aufklärungsvokabular in diesem Jahrhundert verwendet wird, kann nicht einfach als eindeutiges statistisches Indiz für eine Verfallserscheinung, für eine begriffliche Verwirrung interpretiert werden. Es ist selbstverständlich auch ein Indiz für die einzigartige kontinentale und interkontinentale, Europa und Nordamerika verbindende Ausstrahlung, welche die praktische Idee der Aufklärung auf das Nachdenken über Bedingungen und Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben, Chancen und Risiken des Fortschritts der Menschheit ausgeübt hat. Das 18. Jahrhundert ist daher sowohl das Taufjahrhundert wie das Reflexionsjahrhundert der Aufklärung. Es würde daher auch an ein Wunder grenzen, wenn in diesem Jahrhundert nicht auch an einer tragfähigen und fruchtbaren Konzeption aufgeklärten Wissens gearbeitet worden wäre. Den Spuren einer solchen Arbeit möchte ich in meinem Vortrag mit dem Ziel nachgehen, Umrisse einer kohärenten Konzeption aufgeklärten Wissens zu verdeutlichen. 3. Zu den ersten und wichtigsten Spuren gehören die programmatischen und konzeptionellen Überlegungen, die Diderot den Aufgaben der Aufklärung widmet, wenn er um 1750 gewissermaßen den Leitartikel zu der gemeinsam mit d’Alembert organisierten Encyclopédie des Sciences, des Arts et des Metiers formuliert. In seinem thematischen Artikel „Encyclopédie“ sind Programm und Konzeption strikt mit der Kultivierung der Wissenschaften verwoben. Die Konzeption sieht zwei Methoden und Techniken zur Kultivierung der Wissenschaften vor (deux moyens pour cultiver les sciences).4 Die eine Methode und Technik besteht darin, die Menge des Wissens _____________ 3 4
Vgl. hierzu vom Verf., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2004. Diderot, Denis / d’Alembert, Jean Le Rond (Hrsg.), Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné, des Sciences, des Arts et des Métiers, Paris 1751ff., Art. „Encyclopédie“, S. 637.
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durch Entdeckungen zu vergrößern (l’un d’augmenter la masse des connaissances par des déscouvertes)5; die andere besteht darin, die zuwege gebrachten Entdeckungen in einer kohärenten Ordnung zusammenzutragen (l’autre de rapprocher les déscouvertes et de les ordonner entre elles).6 Dieses ganze Unternehmen zur Kultivierung der Wissenschaften, das offenbar mit dem publizistischen und kommunikativen Unternehmen einer Enzyklopädie zusammenfällt, dient einem einzigen Ziel: damit viel mehr Menschen aufgeklärt sein möchten (à fin que beaucoup plus d’hommes soient éclairés).7 Die Encyclopédie von d’Alembert und Diderot bildet den zentralen literarischen Geburtsort der Konzeption einer Aufklärung durch Wissenschaft. Über das aufgeklärte Wissen verfügt ein Mensch im Licht dieser Konzeption in dem Maß, in dem er mit den ausgereiftesten Entdeckungen der wissenschaftlichen Forschung vertraut ist. 4. Diese szientistische Konzeption aufgeklärten Wissens markiert einen von mehreren Knotenpunkten in dem komplexen Gewebe der Bemühungen des 18. Jahrhunderts um die Aufklärung. Wenn die gegenwärtige öffentliche Rhetorik die Wissensgesellschaft beschwört, dann ist unüberhörbar, dass sie vor allem von der Tradition dieser szientistischen Aufklärungskonzeption zu profitieren sucht. Unter diesen Umständen ist es nützlich, an Aufklärungskonzeptionen zu erinnern, die für skeptische Revisionen, für Korrekturen und vielleicht sogar, wenn es nötig ist, für eine Überwindung des szientistischen Aufklärungsmodells in Frage kommen. Eine solche Konzeption ist eine Generation nach dem Publikationsbeginn der Encyclopédie von Moses Mendelssohn entworfen worden, und zwar in seinem Aufsatz von 1784 „Über die Frage: was heißt aufklären?“8, der bis heut völlig zu unrecht im Schatten von Kants gleichzeitigem Aufsatz „Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?“ steht. In diesem Aufsatz beantwortet Mendelssohn, streng genommen, nicht die Frage, was Aufklären heißt, sondern die Frage, wie man das Maß erkennt, in dem eine Nation, ein Volk, eine Gesellschaft oder ein Gemeinwesen aufgeklärt ist. Er versucht sich also an einem Maßkriterium der Aufklärung. Es fällt auf, dass dieses Kriterium von der Mendelssohn_____________ 5 6 7 8
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Mendelssohn, Moses, „Über die Frage: was heißt aufklären?“, in: ders., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 6.1, Stuttgart, 1981, S. 112-19.
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Forschung in der Regel geradezu sträflich vernachlässigt wird. Dabei enthält dieses Kriterium gerade in seiner komprimierten Kürze die vielleicht am scharfsinnigsten und am tiefsinnigsten durchdachte Konzeption dessen, worüber man eigentlich aufgeklärt ist, wenn man aufgeklärt. Das Kriterium ist mit einem komplizierten Proportionalitätsmaß der Aufklärung verbunden. Es lautet: Diesem nach würde die Aufklärung einer Nation sich verhalten, 1) wie die Masse der Erkenntnisse, 2) deren Wichtigkeit, d. i. Verhältnis zur Bestimmung a) des Menschen und b) des Bürgers, 3) deren Verbreitung durch alle Stände, 4) nach Maßgabe ihres Berufs […]9
Man kann das sachliche Verdienst, das sich Mendelssohn mit diesem wohldurchdachten Kriterium um die Klärung des Aufklärungsproblems erworben hat, gar nicht hoch genug schätzen. Zunächst zeigt es, wie man die diversen metaphorischen und symbolischen Komponenten des konventionellen Aufklärungsvokabulars in einen begrifflichen Klartext transponieren kann: Seinem begrifflichen Kerngehalt nach thematisiert das Aufklärungsvokabular einen einerseits kognitiven Begriff, mit dessen Hilfe spezifische Erkenntnisse und andere der Aufklärung zugute kommenden Einsichten und kognitive Leistungen ins Auge gefasst werden – kurz: ein aufgeklärtes Wissen. Das Spezifische dieser Leistungen und dieses Wissens differenziert sich andererseits wiederum nach diversen praktischen Dimensionen: (1) Human relevant ist das der Aufklärung dienende Wissen erst dann, wenn es die Aufklärung über die Bestimmung des Menschen einschließt; (2) politisch relevant ist ein solches Wissen erst dann, wenn es die Aufklärung über die Bestimmung des Bürgers eines wohlgeordneten Gemeinwesens einschließt; (3) gesellschaftlich relevant ist ein solches Wissen erst dann, wenn es auch in der alltäglichen tätigen Wahrnehmung der jeweiligen beruflichen Aufgaben manifest wird. Das Maß für den Grad der Aufklärung einer Nation – oder eines Volkes oder einer Gesellschaft oder eines Gemeinwesens – gibt daher der Grad der Verbreitung der human, der praktisch-politisch und der gesellschaftlich relevanten Erkenntnisse und Einsichten durch alle Schichten der berufstätigen Bevölkerung ab. Dieses Maßkriterium der humanen, der politischen und der gesellschaftlichen Aufklärung wird von Mendelssohn also auch mit einem weiteren, einem gesellschaftsspezifischen Relevanzkriterium verflochten. Denn die Verbreitung der Aufklärung ist wiederum davon abhängig, dass die human und die politisch relevanten Erkenntnisse und Einsichten auf die berufsspezifischen Status- und Rollenunterschiede _____________ 9
Ebd., S. 117.
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der Bürger abgestimmt sind, durch deren Tun und Lassen die Aufklärung manifest wird. Kurz: Aufklärung ist Einsicht in das bzw. Wissen um das, was um der Humanität, um der praktischen Politik und um der praktischen Bürgerlichkeit willen wissenswert ist; eine Gesellschaft, ein Volk, eine Nation oder ein Gemeinwesen ist in dem Maß aufgeklärt, in dem solche Erkenntnisse, solche Einsichten und solches Wissen in der praktischen Politik sowie im bürgerlichen und im menschlichen Alltagsleben manifest werden. Mendelssohns ingeniöse Formel gewinnt ihre Bedeutsamkeit nicht nur aus dem Umstand, dass sie die kognitive und die praktische Dimension des Aufklärungsvokabulars mit bis dahin beispielloser Bestimmtheit, Differenziertheit und Prägnanz auf Begriffe bringt. Sie antwortet daher auf die Frage Aufklärung worüber? ebenso wie auf die Frage Aufklärung für wen? Dennoch kann man nicht gut darüber hinweg sehen, dass ihr dies auch nur um den Preis gelingt, dass sie die Antwort auf die Frage Aufklärung wodurch? offen lässt. Am Ende des neuzeitlichen Reflexionsjahrhunderts der Aufklärung ist das Ausbleiben dieser Antwort in Mendelssohns Kontext von nicht zu unterschätzender Bedeutsamkeit. Denn Mendelssohn wusste nur allzu gut, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen weder in der Vergangenheit noch in seiner Gegenwart noch in irgendeiner überschaubaren Zukunft die reflexiven Bemühungen um die Aufklärung in authentischer Weise auf sich nehmen kann, durch welche die Reflexionselite des 18. oder irgendeines anderen Jahrhunderts die Bedingungen der Aufklärung zu klären suchen mag. Man kann offen lassen, ob sich im Ausbleiben einer entsprechenden Antwort auf diese dritte Frage in Mendelssohns Kontext ein stillschweigendes Zutrauen in die realen Chancen oder eine stillschweigende Skepsis gegenüber den realen Chancen der Aufklärung artikuliert. Man kann jedenfalls nicht gut darüber hinwegsehen, dass Mendelssohns Stimme nirgendwo weniger Gehör gefunden hat als in Deutschland und dass der Sturz vom neuzeitlichen Reflexionsgipfel der Aufklärung in den Abgrund einer Gegenaufklärung nirgendwo sonst so katastrophal war wie in Deutschland. Sucht man unter diesen Umständen die Bedingungen des Gelingens der Aufklärung nicht weniger gründlich zu analysieren als die Bedingungen ihrer Verzögerung, ihrer Regression, ihrer Pervertierung und ihres Scheiterns, dann gibt es kaum eine denkwürdigere Stimme als die, durch die der bedeutendste jüdische Denker aus dem Tauf- und Reflexionsjahrhundert der Aufklärung das Vermächtnis dieser Aufgabe mit einer geradezu tragischen Verzögerung den Generationen nach der deutschen Katastrophe hinterlassen hat. Spätestens seit Mendelssohns scharfsinnig, tief und konzis durchdachter Formel steht jedenfalls mit dem Begriff der Aufklärung ein
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für alle Mal ein zentraler sowohl kognitiver wie praktisch-normativer Grundbegriff humaner Selbstverständigung zur Verfügung. 5. Mendelssohns Kriterium ist der szientistischen Aufklärungskonzeption also sowohl aus sachlichen wie aus formalen Gründen überlegen: aus sachlichen Gründen, weil es die praktische Idee der Aufklärung nicht nur ernst nimmt, sondern dies auf einem Differenzierungsniveau tut, das gar nicht mehr überboten werden kann; und aus formalen Gründen, weil es für aufklärungsrelevante Hilfsfunktionen des mit wissenschaftlichen Mitteln erworbenen Wissens mindestens und jedenfalls offen ist, ohne diese Wissensform vorschnell mit dem kognitiven Mittelpunkt eines aufgeklärten Wissens zu identifizieren. Doch eine Formel – und Mendelssohns Kriterium ist nun einmal nicht mehr als eine Formel – ist kein Argument und schon gar nicht eine ausgereifte Konzeption oder gar Theorie. Mendelssohns Formel steht in seinem Werk nicht nur wie ein erratischer, sondern auch wie ein hermetischer Einfall. Am Anfang des 21. Jahrhunderts kann man es sich aber nun einmal schon lange nicht mehr leisten, sich mit Aufklärungskonzeptionen zu begnügen, welche die aufklärungsrelevanten Funktionen des mit wissenschaftlichen Mitteln erworbenen Wissens wie einen blinden Fleck behandeln. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland das Konzept einer emanzipatorischen Aufklärungsfunktion der Sozialwissenschaften entwickelt.10 Als Nietzsche hundert Jahre früher nach ‚Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘ fragte11, erkundigte er sich bei genauerem Hinsehen nach den Möglichkeiten und nach den Grenzen, welche die zur Reife gelangten Geisteswissenschaften haben, zur Aufklärung beizutragen. Und Diderot stand wiederum hundert Jahre früher wenigstens die im 17. Jahrhundert zur Reife gelangte Physik als Paradigma vor Augen, wenn er den Wissenschaften insgesamt die Schlüsselfunktion für die Aufklärung zutraut. Seit damals haben sich die Wissenschaften schon längst weltweit zu einer der von Jacob Burckhardt so genannten Lebenspotenzen ausgewachsen. Umso dringlicher wird die Frage, ob der Status einer Lebenspotenz ausreicht, um sich auch zu einer Aufklärungsinstanz zu habilitieren. Mit _____________ 10 11
Vgl. Habermas, Jürgen, „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, in: Philosophische Rundschau. Sonderheft, Beiheft 5/1967, bes. S. 192-195. Vgl. Nietzsche, Friedrich, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), 3. Abt., Bd. 1, Berlin, New York 1972, S. 239-330.
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dieser Frage lässt Mendelssohns Kriterium den Leser ebenso – wenn auch aus ganz anderen Gründen – im Stich wie Diderots These. Will man unter diesen Umständen eine Konzeption aufgeklärten Wissens entwickeln, die weder dem blinden Fleck zum Opfer fällt, hinter dem in Mendelssohns Kriterium die Rolle der Wissenschaften unsichtbar bleibt, und die ebenso wenig dem Verdacht des Dogmatismus’ zum Opfer fällt, dem sich Diderots szientistische These aussetzt, dann muss man gleichsam den freien Raum zu überbrücken suchen, der sich zwischen diesen beiden Auffassungen aufspannt. Zu dieser konzeptionellen Überbrückungsarbeit haben indessen einige wenige und dennoch prominente Autoren des 18. Jahrhunderts bedeutsame Beiträge geliefert. Allerdings ist die Rolle, die diese Beiträge im Rahmen dieser konzeptionellen Klärung spielen können, seit damals nahezu sträflich vernachlässigt worden. Doch unsere Angewiesenheit auf eine Klärung aufgeklärten Wissens ist seither gewiss nicht kleiner geworden. Das Menetekel, das die katastrophale deutsche Entwicklung gerade im Horizont von Mendelssohns Formel an die Wand geschrieben hat, spricht eine nur allzu deutliche Sprache. Das ist der Grund, weswegen man von einer verdrängten Erblast sprechen kann, wenn man sich auf diese Beiträge des 18. Jahrhunderts zu einer tragfähigen und fruchtbaren Konzeption aufgeklärten Wissens bezieht. 6. Die ersten Schritte in Richtung auf eine differenzierte Konzeption aufgeklärten Wissens tut Diderot selbst. Im Rahmen seiner szientistischen Konzeption orientiert er sich an einer Mustergestalt des Naturforschers und fasst in seinem Encyclopédie-Artikel über die Chemie den Typus des aufgeklärtesten Chemikers (le chimiste le plus éclairé)12 ins Auge. Im thematischen Artikel „Encyclopédie“ entwickelt er eine knappe, aber im wesentlichen vollständige Skizze von der kognitiven Kompetenz des aufgeklärten Forschers, Gelehrten und Wissenschaftlers. Er umschreibt diese Kompetenz in der Terminologie seiner Zeit als die aufgeklärte Kunst (l’art éclairé)13 und charakterisiert sie dadurch, dass er ihrem Inhaber die Kompetenz zuschreibt, sich mit Blick auf das jeweilige Feld seiner Kompetenz in einem hochdifferenzierten Feld von Beurteilungsalternativen zu bewegen: Er kann das Wahre vom Falschen unterscheiden (le vrai du faux), das Wahre vom Wahrscheinlichen (le vrai du vraisembable), das Wahrscheinliche vom Wunderbaren und Unglaublichen (le vraisembable du merveilleux et _____________ 12 13
Encyclopédie, Art. „Chymie“, S. 420. Ebd., Art. „Encyclopédie“, S. 642.
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l’incroyable), die gewöhnlichen Phänomene von den außerordentlichen (les phénomènes communs des extraordinaires), die gewissen Sachverhalte von den zweifelhaften (les fait certains des douteux) und die zweifelhaften von den absurden und den mit der Naturordnung unverträglichen (les douteux des absurdes et contraires à l’ordre de la nature).14 Mit Hilfe einer außerordentlich wichtigen erkenntnistheoretischen Reflexion spricht Diderot im Encyclopédie-Artikel über die Chemie davon, dass ein Forscher, Gelehrter oder Wissenschaftler, der dieses kognitive Kompetenzniveau erreicht hat, jene Urteilsfähigkeit erworben hat (acquis cette faculté de juger)15, die ihn in die Lage versetzt, diese Alternativen auf seinem jeweiligen Forschungsfeld treffend abzuwägen. Diderot ergänzt seine Charakterisierung dieser Kompetenz durch eine Charakterisierung der speziellen methodisch-technischen Kompetenz, die zu der apostrophierten aufgeklärten Kunst ebenso gehört wie zu der erworbenen Urteilsfähigkeit. Denn dem Inhaber dieser Kunst und dieser Urteilsfähigkeit sind alle Prozeduren und alle Operationen vertraut (familier tous les procédés, toutes les opérations)16, die sich auf dem jeweiligen Forschungsfeld bewährt haben; und er weiß sie mit jener Leichtigkeit, jenem Überfluss an Hilfsmitteln und jener Zügigkeit (avec cette facilité, cette abondance de ressources, cette promptitude)17 fruchtbar zu machen, die zu einer solchen aufgeklärten Kunst gehört. Damit ist klar, dass Diderot mit einem strikt wissenschaftsinternen Aufklärungsbegriff arbeitet. Er beteiligt sich nicht etwa an einem Kampf um eine Definitionshohheit über den Aufklärungsbegriff. Er macht darauf aufmerksam, dass eine ausgereifte wissenschaftliche Kompetenz von so großer kognitiver Bedeutsamkeit ist, dass man der ausgereiften methodischtechnischen Kunstfertigkeit und der ausgereiften fachlichen Urteilsfähigkeit eines Forschers, Wissenschaftlers oder Gelehrten das Prädikat der Aufgeklärtheit nicht vorzuenthalten braucht. Dennoch liegt es auf der Hand, dass Diderot damit an einer Aufklärungskonzeption für eine verschwindend kleine, hoch spezialisierte kognitive Funktionselite arbeitet. 7. An der Etablierung dieses eingeschränkten, wissenschaftsinternen Aufklärungsbegriffs hat sich zumindest eine zeitlang ein Autor beteiligt, dessen Ausstrahlung zwar schon im 18. Jahrhundert europaweit war und der heute längst ein Klassiker ist, aber dem man die Arbeit an diesem _____________ 14 15 16 17
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Thema von Anfang an deswegen nicht zugetraut hat, weil ihn sowohl die allermeisten Zeitgenossen wie die allermeisten Nachgeborenen jedenfalls in diesem thematischen Zusammenhang ausschließlich durch das Raster von Karikaturen wahrnehmen. Dieser Autor ist Rousseau. Ich gebe im Folgenden zu diesem Punkt einige überfällige Informationen. 1747 – also drei Jahre vor der Publikation des berühmt-berüchtigten Diskurses über die Rolle der Wissenschaften und der Künste – absolviert Rousseau gemeinsam mit Diderot den vollständigen einjährigen Chemie-Kurs bei Francois Rouelle, einem der europaweit angesehensten akademischen Lehrer der Chemie.18 Rouelle hatte damals das Amt des démonstrateur de chimie in den königlichen Gärten zu Paris inne, also an der bedeutendsten naturforschenden Institution im damaligen Frankreich. In seinem ChemieArtikel in der Encyclopédie, der natürlich eine Frucht dieses Studienjahres ist, informiert Diderot darüber, dass ein guter Absolvent dieses Studiums in der Lage ist, fortan selbständig chemische Untersuchungen durchzuführen.19 Um das entsprechende Kompetenzniveau wenigstens indirekt zu beleuchten, lohnt es sich, an eine Bemerkung zu erinnern, die sich noch eine Generation später, 1782, in einem Brief Lichtenbergs an den Hannoveraner Konsistorialsekretär Franz Ferdinand Wolf findet: „Die Herrn Dilettanten bringen es gemeiniglich weiter in diesen Dingen als wir Taglöhner […] Die größten Entdeckungen sind daher auch seit jeher von Dilettanten und nicht von Professoren gemacht worden“. Diese Bemerkung ist selbstverständlich an eine vergleichsweise idyllische geschichtliche Situation der Naturforschung gebunden. Aber es ist eben diese vergleichsweise idyllische Situation, die man im Auge haben muß, wenn man dem Kompetenzniveau gerecht werden möchte, das sich Diderot und Rousseau eine Generation früher durch ihre Chemie-Studien erworben hatten. Aus der Feder Rousseaus ist ein fast 1.500 Seiten umfassendes Manuskript zur Einführung in die Chemie unter dem Titel Institutions chymique hervorgegangen. Dieser Text ist von 1917–1919 auf rund vierhundert Druckseiten in den Annales Jean-Jacques Rousseau publiziert worden.20 Rousseau selbst spricht in seiner Autobiografie mit sehr abschätzigen Bemerkungen von dieser Einführung.21 Der Herausgeber in den Annales spricht indessen mit durchaus anerkennenden Worten von der Energie
_____________ 18 19 20 21
Vgl. Rousseau, Jean-Jacques, „Les Confessions“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1959, S. 293f., 342f. Vgl. Encyclopédie, Art. „Chymie“, S. 437f. „Les Institutions chymiques de Jean-Jacques Rousseau“, in: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau, 12/1918-19, S. V-XXIII, 1-164, sowie 13/1920-21, S. 1-177. Vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Les Confessions, Bd. 1, Paris 1959, S. 342f.
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der Einarbeitung in die chemische Propädeutik, die Rousseau in diesem Text dokumentiert.22 Nun würde man die traditionellen Karikaturen von Rousseau als einer Wissenschafts- und Kultur-Kassandra mit Sicherheit lediglich durch eine entsprechende Gegenkarikatur ergänzen, wenn man ihn angesichts dieser Zusammenhänge mit einem kompetenten Forscher, Gelehrten oder Wissenschaftler identifizieren wollte. Worauf es indessen ankommt, hat der amerikanische 18.-Jahrhundert-Forscher Mark Hulling 1994 in seinem Rousseau-Buch treffend so zusammengefasst: Unless we appreciate how vigorously Rousseau pursued scientific studies and enlisted scientific arguments in his campaign against his philosophical contemporaries, his full stature as autocritique of the Enlightenment will remain understated.23
Es kommt also auf Grund der schlichten, seit nunmehr fast hundert Jahre bekannten Dokumentenlage darauf an, den Ernst und den Aufwand an Zeit sowie an technischer und intellektueller Energie in Rechnung zu stellen, die Rousseau in seine propädeutische Einübung in eine wissenschaftliche, vor allem auch in naturwissenschaftliche Tätigkeit investiert hat, wenn man seiner Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen gerecht werden möchte, innerhalb von denen die Wissenschaft zur Aufklärung beitragen kann. 8. Im Licht dieser Informationen über ein sträflich vernachlässigtes Schlüsseldokument Rousseaus und mit Hilfe dieser Kommentare zu den Tragweiten sowohl seiner Vernachlässigung wie seiner Berücksichtigung kann Rousseaus Einführung in die Chemie durch einige Zitate umso aufschlussreicher zu Wort kommen. Sie können zeigen, wie er gemeinsam mit Diderot eine Konzeption wissenschaftsinterner Aufklärung zu formulieren geholfen hat. Am prägnantesten sind in diesem Zusammenhang Formulierungen, mit denen Rousseau auf die Arbeit des Chemikers Johann Joachim Becher an einer Theorie der Materie Bezug nimmt – das Thema, das nicht nur im 18. Jahrhundert die Spitze der sog. Forschungsfront der Naturwissenschaft bildete: Aufgeklärt (éclairé) durch die Flamme der Erfahrung, hat Becher gewagt, den geheimnisvollsten Pfaden der Natur zu folgen, und seine großen Einsichten (grandes lumières) haben ihn in die Lage _____________ 22 23
Vgl. „Les Institutions chymiques de Jean-Jacques Rousseau“, S. XXIff. Vgl. Hulliung, Mark, The Autocritique of Enlightenment. Rousseau and the Philosophes, London, Cambridge/Mass. 1994, S. 186; vgl. neuerdings auch Bensaude-Vincent, B. / Bernards, E. B. (Hrsg.), Rousseau et les sciences, Paris, Budapest, Turin 2003.
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versetzt, die schönste und vollständigste Theorie der Materie natürlicher Körper zu finden.24 Rousseau lässt einige generalisierende methodologische und erkenntnistheoretische Erörterungen folgen: Der Weg, auf dem man zu einer solchen Theorie geführt wird, führt durch eine Unendlichkeit von Erfahrungen mit Einzelfällen25, wie sie einem nur im Labor eines Chemikers zuteil werden können26; auf diesem Weg ist es schließlich nötig, eine Vielheit von einzelnen Erfahrungen und Beobachtungen auf allgemeine Regeln zurückzuführen und diese wiederum auf ein Prinzip zu beziehen, mit dessen Hilfe die Vernunft diesen ganzen Zusammenhang zwischen einzelnen Beobachtungen und Erfahrungen sowie den Regeln begreifen kann27; erst von hier aus ergibt sich die Nützlichkeit der Theorie: Sie bereichert die Urteilskraft (le jugement), macht sie erfinderisch und fruchtbar.28 In den ausgereiften lerntheoretischen und erkenntnistheoretischen Passagen des Émile hat Rousseau das Ziel, die wissenschaftliche Urteilskraft zu bereichern und erfinderisch und fruchtbar zu machen, so charakterisiert: Es handelt sich darum, dem Adepten der Wissenschaft zu zeigen, wie man dahin gelangt, stets die Wahrheit zu entdecken.29 Die Stimme, mit der Rousseau hier spricht, ist vermutlich für die allermeisten so neu und unerwartet, dass man sich zunächst einmal erlauben kann, sie wenigstens vorläufig für sich selbst sprechen zu lassen. Dennoch bieten auch die zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Schriften eine Fülle von Anhaltspunkten, denen man schon seit 250 Jahren hätte entnehmen können, dass es sich bei dem Bild von der Wissenschafts- und Kultur-Kassandra um eine strategische Karikatur interessierter Zeitgenossen und um eine naive Kopie einer Heerschar von unkritischen Lesern handelt. Welchen anderen Reim kann man sich sonst auf den Umstand machen, dass Rousseau in einer der Schriften aus den unmittelbaren Nachhutgefechten um den Diskurs über die Wissenschaften und die Künste von der schönen und sublimen Wissenschaft spricht30 und im Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen bemerkt, dass unsere Wissenschaften zum besten gehören, was es unter den Menschen gibt?31 _____________ 24 25 26 27 28 29 30 31
Vgl. „Les Institutions chymiques de Jean-Jacques Rousseau“, S. 12. Vgl. ebd. S. 21, 46f. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. ebd. „[…] comment découvrir toujours la vérité“, Rousseau, J.-J., „Émile ou de l’éducation“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 4, S. 484. Vgl. Rousseau, J.-J., „Observations sur la réponse qui a été faites à son Discours“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 3, S. 36. „[…] ce qu’il y a de meilleur […] parmi les hommes […] nos Sciences“, Rousseau, J.-J., „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi: les hommes“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 3, S. 189.
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9. Unter diesen Umständen ist es nicht nur möglich, sondern auch nötig, Rousseaus kritischer Auseinandersetzung mit der praktischen Rolle von Wissenschaft und Technik zugute zu halten, dass er sie im vollen Licht intimer und subtiler Vertrautheit mit der Konzeption einer eingeschränkten, einer wissenschaftsinternen Gestalt von Aufklärung entwickelt hat. Das Nahziel seiner kritischen Auseinandersetzung ist es, einer Dogmatisierung dieser szientistischen Aufklärungskonzeption vorzubeugen. Ihr Fernziel ist es, der praktischen Idee der Aufklärung unter den gewandelten Bedingungen der neuzeitlichen wissenschaftlichen und technischen Entwicklung zu neuem Leben zu verhelfen. Im berühmt-berüchtigten ‚Diskurs über die Wissenschaften und die sog. Künste‘ – also die Technik – präsentiert Rousseau einer Dogmatisierung der szientistischen Aufklärungskonzeption zunächst einmal die Gegenrechnung. Diese Gegenrechnung macht in einem Punkt von einem Kunstgriff Gebrauch, indem sie die Situation fingiert, in der die szientistische Aufklärungskonzeption in einer Gesellschaft dogmatisch, exklusiv und streng in der Praxis verwirklicht worden ist. In dieser Situation wäre das wahr, was Rousseau sagt: Wir haben Physiker, Geometer, Chemiker und Astronomen; wir haben aber keine Bürger (citoyens) mehr.32 Das Verschwinden der Bürger im Zuge einer radikalen Praktifizierung der szientistischen Aufklärungskonzeption umschreibt Rousseau im Ersten Diskurs mit einem suggestiven Gegenbild zur Aufklärungsmetaphorik: Wir einfachen Menschen aus dem Volk (nous, hommes vulgaires) bleiben in unserer Dunkelheit befangen33, und zwar, wie Rousseau erläutert, in dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste ihrer Vollendung näher gekommen sind.34 Es ist inzwischen klar, was Rousseau mit Hilfe dieser Dunkelheitsmetaphorik zu verstehen gibt: Die Bürger eines Gemeinwesens, die einfachen Menschen aus dem Volk, verfügen weder über die aufgeklärte methodisch-technische Kunst des Wissenschaftlers, Gelehrten und Forschers, von der Diderot spricht, noch über die wissenschaftliche Urteilskraft, von der Diderot und Rousseau in ihren Texten zur Chemie sprechen. Und sie verfügen über diese kognitive Voraussetzung und Mitgift der wissenschaftli_____________ 32
33 34
Vgl. Rousseau, J.-J., „Discours sur les sciences et les arts“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 3, S. 26. Gianuzi, Paolo, J.-J. Rousseau e la chimica: ricerche di storia della chimica dal rinascimento all’illuminisme, Bari 1967, geht sogar noch einen Schritt weiter: Am Horizont der von Rousseau erörterten radikalen Aufklärung-durch-Wissenschaft sieht er nicht nur eine Dezivilisierung, sondern sogar eine Enthumanisierung (dehumaniziazone) auftauchen, vgl. S. 255f. Vgl. ebd., S. 30. Ebd., S. 18.
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chen Tätigkeit sogar umso weniger je vollkommener die Wissenschaften werden, also je komplexer und je anspruchsvoller die wissenschaftliche Arbeit wird. Rousseau geht daher auch sogleich auf die Informations- und Kommunikationsstrategie ein, die mit einer Publikation wie jener der Encyclopédie verbunden ist und umschreibt die kognitive Disposition, die die Bürger eines Gemeinwesens, die einfachen Menschen aus dem Volk für den Umgang mit wissenschaftlichen Informationen mitbringen: ohne zu wissen, wie man den Irrtum von der Wahrheit unterscheidet (sans savoir demeler l’erreur de la vérité).35 Es fehlt ihnen die aufgeklärte methodisch-technische Kunst und die Urteilskraft, um irgendeine der Alternativen abwägen zu können, um die es in der wissenschaftlichen Arbeit geht und die Diderot in seinem Katalog aufgelistet hat: Wahrheit oder Falschheit, Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Zweifelhaftigkeit, Zweifelhaftigkeit oder Gewissheit usw. Rousseau erinnert daher daran, welche Schwierigkeiten das Abwägen dieser Alternativen schon für den erfahrenen Wissenschaftler, Gelehrten und Forscher in der alltäglichen Arbeit bereitet: Wie vielen falschen Fährten folgt man in der Forschung der Wissenschaften (que de fausses routes dans l’investigation des Sciences?)?36 Wie viele Irrtümer muss man durchmachen, um zu der (gesuchten) Wahrheit zu gelangen (Par combien d’erreurs […] ne faut-il point passer pour arriver à la vérité?)?37 Das Publikum ist mit den wissenschaftlichen Abwägungs- und Beurteilungsproblemen heillos überfordert. In einem seiner späten wissenschaftlichen Texte zur Botanik schreibt Rousseau daher: Das Publikum hat überhaupt keine Methode (le public n’a point de méthode)38, nämlich keine Methode, um sich an solchen Abwägungs- und Beurteilungsproblemen auch nur mit der geringsten Aussicht auf Erfolg zu beteiligen. Damit ist zunächst der leitende Aspekt klar, unter dem Rousseau der szientistischen Aufklärungskonzeption die Gegenrechnung präsentiert: Diese Art der Aufklärung lässt die überwältigende Mehrheit der Menschen im Dunkeln; sie breitet ihr Licht ausschließlich in der verschwindend kleinen Minderheit der Funktionselite zünftiger Wissenschaftler, Forscher und Gelehrter aus.
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Ebd., S. 24. Rousseau, „Discours sur les sciences“, S. 18. Ebd. Rousseau, J.-J., „Fragments de Botanique“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 4, Paris 1969, S. 1253.
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10. Doch Rousseau hat sich von Anfang an nicht damit begnügt, eine Gegenrechnung mit einer Negativbilanz aufzumachen, sondern vielmehr an einer Aufklärungskonzeption gearbeitet, die allen anderen überlegen sein sollte. Der Anfang dieser Arbeit ist sogleich im Ersten Diskurs über die Wissenschaften und die Künste dokumentiert, und zwar im selben Atemzug, mit dem er auf die Irrtumsträchtigkeit zu sprechen kommt, von der das Erkenntnis- und Entdeckungsstreben der wissenschaftlichen Tätigkeit durchkreuzt wird. Er spricht im Anschluss an die zitierten Bemerkungen von dem Glück, mit dem es gleichwohl immer wieder einmal gelingt, die Wahrheit über einen untersuchten Sachverhalt zu finden, und fährt fort: Wer von uns wird wissen, wie man von dieser Wahrheit einen guten Gebrauch macht (qui de nous en saura faire un bon usage?)?39 Der skeptische Ton dieser Frage ist unüberhörbar. Viel wichtiger ist indessen der Umstand, dass Rousseau hier sogleich in seiner ersten öffentlichen Schrift einen der konzeptionellen Knotenpunkte seines Aufklärungsmodells markiert: Man muss wissen, wie man von einem wohlfundierten Resultat wissenschaftlicher Untersuchungen in der Praxis einen guten Gebrauch machen kann. Dieses praktische Gebrauchswissen ist die Form des Wissens, die in dem einen Brennpunkt von Rousseaus Aufklärungskonzeption steht. Diesen Brennpunkt hat Rousseau nie wieder aus dem Auge verloren. In einer der kleinen Publikationen aus den Nachhutgefechten zum Diskurs über die Wissenschaften und die Künste ergänzt Rousseau seine skeptische Frage nach den Inhabern des praktischen Gebrauchswissens durch eine besorgte anthropologische Diagnose. In der Sprache der Popularethik teilt er die Einschätzung mit: Die Menschen haben zu viele Leidenschaften in ihrem Herzen und einen zu beschränkten Geist, um von der Wissenschaft keinen schlechten Gebrauch zu machen.40 Und am Ende, in den ausgereiften lerntheoretischen und erkenntnistheoretischen Reflexionen des Émile macht Rousseau die Konzeption des praktischen Gebrauchswissens im Blick auf alle überhaupt möglichen Lernziele fruchtbar, die man für einen Heranwachsenden ins Auge fassen kann: Es kommt wenig darauf an, ob er dies oder jenes lernt, vorausgesetzt, er begreift den Gebrauch dessen gut, was er lernt.41
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Rousseau, „Discours sur les sciences“, S. 18. „Il a trop de passions dans son coeur et un esprit trop borné pour n’en [d. i. de la Science, R. E.] pas faire un mauvais usage“, Rousseau, „Observations“, S. 36. „[…] il importe peu qu’il apprenne ceci ou cela, pourvu qu’il conçoive bien […] l’usage de ce qu’il a apprend“, Émile, S. 447.
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Man kann mit Hilfe der hier von Rousseau bereitgestellten Voraussetzungen eine erste Zwischenbilanz ziehen und eine erste notwendige Bedingung der Aufklärung bzw. des aufgeklärten Wissens formulieren: (1) Aufgeklärt ist man nur dann, wenn man weiß, wie man von dem, was man lernt, in der Praxis einen guten Gebrauch machen kann. Offensichtlich kann man diese allgemeinste Bedingung für den Fall des mit Hilfe der Wissenschaft Gelernten leicht spezialisieren: (1.1) Aufgeklärt ist man nur dann, wenn man auch von dem, was die Wissenschaft mit ihren Mitteln lernt, in der Praxis einen guten Gebrauch machen kann. Doch damit kann man wenigstens im Umriss auch eine erste Bestimmung des Typus des Wissens ermitteln, das den Kern des aufgeklärten Wissens ausmacht: Das aufgeklärte Wissen gehört zum Typus des praktischen Gebrauchswissens, also zu einem Typus des nichttechnischen Know-how, ist also auch kein propositionales Wissen, also kein Wissen von mehr oder weniger komplexen Tatsachen. 11. Den zweiten Brennpunkt einer Aufklärungskonzeption hat Rousseau sogar direkt im Gegenzug zu der neuzeitlichen Favorisierung der Wissenschaft markiert. Auch hier ist wiederum eine der ausgereiften lerntheoretischen und erkenntnistheoretischen Reflexionen des Émile am aufschlussreichsten. Rousseau formuliert geradezu das didaktische Programm des Émile, wenn er sagt: Was wir vorschlagen zu erwerben (acquérir) ist weniger die Wissenschaft als vielmehr die Urteilskraft (moins la science que le jugement).42 Und zwar hat Rousseau nicht nur ganz gezielt nicht die theoretische, die epistemische oder die wissenschaftliche Urteilskraft im Auge, sondern – ganz analog wie Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischen Ethik – die praktische Urteilskraft. Eine der wichtigsten Pointen dieser Orientierung an der praktischen Urteilskraft ergibt sich indessen aus dem Umstand, dass Rousseau die Aufmerksamkeit auf die kognitive Funktion lenkt, welche die praktische Urteilskraft gerade dann ausübt, wenn sie das Wächteramt über die Wissenschaft ausübt. Denn es fällt in die spezifische kognitive Kompetenz der praktischen Urteilskraft einzuschätzen, dass etwas Bestimmtes zu wissen, nützlich ist (utile à savoir)43, dass etwas Bestimmtes zu wissen, wichtig _____________ 42 43
Ebd., S. 466. Ebd., S. 447.
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ist (qu’il importe de savoir)44, und dass etwas würdig ist, erforscht zu werden (digne des recherches).45 Sogar im Blick auf das ganze didaktische Programm des Émile und seines Absolventen fasst Rousseau die Aufgabe der praktischen Urteilskraft ins Auge: Mein Ziel ist es, ihn dahin zu bringen, dass er genau einzuschätzen weiß, was die Wissenschaft wert ist (mon objet est de lui faire estimer exactement ce que la science vaut).46 Und auch in diesem späten Kontext des Émile von 1762 zeigt sich wiederum, mit welcher subtilen Zähigkeit Rousseau an seinen Überlegungen aus dem Diskurs über die Wissenschaften und die Künste von 1750 weitergearbeitet hat. Denn genau wie in diesem Ersten Diskurs fasst Rousseau auch hier wieder die Fehlerträchtigkeit ins Auge, von der das Erkenntnis- und Entdeckungsstreben der Wissenschaft durchkreuzt wird. Aber im Gegensatz zum Ersten Diskurs kommt es ihm im Kontext des Themas der praktischen Urteilskraft nicht darauf an, die methodologischen und erkenntnistheoretischen Dimensionen des wissenschaftlichen Wahrheitsstrebens um ihrer selbst willen zum Thema zu machen. Er macht vielmehr auf die utilitaristischen Abwägungsprobleme aufmerksam, mit denen die praktische Urteilskraft konfrontiert wird, wenn sie nicht nur das Entdeckungsstreben, sondern auch die Irrtumsträchtigkeit der Wissenschaft in Rechnung stellt. Er gibt daher zu bedenken, dass man den Nutzen einer Entdeckung gegen die Pein abwägen muss, welche die Irrtümer bereiten, die einem während der Zeit der Bemühungen um diese Entdeckung widerfahren (il faut balancer l’utilité d’une découverte par le tort que font les erreurs qui passent en même temps).47 Den strukturellen Zusammenhang zwischen der Aufklärung und den Produkten der praktischen Urteilskraft hat Rousseau schon früh konzipiert. An einer außerordentlich aufschlussreichen Stelle des Diskurses über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen pointiert er diesen Zusammenhang durch eine sarkastische Frage. Mit Hilfe einer Frage an den Leser seiner Schrift möchte er diesen provozieren zu antworten, ob er einen bestimmten Typus von Mensch für nicht aufgeklärt genug halte, um gesund oder vernünftig zu urteilen (pas assés éclairé pour juger sainement?).48 Der Sarkasmus dieser Frage rührt daher, dass es sich bei dem ins Auge gefassten Typus um den Angehörigen eines Indianerstammes handelt. Der Indianerstamm ist für Rousseau – wie sonst nur noch Gemeinschaften der Urgeschichte – ein Paradigma dafür, dass die spezifischen kognitiven Aufgaben und Leistungen der praktischen Urteilskraft weitgehend invariant _____________ 44 45 46 47 48
Ebd., S. 445. Ebd., S. 428. Ebd., S. 487. Ebd., S. 269. Rousseau, „Discours sur l’inégalité“, S. 220.
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sind gegenüber dem geschichtlichen Wandel der Umstände, unter denen sie an diesen Aufgaben beteiligt ist. Bei Rousseaus Bemerkung über das Maß an Aufklärung, das für ein gesundes oder vernünftiges praktisches Urteilen nötig und hinreichend ist, handelt es sich daher um eine außerordentlich aufschlussreiche Diagnose der historischen Kulturanthropologie. Er gibt damit zu verstehen, dass die praktische Urteilskraft der Menschen zu jeder Zeit in dem Maß aufgeklärt war, das ihr erlaubt hat, in hinreichend vielen Fällen treffend einzuschätzen, was praktisch wichtig ist, und auch, was zu wissen, aus praktischen Gründen wichtig ist. Andernfalls – also ohne hinreichend aufgeklärte praktische Urteilskraft –, so kann man Rousseaus Diagnose mit Hilfe eines kontrafaktischen Arguments stützen, hätte die Gattung bis zum 18. Jahrhundert – und inzwischen bis zum 21. Jahrhundert – nicht überlebt. Die zweite Zwischenbilanz fällt daher so aus: Die aufgeklärte praktische Urteilskraft bildet die wichtigste kognitive Hilfskompetenz des aufgeklärten Wissens, also des aufgeklärten praktischen Gebrauchswissens. Denn der Aufklärungsgrad des praktischen Gebrauchswissens einer Person bewährt und zeigt sich auf keine andere Weise als durch den Grad der Trefflichkeit der praktischen Urteile, die diese Person selbst trifft und in deren Licht sie selbst in konkreten praktischen Situationen von konkreten Elementen der menschlichen Lebenswelt – und zwar auch von wissenschaftlichen Erkenntnissen – einen mehr oder weniger guten Gebrauch macht. 12. Rousseaus Arbeit an der Konzeption des aufgeklärten praktischen Gebrauchswissens und der aufgeklärten praktischen Urteilskraft war mit den umrissenen Beiträgen zu dieser Konzeption noch nicht ganz beendet. Wenn man den letzten Schritt seiner Arbeit an dieser Konzeption angemessen einschätzen möchte, dann ist es nützlich, sich klarzumachen, was von der Karikatur einer Wissenschafts- und Kultur-Kassandra übrig bleibt, wenn man die umrissenen Beiträge zu einer Aufklärungskonzeption in Rechnung stellt: Es bleibt das Bild eines Autors, der auf der literarischen Oberfläche der ersten von ihm publizierten Texte eine Unruhe und eine Sorge artikuliert, deren offenkundige Tiefe in einem geradezu bizarren Kontrast zu dem utilitaristischen Optimismus der Wissenschaftsenthusiasten nicht nur der allermeisten seiner Zeitgenossen, sondern auch seiner Nachfahren steht. Im Licht der Aufklärungskonzeption, an der er mehr als zwölf Jahre lang in immer neuen Anläufen gearbeitet hat, gewinnen diese Unruhe und diese Sorge eine nachvollziehbare
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Berechtigung: Sie sind Indizien des Umstands, dass Rousseau von der Sorge in Atem gehalten wird, dass die praktische Urteilskraft der Menschen mit ihrer kognitiven Funktion für die Einschätzung des praktischen Gebrauchswerts wissenschaftlicher Erkenntnisse tendenziell heillos überfordert wird, wenn das kumulative Komplexitätswachstum der Wissenschaften und der Künste in dem Maß zunimmt, wie es sich schon bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts abzeichnet. Diese Sorge hat Rousseau bis zur Publikation des Émile zu einer wohldurchdachten Problemstellung ausreifen lassen. Er gibt zu bedenken, dass man das Instrument kennen muss, dessen ich mich bedienen will und dass man wissen muss, bis zu welchem Punkt man sich auf seinen Gebrauch verlassen kann (Il faut connaître l’instrument dont je veux me servir et jusqu’à quel point je me fier à son usage)49; dieses Instrument identifiziert Rousseau mit dem Instrument, das urteilt (l’instrument qui juge)50, also mit der Urteilskraft. Rousseau fordert hier nicht mehr und nicht weniger als eine Grenzbestimmung der Verlässlichkeit der Urteilskraft – also in der späteren Sprache Kants eine Kritik der Urteilskraft. An einer solchen Grenzbestimmung der Urteilskraft hat sich Rousseau gar nicht erst versucht. Und wer jene ‚dornichten Wege der Kritik‘ auch nur ungefähr vor Augen hat, von denen Kant selbst im Rückblick spricht51, der weiß auch, dass der methodisch untrainierte Rousseau das richtige Gespür für die Grenzen seiner eigenen Reflexions- und Analysekompetenz hatte, als er es bei Formulierung des Programms einer entsprechenden Kritik der Urteilskraft bewenden ließ. 13. Die ‚dornichten Wege‘ einer Kritik der Urteilskraft sind viel zu verzweigt und verästelt, als dass man auch nur versuchen könnte, sie im letzten Abschnitt eines für die Publikation überarbeiteten Vertragstextes auch nur notdürftig zu skizzieren. Dennoch kann man wenigstens auf einen einzelnen roten Faden in dem Gedankengewebe aufmerksam machen, durch das Rousseaus und Kants Arbeiten an Konzeptionen der Urteilskraft miteinander verflochten sind. Dieser rote Faden wird von Rousseau selbst geknüpft, wenn er an mehr als einem Dutzend Knotenpunkten der lerntheoretischen und erkenntnistheoretischen Reflexionen des Émile in immer neuen Varianten das Erziehungs- und Lernprogramm in Erinnerung ruft, das er für das wichtigste hält: Lassen wir ihn lernen, gut zu _____________ 49 50 51
Émile, S. 586. Ebd., S. 674. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Ak. Bd. 4, S. 367.
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urteilen (apprenons-lui à bien juger).52 Von dieser Pädagogik und Didaktik der Urteilskraft sagt er ausdrücklich: Die wahre Erziehung besteht weniger in Rezepten als in Übungen (la véritable éducation consiste moins en préceptes qu’ en exercises).53 Das ist ja der Grund, weswegen es in Rousseaus Émile von pädagogischen und didaktischen Szenarios zur Übung der Urteilskraft nur so wimmelt. Das für die Philosophie wichtigste unmittelbare Echo dieser Übungsbedürftigkeitstheorie der Urteilskraft findet sich ausgerechnet mitten in der Kritik der reinen Vernunft unter dem Titel einer Transzendentalen Doktrin der Urteilskraft: „[Die] Urteilskraft [ist] aber ein besonderes Talent […], welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.“54 Der literarische und der systematische Ort dieser Erinnerung an die Übungsbedürftigkeit der Urteilskraft ist nicht weniger wichtig als ihr Inhalt. Denn jede der drei Kritiken Kants enthält einen Beitrag zu einer grenzbestimmenden Theorie der Urteilskraft – die Kritik der reinen Vernunft eben unter dem Titel einer Transzendentalen Doktrin der Urteilskraft55, die Kritik der praktischen Vernunft unter dem Titel einer Typik der Urteilskraft56 und sein letztes Werk schließlich unter dem Titel einer Kritik der Urteilskraft. Bei allen diesen Theorien handelt es sich um hochabstrakte Reflexionsprodukte. Doch erst spät hat sich Kant klar gemacht, dass es ebenfalls die Urteilskraft ist, von der wir sogar dann noch Gebrauch machen, wenn wir solche hochabstrakten Reflexionsprodukte zuwege bringen. Zwar macht er schon in der Kritik der reinen Vernunft auf die unterschiedlichen Methodiken der logischen Reflexion und der transzendentalen Reflexion aufmerksam. Doch erst bei Gelegenheit der Publikation der Kritik der Urteilskraft gelingt es ihm klarzustellen, dass wir von unserer Urteilskraft mit zwei zueinander gleichsam gegenläufigen Orientierungen Gebrauch machen können – sowohl in ihrer reflektierenden wie in ihrer bestimmenden Funktion.57 Die Berücksichtigung dieses funktionalen Unterschiedes ist von erheblicher Bedeutsamkeit, wenn man die gesellschaftliche Tragweite der Aufklärungskonzeption einschätzen möchte, an der sowohl Rousseau wie Kant wie Mendelssohn gearbeitet haben. Denn der Grad der Aufklärung einer Gesellschaft, eines Volkes, einer Nation oder eines Gemeinwesens zeigt und bewährt sich in seiner wichtigsten Ausprägung in den Produkten des bestimmenden Gebrauchs der praktischen Urteilskraft. Von ihrer bestimmenden Funktion machen wir immer dann Gebrauch, wenn wir in _____________ 52 53 54 55 56 57
Émile, S. 484; vgl. auch S. 285, 324, 361, 380, 392, 396, 397, 421, 458, 483, 486, 654. Ebd., S. 252. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, A133, B172 (Philosophische Bibliothek, 37a). A 137, B 176ff. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Ak. Bd. 5, S. 68ff. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, Ak. Bd. 5, S. 179ff.
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einer konkreten Situation ein konkretes Element unserer Lebenswelt – auch einen wissenschaftlichen Forschungserfolg – auf seinen utilitären, auf seinen moralischen, auf seinen rechtlichen oder auf seinen politischen Gebrauchswert hin beurteilen. Von ihrer reflektierenden Funktion machen wir indessen immer dann – aber nicht nur dann – Gebrauch, wenn wir über die Begriffe nachdenken, die wir in solchen praktischen Beurteilungen verwenden können; wenn wir über die Begründungen nachdenken, die wir ihnen angedeihen lassen; wenn wir über die Methoden nachdenken, mit deren Hilfe wir sie zuwege bringen können; oder wenn wir über die Kriterien nachdenken, mit deren Hilfe wir praktische Alternativen abwägen können – kurz: wenn wir ethische Reflexionen anstellen. Die praktische Idee der Aufklärung fordert daher auch da, wo ein entsprechendes Vokabular noch nicht zur Verfügung steht, das aufgeklärte praktische Gebrauchswissen und die aufgeklärte praktische Urteilskraft. Der Grad der Aufklärung einer Gesellschaft, einer Nation, eines Volks oder eines Gemeinwesens richtet sich daher nicht nach dem Grad der Aufklärung seiner Reflexionselite, sondern nach dem Grad der Aufklärung des praktischen Gebrauchswissens und der praktischen Urteilskraft aller Bürger. Moses Mendelssohn hat durch seine ingeniöse Formel für das Maßkriterium dieses Aufklärungsgrades ein für alle Mal für Klarheit über die drei wichtigsten Bedingungen gesorgt, denen das aufgeklärte praktische Gebrauchswissen und die Produkte der bestimmenden praktischen Urteilskraft genügen müssen: Sie müssen mit der Bestimmung des Menschen zumindest verträglich und ihr im günstigsten Fall sogar dienlich sein; sie müssen mit der Bestimmung des Bürgers eines wohlgeordneten Gemeinwesens zumindest verträglich und ihr im günstigen Fall sogar dienlich sein; und sie müssen mit den beruflichen Aufgaben in einer Gesellschaft zumindest verträglich und ihnen im günstigsten Fall sogar dienlich sein. Das aufgeklärte Wissen ist das in den praktischen Urteilen einer Person sich manifestierende Wissen, wie man von einem konkreten Element der Lebenswelt in einer konkreten praktischen Situation im Respekt für diese Bedingungen einen guten Gebrauch machen kann. Über die Struktur dieses aufgeklärten Wissens kann man, wenn man einmal von der Philosophie Platons absieht58, in keinem anderen Medium mit so berechtigter Aussicht auf Erfolg aufgeklärt werden wie im Medium der reflexiven Arbeit an den Aufklärungskonzeptionen des 18. Jahrhunderts. Spätestens hier kann man lernen, dass nicht derjenige am aufgeklärtesten ist, der die Frage nach den Bedingungen der Aufklärung auf dem höchsten Reflexionsniveau traktiert, sondern derjenige, der den geringsten reflexiven Aufwand nötig hat, um in einer beliebigen Situation des bürgerlichen Le_____________ 58
Vgl. hierzu Wieland, W., Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982.
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bens oder der politischen Praxis weiß, wie man von den dafür relevanten Elementen dieser Situation einen guten praktischen Gebrauch machen kann. Wenn man darüber hinaus nicht vergisst, wie ein ganzes Volk vom Reflexionsgipfel der Aufklärung im 18. Jahrhundert in eine Katastrophe der Humanität des 20. Jahrhunderts gestürzt ist, dann ist man auch ein für alle Mal gegen die verführerische Illusion gefeit, als wenn die Aufklärung des praktischen Gebrauchswissens und der praktischen Urteilskraft unseres bürgerlichen Lebens und unserer politischen Praxis am meisten von irgendeinem Reflexionsgipfel der Aufklärung profitieren könnte.
Geheimnis und Publizität des pharmakon. Verhandlungen über den Umgang mit Giften im 18. Jahrhundert Bettina Wahrig
Aufklärung als pharmakon Lichtenbergs launige Behauptung, es sei „fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen“ zeugt von einer gewissen Skepsis, ob allein mit den Mitteln der diskursiven Vernunft eine rationalere Gestaltung der menschlichen Verhältnisse zu erreichen wäre.1 Gegen Ende seines Lebens unterschied der Göttinger Schriftsteller und Physiker unter dem Eindruck der Folgen der französischen Revolution zwischen historischen Zielen, die sich die Menschheit selbst setzen dürfe, und solchen Prozessen, die am Ende durchaus dem Wohle der Menschheit dienen könnten, in welche der Mensch dennoch einzugreifen nicht berufen sei: Aber eben dieselbe Kurzsichtigkeit, die den Menschen unfähig macht die großen Plane der Vorsehung zu überschauen, verstattet auch den weisesten Regierungen nicht auf dem sanften Wege, den sie mit Recht einschlagen, große Zwecke zu erreichen, ja da es natürliche Pflicht ist immer nur das zu wählen was uns gut dünkt, so ist es unmöglich zum Vorteil der Welt [einen] Weg einzuschlagen der Millionen fürs Gegenwärtige unglücklich macht.2
Zwischen den beiden Extremen – dem Einsatz des kritischen Potenzials der Vernunft um den Preis von Verletzung und Widerspruch und dem Verzicht auf eine radikale Umkehr der Machtverhältnisse angesichts der Endlichkeit des menschlichen Verstandes – liegt die Begegnung eines der vorurteilslosesten Denker der Aufklärungszeit mit Kants Philosophie. Die beiden Extreme markieren aber auch die Enden eines Spektrums, innerhalb dessen Gelehrte der Aufklärungszeit zu Fragen des Verhältnisses von
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Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe, Bd. 2, Wolfgang Promies (Hrsg.), 2. Aufl., München 1975, S. 135 (G 13). Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 1, München 1973, S. 841 (K 16).
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Geheimnis und Publizität des pharmakon
Wissen und Öffentlichkeit Stellung nahmen: Innerhalb dieses Verhältnisses spielten immer auch Machtfragen eine Rolle. Wissen im 18. Jahrhundert war Medium (im gleich zu erklärenden Derrida’schen dreifachen Sinne) in jenem „strategischen Verhältnis“ namens Macht.3 Die Erfahrung, dass Begriffe, wie etwa „Aufklärung“ oder „Vernunft“, zu oszillieren beginnen, wenn man sie nur scharf genug ansieht, ist sehr viel älter ist als die Aufklärungszeit. Ein Beispiel, an dem sich dies erläutern lässt, ist jene Gruppe von Ausdrücken, die „Gift“ bezeichnen: So meint das griechische Wort „pharmakon“ nicht nur „Arzneimittel“, sondern auch „Zaubermittel“, „Gift“ und „Farbe“4; „venenum“ etwa enthält eine Anspielung auf die Liebesgöttin Venus, woran die literarische Tradition der Verwechslung von Liebes- und Todestränken anknüpfen kann.5 In „Platons Pharmazie“ entfaltet Derrida das durchgängig Ambivalente von Eros, Logos und Schrift.6 Hier dient der Ausdruck „pharmakon“ als Sonde für die platonischen Texte und gleichzeitig als Chiffre, die eingesetzt wird, um den konstitutiven Ambiguitäten einiger abendländischer Denkfiguren nachzugehen. So ist die Schrift nicht nur deshalb ambivalent, weil sie gleichzeitig als remedium gegen das Vergessen und als dessen ermöglichendes medium (im Sinne von Mittel) wirkt, sie funktioniert auch als Medium der Verbreitung von Wissen, welches aber gerade nicht vor die Augen und Ohren Aller gelangen sollte.7 In Auseinandersetzung mit der Schrift taucht bei Derrida auch der Terminus „Chora“ auf, den Julia Kristeva als einen der zentralen Begriffe ihrer Semiotik weiterentwickelt. „Chora“ und „Abjekt“ sind zwei Zustandsformen von Dingen und Vorstellungen in einem und für ein Subjekt, bevor man von der Existenz von Subjekt und Objekt sprechen kann.8 Das Abjekt ist ein Archiv des nicht ins Subjekt Integrierten. Für die Entwicklung des Individuums bedeutet es die Fortdauer einer Mutter-Kind-Kommunikation unter Unterlaufung des ‚Gesetzes des Vaters‘. Gleichzeitig, und das ist für den Zusammenhang mit den hier behandelten Giftdiskursen bedeutsam, handelt es sich beim Abjekt um eine Diskursfigur der Delegitimierung. Diese Delegitimierung kann bestimmte Personen oder Personengruppen, aber auch Dinge oder Stoffe, betreffen. Kristeva entwickelt den Begriff unter Bezugnahme auf Mary Douglas’ Begriff der Befleckung (souillure), er
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Foucault, Michel, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975/76), Frankfurt am Main 1999, S. 15. Vgl. Stevenson, Lloyd C., The meaning of poison, Lawrence 1959. Exemplarisch zu Tristan und Isolde: Bronfen, Elisabeth, Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film, Frankfurt am Main 2004, S. 41-44. Derrida, Jacques, „Platons Pharmazie“, in: ders., Die Dissemination, Wien 1995, S. 69-190. Ebd., S. 212. Ebd., S. 201; Kristeva, Julia, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main 1978, S. 36ff.
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impliziert Assoziationen des Unreinen und des Weiblichen.9 Beim Abjekt wie bei der Chora handelt es sich um eine Form nicht regulierbarer Zeichenproduktion, die produktiv und kreativ, aber auch potenziell bedrohlich ist. „Chora“, „Abjekt“ und „pharmakon“ kreisen damit um Fragen des Ambivalenten und der Verunreinigung genauso wie um Strategien der Trennung und Reinigung als Gegenmaßnahmen gegen diese. Mit dem Motiv des Ambivalenten ist dasjenige des Unkontrollierbaren verknüpft, das sich nicht auf Gesetze der Legitimität und der Wahrheit verpflichten lässt. Ich möchte im Folgenden anhand weniger Beispiele aus dem Zeitschriftendiskurs zur medizinischen Polizei erläutern, wie sich dieses „pharmazeutische“ Oszillieren im späten 18. Jahrhundert dort dargestellt hat, wo es um den medizinischen, gerichtlichen und publizistischen Umgang mit Giften ging, und wie aus dem Oszillieren sozusagen das Gespenst des Abjekten immer wieder auftaucht. Den Ausdruck „Diskurs“ verwende ich prinzipiell in zwei Bedeutungen: Mit „Zeitschriftendiskurs“ ist die verschriftlichte Rede über Gifte in den Zeitschriften gemeint. „Giftdiskurse“ sind jedoch mehr als nur das Reden über Gifte: Hier geht es auch um die mit bestimmten Redeweisen verbundenen Praktiken, etwa mit Ein- und Ausschlussmechanismen gegenüber bestimmten Personen und Themen. In diesem letzten Sinne rede ich auch von „Diskurswucherung“ und „Diskursbegrenzung“.10 Ich möchte hier zeigen, wie im Zeitschriftendiskurs der medizinischen Polizei medizinisches Wissen als machtvolles Wissen inszeniert wird und wie es mit den Themen der Beherrschbarkeit, des Abjekten und der wissenschaftlichen und allgemeinen Öffentlichkeit zusammenhängt. Gift als Gefahr Das Thema „Gift“ hat sich für mich aus einer Untersuchung über den Zeitschriftendiskurs der medizinischen Polizei entwickelt11, bei der zunächst die Frage im Vordergrund stand, wie sich hier Macht, Wissen und Geschlecht miteinander verschränkten. Zeitschriften, die zwischen 1750 und 1850 gegründet wurden und Ausdrücke wie „medizinische Polizei“, „Staatsarzneikunde“, „gerichtliche Arzneikunde“, „öffentliche Arzneikunde“ im Titel trugen oder entsprechende Inhalte behandelten, lieferten das
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Kristeva, Julia, Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1988, S. 80ff. Nach: Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France (2. Dez. 1970), Berlin 1977, S. 35f.: „Überfluss“, „Beschneidung und Verknappung des Diskurses“. Vgl. Wahrig, Bettina, „‚Alle Aerzte sollten also zu redlichen Männern gemacht werden.‘ Der Zeitschriftendiskurs zur medicinischen Policey (1770–1810)“, in: dies./Werner Sohn (Hrsg.), Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese der Medizinalwesens (1750– 1850), Wiesbaden 2003, S. 41-69.
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Material. Auffällig an den Prospekten, Grundsatzerklärungen und Vorworten der Herausgeber sowie den berufspolitischen Äußerungen der Autoren waren einerseits die starke Inanspruchnahme juridischer und politischer Argumente durch das sich formierende Feld der „medizinischen Polizei“ und andererseits der erzieherisch-aufklärerische Impetus, der sich vor allem auf das lesende Publikum selbst zu erstrecken schien. Den ersteren Aspekt kann man als eine Form des Wucherns von Diskursen lesen: Die Autoren hoben am juridischen Diskurs jene Aspekte hervor, die seine Abhängigkeit vom medizinischen Sachverstand unterstrichen, so dass ihr Wissen als dem juridischen ebenbürtig erschien. Sie forderten auch von ihren Kollegen, sich soviel juristischen Sachverstand anzueignen, dass sie als Sprecher in diesem Feld auftreten konnten.12 Andererseits fanden sich auch Strategien der Diskursbegrenzung: Durch die Verhandlungen über Lehr- und Prüfungsinhalte des neuen Fachs sowie durch das magazinmäßige Sammeln guter und schlechter Beispiele aus der gerichtsmedizinischen Praxis wurde sozusagen nebenbei gefordert, die Anzahl ungeeigneter Arzt-Subjekte durch Ausschluss via Prüfung zu verringern und auf die verbleibenden Subjekte durch verbesserte Ausbildung, aber auch durch moralische Appelle einzuwirken. Da von der Qualität gerichtsmedizinischer Gutachten wiederum die berufliche Zukunft der die Zeitschriften vor allem lesenden Ärzte abhing13, waren diese gewissermaßen die Ziele ihrer eigenen subjektformierenden Anstrengungen. Auf dem Feld der Gerichtsmedizin und der medizinischen Polizei tauchten häufig Berichte über Vergiftungen auf. Bei den akzidentellen Vergiftungen handelte es sich z. B. um die Verwendung von Kupferrohren zur Branntweindestillation oder von ungenügend gehärteter, bleihaltiger Töpferglasur, die des öfteren zur plötzlichen Erkrankung einer größeren Zahl von Menschen führte.14 Bei krimineller Vergiftung war vom Physicus gefordert, eine Obduktion durchzuführen. Hier wie im Fall einer akzidentellen Vergiftung arbeitete dieser häufig mit dem örtlichen Apotheker zusammen, um die erforderlichen chemischen Proben durchzuführen.15 Berichte in den Zeitschriften über solche Fälle wurden regelmäßig mit dem Ruf nach einer besseren Überwachung der betroffenen Gewerbe ver-
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Ebd., S. 52. So etwa die Ermahnung von: Roose, Theodor August Georg, „Regeln, welche bei der medicinisch-gerichtlichen Untersuchung todtgefundener neugborener Kinder zu beobachten sind“, in: Beiträge zur öffentlichen und gerichtlichen Arzneikunde, 7/1798, S. 141-170, hier S. 141f. Ploucquet, W. G., „Nachricht von durch Kupfer giftig oder schädlich gewordenen Brandteweinen“, in: Archiv der medizinischen Polizei und gemeinnützigen Arzneikunde, 1/1783, S. 279-282; vgl. auch die Besprechung desselben Werks durch F. Karsten in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 48/1782, 2. St., S. 416ff. Fischer-Homberger, Esther, Medizin vor Gericht, Bern, Stuttgart u. a. 1983, S. 392.
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knüpft. Auch bei monierten Unordnungen, z. B. im Apothekenwesen, wurde gerne die Gefahr einer allgemeinen Vergiftung heraufbeschworen.16 Solche Mahnungen und Fallberichte waren willkommener Dünger für die gewünschten Diskurswucherungen und boten einzelnen Medizinern gleichzeitig die Gelegenheit, ihr Können öffentlich bekannt zu machen. Die Zunahme des Interesses an gewerblichen Vergiftungen verweist wie der Unterton von Lichtenbergs schon zitierter Fackel-Metapher auf einen fortschrittsskeptischen Diskursstrang, der an Jean-Jacques Rousseau anknüpfte. Exemplarisch lässt sich dies an Johann Christian Ackermanns Neuübersetzung und Erweiterung von Bernardino Ramazzinis Schrift über die Krankheiten der Künstler und Handwerker zeigen17: In diesem 1780 und 1783 erschienenen Buch, das die Rezeption Ramazzinis im deutschen Sprachraum wesentlich prägte, findet sich eine erste Zusammenfassung der verschiedensten gewerblich eingesetzten schädlichen und giftigen Stoffe. In der Einleitung vertrat Ackermann die These, dass sich mit den vermehrten Bedürfnissen des Menschengeschlechts auch die Krankheiten desselben vermehret haben, und daß der Mensch, je weiter er sich von dem einfachen und heilsamen Pfad der Natur entfernte, auch desto mehrern, größern und verderblichern Krankheiten ausgesetzt worden sey“18,
zumal „die Anzahl der menschlichen Bedürfnisse fast ihr Maaß überstiegen zu haben scheint, [...]“19 Bereits Ramazzini selbst hatte großen Wert auf die Beschreibung von Erscheinungsformen und Behandlungsmöglichkeiten gewerblicher Vergiftungen gelegt. Darüber hinaus wies Ackermann besonders auf die Veränderungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hin: In dem Kapitel über die „Krankheiten solcher Personen, die in Fabriken arbeiten“ beklagte er den negativen Effekt der Auszahlung des Lohns einzig und allein „im baaren Geld“.20 Produkt dieser Entlohnung und der Lebensweise der Fabrikarbeiter seien „schlechte Hauswirthe,
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So heißt es in einem Artikel gegen noch bestehende Dispensiererlaubnisse für Ärzte und Wundärzte: „Gerade gegen die Worte der Apothekerprivilegien, [...] entblödet sich oft der elendeste Bartscheerer nicht, der alle seine medicinischen Kenntnisse, blos aus dem Putzbecken und dem Seifenschaume erlernt hat, [...] die Arzeneywissenschaft in ihrem ganzen Umfange auszuüben, und dabey auch noch Medicamente zu kaufen, zu mischen und zu verkaufen. So wird denn oft die edelste Kunst zur Giftmischerey. Es ist beides Mord, man mag einen Gesunden duch Arsenik, Sublimat oder ein andres Gift aus der Welt schaffen, oder einen Kranken, durch China, Opium und jedes andre Mittel zur Unzeit gegeben, erwürgen. Anonym, „Ueber die Hausapotheken der Aerzte und Wundärzte. Von Herrn *** zu ***“, in: Neues Magazin für Aerzte, 7/1785, 2. St., S. 180-184, hier S. 180f. Ramazzini, Bernardino, De morbis artificum diatriba Mutinae olim edita. Nunc accedit supplementum ejusdem argumenti, ac Dissertatio de sacrarum virginum valetudine tuenda [1700], 2. Aufl., Padua 1713. Ramazzini, Bernardino, Abhandlung von den Krankheiten der Künstler und Handwerker, neu bearbeitet und vermehret von Dr. Johann Christian Gottlieb Ackermann, Bd. 1, Stendal 1780, S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 273-281.
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Trunkenbolde und unruhige Köpfe“.21 Von den gefährlichen Einflüssen stark wirksamer Medikamente, mit denen Apotheker und Materialisten zu tun haben, berichtete er ebenfalls.22 Ramazzinis ursprüngliches Kapitel über die Krankheiten der Bergleute wurde von seinem Übersetzer stark ausgebaut. Ackermann benannte im einzelnen die dramatischen Folgen des Umgangs mit giftigen Substanzen wie Arsen, Quecksilber oder Blei.23 Diese Botschaften über die der Industrialisierung inhärenten Gefahren stellten aber den Glauben an den Fortschritt und den Nutzen der Wissenschaft keineswegs in Frage – die Skepsis konzentrierte sich auf die Verbindung zwischen technischem Fortschritt und sozialen Veränderungen. Aufsehenerregend waren auch die immer wiederkehrenden Berichte über Lebensmittelvergiftungen, etwa nach dem Genuss von Muscheln. Hier war besonders die Natur des giftigen Agens strittig. Diskutiert wurde, ob Meeresinsekten oder Seesterne giftige „Samen“ in die Muscheln einbrachten, ob es besondere, giftige Arten von Muscheln gebe und ob die von der Bevölkerung ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen ausreichend waren.24 Wissen als Gift Publikationen über Giftfälle machten die Notwendigkeit und Nützlichkeit der medizinischen Polizei gegenüber der Obrigkeit und der allgemeinen Öffentlichkeit offensichtlich. Die Verhältnisse wurden jedoch dadurch kompliziert, dass Gift-Wissen nicht nur bei denjenigen anzutreffen war, die es legitimerweise gebrauchen konnten und sollten. Damit führte die öffentliche Rede über Gifte fast automatisch auf ein vermintes Feld, in dem die (Um-)Verteilung des Wissens verhandelt wurde. Dies soll an einem längeren Artikel des Hofrates Ernst Gottfried Baldinger (1738–1804) verdeutlicht werden. Baldinger, Kasselischer Leibarzt und Professor der Medizin, war Herausgeber des erfolgreichen Magazins vor Aerzte (später Neues Magazin für Ärzte), einer Mischung aus einem Journal der praktischen Medizin und einem Organ der medizinischen Polizei, das neben Berichten aus der Praxis von und für Physici zahlreiche vermischte Notizen und Anekdoten enthielt, welche auch einen hohen Unterhaltungswert gehabt haben dürften.25
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Ebd., S. 276. Ebd., Bd. 2, 1783, S. 209-220. Ebd., S. 1-126. „Einige Krankengeschichte(!) von Herrn Hofmedicus Meier in Hannover“, in: Neues Magazin für Ärzte, 4/1782, 6. St., S. 481-515; über vergiftete Muscheln: S. 489-492. Meier verweist auf den Bericht von: Beunie, J. B., „Mémoire sur une maladie produite par des moules venimeuses“, in: Mémoires de l’Académie Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique, 1/1777, S. 231-246. Baldinger gehörte zum Freundeskreis Abraham Kästners und war mit der Gedankenwelt
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1788 rückte Baldinger einen eigenen Aufsatz in sein Magazin ein. Er wählte den Titel: „Über die Publizität im medizinischen Fache“.26 Der Anlass war buchstäblich eine Provinzposse: Ein Dr. Zier hatte im herzoglichen Intelligenzblatt (den Gelehrten Beilagen zu den Braunschweigischen Anzeigen) das Geheimnis eines berüchtigten Giftes, der Aqua Toffana, in alle Welt, genauer gesagt, ins allgemeine Lesepublikum des Braunschweigischen Herzogtums, hinausposaunt.27 Baldinger untersuchte zunächst den ambivalenten Charakter von Geheimnissen im Allgemeinen: Während es statthaft sei, dass jeder Privatmann seine Geheimnisse habe – hier schloss er ausdrücklich das Recht des Arztes auf die Geheimhaltung eigener Rezepturen ein – verhalte es sich mit den Giften anders. Auf den ersten Blick sei die allgemeine Öffentlichkeit der Ort, an dem das Publikum aufgeklärt werden sollte: Gift ist Gift, und jedes Gift ist der thierischen Oekonomie schädlich; was ist also bey dem ersten Blicke auf die Sache natürlicher als der Wunsch, daß jeder Mensch diesen Feind seines Lebens und seiner Gesundheit kennen möchte, und der daraus entstehende, mit gehöriger Einschränkung zu lobende Eifer ihm denselben bekannt zu machen.28
Baldinger hatte wahrscheinlich Werke wie dasjenige von Gmelin über Pflanzengifte im Auge, das in der Tradition der Naturgeschichte die wichtigsten Merkmale giftiger Pflanzen, typische Fälle von Vergiftungen sowie die wichtigsten Grundsätze ihrer Behandlung zusammentrug.29 Im Fall der Aqua Toffana lag die Sache für Baldinger allerdings anders: Die Bekanntmachung einer Art der Vergiftung, wozu das Ingrediens aus hunderterley unverdächtigen Gründen erlangt werden kann; die so leicht zuzubereiten; so unvermerkt und leider selbst unter dem Namen einer Arzeney beyzubringen ist; [...] dessen Effekt mehr ein langsames Zerreiben als eine zerstörende Zertrümmerung der Maschine – das Gefühl des Bösewichts minder erschüttert; [...] ich sage, die Nachricht von solch einer Art der Vergiftung ist doch wohl, wenn sie zu Jedermann gelangt, nicht gleichgültig, und gewiß schädlicher als die Verbreitung theologischer Neuerungen unters Volk; [...]30
Baldinger forderte, dass die Aufdeckung solcher Geheimnisse strikt der ärztlichen Öffentlichkeit vorbehalten bleiben sollte. Er nahm damit eine für die medizinische Spätaufklärung typische Unterscheidung in ‚Berufene‘ und
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der Göttinger Aufklärung bekannt. Vgl. Strieder, Friedrich Wilhelm, Grundlage zu einer hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte, Karl Wilhelm Justi (Hrsg.), Bd. 18, Kassel 1819, zit. n. Deutsches Biographisches Archiv, 0051, S. 195-220. [Baldinger, E. G.,] „Einige Gedanken über die Publicität im medicinischen Fache“, in: Neues Magazin für Aerzte, 10/1788, St. 3, S. 215-219. Zier, Dr., „Ueber die Acqua Toffana“, in: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen, 74/1787, St. 22, S. 301-304. [Baldinger,] „Einige Gedanken“, S. 217f. Gmelin, Johann Friedrich, Allgemeine Geschichte der Pflanzengifte, Nürnberg 1777. [Baldinger,] „Einige Gedanken“, S. 218.
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‚Unberufene‘ vor, die von einem beträchtlichen Teil der medizinischen Autoren getragen wurde, wie Thomas Broman gezeigt hat.31 Damit akzentuierte er die implizite Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Wissen. Das Geheimnis war im Zeitalter der Aufklärung – auch als Berufsgeheimnis – schon in sich selbst ein prekäres Ingrediens der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Durch seine argumentative Koppelung mit dem Gift und durch dessen Stellung im Diskurs als Abjekt wurde das Geheimnis aufgespalten in die Pole des legitimen und des illegitimen Wissens: Es kam zu jener symbolischen Reinigung, nach welcher die mit dem Abjekt verbundene souillure verlangt. Daraus resultierte auch die Aufspaltung von Teilnehmern und Teilnehmerinnen an der Öffentlichkeit in Berufene und Unberufene: Wenn demnach in solchen Dingen der Arzt zum Arzte zu sprechen hat: so sollte es in Schriften geschehen, die eigentlich für Aerzte sind, und nur durch Zufall in die Hände der Layen gerathen, und allenfalls, um noch sicherer zu gehen, in der Sprache der Gelehrten.32
Der arme Doktor Zier hatte es vermutlich nur auf ein kleines Douceur abgesehen, das der Herzog Autoren ‚gelehrter Beiträge‘ zu den Braunschweigischen Anzeigen versprochen hatte.33 Baldingers Wendung „theologische Neuerungen“ positionierte wiederum das verbotene Giftwissen gegen jenes berühmt gewordene Publikationsverbot, welches der Herzog als Reaktion gegen Lessing verhängte, nachdem dieser unter dem Titel „Fragmente eines Wolfenbüttelschen Ungenannten“ allzu freisinnige theologische Ansichten in Umlauf gebracht hatte. Mit anderen Worten: Für die nichtärztliche Öffentlichkeit sollten laut Baldinger andere Kriterien gelten als für die ärztliche. Mit gleichem Recht wie Baldinger konnte sich allerdings auch Zier auf die Werte der Aufklärung berufen, denn sein Artikel reagierte auf einen Beitrag des Kollegen Schrader, der in derselben Zeitung einige Nummern zuvor die abenteuerlichsten Thesen über Produktion und Zusammensetzung desselben Giftes verbreitet hatte. Folgte man dem Bericht Schraders, so wurde dieses Gift von neapolitanischen Banditen hergestellt, die zu diesem Zweck unschuldige Menschen entführten und in unterirdische Gewölbe einsperrten, wo sie diese nackt auszogen, fesselten und so lange kitzelten und mit Nadeln stachen, bis der Angstschweiß, von der heftigsten Epilepsie begleitet, wie Regen herabfließt. Sterbend steigt zuletzt dem Unglücklichen der wilde Schaum aus dem Munde. Dieser wird ohne weitere Zubereitung in Gläser gesammelt, und so unter
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Bromann, Thomas, „The Habermasian public sphere and ‚science in the enlightenment‘“, in: History of Science, 36/1998, S. 123-149. [Baldinger,] „Einige Gedanken“, S. 219. Durch Karl I. (reg. 1735–1780). Die Praxis wurde unter Karl Wilhelm Ferdinand (reg. 1780– 1806) fortgesetzt. Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel (NSTA): 111 Neu 460; 4561.
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dem Namen Acqua Tofana öffentlich verkauft.34
Der Autor fasste hier zwei verschiedene Berichte über Neapel zusammen, die kurz zuvor in Buchform erschienen waren: einen viel gelesenen Reisebericht von Johann Wilhelm Archenholtz (1745–1812) über England und Italien sowie eine Sammlung ärztlicher und wissenschaftlicher Kuriosa aus der Feder des Arztes Johann Samuel Halle (1727–1810).35 Beide referierten gängige Topoi über Neapel und über ein Gift, welches in ganz Europa seit dem 17. Jahrhundert immer wieder Aufsehen erregt hatte. Der ‚gelehrte Beitrag‘ kombinierte dabei Archenholtz’ Berichte über die Banditen und die Giftmischer, die bei diesem noch getrennt waren, während sie nun bei Schrader in eine und dieselbe Kategorie fielen. Warum interessierte man sich 1788 so brennend für die Aqua Toffana? 1633 war in Palermo eine gewisse Thofania d’Adamo wegen Giftmordes zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Etwas später machte sich Giulia Tofana einen Namen, die als Kurtisane und weise Frau ebenfalls in Palermo lebte. Sie hatte, vermutlich durch Ausprobieren, gelernt, Arsenik in Wasser mit Blei- und Antimon-Feilspänen so zu erhitzen, dass sie nach Abfiltrieren eine klare, geruchs- und geschmacklose Flüssigkeit erhielt, die sie in Arzneifläschchen abfüllte und verkaufte. Ihren Kunden schärfte sie ein, jeweils nur einige Tropfen in die Minestra oder den Wein zu geben, dies aber über viele Tage und Wochen hinweg. Auf diese Weise würde eine chronische Vergiftung erzeugt, die mit vielen anderen Krankheiten verwechselt werden konnte. Als die Tofana in Palermo aufzufliegen drohte, floh sie über Neapel nach Rom und wirkte dort erfolgreich weiter – sie soll durch den Handel reich geworden sein. Höchstwahrscheinlich bildete sie ihre Stieftochter in der Giftmischerei aus. Die Tofana starb vermutlich 1651 eines natürlichen Todes. Die Stieftochter, Girolama Spana, führte das Gewerbe mit mehreren Kolleginnen weiter, wurde jedoch verhaftet und 1659 zusammen mit vier anderen Frauen öffentlich hingerichtet. Im Strafprozess kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass Giulia Tofana und Girolama Spana zusammen mit Gehilfen und Gehilfinnen für den Tod von mehr als 600 Personen verantwortlich waren.36 Nach den Berichten starben die Opfer einen langsamen und qualvollen Tod, sie erlitten eben jenes „langsame Zerreiben der Maschine“, von dem Baldinger sprach. Seit dieser Zeit kursierten immer wieder Gerüchte in Europa, es sei einigen Mitgliedern der Bande gelungen, der Verfolgung zu
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Schrader, J. L. F., „Von der Acqua Tofana“, in: Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen, 74/1787, St. 62, S. 253f. Archenholtz, Johann Wilhelm von, England und Italien [1785], Michael Maurer (Hrsg.), ND Heidelberg 1993; Halle, Johann Samuel, Magie, oder, die Zauberkräfte der Natur, so auf den Nutzen, und die Belustigung angewandt worden, Zweyter Theil, Berlin 1784. Vgl. Mari, Francesco/Bertol, Elisabetta, Veleni. Intrighi e delitti nei secoli, Florenz 2001, S. 67-82.
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entgehen, und sie trügen die verderbliche Kunst der Aqua-Toffana-Herstellung weiter.37 Noch bei Heinrich Heine und Bulwer-Lytton findet das Gift Erwähnung.38 Die Aqua Toffana war also zu diesem Zeitpunkt bereits eine legendäre Substanz, von haarsträubenden Geschichten umgeben und mit kulturellen Stereotypen angereichert. Doch zurück zu Baldingers Provinz-Donnerwetter. Um sein Argument zu unterstreichen, dass die Veröffentlichung Ziers nichts nur schädlich, sondern auch völlig unnötig sei, erwähnte Baldinger, bereits Friedrich Hoffmann (1660–1742) habe aus zuverlässiger Quelle berichtet, es handle sich bei dem Gift im wesentlichen um durch langes Kochen in wässrige Lösung gebrachtes Arsen.39 Hoffmanns Zeugnis wurde also gegen die ‚unaufgeklärte‘ Legende der Giftbereitung angeführt. Allerdings behauptete Hoffmann in demselben Kapitel, in dem er über die Aqua Toffana schrieb, es sei durchaus möglich, dass im Körper eines Menschen allein durch eine unmäßige Aufregung und Wut ein tödliches Gift entstehe, welches auch übertragbar sei – eine These, die Gerichtsmediziner noch im 19. Jahrhundert gelegentlich vertraten. Insgesamt gab Ziers Artikel Baldinger also Gelegenheit zu einem beeindruckenden Rundumschlag, der die Pressefreiheit im Allgemeinen, die medizinische Presse im Besonderen, das Berufsgeheimnis und die hieran geknüpften gewerblichen Interessen der Ärzte, die Kontrolle bestimmter Wissensinhalte sowie die notwendige Kontrolle des Arzneimittel- und Substanzenhandels umfasste. Ganz nebenbei gelang es ihm, den engherzigen Umgang des Welfenhauses mit seinem prominentesten Gelehrten zu kritisieren, wobei sich allerdings dessen Plädoyer im Fragmentenstreit, das Publikum zum Richter zu machen40, ins Gegenteil verkehrte. Das universelle Böse Baldingers Aufsatz kann als Beispiel dafür gelten, wie Berichte über mehr oder weniger spektakuläre Giftmordfälle eingesetzt wurden, um ärztlichen Forderungen nach Kontrolle unzuverlässiger Substanzen und Subjekte Nachdruck zu verleihen. Dabei bewegten sich die Autoren und Akteure in einem System von Resonanzen, das sich weit über den Bereich des
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So z. B. in E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Ignaz Denner“ (1817). Vgl. Mittag, Martina, „The obscure subject of desire: Lucretia Borgia in 19th-century literature“, in: Gender Forum, 18/2007, http://www.genderforum.uni-koeln.de/abject/articles.htm (Zugriff am 22.02.2008). Hoffmann, Friedrich, Medicina rationalis systematica, Halle 1722, Bd. 2, S. 185. Kröger, Wolfgang, Das Publikum als Richter. Lessing und die ‚kleinen Respondenten‘ im Fragmentenstreit, Nendeln/Liechtenstein 1979 (Wolfenbütteler Forschungen, 5).
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medizinischen und des juridischen Diskurses hinaus erstreckte. Hierfür hatten nicht nur die Mediziner, sondern auch die Juristen gesorgt, allen voran der Pariser Jurist Gayot de Pitaval mit immer neuen Bänden seiner bekannten Fallsammlung: Von 1743 bis zu seinem Tod brachte er es auf 20 Bände, die danach in zahlreichen Neuauflagen, Fortschreibungen und Nachahmungen fortgeschrieben wurden. Pitaval wollte mit dieser Sammlung nach eigenen Angaben das breitere Publikum über die Tätigkeit der Gerichte informieren und nutzte dazu auch den Unterhaltungs- und Sensationswert der Berichte. Eine vierbändige deutsche Übersetzung der spektakulärsten Fälle konnte sich mit einem Vorwort von Friedrich Schiller schmücken41, der sich, wie viele andere Schriftsteller, von dem dort gesammelten Material anregen ließ, auch wenn er den moralischen Wert der Sammlung ambivalent beurteilte.42 Der bekannteste dort berichtete Giftmordfall ist derjenige der Marquise de Briviller, die zusammen mit ihrem Geliebten und Komplizen SainteCroix ihren Vater und zwei Brüder vergiftete. Das Mordmotiv war Habsucht auf der Seite Sainte-Croix’ und wohl sexuelle Abhängigkeit auf der Seite der Marquise. Sein Giftwissen hatte Sainte-Croix angeblich in der Bastille von einem Italiener namens Exili erworben. Medizinische Experten schrieben über die nach seinem Tod in seiner Wohnung aufgefundenen Gifte: Das künstliche Gift des Sainte-Croix [...] entzieht sich allen Versuchen, die man damit anstellen will. Es ist so versteckt, daß man es nicht erkennen kann, so 43 fein, daß es alle Kunst des Arztes hintergeht.
An diesen Ausführungen ist der Kontrast zwischen der materiellen Prekarität der Gifte und ihrer ungeheuren Wirkung interessant. Die Kunst des Giftmischens wurde als Sublimation beschrieben, ein Vergleich, der sowohl für den Giftmischer als auch für seine Produkte zutraf. Hier hat das Geheimnis im Giftdiskurs seinen Ort: Wie die Kunst der Alchemie eine geheime ist, so bleibt auch die Giftmischerei eine schwierige und geheime Kunst. Das Giftwissen erlaubt es, eine schädliche Materie so zu verfeinern, dass sie wirkt, ohne selbst Spuren zu hinterlassen. Man kann vermuten, dass ein innerer Zusammenhang zwischen der Delegitimation der Geheimmittel Ende des 18. Jahrhunderts und dem fast zwanghaften Sprechen über Gifte in dieser Zeit besteht.
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Pitaval, Gayot de, Merkwürdige Kriminalgeschichten und Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet von Friedrich Schiller [1792–1796], 4 Bde., Jena 1811. Weiler, Ingeborg, Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie, Tübingen 1998. Pitaval, Merkwürdige Kriminalgeschichten, Bd. 2., S. 22, vgl. Wahrig, Bettina, „Erzählte Vergiftungen. Kriminalitätsdiskurs und Staatsarzneikunde (1750–1850)“, in: Johannes Süßmann/Susanne Scholz u. a. (Hrsg.), Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode, Berlin 2007, S. 97-111.
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Mit dieser (fast-)Verflüchtigung des Materiellen schlägt die Bedeutung des „pharmakon“ ein weiteres Mal um: Wenn der erste Umschlag derjenige vom Heilsamen ins Böse, Schädliche war, dann ist dieser zweite Umschlag einer vom Materiellen ins Geistige, aber deshalb nicht zurück ins Gute. Ein transzendentes, unfassbares, tendenziell unendliches, sublimes Böses zeichnet sich da am Horizont ab. Ohnmacht und Macht der Toxikologie In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich eine Bedeutungszunahme der Funktion des Gerichtsarztes feststellen. Dies hatte, wie oben erwähnt, auch zur Etablierung von Zeitschriften in diesem Bereich beigetragen. Zwar hatte bereits die Contitutio Carolina eine gerichtliche Sektion bei jedem Verdacht eines unnatürlichen Todes gefordert, die chemischen Proben zum Nachweis von Giften spielten aber eher eine untergeordnete Rolle. Mit der Entwicklung der analytischen Chemie im späten 18. Jahrhundert und der aufkommenden Skepsis gegenüber den bisher akzeptierten forensischen Nachweisverfahren erfuhren die ersten Lehrbücher der Toxikologie besondere Aufmerksamkeit. Zudem achteten die Obrigkeiten bei der Einstellung von Physici und Apothekern an den Residenzen darauf, Personen mit ausreichender Expertise einzustellen, was wiederum dazu führte, dass die Lehrbücher der Toxikologie und der gerichtlichen Medizin auf diese Punkte besonderen Wert legten.44 Damit war allerdings die Schwierigkeit, solide Kriterien für die Unterscheidung zwischen Giften und Nicht-Giften zu etablieren, noch nicht behoben. Diese Schwierigkeit steckte, wie anfangs dargelegt, schon in der Ambivalenz des Gift-Begriffs selbst. An ihrer Beherrschung wurde gearbeitet. Neben der Entwicklung von Nachweisverfahren handelte es sich um eine harte Arbeit am Begriff, die vor allem auf eine verlässliche Taxonomie der Gifte zielte. Hieran knüpfte sich eine – nie ganz in Erfüllung gegangene – Hoffnung: Wenn die Gifte einen Platz im System der Natur hatten, konnten sie klassifiziert und identifiziert werden, dann war ihre Wirkung zumindest besser vorhersehbar. 1785 erschien das erste Lehrbuch der Toxikologie in deutscher Sprache, verfasst von Joseph Jakob Plenk: Toxikologie, oder Lehre von den Giften und Gegengiften. Im Vorwort zitierte Plenk die schon bekannten Motive der Häufigkeit krimineller und akzidenteller Vergiftungen. Er betonte aber
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Vgl. Wahrig, Bettina, „Organisms that matter. German Toxicology (1785–1822) and the Role of Orfila’s Textbook“, in: José Ramòn Bertomeu-Sánchez/Agustí Nieto-Galan (Hrsg.), Chemistry, Medicine, and Crime. Mateu J. B. Orfila (1787–1853) and His Times, Sagamore Beach/Mass. 2006, S. 153-182.
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auch die Fortschritte der Therapie durch die nähere Kenntnis von Giften: In neuerer Zeit habe man gefunden, dass in vielen Fällen nur „die Dosis“ das Gift mache. Ja sogar viele, die vormals gänzlich für verderbend gehalten wurden, werden nun, als kostbare Geschenke der Vorsehung zur Erhaltung der Gesundheit, und als lezte Hülfmittel in verzweifelten Fällen, wo mildere Arzneien gemeiniglich unwirksam sind, geschätzt. Der Mohnsaft, die Wolfskirsche, die Quecksilber- und Spießglanz-Bereitungen; die spanischen Fliegen können zu Beispielen dienen.45
Plenck bezog sich höchstwahrscheinlich vor allem auf die Arbeiten von Anton Störck (1731–1803), des prominenten Professors der Medizin in Wien, der mit einer Reihe von Tierexperimenten und Selbstversuchen Argumente dafür sammelte, dass auch giftige Substanzen heilsame Wirkungen haben können, wenn sie richtig medizinisch erprobt sind. Unter anderem publizierte Störck über mögliche heilsame Wirkungen von Stechapfel, Bilsenkraut, Eisenhut und Herbstzeitlosen46, und er machte offensichtlich auch Versuche mit Arsen, wie aus einem Beitrag von des erwähnten Ackermann im Magazin für Ärzte über den „innerlichen Gebrauch des weißen Arsens“.47 hervorgeht. Die ersten Gegner des Autors waren die Quacksalber, und zwar hier besonders die französischen. Die Fieber- und Krebsmittel des Barons LeFebure gehörten zu jenen Geheimmitteln, für deren Ausrottung Magazine wie das Baldingersche zu Felde zogen.48 Da das Mittel wider den Krebs, welches den Herrn de Febure zum Urheber hat, und wie bekannt, aus Arsenik besteht, sein Glück so wenig in Frankreich gemacht hat, daß es sogar öffentlich durch die Regierung verboten worden ist; so könnte man entweder glauben, daß Fälle, die unglücklich sich geendigt, die Regierung zu diesem Schritte bewogen haben, oder daß es der Regierung in Frankreich eigen sey, große und wirksame Mittel so lange zu verdammen, bis endlich der allgemeine Ruf die Wirksamkeit derselben außer allen Zweifel setzt.49
Ackermann könnte mit diesem Seitenhieb auf das Verbot der Pockeninokulation durch die französische Regierung anspielen.50 Sein eigentlicher Ge-
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Plenk, Joseph Jakob, Toxikologie oder Lehre von den Giften und Gegengiften, Wien 1785. Vgl. Gantenbein, Urs Leo, „Der Einfluß der Ersten Wiener Schule auf das Arzneiverständnis bei Samuel Hahnemann“, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, 19/2000, S. 229-249; Habrich, Christa, „Characteristic features of eighteenth-century therapeutics in Germany“, in: William F. Bynum/Vivian Nutton (Hrsg.) Essays in the history of therapeutics, Amsterdam 1991, S. 39-49. Ackermann, Johann Christian Gottlob, „Beyträge zur Geschichte des innerlichen Gebrauchs des Arseniks bey einigen innerlichen und äußerlichen Krankheiten“, in: Neues Magazin für Aerzte, 2/1780, 5. St., S. 418-425. Vgl. Hahnemann, Samuel, Ueber die Arsenikvergiftung ihre Hülfe und gerichtliche Ausmittelung, Leipzig 1786; Guillaume René LeFebure hatte eine Reihe von Büchern über die Heilung von Krebs, Fiebern und anderen Krankheiten mit Hilfe von Arsen publiziert, gegen die zahlreiche deutsche Autoren polemisierten. Vgl. ebd., S. 38ff. Ackermann, „Beyträge“, S. 418. Vgl. Pollmeier, Heiko, Die französische Debatte über die Einführung der Blatterninokulation (1754–
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Geheimnis und Publizität des pharmakon
genstand ist aber ein Bericht aus der Praxis einer Familie von Wundärzten im thüringischen Ort Pausa, die regelmäßig Arsen zu therapeutischen Zwecken einsetzte, und zwar in zum Teil nicht unerheblichen Mengen. Die Behandlungsmethode hatte sich – wie für ein Geheimmittel üblich – innerhalb der Familie vererbt, war jedoch offensichtlich nun dem Autor berichtet worden. Bei hartnäckiger Melancholie wurden mehrere Einzeldosen von ein bis zwei Gran (ca. 0,06 bis 1,12 g) weißes Arsen (wahrscheinlich Arsentrioxid), verbunden mit etwas Zucker und reichlicher Flüssigkeitszufuhr, verabreicht. Ackermann wundert sich zu Recht, dass bei diesen Dosen noch kein Patient zu Tode gekommen sei. Immerhin habe sein Informant versichert, dass meist bereits die erste Dosis das für Melancholische typische „Aberwitzeln“ vermindere.51 Ähnlich wie LeFebure setzten die Pausaner Chirurgen das Mittel auch gegen „Wechselfieber“ ein, allerdings in sehr viel geringerer Dosis und behaupteten hier ebenfalls, dass sie durchgängig Erfolg hätten. Was die Therapie der Melancholischen angeht, so befleißigt sich Ackermann einer erstaunlichen Rechtsgüterabwägung: Vielleicht ist es nicht möglich, ein Verfahren dieser Art anders zu entschuldigen, als damit, daß, falls auch nach diesem so groben Versuch ein Kranker dieser Art dem Mittel unterliegen sollte, wenigstens dem Staat wenig an einem Menschen, der seines Verstandes beraubt ist, liegen könne.52
Dennoch zieht er ein skeptisches Fazit: „Ich warne die Aerzte für die Nachahmung dieses so groben Verfahrens, fest überzeugt, daß es schief ablaufen müsse, [...].“53 Das Wundarztwissen war also ein grobes Wissen – allerdings sollte es unter Beobachtung bleiben, da sich doch vielleicht an diesen Praktiken im Guten wie im Schlechten etwas lernen lässt. Am Horizont zeichnete sich für Versuche und Erfahrungen bereits eine andere Klientel als Hunde und der eigene Leib ab: Werth wäre es doch wohl, daß das Mittel, von dessen Wirksamkeit in der Melancholie und andern Krankheiten auch andre und ältere Aerzte reden bey einer öffentlichen, für Unglückliche dieser Art bestimmten Anstalt versucht würde.54
An diesen Aussagen wird deutlich, dass im Zeitalter der Aufklärung die Wissenschaft selbst zu jenem pharmakon wurde, das die Möglichkeitsbedingungen zur Unterminierung wie zur Befestigung von Macht schafft. Hinter der Angst vor jenen illegitimen Wissenden, den Giftmischerinnen und Giftmischern, und der Abwehr gegen jene groben Halbwisser, die
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1774), ungedr. phil. Diss. TU Braunschweig 2007. Ackermann, „Beyträge“, S. 420. Ebd., S. 420. Ebd. Ebd., S. 421.
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Chirurgen und Scharlatane, verbirgt sich vielleicht noch eine andere, tiefer gehende Angst, gegen welche die Riten der Reinigung und des Sortierens in Substanzen mit Hilfe toxikologischer Systeme, des Nachweises, des Ein- und Ausschlusses von Personen und Substanzen permanent aufgerufen werden müssen. Andernfalls könnte jenem „Wissen, das Macht ist“, aus seinem Inneren heraus ein Widerstand erwachsen, welcher die „Willfährigkeit gegen die Herren der Welt“ in Frage stellt.55
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Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1993, S. 10.
Die Transmission verbotenen Wissens Martin Mulsow Tout ce qui est intéressant se passe dans l’ombre. (Céline)
1. Der Untergrund als Wissenskultur Die Transmission verbotenen Wissens geschieht, so sagt man, „im Untergrund“. Doch was ist ein „Untergrund“? Eine Welt unter der unseren? Die Metapher täuscht natürlich. Sie suggeriert, wir hätten es mit einem räumlich abgetrennten Teil der Welt zu tun, dabei ist es nur die Unerkanntheit derjenigen, die sich in ihr bewegen, die uns von ihnen trennt. Wenn wir vom Untergrund reden, haben wir es also mit Doppelexistenzen, falschen Namen, dem Verschweigen von Absichten, dem heimlichen Zustecken von Kassibern zu tun. Es mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, diese Szenerie mit dem ehrwürdigen Begriff einer „Wissenskultur“ zu belegen. Aber das Wort Wissenskultur ist ohnehin vieldeutig, wie so manche Komposita im Deutschen. „Wissenskultur“ meint die Einbettung von Wissen in soziale und intellektuelle Praktiken, in institutionelle, politische und ökonomische Kontexte. Vieldeutig ist dabei, was unter „Wissen“ verstanden werden soll. Man tut gut daran klar zu unterscheiden, denke ich, zwischen Kulturen der Wissensproduktion und Kulturen der Wissensverwaltung. Wenn Karin Knorr-Cetina von „epistemic cultures“ spricht, so meint sie „Erkenntniskulturen“, also etwa Forschungszentren, an denen wissenschaftliche Tatsachen hergestellt werden.1 Wenn hingegen von der frühneuzeitlichen historia literaria oder von Wunderkammern die Rede ist, dann ist der Umgang mit Wissen, seine Anordnung, seine Archivierung angesprochen. Natürlich sind in der Praxis Wissensproduktion und Wissensverwaltung miteinander vermischt: Eine gute Anordnung kann selbst wieder neues Wissen hervorbringen, und Forschungszentren müssen Dateien, Ordner und Archive besitzen. Dennoch scheint es sinnvoll, die Unterschiede im Sinn zu behalten. _____________ 1
Knorr-Cetina, Karin, Epistemic Cultures. How the Sciences make Knowledge, Cambridge/Mass. 1999.
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Die Transmission verbotenen Wissens
Untergrundkulturen des Wissens haben es mit Erkenntnissen, Argumentationen oder bereits vorliegenden Schriftstücken zu tun, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen. Das kann viele Gründe haben: weil die Themen verboten sind (wie Kritik an der Religion oder am Staat), weil sie zu den Arcana imperii gehören (in der Diplomatie), weil Geschäftsinteressen berührt sind (im Falle von geheimen Rezepturen oder technischen Erfindungen), oder auch weil religiöse Überzeugungen eine Rolle spielen (im religiösen Separatismus). Grenzfälle sind die Geheimhaltung von Pornografie, die keine Wissenskultur ist, aber in der Aufklärung mit antiklerikaler Kritik und Materialismus vermischt wurde, und das kriminelle Wissen um Verbrechen, das insofern eine Rolle spielen kann, als radikale Intellektuelle schnell kriminalisiert worden sind und etwa der Vorwurf an Atheisten nie weit war, auch Immoralisten zu sein. Ein weiterer Grenzfall ist die Geheimhaltung von Wissen in Geheimgesellschaften, insofern die Geheimhaltung oft gar nicht einmal von der Art des Wissens abhängt, sondern von der Funktion des Geheimnisses für die innere Kohäsion der Sozietät. Wenn es denn sinnvoll ist, von Wissenskulturen und nicht einfach von Wissen zu sprechen, dann liegt der sicherlich darin, dass verschiedene Wissenskulturen verschiedene Muster von Produktions-, Konsumptions- und Zirkulationsstrukturen von Wissen aufweisen. Die Frage, der wir uns also widmen werden, ist die Frage nach diesen Strukturen im Falle des Untergrundes im 18. Jahrhundert. Des Untergrundes? Da wird es schon interessant. Ist der Untergrund zu einer gegebenen Zeit, sagen wir um 1750, einer gewesen oder mehrere? Und die Fragen gehen weiter: wenn es mehrere Unterwelten gegeben hat, ist das dann eher lokal zu verstehen (die Unterwelt Altonas oder Leipzigs), oder funktional auf die verschiedenen Gesellschaftssphären bezogen (die Geheimwelt der Diplomaten, die Unterwelt der Kriminellen, die klandestinen Kontakte der Religionskritiker)? Das Spannende ist natürlich, dass es auf jeden Fall Überlappungen gegeben hat, sowohl räumlicher als auch funktionaler Natur. Robert Darnton hat in seinem Klassiker The Literary Underground of the Old Regime gezeigt, wie im vorrevolutionären Paris Grub Street-Literaten, Spione, Aufklärer und Revolutionäre eine zusammenhängende Kultur bildeten; Margaret Jacob hat aufgedeckt, wie Freimaurer, illegale Drucker und Philosophen in Holland zusammengewirkt haben; und Iain McCalman führt in Radical Underworld ein London um 1800 vor, in dem Jakobiner, Pornografen und die Zeichner von Karikaturen Gruppen bildeten, von denen man etwa rekonstruieren kann, dass sie sich regelmäßig Mittwochs abends in einem bestimmten Pub getroffen haben.2 _____________ 2
Darnton, Robert, The Literary Underground of the Old Regime, Cambridge/Mass. 1982 (dt. Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, München 1985); Jacob, Margaret C., The Radical Enlightenment. Pantheists, Freemasons and Republicans,
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Die Frage nach der Transmission verbotenen Wissens – verboten hier im breiten Sinne von geheim, unschicklich, nicht öffentlich – hat also den Überlappungen nachzuspüren, die in den Wegen der Übermittlung durch die Subkulturen hindurch sichtbar werden. Das lässt das „Wissen“ selbst nicht unberührt: das Argument, Religion sei nur Betrug am Volk durch Priester, die sich damit an der Macht halten wollen, kann in philosophischen Traktaten auftreten, dann in einen pornografischen Roman wandern und schließlich als revolutionäres Flugblatt mit Karikaturen enden. Jedes Mal hat es andere Konnotationen und Auswirkungen. Man könnte hier geradezu den für die Wissenssoziologie von Bruno Latour entwickelten Begriff der „traduction“ heranziehen: dieses Wissen „übersetzt“ sich in den verschiedenen, miteinander verbundenen kulturellen Sphären, es nimmt jeweils eine andere Gestalt und Bedeutungsschattierung an.3 Doch diese Übersetzungs- oder Überführungsproblematik ist bei weitem nicht die einzige, der wir begegnen werden. Eine andere Problematik ist die der Opakheit oder aber Transparenz des Untergrundes für die an ihm Beteiligten. Denn wenn das Wesentliche am Untergrund die Unerkennbarkeit für den Normalbürger ist, wie erkennen dann die Beteiligten, was gemeint ist? Natürlich muss es hier Erkennungszeichen, Codes, Anspielungen geben, die nur für die in-group verständlich sind. Intertextuelle Marker verbinden Geheimtexte mit früheren Geheimtexten, etwa wenn sie das gleiche Motto aus Tacitus oder die gleiche fiktive Ortsbezeichnung wie „Cosmopolis“ oder „Freistadt“ benutzen.4 Vielleicht konnten Gesinnungsgenossen durch bestimmte Marker sogar wissen, wer sich als Autor hinter dem Pamphlet verbarg. Doch sind nicht alle Intellektuelle im Untergrund organisiert gewesen wie eine Mafia-Bande oder eine Geheimgesellschaft. Oft wurden sie durch Verfolgung gezwungen, einen falschen Namen anzunehmen und ihre Texte anonym zu drucken. Dann aber wurde es schwierig, gemeinsame Erkennungsmerkmale auszubilden. So ist etwa der Untergrund der deutschen Radikalaufklärung im frühen 18. Jahrhundert nach meinem Urteil ein wesentlich opaker gewesen: Bestimmte Radikalaufklärer lasen zwar die anonymen Texte von anderen Radikalaufklärern, soweit sie diese ergattern konnten, aber sie wussten oft nicht, von wem sie stammten. Insofern gab es keine strenge Konnektivität zwischen ihnen.5 Ein Theodor Ludwig Lau _____________ 3 4 5
London 1981; McCalman, Iain, Radical Underworld, Prophets, Revolutionaries and Pornographers in London (1795–1840), Cambridge 1988. Latour, Bruno, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996. Vgl. Mulsow, Martin, Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation, Stuttgart 2007, S. 3. Mulsow, Martin, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland (1680– 1720), Hamburg 2002.
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fühlte sich durch die anonyme Apologia pro Vanino in seinen Ansichten bestätigt, wusste aber nicht, dass Peter Friedrich Arpe der Autor war; Arpe sammelte verbotene Schriften – unter anderem diejenigen von Lau –, hatte aber keine Ahnung, welches die unveröffentlichten Schriften von Wachter waren. Johann Georg Wachter wiederum besaß eine Kopie des Symbolum Sapientiae und schrieb diesen Text sogar zu einer neuen Version um, ohne aber zu wissen, wer dessen Autor war – wir wissen es bis heute nicht.6 Auch in diesem Fall können sich Transmissionsbesonderheiten wieder auf das „Wissen“ selbst auswirken. Denn Wissen ist der propositionale Gehalt von Sprechakten, und wenn die ursprünglichen Intentionen dieser Sprech- oder Schreibakte nicht mehr verstanden werden, dann affiziert dies das Verstehen des gesamten Kommunikationsaktes. Als einige Studenten im Bibliotheksschrank des Hamburger Pastors Johann Friedrich Mayer das Manuskript De imposturis religionum fanden, wussten sie nicht mehr, dass es einem Scherz entsprungen war, als ein Freund Mayers sich über dessen Atheistenriecherei lustig machen wollte und kurzerhand den Text erfand, der doch vorgab, mittelalterlich zu sein. Die Studenten witterten echte Mittelalterluft, oder zumindest echten Atheismus, schrieben den Text wie eine Kostbarkeit ab und brachten ihn in Zirkulation.7 Wenn man in Untergrundkreisen solche Zufälligkeiten vermeiden wollte, musste man sich organisieren. Ein erster Schritt dafür waren Namens- und Adressenlisten. So hat Georg Schade 1747 versucht, von Formey, dem Sekretär der Berliner Akademie, Namenslisten der Einsender auf die Monadenpreisfrage zu bekommen, um eine wirkungsvolle pressure group für die unterlegenen Wolffianer aufbauen zu können. Wenn Namenslisten nicht zur Verfügung standen, war man auf mündliche Weiterempfehlungen an vertrauensvolle Personen angewiesen: geh zu diesem, schick Dein Manuskript an jenen, und Dir wird geholfen werden.8 Benutzte man Codeworte, um sich zu erkennen zu geben, so konnten diese Codeworte auch die Persona prägen, die ein klandestiner Autor für sich schaffte. Dieses „self-fashioning“ gilt paradoxerweise einer Öffentlichkeit innerhalb des Untergrundes, zumindest innerhalb der Leserschaft anstößiger Schriften. So war zum Beispiel der Berliner Jurist Christian Ludwig Paalzow ein großer Bewunderer der Schriften des französischen Gelehrten und Radikalen Nicolas Fréret – beziehungsweise der Werke, die unter dessen Namen umliefen und in den Œuvres gedruckt worden waren, _____________ 6 7 8
Zu Arpe und Lau vgl. ebd. S. 34; zu Wachter und dem Symbolum ebd., S. 241ff. Vgl. ebd., S. 143ff. Mulsow, Martin, Monadenlehre. Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft (1747–1760), Hamburg 1998.
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wie des Examen critique des apologistes de la religion chrétienne.9 Zwar ist das Examen gar nicht von Fréret und beweist wieder einmal die Opakheit des Untergrundes, aber das spielt hier gar keine Rolle, denn es geht nur darum, von wem Paalzow annahm, dass er den Text geschrieben habe, also um eine oblique Intentionalität. Die (oblique) Bewunderung für Fréret hat Paalzow dazu veranlasst, in seinem eigenen Werk Hierokles oder Prüfung und Vertheidigung der christlichen Religion, einem fiktiven Gespräch von 1785, Fréret als sein Sprachrohr zu benutzen – also in die Persona Fréret zu schlüpfen.10 In späteren anonymen Veröffentlichungen hat Paalzow dann den Titel dieses Werkes als sein Markenzeichen verwendet und auf sich als den „Verfasser des Hierokles“ angespielt.11 Auf diese Weise wurde die Opakheit des Untergrundes für das interessierte Publikum ein Stückweit aufgehellt, nämlich durch relative Identifizierungen, sogenannte Kennzeichnungen, die gleichwohl nicht zur endgültigen Referenz auf die Person des Autors führten. Man sieht, dass eine Grundkenntnis in philosophischer Semantik nicht schlecht ist, will man sich über die Verweisstrukturen im Untergrund Klarheit verschaffen. Und es schadet auch nicht, Begriffe aus der juristischen Institutionenkunde heranzuziehen, wenn man erkunden möchte, wie denn die klandestinen Autoren selbst ihre Rolle, ihre philosophische Persona, konzipiert haben. Theodor Ludwig Lau beispielsweise hat sich Pufendorfs Unterscheidung mehrerer „personae morales“ in einem Menschen (ich bin Ehemann, Vater, Professor, Eigentümer, Parteimitglied zugleich) so zurechtgelegt, dass er sagen konnte, er spreche zwar in seinen Büchern als heidnischer Philosoph (mit materialistischen Thesen), aber als Privatmann sei er natürlich Christ.12 _____________ 9
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Fréret, Nicolas, Œuvres complètes, ‚London‘ [Paris] 1775, Bd. 1, S. 1-216. Zu Paalzow (1753– 1824) bereite ich einen Aufsatz vor. Zum Examen vgl. Schröder, Winfried, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1998, S. 516f.; Schröder sind auch die Identifizierungen der im Folgenden genannten Werke als Übersetzungen Paalzows zu verdanken (ebd., S. 511). [Paalzow, Christian Ludwig,] Hierokles oder Prüfung und Vertheidigung der christlichen Religion, angestellt von den Herren Michaelis, Semler, Less und Freret, [Halle] 1785. [Paalzow, Christian Ludwig,] Freret über Gott, Religion und Unsterblichkeit. Ein historisch-philosophischer Beytrag zur Geschichte der Meynungen über die genannten Begriffe, und zur liberalen Prüfung des Gehalts derselben. Herausgegeben vom Verfasser des Hierokles, Dessau, Thorn 1794 [=Freret, Lettre de Thrasybule à Leucippe]; [ders.,] Geschichte der menschlichen Ausartung und Verschlimmerung durch das gesellschaftliche Leben […] herausgegeben vom Verfasser des Hierokles, Altona 1795/96 [=Holbach, Système social]; [ders.,] Geschichte der religiösen Grausamkeit, ein nothwendiger Beytrag zur philosophischen Geschichte des Aberglaubens und zur Geschichte der menschlichen Verschlimmerung durch das gesellschaftliche Leben, vom Verfasser des Hierokles, ‚Cölln‘ [Altona] 1796 [=Holbach, La cruauté religieuse]; [ders.,] Philosophische Geschichte des Aberglaubens, herausgegeben von dem Verfasser des Hierokles, ‚Cölln‘ [Altona] 1796 [=Holbach, Contagion sacrée]. Mulsow, Martin, „The Libertine’s Two Bodies. Moral Persona and Freethought in early Modern Europe“, in: Intellectual History Review, 18/2008 [in Vorber.].
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Man sieht, der Untergrund ist auf eine ganze Reihe von ad hocKonstruktionen angewiesen, um sich seine Nische zu sichern. Das mutet dann zuweilen wie ein großes Verwirrspiel an, bei dem die Beteiligten nicht weniger verwirrt sind als die Verfolger. Im Gegenteil, zuweilen sahen die Verfolger – das ist nicht nur die Polizei, das sind vor allem auch die orthodoxen Theologen mit ihren Journalen und Freidenker-Lexika – auch klarer als die Beteiligten, und zum Teil sahen sie auch zu klar. Denn wir haben neben dem opaken Untergrund der versprengten radikalen Einzelkämpfer und dem funktionierenden Untergrund der Geheimgesellschaften (etwa der Illuminaten) auch noch den konstruierten Untergrund zu bedenken, der das Produkt der Verfolger ist. In den Kompendien eines Reimmann, Vogt oder Trinius tritt uns ein Bild entgegen, das große Kohärenz suggeriert. Da gibt es eine Gruppe von Atheisten und Spinozisten, gefährlichem Gesindel, die einander unterstützt und deren Schriften man auflisten kann. Diese Wahrnehmung der Gegner macht aus einem oft diffusen und vieldimensionalen Phänomen ein klares Feindbild und suggeriert eine Einheitlichkeit, die es nie gab.13 Eine noch recht unerforschte Angelegenheit – die mit diesem Problem zusammenhängt – ist das Ausmaß und die Qualität der Wechselwirkung zwischen Untergrund und aufklärerischem mainstream in Deutschland. Das Wissen im Untergrund war natürlich teilweise abhängig vom öffentlich zugänglichen Wissen; es war in vieler Hinsicht parasitär, drehte Argumente um, bediente sich gelehrter Forschung, um sie in atheistische Richtungen zu interpretieren. Umgekehrt sind zweifellos Argumente aus klandestinem Wissen in die breitere Aufklärung eingedrungen. Doch erst wenn wir genauer verstehen, welche verbotenen Schriften ein Thomasius, ein Lessing, ein Reimarus in Händen hatten und wie sie mit ihnen umgegangen sind, können wir besser abschätzen, was sie dem Untergrund verdanken. Ich möchte mich im Folgenden mit drei Themenkreisen etwas genauer beschäftigen, die mir von den vielen hier angedeuteten Fragen die interessantesten zu sein scheinen. Der erste Themenkreis ist die Überlagerung freidenkerischer und spiritualistischer Netzwerke im frühen 18. Jahrhundert, oder die parasitäre Nutzung von Spiritualistennetzwerken durch Freidenker. Der zweite Themenkreis ist das Problem des Clandestina-Schwarzmarktes in Deutschland. Wie kam man an verbotene Manuskripte, wenn man sich für sie interessierte? Gab es professionelle Händler? War dieser Schwarzmarkt mit dem Untergrund-Buchmarkt für nicht autorisierte Drucke verbunden? Wie gingen Intellektuelle, die an verbotene Texte kamen, mit diesen um? Was waren also ihre Aneignungsweisen? Der dritte Themenkreis schließlich ist die Transmission von verbotenen Schriften über Ge_____________ 13
Vgl. Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik, S. 233ff.
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nerationen hinweg. Hier werde ich eine Weise von Aufklärungsforschung vorschlagen, die an einem begrenzten Ort, in einer spezifischen Wissenskultur, die Manuskriptwege über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgt. Das Thema variiert also das Problem der Zirkulation von der Räumlichkeit unter den Bedingungen der Gleichzeitigkeit auf die Zeitfolge unter den Bedingungen der Gleichräumlichkeit. Da kann es keine direkten Handels- oder Austauschbeziehungen mehr geben, sondern hier sind Prozesse des Aufkaufens von Erbschaften, des Sammelns und Konfiszierens zu beobachten, die auch nicht intendierte und nicht kontrollierbare Prozesse der Transmission einschließen. 2. Netzwerke von Spiritualisten als Kommunikationswege für Freidenker Der Untergrund im Deutschland des 18. Jahrhunderts hat seine eigene Geografie. Diese ist zunächst eine Folge des Westfälischen Friedens von 1648. Die Zersplitterung Deutschlands in lauter Einzelterritorien hatte zur Folge, dass auf einigen wenigen Inseln auf der Landkarte der Untergrund der Obergrund ist: etwa in Berleburg, Neuwied, Wertheim oder Altona. Oft hatte die Toleranz an diesen Orten ökonomische Wurzeln, da etwa die Wittgensteinschen Lande in der Wetterau strukturschwach und bevölkerungsarm waren und Zuzug brauchten, oder das dänische Altona als Parasit vor den Toren Hamburgs an dessen Handel teilhaben wollte. Dann ließ man es zu, dass Mennoniten, Juden, Sozinianer oder wer auch immer in die Stadt zog; man fragte nicht nach, woran der einzelne glaubte. Zuweilen kam es aber auch dazu, dass ein Fürst selbst sich für radikalen Spiritualismus oder für Wolffsche Aufklärung begeisterte. Was auch immer der Grund war: Auf solchen Inseln konnten unbequeme Intellektuelle Zuflucht finden. Doch spätestens dann, wenn Reichsrecht geltend gemacht wurde und ein Mann wie Edelmann oder Schmidt auf kaiserlichen Befehl zu verhaften war, half das Inseldasein auch nicht mehr, und die Denker mussten in den „echten“ Untergrund abtauchen: so wie Edelmann 1746 im Abschied aus Neuwied.14 Welche Wege konnten die Verfolgten dann nehmen, wer bot ihnen Unterschlupf? Das Interessante, das sich an diesen seltenen Ernstfällen beobachten lässt, ist der Umstand, dass sich Unterwelten offenbar tatsächlich überlappen. Radikale Intellektuelle konnten sich zuweilen auf Sympathisanten-Netzwerke verlassen, die nicht diejenigen waren, zu denen sie unmittelbar gehörten. Ich will zwei Beispiele nennen. Das erste betrifft das Kommu_____________ 14
Vgl. Spalding, Paul, Seize the Book, Jail the Author. Johann Lorenz Schmidt and Censorship in EighteenthCentury Germany, West Lafayette/Ind. 1998; Schaper, Annegret, Ein langer Abschied vom Christentum. Johann Christian Edelmann (1698–1767) und die deutsche Frühaufklärung, Marburg 1996.
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nikationsnetz, das der sogenannte radikale Pietismus ausgebildet hatte; das zweite dasjenige, das Anhänger der Wolffschen Philosophie pflegten. Johann Christian Edelmann, der sich in mehreren Schüben vom Lutheraner und dann Pietisten zum Radikalpietisten Arnoldscher Prägung (1732) und dann zum Pantheisten und Spinozisten (1739) entwickelt hat, konnte sich Zeit seines Lebens – vor allem aber in den 1730er und 40er Jahren – der Unterstützung von Sympathisanten bedienen, wo immer er auch lebte. Das ist ein erstaunliches Phänomen und verdient nähere Betrachtung. Zunächst ist es ein typisches Phänomen des spiritualistischen Untergrundes. Wenn man die Aktivitäten etwa eines Friedrich Breckling beobachtet, wird schnell klar, wie eng geknüpft und gut organisiert das Netz der religiösen Separatisten in Deutschland, Holland und Dänemark war. Sicherlich, man hatte eng zusammenzuhalten und Freunde an die Adresse wiederum von Freunden zu empfehlen, wenn man denn überhaupt als Kirchenunabhängige weiterexistieren wollte. Besonders interessant sind aber in diesem Netz solche Separatisten, die nicht wie Breckling nach Holland ausgewandert waren, sondern als Nikodemiten unerkannt in Deutschland ein bürgerliches Leben führten. Das praktizierten etwa die Engelsbrüder oder Gichtelianer, eine Sekte, die sich aus Handwerker- und Bürgerschichten rekrutierte und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreitet ihre unsichtbaren Anhänger hatte. Solche Engelsbrüder unterstützten Edelmann zum Beispiel in seiner Dresdner Zeit in den 1730er Jahren: ein Medailleur im Hofdienst namens Großkurth gab sich als Gichtelianer zu erkennen und war dem radikalen Intellektuellen zu Diensten.15 Wie aber wurde man aufeinander aufmerksam, wo doch jeder nach außen hin den rechtgläubigen Lutheraner spielte? Eine Möglichkeit, die in diesem Fall die Realität war, bestand darin, in Buchhandlungen und bei Auktionen zu bemerken, dass der jeweils andere auch an abgelegenen Schriften, an Ketzerwerken und verbotenen Büchern interessiert war. Ich werde später noch auf dieses Milieu eingehen. Hier sei nur soviel gesagt, dass wechselseitige Offenbarungen der echten Meinungen immer hochgefährlich waren, und dass es oft eines Affentanzes an komplizierter Annäherung bedurfte, bevor man sich die Wahrheit sagte. Allein aus Edelmanns Autobiografie wäre ein ganzes Netz von Sympathisanten dieser Art zu destillieren.16 Was wir nur machen müssen, ist den Spuren dieser Sympathisanten näher nachzugehen. Dann können wir zuweilen Regelmäßigkeiten erkennen, die über den Einzelfall hinaus_____________ 15 16
Vgl. Schaper, Ein langer Abschied vom Christentum, S. 122-129. Zu den Engelsbrüdern vgl. Seidel, J. Jürgen, Baron von Campagne und die Gichtelianer in der Schweiz, Zürich 2006. Edelmann, Johann Christian, Selbstbiographie [1849], Carl Rudolph Wilhelm Klose (Hrsg.), ND Stuttgart 1976 (Sämtliche Schriften, Bd. 12). Ich danke Hermann Stockinger für seine Hilfe bei meinen Recherchen über Edelmann.
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gehen. So wissen wir zum Beispiel, dass die Familie Sand in Liebenburg bei Goslar nicht nur 1746 Edelmann kurzzeitig aufgenommen hat, als dieser reichsrechtlich gesucht, aus Neuwied geflohen war, sondern 1729 auch schon Johann Konrad Dippel beherbergte.17 Dippel nennt Sand damals einen „Freund der […] unpartheyischen Wahrheit“.18 In Braunschweig galt seit 1692 ein Antipietistenedikt, aber das bedeutete natürlich nicht, dass in dieser Gegend nicht auch eine Reihe von nikodemitischen Separatisten wohnten. Wenn wir näheren Aufschluss über viele Familien aus solchen Separatistenkreisen gefunden haben, können wir jene Methode anwenden, die Holger Zaunstöck für die Erforschung der Sozietäten des mitteldeutschen Raumes entwickelt hat: so wie Zaunstöck auf Mehrfachmitgliedschaften achtet, um „Sozietätskarrieren“ identifizieren zu können, so können wir auch wie im Fall der Familie Sand Mehrfachkontakte nachzuweisen versuchen, und damit ihr Profil besser bestimmen.19 Im besten Fall wird es dann gelingen, eine echte Landkarte der Sympathisanten und Kontaktpunkte zu erstellen, sozusagen in einer historischen Art von Rasterfahndung. Das gilt nicht nur für die Grauzone zwischen Separatismus und Freidenkerei, es gilt auch für die Grauzone zwischen Wolffianismus und Freidenkerei. Die Personen, die hier eine Rolle spielen, sind noch sehr viel respektabler als die mittelständischen Engelsbrüder. Wenn wir uns den von Paul Spalding bravourös rekonstruierten Fluchtweg Johann Lorenz Schmidts – des reichsrechtlich gesuchten Wertheimer Bibelübersetzers – ansehen, als dieser 1738 von Wertheim über Fürth, Bayreuth, Leipzig und Helmstedt nach Altona floh, dann erkennen wir auch hier, dass ein Netzwerk benutzt wurde, das nicht das Schmidts war, sondern unabhängig von ihm bestand. In diesem Fall war es das Netzwerk der „Deutschen Gesellschaft“ – alles hoch angesehene, respektable Personen, wie Johann Friedrich May in Leipzig und vielleicht auch Johann Lorenz Mosheim in Helmstedt. Diese Gesellschaft stand einem liberalen Wolffianismus nahe, und daher ließ sie sich zu der erstaunlichen illegalen Tätigkeit bringen, einen kaiserlich gesuchten Flüchtling zu decken.20 _____________ 17 18 19 20
Vgl. Schaper, Ein langer Abschied vom Christentum, S. 179, nach Pratje, Johann Heinrich, Historische Nachrichten von Johann Christian Edelmanns Leben, Schriften und Lehrbegriff, wie auch von den Schriften, die für und wider ihn geschrieben worden, Hamburg 1749, S. 31. Zitiert von Voss, Karl-Ludwig, Christianus Democritus. Das Menschenbild bei Johann Conrad Dippel. Ein Beispiel christlicher Anthropologie zwischen Pietismus und Aufklärung, Leiden 1970, S. 60, nach der Akte D 49 im Archiv Wittgenstein Laasphe. Zaunstöck, Holger, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999. Spalding, Paul, „Im Untergrund der Aufklärung. Johann Lorenz Schmidt auf der Flucht“, in: Erich Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 4: Deutsche Aufklärung, Köln 1997, S. 135-154; ders., Seize the Book, Jail the Author. Zur Kritik an Spaldings Rekonstruktion vgl. Döring, Detlef, „Beiträge zur Geschichte der Alethophi-
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Welchen Fall auch immer man nimmt: es ist höchst signifikant, welches Netzwerk in jedem Fall den Untergrund für einen Freidenker konstituiert. Es kann dabei auch durchaus einen Wandel der Sympathisantenkreise geben: im Falle Edelmanns ist eine deutliche Verschiebung von Religiösen zu Medizinern zu beobachten. In Altona waren es vor allem die freidenkenden Mediziner Kunard, Lossau und Schmidt, die ihn unterstützt haben. Aber ich möchte ein viel allgemeineres Phänomen ansprechen, etwas, das ich in Anlehnung an Habermas’ ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ den ‚Strukturwandel des Untergrundes‘ im Laufe des 18. Jahrhunderts nennen möchte. Annegret Schaper hat für den Fall der Engelsbrüder einmal von einem „soziologische[n] Vorbote[n] oder [einer] Vorform des Freimaurertums“ gesprochen.21 Auch hier war eine Innenwelt in der Gesellschaft geschaffen. In der Tat sieht man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Radikale – wie Bahrdt oder Bode – sich durch die Netzwerke von Freimauern oder Geheimgesellschaften bewegen, nicht mehr durch die nikodemitischer Spiritualisten. Manche der Praktiken, nicht nur dissimulativer Art, sondern auch der inneren Organisation, sind dabei aber ähnlich geblieben. Hermetische Vorlieben wandern aus dem Radikalpietismus in die Freimauerei. Fritz Mauthner hat daher die These vom pietistischen Ursprung des deutschen Radikalismus vertreten – doch das ist irreführend und auch nicht angemessen.22 Denn entscheidend scheint mir zu sein, die Oppositionskreise im Blick einer „longue durée“ unabhängig von ihren doktrinären Gehalten und statt dessen in ihrer strukturellen Aufeinanderfolge zu sehen. Antiklerikalismus, Obrigkeitskritik und Separation nehmen im 16., 17. und 18. Jahrhundert jeweils unterschiedliche Formen an und sprechen unterschiedliche Sprachen. Wenn man die sogenannten „Weigelianer“ in Nürnberg um 1620 betrachtet, oder die sogenannten „Sozinianer“ in Altdorf etwas früher, so verbergen sich hinter diesen religiös spezifischen Titeln oft Gruppen oppositioneller Handwerker und Gelehrter, die vor allem auf das Recht auf eine eigene Meinung in Glaubenssachen pochten.23 Wie diese Meinung dann genau aussah, war höchst unterschiedlich, doch das tat dem Zusammenhalt solcher Oppositionskreise keinen Abbruch. Soziale Kohäsion ist nicht gleich intellektueller Kohäsion. Wer 1620 Weigelianer war, wäre 1720 vielleicht Freidenker gewesen. _____________
21 22 23
len in Leipzig“, in: ders./Kurt Nowack (Hrsg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1720), Teil 1, Stuttgart, Leipzig 2000, S. 95-150. Zur Grauzone zwischen Wolffianismus und Radikalaufklärung auch Mulsow, Martin, Freidenker im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig (1740–1745), Göttingen 2007. Schaper, Ein langer Abschied vom Christentum, S. 129. Mauthner, Fritz, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. 3, Berlin 1922. Zu den Nürnberger Weigelianern vgl. Wollgast, Siegfried, Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung (1550–1650), 2. Aufl., Berlin 1993, S. 584ff.; zum Sozinianismus in Altdorf ebd., S. 366ff.
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Welche Folgerungen sind aus dieser Beobachtung zu ziehen? Zumindest doch die, dass Untergrundforschung langfristige Strukturen und deren allmählichen Wandel zu beachten hat, und dass sie transdisziplinär sein muss. Es gibt nicht einfach den Untergrund der Pietismusforschung, den Untergrund der philosophischen Clandestina-Forschung, den Untergrund der Sozialhistoriker und den Untergrund der Alchemie- oder Diplomatiegeschichte. Die interessanten Phänomene haben sich oft bei den Überlappungen abgespielt, wenn unabhängige Intellektuelle darauf angewiesen waren, parasitär ein existierendes Netzwerk zu nutzen. Man sieht solche Phänomene etwa auch, wenn bei Rettungsaktionen hugenottischer Glaubensflüchtlinge aus Frankreich zugleich das eine oder andere religionskritische Manuskript mit nach Deutschland gespült wird, weil der Diplomat eben zugleich auch Büchersammler war24, oder wenn der Freidenker Dippel mit Medizinerkollegen nicht nur geheime Rezepturen der Farbe Blau austauscht, sondern zugleich auch hermetische Manuskripte.25 Welche Disziplin soll sich da zuständig fühlen? Die Exilforschung, die Chemiegeschichte, die Buchgeschichte? Offenbar kann nur eine Untergrundforschung fruchtbar und perspektivenreich sein, die alle diese Disziplinen umfasst – und verbindet. Peter Burke hat vor einigen Jahren in einem Aufsatz mit dem Titel „A Map of the Underground“ erstmals unter einem einzigen Blick die verschiedenen Felder benannt, in denen klandestine Kommunikation stattfand.26 Ich würde diesen Zugriff gern dynamisieren und als Forschungsaufgabe für eine künftige integrierte Untergrundforschung formulieren: Es ist eine Forschung, in der Zensurforschung, Buchgeschichte, Sozialgeschichte, Esoterikforschung, Pietismusforschung und Clandestina-Forschung zusammenarbeiten. 3. Der Clandestina-Schwarzmarkt – Verleger und Händler für Verbotenes Doch nach so großen Plänen wieder zurück zur historischen Kleinarbeit. Bei einer Rasterfahndung von Untergrund- und Sympathisantennetzwerken mag auch die Struktur des Schwarzhandels mit verbotenen Schriften etwas mehr Aufhellung finden, die bisher für Deutschland noch sehr im _____________ 24
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Mulsow, Martin, Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739), Tübingen 2001, S. 19-22; ders., Die unanständige Gelehrtenrepublik, S. 235f. Vgl. zur Grauzone zwischen Diplomatie, Spionage und Gelehrsamkeit auch Lewis, Lesley, Connoisseurs and Secret Agents in Eighteenth-Century Rome, London 1961. Zu Dippel vgl. Voss, Christianus Democritus. Burke, Peter, „A Map of the Underground. Clandestine Communication in Early Modern Europe“, in: Günter Gawlick/Friedrich Niewöhner (Hrsg.), Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres, Wiesbaden 1986, S. 186-200.
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Dunkeln liegt. Die Buchhandelsgeschichte kennt immerhin einschlägige Drucker wie den Verleger Groß und seine Geheimdruckerei in Büdingen bei Frankfurt, die Separatistenschriften druckte, den Drucker Haug in Neuwied um 1740, oder den Verlag von Christian Konrad Krieger in Gießen um 1790, der in Kontakt zu Bahrdts „Deutscher Union“ und ihren Projekten stand.27 Wenn man zu solchen Druckern in Beziehung trat, tat man das oft zur Sicherheit in Stafetten und über Mittelsmänner. So schickt Edelmann seine Manuskripte erst an einen Buchhändler namens Walther in Leipzig, der sie seinerseits an Groß weiterleitet. Oder man schickte sein brisantes Manuskript sozusagen blind (und anonym) an einen Verleger, von dem man wusste, dass er schon einmal „gefährliche“ Schriften gedruckt hatte. So bekam etwa der Hallesche Verleger Johann Jakob Gebauer, der Bahrdt und andere Freigeister gedruckt hatte, entsprechende Angebote. Hans-Joachim Kertscher hat einen Brief von einem Deutschen aus Paris vom Ende der 1770er Jahre gefunden, der Gebauer bat, sein Manuskript Der Antichrist aus Paris. Beweis der Schädlichkeit des Christentums und mathematischer Erweis seiner Falschheit zu drucken. Dazu ist es nicht gekommen, und so verlieren sich die Spuren dieses Deutschen wie so viele andere Spuren auch im Dunkeln.28 Nehmen wir, um die komplexen Interaktionen von Doppelexistenz, Persona-Bildung und Verlagskontakte im Zusammenhang zu sehen, ein Beispiel aus dem Berlin der 1780er und 90er Jahre. Es war das Berlin vor und nach dem Wöllnerschen Religionsedikt von 1788, vor und nach der französischen Revolution. In diesem Berlin lebte der schon genannte Kriminalrat am kurmärkischen Kammergericht Christian Ludwig Paalzow. In seiner Dr. Jekyll-Existenz übersetzte er neben seiner Beamtentätigkeit _____________ 27
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Vgl. Schrader, Hans-Jürgen, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, Göttingen 1989; Haug, Christiane, „‚Schlimme Bücher, so im Verborgenen herumgehn, thun mehr schaden als die im öffentlichen Laden liegen…‘ Literarische Konspiration und Geheimliteratur in Deutschland zur Zeit der Aufklärung“, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, 11/2001, 2, S. 11-63; dies., „‚Die kleinen französischen Schriften gehen zur Zeit ungleich stärker als andere aber solide Werke…‘ Der Buchhändler Johann Georg Esslinger (1710– 1775) in Frankfurt am Main und sein Handel mit Geheimliteratur“, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 4/2002, S. 104-135; dies., „Das Verlagsunternehmen Krieger (1725–1825). Die Bedeutung des Buchhändlers, Verlegers und Leihbibliothekars Johann Christian Konrad Krieger für die Entstehung eines Buchmarktes und einer Lesekultur in Hessen um 1800“, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens, 49/1998, S. 97-262. Ich danke Herrn Kertscher für die mündliche Mitteilung. Zu Gebauer vgl. Kertscher, Hans-Joachim, „Ein hallescher Verleger mit naturwissenschaftlichen Ambitionen, Johann Jakob Gebauer“, in: ders., Literatur und Kultur in Halle im Zeitalter der Aufklärung, Hamburg 2007, S. 339-357. Bei dem Verfasser könnte es sich um einen ähnlichen Fall wie den Preußen Johann Baptist Cloots handeln, der sich Mitte und Ende der 1770er Jahre in Paris aufhielt, dort in den Zirkeln von Voltaire und Rousseau verkehrte und sich massiv gegen die christliche Religion wandte. Cloots allerdings bevorzugte Französisch als die Sprache, in der er sich ausdrückte.
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französische Prozessliteratur und veröffentlichte juristische Kommentare oder Glossen zu Zeitfragen. Ein besonders sympathischer Zeitgenosse war er nicht, denn er schrieb übel gegen die Juden. Aber Paalzow besaß auch eine Mr. Hyde-Existenz.29 In ihr legte er die Prozessliteratur beiseite und zog darunter andere französische Texte hervor, die mit den offiziellen Schriften nicht zu tun hatten. 1788, im Jahr des Religionsedikts, übersetzte er – mit einiger Wahrscheinlichkeit – das schon genannte Examen critique des apologistes de la religion chrétienne, ein klandestines antichristliches Manuskript.30 1794 folgte eine Übersetzung der ebenso klandestinen und Fréret zugeschriebenen Lettre de Thrasybule à Leucippe, 1795/96 Holbachs Système de la nature in deutsch, 1796 eine Übersetzung von Holbachs Contagion sacrée, das seinerseits eine Atheisierung von John Trenchards A Natural History of Superstition von 1709 gewesen war, und 1800 eine deutsche Fassung von Holbachs La cruauté religieuse.31 All diese Texte erschienen ohne seinen Namen. Ob die Publikation der deutschen Fassung des Traité des trois imposteurs von 1788 auf Paalzows Initiative zurückgeht, oder die deutsche RadicatiÜbersetzung Jesus und Lykurg von 1785, wissen wir nicht.32 In seinen eigenen radikalen Schriften, aber auch als Übersetzer, tritt Paalzow nach dem ersten Buch von 1785 unter dem schon erwähnten Label „der Verfasser des Hierokles“ auf. Paalzow gehört zu einer Berliner Intellektuellenszenerie, in der vor allem Juristen und Verwaltungsbeamte wirkten, teilweise der Mittwochsgesellschaft und Ernst Ferdinand Klein nahestehend, Männer wie Goßler und Carmer. Wie weit er in den 1790er Jahren den Französischen Jakobiner nahestand, ist noch nicht ausgemacht, ebenso wie noch zu klären ist, ob er Kontakt zu anderen preußischen Radikalaufklärern wie Andreas Riem oder Johann Heinrich Schulz hatte.33 Viel wissen wir bisher nicht. _____________ 29 30
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[Paalzow, Christian Ludwig,] Helm und Schild. Gespräche über das Bürgerrecht der Juden, Berlin 1817. Kritische Prüfung der Beweise der christlichen Religion. Aus dem Französischen, ‚Amsterdam‘ 1788. Allerdings fehlt hier Paalzows Label „herausgegeben von dem Verfasser des Hierokles“. Daher kann das Werk auch von jemand anderem übersetzt sein. Zum Examen vgl. Schröder, Ursprünge des Atheismus, S. 516f. Vgl. oben Anm. 11. Spinoza II. oder Subiroth Sopim. Rom, bey der Witwe Bona Spes. 5770 gedruckt [Berlin, ca. 1788 =Traité des trois imposteurs]; dazu Schröder, Ursprünge des Atheismus, S. 460. Die Übersetzung stammt schon von 1745, aber Paalzow könnte den Druck vermittelt haben. Stammen könnte die Übersetzung von Edelmann, der in diesen Jahren auch das Symbolum Sapientiae und den lateinischen Betrügertraktat übersetzte (vgl. unten Anm. 45), doch das ist reine Spekulation. – Jesus und Lykurg, Zwei Gemählde von Lucius Sempronius Nepytho zur Vergleichung gegen einander aufgestellt in einem Schreiben an den Kaiser Trajan, ‚Christonopel‘ [Berlin] o. J. [aus: Radicati, Alberto, Recueil des pièces curieuses, London 1749]. Zur Mittwochsgesellschaft vgl. jetzt Haberkern, Ernst, Limitierte Aufklärung. Die protestantische Spätaufklärung in Preußen am Beispiel der Berliner Mittwochsgesellschaft, Marburg 2005. Zu Riem vgl. Welker, Karl H. L. (Hrsg.), Andreas Riem. Ein Europäer aus der Pfalz, Stuttgart
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An anderen Orten in Deutschland, vor allem im Südwesten, waren es ebenfalls hohe Verwaltungsbeamte wie der Speyersche Hofrat und Kammerprokurator Erhard von Leth, die heimlich Holbach übersetzten. Diese Jakobiner veröffentlichten im Verlag von Diederich Gottfried Leberecht Vollmer erst in Dessau, dann, nachdem Vollmer dort verhaftet worden war, in Altona. Vollmer setzte als Verlagsangabe auf seine Bücher den Namen „Peter Hammer“. Das war eine nette, verdeutschte Anspielung auf das Verlagshaus „Pierre Marteau“, das es nie gegeben hat, sondern das im frühen 18. Jahrhundert die berühmteste Scheinadresse für illegale Drucker an verschiedensten Orten gewesen ist. Auch hier operiert der Untergrund wieder mit „Markern“, um sich zu identifizieren.34 Nachdem Paalzow in den achtziger Jahren bei Gebauer und in den neunziger Jahren bei Vollmer seine anonymen Schriften hatte unterbringen können, wechselte er für seine späte Veröffentlichung Synesius 1817 zu einem Verleger in Lemgo. „Gebauer in Halle würde es sehr gern verlegt haben“, schreibt er nach Lemgo, ich habe aber mit der dortigen theologischen Fakultät schon öfters einen Lärm gehabt, und in Berlin habe ich Bedenken getragen, es unterzubringen, weil ich gar zu leicht als Verf: entdekt werde, welches ich, wenigstens nicht gleich bei der Erscheinung, zu seyn wünschte [...].35
Doch auch mit dem Beispiel Paalzow sind wir noch nicht am für uns dunkelsten Punkt angekommen, dem des Clandestina-Schwarzmarktes. Welches waren die Schaltstellen, an die man sich wenden konnte, wenn man an verbotene intellektuelle Ware kommen wollte? Darüber wissen wir sehr wenig. Ich will aber immerhin einen Fall nennen, wieder aus dem Umfeld von Edelmann. Es handelt sich um einen nach außen ganz braven Auktionator: Georg Christoph Kreyssig, 1697 geboren, ein unauffälliger Regionalhistoriker in Dresden. Er handelte hauptberuflich mit Büchern. Aber Kreyssig hatte auch, wie Paalzow, ein Doppelleben. Er war offenbar insgeheim Gichtelianer oder in anderer Weise ein radikaler Separatist und freigeistiger Kopf. Er hatte Edelmann kennengelernt und war bereit, ihn mit Bücher- und Manuskriptbeschaffung bedingungslos zu unterstützen. Edelmann brauchte nur eine Wunschliste zu schicken, und Kreyssig gelang _____________ 34
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1999, S. 61-77; zu Schulz vgl. Geismar, Martin von [=Edgar Bauer] (Hrsg.), Bibliothek der deutschen Aufklärer, Heft 3, Leipzig 1846. Vgl. Walther, Karl Klaus, Die deutschsprachige Verlagsproduktion von Pierre Marteau/Peter Hammer, Köln, Leipzig 1983. Vollmer war als Verleger des Jakobiners Georg Friedrich Rebmann 1796 verhaftet worden und nach seiner Freilassung nach Altona übergesiedelt. 1798 ging er nach Mainz. Paalzow an unbekannt (wahrscheinlich die Meyersche Hofbuchhandlung in Lemgo, bei der das Buch erschien), 1817, im Besitz des Verfassers. Vgl. Paalzow, Synesius oder historisch-philosophischer Versuch über Katholicismus und Protestantismus und ihre Verhältnisse gegen Fürsten und Staaten, Lemgo 1818.
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es in kurzer Zeit, so seltene klandestine Werke wie das Symbolum Sapientiae, den Esprit de Spinoza oder den Muthianus de Bath in Abschriften zu beschaffen.36 Wie war das möglich? Nun, vor allem wohl durch Kreyssigs gute Beziehungen zu adeligen Büchersammlern, vor allem zu Johann August von Ponickau, die es mit größeren Geldsummen möglich machten, an Abschriften zu kommen.37 Ponickau d. J. war zur Zeit von Kreyssigs Buchbeschaffungen für Edelmann – in den Jahren um 1745 – 27 Jahre alt und eifrig dabei, sich rare Texte zu verschaffen.38 Er war tief beeinflusst von Ernst von Manteuffel, dem Patron der Wolffianischen Gruppierung der „Alethophilen“. So kann man sich vorstellen, wie Kreyssig und Ponickau in den Hinterzimmern von Kreyssigs Auktionsstube oder an den Regalen von Ponickaus Bibliothek Pläne geschmiedet haben, wie sich das eine oder andere klandestine Manuskript auftreiben ließe. Als Speisekarte für die Begierde dienten oftmals Reimmanns Kataloge atheistischer „Monstrositäten“, die Historia universalis atheismi oder der Catalogus Bibliothecae theologicae.39 Kreyssig schickte die Kopie der heißen Ware dann zu Johann Friedrich Richter in Leipzig – auch er als Schwiegervater von Johann Heinrich Zedler ideal in der Bücherwelt positioniert – und von dort aus ging sie weiter an Edelmann im Westerwald. Wieder eine Stafette also, über mehrere Stationen. Oder Kreyssig machte, wie im Fall des Symbolum Sapientiae, Skizzen der Gliederung und der Argumente für Edelmann, damit dieser sie mit seinem eigenen Exemplar des Textes vergleichen konnte.40 Wir sollten das Muster genau notieren, das auch in diesem Fall offenbar wird: die Transmission verbotenen Wissens im Deutschland des 18. Jahrhunderts bedurfte des Zusammenspiels von mindestens drei Komponenten: eines Freidenker-Sympathisanten, eines Adeligen oder finanzstarken Bürgers, und der Listen, die von orthodoxen Theologen gemacht wurden. Besonders die dritte Komponente ist interessant: indem der Untergrund, wie ich vorhin schon angedeutet habe, in gewisser Weise von seinen orthodoxen Nachstellern erst konstituiert wurde, konnten Freidenker diese _____________ 36 37 38 39
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Vgl. Edelmann, Johann Christian, Sechs Briefe an Georg Christoph Kreyssig, Philipp Strauch (Hrsg.), Halle 1918. Zu den Texten vgl. Schröder, Ursprünge des Atheismus. Vgl. Strauchs Einleitung zu den Sechs Briefen, S. 5f., über die Kontakte zwischen Edelmann und Ponickau einerseits und die Tatsache andererseits, dass die Briefe an Kreyssig in Ponickaus Bibliothek landeten. Henning, Marie-Christine, Johann August von Ponickau. Geschichte einer Gelehrtenbibliothek, Hildesheim 2002. Reimmann, Jakob Friedrich, Historia universalis atheismi et atheorum falso et merito suspectorum, Hildesheim 1725; ders., Catalogus bibliothecae theologicae systematico-criticus, Hildesheim 1731, erweitert 1741. Vgl. Edelmann, Sechs Briefe an Georg Christoph Kreyssig, etwa S. 9. Zu Reimmann vgl. Mulsow, Martin / Zedelmaier, Helmut (Hrsg.), Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743), Tübingen 1998. Edelmann, Sechs Briefe, S. 12.
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Die Transmission verbotenen Wissens
„Pläne des Untergrunds“ in den Atheismus-Kompendien benutzen, um ihre eigene Opakheit zu mindern, um besser zu wissen, wonach sie suchen mussten.41 Eine paradoxe Situation. Aber auch die zweite Komponente konnte paradox sein: da verbotene Texte teuer waren, waren oft nur die reichen Sammler in der Lage, sich Abschriften zu verschaffen. Die Sammler waren aber oftmals orthodoxe Gelehrte oder zumindest indifferente Adelige, die mehr darauf aus waren, Rarissima zu besitzen, als dass sie die religionskritischen Texte lesen und deren Argumente sich zu eigen machen wollten. Doch über diese Sammlungen gelangten die Clandestina wieder zurück in die Freidenkerszene, dann nämlich, wenn es Kontaktmänner wie Kreyssig im Falle von Ponickau gab, die Abschriften aus den Sammlungen machen konnten. Edelmann hat denn auch gespottet, dass Gott den vermeynten Saamen des höllischen Unkrauts durch seine unerforschliche Weißheit von ihren eigenen Feinden von Zeit zu Zeit vor theuer Geld aufkauffen und (…) aufs sorgfältgste von ihnen hat bewahren lassen“42
Diese Beobachtung sagt uns sehr viel über den Untergrund: obwohl der Untergrund gerade in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weitgehend opak und fragmentiert war, gab es Mechanismen, die es erlaubten, dass sich dieser Untergrund reproduzierte, dass also eine Transmission erfolgte. Wir haben diese Transmission bisher in ihrer synchronen Dimension beobachtet, in Schwarzmärkten und bei Geheimdruckern. Im letzten Teil des Vortrages möchte ich sie jetzt in diachroner Hinsicht betrachten, als Transmission über längere Zeiten hinweg. 4. Aufklärungsforschung als Verfolgen von Manuskriptwegen Diachrone Transmission ist ein Fall von kultureller Reproduktion. Die ist im allgemeinen sichergestellt durch das Bildungssystem. Schüler, Lehrlinge und Studenten werden in das eingeführt, was die Generation vor ihnen an Wissen erworben hat. Doch Freidenker oder Separatisten können keine Schüler im normalen Sinne haben. Sie kommen in keine Universitätsstellung, sie erhalten keine Pastorenposten. Damit ist die Möglichkeit für ihre kulturelle Reproduktion weitgehend beschnitten. Haben die Radikalen in Deutschland trotzdem so etwas wie eine Tradition ausbilden können? Wenn wir uns die Biografien ansehen, wird die erste Antwort sein: nein. In fast allen Fällen beginnen die Lebenswege solcher Personen orthodox, _____________ 41 42
Vgl. mit Bezug auf Anonymen- und Pseudonymenkataloge als „Wegweiser“: Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik, S. 230-236. Edelmann, Johann Christian, Moses mit aufgedecktem Angesicht, o. O. 1740, S. 33f.
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und oft ist es geradezu ein Übermaß an Orthodoxie, das sie, rebellierend, auf häretische Wege führt. Erst dann strecken sie die Fühler aus und versuchen, Kontakte zu anderen Radikalen oder ihren Texten zu bekommen, also an der Transmission von Informationen teilzuhaben. Betrachten wir nun die Transmission nur im zeitlichen Sinne, über Generationen hinweg. Wenn es einem Freidenker gelungen war, sich im Schwarzmarkt oder von Freunden einen klandestinen Text zu besorgen, der vielleicht schon vor Jahrzehnten entstanden war, begann ein Prozess intensiven Lesens, intensiver Aneignung. Denn dieser Besitz war nichts Alltägliches, es war eine Lektüre, die es sonst in dieser Form nirgends geben konnte. Wir haben im Fall Paalzows gesehen, dass die Aneignung oft die Form des Übersetzens annahm. Aber Übersetzen war nicht das einzige. Oft kommentierte man den Text, schrieb eine Einleitung, oder man schrieb ihn geradezu um, um ihm ganz mit dem Eigenen zu verschmelzen. Das ist etwa geschehen, als Johann Georg Wachter das Symbolum Sapientiae in die Hände bekam: er fügte alle paar Sätze eigene Passagen ein, welche die Bedeutung des Symbolum, so wie er sie verstand, noch stärker hervorleuchten ließen.43 Arpe und andere gaben ihren Texten neue, wohlklingende Überschriften.44 Lau versah eine bisher noch nicht identifizierte Lettre de Philandre à Thimothée mit ausführlichen Fußnoten45, Edelmann stellte eine kommentierte Übersetzung des lateinischen De tribus impostoribus her, vielleicht auch vom Symbolum46, Johann Lorenz Schmidt übersetzte Du Marsais’ Examen de la religion, gab ihm Fußnoten und eine lange Einleitung.47 Diese Kommentierungen eines Radikalen durch einen anderen, in fast allen Fällen unpubliziert, konstituieren so etwas wie _____________ 43 44
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Vgl. die Edition: Cymbalum Mundi sive Symbolum sapientiae. Edizione critica, Guido Canziani/Winfried Schröder u. a. (Hrsg.), Mailand 2000; vgl. auch Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, S. 241-247. Vgl. z. B. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Ms. theol. 1832, „Antichristus sive Christianae religionis concussio“; Staatsbibliothek Berlin Ms. Diez. C 37, „Damnatus liber de tribus impostoribus“; Helsingin Yliopisto Kirjasto Ms. FöII,43, „Castrum Doloris Religionis, seu Ineptus religiosus“. Lau, Theodor Ludwig (Hrsg.), Philanders französischer Brief an Thimotheum von der Freygeisterey heutiger Zeiten. Dieser Brief ist verteutscht, und mit etlichen Anmerckungen […] J.U.D., o. O. 1736. „Von den Betrügereyen der Religionen, ediert“, in: Anonymus [Johann Joachim Müller], De imposturis religionum (De tribus impostoribus), Winfried Schröder (Hrsg.), Stuttgart 1999, S. 143229; Der Wahlspruch der Weisheit, d. i. die gründliche Lehre von der Religion, von Gott und von der insgemein so genannten heil. Schrift, so wol dem gemeinen, als dem Jüdischen, Christlichen und Türckischen Aberglauben entgegen gesetzet […]. Nach der andern Auflage, Freystadt 1748; vgl. Schröder in der Einleitung zu: Cymbalum Mundi, S. 32. [Marsais, César Chesneau Du,] Die wahre Religion oder die Religionsprüfung. Aus dem Französischen übersetzet, und mit einer Wiederlegung herausgegeben [1747], Gianluca Mori (Hrsg.), ND Stuttgart 2003.
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„Konstellationen über Zeit“, Gespräche unter Abwesenden.48 Vor allem dieses Übersetzen, Fortschreiben und Kommentieren erlaubt es, von einer echten Wissenskultur des Untergrundes zu sprechen, im starken Sinne einer „epistemic culture“, bei der Wissen nicht nur gehortet, sondern auch fortentwickelt wird und in der es echte und dichte Bezugnahmen der Beteiligten aufeinander gibt. Der beste Weg, um solche Konstellationen über Zeit aufzuspüren, ist es, die Transmission von Manuskripten zu studieren, also die Provenienz von Besitzer zu Besitzer. Hier scheint es ratsam, mikrohistorisch vorzugehen und sich auf einen Ort zu beschränken, denn sonst würden die Verzweigungen zu unübersichtlich werden. Ich möchte Hamburg für meine Beispiele nehmen, das Hamburg zwischen 1700 und 1760. Hamburg hatte all das, was wir als die komplexe Vorbedingung für eine Transmission festgestellt haben: Sympathisanten, reiche Sammler und orthodoxe Klassifizierer. Wie also ist dort der Manuskripttransfer verlaufen? Beginnen wir mit einem großen Sammler und Klassifizierer: Johann Christoph Wolf. Er war gewiss kein Freidenker, auch kein Sympathisant. Aber er sammelte manisch Manuskripte, und darunter waren auch verbotene Texte. Ihre Zahl stieg beträchtlich, als Wolf 1731 einen Großteil der Bibliothek Uffenbachs aufkaufte. Uffenbach hatte einen eigenen Bereich für seine Clandestina, die er sein „Infernum“ nannte, seine Hölle oder seinen Untergrund.49 Ein Freund von Wolf war Peter Friedrich Arpe, Clandestina-Kenner und Sympathisant, und er tauschte mit Wolf die verbotenen Schriften, damit jeder mit denen des anderen vergleichen konnte. Arpe korrespondierte mit anderen Kennern deutschlandweit, um sich Informationen und Texte zu verschaffen.50 Wo aber sind Arpes Clandestina gelandet, als er 1740 starb? Darüber ist nichts Genaues bekannt, aber es finden sich einzelne Spuren, die alle höchst aufschlussreich sind. Eine Vanini-Abschrift aus seinem Besitz, wohl aus den Jahren um 1710 oder 1720, landet in den 1750er Jahren bei Rudolph Johann Friedrich Schmidt, einem schillernden Mediziner und Hofrat, der alchemistische Versuche anstellte, ein Lebenselixier erfand _____________ 48 49
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Zum Konstellationsbegriff vgl. Mulsow, Martin / Stamm, Marcelo (Hrsg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005. Mulsow, Martin, „Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die Geschichte der verbotenen Bücher in Hamburg“, in: Johann Anselm Steiger (Hrsg.), 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin 2005, S. 81-112. Mulsow, Martin, „Freethinking in Early Eighteenth-Century Protestant Germany, Peter Friedrich Arpe and the ‚Traité des trois Imposteurs‘“, in: Silvia Berti/Françoise Charles-Daubert u. a. (Hrsg.), Heterodoxy, Spinozism and Free Thought in Eighteenth-Century Europe. Studies on the ‚Traité des trois Imposteurs‘, Dordrecht, London u. a. 1996, S. 193-239; ders., „Peter Friedrich Arpe collectioneur“, in: La lettre clandestine, 3/1994, S. 35f.
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und nebenbei Edelmann-Freund war, der vielleicht auch Beziehungen zu Georg Schades Geheimgesellschaft in den späten 1750er Jahren unterhielt.51 Andere Texte aus dem Besitz Arpes scheinen in der Bibliothek von Joachim Christian Lossau aufgegangen zu sein, einem wenig bekannten gelehrten Arzt, dessen Büchersammlung aber das größte Reservoir verbotener Schriften enthält, das mir bekannt ist – inklusive eigener Schränke für „libri rari prohibiti“ und für „libri publice combusti“. Wie sein Kompatriot Reimarus scheint er ein Doppelleben geführt zu haben. Wir haben gewissen Anlass zur Vermutung, dass es Lossau war, der sich Ende der 1740er Jahre das delikate Experiment erlaubte, zugleich Edelmann und den orthodoxen Hauptpastor Wagner bei sich zum Abendessen einzuladen. Aus dem explosiven Scherz wurde nichts, weil Edelmann am Ende nicht auftauchte, aber die Anekdote demonstriert, welch gute Kontakte Lossau vom orthodoxen bis zum freidenkerischen Ende der Hamburger Gesellschaft hatte; nur wenige Leute sind denkbar, die sich in einer solch gesicherten Position befanden, eine solche Begegnung herstellen zu können.52 Aus einer Bibliothek wie der Lossaus heraus konnten dann wieder die verbotenen Texte ihren Weg in die ultraliberalen Kreise der Hamburger Intellektuellen finden, in die Grauzone zwischen Gelehrten, Journalisten und Freimaurern. Was wir auch in diesem Fall wieder benötigen, ist eine Art von Kartografie. Aus unzähligen Einzelindizien, Auktionskatalogen, Briefstellen und nachgewiesenen Provenienzen ist zu rekonstruieren, wie eine solche Zirkulation stattgefunden hat. Wer hat welche Texte in Händen gehalten? Das ist eine mühsame Form von Aufklärungsforschung, aber nur sie verspricht uns ein präzises Bild davon, wie die Distribution verlaufen ist, nur sie kann Fragen beantworten, wie wir sie eingangs gestellt haben: was ist die Beziehung zwischen Untergrund und Oberfläche, welches sind die Tauschstrukturen, wie erkannte man sich und was eignete man sich an? Als die Lossau-Bibliothek 1761 versteigert werden sollte, war Johann Melchior Goeze zur Stelle, der spätere Lessing-Gegner, und sorgte dafür, dass die „schlimmsten“ Texte, etwa hundert an der Zahl, vom Hamburger Senat aufgekauft und damit aus dem Verkehr gezogen wurden.53 Goeze wusste sehr gut, was er tat. Denn er war ein Beobachter der Transmission verbotenen Wissens. Ihm war sehr klar, dass das Auftauchen all dieser _____________ 51 52 53
SUB Hamburg, Cod. alch. 728, 729 und 733. Zu Schmidt vgl. Mulsow, Martin, „You only live twice. Charlatanism, Alchemy, and Critique of Religion in Hamburg (1747–1761)“, in: Cultural and Social History, 3/2006, S. 273-286. Die Anekdote ist überliefert in: Pratje, Historische Nachrichten von Johann Edelmanns Leben, Schriften und Lehrbegriff […], 2. Aufl., Hamburg 1755, S. 358ff. (Zusätze). Ich danke Hermann Stockinger für den Hinweis. Zu Lossau vgl. Mulsow, „Johann Christoph Wolf“. Vgl. Mulsow, Monadenlehre, S. 238f. Zu Goeze vgl. Wieckenberg, Ernst-Peter, Johann Melchior Goeze, Hamburg 2007.
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Schriften auf dem Auktionsmarkt eine neue Runde im Fortwirken der Hamburger Clandestina einleiten würde, eine neue Runde im Angebot zur Radikalisierung. Diese Unterbrechung der Transmission, dieses vorläufige Ende der verbotenen Überlieferung ist auch ein guter Anlass für mich, ein Ende zu finden.
Der Aufbau der Wissenswelt. Eine phänotypische Beschreibung enzyklopädischer Literatur Ulrich Johannes Schneider Der historische Blick auf Wissen und Wissenschaft entlastet von der philosophischen Anstrengung, das zu rekonstruieren, was Wissen idealerweise wäre oder sein müsste, indem er die Erscheinungsweisen registriert, in denen Wissen auftritt. Diese Erscheinungsweisen sind vornehmlich in Textarchiven aufspürbar, diese wiederum meist als Erzeugnisse der Druckkultur. Dem Wissenshistoriker öffnet sich mit dem Blick in das 18. Jahrhundert eine Zeit der Buchkultur und damit in eine Vergangenheit, als intellektuelle Leistungen aller Art in Büchern dokumentiert und distribuiert wurden. Wissen war im 18. Jahrhundert bevorzugter Inhalt einer zuvor schon gepflegten, nun aber immer stärkere Verbreitung findenden Textgattung, die man mit einem allgemeinen Begriff als enzyklopädische Literatur bezeichnen kann. Zum Teil wurde sie für den Unterricht an höheren Schulen verfasst, zum Teil in Forschungszusammenhängen konzipiert, zum Teil für weniger gebildete Leser redigiert. Die Erscheinungsweisen sind entsprechend unterschiedlich. Wissen in Produktion und Wissen in Vermittlung ist prozessual, es kann nur unvollkommen über Definitionen bestimmt werden. Im Spannungsfeld zwischen der gültigen Repräsentation des aktuellen Wissensstandes und der allgemeinen Verständlichkeit für den nichtakademischen Leser stellt die enzyklopädische Literatur des 18. Jahrhunderts eine Praxis der Wissenserstellung und Wissensvermittlung dar, die an ihren Formen selbst studiert werden muss.1 Nach einer kurzen Erläuterung des Ansatzes (1.) werden nachfolgend diese Wissensformen als _____________ 1
Vgl. Schneider, Ulrich Johannes (Hrsg.), Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Der folgende Text arbeitet sich durch das Material dieses Ausstellungsbandes durch und verzichtet zugunsten leichterer Lesbarkeit und thesenartiger Zuspitzung auf die Angabe von Sekundärliteratur. Ein Band mit Abhandlungen des Verfassers zu Zedlers Universal-Lexicon, dem Abschluss der Geschichte frühneuzeitlicher Enzyklopädien, ist im Wehrhahn-Verlag (Hannover) in Vorbereitung.
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Der Aufbau der Wissenswelt
gattungsgenerierend (2.) und, am Beispiel von Zedlers Universal-Lexicon (3.), als textgenerierend für das allgemeine Wissen beschrieben. 1. Wissensgeschichte und Ideengeschichte Das Feld zwischen den Texten und den Lesern wird häufig nach den über die Texte vermittelten Botschaften abgemessen. Als eigentlich aktives Element in der Wissensvermittlung gilt der Autor, der Urheber von Thesen und Träger von Meinungen. Auch wenn nicht geleugnet werden kann, dass wirkmächtige Autoren existieren, ist es im Falle der enzyklopädischen Literatur müßig, Autoren überall ausmachen zu wollen. Textwissen hat seine eigene Autorität, und für einen Gebildeten des 18. Jahrhunderts war Troja so wirklich wie die Ilias des Homer, die Sintflut so glaubwürdig wie die Bibel und die Pockenschutzimpfung eine so grundsätzliche Frage wie die Willensfreiheit. Was man wusste, war Produkt einer Überlieferung, die auch bei großer Anstrengung nicht in allen Punkten auf einzelne Behauptungen zurückgeführt werden konnten. So ist es noch heute. Dazu kommt: Nicht nur wollen viele Menschen nicht wissen, woher sie wissen, was sie wissen, es ist tatsächlich oft schwer zu eruieren, ob etwas genau so oder nicht doch anders geschehen ist bzw. gesagt wurde. Die tendenziell anonyme Natur des allgemeinen Wissens beruht weniger auf seiner prinzipiellen Unbezweifelbarkeit als auf seiner faktischen Unbezweifeltheit. Es war ein geläufiges Wissen. Dass das unwidersprochene und in diesem Sinne allgemein geteilte Wissen reproduziert, kontrolliert, spezifiziert, differenziert und aktualisiert wird, ist im Buchdruckzeitalter Sache der Verleger gewesen, in Verbund mit Autoren und Redakteuren. Enzyklopädische Werke sind, weil sie spätestens im 18. Jahrhundert marktgängige Produkte darstellen, Teil einer Wissensmaschinerie, die im Segment der Lexika auf allen Gebieten der Kenntnis wie geschmiert läuft. Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass auf die Frage nach der Konstruktion des allgemeinen Wissens eine historische Antwort gegeben werden kann. Weil man ein unvollständiges Bild zeichnen würde, ginge man allein auf Motive und Absichten individueller Urheber zurück, um einzelne Werke zu analysieren, müssen Redakteure und Verleger Berücksichtigung finden. Das gebietet schon der Umstand, dass für einen großen Teil der enzyklopädischen Literatur außer dem Verleger kaum jemand bekannt ist, dem man die Autorenfunktion zuschreiben könnte. Noch das größte Lexikon der Moderne, Zedlers Universal-Lexicon (68 Bände, 1732–1754) besitzt für keinen der ca. 284.000 Artikel einen Auto-
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rennachweis.2 Man muss es auf dem Feld der enzyklopädischen Literatur als Ausnahme bezeichnen, wenn bei der umfangsärmeren, dafür wirkungsmächtigeren französischen Encyclopédie von Diderot und d’Alembert (28 Bände, 1751–1767) alle ca. 72.000 Artikel mit Kürzeln individueller Autoren versehen wurden. Dieses Modell hat im übrigen unsere Vorstellung von dem, was enzyklopädische Texte als Typ bestimmt, bis heute beeinflusst. Eine solche ideengeschichtliche Verallgemeinerung aber ist unzulässig, wie ein Überblick über die Produktion enzyklopädischer Werke vor 1750 unschwer belegen kann. Dass auch die Epoche nach dem französischen Aufklärungswerk zwar von Autoren geprägt, nicht aber über Autoren ausgewiesen ist, kann jeder nachvollziehen, der die allgemeinbildenden Standardwerke in den großen westeuropäischen Sprachen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert vertrieben werden, in die Hand nimmt. Das allgemeine Wissen liegt nicht nur meist anonymisiert vor, es wird so auch reproduziert und distribuiert. Ausnahmen bestätigen die Regel, und so gibt es namhafte Autoren, Redakteure und Verleger, die mit bestimmten Wissenstypen zugleich auftreten und auch für den auf lange Dauern eingestellten historischen Blick nicht zu übersehen sind. Autoren. Auch in der enzyklopädischen Literatur gibt es den Fall, dass intellektuelle Motivationen hinter einzelnen Werken auszumachen sind. In der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert spielten selbstverständlich die philosophischen Absichten der beiden Hauptherausgeber eine wichtige Rolle, die darum auch als Autoren ihres Werks gelten. Eine halbes Jahrhundert vorher hat der in die Niederlande geflüchtete Pierre Bayle mit seinem Historisch-kritischen Wörterbuch (das 1740 auch ins Deutsche übersetzt wurde) das Monument einer aufklärerischen Autorintention vorgelegt, die allerdings, wenn man genauer hinschaut, im Wesentlichen eine gelehrte Textmontage darstellt, bei welcher der Autor weniger in einzelnen Aussagen als vielmehr in bestimmten Kombinationen und Parataxen zu finden ist. Bayle und Diderot also können als Beispiele dafür gelten, dass in enzyklopädischen Werken tatsächlich Autoren am Werke sind. Redakteure. In anderen Fällen sind die Urheber wissenskompilatorischer Werke Redakteure, wie beispielsweise im 16. Jahrhundert Conrad Gesner. Seine Leistung ist im Wesentlichen eine der Redaktion, und zwar sowohl eine Redaktion von Wissensinhalten nach verschiedenen Gesichtspunkten wie eine Redaktion der gelehrten Kunst. Die Bibliotheca Universalis (1545) von Gesner steht in der Tradition der Historia Literaria, worin die Funktionen von Autor und Redakteur einander überlagern. Ähnlich noch _____________ 2
Zedler, Johann Heinrich, Großes vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden [...], 68 Bände, Halle, Leipzig 1732–1754.
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verhält es sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei Ephraim Chambers, der mit seiner Cyclopedia (1726) eine umfängliche Redaktionsarbeit vorlegt, die nach Zeugenberichten aus 30 Folianten mit Exzerpten erstand.3 Chambers – dessen Leistung für Diderot unmittelbar Anlass war, etwas Ähnliches in Frankreich zu versuchen – ist ein Redakteur, der sich schon in der Vorrede sichtbar zurücknehmen muss und in der Durchführung als Kompilator überzeugt, was auch die Lektüre der Artikel zeigt, die im Wesentlichen Referate bieten. Verleger. Die neben Autor und Redakteur wichtigste Figur innerhalb des Produktionsvorgangs enzyklopädischer Literatur ist gewiss der Verleger, denn nicht selten sind es gerade die beim Verleger zusammenfließenden intellektuellen und finanziellen Interessen, die zur Produktion eines enzyklopädischen Bandes führen. Das war bei dem Frankfurter Drucker Cyriacus Jacob im 16. Jahrhundert der Fall; auch andere Verleger im Burgund, in Flandern und in Mitteldeutschland haben Werke veranlasst und sind insofern als deren Urheber zu betrachten. Das gilt insbesondere, wenn es sich um Werke in Nachauflage oder Übersetzung handelt, wofür allein der verlegerische Einsatz ausschlaggebend war. Die Tatsache, dass Louis Moréris Dictionnaire Historique (1674)4, der beim Tod des Autors in der 2. Auflage zwei Bände umfasste (1681), bis zur letzten Auflage 1759 sich auf zehn Bände steigern konnte, verdankt sich Verlegerkollektiven in Amsterdam und Paris, die gewissermaßen um die Wette neue und erweiterte Ausgaben dieses genealogisch-geografischen Lexikons produzierten, das europaweit Absatz fand. Nicht anders als die Encyclopaedia Britannica oder später der Brockhaus war bereits Moréris Werk ein Geschäft, das sich die Verleger nicht nehmen ließen, für das sie immer wieder neue aktualisierte Versionen auf den Markt brachten. Die Hinweise auf Autoren, Redakteure oder Verleger benennen im Einzelfall historische Größen, im allgemeinen sogar notwendige Bedingungen, sind aber nicht hinreichend, um die Mächtigkeit der enzyklopädischen Wissensproduktion zu erklären, um dem Erfolg von Techniken wie Exzerpierung, Kompilierung und Indexierung Rechnung zu tragen. Ein zu pauschales Konzept des Lesens trägt überdies dazu bei, Texte in ihrer orientierenden Funktion zu unterschätzen: Viele Bücher wollen nicht gelesen, sondern vielmehr konsultiert werden. Aufschlagen, um nachzuschlagen: Diese Bewegung der alltäglichen Buchbenutzung wird von Kräften angetrieben, die jenseits ideengeschichtlicher Schlagworte wie Einsicht, Argument oder Wahrheit wirksam sind. Es gibt eine Lust am Wissen, eine Sehnsucht nach Kenntnis, ein Verlangen nach Horizonterweiterung, und _____________ 3 4
Chambers, Ephraim, Cyclopædia: or, an Universal Dictionary of Arts and Sciences, London 1728. Moréri, Louis, Le Grand Dictionnaire Historique, Lyon 1674.
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Bücher nehmen in diesem Universum der aktiven Neugier prominente Plätze ein: Sie waren noch bis vor kurzem die besten Textmaschinen, die man haben konnte. Statt nun aus der Welt der Bildung mit ihren ideellen Unterstellungen und geistigen Vorannehmen umstandslos in eine Theorie des interessierten Lesens überzugehen, lohnt sich der Umweg über die europäische Wissensliteratur, wie sie das 18. Jahrhundert in großer Vielfalt hervorgebracht hat. Das Jahrhundert der Aufklärung war auch die Epoche der Enzyklopädien, in denen man sachlich suchen und finden konnte, was man begehrte. Was die Zeitgenossen den Romanlesern zutrauten, nämlich ein Verschwinden in ferne Welten, war den Enzyklopädiebenutzern mindestens kurzzeitig ebenso möglich. Meist aber kehrten diese rasch wieder in die eigene Lebenswelt zurück, denn Ihnen war Lesen kein Selbstzweck, vielmehr eine komplexe Gemengelage von Affekten, Motiven und Interessen. 2. Erscheinungsformen des Wissens Die Erscheinungsformen des Wissens sind – nach Auskunft der im 18. Jahrhundert produzierten Druckwerke – so vielfältig wie die Interessen der Wissenschaftler, der Kenner, der ganz allgemein Neugierigen und der an Schulen und Hochschulen Unterrichteten – alle zusammengenommen. Zwar haben Bücher ihre Märkte, wie das in ihnen behandelte Wissen sein Publikum. Es sind jedoch die Überschneidungen zahlreich bzw. die Abgrenzungen sowohl der Märkte wie der Lesergruppen unscharf. Wenn man sich an den Privatbibliotheken der Gelehrten orientiert, findet man im 18. Jahrhundert oft einen guten Querschnitt der im Folgenden exemplarisch aufgeführten und phänotypisch beschriebenen Literatur. Den Bücher selbst kann entnommen werden, welches Wissen sie für wen behandeln und wie sie es präsentieren. 15 Typen können grob in drei Klassen zusammengefasst werden. Beispielhaft werden hier jeweils zwei Werke pro Typ genannt: eines aus dem 18. Jahrhundert und ein anderes aus einer früheren Phase der Frühen Neuzeit, hier verstanden als der Zeitraum zwischen 1500 und 1800. a) Wissen aus der Anstrengung zur Erkenntnis Was in der einen oder anderen Form von modernen Philosophen in den Erkenntnislehren ihrer Systeme abgehandelt wird, kann auch aus dem historischen Material enzyklopädischer Literatur herausgearbeitet werden,
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wobei die meisten Typen den Tugenden von Wissenschaftlern oder Philosophen ähnlich sehen. Staunen. Die Bewunderung der Natur, beispielsweise der Natur des menschlichen Körpers oder auch der Pflanzenwelt, wird unübersehbar mit der Exposition medizinischen bzw. botanischen Wissens in Büchern dokumentiert. Nicht selten wird auch mit Abbildungen experimentiert: ein Zeichen für verstärktes (auch finanzielles) Engagement der Verleger. Im 16. Jahrhundert hat der kaiserliche Leibarzt Andreas Vesalius mit seinem bis heute berühmten Buch über die Machart des menschlichen Körpers dem Bau desselben ein künstlerisch-analytisches Denkmal gesetzt, welches die Möglichkeiten des Buchdrucks voll ausschöpft und Ganzkörperabbildungen (als Knochenskelett, als Muskelverbund, als Adernnetz etc.) mit erläuterndem Text verbindet.5 Zweihundert Jahre später, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hat der Erfurter Apotheker Johann Hieronimus Kniphof das Staunen vor der pflanzlichen Natur – deren Kenntnis bereits vielfältig über Holzschnitte und Stiche in Abbildung verbreitet war – in gesteigerter Weise ausgedrückt, indem er die ältere Technik des „Naturselbstdrucks“ perfektionierte. Mit dieser Technik produzierte er in mehreren Lieferungen jeweils hundert original gedruckte Pflanzen. Kniphofs Buch erreichte mit dem Verfahren, nicht nach künstlerischer Vorlage zu drucken, sondern Pflanzenoriginale durch Trocknung und Einreibung mit Öl und Ruß so zu präparieren, dass sie den eigenen Abdruck abgab, eine individuelle Zeichnung jeder einzelnen Pflanze, die kein Künstler hätte mit derselben Authentizität herstellen können.6 Vesal und Kniphof können daher als Zeugen dafür dienen, das Wissen auch in Buchform mit dem Staunen zu assoziieren, mit der Verwunderung über das naturkundlich Wissbare und der Ehrfurcht vor der Feinstruktur natürlicher Körper. Sehnen. Gedruckte Bücher waren von Anfang an bestens dafür geeignet, Wissen über ferne Länder und Gegenden weithin und ortsunabhängig zu kommunizieren. Aus Europa heraus operierte ein beständiges Fernweh nach dem, was am Rande der eigenen Welt oder jenseits davon lag, und produzierte Bücher, die in Text und Bild erlaubten, Fantasie und Kenntnis in imaginäre Wanderungen zu investieren. Drucker wie der im späten 16. Jahrhundert aktive Antwerpener Abraham Ortelius waren Planer solcher Gedankenreisen, denen sie Karten und Wegbeschreibungen gaben.7 Mit seinen Büchern bereiste man nicht nur die geografisch fernliegende Welt, sondern auch die Vergangenheit und verfolgte etwa die Stationen der Propheten des Alten Testaments und der Apostel des Neuen Testaments mit _____________ 5 6 7
Vesalius, Andreas, De Humani Korporis Fabrica, Basel 1543. Kniphof, Johann Hieronimus, Lebendig Offizinal-Kräuter-Buch, Erfurt 1733. Ortelius, Abraham, Theatrum Orbis Terrarum, Antwerpen 1591.
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dem Finger auf dem Papier. Im 17. Jahrhundert war die in Frankfurt am Main beheimatete Druckerfamilie Merian verantwortlich für Werke wie die Typographia Germaniae, die alle deutschen Städte bildlich dokumentierte und damit eine bestimmte Großregion so erfasste, wie man sie als Reisender durchqueren konnte: Das Buch wurde so zum Ort nicht nur des Ausdrucks einer Sehnsucht, sondern auch zum Ort ihrer teilweisen Befriedigung. Erkunden. Wenn das Fernweh sich mit der praktischen Neugier verbündet und Bücher nicht dem Sprung aus der eigenen Welt dienen, sondern dem abgemessenen Abschreiten der Welt und ihrer schrittweisen Erweiterung, dann kann man Enzyklopädien wie die Cosmographia von Münster8 und die Orographia von Gregorii9 verstehen. Bei dem seit dem 16. Jahrhundert berühmten Werk von Sebastian Münster ist der Diskurs über sämtliche Weltgegenden auch ein verantwortlicher Faktor für die immer genauere Darstellung dieser fernen Gegenden, wie man das beispielsweise der über viele Auflagen zu verfolgenden schrittweisen Individualisierung der beigegebenen Holzschnitte entnehmen kann. Die Darstellung von Nürnberg unterscheidet sich ab einem bestimmten Zeitpunkt von derjenigen Veronas, mit dem es in den früheren Auflagen denselben Holzschnitt teilen musste. Und im 18. Jahrhundert ist ein Lexikon der Berge wie das von Johann Gottfried Gregorii Ausdruck einer spezialisierten Neugier, gewissermaßen einer populärwissenschaftlich geschärften Frage nach besonderen historischen oder natürlichen Formationen. Ähnliche Lexika existieren bis heute und verstehen sich immer noch als Erkundungshilfen für die entfernteren Bereiche der eigenen Lebenswelt; lange Zeit war das Buch mit der darin leicht erreichbaren Synthese von grafischem Material (Stiche, Karten und Tabellen) mit Fließtext überhaupt das bevorzugte Feld von Explorationen innerhalb des enzyklopädischen Wissens. Kolportieren. Es gibt bei vielen Lexika das Bemühen, alle Informationen, selbst lang tradierte und vielfach repetierte, als wesentlich für die eigene Welt darzustellen und deren Relevanz zu betonen. Nirgendwo kommt das besser zum Ausdruck als in den Konversationslexika des Verlages von Johann Heinrich Gleditsch, die im ganzen 18. Jahrhundert verbreitet, immer wieder aktualisiert und vor allem deswegen gekauft wurden, weil sie die neuesten Nachrichten entschlüsseln halfen. Das Nachschlagen dessen, was in der Zeitung nicht restlos verständlich war, wurde zum Anlass für die Konversationslexika und für ihren Erfolg. Diese stark an den Zeitungsmarkt und seine schnell wechselnden Informationen gebundene Literaturgattung ist noch in einer großen und weitaus schwerfälligeren Enzyklopädie wie Zedlers Universal-Lexicon (in 68 Bänden) maßgebliches _____________ 8 9
Münster, Sebastian, Cosmographey oder Beschreibung aller Länder Herrschafftem, Basel 1588. Gregorii, Johann Gottfried, Die curieuse Orographia, Oder accurate Beschreibung derer berühmtesten Berge, Frankfurt am Main, Leipzig 1715.
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Modell. Zwar verdeckt hier die Masse des Textes gelegentlich, dass das Lexikon zur Orientierung der Leser auch im Bereich der neuesten Erkenntnisse beitragen will. Gewiss jedoch wurde es auf die neuesten Erkenntnisse hin abgefragt. Historische Lexika bieten immer zeitlich relative und am Stand des insgesamt Wissbaren unvollständige Informationen an, keine für die Ewigkeit. Es sind für den Konsum bestimmte Texte, welche die Nähe zum gerade Geschehenen suchen, deswegen auch zur Kolportage werden können. Sich behaupten. Von den Nachrichten vermittelnden und historisches Wissen verwaltenden enzyklopädischen Werken zu den skrupulös konstruierten Wissenssynthesen im Bereich des Sachwissens ist es ein großer Schritt, aber kein Bruch. Enzyklopädien sind in beiden Fällen Werke, die etwas für das Wissen und die Erkenntnis des Lesers Einschlägiges beitragen, die etwas Dringendes sagen. Aus dem universitären und aus dem akademischen Bereich findet man bei Gregor Reisch und Stefan Chauvin Beispiele für die mit Autorität und Selbstbehauptung durchgeführte enzyklopädische Synthese. Reischs erfolgreiches Lehr- und Lernbuch Margarita Philosophica erschien erstmals 1503 und wurde dann in rascher Folge in Straßburg neu gedruckt.10 Reisch fasste das Wissen über universitäre Fächer (beispielsweise Rhetorik, Grammatik, Dialektik) zusammen und bereicherte es um empirisches Wissen, immer knapp und häufig mit Bildern unterstützt. Bei Chauvin ist an der Schwelle zum 18. Jahrhundert, fast 200 Jahre später als Reisch, die enzyklopädische Sicherheit aus der Forschung der modernen Naturwissenschaft heraus gearbeitet.11 Damit verbindet sich ein Fortschrittsbewusstsein, das die modernen Denker (beispielsweise Descartes) von den alten (beispielsweise Platon) wie Wissende von Unwissenden absetzt. Der Anspruch des Lexikons ist durchaus der, neueres Wissen gegen das alte Wissen der Tradition abzusetzen. Die Markierung dieser Differenz wird in der späten Phase des frühneuzeitlichen enzyklopädischen Schreibens häufiger und gilt gelegentlich als Haltung der Enzyklopädisten überhaupt. Es bleibt eine solche der Selbstbehauptung verpflichtete Haltung jedoch weitgehend auf das wissenschaftliche Wissen beschränkt, weil das historische und das biografische Wissen nicht in gleicher Weise ein Fortschrittsbewusstsein hinsichtlich der Qualität des Wissbaren ausbilden.
_____________ 10 11
Reisch, Gregor, Magarita Philosophica, Straßburg 1503. Chauvin, Stefan, Lexicon Rationale sive Thesaurus Philosophicus, Rotterdam 1692.
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b) Wissen aus den Praktiken der Tradition Enzyklopädische Literatur kann nicht exklusiv oder auch nur hinreichend aus der Anstrengung zur Erkenntnis rekonstruiert werden. Die literarischen Praktiken der Textkompilation und Buchproduktion bilden ein mindestens ebenso starkes Ensemble von Faktoren für die Hervorbringung enzyklopädischer Werke. Produktion und Distribution des Wissens führen in allen Enzyklopädien der frühen Neuzeit dazu, Wissen in kleine Portionen zu gliedern und es so seinen ursprünglichen Übermittlungsmedien zu entfremden. Die Technik der Kompilation setzt transformierende schriftstellerische Verfahren voraus: Wissen muss auch in seiner merkbaren Kurzform immer wieder neu zugerichtet werden. Sammeln. Nicht anders als Schränke in Kuriositätenkabinetten, Behältnisse in Archiven oder Regale in Bibliotheken haben Bücher als Dispositive für Sammlungen gedient. Das Sammeln ist eine genuin enzyklopädische Aufgabe und Voraussetzung jeder Wissenssynthese. Einige Werke zeigen dieses Merkmal ganz besonders deutlich, wie beispielsweise die im 17. Jahrhundert von Georg Eberhard Rumpf in lebenslanger Anstrengung angelegte Raritätenkammer der Insel Ambon.12 Der im indischen Ozean arbeitende Rumpf qualifizierte sich im Nebenberuf als Kenner von Flora und Fauna, die er akribisch in Bild und Text festhielt. Die Geschichte, wie dieses Werk drei Jahre nach dem Tode des Autors endlich zum Druck gelangte, ist voller Hindernisse. Dem europäischen Publikum hat der sammelwütige Deutsche in holländischen Diensten ein Werk geschenkt, das so etwas wie ein Inventar der Naturgeschichte einer Weltnische darstellt. Nicht anders nimmt sich das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr verbreitete Werk von Johann Swammerdam aus, auch wenn es unter dem hochtrabenden Titel einer Bibel der Natur ins Deutsche übertragen wurde.13 Die Protokolle der mikroskopisch erfassten Meerestierwelt ist pure Beobachtungskenntnis, im Rhythmus der Sektionen aufgereiht, die der Präparator Swammerdam (der wie Rumpf kein Akademiker war) mit großer Akribie vornahm. Der Exzess des Sammelns wird durch die physiko-theologische Einsicht, an die Spuren von Gottes Werk zu lesen, für die Zeitgenossen verständlich; es ist ein Stück wissenschaftlicher Propädeutik und Heuristik, und war eben in dieser Funktion lange Zeit buchhervorbringend. Blättern. Es existierten in der Frühen Neuzeit nicht nur systematische bzw. philosophisch-wissenschaftliche Gliederungen des Wissens, die in Konkurrenz zu den alphabetischen Auflistungen von Stichwörtern treten, _____________ 12 13
Rumpf, Georg Eberhard, D’Amboinsche Rariteitkamer, Amsterdam 1705. Swammerdam, Johann, Bibel der Natur, Leipzig 1752.
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an denen Wissensartikel hängen. Zwischen den systematischen und den alphabetischen Anordnungen gibt es auch Sortierungen eher intuitiver Art, die vorzugsweise dem gedruckten Buch eigen sind und dessen Seitenlayout als Ordnungsschema nutzen. An zwei Beispielen kann man die dem Blättern eigene Ordnungslogik studieren: Christoph Weigel listet am Ende des 17. Jahrhunderts in seinem Werk viele Berufe auf, wobei die buchdrucktechnische Gestaltung Bild und zugehörige Texte auf einer Doppelseite präsentiert.14 Auch ohne System und Alphabet findet sich der Leser in der Menge der gut 200 Berufe zurecht. Bei Filip Bonanni gibt es im 18. Jahrhundert eine nach vergleichbarem Verfahren der buchbinderischen Doppelseite gegliederte Kostümkunde, worin geistliche und weltliche Orden beschrieben werden, immer im Verein mit einer kleidertypologischen Abbildung zur leichteren Identifizierung.15 Ein sortiertes Wissen muss nicht systematisch sein, und aus der Buchform selbst lässt sich eine enzyklopädische Präsentationsweise entwickeln. Umschreiben. Das Anordnen vorliegender Informationen setzt ein Umschreiben voraus, das für das enzyklopädische Wissen der Frühen Neuzeit als literaturgeschichtliche Praxis durchweg gängig war. Bücher ernährten sich aus Büchern bzw. jedes Schreiben war ein intensiviertes Lesen: So tendierte die Buchgelehrsamkeit schon immer zum Enzyklopädischen; durch den vergrößerten Buchmarkt der gedruckten Werke verstärkt wird dann die Anstrengung der Auswahl. So hat etwa Tomaso Garzoni im 16. Jahrhundert in seinem Werk über die Berufe gleich eingangs die Literatur aufgelistet, die er zugrunde legte.16 Sämtliche Berufsbeschreibungen sind zum großen Teil der antiken Literatur entnommen. Das zuerst auf Latein erschienene und noch im 17. Jahrhundert oft aufgelegte und vielfach übersetzte Werk ist ein Werk der Bibliothek selbst, die gewissermaßen eine weitere Synthese ihrer Bücher aus sich herausschwitzt. Ähnlich radikal umschreibend finden wir im 18. Jahrhundert einen jungen Gelehrten mit der Bibliothek beschäftigt: Georg Christian Lehms hat in seiner Auswahl deutschsprachiger Dichterinnen seine Arbeit an der Förderung des originalen Zitats ausgerichtet.17 Seine Anthologie nutzt das bislang Geschriebene zur Verstärkung der Aufmerksamkeit, sie dokumentiert in einer Auswahl eine bestimmte Art von Literatur. Diese Besonderung der Bibliothek dessen, was man wissen kann, ist in der enzyklopädischen Produktion mittels Umschreibungstechnik durchgängig am Werk. _____________ 14 15 16 17
Weigel, Christoph, Abbildung der gemein-nützlichen Haupt-Stände, Regensburg 1698. Bonanni, Filip, Verzeichnis der geist- und weltlichen Ritter-Orden, Nürnberg 1720. Garzoni, Tomaso, Allgemeiner Schaw-Platz oder Marckt und Zusammenkunft aller Professionen, Frankfurt am Main 1626. Lehm, Georg Christin, Teutschlands galante Poetinnen, Frankfurt am Main 1515.
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Bilden. Enzyklopädien gehorchen bei allen Umschreibeakten häufig einem Imperativ der Bildung, der ältere Autoritäten zu bewahren sucht. Besonders in der Frühzeit der Moderne gehören zum enzyklopädischen Aufgabenfeld wesentlich die Weiterführung und Transformation antiken Wissens, wie man das besonders deutlich bei den vielen gedruckten Ausgaben von Plinius sehen kann. Diese Enzyklopädie aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, die im Mittelalter als Standardwerk für technisches und naturbezogenes Wissen fungierte, wird in der Neuzeit allerdings nicht allein in ihrer überlieferten Form abgedruckt, sondern gelegentlich auch ergänzt, durch Bilder bereichert und durch Kommentare verändert. Man las dann einerseits Plinius, andererseits anderes als Plinius. Der als Bildungsanliegen hergestellte Rückbezug auf die Antike wurde durch Umschreibung nur modifiziert. Die Bildungsmacht der Antike blieb im 18. Jahrhundert ungebrochen und war eine beständige Quelle der Neudefinition der Gegenwart, auch durch Absetzung und pointierten Kontrast. So ist die Auseinandersetzung mit den griechischen Gottheiten bei Joachim Sandrart ebenso eine Wiederaufnahme alten Wissens wie ein Experiment mit neuen Darstellungsformen, Repetition und Transformation zugleich.18 Der Kanon wird erst in der Verwandlung angeeignet, und in diesem Sinne dann zur enzyklopädisch vermittelten Bildung. Können. Zu den Praktiken der Literaturvermittlung gehören nicht nur intellektuelle Verfahren, sondern auch technische. Wenn Wissensbücher im 18. Jahrhundert bebildert, d. h. mit Zeichnungen, Diagrammen, Stichen und Holzschnitten ausgestattet wurden, die das im Text wiedergegebene Wissen manchmal illustrieren, oft überbieten, dann ist beispielsweise die Technik der Bildherstellung ein wesentlicher Faktor der Wissenskommunikation. Jede Darstellungstechnik kann gesteigert werden, wie etwa die Kupferstichkolorierung durch Mehrfarbdruck. Der Regensburger Apotheker Johann Wilhelm Weinmann steuerte Texte zu einer Pflanzenenzyklopädie bei, die in vier Bänden mehrfarbig gedruckte Pflanzendarstellungen bringt.19 Die Technik war innovativ und avanciert, das Werk muss teuer gewesen sein. Die Kunst steht hier im Dienst der genauen Beobachtung und erfüllt auf diese Weise den enzyklopädischen Zweck. Das lässt sich auch von den Porträtdarstellungen sagen, die Johann Jakob Brucker in seinen Ehren-Tempel der deutschen Gelehrsamkeit integrierte, und die in Schabetechnik eine – wie wir heute sagen würden – fotografieähnliche Realitätsnähe aufweisen.20 Die Schattierung lässt die Gesichter und Körper der Dargestellten samt ihren Kleidern plastisch erscheinen: Das _____________ 18 19 20
Sandrart, Joachim, Iconologia Deorum oder Abbildung der Götter, Nürnberg 1680. Weinmann, Johann Wilhelm, Phytanthoza-Iconographia, Regensburg 1737. Brucker, Johann Jakob, Ehren-Tempel der deutschen Gelehrsamkeit, Augsburg 1747.
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Buch als Vehikel des Studiums wird hier zum Anschauungsmaterial selbst, es bietet als Intensivierung biografischer Neugierde größtmögliche Anschaulichkeit in der Illustration. c) Wissen aus dem Bemühen um Wirkung In der Erscheinungsform von Wissenswerken ist neben der Absicht auf Erkenntnis und den Praktiken der Tradition immer auch die Hinsicht auf Wirkung entdeckbar. Enzyklopädische Literatur wird für den Leser bzw. den Nachschlagenden verfasst. Ein enzyklopädisches Werk in die Hand zu nehmen bedeutet, seine Wirksamkeit testen zu wollen. Diesem durchaus allgemeinen Merkmal der Gattung können einige typische Eigenschaften in besonderer Weise zugeordnet werden. Anwenden. Das Interesse für enzyklopädische Literatur ist eng mit dem Bedürfnis nach unmittelbarer Umsetzung von Erkenntnissen verschränkt. Bücher, die solchen Bedürfnissen antworteten, finden sich in der Tradition der sogenannten Hausväterliteratur in großer Zahl. Begründer dieser Tradition war Johann Colerus, dessen Buch über die Haus- und Landwirtschaft das im Buch präsentierte Wissen ganz aus praktischen Fragen entspringen ließ.21 Hier wird nach Themen geordnet, und es werden Entscheider angesprochen: Gutsherren, Familienvorstände, Adlige wie Bürgerliche. Ganz von einer pragmatischen Ordnung war im 18. Jahrhundert auch die ökonomische Enzyklopädie von Chomel orientiert, die auf Französisch 1709 zum ersten Mal erschien und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein neu aufgelegt und in viele verschiedene Sprachen, bis hin ins Japanische, übersetzt wurde.22 Der Anwendungsgesichtspunkt zeigt sich hier auch in den gelegentlich beigegebenen Abbildungen, die das Fallenstellen, das Zubereiten und überhaupt alles berühren, was zwischen der freien Wildbahn und der dekorierten Essenstafel liegt. Helfen. Bildmaterial war aufwendig und teuer, und nicht immer diente es nur dem genauen Blick. Abbildungen hatten im Rahmen der enzyklopädischen Literatur immer auch Sinn durch Nutzanwendung. Bei Leonhardt Thurneysser von Thurn dienten Pflanzenzeichnungen einerseits der Erkennbarkeit, andererseits aber auch der Verwertbarkeit.23 Das ganze pharmazeutische Zubereitungsprogramm ist ikonisch aufbereitet, der gedruckte Text durch kleine Bildmarkierungen als Handlungsanweisung gegliedert. Nicht immer nachvollziehbar ist der genaue Adressatenkreis _____________ 21 22 23
Colerus, Johann, Oeconomia Ruralis et Domestica, Main 1665. Chomel, Noël, Grosses und Vollständiges Oeconomisch-Physicalisches Lexicon, Leipzig 1750. Thurn, Leonhardt Thurneysser von, Deskriptio Plantarum Omnium, Berlin 1578.
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solcher reich ausgestatteter und gelegentlich wohl auch illuminierter Drucke: Neben dem Fachpublikum waren es sicher vermögende Laien, die etwa weit entfernt von einem Arzt wohnten und sich medizinisch orientieren wollten. Im 18. Jahrhundert trifft das für die chirurgischen Bücher von Lorenz Heister zu, der in seiner Chirurgie Eingriffe kleinerer Art in allen Etappen und mit allen nötigen Instrumenten abbildet.24 Der durch Abbildungen und grafisch umgesetzte technische Handlungsanweisungen durchsetzte Text mutet gelegentlich wie ein Buch zur Selbsthilfe an, war aber wohl eher ein veranschaulichendes Werk für Chirurgen und Bader. In jedem Falle befriedigte es das Wissen über den menschlichen Körper, dessen Verletzungen wie auch Möglichkeiten der Heilung umfassend. Das Motiv des Helfens ist bis heute in einer ganzen Reihe von enzyklopädischen Werken leitend. Werben. Der Buchdruck wurde von Ingenieuren benutzt, um ihre Kunst in Text und Bild zu repräsentieren und Werbung für das eigene Können zu machen. Bebilderte Drucke wie die zuerst auf Italienisch erschienene Schatzkammer mechanischer Künste von Agostino Ramelli instruierten im weitesten Sinne über mechanische Apparate und propagierten diese bei Höfen und reichen Stadtregierungen.25 Ramelli erhoffte sich zweifellos Mittel dafür, etwa Mühlwerke, Pumpen und mechanische Tore zu bauen. Zweihundert Jahre später finden wir im 18. Jahrhundert dieselbe Art einer Mischung von Werbebroschüre für bestimmte Ingenieurskunst und umfassende, auch für den Laien begreifliche Information über das technische Funktionieren existierendenr und geplanter Geräte bei Jacob Leupold, dessen Schau-Platz der Wasserkünste nur eines von mehreren Bänden war, in denen angewandte Mathematik bzw. Mechanik vorgeführt wurden.26 Belehren. Nicht wenige enzyklopädische Werke haben den engen Zusammenhang mit dem universitären Milieu und dem schulischen Ambiente gesucht bzw. entstanden daraus. Das gilt für das erste Buch, das im Titel den Begriff Encyclopaedia führte. Es wurde von Johann Heinrich Alsted 1630 in mehreren Bänden veröffentlicht und war eine Enzyklopädie in jenem systematischen Sinne, der alle Wissensarten erfasst und ununterbrochen neu gliedert.27 Bei Alsted findet sich das Wissen komplett in ein Curriculum integriert, das zugleich eine Methode des Selbststudiums war. Für Benjamin Hederich und das seit dem 18. Jahrhundert berühmte, oft nachgedruckte und bis heute aufgelegte Mythologische Lexikon bestand das Belehren im Nachschlagen: Es war ein Buch, welches das gesamte antike Wissen umfasste und vor allem für den Schulgebrauch zur Verfügung _____________ 24 25 26 27
Heister, Lorenz, Chirurgie, Nürnberg 1719. Ramelli, Agostino, Schatzkammer mechanischer Künste, Leipzig 1620. Leupold, Jacob, Schau-Platz der Wasserkünste, Leipzig 1724. Alsted, Johann Heinrich, Encyclopaedia, Herborn 1630.
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stellte – niemand sollte mehr scheitern an der Frage, wer auf welche Weise mit Zeus verwandt war.28 Predigen. Wissen ist niemals auf reine Sachlichkeit so weit zu reduzieren, dass andere Aspekte unwichtig werden, dass die Rhetorik der Darstellung und die Botschaft des Werks gänzlich zurücktreten. In gewisser Exponiertheit findet sich das Element des dringlich in der Aufbereitung des Wissens vorgetragenen Anliegens immer dann, wenn theologische Inhalte berührt werden, wie das beim Katholiken Surius und beim Protestanten Scheuchzer der Fall war. Laurentius Surius hat in seinem mehrfach aufgelegten Buch über die Heiligen die kalendarische Ordnung gewählt, also die Ordnung der Predigten, die sich zu bestimmten Gedenktagen ein Thema aus der Kirchengeschichte wählen.29 Gegen diese Ordnung eines rituell geordneten Christenlebens sticht die Physica Sacra von Johann Jakob Scheuchzer ab, denn das vierbändige Werk verpackt die Predigt von der wundersamen Tätigkeit Gottes in der Natur nach einer für den Leser nicht recht durchschaubaren Ordnung, in lockerer Folge als Kommentare zu verschiedenen Bibelstellen gereiht.30 Scheuchzers Überzeugung, dass die Bibel auch naturwissenschaftlich die Welt entschlüsseln kann, wird über Bilder, Gedichte und wissenschaftliche Kommentare gleichmäßig vermittelt: Dieses Buch sendet Botschaften aus jeder Zeile aus. Die Erscheinungsformen des enzyklopädischen Schreibens, das kann man der durch historische Beispiele gesteuerten Auflistung entnehmen, sind nicht auf individuelle Absichten rückführbar und liegen im Bereich des Wissens und des Umgangs damit. Auch wenn man gelegentlich diese Motive einzelnen Figuren attestieren kann und die eine oder andere explizite Nachricht diesbezüglich existiert, wird doch aus der langen Tradition der Enzyklopädistik klar, dass noch im 18. Jahrhundert das Lexikonmachen eine komplexe und weitgehend anonyme Produktions- und Distributionsstruktur besitzt. Alles Wissen hat eine Quelle, es wird aktiv aber nur in einem gewissen Abstand zur Quelle vermittelt und überhaupt vermittelbar. Wo das enzyklopädische Wissen von der Autorenmeinung geprägt und gewissermaßen infiziert ist, unterscheidet es sich wenig von dem Essay, dem philosophischen Traktat und damit der Literatur. Wo es die Autorschaft zurückdrängt und in die getreue und redliche Redaktion investiert, bildet eine Enzyklopädie aus sich heraus das Reich eines Textes, der in der Operationalität aufgeht und von vielen genau deswegen geschätzt wird, weil er keinen individuellen Autorenabsichten zugeordnet werden kann. _____________ 28 29 30
Hederich, Benjamin, Gründliches Lexicon Mythologicum, Leipzig 1724. Sirius, Laurentius, Vitae Sanctorum, Köln 1617. Scheuchzer, Johann Jakob, Physica Sacra, 4 Bde., Augsburg, Ulm 1731–1735.
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3. Zedlers Universal-Lexicon als Enzyklopädie-Komplex Die vorstehende Skizze ist phänotypisch angelegt, weil sie weder die philosophische Evidenz der in der enzyklopädischer Literatur zusammenwirkenden Faktoren herausarbeiten kann noch historisch eine wirkende Tendenz durchgängig und einheitlich festzustellen vermag. Die europäische Wissenstexte sind zu zahlreich und vielfältig, um anders als exemplarisch plausibel machen zu können, dass die das ganze 18. Jahrhundert umgreifenden – und lange vorbereiteten wie eingeübten – Erscheinungsformen in dasselbe Feld gehören, wo Autoren, Redakteure, Verleger und Leser das Wissen in all seinen Modifikationen verhandeln. Kenner der frühneuzeitlichen Schriftkultur könnten einwenden, dass eine ganze Reihe von literarischen Traditionen dieses Feld durchziehen und das Wissen je nach Gegenstand formieren: das Wissen von Pflanzen anders als das von Heiligen, das Wissen von Geräten anders als das von Mythologien usw. Der Blick aus der Vergangenheit der Vergangenheit heraus verliert allerdings dort seine Schärfe, wo die Kenntnisse verschmelzen bzw. verschmolzen werden, nämlich in der allgemeinen bzw. „vollständigen“ Enzyklopädie, die es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gibt und in die alle disziplinären Traditionen eingehen. Spätestens mit Zedlers Großem vollständigen Universal-Lexicon und seinen ca. 284.000 Artikeln erweisen sich die Erscheinungsformen des enzyklopädischen Wissens als miteinander kompatibel oder zumindest koexistent, ungeachtet der literarischen Modelle, denen sie zuvor gehorcht haben mochten. Wo alle erdenklichen Kenntnisarten in einem einzigen Alphabet zusammengestellt werden, gewinnt der Blick aus der Zukunft der Vergangenheit ein triftiges Bild und lässt zugleich eine gewisse synthetisierende Kraft erkennen, denn die Enzyklopädie des allgemeinen Wissens – die bis heute Konjunktur hat – schließt die zuvor allein dominanten Fachlexika und Fachbücher in einer komplexen Struktur zusammen, die allein dem Nachschlagen dient: Alles Wissbare wird hier zum Artikel. Das bedeutet nun gerade nicht, die Anstrengung der Synthetisierung des allgemeinen Wissens von den vielen Versuchen zu separieren, das Wissen einzelner Bereiche der Kenntnis aufzubereiten. Mit den Fachlexika wandern auch ihre Erscheinungsformen in die großen zusammenfassenden Werke, denn dort sind die Artikel zwar alphabetisch benachbart, nicht aber sachlich verwandt. Im Falle des Zedlerschen Universal-Lexicon ist nun der historisch einmalige Fall gegeben, dass die erste Synthese einer allgemeinen Enzyklopädie zugleich die für lange Zeit größte darstellt, und dass der Inhalt durchweg anonym bzw. (im Falle der wörtlichen Übernahmen aus anderen Lexika) anonymisiert vorliegt. Das Universal-Lexicon ist einfach zu groß, als dass man seine Aussagen bestimmten und genau
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beschreibbaren Absichten individueller Autoren zuschreiben kann. Selbst wenn dies in Ausnahmefällen philologisch gelingt, ist damit das enzyklopädische Prinzip nicht erschüttert, das die Qualität des reproduzierten Wissens grundsätzlich an seine überindividuelle Geltung bindet. Es lassen sich also im Universal-Lexicon die Grundtypen der phänomenologisch aufgewiesenen Formen der Wissensdarstellung und -vermittlung ausmachen, die dem 18. Jahrhundert, wie gezeigt, zugebilligt werden können, auch wenn nicht alle Erscheinungsweisen gleichmäßig ausgeprägt sind. So sind die Erscheinungsformen aus der Anstrengung der Erkenntnis (oben a) eher schwach vorhanden, diejenigen aus den gelehrten Praktiken der Tradition (oben b) deutlich ausgeprägt und diejenigen aus dem Bemühen um Wirkung (oben c) unübersehbar. Von einem Staunen kann man im Werk Zedlers nicht eigentlich sprechen, das Naturwissen wird nüchtern abhandelt, ohne eigene Emphase. Das Universal-Lexicon selber macht erstaunen und thematisiert die Großtat, die es selbst darstellt, in verschiedenen Vorreden zu einzelnen Bänden. Auch künden die Widmungsträgers jedes Bandes vom Selbstbewusstsein des Verlegers. Die Galerie von 67 Personen, die den Abonnenten und Subskribenten gewissermaßen zusätzlich ins Haus kam, umfasste die wichtigsten gekrönten Häupter Europas. Eher schon, aber auch dies nicht betont, ist ein Sehnen präsent, das über Mitteldeutschland hinauszielt. Zwar gilt ein sehr langer Artikel der Stadt Leipzig, also der Stadt des Verlegers und der Produktion des Lexikons, und ein noch längerer Artikel der Stadt Wurzen bei Leipzig, was für ein regionales Bewusstsein spricht. Aber es gibt doch ein vollständiges Bild der fernliegenden Teile der Welt, auch wenn diese eher knapp abhandelt werden: 10 Spalten zu Japan, 14 zu Italien, 18 zu China, 70 zu Russland. Bei den Städten so ähnlich: 3 zu Peking, 7 zu Delhi, 57 zu Paris. Immerhin aber sind die fernen Länder und Städte aufgenommen, nicht – wie bei den ökonomischen Enzyklopädien – dem praktischen Gesichtspunkt geopfert, dass man so weit normalerweise nicht reisen wird. Das Erkunden ist im Universal-Lexicon bei den Städtebeschreibungen maßgeblich, beispielsweise im Artikel über Wien, der im ersten Teil einem Reiseführertext gleicht. Hier wird der Leser durch die Wiener Hofburg, ihre verschiedenen Räume und in den Räumen durch die verschiedenen öffentlich zugänglich gemachten Sammlungsschränke geführt. Es gibt keine explorative Grundhaltung, aber durchaus eine Neigung zur Eingliederung eher erzählender Texte. Man gibt der gewöhnlichen Neugier nach, die auf größerer Ausführlichkeit besteht, als es der reine Informationsgehalt zulassen würde. So ist es wenig verwunderlich, wenn das Kolportieren noch am ehesten eine Rolle spielt, wenn im Universal-Lexicon Wissens ausgestellt wird. Man
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bediente sich einer großen Bibliothek, insbesondere für die Personenartikel, und dazu zählten auch Nachrichtentexte der eher ungeprüften oder unprüfbaren Art. Das Bemühen um Aktualität hat im Falle von Russland und der 1741 neu inthronisierten Elisabeth I. beispielsweise dazu geführt, dass der anstehende Artikel über Russland entsprechend erweitert wurde. In den Vorreden des Gönners Johann Peter von Ludewig, des Verlegers Johann Heinrich Zedler und des Redakteurs Carl Günther Ludovici artikuliert sich durchweg ein Bewusstsein, in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen Stand des Wissens erreicht zu haben, der nur zusammengefasst werden müsse, um endlich angemessene Früchte zu tragen. Man mag aber nicht so weit gehen zu sagen, das Lexikon wolle wissenschaftlich sich behaupten. Es selbst bringt kein neues Wissen hervor, bereitet dennoch die Köpfe der Zeitgenossen für weitere Bestrebungen im geistigen, wissenschaftlichen und auch politischen Bereich vor. Es fehlt im UniversalLexicon das Pathos der französischen Enzyklopädisten, es fehlt der Wille, aus dem Lexikon heraus auf die Gesellschaft selbst auszugreifen. Die relative Zurückhaltung bei den aus Erkenntnisabsicht produzierten Wissensbeständen entfällt, wenn man die Praktiken der Tradition berücksichtigt, die zur Enzyklopädieproduktion geführt hatten; diese sind auch im Universal-Lexicon noch dominant. So gibt es zahlreiche Beispiele für das Sammeln: An nicht wenigen Stellen verlieren sich die Schreiber längerer Artikel in umfangreiche Aufzählungen, etwa von Straßennamen oder von Sehenswürdigkeiten, von Gegenständen in Museen und Kunstkammern, von Literatur. Bemerkenswert am Universal-Lexicon ist vor allem, dass es lebende Personen aufnimmt, die ansonsten in der Literatur der Zeit keinen stabilen Ort haben. Andere biografische Lexika haben nur Tote aufgenommen. Unter den 120.000 Personen des Universal-Lexicon sind gewiss 30.000 lebende, wenn man von einigen Stichproben aus verallgemeinern darf. Das Blättern ist im Universal-Lexicon zum Durchschreiten des Alphabets nötig; dieses ist mit beeindruckender Planungssicherheit ausgeführt. Nur wenige Rück- und Vorverweisungen sind nötig, um Auslassungen zu reparieren. Fachbegriffe sind oft in Latein gegeben, die übersetzt werden, andererseits sind auch Redewendungen aufgenommen. Das Universal-Lexicon funktioniert als universales Nachschlagewerk nicht nur deswegen, weil – nach Auskunft der Vorrede des Halleschen Professors und Kanzlers von Ludewig – 22 verschiedene Lexika in diesem einen zusammenkommen, bzw. – nach Ausweis des Titelblatts – 33 verschiedene Wissensbereiche berührt werden. Das Wissen ist in diesem Alphabet von fast einer halben Million Stichwörtern (wenn man die Verweisungen mitrechnet) nach Sprachort sortiert, damit im Durchblättern das Interesse von den Wörtern zu den Sachen übergehen kann.
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Die Erforschung von Zedlers Universal-Lexicon wäre sehr viel einfacher, wüsste man, welche Bücher diejenige Bibliothek umfasste, die den Redakteuren zur Verfügung stand, und die durch den das Unternehmen finanziell stützenden Kaufmann Wolf 1738 nochmals verstärkt wurde. Es ist jedenfalls angesichts der durchschnittlich pro Jahr produzierten 8.000 Spalten dieses Nachschlagewerkes nur allzu verständlich, dass keine Zeit für umfassende Recherchen bestand und alles aus schriftlichen Quellen entnommen werden musste, um es für den neuen Text umzuschreiben. Die Art der Übernahme war höchst unterschiedlich und konnte auch weniger gute Transformationen von Quellen umfassen, wenn etwa ein Länderartikel aus einer einzigen Reisebeschreibung extrahiert wurde. Die Adresse des Universal-Lexicon geht auf das große Publikum, und dafür wird auch die akademische Bildung der Redakteure und Autoren mobilisiert. Bildung in den Gegenständen der klassischen Philologie ist durchgängiges Vermittlungsziel. Wenn es, besonders in der zweiten Hälfte des Alphabets, das Bemühen um Verdeutschung von lateinischen Ausdrücken gibt, zeigen manche hebräische und griechische Lemmata, dass die artikulierte Bildung zusätzlich eine theologische Tendenz besitzt. Das Zustandekommen des Universal-Lexicon selbst verdankt sich einer beeindruckenden technischen Meisterleistungen, vor allem im Bereich der Logistik, und verrät an sich selbst ein enormes Können. Das Werk rechtzeitig und einigermaßen regelmäßig zu liefern, war eine drucktechnische und verkaufslogistische Meisterleistung. Zedler war nicht der Einzige, der im 18. Jahrhundert ein so enormes Werk in Angriff nahm, er war aber der Einzige, der es in diesem unerhörten Umfange auch beendete. Man weiß wenig von den zeitgenössischen Lesern des UniversalLexicon, aber man kann ihnen wohl unterstellen, dass sie die hohen Kosten eines so umfangreichen Werks durch den Nutzen desselben aufgewogen sahen. Nützlich sein wollte das Universal-Lexicon auf vielerlei Weise. So hat kann man im Universal-Lexicon die größte Rezeptsammlung des 18. Jahrhunderts vermuten, denn nur wenige Tiere und Pflanzen werden ohne Zubereitungsart erläutert. Anwenden ist im Universal-Lexicon eine durchgängige Maxime. So gibt es ganz logisch am Ende des Artikels über die Vanille auch einen Hinweis auf die Zubereitungsart von „Schokolade mit Vanille“. Der anwendungsbezogene Gestus dieses Nachschlagewerkes kann auch an vielen anderen Beispielen illustriert werden. Etwa im medizinischen Bereich. Unter den hier zuzurechnenden Artikeln sind zum Stichwort Helfen eine ganze Reihe praktischer Natur einschlägig. Die akademische Medizin wird in ihren Grundlagen vermittelt, mehr aber noch die therapeutischen Möglichkeiten von Badern und Chirurgen so erläutert, dass man die direkte Umsetzung gelegentlich auch Laien zutraut, wenigstens das Verständnis dafür. So ist der Artikel über
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den „Aderlass“ in seiner Patientenfreundlichkeit sogar bereit, die früher üblichen verschiedenen Abzapfstellen am Körper zuzulassen, „um dem gemeinen Mann zu Gefallen zu sein“: eine moderne Form der Mitwirkung des Patienten am Heilungsprozess. Rein medizinisch gesehen, ist es überall dasselbe Blut, was entnommen wird. Auch das Werben ist dem Universal-Lexicon nicht fremd: Technische Geräte und einige Probleme, welche die Zeitgenossen unter angewandter Mathematik verstanden, finden im Lexikon Aufnahme, manche – allerdings sehr selten – auch mit einem Stich, wie beispielsweise die Luftpumpe. Da Wolffs Mathematisches Lexikon ebenfalls weitgehend unverändert aufgenommen wurde31, kann man Zedlers Werk eine angemessene Repräsentation des technischen Fortschritts attestieren, auch wenn etwa im Vergleich zu Chambers 1726 keine besondere Ausführlichkeit herrscht. Belehren. Wie alle Konversationslexika steht die Unterrichtung eines Lesers im Vordergrund, weil dieser beispielsweise in einer Zeitung oder in einem anderen Buch etwas erfahren hat, was er vertiefen möchte – dafür bieten sich die Artikel dieses Werkes an. Belehrung ist ein implizites Geschäft, das einträglich ist, auch wenn auf akademische Systeme Verzicht getan wird. Dafür gibt es gelegentlich Schemata wie das von der Sitzordnung beim Reichstag, welche ein gelegentlich vorhandenes didaktisches Bemühen unterstreichen. Das Universal-Lexicon hat keine Botschaft, aber es spricht mit großer Überzeugung sein Anliegen aus, das Wissen für die eigene Zeit zusammenzufassen – und lädt selbst dazu ein, daran mitzuwirken. Das Predigen zielt hier also auf Mitwirkung. Es gibt einen Aufruf in Band 23, der „alle und jede um hoch- und geneigten Beytrag [...] an genealogischen und geografischen Artickeln“ bittet. Auch an verschiedenen Stellen außerhalb des Universal-Lexicon wird beim Leser selbst um dessen Mitarbeit geworben: Das Werk verdankt seinen Erfolg zwar gewiss nicht der tatsächlich erfolgten massenhaften Einsendung von Texten – dafür gibt es keinen Beleg –, wohl aber der darauf zielenden Ansprache des Publikums selbst. 4. Schluss Man hat dem Universal-Lexicon lange Zeit vorgeworfen, nicht wirklich enzyklopädisch zu sein im Sinne eines kritischen, aufklärerischen, philosophischen Denkens. Und es ist wahr: Nirgends findet sich im UniversalLexicon eine besonders programmatische Rechtfertigung der Lexikonarbeit, die eher polyhistorischen Imperativen der Sammlung und Reproduktion zu _____________ 31
Wolff, Christian, Mathematisches Lexicon, Leipzig 1716.
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gehorchen scheint. Im Vorwort zum ersten Band heißt es überdies, das Alphabet sei ganz einfach eine geschickte Methode, bestimmte Sachen finden zu lassen. Aber solche theoretische Schwäche und Unausgewiesenheit muss nicht bedeuten, dass das Wissen in seinen Formen amorph oder ohne Gestaltung sei. Das Universal-Lexicon ist als Summe der zuvor in Fachlexika abgehandelten Auskünfte aller Art auch Erbe der medialen Erfahrungen und Erwartungen, die an Wissensbücher gestellt wurden. Das UniversalLexicon ist zugleich Vorläufer vieler allgemeinbildender Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts und damit der erste Beweis einer gelungenen Kombination verschiedenster Kenntnisarten in alphabetischer Anordnung. Wenn das Große vollständige Universal-Lexicon uns darüber belehren kann, was im 18. Jahrhundert heißt, eine Enzyklopädie zu schreiben, dann nicht durch Verweis auf Autoren und deren Motivationslage. Nicht allein wissen wir zu wenig, es ist angesichts der Masse und der durch und durch redaktionellen Anlage des Wissens, d. h. seiner immanent anonymen Struktur, auch gar nicht möglich, Autorenabsichten prominent zu machen. Gerade wegen seiner Anonymität lädt das Universal-Lexicon dazu ein, die Lexikografie der Aufklärungszeit neu zu bestimmen, aus den Inhalten heraus zu entwickeln und den Erscheinungsformen des Wissens eigene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Es wird noch eine Weile brauchen, bis wir uns von den ideengeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Vorstellungen lösen, das enzyklopädische Schreiben sei lediglich eine Abart der intellektuellen Tätigkeit, die an anderen Stellen zu Pamphleten, zu Traktaten und zu Schriften für die Öffentlichkeit führte. Wenn an der französischen Enzyklopädie bewundert wird, dass sie gelegentlich polemisch gegen die Kirche argumentiert, und eben dies am Universal-Lexicon vermisst wurde, könnte man umgekehrt sagen, dass die alle Wissensarten gleichmäßig behandelnde enzyklopädische Schreibart, wie sie vielfach zum ersten Mal (beispielsweise in den Städte-Artikeln) im Universal-Lexicon ausprobiert wurde, eine Technik der Wissensvermittlung darstellt, die originell war gerade dadurch, dass sie nicht originell sein wollte. Denn so lautet heute noch das Prinzip der Enzyklopädistik, der großen Lexika, die wir immer dann benutzen, wenn wir an den Rande des eigenen Wissens geraten.
II. GELEHRTE KORRESPONDENZEN Einführung von Detlef Döring Zu den nicht wenigen Epitheta, die dem 18. Jahrhundert beigelegt werden, gehört auch die Feststellung, es sei ein Jahrhundert des Briefes bzw. des Briefwechsels gewesen. Das gilt auch für die Korrespondenzen der Gelehrten. In Deutschland setzt sich jetzt bei ihnen der Gebrauch der Landessprache im Briefverkehr weitgehend durch. Der Kreis der Korrespondenten erweitert sich quantitativ und insbesondere auch qualitativ, sind es doch jetzt nicht mehr allein Universitäts- bzw. Schullehrer und Geistliche, die in den wissenschaftlich-kulturellen Diskurs einbezogen sind, sondern auch Vertreter anderer beruflicher und sozialer Gruppen. Erscheint mir auch die oft vertretene Auffassung von der bis ins 18. Jahrhundert angeblich üblichen Formelhaftigkeit der Brieftexte irrig zu sein, so ist doch zweifelsohne die Beobachtung richtig, dass Inhalt und Stil der Briefe Wandlungen erfahren. War man bisher in der Mitteilung persönlicher Befindlichkeiten eher zurückhaltend gewesen, so gewinnt die Vermittlung eigenen Erlebens, der Gefühle und Stimmungen mehr oder minder Raum, freilich oft auf Kosten des Informationsgehaltes der Schreiben. Trotz aller mit Recht den Korrespondenzen zugeschriebenen Bedeutung kann jedoch kaum behauptet werden, dass die Erschließung der im Umfang allerdings gewaltigen Briefüberlieferung als befriedigend anzusprechen ist. Sind durch Monika Estermann und Thomas Bürger zumindest die zwischen 1650 und 1982 in den Druck gelangten Briefe erfasst worden, so existiert darüber hinaus die enorme Masse der unveröffentlichten, in Bibliotheken, Archiven, Museen und anderen Einrichtungen verwahrten Schreiben. Hier sind wir geradezu noch Äonen weit davon entfernt, einen auch nur halbwegs verlässlichen Überblick zu besitzen. Das betrifft nicht nur kleine und entlegene Einrichtungen, sondern auch große und bekannte Sammlungen. Dass Sprachprobleme eine gewisse Rolle spielen – denn besonders in Deutschland besaß der lateinische Brief bis ins 18. Jahrhundert hinein eine nicht unbeträchtliche Verbreitung –, sei nur angemerkt. Das eine ist die Erfassung und die Darbietung des Materials, das andere ist die inhaltliche Auswertung der Gelehrtenbriefwechsel. Traditionell wird zu Briefeditionen gegriffen, um biographische Informationen zu erlan-
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gen und um Einblick in die Entstehung von literarischen und wissenschaftlichen Werken zu gewinnen. In den überlieferten Korrespondenzen steckt jedoch noch wesentlich mehr an Informationsgehalt, und sie sind im übrigen als Phänomen sui generis von Bedeutung. Es stellen sich also verschiedene Fragen: Warum können und müssen die Korrespondenzen uns interessieren? Welche Mitteilungen und Erkenntnisse können wir aus der Lektüre jener Briefe erwarten? Welche Funktionen erfüllten die Korrespondenznetze in der Zeit der Aufklärung überhaupt? Die sechs Vorträge der Sektion gehen diese Frage von verschiedenen Seiten an. Das liegt weniger in der Individualität der einzelnen Autoren begründet, sondern hat etwas mit dem jeweils unterschiedlichem Material zu tun, das es in den Blick zu nehmen gilt. Die Korrespondenzen des 18. Jahrhunderts besitzen einen durchaus diversen Charakter, was durch die Auswahl der Beitragsthemen wenigstens im Ansatz eine Widerspiegelung finden sollte. Wenn auch die Autorin, Anett Lütteken, mit Recht darauf hinweist, dass Johann Jakob Bodmer keine akademische Ausbildung im klassischen Sinne erfahren hat, so bildet seine uns zu weiten Teilen überlieferte umfangreiche Korrespondenz doch ein typisches Beispiel für den Briefwechsel eines im protestantischen Raum agierenden Gelehrten. Bodmer korrespondiert in der Regel mit anderen Gelehrten, seien es Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrer, Hauslehrer, Geistliche oder Beamte, und es geht in diesen Schreiben um gelehrte Themen: Literaturlektüre, Planung und Arbeit an eigenen Werken, Publikation dieser Texte, Beschaffung von Büchern und sonstigen wissenschaftlichen Materialien und Informationen, Neuigkeiten aus der res publica litteraria der Nähe und der Ferne. Breiten Raum nehmen in den meisten Briefwechseln der Frühen Neuzeit die nimmer ruhenden Streitigkeiten zwischen den Gelehrten ein. Bei Bodmer ist das in erster Linie seine über lange Jahre geführte Auseinandersetzung mit Johann Christoph Gottsched und dessen Anhänger, also der berühmte Literaturstreit. Diese Feststellung führt zu einem anderen Thema, zum Kontakt zwischen den Wissenschaftskulturen im katholischen und im protestantischen Raum. Trotz mancher Untersuchungen der letzten Dezennien ist die katholische Aufklärung sowohl in ihrer Eigenständigkeit wie in ihrem Kontakt zu Literatur und Wissenschaft im Protestantismus noch vergleichsweise wenig bekannt. Zwar werden bis weit in das Aufklärungsjahrhundert hinein die konfessionellen Unterschiede noch intensiv wahrgenommen, aber es gibt mehrere Ebenen, auf denen eine Annäherung möglich ist und auch realisiert wird. Nicht zuletzt sind es Korrespondenzen, über die solche Kontakte ihre Verwirklichung finden. Ein Mann wie Otto Mencke in Leipzig, Herausgeber der aus ganz Europa berichtenden und in ganz Europa vertriebenen Acta Eruditorum, befindet sich schon um 1700 ganz selbstverständlich im Informationsaustausch mit katholischen Brief-
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partnern. Auf der anderen Seite ist es z. B. Bernhard Pez, Benediktiner im Kloster Melk, der den Kontakt mit protestantischen Gelehrten sucht und findet. Diesen Verbindungen wendet sich der Beitrag von Thomas Wallnig zu. Pez korrespondiert vor allem mit Leipziger Gelehrten. Leipzig ist eines der großen kulturellen und wissenschaftlichen Zentren Deutschlands, und es ist der Mittelpunkt des deutschen Buchdrucks und Buchhandels. Schon allein das macht den Ort für einen katholischen Gelehrten interessant. Er kann hier Texte publizieren, wie es eben der Pater Pez unternimmt. Ein Feld des gemeinsamen Interesses bilden auch die spätestens seit dem 17. Jahrhundert in Europa blühenden philologisch-antiquarischen Forschungen, die der antiken Überlieferung gelten können, die sich aber auch der jetzt heraufkommenden Beschäftigung mit der deutschen Geschichte zu widmen vermögen. Besonderes Gewicht kommt dabei den hinterlassenen Sprach- und Literaturdenkmälern des Mittelalters zu. Gelehrte sind im 18. Jahrhundert längst nicht mehr allein auf Kathedern und Kanzeln zu finden; es gibt sie auch anderenorts. So ist der als Gelehrter an die Öffentlichkeit tretende Verleger keine unbekannte Erscheinung. Man mag hier vielleicht zuerst an Friedrich Nicolai denken, den Freund Lessings und Mendelssohns. Ihm widmet sich das Referat von Rainer Falk. Nicolai ist durch seine Zeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek bekannt geworden, hat daneben aber auch eigene, z. T. belletristische Werke vorgelegt. Die Herausgabe der Bibliothek hatte die Existenz einer weitgefächerten Korrespondenz des Herausgebers zum Hintergrund. Obwohl manches verloren gegangen ist, beläuft sich der erhaltene Briefwechsel immer noch auf die gigantische Zahl von ca. zwanzigtausend Schreiben. Damit ergibt sich die Möglichkeit, das tagtägliche Geschäft der Herausgabe einer Zeitschrift rekonstruieren zu können. Bei dem fast gänzlichen Verlust der Verlagsarchive jener Zeit ist das sonst kaum denkbar. Nicolais Zeitschrift beruhte, wie wohl die meisten Periodika, auf der Korrespondenz ihres Herausgebers. Sie stellt zugleich aber auch die Ablösung des Briefes als Nachrichtenübermittler durch ein neues, weit effektiveres Medium dar. Was sich früher über den (oft publizierten) Brief vollzog, geschieht jetzt in Form der regelmäßig erscheinenden, auch die entlegensten Orte erreichenden Zeitschrift. Allerdings war das ein Prozess, der sich über das gesamte Jahrhundert hinzog; noch lange bewahrte der Brief Züge seines früheren Charakters. Im 18. Jahrhundert wird nicht nur das Thema Frauen und Wissenschaft erstmals intensiver diskutiert, wenn auch immer noch in der Tendenz negativ, es auch eine Zeit, in der in größerer Zahl Frauen als Verfasserinnen von Briefen in Erscheinung treten. Ja, nicht selten findet sich die Feststellung, der Brief sei überhaupt das Medium des weiblichen Geschlechts gewesen. Der Beitrag von Nadine Wetzel beschäftigt sich mit der
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Korrespondenz einer der berühmtesten gelehrten Frauen im französischsprachigen Raum, der Emilie du Châtelet. Ihre amouröse Beziehung zu Voltaire hat bei der sensationslüsternen Nachwelt immer eine größere Beachtung gefunden als ihre wissenschaftlichen Verdienste, die u. a. in der Vermittlung der Physik Newtons, aber auch der Philosophie von Leibniz und Christan Wolff in den französischen Sprachraum bestehen. Madame du Châtelet scheint fast ausschließlich mit Männern, und zwar mit den führenden Philosophen und Naturwissenschaftlern ihrer Zeit, korrespondiert zu haben. Das Betreiben von Korrespondenzen bildete nicht nur die Beschäftigung einzelner Personen, auch ganze Kooperationen waren daran beteiligt. Dazu zählten insbesondere die gelehrten Gesellschaften, die zu den prägenden Erscheinungen des Jahrhunderts zu rechnen sind. Nur zu vergleichsweise wenigen Sozietäten liegt eine wirklich dichte Überlieferung vor. Eine davon ist die Berner Ökonomische Gesellschaft, der der Beitrag von Martin Stuber gewidmet war. Die überlieferten knapp zweitausend Briefe an die Sozietät werden unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht: nach der zeitlichen durchaus wechselnden Intensität des Korrespondierens, nach der geographischen Streuung der Briefpartner, nach der Beteiligung der einzelnen Mitglieder am schriftlichen Informationsaustausch und nach der Vernetzung der Korrespondenz der Gesellschaft mit den privaten Briefverbindungen ihrer Mitglieder. Eine Gesellschaft ganz anderen Typs stellte der geheimnisumwitterte Illuminatenorden dar, dessen Kommunikationsnetz der Beitrag von Hermann Schüttler galt. Durch neuere Quellenfunde, die freilich noch lange nicht erschöpfend ausgewertet werden konnten, hat sich unser Wissen über die Korrespondenzen des Ordens wesentlich erweitert. Zugleich wird deutlicher, welche doch beachtliche Verbreitung die Illuminaten inner- und außerhalb des Reiches gefunden hatten: in neunzig Orten sind sie jetzt nachweisbar, insgesamt 1470 Mitglieder sind uns nunmehr bekannt, die Präsenz der Illuminaten in zahlreicheren Milieus als bisher angenommen ist handgreiflich. Durch die enge Verquickung der Illuminaten mit den Freimaurern gewinnt zudem die Beschäftigung mit Letzteren neuen Auftrieb. Die auf der Tagung verlesenen Kurzvorträge, die hier in überarbeiteter Fassung vorliegen, können nur einige Facetten, einige Dimensionen des Komplexes Briefwechsel innerhalb des Gesamtthemas Kulturen des Wissens andeuten. Letztendlich bleibt die Erforschung der gelehrten Korrespondenzen eine Großaufgabe, deren Lösung eine Generation an die nächste weitergibt, ohne dass je ein Ende abzusehen sein wird.
Die Korrespondenz des ‚gelehrten Buchhändlers‘ Friedrich Nicolai Rainer Falk Der Briefnachlass Friedrich Nicolais1 – annähernd zwanzigtausend Schreiben, die laut ihres Empfängers „vom ersten Anfange an, immer in kaufmännischer Ordnung gelegen“ haben2 – ist „die Korrespondenz der Aufklärung“ genannt worden, deren Auswertung „die eindrucksvollste Würdigung von […] Nicolais verlegerischer Tätigkeit“ wäre.3 Tatsächlich umfasst der Nachlass jedoch weit mehr als den Schriftverkehr der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung. Viele der darin enthaltenen Briefe sind nicht an den Verleger und Buchhändler, sondern an den Privatmann oder an den Gelehrten und Schriftsteller Nicolai adressiert, so dass man sich von einer Auswertung ebenso gut die Würdigung von dessen schriftstellerischem Schaffen versprechen könnte. Gelehrtes Verdienst wird dem Epistolographen Nicolai aber allenfalls als einem der drei Beteiligten an der Korrespondenz zugesprochen, die heute unter dem Titel ‚Briefwechsel über das Trauerspiel‘ firmiert.4 Gerade mit Blick auf seine beiden Korrespondenten in diesem Briefwechsel hat Nicolai sich selbst zwischen Kaufmanns- und Gelehrtenstand situiert: Wie Moses Mendelssohn habe er „einen großen Theil seiner Kenntnisse ohne mündliche Anleitung, durch eigenen Fleiß erworben“ und als Kaufmann „verschiedene Gegenstände _____________ 1
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Den Nachlass verwahrt die Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz (SBPK). Noch vor seiner Übergabe an die damalige Königliche Bibliothek waren zahlreiche Briefe – Einzelstücke ebenso wie ganze Konvolute bestimmter Absender – abgesplittert worden, so dass sich heute in den verschiedensten Bibliotheken, Archiven und Sammlungen Briefe an Nicolai finden, viele aber auch verschollen sind. Nicolai, Friedrich, „Vorrede zur zweyten Auflage […]“, in: Gotthold Ephraim Lessing’s Briefwechsel mit Karl Wilhelm Ramler, Johann Joachim Eschenburg und Friedrich Nicolai. Nebst Anmerkungen über Lessing’s Briefwechsel mit Moses Mendelssohn, 2. Aufl., Berlin, Stettin 1809 (Gotthold Ephraim Lessing’s sämmtliche Schriften, Bd. 27), S. III-XVIII, hier S. XII. Raabe, Paul, „Der Verleger Friedrich Nicolai. Ein preußischer Buchhändler der Aufklärung“, in: Bernhard Fabian (Hrsg.), Friedrich Nicolai (1733–1811). Essays zum 250. Geburtstag, Berlin 1983, S. 58-86, hier S. 85, Anm. 13, und S. 65. Ohne namentliche Erwähnung Nicolais ist der „Briefwechsel über das Trauerspiel“ erstmals erschienen in: Karl Gotthelf Lessing (Hrsg.), Gelehrter Briefwechsel zwischen Johann Jacob Reiske, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, Bd. 1, Berlin 1789.
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Die Korrespondenz des ‚gelehrten Buchhändlers‘ Friedrich Nicolai
aus Gesichtspunkten betrachten lernen, aus welchen sie derjenige nicht ansieht, der bloß eine gelehrte Erziehung erhalten hat“; wie Gotthold Ephraim Lessing habe er „die gewöhnliche Schulerziehung gehabt“ und, ohne auf Universitäten gewesen zu sein, „doch so ziemlich die daselbst gewöhnliche Art zu studiren“ kennen gelernt und „einige Jahre lang die gelehrte Geschichte mit großem Eifer studirt“.5 An diesem Zitat überrascht weniger die aufklärungstypische Hochschätzung einer Bildung, die sich lebenspraktisch und auch kommerziell umsetzen lässt, oder Nicolais persönlicher Stolz darauf, sich weite Bereiche seines Wissens autodidaktisch angeeignet zu haben, als vielmehr der von ihm zugleich erhobene Anspruch, Anteil an der späthumanistischen Tradition der Gelehrsamkeit zu haben, denn auch wenn Nicolai sein Selbststudium während der dreijährigen Buchhändlerlehre in Frankfurt an der Oder mit dem ‚triennium academicum‘ verglichen hat6, durfte er sich erst spät – mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Helmstedt 1799 – dem Gelehrtenstand auch formal zurechnen. Nicolais prägendes Bildungserlebnis war 1748 der einjährige Besuch einer – von ihm selbst so bezeichneten – „nicht gelehrten Schule“, der im Jahr zuvor gegründeten ‚oeconomisch-mathematischen Real-Schule‘ in Berlin, wo er nach eigenem Bekunden „in dem Einen Jahre […] weit mehr von den Anfangsgründen wahrer Gelehrsamkeit lernte, als vorher in fünf Jahren auf zwey berühmten gelehrten Schulen“ – dem Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin und der Lateinschule des Franckeschen Waisenhauses in Halle nämlich. Hatte er die dortige Lehrmethode als „todte[s] Einbläuen einer Menge Begriffe ohne Ordnung und Zusammenhang“ erfahren und dadurch zunächst „eine gänzliche Abneigung von allem Studiren“ entwickelt, so wurde durch den praxisorientierten und anschaulichen Unterricht an der Heckerschen Realschule sein „Hang zum eifrigen Studium und zu gelehrten Beschäftigungen“7 geweckt. Auch die Vermittlung epistolografischer Fertigkeiten erfolgte hier im Hinblick auf deren pragmatische Bewährung, wie Nicolais Erinnerungen an einen seiner Lehrer belegen8: Um mir eine gewisse gezierte Schreibart abzugewöhnen, […] erfand er das Mittel daß ich ihm eine Zeitlang täglich einen Brief schreiben mußte, wovon er mir die
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Göckingk, Leopold Friedrich Günther von, Friedrich Nicolai’s Leben und literarischer Nachlaß, Berlin 1820, S. 18f. Göckingk zitiert hier aus einem handschriftlichen Aufsatz Nicolais, dessen Original verschollen ist. Vgl. Nicolai, Friedrich, „Ueber meine gelehrte Bildung […]“ [1799], in: ders., Gedächtnisschriften und philosophische Abhandlungen, Alexander Košenina (Hrsg.), Bern u. a. 1995 (Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. 6.1), S. 443-578, hier S. 461. Ebd., S. 450 und S. 454. Ebd., S. 452.
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Materie, und sowohl die Person des Schreibenden, als dessen an den geschrieben werden sollte, bestimmte. Bey der täglichen Durchsicht zeigte er mir wo ich wider den Charakter des Schreibenden oder des Briefempfängers gefehlt hatte. […] Er lehrte mich die Materien so ordnen und in solche Wendungen fassen wie sie auf den Leser des Briefes der angenommenen Lage nach vorzüglicher wirken konnten, und hauptsächlich strich er mir alles aus, wo ich hatte s c h ö n schreiben wollen, und verlangte immer daß alles so einfach und natürlich sey, als möglich.
Mit der geforderten einfachen und natürlichen Schreibart ist ein Stilideal aufgerufen, das im 18. Jahrhundert für den gesamten deutschsprachigen Briefverkehr bestimmend wurde. Die ab den 1740er Jahren unternommenen briefreformerischen Vorstöße, deren nachhaltigster Christian Fürchtegott Gellert 1751 mit seinen ‚Briefen, nebst einer Praktischen Abhandlung über den guten Geschmacke in Briefen‘ gelang9, überformten gleichermaßen den Kaufmanns- wie den Kanzleistil, dessen sich die deutsch schreibenden Gelehrten bis dahin befleißigt hatten. Entsprechend ist von den stilistischen Eigenarten, die sich in den Korrespondenzen der Kaufleute und Gelehrten jeweils herausgebildet hatten10, in Nicolais Briefen nichts mehr zu finden. Umso mehr Beachtung verdient seine Beschäftigung mit der Gelehrtengeschichte, weil für den Erwerb von Kenntnissen der ‚historia litteraria‘ seit dem 17. Jahrhundert die gedruckten Sammlungen von Gelehrtenbriefen als grundlegend betrachtet wurden.11 Stand dabei auch die Auseinandersetzung mit den gelehrten Inhalten im Vordergrund, so ließ sich gleichwohl nicht gänzlich von der Form absehen, die diese Inhalte transportierte. Stilbildend wirkten die Gelehrtenbriefe zwar nicht auf Nicolais eigene Korrespondenz, doch leiteten sich aus ihnen aufklärungspublizistische Prosaformen ab, derer er sich bediente. Einschlägig hierfür sind die gelehrten Zeitungen, die das Kernstück von Nicolais Verlagsprogramm bildeten: zunächst die zusammen mit Lessing und Mendelssohn herausgegebenen Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, die ihre Herkunft aus der Gelehrtenkorrespondenz noch formal zu erkennen gaben, dann die im Alleingang besorgte Allgemeine Deutsche Bibliothek (ADB), die zu Recht als „Integrationsmedium der Gelehrten_____________ 9
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Vgl. Nickisch, Reinhard M. G., Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts, Göttingen 1969, bes. S. 158-183. Zum Einfluss auf Nicolais Korrespondenz vgl. Falk, Rainer, „‚nach meinem System von der Freundschaft‘: Gleim, Nicolai, Klotz und der Stil ihrer Briefe“, in: Klaus Manger/Ute Pott (Hrsg.), Rituale der Freundschaft, Heidelberg 2007 (Ereignis Weimar/Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 7), S. 101-116. Vgl. Steinhausen, Georg, Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Berlin 1889-1891, Bd. 1, S. 159ff. u. Bd. 2, S. 178ff. (Kaufleute), Bd. 1, S. 152-155 u. Bd. 2, S. 174-178 (Gelehrte). Vgl. Ammermann, Monika, „Gelehrten-Briefe des 17. und frühen 18. Jahrhundert“, in: Bernhard Fabian/Paul Raabe (Hrsg.), Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart. Referate des 5. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens vom 6. bis 9. Mai 1981 in der Herzog August Bibliothek, Wiesbaden 1983, S. 81-96, hier S. 85ff.
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republik“ bezeichnet worden ist.12 In ihrer integrativen Funktion nämlich lösten die gelehrten Zeitschriften die gelehrten Briefe respektive die gedruckten Sammlungen gelehrter Briefe ab. Die große Zahl solcher Sammlungen, die während des 17. und frühen 18. Jahrhunderts im Deutschen Reich veröffentlicht wurden, ist ja überzeugend damit erklärt worden, dass die Briefe „einen gesellschaftlich-wissenschaftlichen Ersatz bieten mußten für eine alles an sich ziehende Metropole“13: Wie in den Londoner ‚coffee-houses‘ und den Pariser ‚salons‘ wurden in ihnen Nachrichten verbreitet, Ideen in Umlauf gesetzt, Debatten geführt und nicht zuletzt Bücher angekündigt, bekannt gemacht und kritisiert. Dasselbe funktionale Spektrum beanspruchten die Herausgeber gelehrter Zeitschriften in programmatischen Vorreden und persönlichen Äußerungen für ihre Periodika. Auch im ‚Vorbericht‘ zum ersten Band der ADB fehlt nicht der Hinweis darauf, dass die „Liebhaber der neuesten Litteratur […] in Deutschland in vielen Städten, zum Theil in kleinen Städten, wo nicht einmal ein Buchladen befindlich ist, zerstreuet“ seien14, und nach Erscheinen dieses Bandes schrieb Nicolai an den Zürcher Johann Georg Zimmermann: „Die in Deutschland so sehr zerstreute Gelehrsamkeit hat einen Vereinigungspunkt nöthig, und hiezu habe ich die deutsche Bibliothek ersehen.“15 Dementsprechend war es nicht seine Absicht, ein reines Rezensionsorgan zu schaffen: Der Verleger, schrieb er von sich selbst in der dritten Person, ist nicht zufrieden gewesen zu den Recensionen aus allen Theilen der Wissenschaften, ordentliche Mitarbeiter zusammen zu bringen; sondern er hat, damit ja nichts wichtiges übergangen werde, sich auch bemühet, in allen großen Städten Deutschlandes, Correspondenten zu finden, welche ihm von Zeit zu Zeit von der Litteratur in der Gegend, worinn sie leben, Nachricht geben.16
Diese Suche gestaltete sich nicht einfach; gegenüber Johann Gottfried Herder in Riga erklärte Nicolai, dass er deswegen „von Kopenhagen bis Zürich herumschreibe“.17 Doch nicht nur von Kopenhagen, woher Heinrich Wilhelm von Gerstenberg „Nachrichten von dem Neuesten aus der _____________ 12 13 14 15
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Schneider, Ute, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik, Wiesbaden 1995. Ammermann, „Gelehrten-Briefe des 17. und frühen 18. Jahrhundert“, S. 91. Nicolai, Friedrich, „Vorbericht“, in: ADB, 1/1765, 1, S. I-IV, hier S. III. Friedrich Nicolai in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann und Christian Friedrich von Blanckenburg. Edition und Kommentar, Sigrid Habersaat (Hrsg.), Würzburg 2001 (Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten, Bd. 2), S. 17 (Brief Nicolais an Zimmermann vom 13. August 1765; Hervorheb. i. Orig. durch Unterstreichung). Nicolai, „Vorbericht“, S. III. Herder’s Briefwechsel mit Nicolai, Otto Hoffmann (Hrsg.), Berlin 1887, S. 2 (Brief Nicolais an Herder vom 19. November 1766).
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deutschen Litteratur der dortigen Gegenden“ zu schicken versprach18, bis Zürich, wo der bereits erwähnte Zimmermann sich bereit erklärte, „den Zustand unserer Litteratur von Zeit zu Zeit zu melden“19, sollte sich das Korrespondentennetz nach Nicolais Vorstellung erstrecken; in den ersten Bänden der ADB finden sich unter der Rubrik ‚Auszüge aus Briefen verschiedener Correspondenten‘ auch Schreiben aus Paris, Madrid und St. Petersburg.20 Ein fester Stab von Berichterstattern scheint sich dennoch nie gebildet zu haben, so dass Nicolai auf gelegentliche Mitteilungen von Rezensenten und sonstigen Briefpartnern angewiesen blieb und in der Rubrik schließlich auch Korrekturen und Einwände zu veröffentlichten Besprechungen, ja regelrechte Gegenrezensionen in Briefform erschienen. Auch wenn die ‚Auszüge‘ stets nur wenige Seiten pro Band einnahmen und häufig sogar ganz entfielen, lässt sich nicht zuletzt an ihrem dialogischen Charakter die Abstammung der ADB von der Gelehrtenkorrespondenz ablesen. Dass die ADB das von Nicolai aufgestellte Programm durchaus zu erfüllen vermochte, haben bereits die Zeitgenossen anerkannt: „Nun erst erfuhr Deutschland, was überall litterarisch in ihm vorging, es lernte sich selbst kennen, und kam eben dadurch in nähere Verbindung mit sich selbst“21, schrieb etwa Johann Erich Biester, langjähriger Mitarbeiter der ADB, in seinem Nachruf auf Nicolai. Doch brachte die ADB nicht nur die Gelehrten untereinander, sie brachte auch ihren Herausgeber mit ihnen in Verbindung. In seiner ‚Selbstbiographie‘ von 1806 – dem Jahr, in dem er die ADB einstellen musste – betonte Nicolai, er sei „durch dieses Werk, mit einer nicht geringen Anzahl würdiger Gelehrter und edler Männer aus allen Ständen in nähere Verbindung“ gekommen, was er als „ein großes Glück seines Lebens“ betrachte.22 Rückblickend ließ er aber auch die Vorbehalte nicht unerwähnt, die der traditionelle Gelehrtenstand der ADB zunächst entgegengebracht hatte23: _____________ 18 19 20 21 22 23
„Briefe Nicolais an Gerstenberg“, Max Kirschstein (Hrsg.), in: Euphorion, 28/1927, S. 337348, hier S. 339 (Brief Nicolais an Gesternberg vom 9. Juli 1765). Nicolai in Korrespondenz mit Zimmermann und Blanckenburg, S. 15 (Brief Zimmermanns an Nicolai vom 27. Juli 1765). Einen Abschnitt aus diesem Brief Zimmermanns veröffentlichte Nicolai umgehend als ‚Auszug eines Briefes aus der Schweiz‘, in: ADB, 1/1765, 2, S. 311. Vgl. ADB, 1/1765, 2, S. 308ff.; 3/1766, 2, S. 308f.; und 5/1767, 2, S. 306ff. Die Verfasser dieser Schreiben sind nicht ermittelt. Biester, Johann Erich, „Denkschrift auf Friedrich Nicolai“, in: Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Aus den Jahren 1812-1813, Berlin 1816, S. 2032, hier S. 25. Nicolai, Friedrich, „Chr. Fr. Nicolai“, in: Johann Michael Siegfried Lowe (Hrsg.), Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrten mit ihren Selbstbiographien, Bd. 3, Berlin 1806, S. 27. Nicolai, Friedrich, „Vorrede […]“, in: Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek, 105/1806, 1, S. I-XXIX, hier S. XVI.
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Die Korrespondenz des ‚gelehrten Buchhändlers‘ Friedrich Nicolai
[Z]ur Zeit als die A. D. Bibl. ihren Anfang nahm, forderten die meisten Universitätsgelehrten viel ausschließender als jetzt, daß der Sitz der Gelehrsamkeit bey ihnen seyn solle, und einige – sollte man es glauben? – mochten es ungern ertragen, daß in einem Journale, welches in einer Residenzstadt herauskam, ganz unbefangen über gelehrte Sachen geurtheilt wurde; denn bisher waren alle recensirende Journale, die einige Autorität hatten, auf Universitäten herausgekommen.
Unausgesprochen bleibt in Nicolais Darstellung freilich der Umstand, dem diese Vorbehalte vornehmlich galten, nämlich dem, dass er als Verleger mit der Herausgabe der ADB nicht nur gelehrte, sondern auch kaufmännische Interessen verfolgte. Dafür, dass ihn bei der Redaktion kommerzielle Motive geleitet hätten – dass etwa auf sein Einwirken hin die eigenen Verlagsprodukte besonders positiv rezensiert worden wären –, fehlt jedoch jeder Beleg. Als kaufmännisch mag man allenfalls Nicolais Praxis bezeichnen, seine zusammen mit dem Mitarbeiterstab der ADB beständig anwachsende Korrespondenz durch gedruckte Formulare zu entlasten – vor allem durch die so genannten Cirkularschreiben, gerichtet „an die sämmtlichen Herren Verfasser der allgemeinen deutschen Bibliothek“, mit Hinweisen zur Buchverteilung, Rezensionsweise, Manuskriptgestaltung, Abrechnung bis hin zum Verpackungsmaterial der rückläufigen Buchpakete, aber auch durch die visitenkartengroßen Beilagen, in denen sich der auf einem Auge erblindete dafür entschuldigte, einen Brief diktiert und nicht selbst geschrieben zu haben, und schließlich durch den Rundbrief vom 25. Juli 1807, mit dem er nach längerer Krankheit von der Mehrzahl seiner Korrespondenten Abschied nahm.24 Hatten die gelehrten Zeitschriften auch wesentliche Funktionen der gedruckten Sammlungen gelehrter Briefe übernommen, so wurden doch weiterhin Briefe in Druck gegeben und – beginnend mit einer 1746 ohne Angabe der Verfasser erschienenen Sammlung25 – gerne als ‚Freundschaftliche Briefe‘ betitelt. Freilich blieb die unter diesem Etikett gepflegte epistolare Praxis, die Gellert theoretisch fundierte und popularisierte, in vieler Hinsicht der Tradition humanistischer Gelehrtenkorrespondenz verpflichtet.26 Auch Nicolai veröffentlichte als dritten Band der ‚Vermischten Werke‘ des früh verstorbenen Thomas Abbt dessen – so der Untertitel – ‚freundschaftliche Correspondenz‘, wobei er sich auf Abbts Briefwechsel _____________ 24 25
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Die Beilage und der Rundbrief sind abgedruckt in: Nicolai, Friedrich, Verlegerbriefe, Bernhard Fabian/Marie-Luise Spieckermann (Hrsg.), Berlin 1988, S. 14 und S. 199. [Gleim, Johann Wilhelm Ludwig / Lange, Samuel Gotthold u. a. (Hrsg.),] Freundschaftliche Briefe, Berlin 1746. Belege für die Herausgeberzuschreibung bietet: Hentschel, Uwe, „‚Besuche in Briefen‘. Die epistolare Praxis der Anakreontiker und Gellerts Briefreform“, in: Orbis Litterarum, 56/2001, S. 378-395, hier S. 379f. und S. 382. Vgl. Barner, Wilfried, „Gelehrte Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zu ihren traditionellen Voraussetzungen“, in: Wolfram Mauser/Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.), Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen 1991, S. 23-45.
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mit Mendelssohn und ihm selbst beschränkte und alle weiteren ihm zugänglichen Schreiben Abbts „an andere Gelehrte“ als „Complimentenund Geschäftsbriefe“ ausschloss. Als Gelehrtenbriefwechsel gibt sich die Sammlung schon durch die verhandelten Themen zu erkennen, am deutlichsten durch die beständig wiederkehrende Bitte um Beurteilung der mitgeschickten eigenen und fremden Geisteswerke, die in der gemeinsamen Arbeit an den Briefen, die Neueste Litteratur betreffend gipfelte. Aufschlussreich ist die kurze ‚Vorrede‘, weil Nicolai darin erläutert, welches Anliegen er mit der Veröffentlichung verfolgte; es ist ein genuin aufklärerisches: Der Leser bekomme Abbt als „einen vernünftigen Zweifler in seiner wahren Gestalt zu sehen, wie seine Zweifel erst sehr schwankend sind, nach und nach deutlicher werden, und jemehr sie sich entwickeln, ihre Kraft verliehren, und sich immer mehr der Wahrheit nähern.“ Nicht mehr die Überlieferung von Erkenntnisbesitz bildet also Nicolais Ansicht nach den Nutzen einer gedruckten Gelehrtenkorrespondenz für die Wissenschaft, sondern die Demonstration von Erkenntniserwerb. Ein solcher Prozess der Wahrheitsfindung sei aber „allein aus einer vertrauten Correspondenz, mit Freunden, vor denen der Schreibende keinen Gedanken seiner Seele verbergen darf, zu ersehen“27, heißt es in der ‚Vorrede‘ weiter. Mit dieser Voraussetzung ist zugleich ein Problem benannt, das sich bei der Herausgabe von Briefen stellte, seitdem diese den Schreibenden endgültiger Formulierungen enthoben. Bei Gelegenheit der Rezension einer ‚Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe‘ sprach Nicolai sich mit Entschiedenheit dagegen aus28, Briefe, die man von Freunden empfangen hat, bey derselben Lebenszeit, und ohne sie darum um Erlaubniß zu fragen, drucken zu lassen. Ein solches Verfahren, welches seit einiger Zeit Mode geworden ist, hebt alle freundschaftliche Vertraulichkeit auf. […] Wer wird seinem Freunde ferner seine Gedanken anvertrauen wollen, wenn man befürchten muß, daß er sie nach zehn oder zwanzig Jahren, wenn diese Gedanken, bey veränderten Einsichten, vielleicht nicht mehr unsere Gedanken seyn werden, der Welt mittheilet. Wer wird gerne solche Briefe bey seinem Leben bekannt gemacht sehen. Dies wird bey vielen noch itztlebenden Gelehrten, die ihre eigne Briefe in dieser Sammlung lesen, der Fall seyn.
Nicolais Bedenken waren also nicht darauf gerichtet, dass mit der Veröffentlichung privater Korrespondenzen Briefgeheimnisse gelüftet werden _____________ 27 28
Nicolai, Friedrich, „Vorrede“, in: Thomas Abbts […] freundschaftliche Correspondenz, Berlin, Stettin 1771 (Thomas Abbts […] vermischte Werke, Bd. 3), unpaginiert. Nicolai, Friedrich, „Rezension von Samuel Gotthold Lange, ‚Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe‘“, in: ADB, 18/1772, 1, S. 211-216, hier S. 212. Die Buchstaben Bl (Antiqua), mit denen die Rezension unterzeichnet ist, verweisen auf Nicolai als Rezensenten. Vgl. Parthey, Gustav Friedrich Constantin, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s ‚Allgemeiner Deutscher Bibliothek‘ nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet, Berlin 1842, S. 54.
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Die Korrespondenz des ‚gelehrten Buchhändlers‘ Friedrich Nicolai
konnten; allzu persönliche Mitteilungen aus dem Alltag der Briefpartner wurden bei Drucklegung ihrer Schreiben nach wie vor weggelassen. Problematisch schien ihm vielmehr, Briefe zu publizieren, die nicht von vornherein dafür vorgesehen waren, gesammelt und gedruckt zu werden. Darin unterschieden sich die Sammlungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nämlich wesentlich von denen der Gelehrtenbriefe des Späthumanismus, die – gemäß den Prinzipien der Briefrhetorik gedanklich durchformuliert – den Charakter von Abhandlungen besaßen und als solche immer schon mit Blick auf eine weitere, auch gedruckte Verbreitung innerhalb der ‚res publica litteraria‘ verfasst wurden. Um einen derartigen Missbrauch zu vermeiden, dürfte Nicolai die einundzwanzig Briefe erworben haben, die er zwischen 1771 und 1785 an den Wiener Staatsrat und Dramatiker Tobias Philipp von Gebler geschrieben hatte und die ihm nach dessen Tod der Buchhändler August Gräffer zum Kauf anbot.29 Im Falle seiner Korrespondenz mit Christian Ludwig von Hagedorn konnte er eine Veröffentlichung hingegen nicht verhindern.30 Dieser Einstellung entsprechend traf Nicolai Vorkehrungen, wie sein Briefnachlass auf die Nachwelt kommen sollte. Er habe, schrieb er bereits 1784, „Anstalten gemacht, daß nach [s]einem Tode aus [s]einer so weitläufigen Korrespondenz nichts als was wirklich für die Wissenschaft nützlich seyn kann, bekannt gemacht werden soll, und dessen ist, wie man leicht glauben wird, nicht wenig“.31 Mit dieser Aufgabe betraute er letztlich seinen langjährigen Freund Leopold Friedrich Günther von Göckingk, der auch sein erster Biograph wurde.32 Sogar die Ordnung des Nachlasses – alphabetisch nach Korrespondenten und chronologisch innerhalb jedes Korrespondentenkonvoluts – geht auf den Nachlassenden selbst zurück. Seine Briefe, so Nicolai, seien „ehemals nur nach den Jahren geordnet“ gewesen; im Jahr 1792 habe er sie aber „sämmtlich nach alphabetischer Folge der Schriftsteller legen“ lassen.33 Diesen Wechsel von der eingangs erwähnten „kaufmännische[n] Ordnung“ zu einer, die die Namen der gelehrten Korrespondenten zum Prinzip hat, darf man wohl durchaus programmatisch verstehen. _____________ 29 30 31 32 33
Vgl. Aus dem Josephinischen Wien. Geblers und Nicolais Briefwechsel während der Jahre 1771–1786, Richard Maria Werner (Hrsg.), Berlin 1888, S. 1. Briefe über die Kunst von und an Christian Ludwig von Hagedorn, Torkel Baden (Hrsg.), Leipzig 1797, S. 223-275. Nicolais scharfe Kritik an der Veröffentlichung ist aus einem Brief Badens vom 6. Juni 1797 zu erschließen (SBPK, Nachlass Nicolai, Bd. 3, Mappe 6). Nicolai, Friedrich, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Bd. 4, Berlin, Stettin 1784, S. 902, Anm. Zahlreiche Fundstücke aus Nicolais Nachlass veröffentlichte Göckingk in der Zeitschrift Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, beginnend mit deren Ausgabe vom 21. Dezember 1821. Bei der Biografie handelt es sich um Nicolai’s Leben und literarischer Nachlaß. Nicolai, „Vorrede zur zweyten Auflage […]“, S. IXf., Anm.
Freundlich „gegen jedermann, vertraulich gegen wenig“. Bodmers Briefwelten Anett Lütteken Noch der Mann von achtzig Jahren erwies sich als Pragmatiker, wenn es darum ging, eine seiner Gepflogenheiten zu überspielen, die verschiedene seiner Zeitgenossen als störend empfunden haben. Die Rede ist von der Unleserlichkeit der Handschrift Johann Jakob Bodmers, die zudem wohl auch einige Philologen schlichtweg davon abgehalten haben wird, sich mit seinen Korrespondenzen systematisch und in einem seinem geistesgeschichtlichen Rang gemäßen Umfang zu befassen. Der greise Zürcher Aufklärer jedenfalls schrieb, fast ein wenig kaustisch, im Jahr 1778 an den in Hannover ansässigen Johann Georg Zimmermann: „Es war kein Unglück, daß Sie, mein theurer Herr Doctor, meinen Brief von 1775 nicht lesen konnten [...].“1 Vielleicht war es ja wirklich „kein Unglück“, aber den wechselseitigen Austausch beflügelte es natürlich ebenso wenig wie dessen spätere Erforschung. Die mit den Jahren immer stärker individualisierte, kaum (mehr) von Rücksichtnahmen geprägte, wohl aber nicht durch Augen- oder sonstige Krankheit deformierte Handschrift Bodmers hatte sogar schon den unerschrockenen Bibliothekaren des neunzehnten Jahrhunderts zu schaffen gemacht. Eduard Bodemann etwa, der ‚nur‘ die vierzehn, in Hannover überlieferten Briefe Bodmers transkribiert hatte, stellte 1878 verstimmt fest2: „Bodmers Handschrift ist schrecklich und schwer zu entziffern“. Dieser Sachverhalt war zweifellos auch dem Urheber bekannt gewesen.3 Dass im konkreten Fall mithin eine gewisse Gefahr bestand, dass der Empfänger Zimmermann die neue Botschaft zum alten Brief überhaupt nicht registrieren würde, da er sie mit einiger Wahrschein-
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Zitiert nach: Bodemann, Eduard, Johann Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben von Bodmer, Breitinger, Geßner, Sulzer, Moses Mendelssohn, Nicolai, der Karschin, Herder und G. Forster, Hannover 1878, S. 180-183, hier: S. 182. Ebd., S. 168 und 182; vgl. Debrunner, Albert M., „Ein Ersatz für Haller. Bodmers und Breitingers Verhältnis zu Zimmermanns literarischem Schaffen“, in: Hans-Peter Schramm (Hrsg.), Johann Georg Zimmermann – königlich großbritannischer Leibarzt (1728–1795), Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler Forschungen, 82), S. 75-82. Vgl. Bender, Wolfgang, J. J. Bodmer und J. J. Breitinger, Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler, 113), S. 9.
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Bodmers Briefwelten
lichkeit wiederum nicht hätte lesen können, muss auch Bodmer also irgendwie eingeleuchtet haben. Sonst hätte er diesen Brief wohl kaum einem Schreiber diktiert, um dann – als persönliche, wenn vielleicht nicht les-, so doch erschließbare Dreingabe – lediglich eine zweizeilige Schlussformel von eigener Hand hinzuzufügen. Jenseits des Anekdotischen bleibt daher für den Moment festzuhalten: es gehört nur wenig seherische Kraft dazu, eine historisch-kritische Ausgabe der Bodmerschen Korrespondenzen auch weiterhin für ein aussichtsloses (und wohl kaum erstrebenswertes) Vorhaben zu halten. Dennoch aber sollen hier einige, sein Korrespondenznetz betreffende Desiderate beschrieben werden: Dazu zählen 1. eine systematische Bestandsaufnahme der überlieferten Quellenmaterialien, 2. die näher noch zu erläuternde selektive Rekonstruktion einiger korrespondenzprägender Diskurse und 3. schließlich die Interpretation mancher ‚Briefgespräche‘ des Zürcher Aufklärers, namentlich im Blick auf den darin kultivierten Stil sowie die mit den Schreiben jeweils verknüpften Hoffnungen, die ihnen implizit oder explizit eingeschriebenen Funktionen also, was anhand zweier Beispiele zu konkretisieren sein wird.4 Unerschlossene Briefwelten Die Ausgangsbedingungen sind bemerkenswert gut: die Bodmer und sein intellektuelles Umfeld betreffenden Quellenmaterialien sind weitgehend unabhängig von den Zeitläuften in erfreulicher Vollständigkeit überliefert; ein Großteil der Korrespondenzen ist in seinem Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich erhalten. Wolfgang Bender hatte hierauf bereits in seiner Gesamtschau von 1973, die bis auf weiteres Gültigkeit beanspruchen darf, hingewiesen. Dort spricht er eher vage von etwa 3000 Briefen an und 1900 Briefen von Bodmer5; hinzu kommen zahlreiche weitere Autographen und Drucke aus dessen Privatbesitz. Weitere Briefe finden sich in nicht allzu kleiner Zahl verteilt über verschiedenste
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Vgl. Golz, Jochen, Art. „Brief“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin, New York 1997, Bd. 1, S. 252-255; vgl. auch: Reinlein, Tanja, Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale, Würzburg 2003 (Epistemata, 455), S. 62-77, sowie: Ebrecht, Angelika u. a. (Hrsg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, Stuttgart 1990. Bender, Bodmer und Breitinger, S. 1f.; vgl. auch die Auswahleditionen von: Sauder, Gerhard, „Drollinger an Bodmer – zwölf Briefe“, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 112/1964, S. 163-185, und Guthke, Karl S., „Friedrich von Hagedorn und das literarische Leben seiner Zeit im Lichte unveröffentlichter Briefe an Johann Jakob Bodmer“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1966, S. 1-108.
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Institutionen.6 Kurzum: von der „Briefwuth“ des Zeitalters war Bodmer infiziert, wenn auch die exakte Zahl der von und an ihn überlieferten Briefe derzeit (noch) nicht genannt werden kann.7 Anhand des Zürcher Bestandes nun lassen sich gewisse Charakteristika der Kommunikationsweisen des Aufklärers, der ihm zugewandten Briefschreiber wie auch der Epoche geradezu exemplarisch beschreiben. Vorab wäre jedoch zu fragen, ob man es hier gegebenenfalls mit einem von Bodmer selbst nach bestimmten Kriterien ‚bereinigten‘ Bestand zu tun hat.8 Solche Vorgehensweise kennt man etwa von Karl Wilhelm Ramler: dessen im Goethe-Schiller-Archiv Weimar überlieferter Briefbestand muss als das Resultat eines von ihm bestimmten, sichtlich auf die Steuerung eines positiv konnotierten ‚Nachruhms‘ ausgerichteten Auswahlverfahrens gelten.9 Zeitüblicher Gewohnheit entsprach es zudem, manche Briefe als ‚Muster guten Geschmacks‘, z. B. also als dem gängigen Gellert’schen Natürlichkeitspostulat besonders gemäße Zeugnisse10, zu bewahren. Bodmers lange Lebenszeit in relativ guter Gesundheit hat die Pflege anhaltender freundschaftlicher Briefdialoge sicherlich begünstigt: über tausend Briefe an den eng verbundenen Pfarrer Johann Heinrich Schinz in Altstetten sind überliefert, von diesem 833; 469 an Johann Heinrich Meister, von dem auch etwa ebenso viele erhalten sind11, weitere knapp zweihundert Briefe an Laurenz Zellweger in Trogen, der seinerseits über die Jahre 533 Briefe an Bodmer schickte12; gut einhundert an Johann Georg Sulzer und ca. 240 von ihm, womit die umfangreichsten Teilkorrespondenzen bezeichnet wären.13 Dass vom wohl wichtigsten aller Bodmerschen Gesprächspartner, Johann Jakob Breitinger, wegen der räumlichen Nähe lediglich knapp dreißig Briefe in Zürich erhalten sind, mag man dagegen bedauern können.
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So etwa in der Kantonsbibliothek Trogen im Appenzell (ca. 200 Briefe), aber auch in der UB Leipzig (40 Briefe, davon 14 an Gottsched), im Gleimhaus Halberstadt, in der SUB Hamburg, der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover oder im Goethe-SchillerArchiv Weimar. Vellusig, Robert, Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2000 (Literatur und Leben, 54), S. 7ff. Gotthold Friedrich Stäudlin verfuhr in seiner 1794 in Stuttgart erschienenen Sammlung Briefe berühmter und edler Deutschen ebenso nach diesem Prinzip wie später Wilhelm Körte (Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner an Gleim, Zürich 1804). GSA Weimar Bestand 75. Vgl. Nickisch, Reinhard M. G., Art. „Briefsteller“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, S. 257ff. Vgl. Zentralbibliothek Zürich: Ms Bodmer 10; die Briefe wurden im Zeitraum von 1718– 1781 gewechselt. Vgl. Kantonsbibliothek Trogen, Appenzell Ausserrhoden, Ms 75/I, III und IV. Vgl. auch die Briefwechsel mit dem Theologen und Übersetzer Johann Heinrich Waser (57 Briefe an Bodmer) sowie mit Wieland (37 an Bodmer) und Klopstock (25 an Bodmer).
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Bodmers Briefwelten
Wie unschwer erkennbar ist, tut sich hier ein gewaltiges, bisher eher punktuell erschlossenes Arbeitsfeld auf. Schon eine minimale Auswertung in Regestenform verspräche wichtige Einsichten in diese, dann eben doch sehr wenigen wirklich intimen Briefdiskurse. Welche Grade der Vertrautheit und Vertraulichkeit dabei üblich waren, wäre darin ebenso zu untersuchen wie die für den Standort Zürich gängige Sprachenvielfalt14 oder aber die Funktionen, die Bodmer selbst mit der Bewahrung der Briefe verknüpfte.15 Von ebensolcher Relevanz sind jedoch auch einige der quantitativ eher unscheinbaren Teilkorrespondenzen. Wo bei ersteren Dauer und Kontinuität eine untersuchenswerte Gesprächskonstellation begründen, ist es bei manchen der letzteren der jeweilige Anlass des mitunter tatsächlich kaum mehr als buchstäblich einen einzigen BriefWechsel ausmachenden Kontaktes. Bodmers Korrespondenzen – typologisch, funktional und thematisch betrachtet Eine qualitative Klassifikation des überlieferten Materials bietet sich ebenso an wie dessen selektive Rekonstruktion. Deutlich voneinander zu scheiden sind etwa die Einzelbriefe berühmter Zeitgenossen, die als besagte ‚Muster des guten Geschmacks‘ aufbewahrungswürdig wurden (z. B. die Briefe Christian Wolffs, der Neuberin, Friedrich Nicolais oder Lichtenbergs), von denen der im Falle Bodmers ausgesprochen zahlreichen jugendlichen Verehrer (z. B. die Brüder Stolberg oder Sophie La Roche). Die Kategorie rein privater Schreiben kann dabei praktisch außer Acht gelassen werden; erwähnt seien lediglich die beiden Kondolenzbriefe der Eltern Bodmers von 1735 anlässlich des Todes des letzten verbliebenen Enkels.16 Hinsichtlich des von Bodmer gepflegten intellektuellen Austauschs erscheinen dagegen diejenigen Teilkorrespondenzen, in deren Zentrum die zielgerichtete Informationsbeschaffung steht, wesentlich aussagekräftiger. Seine ausgeprägte Neigung, fernen Korrespondenzpartnern komplizierte, häufig literarhistorische Sachverhalte betreffende Auskünfte abzuverlangen, die ihm offenbar niemand so recht verwehren mochte, ist ein besonders lohnender Gegenstand, wegen der Einblicke in die Denk- und Arbeitsweisen Bodmers wie in die Informationswege des Zeitalters.
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Lohnend erschiene hier der Vergleich mit den Usancen anderer schweizerischer Intellektueller, vgl. etwa: Graber, Heinz u. a. (Hrsg.), Bonstettiana. Briefkorrespondenzen Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises [...], Göttingen 2005, Bd. 5.1 und 5.2. Vgl. ZB Zürich, Ms Bodmer 19, 1-4. Vgl. ZB Zürich, Ms Bodmer 1/17 (1. März 1735) und 18 (undatiert).
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Ein markantes Beispiel hierfür stellt die Anfrage an Johann Ulrich König (1688–1744) dar, seines Zeichens „Königlicher Geheimsekretär und Hofpoet“ am Dresdner Hof unter Friedrich August II. Als dieser im Spätherbst des Jahres 1723 den vom 25. Juli datierenden Brief aus Zürich erhielt, beantwortete er ihn zunächst einmal gar nicht, weil Bodmer in seiner „gelehrten Zuschrift“ – als die König das Schreiben später bezeichnete – augenscheinlich so viele Fragen gestellt hatte, dass die spärliche freie Zeit des Hofpoeten in den Folgemonaten für die Beschaffung der aus der Schweiz angeforderten Informationen benötigt wurde.17 Um nachgerade ‚erschöpfende‘ bio-bibliographische Auskünfte über alle nur denkbaren, bis dahin in Erscheinung getretenen Poeten deutscher Sprache des Barockzeitalters hatte Bodmer König gebeten. Dies lässt sich indirekt sogar noch aus dem Umfang des in der Druckfassung im Oktavformat immerhin neunzehn Seiten beanspruchenden Antwortschreibens vom 28. März 1724 ablesen, das zu einer literarhistorischen Abhandlung eigenen Ranges geriet.18 Es ist anzunehmen, dass sich Bodmer mit einigem Bedacht in dieser Sache gerade an König gewandt haben wird. Der umtriebige Schriftsteller, Librettist und begehrte Fachmann in Zeremonialfragen war mit besten Kontakten sowohl zu den maßgeblichen Kulturträgern als auch zur Politik ausgestattet, ein hervorragend informierter Ansprechpartner, der genauer als andere keineswegs allein die literarischen Verhältnisse seiner Zeit durchschaute.19 Von Zürich aus gesehen war all das weit weg, und in zumeist noch größerer Entfernung hatten sich die Objekte des Bodmerschen Interesses aufgehalten: in Schlesien etwa oder in Ostpreußen, wo er sich für die Dichter der Kürbishütte interessierte. Um nun überhaupt den Blick von der weit südwestlich gelegenen Zürcher Peripherie her an den nordöstlichen Rand des Einzugsbereichs der deutschen Sprache und Kultur richten zu können, wählte Bodmer den naheliegenden Weg, einen
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Vgl. „Litterarische Pamphlete. Aus der Schweiz. Nebst Briefen an Bodmern“, Zürich 1781, S. 29-47, Zitat S. 29; vgl. auch: Brandl, Alois, Barthold Heinrich Brockes. Nebst darauf bezüglichen Briefen von J. U. König und J. J. Bodmer. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Innsbruck 1878, S. 137-170. (Ms Bodmer 3.12/1; Dresden, 28. März 1724.) Ebd., S. 32. Von besonderem Interesse für Bodmer war neben Simon Dach auch Canitz, vgl. Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig Freiherr von, Gedichte, Jürgen Stenzel (Hrsg.), Tübingen 1982 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N. F. 30), S. 413ff. Es könnten seine „Geistlichen und weltlichen Lieder“ 1648 (Dünnhaupt 4.1) gemeint sein; vgl. grundsätzlich hierzu: Martin, Dieter, Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830, Frankfurt am Main 2000 (Das Abendland. Forschungen zur Geschichte des europäischen Geisteslebens, N. F. 26). Vgl. zu Königs vielfältigen Kontakten: Voss, Steffen / Wolff, Hellmuth Christian, Art. „König, Johann Ulrich von“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Kassel, Basel u. a. 2003, Personenteil, Bd. 10, Sp. 493ff.
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vorhandenen Kontakt zu einem ihm vertrauenswürdig erscheinenden Bekannten zu aktivieren, den er als engagierten Spracherneuerer und erklärten Feind allen ‚Schwulstes‘ kennengelernt hatte. Dieses Vorgehen ist sehr typisch für ihn: das derart stetig gepflegte Kontaktnetz ermöglichte es Bodmer praktisch von Anbeginn seiner intellektuellen Laufbahn, solche zuverlässigen Informationen aus verschiedensten Geistesmetropolen des deutschsprachigen Raumes zu erlangen.20 Im konkreten Fall hieß das also: Bodmer rief, und König setzte alle Hebel in Bewegung. Vergleichbar verhielt es sich bei dem Kontakt zum Straßburger Gelehrten Johann Daniel Schöpflin, der um den Codex Manesse kreiste, beim Briefwechsel mit Johann Christoph Clauder in Leipzig21 oder dem Austausch mit Professor Casparson22 in Kassel, bei dem gleichfalls mediävistische Fragen und Quellenkundliches erörtert wurden. Als eine weitere Kategorie lassen sich zudem noch Bodmers mitunter sehr elegant formulierte ‚Geschäftsbriefe‘ bezeichnen: Schreiben, in denen er seine jeweiligen, je länger desto weniger willkommenen Novitäten in Berlin, Leipzig oder Wien anpries.23 Indem er die Kontakte seiner Korrespondenzpartner vor Ort zwecks Vermittlung einer Drucklegung oder zu sonstigen Distributionszwecken zu aktivieren versuchte, provozierte er allerdings häufig genug allein höflich-angestrengte Nachweise der Undurchführbarkeit seines Vorhabens.24 Womit zugleich auch angedeutet wäre, als was die Korrespondenzen Bodmers wohl nicht zu klassifizieren sind: als Gelehrtenbriefwechsel im engeren Sinne. Und dies, obwohl seine Zeitgenossen sie durchaus als solche betrachteten.25 Was bei Albrecht von Hallers Briefnetz so ausgesprochen evident wirkt26, kann für den Zürcher
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Vgl. die Briefwechsel mit Hagedorn in Hamburg und Clauder in Leipzig; jenseits des deutschen Sprachraums korrespondierte Bodmer mit Calepio in Bergamo, aber auch diversen Partnern in der Romandie. Ausführlich zu Clauder: Döring, Detlef, „Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema“, in: Barbara Mahlmann-Bauer/Anett Lütteken (Hrsg.), Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung [in Vorbereitung]. Vgl. ZB Zürich, Ms. Bodmer 1a/I (1-4). Vgl. etwa den Hinweis von Michael Denis vom 8. Juni 1771 (ZB Zürich, Ms Bodmer 1a/11 (1)): „H. von Trattnern macht sich eine Ehre daraus Ihnen zu dienen.“ Typisch hierfür ist z. B. die Korrespondenz mit W. G. Becker (ZB Zürich, Ms. Bodmer 1/9 (1-3). Becker, der auf einer Reise durch Deutschland auch nach Leipzig kam, musste erfahren, dass sich sein vollmundiges Versprechen: „Ueberhaupt ganz ungedruckte Sachen will ich Ihnen gleich unterbringen; bei diesen soll es keine Noth haben“, dort keineswegs einlösen ließ (Brief Nr. 3 vom 17. März 1781). Vgl. etwa die Rezension von „Es.“ zu Stäudlins Briefausgabe (wie Anm. 8), in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, 13/1794, 2. St., S. 521ff. Vgl. Stuber, Martin / Hächler, Stefan / Lienhard, Luc (Hrsg.), Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel 2005.
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Professor für Vaterländische Geschichte, der nie ein Studium im eigentlichen Sinne absolviert, dezidiert keine traditionelle akademische Laufbahn eingeschlagen, sondern eine für ihn und seine Neigungen maßgeschneiderte forciert hatte, nicht so ohne weiteres geltend gemacht werden. Natürlich geht es in seinen Briefen auch um gelehrte Themen wie den Umgang mit mittelalterlichen Urkunden und Manuskripten: der intensive Gedankenaustausch mit dem Historiker und Archivar Carl Friedrich Drollinger z. B. geht der Zürcher Entdeckung des Mittelalters der 40er und 50er Jahre voran und wäre auch aus dieser Perspektive neu zu lesen. Aber mehr noch als um die Wissenschaft kreisen Bodmers Briefe um die Leselust. Eher also mag hier ein im guten Sinne literarischer Briefwechsel vorliegen, der nicht von kühler Kopflastigkeit gekennzeichnet ist oder von „science in the making“27, sondern durch eine begeisterungswillige, zu keinem Zeitpunkt verebbende Leidenschaft für die Lektüren Europas. Hierbei sollte allerdings auf keinen Fall die eminent politische Dimension des Briefbestandes unerwähnt bleiben. Ein in diesem Kontext besonders gravierendes Desiderat ist die so deutlich von Preußen, namentlich aber von Friedrich II. auf Bodmer und seinen Kreis ausgehende Faszination, die sich im von Sulzer vermittelten und nach Trogen geschafften Knobelsdorff-Porträt des Königs ebenso dokumentiert wie in der gleichfalls von ihm gewährleisteten ‚Kriegsberichterstattung‘ aus Berlin.28 Das Beispiel der Preußen-Begeisterung zeigt jedoch zugleich, dass eine leidlich adäquate Analyse nicht auf die Briefe allein begrenzt bleiben darf: die in der Zürcher Zentralbibliothek überlieferten Sammelbände aus der Privatbibliothek Bodmers, die u. a. verschiedene diesbezügliche Einblattdrucke Ramlers und Gleims enthalten, die er handschriftlich annotiert hat – auch dies ein bisher weder registrierter noch ausgewerteter Autographenbestand –, gilt es hierfür ebenso zu konsultieren wie seine verstreut überlieferten, aber thematisch zugehörigen Notizen.29 Sie enthalten Sprüche wie diesen: „Wenn Koenig Friederich klopfft auf die Hosen / So flieht die reichsarmee und die Franzosen.“ Und auch ein anderes dieser ZettelVerslein mutet aus Bodmers so entschlossen republikanischer Feder mindestens bemerkenswert an30: „freündlich gegen jedermann / vertrau-
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Vgl. Hatch, Robert, „Correspondence networks“, in: Wilbur Applebaum (Hrsg.), Encyclopedia of the Scientific Revolution from Copernicus to Newton, New York, London 2000, S. 168ff. Vgl. hierzu Eisenhut, Heidi, „Das Profilbildnis Friedrichs II. von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff in der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden in Trogen“, in: Pro saeculo XVIII Societas Helvetica, 31/2007, S. 6-10. Vgl. ZB Zürich, Signatur: Gal Ch 45. Bodmer an Zellweger, 31. Dezember 1752, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Trogen, Ms. 75/III, Nr. 54.
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Bodmers Briefwelten
lich gegen wenig / Wenig Worth und viel gethan / So machts unser König / Vivat.“31 Die im Briefbestand nicht eben seltenen Dokumente von Aufklärern aus der zweiten Reihe, deren fundierte Einsichten in Regierungsapparate oder die zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse keineswegs unterschätzt werden sollten, führen zu einer weiteren Problematik. Geadelt gleichsam durch ihren Kontakt zu Bodmer werden sie zwar einer relativen Anonymität enthoben, beim Umgang mit ihren Briefen jedoch sollte auch das methodische Problem der freiwilligen wie der unfreiwilligen Hagiografie bedacht werden: jener der Zeitgenossen und jener der heutigen Forscher, die mehr oder minder unkritisch von einem durch die Überlieferung sichtbar gegebenen ‚Zentrum‘ ausgehen. Sinnvoller spräche man hier womöglich von Korrespondenten ‚auf Augenhöhe‘, deren faktische Gleichrangigkeit im konkreten Kontakt freilich häufig genug erst mittels aufwendiger Rekonstruktionsarbeit deutlich wird, bei der Kommentierung wie Briefhermeneutik zu vereinen sind. Korrespondenzen jenseits der Briefsteller Wie eine kommentierende Briefinterpretation aussehen könnte, sei abschließend nun anhand der lediglich vier Briefe umfassenden späten Korrespondenz Bodmers mit dem Wiener Jesuitenpater und ‚Barden‘ Michael Denis (1729–1800) aus den Jahren 1771, 1777 und 1778 angedeutet, die um den Austausch verschiedenster literarischer Werke sowie die Drucklegung von Bodmers Homer-Übertragung kreist.32 Namentlich im ersten Brief Bodmers von 1771 findet sich ein geistreiches wie anspruchsvolles Feuerwerk an Intellektualität und Intertextualität, vereint mit einem fast trotzig zu nennenden Willen zur Stilisierung: eine altersradikale Haltung dies, mit der auch der dreiundsiebzigjährige Bodmer seine entschlossen ‚eigene‘ Position in der literarischen Welt der siebziger Jahre zu behaupten suchte. War dieser einerseits nun darum bemüht, durch Hinweise auf bestimmte Lektüren konsensstiftend zu wirken – hierzu dienten ihm Hallers
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Vgl. Fontius, Martin, „Der Ort des ‚Roi philosophe‘ in der Aufklärung“, in: ders, (Hrsg.), Friedrich II. und die europäische Aufklärung, Berlin 1999 (Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte, Beiheft 4), S. 9-27. Vgl. ZB Zürich Ms. Bodmer 1A, 11 (1 und 2) und 18.11 (Entwurf) sowie: Retzer, J. F. von (Hrsg.), Michael’s Denis Literarischer Nachlass, Wien 1801, S. 120f.; Kriegleder, Wynfried, Art. „Michael Denis“, in: Walther Killy (Hrsg.), Literatur Lexikon, Gütersloh 1989, Bd. 3, S. 26f., sowie: Wurzbach, Konstantin von, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich [...], 45 Bde., Wien 1856–1882, Bd. 3, S. 238-246.
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„Alpen“ ebenso wie Gellert-Zitate, Homerisches oder Mittelhochdeutsches –, so bot ihm das Schreiben zugleich doch auch einen willkommenen Anlass zur Distanznahme gegenüber der jüngeren Generation, von der er sich nicht von seinem eigentlichen Lebensinhalt, eben dem Schreiben, abbringen lasse wollte.33 Lawrence Sternes „Yorick“ diente Bodmer dabei dann zu einer ungewöhnlich deutlich formulierten schriftstellerischen Selbstdefinition, mit der er Denis auch im Blick auf den von ihm verkörperten Traditionalismus umwarb, die aber, als an einen katholischen Theologen gerichtet, durchaus ein wenig ungewöhnlich formuliert anmutet: Tadeln Sie mich, mein ehrwürdiger Pater, wenn ich das Dritte von Yoriks unterscheidenden Kennzeichen eines Menschen: Ein Buch schreiben, eine seiner vier Haupttugenden, ohne Mass ausgeübt habe. Die Arbeit, Kinder des Geistes zu zeugen, ist eben sowohl mit der Wollust begleitet, als Söhne und Töchter des Fleisches hervorzubringen. Nur diese Wollust zu geniessen, ist dem Frost des Alters nicht versagt. Ich habe kein Bedenken, Ihnen zu bekennen, dass das Angenehme bey dieser ersten Art der Schöpfung eben so viel zu meinem unaufhörlichen Schreiben beygetragen hat, als das Verlangen, zu verbessern, zu nutzen, zu belustigen.
Bodmers explizites Bekenntnis zur Erotik des Schreibens mag – wie sein Lektürehunger auch – am Ende wohl eher eine literarische als eine wissenschaftliche Existenzform begründen. Dass all dies nicht zweckfrei formuliert wurde, versteht sich zudem, wandte er sich doch wohl vornehmlich deshalb an Denis, weil dieser bei dem berüchtigten Raubdrucker Trattner34 publizierte. Für Bodmer sollte Denis vor Ort „Hebammenstelle“ vertreten, um die „Geistesfrüchte an den Tag hervor zu hohlen“, was schließlich schon Sokrates getan habe. Ein Argument, mit dem Denis das Verneinen verunmöglicht wurde, der in seiner Antwort sogleich die Adresse Trattners bekanntgab, „ein paar duzend“ Exemplare in Aussicht stellte und ergänzte: „Ich werde den Hebammendienst genau befolgen“. Wegen seiner eben nur einem gleichrangigen ‚Kopf‘ wirklich eingängigen Anspielungen muss der Brief Bodmers als ein Diamant aufklärerischer Briefkultur gelten. Zugleich aber wird deutlich, wonach hier eigentlich noch zu fragen wäre. Eher sozialgeschichtliche Aspekte, wie die Kontaktpflege zwischen Autor und Verleger, wären dabei ebenso zu berühren wie die brisante Frage, warum der reformierte Zürcher Bodmer mit Wiener Jesuiten korrespondierte und über Denis Grüße an Joseph von Sonnenfels und Carl Mastalier schickte.35 Zugleich wäre die wohl nur politisch zu
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Die Rede ist hier von Postel, Pietsche, Klopstock und Wieland. Vgl. Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 46, 285-293. Zu dieser Zeit hatte er wenigstens ansatzweise begonnen, seine erfolgreiche wie unerfreuliche Geschäftspraxis zu hinterfragen, freilich ohne Konsequenzen für die Verlagsproduktion. Vgl. Bauer, Werner M., Art. „Karl Mastalier“, in: Killy (Hrsg.), Literatur Lexikon, Gütersloh 1990, Bd. 7, S. 512; Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 17, S. 90ff.
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Bodmers Briefwelten
lesende Antwort von Denis unter die Lupe zu nehmen, dass es „allgemach überall Tag“ werde, und dass Bodmer ja um die „Bemühungen der Pfalz, Baierns und Westphalens“ wisse.36 Jenseits gesellschaftlicher Diskurse jedoch lohnt auch der Briefstil Bodmers die Analyse: gerade die späten Briefe, die häufig um das Altern des Autors und das mit dem Alter zunehmende Gefühl des Nichtverstandenseins kreisen37, belegen, dass von einer (wie auch immer gearteten) ‚Natürlichkeit‘ des Schreibens kaum mehr die Rede sein kann.38 Eine ganz besondere Art zu schreiben ist dies, die durch vehemente Individualität den Vorgaben der verbreiteten zeitgenössischen Briefsteller zu spotten scheint und doch auch wieder nicht. Bei einem derart von gesellschaftlichen Zwängen befreiten und zugleich von selbstauferlegten intellektuellen Erfordernissen geprägten Stil könnte es sich nämlich durchaus auch um eine ambitionierte Spielart der von der Forschung beschriebenen, entschieden politischen Dimension der aufklärerischen Briefkultur handeln, mittels derer eine ganze Gesellschaft freier zu denken gelernt hat.39 Dass Bodmer dieses freie Denken zudem durch seine schriftstellerischen Arbeiten wie den Austausch mit jungen Menschen auf vielfältige Weise zu befördern suchte, vermag diesen Eindruck noch zu unterstreichen.
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Vgl. den seit Beginn der 50er Jahre geführten, sporadischen Briefwechsel Bodmers mit Heinrich Daniel Bingner in Mannheim; in der Zentralbibliothek Zürich sind die Briefe Bingners unter der Signatur Ms. Bodmer 1.13 (1-9) erhalten. Vgl. hierzu auch den Brief an E. von Gemmingen (auszugsweise in: Deutsches Museum, 2/1779, S. 457f.): „Ich stand im November vorigen Jahres am Rande des Grabes. Zuvor war ich nur bejahrt; seitdem bin ich alt. Die Schenkel schwanken und der ganze Körper ist welk.“ Vgl. Hentschel, Uwe, „‚Briefe sind Spiegel der Seelen.‘ Epistolare Kultur des 18. Jahrhunderts zwischen Privatheit und Öffentlichkeit“, in: Lessing-Yearbook, 33/2001, S. 183-200. Nickisch, Reinhard M. G.: „‚[...] So wird Ihr Brief natürlich seyn.‘ Zur Geschichte der praktischen deutschen Brieflehre des 18. Jahrhunderts“, in: Journal of English and Germanic Philology, 98/1999, 4, S. 467-480.
Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern, 1759–1800 Martin Stuber Die Oekonomische Gesellschaft Bern wurde 1759 gegründet.1 Sie stellte sich dabei ausdrücklich in die illustre Ahnenreihe ihrer Vorgänger in Edinburgh (1723), Dublin (1731), Florenz (1753) London (1754) und Rennes (1757). In der folgenden Gründungswelle von ökonomisch-patriotischen Gesellschaften, die in den 1760er Jahren europaweit einsetzte, wurde die Berner Sozietät dann schon kurze Zeit später selber als Pioniergesellschaft mit Vorbildwirkung bezeichnet, dies nicht zuletzt wegen ihres zweisprachig erschienenen Publikationsorgans Abhandlungen und Beobachtungen beziehungsweise Mémoires et Obsérvations. Ziel der ökonomisch-patriotischen Gesellschaften ist die Bereitstellung nützlichen Wissens im Hinblick auf ökonomische und gesellschaftliche Reformen. Ihre wichtigsten Mittel sind neue Formen der Kommunikation, mit denen globale Wissensbestände und lokale Erfahrung näher miteinander in Verbindung gebracht werden sollen.2 Der Korrespondenz kommt dabei zentrale Bedeutung zu. _____________ 1
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Siehe zur Oekonomischen Gesellschaft Bern allgemein: Bäschlin, Conrad, Die Blütezeit der ökonomischen Gesellschaft in Bern 1759–1766, Laupen 1917; Erne, Emil, Die schweizerischen Sozietäten: Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz, Zürich 1988, S. 188-204; Salzmann, Daniel, Aufstieg und Niedergang der Oekonomischen Gesellschaft in Bern 1759–1797. Tätigkeitsprofil und Innenperspektive, unveröffentl. Lizentiatsarbeit am Historischen Institut der Universität Bern 2006; Holenstein, André / Stuber, Martin / GerberVisser, Gerrendina. (Hrsg.), Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen (Cardanus Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte, 7/2007); Stuber, Martin, „‚dass gemeinnüzige wahrheiten gemein gemacht werden‘. Zur Publikationstätigkeit der Oekonomischen Gesellschaft Bern, 1759–1798“, in: Marcus Popplow (Hrsg.), Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Regionale Fallstudien zu landwirtschaftlichen und gewerblichen Themen in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, Münster 2008. Siehe zur ökonomisch-patriotischen Bewegung allgemein: Lowood, Henry E., Patriotism, Profit, and the Promotion of Science in the German Enlightenment. The Economic and Scientific Societies (1760–1815), New York, London 1991; Schlögl, Rudolf, „Die patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften. Organisation, Sozialstruktur, Tätigkeitsfelder“, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt am Main u. a. 1993, S. 61-81; Meyer, Torsten / Popplow, Marcus, „‚To employ each of Nature’s products in the most favourable way possible‘. Na-
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Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern
Obschon die Briefsammlungen Gelehrter Gesellschaften und Akademien seit jeher zum einschlägigen Quellenbestand gehören3, wurde dieser besondere Typus des gelehrten Briefwechsels noch kaum explizit als Quellengattung thematisiert. Erst eine 2003 erschienene Studie zur Korrespondenz der Jenaer Naturforschenden Gesellschaft versucht eine eigentliche Analyse der Brieffunktionen. Dabei wird unterschieden zwischen wissenschaftsorganisatorischen und inhaltlichen Funktionen, die sich ihrerseits differenzieren lassen in den Transfer von Wissen, Informationen und Meinungen.4 Der folgende Beitrag beschränkt sich mehrheitlich auf eine Makroperspektive und nimmt den Briefwechsel der Oekonomischen Gesellschaft Bern als Gesamtorganismus in den Blick. In der Tradition von Daniel Roche wird das Korrespondenznetz als ‚lebender Organismus‘ betrachtet, der eigene räumliche und soziale Binnenstrukturen aufweist, in vielfältigem Austausch mit seiner Umgebung steht und sich mit anderen derartigen Organismen vergleichen lässt.5 Zugrunde gelegt werden vier Analyseebenen: Zeitliche Dynamik (1), räumliche Ausdehnung (2), Mitgliedschaftsrelationen (3) und Vernetzung (4). Ich stütze mich dabei zum einen auf die Untersuchungen des laufenden Forschungsprojektes zur Oekonomischen Gesellschaft Bern, zum anderen auf die vorausgegangen Forschungsarbeiten zur Korrespondenz Albrecht von Hallers, der die Berner Sozietät mehrere Jahre lang präsidiert hat.6
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ture as a Commodity in Eighteenth-Century German Economic Discourse“, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung, 29/2004, 4, S. 4-40. Siehe z. B. Electoralis Academiae Scientiarum Boicae Primordia. Briefe aus der Gründungszeit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Max Spindler (Hrsg.), München 1959; Rusnock, Andrea, „Correspondence networks and the Royal Society (1700–1750)“, in: The British Journal for the History of Science, 32/1999, 2 [Special issue: Did the Royal Society matter in the eighteenth century?, Richard Sorrenson (Hrsg.)], S. 155-169; Schnalke, Thomas, „Wissenskommunikation und Wissenschaftsorganisation jenseits der Universitäten. Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina um 1750 im Spiegel der Korrespondenz zwischen Elias Büchner und Christoph Jacob Trew“, in: Detlef Döring/Kurt Nowak (Hrsg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Stuttgart, Leipzig 2002, Bd. 2, S. 73-94. Ziche, Paul / Bornschlegell, Peter, „Überregionale Wissenschaftskommunikation um 1800. Briefe und Reisen einer Jenaer Wissenschaftsgesellschaft“, in: Holger Zaunstöck/Markus Meumann (Hrsg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 252-268. Roche, Daniel, „Les primitifs du Rousseauisme. Une analyse sociologique et quantitative de la correspondance de J. J. Rousseau“, in: Annales E.S.C., 26/1971, S. 151-172. Boschung, Urs / Braun-Bucher, Barbrara / Hächler, Stefan u. a. (Hrsg.), Repertorium zu Albrecht von Hallers Korrespondenz (1724–1777), 2 Bde., Basel 2002; Stuber, Martin / Hächler, Stefan / Lienhard, Luc (Hrsg.), Hallers Netz. Ein Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Bern 2005.
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Martin Stuber
1. Zeitliche Dynamik Die Oekonomische Gesellschaft sprach ihrer Korrespondenz von Anfang an eine große Bedeutung zu. In ihrem Gründungsprogramm wurden die „patriotischen Ehrpersonen […] zu einem möglichst-geschwinden Briefwechsel freundlichst eingeladen“.7 Und in ihren Statuten von 1762 zählte die Sozietät die Aufrechterhaltung der Korrespondenz zu den ersten Aufgaben ihrer Sekretäre. Die beiden Sekretäre, die mit der Correspondenz in beiden, der deutschen und französischen Sprache, beladen sind, und auf gleiche Weise erwählt werden, sollen […] die an die Gesellschaft gerichteten Briefe sorgfältig aufbehalten, mit dem Auszuge der Antworten begleiten, und zu End des Jahres in ein Buch zusammen heften […]8
Es ist zweifelhaft, ob alle Sekretäre diese Aufgaben jederzeit nach Vorschrift ausgeführt haben. Jedenfalls sind keine Auszüge aus den Antwortbriefen der Gesellschaft überliefert, zudem scheinen auch nicht alle eingelangten Briefe abgelegt worden zu sein. Für den Untersuchungszeitraum 1759 bis 1800 sind im Archiv der Burgerbibliothek Bern 1044 Briefe an die Oekonomische Gesellschaft greifbar, während weitere 792 Briefe ohne archivalische Überlieferung aus den Versammlungsprotokollen rekonstruiert werden konnten (siehe Abb. 1). Briefe an die Oekonomische Gesellschaft Bern, 1759-1800 200 180 160
Anzahl Briefe
140 120 100 80 60 40 20 0 1759
1763
1767
1771
1775
1779
1783
1787
1791
1795
1799
Nachweis nur im Versammlungsprotokoll (792 Briefe) Archivalische Überlieferung (1044 Briefe)
Abb. 1
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Strahm, Hans, „Das Gründungsprogramm und die ersten Veröffentlichungen der Oekonomischen Gesellschaft.“ Separatum aus: Das Schweizerhaus 1846–1946. Festschrift zur Hundertjahrfeier, Bern 1946. „Geseze der Oekonomischen Gesellschaft zu Bern, 1762“, in: Abhandlungen und Beobachtungen durch die oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt, 1762, 1. St., S. XLIII-XLVIII, Absatz VII.
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Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern
Die Verteilung dieser insgesamt 1846 Briefe auf die einzelnen Jahre ist natürlich trotzdem nicht nur eine Folge der Überlieferungsgeschichte. Die zeitliche Dynamik steht vielmehr in vielfältigen Zusammenhängen mit dem zeitlichen Verlauf anderer Aktivitäten der Institution: der Neuaufnahme ordentlicher Mitglieder, der Ernennung von Ehrenmitgliedern, der Anzahl Sitzungen, der verliehenen Preise und Prämien sowie der Publikationstätigkeit. So kann es nicht überraschen, dass die Jahre intensiver Gesellschaftsaktivität in den 1760er und den frühen 1770er Jahren auch die Jahre intensiver Korrespondenz waren.9 2. Räumliche Ausdehnung Welches sind die räumlichen Charakteristika des Korrespondenznetzes?10 Unter den häufigsten Absendeorten mit mehr als 20 Briefen fällt die Dominanz der französischsprachigen Schweiz auf, die ja mit dem Waadtland zum größten Teil zum Territorium der Bernischen Stadtrepublik gehörte (siehe Abb. 2). Vertreten sind aber auch die internationalen Zentren der Wissenschaft beziehungsweise der patriotischen Ökonomie wie Paris, London und Lyon. Erwähnenswert ist schließlich die Tatsache, dass das Deutsche Territorium bei diesen häufigsten Absendeorten nicht erscheint, bei den weniger häufigen Absendeorten aber durchaus, was der Zusammenzug nach heutigen Staaten sichtbar macht. Mit über 2 Dritteln stammen mit Abstand die meisten Briefe aus dem Gebiet der heutigen Schweiz, doch Deutschland ist wie Frankreich mit rund einem Zehntel aller Briefe ebenfalls gut vertreten. Immerhin einen Anteil von etwas mehr als 3 Prozent weisen auch Italien und Großbritannien auf, während 9 weitere Staaten nur im Promillebereich auftreten. Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft besitzt in seiner räumlichen Ausdehnung durchaus europäische Dimensionen, wie der Vergleich mit anderen Gelehrtennetzen sofort deutlich macht.11 Nicht vom europäischen Typus ist beispielsweise das Korrespondenznetz von Rousseau, das sich im wesentlichen auf Frankreich und die französischsprachige Schweiz beschränkt, südlich der Alpen, östlich des Rheins und _____________ 9 10
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Siehe dazu ausführlich Salzmann, Aufstieg. Nicht geleistet werden kann hier die Analyse des Zusammenhangs zwischen räumlicher Mobilität und raumübergreifender Kommunikation; siehe dazu: Stuber, Martin, „Brief und Mobilität bei Albrecht von Haller. Zur Geographie einer europäischen Gelehrtenkorrespondenz“, in: Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, München 2005 (Historische Zeitschrift, Beiheft 41), S. 313-334. Vergleichend herangezogen werden die Befunde aus: Stuber, Martin / Hächler, Stefan / Steinke, Hubert, „Albrecht von Hallers Korrespondenznetz. Eine Gesamtanalyse“, in: Stuber/Hächler u. a. (Hrsg.), Hallers Netz, S. 1-216, hier: S. 31-48.
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auf den Britischen Inseln aber nur sehr marginal vertreten ist. Umgekehrt verzeichnet dasjenige des Nürnberger Gelehrten und Redaktors Christoph Jakob Trew kaum Absendeorte westlich des Rheins. Das Netz der Berner Sozietät reicht dagegen wie dasjenige von Haller von der Loire bis an Elbe und Oder, und beide sind auch südlich der Alpen relativ gut vertreten. Es sind genau diese Eigenschaften, die Netze von diesem europäischen Typus zu Bindegliedern zwischen dem romanischen und dem deutschsprachigen Kulturraum machen.
Abb. 2
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Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern
3. Mitgliedschaftsrelationen Zwischen 1759 und 1800 sind für die Oekonomische Gesellschaft 125 ordentliche Mitglieder, 196 Ehrenmitglieder, 70 Subskribenten und 213 Mitglieder von Zweiggesellschaften nachzuweisen.12 Im traditionellen Verständnis sind die ordentlichen Mitglieder die Hauptträger der Sozietätsaktivität. Ohne Zweifel trifft dies für zahlreiche Vertreter dieses Typus zu, ganz besonders für Funktionsträger wie Albrecht von Haller, Niklaus Emanuel Tscharner und Vinzenz Bernhard Tscharner. Unter den ordentlichen Mitgliedern finden sich aber nicht wenige, die außer dem Bezahlen des jährlichen Mitgliederbeitrags oder dem Stiften einer Preisfrage in der Sozietät keine Spuren hinterlassen haben. Solche ordentlichen Mitglieder verhielten sich in der Art sogenannter Subskribenten, die sich explizit zu keiner Aktivität, sondern nur zu finanzieller Unterstützung verpflichteten, und die sich in erster Linie aus zahlungskräftigen patrizischen Standesgenossen zusammensetzen. Die Ehrenmitglieder sind zum einen bekannte Größen, von denen sich die Sozietät weniger aktive Mitarbeit als internationalen Glanz erhoffte. Sie stammen aus der Welt des europäischen Hochadels oder es sind Koryphäen der europäischen Gelehrtenrepublik wie Carl von Linné. Zum anderen wurde die Ehrenmitgliedschaft aber auch verliehen als Anerkennung für aktive Teilhabe, so etwa im Fall des waadtländischen Pfarrers Jean-Louis Muret, von dem im Briefbestand der Oekonomischen Gesellschaft die meisten Briefe überhaupt überliefert sind (99 Briefe). Vor der Ernennung zum Ehrenmitglied war Muret viele Jahre ein äußerst aktives Mitglied der Zweiggesellschaft in Vevey. Die insgesamt rund 1840 Briefe an die Oekonomische Gesellschaft Bern können nun nach der Mitgliedschaftsrelation ihres Verfassers aufgeschlüsselt werden (siehe Abb. 3). Mit über einem Drittel am meisten Briefe schrieben die Ehrenmitglieder. Solche meist internationalen Kontakte strebte die Berner Sozietät von allem Anfang an. Bereits im Gründungsjahr 1759 wurde der Sekretär Elie Bertrand damit beauftragt, „einige Korrespondenzen außer Landes zu errichten.“13 Auf die offenen Ränder ihres Kommunikationsnetzes weisen die 30 Prozent Briefe von Korrespondenten ohne formellen institutionellen Bezug zur Oekonomischen Gesellschaft hin. Aber auch die knapp 20 Prozent Briefe von ordentlichen Mitgliedern sind erklärungsbedürftig, denkt man bei dieser Kategorie doch vorerst an Aktiv-Mitglieder vor Ort, die ihre Anliegen an den Versammlungen der Gesellschaft direkt von Angesicht zu Angesicht vorbringen konnten und nicht auf _____________ 12 13
Stuber, Martin / Salzmann, Daniel u. a. (Hrsg.), Forschungsdatenbank zur Oekonomischen Gesellschaft Bern (Standort Historisches Institut der Universität Bern). Nach Salzmann, Aufstieg, S. 44.
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Martin Stuber
Briefverkehr angewiesen waren. Der Grund liegt in der Organisationsform der bernischen Territorialverwaltung, die auf der temporären Mobilität des Stadtpatriziats basierte. Diese Magistraten, aus denen sich der größte Teil der ordentlichen Mitglieder rekrutiert, amtierten jeweils für 6 Jahre in der Berner Landschaft – als Landvogt oder wie beispielsweise Albrecht von Haller als Salzdirektor in Roche – und mussten in dieser Zeit für ihre Mitarbeit in der Gesellschaft den Korrespondenzweg beschreiten. Erwähnenswert sind schließlich die 16 Prozent Briefe von ZweiggesellschaftsMitgliedern. In den erwähnten Statuten von 1762 heißt es: Die Gesellschaft wird sich eine Pflicht machen, alle patriotischen Beförderer des Landbaues, der nüzlichen Künste und der Handlung aufzumuntern, mitarbeitende Gesellschaften an den vornehmsten Örtern des Landes aufzurichten, und sich mit denselben durch eine genaue Correspondenz zu verbinden.14
Korrespondenz der Oekonomischen Gesellschaft Bern nach Mitgliedschaftstypen, gewichtet nach Anzahl Briefen, 1759-1800 (n = 1782 Briefe, exkl. 54 Briefe von Institutionen)
Ordentliches Mitglied 18%
Ohne Mitgliedschaft 30%
Mitglied Zweiggesellschaft 16%
Ehrenmitglied 35% Subskribent 1%
Abb. 3
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„Geseze der Oekonomischen Gesellschaft zu Bern, 1762“, Absatz XIII.
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Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern
Das bernische Territorium reichte vom Genfer See, über das Emmental bis zum Berner Oberland und umfasste damit sowohl naturräumlich als auch bezüglich Agrarverfassung eine außerordentliche Vielfalt; sämtliche Agrarzonen der alten Schweiz waren darin enthalten.15 Der stetige briefliche Austausch mit den über das gesamte bernische Territorium verbreiteten Zweiggesellschaften war Voraussetzung für den von der Oekonomischen Gesellschaft intendierten, räumlich differenzierten Transferprozess, und zwar sowohl für die ökologische als auch für die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit der Innovationen.16 4. Vernetzung Die Dimension Vernetzung soll anhand eines Beispiels aus dem Pflanzentransfer, der für die Oekonomische Gesellschaft von grosser Bedeutung war, dargestellt werden. Johann Rudolf Tschiffeli, Gründungsmitglied der Berner Sozietät, las 1764 in den Abhandlungen der Société d’Agriculture de la généralité de Rouen, von einer neuen Technik zur Verarbeitung der Färberröte, deren Wurzel eine große gewerbliche Bedeutung besaß.17 Er schrieb dem Verfasser des Artikels, Louis-Alexandre Dambourney, Handelsmann in Rouen und Direktor des dortigen Botanischen Gartens, und bat ihn um Rat und Samen. Tschiffeli erhielt beides, las den Brief an den Versammlungen der Oekonomischen Gesellschaft Bern vor und machte mit den Samen Anbauversuche. Zum Dank erhielt Dambourney kurze Zeit später die Ehrenmitgliedschaft der Berner Sozietät. Tschiffeli seinerseits nahm eine Anregung eines weiteren Briefs von Dambourney auf und suchte nach einheimischen Arten der Färberröte. An Albrecht von Haller schrieb er, dessen botanischer Schüler Johann Jakob Dick versichere ihm, die Färberröte gehöre im Wallis zu den natürlich vorkommenden Pflanzen. In der Folge erhielt Tschiffeli sowohl von Haller als auch von dessen langjährigem Korrespondenten Abraham-Louis Decoppet, Pfarrer in Aigle, sowie vom erwähnten Haller-Schüler Dick aus Spiez, tatsächlich Wurzeln und Samen einheimischer Sorten der Färberröte. Und all diese wild wachsenden Färberrötewurzeln wurden dann in der Versammlung vom 17. Juni 1765 präsentiert. Insgesamt kam die Färberröte 1764/65 in _____________ 15 16 17
Schluchter, André, „Agrarzonen“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 1, Basel 2001, S. 144-147. Siehe Stuber, „‚dass gemeinnüzige wahrheiten gemein gemacht werden‘. […]“. Im Folgenden nach: Stuber, Martin, „Kulturpflanzentransfer im Netz der Oekonomischen Gesellschaft Bern“, in: Dauser, Regina u.a. (Hrsg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts. Augsburg (Colloquia Augustana, im Druck); dort auch die einzelnen Belege.
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acht Versammlungen der Oekonomischen Gesellschaft sowie in zwei Jahresberichten ihrer Zweiggesellschaften zur Sprache. Der Lausanner Pfarrer Jacques-Antoine-Henri Deleuze schickte der Berner Sozietät einen Auszug aus den Verhandlungen der dortigen Zweiggesellschaft und erwähnte dabei ein Manuskript zum Krappanbau des Lausanner Rats Polier. In diesem Auszug wurde zudem vom Versuch eines Färbers berichtet, der auf den Hinweis von Deleuze hin die Baumwolle in türkischer Röte färbte. Auf der Grundlage dieses vielfältigen Austauschs und seiner eigenen Agrarversuche veröffentlichte Tschiffeli 1765 im Publikationsorgan der Oekonomischen Gesellschaft eine umfangreiche Abhandlung zur Färberröte. Diese Publikation erschien 1767 als ins Französische übersetzter Auszug in ebendieser Zeitschrift in Rouen, von wo Tschiffeli nur drei Jahre zuvor seine Anregung bekommen hatte. Die intensiven Transfervorgänge, die gleichzeitig über die institutionellen Kommunikationskanäle der Oekonomischen Gesellschaft – Versammlungen, Briefe, Publikationen – wie über die privaten Korrespondenznetze ihrer aktiven Mitglieder Haller und Tschiffeli abliefen, führten offensichtlich zu neuen Wissensbeständen, denen überlokale Bedeutung zugesprochen wurde. Zudem gelang nach vergleichsweise kurzer Zeit der Schritt in die ökonomische Anwendung. 1765 konnte Tschiffeli stolz bekannt geben, dass auf seinen Krappkulturen in Kirchberg zwölf Familien ihr Auskommen fanden. 1767 schrieb er einem befreundeten Ökonomen nach Winterthur, er habe allein in diesem Jahr über 300 Zentner verkauft, 1000 Zentner seien für das nächste Jahr an den verschiedenen Manufakturen versprochen. 5. Fazit Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern lässt sich nur im Rahmen der Gesamtaktivität der Institution verstehen. Dies nicht nur im zeitlichen Verlauf. Zwischen den unterschiedlichen Kommunikationsformen und Tätigkeiten der Oekonomischen Gesellschaft entwickelten sich vielfältige Wechselwirkungen. Ihr Korrespondenznetz verbindet die Oekonomische Gesellschaft Bern sowohl mit der internationalen Gemeinschaft der Gelehrten und Agrarreformer als auch mit den über das gesamte Territorium verstreuten lokalen Mitarbeitern, namentlich den auf der Landschaft amtierenden Magistraten und Pfarrherren sowie allgemein den Mitgliedern ihrer Zweiggesellschaften. Dies entspricht dem eingangs postulierten Grundanliegen der ökonomisch-patriotischen Gesellschaften, globales und lokales Wissen in eine nähere Beziehung zu setzen.
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Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern
Das Korrespondenznetz der Oekonomischen Gesellschaft Bern darf nicht auf ein egozentriertes Netz reduziert werden, das einzig die Briefkontakte zur Zentralfigur – hier die Institutionen – in den Blick nimmt. Ausgangspunkt muss vielmehr ein multipolares Netz sein, das zum einen Beziehungen und Aktionen zwischen sämtlichen Akteuren innerhalb des einzelnen Korrespondenznetzes einbezieht – anhand der Privatkorrespondenzen ihrer aktivsten Mitglieder –, zum anderen aber auch die Beziehungen und Interaktionen mit den anderen Korrespondenznetzen nicht aus den Augen verliert.18
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Siehe zum Beispiel: Hächler, Stefan, „Deux réseaux de correspondance en interaction. La correspondance entre Albert de Haller (1708–1777) et Carlo Allioni (1728–1804)“, in: Pierre-Yves Beaurepaire (Hrsg.), La plume et la toile: Pouvoirs et réseaux de correspondance dans l’Europe des Lumières, Arras 2002, S. 253-272; Stuber, Martin / Hächler, Stefan u. a., „Exploration von Netzwerken durch Visualisierung. Die Korrespondenznetze von Banks, Haller, Heister, Linné, Rousseau, Trew und der Oekonomischen Gesellschaft Bern“, in: Dauser/Hächler u. a. (Hrsg.), Wissen im Netz. Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds und der Albrecht von Haller-Stiftung unterstützten Forschungsprojekts zur Oekonomischen Gesellschaft am Historischen Institut der Universität Bern; siehe dazu Projekthomepage (www.oeg.hist.unibe.ch); das Quellenkorpus der Gesellschaft befindet sich in der Burgerbibliothek Bern; die quantitativen Angaben stützen sich auf: Stuber/Salzmann u. a. (Hrsg.), Forschungsdatenbank zur Oekonomischen Gesellschaft Bern.
Bernhard Pez OSB im Briefkontakt mit protestantischen Gelehrten Thomas Wallnig
1. Vorbemerkung In den Arbeiten zur Geschichte der Gelehrsamkeit des frühen 18. Jahrhunderts wurde immer wieder der Einfluss der nord- und mitteldeutschen Milieus auf die katholischen Reichsteile in Süddeutschland, insbesondere auf Wien, betont, zumeist unter der Annahme eines starken intellektuellen und strukturellen Gefälles bzw. einer „südlichen“ Rückständigkeit. Diese Grundkonstellation liegt, freilich nuanciert, verschiedenen Arbeiten von Alfred von Arneth über Eduard Winter bis zu Günther Hamann und Grete Klingenstein zugrunde.1 Zwar wurde diese „protestantische Superiorität“ in den Wissenschaften etwa durch Robert Evans und Stefan Benz relativiert, und Peter Hersche fand statt ihrer zu der Formulierung von „konkurrierenden Wertvorstellungen“2, doch ist die Grundlagenforschung vor allem hinsichtlich des Inhalts und der Qualität des Kontaktes zwischen „oberdeutsch“-katholischen und „mitteldeutsch“-protestantischen Gelehrten im frühen 18. Jahrhundert noch unbefriedigend.3 Der vorliegende Beitrag kann
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Vgl. etwa: Arneth, Alfred von, „Johann Christof Bartenstein und seine Zeit“, in: Archiv für Österreichische Geschichte, 46/1871, S. 1-215, hier S. 3-7; Winter, Eduard, Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus (1740–1848), Berlin (DDR) 1962, S. 9-21; Hamann, Günther, „G. W. Leibniz und Prinz Eugen. Auf den Spuren einer geistigen Begegnung“, in: Heinrich Fichtenau/Erich Zöllner (Hrsg.), Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs, Wien, Köln u. a. 1974, S. 206-224, hier S. 206f.; Klingenstein, Grete, „Vorstufen der theresianischen Studienreformen in der Regierungszeit Karls VI.“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung [MIÖG], 76/1968, S. 327-377, hier S. 372-377. Benz, Stefan, Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Römischen Reich, Husum 2003, S. 11-17; Evans, Robert J. W., Das Werden der Habsburgermonarchie (1550–1700), Wien, Köln u. a. 1986, S. 227f.; Hersche, Peter, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg, Basel u. a. 2006, S. 864-872. Döring, Detlef, Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds, Tübingen 2002, S. 195. Neue Aufschlüsse
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und will diese Lücke keineswegs schließen, soll jedoch andeuten, in welcher Weise der angesprochene Diskurs der „katholischen Rückständigkeit“ in der gelehrten Konstellation des frühen 18. Jahrhunderts selbst wurzelt. Die folgenden Überlegungen erwachsen aus der Befassung mit Briefwechsel und Nachlass der Brüder Bernhard († 1735) und Hieronymus Pez († 1762), Geschichtsforscher im niederösterreichischen Benediktinerkloster Melk. Im Zuge seiner Recherchen zur benediktinischen Literaturgeschichte trat Bernhard Pez um 1715 auch in Kontakt mit protestantischen Gelehrten und pflegte mit einigen von ihnen einen mitunter intensiven brieflichen Austausch.4 Im Folgenden sollen in gebotener Kürze die politisch-konfessionellen, buchhandels- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe erörtert werden, vor denen dieser Austausch zu betrachten ist und die bei seiner Bewertung mit zu berücksichtigen sind. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass sich die „konkurrierenden Wertvorstellungen“ im frühen 18. Jahrhundert auch in ganz konkreten konkurrierenden res publicae literariae manifestierten, die, individuell variierend, auf unterschiedlichen kommunikativen Infrastrukturen ruhten (Hof, Buchhandel und Zeitungswesen, monastisches Bildungswesen). 2. Dynastische Politik und Konfession Das Verhältnis zwischen dem Kaiserhof und den protestantischen Territorien im Reich kann gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts als entspannt bezeichnet werden.5 In diesem Zusammenhang sind mehrere
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wird die Behandlung der „Wiener“ Jahre 1712–1714 im Rahmen der Reihe I der LeibnizGesamtausgabe bringen. Zur Pez-Korrespondenz allgemein: Glassner, Christine, „Verzeichnis der im Nachlaß der Melker Historiker Bernhard und Hieronymus Pez erhaltenen Briefe“, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens, 110/1999, S. 195-243; Katschthaler, Eduard, „Über Bernhard Pez und dessen Briefnachlass“, in: Jahresbericht des k.k. Obergymnasiums zu Melk, 39/1889, S. 3-106. Zu den Korrespondenzen mit Protestanten: Döring, Deutsche Gesellschaft, S. 194f.; Hammermayer, Ludwig, „Die Forschungszentren der deutschen Benediktiner und ihre Vorhaben“, in: Karl Hammer/Jürgen Voss (Hrsg.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert: Organisation, Zielsetzung, Ergebnisse, Bonn 1976, S. 122-191, hier S. 173ff.; Katschthaler, Briefnachlass, S. 72-75. Bei den protestantischen Korrespondenten handelt es sich um (beigefügt Anzahl der Briefe und Dauer der Korrespondenz): Johann Christoph (von) Bartenstein 24 (1714–1719); Konrad Widow 4 (1715–1718); Johann Jakob Mascov 1 (1715); Johann Gottlieb Krause 2 (1715–1716); Ernst Salomon Cyprianus 1 (1717); Burkhard Gotthelf Struve 2 (1717–1718); Johann Georg (von) Eckhart 33 (1717–1728); Hermann Schmincke 2 (1718– 1721); Zacharias Konrad von Uffenbach 6 (1719–1723); Johann Burkhard Mencke 1 (1719); Johann Christian Lünig 2 (1721); Christian Gottlieb Buder 2 (1722); Johann Gottlieb Gleditsch an Hieronymus Pez 1 (1725); Christian Gottlieb Schwarz 2 (1728). Zum Folgenden allgemein: Evans, Das Werden der Habsburgermonarchie, S. 203-224; Peper, Ines, Konversionen im Umkreis des Wiener Hofes um 1700, ungedr. phil. Diss., Graz 2003.
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Aspekte zu berücksichtigen: gemeinsame Feinde und gemeinsame militärische Operationen im Westen (Frankreich) und Osten (Osmanisches Reich); dynastische Verbindungen zwischen dem Haus Habsburg und dem Haus Braunschweig-Lüneburg (Amalia Wilhelmine als Gemahlin Josephs I.) bzw. Braunschweig-Wolfenbüttel (Elisabeth Christine als Gemahlin Karls VI.), später auch den (freilich bereits katholischen) sächsischen Wettinern (Maria Josepha als Gemahlin von König August III.); die antikuriale und „reichspatriotische“ Politik Josephs I. (Comacchio); protestantischerseits das Erstarken des von Helmstedt ausgehenden Irenismus, zahlreiche Konversionen zum Katholizismus (z. B. Lambeck, Nessel, Heräus, Wurmbrand, Bartenstein) sowie die Reunionsbestrebungen von Leibniz, Bossuet und Rojas y Spinola; die Funktion Wiens schließlich auch als Sitz von Reichshofrat und Reichshofkanzlei und damit Anziehungspunkt für Protestanten, die freilich in Wien unter einem gewissen Konversionsdruck standen; in diesem Zusammenhang auch das Interesse Leibniz’ für Wien und sein Bemühen um eine dortige Akademie.6 Vor diesem Hintergrund erscheinen die Kontakte von Bernhard Pez nach Hannover (Johann Georg Eckhart) und Leipzig (Johann Gottlieb Krause, Johann Jakob Mascov, Johann Burkhard Mencke) als schlüssige Ergänzungen zu einer diplomatisch günstigen Konstellation; im Falle des Hofhistoriografen Eckhart verlief die Korrespondenz zum Teil über den Hannoverschen Gesandten in Wien, ein Indiz für „hofnahe“ gelehrte Kommunikation.7 Konfessionspolitische Themen wurden in den Briefen von und an Pez tendenziell vermieden oder erschienen gekleidet in humanistische Friedensrhetorik8, wobei Pez’ ordenszentrierter (d. h. antijesuitischer) und tendenziell dynastiebezogener Katholizismus merkbar weniger antiprotestantisch war als jener seiner Mitbrüder in konfessionellen Konfliktzonen wie der Schweiz oder Böhmen.9 Für eine genauere Abwägung der Pez’schen
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Zu Leibniz’ Akademieplänen zuletzt: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Schriften und Briefe zur Geschichte, Malte-Ludolf Babin/Gerd Van den Heuvel (Hrsg.), Hannover 2004, S. 391-423. Wallnig, Thomas, Die Briefe von Johann Georg Eckhart an Bernhard Pez in Text und Kommentar, ungedr. Staatsprüfungsarbeit am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Wien 2001, S. 1ff., 22ff. Der modenesische Gesandtschaftssekretär in Wien Giuseppe Riva leitete Lodovico Antonio Muratoris Wünsche an die Hofbibliothek weiter; Zlabinger, Eleonore, Lodovico Antonio Muratori und Österreich, Wien 1970, S. 85, 170f. Beispiele: Wallnig, Thomas, „Mönch oder Gelehrter? Zur Semantisierung von Argumentationsmustern in den Briefen und Werken von Bernhard Pez“, in: Daniel-Odon Hurel (Hrsg.), Érudition et commerce épistolaire. Jean Mabillon et la tradition monastique, Paris 2003, S. 367-385, hier S. 371ff. Kaum Thematisierung der Konfessionsfrage in der Korrespondenz Pez– Bartenstein, der wohl 1716 konvertierte. Aussagekräftig etwa die Korrespondenzen mit Moritz Müller (St. Gallen) im Zusammenhang mit der Besetzung des Stiftes 1712, sowie mit Rupert Hausdorf von Břevnov-Braunau. Gerade aus den Briefen Pez’ an Müller lässt sich der Tenor der Pez’schen Haltung entnehmen;
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Begrifflichkeit, etwa was den differenzierten Gebrauch von acatholici, heterodoxi bzw. haeretici betrifft, ist die Quellenbasis noch zu dünn. 3. Buch- und Zeitungsmarkt Im Laufe des 18. Jahrhunderts etablierte sich Leipzig als führende Messeund damit auch Buchhandelsstadt im Reich. Ausschlaggebend dafür war eine breite Klientel von Rezipienten und Produzenten auf dem Sektor der Gelehrsamkeit sowie eine gewisse Experimentierfreude im Bereich des Zeitungs- und Journalwesens. Die Acta eruditorum und andere gelehrte Periodika erwarben so ein Renommee, das durch die Stärke des Buchhandelsplatzes Leipzig weit in den katholischen Raum ausstrahlte.10 Im Falle der Korrespondenz von Bernhard Pez erhielten die Leipziger Periodika mehrfach große Bedeutung. Durch den jungen Johann Christoph Bartenstein an Krause und Mencke vermittelt11, ließ Pez 1716 einen Handschriftenkatalog österreichischer Klöster in Krauses Umständlicher BücherHistorie, später einen Aufruf zur Mitarbeit an seiner Bibliotheca Benedictina in den Acta eruditorum drucken: eine Neuheit, sowohl was das Medium betrifft, als auch im Hinblick auf den interkonfessionellen Austausch, zumal Pez sich einen für ihn bisher nicht erreichbaren (und für sein Anliegen nur partiell relevanten bzw. nur partiell an diesem interessierten) Rezipientenkreis erschloss.12 Der Autorität der in den Acta eruditorum gespiegelten wissenschaftlichen Öffentlichkeit wusste sich auch der Wiener Hofbibliothekspräfekt Johann Benedikt Gentilotti zu bedienen, als er 1717 seine Kritik an einem Editionsvorhaben des Pez in einen offenen Brief an Johann Burkhard Mencke kleidete; Leipzig wurde damit zum Schiedsgericht einer Auseinandersetzung zwischen der Wiener Hofbibliothek und Melk.13 Des glei-
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vgl. Stockinger, Thomas, „,Fidelis tametsi inutilis servus.‘ P. Moritz Müller OSB (St. Gallen) in seiner historisch-literarischen und politisch-diplomatischen Tätigkeit im Spiegel seiner Korrespondenz (1709–1714)“, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens, 118/2007, S. 339-432. Überblick über das Leipziger Milieu: Marti, Hanspeter / Döring, Detlef (Hrsg.), Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld (1680–1780), Basel 2004. Zur Rezeption der Acta eruditorum im katholischen Deutschland: Benz, Zwischen Tradition und Kritik, S. 598f. Braubach, Max, „Johann Christoph Bartensteins Herkunft und Anfänge“, in: MIÖG, 61/1953, S. 99-149, hier S. 125f. Pez, Bernhard, „Nachricht von den vornehmsten codicibus manuscriptis einiger Klöster in Ober-Österreich“, in: Umständliche Bücher-Historie, 2/1716, S. 176-206; ders., „Conspectus Bibliothecae Benedictinae generalis“, in: Acta Eruditorum, September 1716, S. 403ff. Darstellung des Streits: Benz, Zwischen Tradition und Kritik, S. 423; Hammermayer, Ludwig, „Zum ‚Deutschen Maurinismus‘ des frühen 18. Jahrhunderts. Briefe der Benediktiner
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chen Mittels bediente sich Pez selbst, um sich 1725 gegen eine Rezension seiner Bibliotheca ascetica zur Wehr zu setzen.14 Inwiefern entsprach dieser „medialen“ Annäherung auch eine inhaltliche Affinität? Die spezifischen fachlichen Ausrichtungen der ober- bzw. mitteldeutschen Gelehrsamkeit zeigen deutlich auf, wo für Bernhard Pez und seine Zeitgenossen Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten bestanden. 4. Antiquarische und „protonationale“ Gelehrsamkeit Bernhard Pez ging es im Sinne der positiven Theologie um die Überwindung der (jesuitischen) Spätscholastik durch die Rückwendung auf genuines spirituelles Schrifttum früherer Jahrhunderte; dieses Grundanliegen teilte er mit den Maurinern, deren christlicher Historismus auch deutlich jansenistische Züge aufwies.15 Die Quelleneditionen von Bernhard Pez, besonders der sechsbändige Thesaurus anecdotorum novissimus und die zwölfbändige Bibliotheca ascetica antiquo-nova, zielten also auf eine erneuerte Theologie auf der Basis alter, kritisch edierter und damit „gereinigter“ Texte ab.16 Verbindendes Element mit der protestantischen Gelehrtenkultur des 17. und 18. Jahrhunderts war so das philologisch-antiquarische und historische Interesse, das jedoch in Leipzig oder Straßburg deutlicher als im Süden in Richtung der klassisch-antiken Kultur einerseits, der Reichsgeschichte in Form des Reichsrechts andererseits wies.17 Im einen wie im anderen Fall war das Handwerkszeug ähnlich (solides Latein, bibliografische Übersicht und Kenntnis von Ungedrucktem), was auch die konkreten Anlässe und Inhalte der Korrespondenzen bildete. Motivation war meist die Notwendigkeit, über Materialien aus dem jeweils anderen bibliografischarchivalischen Einzugsgebiet zu verfügen.18
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P. Bernhard Pez (Melk) und P. Anselm Desing (Ensdorf) aus den Jahren 1709 bis 1725“, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, 40/1977, S. 391-444, hier S. 430-432. Benz, Zwischen Tradition und Kritik, S. 426f. Es geht um: Pez, Bernhard, „Erster Brief von einigen alten Poeten“, in: Historie der Gelehrsamkeit unserer Zeiten, 11/1725, S. 983-1003. Neveu, Bruno, Érudition et religion aux XVIIe et XVIIIe siècles, Paris 1994; L’ordre de SaintBenoît et Port-Royal. Actes du colloque (Sept. 2002), Société des Amis de Port-Royal (Hrsg.), Paris 2003 (Chroniques de Port-Royal, 52/2003). Wallnig, Thomas, Gasthaus und Gelehrsamkeit. Studien zu Herkunft und Bildungsweg von Bernhard Pez OSB vor 1709, Wien, München 2007, S. 149-174. Etwa Döring, Detlef, „Das gelehrte Leipzig der Frühaufklärung“, in: ders./Marti (Hrsg.), Die Universität Leipzig, S. 11-53 (Leipzig); Braubach, „Bartenstein“, S. 111-116 (Straßburg). Als Beispiele aus der Korrespondenz Pez/Eckhart eine Abschrift des Traktats „De fide, spe et charitate“ des Paschasius Radbertus aus Leibniz’ Kollektaneen sowie die Tegernseer Briefsammlung des 12. Jahrhunderts, die Pez Eckhart für die Welfische Hausgeschichte zusandte; Wallnig, Eckhart, S. 1-5, 7ff. (Zusendung über Mencke und Gleditsch).
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Gemeinsamer Boden zeigte sich weiters dort, wo implizit und explizit auf das „D(T)eutsche“ als verbindendes Element rekurriert werden konnte. Das mochte eine diffuse Vermengung von Reichs-, Kaiser- und Kulturpatriotismus ebenso meinen wie das ganz konkrete Interesse für altdeutsche Sprachdenkmäler, das Pez etwa mit Eckhart teilte. Vor diesem „protogermanistischen“ Hintergrund ist die (gleichsam apologetische) Übersendung von Melker Material durch Pez nach Leipzig im Jahre 1725 ebenso zu sehen19 wie die später gemeinsame Mitgliedschaft Gottscheds und Hieronymus’ Pez in der Olmützer „Societas incognitorum“ des Freiherrn Josef von Petrasch.20 Jenseits dieser gemeinsamen Ansatzpunkte, die noch ergänzt werden durch das gemeinsame methodische Ideal der maurinischen Forschung21, herrschte jedoch grundsätzliche Uneinigkeit über die Motivation historischer Arbeit. Dort, wo in Pez’ Arbeiten der positivtheologische Impuls deutlicher zu Tage trat, fand man protestantischerseits abwägende bis schroffe Kritik.22 In denselben Quellen, die für die katholische Seite methodisch „gereinigte“ Glaubensfundamente darstellen sollten, sah die protestantische Seite historische Zeugnisse, deren Brauchbarkeit von ihrem historiografischen bzw. diplomatischen Gehalt abhing. Die Amplifikation dieser Kritik durch das Medium des gelehrten Journals und die so stattgehabte Verankerung des Urteils in der Gelehrtenwelt mag zum späteren Eindruck eines intellektuellen Ungleichgewichts beigetragen haben23, wohingegen sich im frühen 18. Jahrhundert jede der beiden Seiten für überlegen hielt, die katholische Seite zudem bestärkt durch zahlreiche Konversionen und die allgemeine politische Lage. Zwar hatte sich auch in der katholisch-oberdeutschen Welt die Spätscholastik überlebt und rief unweigerlich ihre Gegner auf den Plan, doch fanden diese ihre Antworten nicht in Naturphilosophie und Empirismus, sondern in der positiven Theologie und im Reformkatholizismus Muratoris.24 Für
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Döring, Deutsche Gesellschaft, S. 194. Benz, Zwischen Tradition und Kritik, S. 572ff.; Hammermayer, „Forschungszentren“, S. 160f. Benz, Zwischen Tradition und Kritik, S. 431, 441. „Utinam et prodeant reliqui Thesauri huius tomi! quibus si theologici argumenti paulo minus, historici vero plurimum inseruit reverendus author, haud amplius Gallis Dacherios suos vel Baluzios ac Martenios invidebimus“. Rez. v. Bd. 1 des Thesaurus, in: Acta Eruditorum, Januar 1722, S. 10. Zur Rezension der Bibliotheca ascetica: Benz, Zwischen Tradition und Kritik, S. 426f. Das Urteil Hammermayers, dass die Acta Pez durchwegs freundlich rezensierten, ist zu relativieren; Hammermayer, „Forschungszentren“, S. 174. Die Informationen bei in Zedlers Universallexicon (Halle, Leipzig 1732–1754, 58 Bde., Bd. 27, Sp. 1186f.) sind lücken- und fehlerhaft sowie konfessionell fokussiert. Es spricht weiters für sich, dass Hieronymus Pez, nicht jedoch seinem Bruder, ein Nachruf in der Leipziger gelehrten Zeitung und den Erlanger gelehrten Anmerkungen zuteil wurde. Aristotelismuskritik an oberdeutschen Universitäten: Wallnig, Gasthaus und Gelehrsamkeit, S. 152f. Das Verlachen der „nugae scholasticae“ bildete einen Topos der positiven Theologie,
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andere gedankliche Modelle, wie jene der englischen, französischen oder deutschen Frühaufklärung, bestand kein Interesse, weil kein Bedarf bestand. 5. In welcher res publica literaria bewegte sich Pez? Wie eingangs gesagt, stützen sich die aufgestellten Behauptungen auf die Korrespondenz der benediktinischen Brüder Pez, die mit ihrer Zugehörigkeit zum Ordensklerus nicht als repräsentativ für die katholische Kirche, geschweige denn für die katholische Gelehrsamkeit in toto angesehen werden können. Vielmehr bildete die benediktinische Gelehrtenwelt ein Segment der europäischen res publica literaria, das sich partiell mit „hofnahen“, „akademischen“ bzw. „medialen“ Netzwerken überschnitt, in denen die Gelehrsamkeit wiederum einen Teilaspekt darstellte. Kontakte zu namhaften protestantischen Gelehrten finden sich in praktisch allen größeren katholischen Gelehrtenepistolarien des frühen 18. Jahrhunderts. Die anhand von Pez skizzierten Voraussetzungen gelten – mutatis mutandis – auch für Gottfried Bessel25, Johann Benedikt Gentilotti26, Bernard de Montfaucon27 und Lodovico Antonio Muratori28: Quantität und Qualität der Kontakte hingen von der potentiellen gegenseitigen Nützlichkeit in den angesprochenen Bereichen Politik, „gelehrter Kredit“ und Buchmarkt ab. Gerade in der Spärlichkeit, zugleich aber auch in der vergleichsweise großen Bedeutung einzelner Kontakte zwischen Pez und protestantischen Gelehrten (Bartenstein, Acta Eruditorum, Eckhart) werden so verschiedene wissenssoziologische Aspekte sichtbar, die bei der Bewertung der „Krise
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bei Mabillon ebenso wie bei Pez. Gesamtdarstellungen der Entwicklung: Blum, Paul Richard, Philosophenphilosophie und Schulphilosophie. Typen des Philosophierens in der Neuzeit, Stuttgart 1998; Leinsle, Ulrich G., Einführung in die scholastische Theologie, Paderborn, München u. a. 1995, S. 262-342. Tropper, Peter, „Edition der Korrespondenz des Göttweiger Abtes Gottfried Bessel“, in: Grete Klingenstein (Hrsg.), Umgang mit Quellen heute. Zur Problematik neuzeitlicher Quelleneditionen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Wien 2003, S. 120. Auf den offenen Brief an Mencke 1717 wurde bereits hingewiesen; im Gentilotti-Nachlass (Biblioteca Rosminiana Rovereto, Biblioteca Comunale Trento) keine Korrespondenzen mit deutschen Gelehrten. Paris, Bibliothèque nationale de France, Fonds Français 17701-17713; Hurel, Daniel-Odon / Rogé, Raymond (Hrsg.), Dom Bernard de Montfaucon. Actes du colloque de Carcassonne (Okt. 1996), 2 Bde., Carcassonne 1998. Intensivere Briefwechsel mit Konrad Widow und Johann Albert Fabricius. Lieber, Maria, „Der Briefwechsel zwischen Lodovico Antonio Muratori und Johann Albert sowie Johann Fabricius“, in: dies./Giorgio Cusatelli u. a. (Hrsg.), Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Letterati, erudizione e società scientifiche negli spazi italiani e tedeschi del ’700, Tübingen 1999, S. 3-25; dies. / Marri, Fabio, Lodovico Antonio Muratori und Deutschland, Frankfurt am Main 1997.
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Bernhard Pez OSB im Briefkontakt mit protestantischen Gelehrten
des europäischen Geistes“ in ihrer oberdeutsch-österreichischen Spielart eine wesentliche Rolle spielen.29 Es wird in künftigen Forschungen darum gehen, den in Europa allgegenwärtigen Bruch mit der Spätscholastik in seiner spezifisch süddeutsch-katholischen Ausprägung zu betrachten, ohne ihn, was anachronistisch wäre, auf die gleichzeitigen Entwicklungen in Leipzig, Halle, Paris oder London zu beziehen. In diesem Sinne werden auch die Begriffe der „Frühaufklärung“ und der „katholischen Aufklärung“ kritisch auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen sein.
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Hazard, Paul, Die Krise des europäischen Geistes (1680–1715), Hamburg 1939.
Das Kommunikationsnetz der Illuminaten. Aspekte einer Rekonstruktion Hermann Schüttler Adam Weishaupts Illuminatenorden ist seit den ersten Denunziationen ausgetretener Mitglieder Ende des Jahres 1783 ein willkommenes und willfähriges Objekt für Verdächtigungen, Verdrehungen, Verleumdungen.1 Die Belege, die Beweise der unterstellten verschwörerischen Intentionen des Bundes waren wenig später in zwei von der pfalzbayerischen Regierung zum Druck beförderten Bänden mit „Originalschriften“ des Illuminatenordens dem Publikum zugänglich gemacht.2 Diese Originalschriften – so das Verdikt der Gegner – zeigten nichts weniger als die auf Zerstörung der überkommenen staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Ordnung gerichteten Absichten Weishaupts und seiner Mitstreiter. Im Juni 1944 fielen diese im Geheimen Hausarchiv in München aufbewahrten Akten dem Bombenkrieg zum Opfer3; sie waren zu diesem Zeitpunkt die einzigen der Wissenschaft zugänglichen Dokumente, die Auskunft geben konnten über die Gründung und Entwicklung des Bundes von 1776 bis Mitte 1784, dem Moment, als der Orden erstmals die Aufmerksamkeit der pfalzbayerischen Behörden erregt hatte. Die 1787 aus beschlagnahmten Unterlagen veröffentlichte Auswahl brachte neben Instruktionen, Berichten und den freimaurerischen Gebräuchen angelehnten Graden und Ritualen der Illuminaten zahlreiche Briefe, besonders aus
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Der Kürze halber folgen nur die nötigsten Literaturhinweise. Den Forschungsstand bis 1990 zeigt Hammermayer, Ludwig, „Fachgelehrte und Dilettanten. Anfänge und Etappen moderner Illuminatenforschung (ca. 1895–1968/70)“, in: Katharina Ackermann/Alois Schmid (Hrsg.), Bayern vom Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, München 2002, S. 395-430; ders., „Entwicklungslinien, Ergebnisse und Perspektiven neuerer Illuminatenforschung“, in: Katharina Ackermann/Alois Schmid (Hrsg.), Staat und Verwaltung in Bayern, München 2003, S. 421-463; zum Beginn der Illuminatenverfolgung siehe Schüttler, Hermann, „‚Zwote Warnung über die Freimaurer‘. Eine in Vergessenheit geratene Quelle zur Geschichte der Illuminatenverschwörung“, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Typologien des Verschwörungsdenkens, Innsbruck 2004, S. 64-88. Einige Originalschriften des Illuminatenordens [...], München 1787; Nachtrag von weitern Originalschriften [...], München 1787. Markner, Reinhard / Neugebauer-Wölk, Monika / Schüttler, Hermann (Hrsg.), Die Korrespondenz des Illuminatenordens, Bd. 1: 1776–1781, Tübingen 2005, S. XXXVf. u. XLf.
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Das Kommunikationsnetz der Illuminaten
der Feder des Ordensgründers Weishaupt, ans Licht. Bis in unsere Zeit stützten sich die meisten Untersuchungen auf diese 200 Jahre alten Textsammlungen, wenige, zum Teil noch zeitgenössische, und danach im 19. und frühen 20. Jahrhundert folgende Quellenpublikationen ergänzten ein im Grunde schon fertiges Bild.4 Freimaurerische Archivare und Historiker hätten zur Klärung vieler Fragen rund um die Illuminaten einen wesentlichen Beitrag leisten können, denn in Logenarchiven befanden und befinden sich ungezählte Originaldokumente des Bundes, die seit Mitte der 1980er Jahre verstärkt von der Forschung herangezogen werden.5 Die im Krieg vernichtete Münchner Überlieferung kann so in einem schier unglaublichen und nie erhofften Umfang ergänzt und erweitert werden durch tausende Dokumente aus der Hand führender Mitglieder des Illuminatenordens, die in diese Archivbestände eingegangen sind. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um einen Teilnachlass Adam Weishaupts im Bestand des Hamburger Engbundes, der heute als Depositum der Vereinigten 5 Hamburger Logen im dortigen Staatsarchiv aufbewahrt wird, sowie den 1804 im Bestand der Gothaer Loge „Ernst zum Kompaß“ zusammengeführten Nachlass des Weimarer Illuminaten Johann Christoph Bode und des Gothaer Herzogs Ernst II., der „Schwedenkiste“6, der heute im Geheimen Staatsarchiv PK in Berlin liegt. Diese beiden Überlieferungen bilden neben weiteren Aktenbeständen den Ausgangspunkt für die Arbeiten eines seit Oktober 1998 am IZEA laufenden Forschungsprojektes7, das nach der Sammlung und Sichtung der Dokumente im Sinne solider Grundlagenarbeit der Forschung ein seit mehr als 200 Jahren im Archiv schlummerndes Quellenmaterial zur Verfügung stellen will. Der erste, im Herbst 2005 erschienene Band mit Korrespondenzen des Illuminatenordens von der Gründung 1776 bis 1781 einschließlich bringt die 1787 veröffentlichten Dokumente in neuer Form, erstmals exakt datiert und kommentiert, die handschriftliche Überlieferung setzt dann im Jahre 1780 ein. Annähernd zwei Drittel dieses Bandes liefern bereits Quellen aus dem Archiv. Der zweite, kurz vor dem Abschluss stehende Band bietet illuminatische Korrespondenzen im Zeitraum vom Januar 1782 bis einschließlich Juni 1783, weitere Bände sind
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Vgl. Schüttler, Hermann, „Bibliographie zum Illuminatenorden (1776–1787/93)“, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Der Illuminatenorden (1776–1785/87), Frankfurt am Main 1997, S. 393-415. Vgl. Endler, Renate / Schwarze-Neuß, Elisabeth, Die Freimaurerbestände im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Bd. 1: Großlogen und Protektor [...], Bd. 2: Tochterlogen, Frankfurt am Main, Berlin 1994. Endler, Renate, „Zum Schicksal der Papiere von Johann Joachim Christoph Bode“, in: Quatuor-Coronati-Jahrbuch, 27/1990, S. 9-35. Siehe das Vorwort von Monika Neugebauer-Wölk zum 1. Band der Edition (wie Anm. 3).
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geplant. Mit die wichtigsten Stücke dabei sind rund 120 bislang unveröffentlichte Briefe Knigges, der wie kein anderer für die Verbreitung der neuen Verbindung außerhalb des bayerischen Kernlandes sorgte, sowie bislang unbekannte Schreiben des Ordensgründers Weishaupt, von dem ein kleines Briefbündel im Münchner Hauptstaatsarchiv erhalten ist. Nimmt man die beiden genannten großen Überlieferungen sowie weitere Quellenfunde zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Der Hamburger Bestand umfasst mehr als 110 Konvolute mit illuminatischen Originaldokumenten, davon 62 mit Briefen hauptsächlich an Weishaupt; die aus 20 Bänden bestehende „Schwedenkiste“ führt allein 7 Bände mit Korrespondenzen, alphabetisch nach den Schreibern geordnet. Insgesamt sind dies ungefähr 3000 Illuminatenbriefe, davon allein etwa 1800 aus der Schwedenkiste. Hinzu kommen gut 1100 sog. „Quibus Licet“ und „Reprochenzettel“, also die von den Mitgliedern monatlich abzuliefernden Berichte an ihre jeweiligen Ordensoberen mit den dazugehörigen Antworten. Die Hamburger Überlieferung besteht aus Akten des Kur- und Oberrheinischen sowie des Westfälischen Raumes, hinzu kommen zahlreiche Schreiben aus Weishaupts engerem Umfeld in Altbayern, Franken und Schwaben, die Schwedenkiste deckt geografisch hauptsächlich Ober- und Teile von Niedersachsen ab. Was bislang völlig fehlt, ist die Überlieferung aus den habsburgischen Gebieten und damit möglicherweise auch das ursprünglich in München bzw. im nahegelegenen Freising aufbewahrte Archiv des gesamten Ordens. Denn das Zentrum blieb auch nach der erfolgreichen Ausdehnung über Bayern hinaus die „Areopag“ genannte Ordensleitung in München, wo zentral alle einschlägigen Mitteilungen einliefen und gesammelt wurden. Dieses Archiv wurde bereits vor dem Beginn der Verfolgung des Ordens durch die pfalzbayerischen Behörden wohl im Winter 1784/85 ins Salzburgische transportiert, wo sich die Spur verliert.8 Rund 220 mit Briefen vertretene bzw. ermittelte Korrespondenten finden sich im gesamten Reichsgebiet und im benachbarten Ausland. Aus den Briefen sowie weiteren Dokumenten (Protokolle, Berichte, Reiseaufzeichnungen etc.) des Ordens lässt sich nun teilweise ein Netz von Kommunikationsverbindungen zwischen den beteiligten Personen rekonstruieren.9 Erster Anknüpfungspunkt dazu ist die von Knigge Anfang 1781 erstellte sog. National-Direktions-Tabelle, die das Ordnungsschema und zugleich die Hierarchie des Bundes aufzeigt. An diesem Schema wurde auch
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Vgl. Korrespondenz des Illuminatenordens, Bd. 1, S. XXVII-XLIV. Zur Netzwerkforschung siehe grundsätzlich (mit weiterführender Literatur): Zaunstöck, Holger, „Zur Einleitung: Neue Wege der Sozietätsgeschichte“, in: ders./Markus Meumann (Hrsg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 1-10.
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nach Knigges Ausscheiden im Frühjahr 1784 während der gesamten Laufzeit des Ordens, also bis etwa 1788, festgehalten. Nach diesem Plan war das engere Reichsgebiet – die habsburgischen Lande blieben ausgeklammert – in drei „Inspektionen“ eingeteilt, die mehrere „Provinzen“ enthielten. Diese umfassten wiederum mehrere „Schottische Direktorien“, denen die jeweiligen örtlichen Filialen unterstanden. Aus den vorhandenen Unterlagen lassen sich gut 90 Orte im In- und Ausland ausmachen, an denen illuminatische Ordensfilialen („Minervalkirchen“) oder aber einzelne Mitglieder aktiv waren. München beispielsweise hatte mindestens zwei Minervalkirchen, in Wien waren vier Illuminatenlogen zu finden, deren exakte personelle Zusammensetzung überliefert ist. Über die Tätigkeit des Ordens außerhalb des Reiches ist hingegen aufgrund der schlechten Quellenlage zu wenig bekannt, um definitive Aussagen machen zu können. Dies betrifft etwa die niederländischen (belgischen), ungarischen und siebenbürgischen Niederlassungen sowie besonders die nach den pfalzbayerischen Verboten von 1784/85 installierten Filialen in Dänemark, Frankreich, Italien und Russland. Diese 90 bekannten illuminatischen Ordensniederlassungen ergeben übertragen auf die Reichs-Post-Karte von 1786 im Ausriss folgendes Bild:
Abb. 1: Aktive Illuminatenfilialen
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Geplant hingegen war angesichts der rasanten Entwicklung des Ordens und der Mitgliedschaften zwischen 1782 und 1784 deutlich mehr. Nimmt man die Vergabe von neuen Namen in der internen Ordensgeografie und die Verfeinerung von Knigges Aufstellung als Hinweis für die beabsichtigte Einrichtung weiterer Niederlassungen, so ergibt sich daraus ein neues Bild, das nun – wiederum nur im Ausriss – 270 angestrebte Ordensfilialen zeigt, mithin eine glatte Verdreifachung des tatsächlich erreichten Standes:
Abb. 2: Aktive plus geplante Niederlassungen
Für die Rekonstruktion des auf der Grundlage dieser Organisationsstruktur gebildeten Kommunikationsnetzes sind die Briefe die herausragende Quellenbasis. Auf einer ersten, rein formalen Ebene lassen sich nach Sen-
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Das Kommunikationsnetz der Illuminaten
der und Empfänger Linien zwischen den entsprechenden Orten ziehen, die nach und nach diachron und synchron darstellbare Netze mit verschiedenen Knotenpunkten ergeben. Als Beispiel soll die Skizze des zwischen 1776 und 1785 aus den ersten Zentren des Ordens, Ingolstadt und München, heraus entwickelten Kommunikationsgeflechtes in Bayern und einigen angrenzenden Gebieten stehen, wobei an bestimmten Punkten die Bildung von Unterzentren zu sehen ist. Dieses Netz lässt sich selbstverständlich an die entsprechenden Stellen der benachbarten Territorien anknüpfen und ergibt erweitert im Idealfall ein Bild der heute dokumentierbaren Verbindungen des Ordens im Reichsgebiet und darüber hinaus.
Abb. 3: Netz Bayern
Die Kommunikationslinien wie die daraus entstandenen örtlichen Knotenpunkte lassen sich größtenteils über die beteiligten Korrespondenten
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hinaus personalisieren, denn auch die nicht mit Briefen vertretenen Mitglieder sind in ihrem illuminatischen wie auch beruflichen Werdegang zumeist genauer bekannt. Als durchaus erwünschtes Nebenergebnis der Bearbeitung der genannten illuminatischen Dokumente ergaben sich zahlreiche Ergänzungen zu den bisher bekannten Mitgliedschaften. Beim derzeitigen Untersuchungsstand sind 1470 Personen als Illuminaten identifiziert, von zwei Dritteln dieser Personen sind neben der illuminatischen und freimaurerischen Karriere biografische Daten ermittelt. Auf diesem Hintergrund wird ein ansonsten möglicherweise zu formalistisch geratendes Bild des rekonstruierbaren Netzwerkes recht lebendig, wie einige Beispiele zeigen sollen. Analysen etwaiger netzwerkartiger Strukturen sind selbstredend erst durchführbar auf der Feststellung des beteiligten Personals sowie seiner Funktion und seines Wirkens in, mit und durch die jeweilige Vereinigung, deren eigener Aufbau wie die Verbindung mit anderen Organisationen dann soweit durchsichtig sein müssen, dass Funktionen wie Personen genau zugeordnet werden können. Dazu dienliche Untersuchungen organisationsgeschichtlicher und -soziologischer sowie prosopografischer Natur wurden bereits mehrfach vorgenommen und lieferten die Grundlage für erste Untersuchungen zu Teilbereichen des illuminatischen Netzwerkes. Neuland betrat nun auf der Grundlage neuer quellenfundierter Erkenntnisse zur Mitgliederstruktur des Illuminatenordens die Arbeit von Monika Neugebauer-Wölk zum Reichskammergericht. Sie zeigte erstmals anschaulich das schon früher in der Forschungsliteratur behauptete, aber nicht weiter belegte oder ausgeführte netzwerkartige Gefüge in den Beziehungen der auf verschiedenen Funktionsebenen wirkenden Personen in einer der höchsten Institutionen des Alten Reiches.10 Ebenfalls auf neuen Quellenfunden aufbauend und nun erstmals Teile der Korrespondenz des Ordens verarbeitend11, wurde eine auf die Kurpfalz begrenzte Untersuchung zum Netzwerk des Ordens möglich, die zudem das Wirken der nach den bayerischen Edikten 1784/85 und der Suspendierung durch den Nationaloberen Stolberg-Roßla aktiv gewordenen neuen Ordensleitung um Johann Christoph Bode und Herzog Ernst von Gotha ansatzweise erkennen lässt.12 Anschließend an diesen Sachstand und die aus der nunmehr erreichten und editorisch erweiterbaren Quellenbasis aufscheinenden Forschungsper-
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Neugebauer-Wölk, Monika, Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten, Wetzlar 1993. Kreutz, Wilhelm, „Die Illuminaten des rheinisch-pfälzischen Raums und anderer außerbayerischer Territorien [...]“, in: Francia, 18/1992, 2, S. 115-149. Schüttler, Hermann, „Johann Friedrich Mieg und die Organisation des Illuminatenordens in der Kurpfalz“, in: Zaunstöck/Meumann (Hrsg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation, S. 143-157.
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Das Kommunikationsnetz der Illuminaten
spektiven sollen nun – wie angekündigt – zwei Beispiele zeigen, wie sich aus den Illuminatenbriefen und zuzuordnenden Dokumenten weitere Teilbereiche eines Netzwerkes rekonstruieren lassen, die durch die eindeutige Zuordnung der beteiligten Personen ein fasslicheres Bild bekommen. In Knigges Entwurf von 1781 ist „Andrus“ – Göttingen nicht eigens erwähnt. Die zum Direktorium „Tarsus“ – Hannover innerhalb der Provinz „Aeolis“ – Niedersachsen gehörige Filiale spielte gleichwohl eine wichtige Rolle in der Entwicklungsgeschichte des Ordens, wie schon die Zahl von zeitweilig mehr als 30 Mitgliedern zeigt, die von den dortigen illuminatischen Oberen geleitet wurden.13 Einer der ersten zu Göttingen zu rechnenden Illuminaten war im Februar 1781 ein Freund Knigges, der kurhannoversche Offizier Joachim Nicolaus Richers – es zeigte sich hier Knigges Taktik, zunächst innerhalb seines engeren Freundes- und Bekanntenkreises, ja sogar seiner Verwandtschaft Mitglieder für die neue Vereinigung zu suchen. Auf Richers folgte wenig später der hessen-hanauische Rat und Freimaurer Andreas Gottfried Schäfer, der sofort die Leitung der Göttinger Filiale übernahm. Dieser nun warb im Mai 1781 den ersten einer Reihe von Professoren der damals bedeutendsten Universität im Reich, den Theologen Johann Benjamin Koppe, der ab 1785 zu den engsten Mitarbeitern der neuen Ordensleitung in Gotha gehören sollte. Hinzu kamen mit den Philosophen Johann Georg Feder und Christoph Meiners sowie dem Historiker Ludwig Timotheus Spittler drei weitere Männer, die aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit reichsweit in allerhöchstem Ansehen standen. Koppe hatte im August 1782 Schäfer als „Präfekt“ von „Andrus“ abgelöst, ihm folgte 1784 Feder im Amt. Dieser stand wie Meiners bald in direktem Kontakt zu Weishaupt, beide erreichten die höchsten Ordensgrade und beide nahmen aktiv an der endgültigen inhaltlichen Ausformung des Lehrsystems der Illuminaten teil. Göttingen kann durch das Wirken dieser vier genannten Männer als das wichtigste intellektuelle Zentrum des Ordens außerhalb Bayerns bezeichnet werden, ein Wirken, das auf den ganzen Orden ausstrahlte und nicht zu unterschätzende multiplikatorische Effekte in sich trug. Dazu gehörte beispielsweise ein später in vielen Fällen festzustellender Karriereschub bei ehemaligen Göttinger Studenten, die von ihren Professoren für den Orden angeworben worden waren und in „Andrus“ die ersten Stufen des illuminatischen Systems durchliefen. Ob und wie dabei dann illuminatische oder freimaurerische Verbindungen förderlich waren, bleibt im Einzelfall zu untersuchen. Illuminatische Korrespondenzbezie-
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Zu den genannten Orten u. Personen vgl. das stark überholungsbedürftige Verzeichnis vom Verf., Die Mitglieder des Illuminatenordens, München 1991 sowie die über das Register erschließbaren Angaben in der Korrespondenz des Illuminatenordens.
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hungen der genannten Professoren erstrecken sich (geografisch) über fast das gesamte Ordensgebiet. Das zweite Beispiel betrifft „Brüder“ des Illuminatenordens – Brüder besonderer Art: dass sich hinter dem Ordensnamen „Baco di Verulam“ der kurmainzischer Geheimrat und erfurtische Statthalter, der spätere Fürstprimas des Rheinbundes Carl Theodor von Dalberg verbarg, konnten schon die Zeitgenossen wissen. Carl Theodor erschien im März 1783 als „Novize“ der Illuminaten und erreichte bereits im Oktober des folgenden Jahres die höchsten Grade des Ordens. Aufgrund der politischen Umstände in Kurmainz war Dalberg als Angehöriger des höheren Klerus die Mitgliedschaft in der Freimaurerei versagt. Diese Lücke füllte „Massinissa“, sein jüngerer Bruder Johann Friedrich, der in Worms nicht der kurmainzischen Gerichtsbarkeit unterstand. Johann Friedrich, der meist in Erfurt lebte und dort regelmäßig seinen Bruder traf, war 1781 bzw. 1782 Mitgründer der ersten Freimaurerlogen in Worms und Heidelberg, Gründungen, die ohne das Zutun der kurpfälzischen Illuminaten nicht erfolgt wären. Johann Friedrich war einige Zeit vor seinem Bruder als „Minerval“ ordentliches Ordensmitglied geworden, erreichte aber nach dem jetzigen Forschungsstand nicht die höheren Illuminatengrade. Beiden Brüdern in geheimbündlerischen Aktivitäten voraus war der mittlere Dalberg, Wolfgang Heribert: Schon 1771 war der hohe kurpfälzische Regierungsfunktionär und Intendant des Mannheimer Nationaltheaters Mitglied des freimaurerischen Hochgradsystems des Strikten Observanz, das sich unter tätiger Mithilfe der Illuminaten 1782 selbst aufhob. Im August des folgenden Jahres (1783) wurde der Förderer Schillers dann von Knigge in Heidelberg für die Illuminaten gewonnen14; über seine weitere Tätigkeit im Orden ist bislang allerdings nichts auszumachen. Wie angedeutet, hatte schon Knigge persönliche, vertraute Beziehungen für den Illuminatenorden zu nutzen gewusst: Drei seiner Schwager aus der hessischen Familie Baumbach wurden Mitglieder, drei ihm ebenfalls bekannte Brüder aus der Familie Eschwege ebenso. Ähnliche Beziehungen lassen sich in vielen Fällen nachweisen, so z. B. bei drei Söhnen des Wetzlarer Kammerrichters Franz von Spaur oder bei Bruder und Sohn des Gothaischen Schlosshauptmanns Christian von Helmolt. Nicht nur auf dieser, private, familiäre und freundschaftliche Kontakte nutzenden Ebene sind netzwerkartige Strukturen besonderer Art feststellbar, die auf bereits vorhandenen Beziehungen aufbauen. Ähnliches gilt für die beispielhaft angeführten Göttinger Professoren, die das gemeinschaftliche Interesse an der Aufklärung verband; ähnliches lässt sich in vielen
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Schwedenkiste X, Dokument 112; Russisches Staatliches Sonderarchiv/Militärarchiv Moskau, Fond 1412-1-5432.
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Fällen bei Ordensmitgliedern nachweisen, die etwa über ihre berufliche Tätigkeit bereits in engerem Austausch standen. Und nicht zuletzt die Logen der Freimaurer boten der neuen Vereinigung ein Feld zur Rekrutierung neuer Mitglieder und lieferten zugleich ein schon erprobtes und bewährtes länderübergreifendes Geflecht von Verbindungen, wie sich schon bei den ersten Ordensmitgliedern in München aufzeigen lässt. Auch diese sich überschneidenden Mitgliedschaften in verschiedenen Organisationen sind aus den vorhandenen Dokumenten heraus nunmehr darstellbar. Das hier nur ansatzweise skizzierte Netzwerk der Illuminaten erreichte gerade dadurch Dimensionen, die in das gesamte gesellschaftliche, staatliche und kirchliche Gefüge des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts reichen.
Newton und Leibniz in Frankreich. Emilie du Châtelets Korrespondenz über nationale Grenzen der République des Lettres Nadine Wetzel Wie verhält sich die Energie eines Körpers zu dessen Masse und Geschwindigkeit? Fast zweihundert Jahre vor Einstein und einhundert Jahre vor Michael Faraday stellt sich unerwarteterweise eine gelehrte Dame eben diese Frage, überprüft sie in ihrem privaten Labor und schreibt ihre Überzeugungen auf: Mit der Veröffentlichung der Institutions de physique im Jahre 17401, denen zufolge die Energie eines Körpers sich proportional zum Quadrat seiner Geschwindigkeit verhält, wagt Emilie du Châtelet (1706– 1749) einen epistemologischen Sprung zu einer universellen Wissenschaftsauffassung, welche die theoretische Philosophie von Leibniz und Wolff mit der Physik Newtons zu verbinden sucht. Madame du Châtelet stellt ihrem physikalischen Lehrbuch zunächst epistemologische Überlegungen über die Prinzipien der Erkenntnis, über die Existenz Gottes, über Essenz, Attribute und Hypothesen voran. Die darauf folgenden Kapitel über Raum und Zeit, über die Elemente und die Beschaffenheit der Materie sowie die Natur und Eigenschaften der Körper werfen dann naturphilosophische Grundfragen auf, die zu diesem Zeitpunkt in ganz Europa debattiert werden. Dieses Unterfangen hat zum Effekt, dass die deutsche Metaphysik zumindest kurzzeitig in Emilie du Châtelet eine werbewirksame Vertreterin für das Leibniz-Wolff’sche System in Frankreich gefunden hatte. Einige Artikel zur Philosophie Wolffs sind wörtlich aus den Institutions de physique in die Encyclopédie übernommen worden, ohne dass allerdings die Quelle genannt wurde.2 Als Befürworterin der deutschen Philosophie provoziert Madame du Châtelet allerdings auch einen Skandal _____________ 1
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Châtelet, Emilie du, Institutions de Physique, Paris 1740; dies., Institutions physiques de Madame la marquise du Chastellet adressés à Mr. son fils, Amsterdam 1742; Frau Marquisin von Chastellet „Naturlehre“ an ihren Sohn, Erster Theil nach der zweyten französischen Ausgabe übersetzt von Wolf Balthasar A. von Steinwehr, Halle, Leipzig 1743. So z. B. mouvement, possible, impossible, espace, repos.
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Newton und Leibniz in Frankreich
im Umkreis der dem Cartesianismus verhafteten Académie des Sciences in Frankreich.3 Im dreihundertsten Geburtsjahr von Emilie du Châtelet und zugleich zum einhundertsten Geburtstag der Entdeckung der Einstein’schen Formel würdigt die Produktion von Arte France „E = mc2: une biographie de l’équation“ erstmals die wissenschaftliche Bedeutsamkeit der Arbeiten von Emilie du Châtelet in einem öffentlichkeitswirksamen Film, der im Oktober 2005 urausgestrahlt wurde. Nicht Newton oder Leibniz, nicht Voltaire, der gemeinsam mit Emilie du Châtelet zur Naturphilosophie und Physik Newtons arbeitete, werden in dieser Produktion von Gary Johnstone und David Bodanis gemeinsam mit den „ancêtres“ der Einstein’schen Formel – Michael Faraday, Antoine de Lavoisier, James Clarke Maxwell und Lise Meitner – porträtiert. Neben den Revolutionären unseres physikalischen und chemischen Weltbildes wird Emilie du Châtelet in die „galerie de portraits d’une lignée d’exception“ aufgenommen, „dont le travail a été particulièrement important dans l’élaboration de la conception moderne du terme“.4 Die Autoren teilen die Formel E = mc2 in ihre einzelnen Elemente und dementsprechende Filmkapitel auf und verdeutlichen so die spezifische Rolle der Vorreiter Einsteins bei der Entdeckung seiner Formel im Jahre 1905 und der Erforschung der Energie (Faraday), der Masse (Lavoisier), des Elektromagnetismus, der Geschwindigkeit des Lichts (Faraday und Maxwell) und der quadratischen Ausdehnung der Energie (Madame du Châtelet und Institutions de physique). Der Film folgt in dieser Einteilung bis zum Detail dem gleichnamigen Bestseller von David Bodanis. Das Kapitel „2“, in dem Emilies Erarbeitung eines Beweises für die quadratische Ausdehnung der Energie beschrieben wird, führt uns auf das Familienschloss des Marquis du Châtelet in Cirey-sur-Blaise, wo wir Emilie als 16-Jährige, schwarzhaarig und groß gewachsen, fechtend und kletternd, Descartes studierend, wortgewandt und ihre Umwelt mit ihrem Ungestüm und Intellekt verblüffenden Wesen treffen und ihre Verheiratung, die darin liegende Langeweile und schließlich die Erlösung in Lektüre und in Affären mit Voltaire und anderen mitverfolgen können. Zeitweise folgt Bodanis mit diesem Porträt dem gängigen Bild von der jungen, lebenslustigen und wenig ernst zu nehmenden Geliebten Voltaires, das in Biografien und in den frühen Editionen ihrer Briefe immer wieder gezeichnet wurde: Die dreihundertjährige Rezeption der Schriften Emilie du Châtelets liest sich als eine Beiläufigkeit zu Leben und Werk von Voltaire. Dementsprechend _____________ 3 4
Samuel Koenig, ein kurzzeitiger Lehrer von Mme du Châtelet, beschuldigte sie sogar des Plagiats. Bodanis, David, E = mc2, New York 2000. Zitate aus der französischen Ausgabe: E = mc2. La biographie de la plus célèbre équation du monde, Paris 2001, S.8.
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gleichförmig ist die Liste der „Biografien“ von Emilie du Châtelet vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, die mit Titeln wie La vie privée de Voltaire et de Madame du Châtelet, La marquise du Châtelet, amie de Voltaire5, Madame Voltaire6, Voltaire in love oder The divine mistress of Voltaire7 aufwartet. Auch die anonymen Herausgeber der frühen Editionen8 der Korrespondenz von Emilie du Châtelet (1782, 1806, 1818) kaschieren kaum ihr publizistisches Interesse, in den „Liebesbriefen“ den „intimen“ Geheimnissen des Paares auf die Schliche zu kommen. Durch die undurchsichtige Selektion, Anordnung, Falschdatierung, Korrektur und Zensur der Briefe entsteht so ein Bild der Autorin, die liebeskrank in einer Reihe mit den Damen steht, die der Welt nur mit dem sich selbst verleumdenden Beiseitestehen nationaler Größen auffällig geworden sind. Trotzdem leistet Bodanis eine entscheidende Aufklärungsarbeit nicht nur die Einstein’sche Formel und ihre Geschichte bis in unsere Gegenwart betreffend, sondern führt uns eben auch die bedeutende Rolle von Emilie du Châtelet als Wissenschaftlerin vor, fordert ihre Rehabilitation und macht uns mit ihren Ideen und dem Ort, an dem sie entstehen, vertraut. Das Château de Cirey, der vernachlässigte Familienwohnsitz des Marquis du Châtelet an der lothringischen Grenze, wird mit der Ankunft von Emilie und des in Frankreich verfolgten Voltaires in den Jahren 1734 und 1735 in eine private „Akademie“ verwandelt, an dem beide in intellektueller Symbiose leben und arbeiten: La bibliothèque était aussi riche que celle de l’Académie des sciences à Paris, les équipements de laboratoire en provenance de Londres, du dernier cri; une aile entière était dévolue aux invités, et l’équivalent en salles de séminaire. Bientôt, les plus grands chercheurs européens afflueraient. Mme du Châtelet avait son propre laboratoire professionnel. (71)
Die gelehrten Besucher des Schlosses fänden eine schöne Hausherrin vor, „volontairement claquemurée, qui travaillait à sa table tard le soir, vingt chandelles éclairant ses piles de calculs et de traductions, et du matériel scientifique de grande précision disposé dans les salons“ (72). Mit der Anspielung auf den akademischen Charakter von Cirey knüpft Bodanis an einen Brief von Maupertuis an Bernoulli fils im Jahre 1738 an: _____________ 5 6 7 8
Ferval, Claude [pseud.], Madame Du Châtelet, une maîtresse de Voltaire, Paris 1948. Mercier, Gilbert, Madame Voltaire, Paris 2001. Edwards, Samuel, The divine mistress, a biography of Emilie du Châtelet, the beloved of Voltaire, New York 1970. Lettres de M. de Voltaire et de sa célèbre amie, suivi d’un petit poëme, d’une lettre de J.-J. Rousseau, & d’un paralelle entre Voltaire & J.J. Rousseau, Genf, Paris 1782; Lettres inédites de Madame la marquise du Châtelet à Monsieur le comte d’Argental, auxquelles on a joint une dissertation sur l’existence de Dieu, les réflexions sur le bonheur par le même auteur et deux notices historiques sur Mme. du Châtelet et M. d’Argental, Paris 1806; Lettres inédites de Madame la marquise du Châtelet et supplément à la correspondance de Voltaire avec le roi de Prusse et avec différentes personnes célèbres, Paris 1818.
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Sçavés vous qu’il y a à moitié chemin d’icy à Basle dans un beau château une Femme belle et jolie qui depuis 3 ou 4 ans a quitté La cour pour se donner toutes entière à l’étude de la philosophie et des mathématiques? Sçavés vous qu’elle a pensé remporter le dernier prix de l’Académie? Sçavés vous que Voltaire est chez elle et que sa maison est une Académie universelle de sciences et de bel esprit? Vous voyéz bien combien vous devéz connoitre cette maison.9
Auch auf die von Cirey ausgehenden Korrespondenzen und deren Bedeutung für die kollegialen Freundschaften verweist Bodanis bereits: „Elle entretenait une correspondance nourrie avec d’autres chercheurs de la nouvelle école, leur communiquant résultats, calculs et diagrammes. Les visiteurs scientifiques, tels König ou Bernoulli, restaient parfois des semaines ou des mois entiers“. (72) Die Frage, ob Newton oder Leibniz bei der Bestimmung der Energie eines Körpers recht behielten, sei nicht nur eine theoretische Auseinandersetzung, so Bodanis weiter, sondern auch eine religiöse, da die Naturwissenschaft zu Beginn des 18. Jahrhunderts durchaus noch an die Frage nach der Existenz Gottes gekoppelt war. Bei Newton verliert sich die Energie zweier sich aufeinander zu bewegender und kollidierender Körper. Nur ein allmächtiger Gott könne diese verlorene Energie wieder in die sichtbare Welt zurückbringen. Leibniz hingegen vermutet eine Vervielfachung der entstandenen Energie, aber ihm fehlten die methodisch abgesicherten Beweise: Chez Leibniz, rien ne se perd. Le monde se suffit à lui-même; il n’y a pas de trou ni de portillon par où la causalité et l’énergie puissent fuir, de sorte que Dieu seul soit capable de les réintroduire. (75)
Diese Auffassung von dem einsamen und passiven Dasein der Menschen auf Erden, deren objektiver Beweis Leibniz schuldig blieb, konnte keine ernsthaften Anhänger im fortschrittsgläubigen Frankreich finden und allenfalls Voltaire dazu veranlassen, sich über die „beste aller Welten“ zu mokieren. Erst mit den methodischen Experimenten von Willem Jacob s’Gravesande10, die Emilie du Châtelet genau verfolgte, konnte der Beweis für die Leibnizsche Vermutung erbracht werden, dass sich die Energie eines Körpers aus der Masse multipliziert mit seiner Geschwindigkeit im Quadrat ergibt. Emilie du Châtelet wiederholte diese Berechnungen und Experimente und habe so dem Theoretiker Leibniz und dem Experimentierer _____________ 9
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Correspondence, D1641, 29. Oktober 1738. Im Folgenden werden Briefe aus den Ausgaben Voltaire, Correspondence and related documents, Theodore Besterman (Hrsg.), (Œuvres complètes de Voltaire / Complete works of Voltaire, Bde. 85–135), Genf 1968–1977 (Correspondence, DKlassifikation, Datum) und Du Châtelet, Gabrielle-Emilie, Les Lettres de la marquise du Châtelet, introduction et notes de Theodore Besterman, 2 Bde., Genf 1958 (Lettres, Band, Datum) zitiert. S'Gravesande entwickelte eine neuartige Messmethode: Er ließ Gewichte auf Lehmboden fallen und stellte bei doppelter Höhe keine doppelte, sondern eine vierfache Vertiefung, aus dreifacher Höhe eine neunfache Vertiefung etc. im Lehm fest.
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s’Gravesande die jeweils fehlende Seite hinzugefügt: „Maintenant, enfin, il y avait une justification forte pour considérer mv2 comme une définition féconde de l’énergie.“ (77) Mit der Veröffentlichung ihrer Institutions de physique hat Emilie du Châtelet erstmals in das generell zu anglophonen Konzepten der Wissenschaften neigende Frankreich die unverstandenen „allemandismes“ eingeführt. Emilie du Châtelet wird in dem Porträt von Bodanis als die Vermittlerin („männer-“)philosophischer Systeme gezeichnet, die sie tatsächlich war.11 Und er schließt mit der Feststellung, dass einzig ein Mangel an genaueren Messinstrumenten Madame du Châtelet an einem Durchbruch ihrer Arbeiten hinderte: Mme du Châtelet manqua de peu des découvertes qui dévraient encore attendre. Elle effectua une version de l’expérience de la rouille de Lavoisier, et si la balance qu’elle avait fait construire avait été plus précise, c’est elle qui aurait découvert la loi de la conservation de la masse, avant même la naissance de Lavoisier. (72)
Doch dass eine Frau überhaupt zu einem wissenschaftlichen Transfers über nationale Grenzen der République des Lettres im 18. Jahrhundert beiträgt, ist ungewöhnlich genug. Nur wenigen femmes d’esprit war es gelungen, die gelehrten Diskurse aus den Salons in die wissenschaftlichen Institutionen zu verschieben: Als Übersetzerin schaute Emilie du Châtelet zunächst ins fortschrittliche England und arbeitet an Mandevilles Fable of the bees und an der erstmaligen und bis heute gültigen Übersetzung von Newtons Philosophia naturalis principia mathematica ins Französische (1749). Eigene physikalische Versuche und Arbeiten entstehen zu newtonianischen Problemfeldern. Bei einem Concours der Académie des sciences erregt Emilie du Châtelet erstes öffentliches Interesse, als sie 1738 ihre „Dissertation sur la nature et la propagation du Feu“ einreicht und diese darauf durch die Akademie veröffentlichen kann. Sie wird als Übersetzerin und Kommentatorin Newtons in der Encyclopédie neben Le Sueur und Jacquier genannt, auf dessen Anregen sie 1746 in die Accademia delle Scienze di Bologna aufgenommen wird. Es folgen philosophische Betrachtungen über Glück und Illusion und ein Bibelkommentar.12
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Die Eigenständigkeit und wissenschaftliche Bedeutsamkeit der Arbeiten von Emilie du Châtelet zu beachten, hatten bisher nur Badinter, Elisabeth, Émilie, Émilie, L’Ambition féminine au XVIIIe siècle, Paris 1983; Klens, Ulrike, Mathematikerinnen im 18. Jahrhundert: Maria Gaetana Agnesi, Gabrielle-Emilie du Châtelet, Sophie Germain, Pfaffenweiler 1994, Gandt, François de, Cirey dans la vie intellectuelle, La réception de Newton en France, Oxford 2001 und Jauch, Ursula Pia, Damenphilosophie und Männermoral. Von Abbé de Gérard bis Marquis de Sade, ein Versuch über die lächelnde Vernunft, Wien 1990 gefordert. Châtelet, Emilie du, Discours sur le bonheur (1747), introduction et notes de Robert Mauzi, Paris 1961; dies., „Examens de la Genèse (ca. 1738)“, in: Wade, Ira O., Studies on Voltaire: with some unpublished papers of Mme. du Châtelet, Princeton 1947.
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Auf diesem Weg einer schriftlichen Entfaltung der femme savante entsteht ein weiteres Werk, die Korrespondenz der Autorin13: Als anerkannte Gesprächspartnerin unterhält Emilie du Châtelet von 1734 bis zu ihrem Tode im Jahr 1749 einen Briefwechsel mit den berühmtesten Mathematikern und Akademikern ihrer Zeit in ganz Europa. Johann Bernoulli in Basel, Maupertuis in Paris, Lappland und Potsdam, Clairaut und Richelieu in Paris, Algarotti, Jacquier in Bologna und der Abbé de Sade in Rouen sind die wichtigsten Briefpartner. Vereinzelt treffen auch Briefe von Wolff und Friedrich II. von Preußen ein, dem „Philosophenkönig“, der 1740 gerade im Begriff steht, die größten Denker und Philosophen seiner Epoche, darunter Maupertuis und Voltaire, um seine Tafelrunde in Sans Souci zu versammeln. Ihm höchstpersönlich schickt Emilie du Châtelet am 25. April 1740 den gerade gedruckten, ersten Band ihrer Institutions de physique und bringt in dem begleitenden Brief, nicht ohne Koketterie, ihre Motivation für ein solches Physikbuch in Frankreich und die ihrer Meinung nach notwendige Methodik dafür auf den Punkt: J’envoie enfin à v. a. r. mon essai de métaphysique; […] J’attends pour savoir si je dois m’en repentir, ou m’en applaudir, ce que v. a. r. en pensera. Je me souviens qu’elle a fait traduire sous ses yeux la métaphysique de Wolf, & qu’elle en a même corrigé quelques endroits de sa main; […] V. a. r. verra par la préface que ce livre n’était destiné que pour l’éducation d’un fils unique que j’ai, […] & voulant lui apprendre les éléments de la physique, j’ai été obligée d’en composer une, n’ayant point en français de physique complète, ni qui soit à la portée de son âge; mais comme je suis persuadée que la physique ne peut se passer de la métaphysique, sur laquelle elle est fondée, j’ai voulu lui donner une idée de la métaphysique de mr de Leibnitz, que j’avoue être la seule qui m’ait satisfaite.14
Die Korrespondenten von Emilie du Châtelet sind in über 15 Jahren produktiver Arbeit fast ausschließlich männliche Kollegen. Darin unterscheidet sich ein Großteil der Briefe der Autorin von denen anderer femmes de lettres, die ihren Geliebten (Julie de Lespinasse, Mme d’Epinay) oder
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Die Autographe der Briefe Emilie du Châtelets befinden sich heute in der Pierpont Morgan Library New York und in Bibliotheken in Basel, Avignon, Rouen und Paris. An die Marquise gerichtete Briefe hingegen sind zum Großteil, im Fall von Voltaire komplett verloren gegangen. In der Theodore Besterman Collection am Institut et Musée Voltaire Genf finden sich nicht nur viele Autographe Voltaires, sondern auch die Fotografien der Originale der gesamten Korrespondenz Voltaires, zu der auch die Briefe von Madame du Châtelet wie eine Vielzahl von den Korrespondenten Voltaires gezählt werden. Theodore Besterman hat, neben der Korrespondenz Voltaires, 1958 die einzige moderne Edition der Briefe von Emilie du Châtelet herausgegeben und ihre Zahl auf 486 beziffert. Derzeit arbeitet Ulla Kölving an einer Neuherausgabe mit bisher unbekannten Briefen von Emilie du Châtelet. Lettres, II, 25. April 1740.
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nahen Familienangehörigen (Mme de Sévigné) schreiben.15 Offensichtlich beherrschte Emilie du Châtelet die Kunst des Briefeschreibens ebenso wie die medialen Funktionsweisen und -möglichkeiten der Kommunikation innerhalb der République des Lettres, ohne die eine öffentliche Wahrnehmung ihrer Ideen und Arbeiten gar nicht stattgefunden hätte. Sie wusste sich in ihren Briefen als Schülerin, Autorin, femme savante, Kollegin, Philosophin oder Geliebte zu inszenieren. Um den viel beschäftigten Maupertuis, der von Richelieu, dem damaligen Präsidenten der Académie des sciences, zum „sous-directeur“ (1735) und zum „directeur pour l’exercice“ (1736) ernannt wurde, weiterhin als Lehrer für sich zu gewinnen, kokettierte die Schülerin: Je me suis remise ces jours-ci à la géométrie. Vous me trouverez précisément comme vous m’avez laissée, n’ayant rien oublié ni rien appris, et le même désir de faire des progrès dignes de mon maître. […] Vous semez des fleurs sur un chemin où les autres ne font trouver que des ronces, votre imagination sait embellir les matières les plus sèches sans leur ôter leur justesse et leur précision.16
Die Autorin war in der Lage, die verschiedenen Register vom freundschaftlichen Brief bis zum genre savant bewusst zu ziehen und ihre Korrespondenz erhielt somit auch die Funktion eines Ersatzes des direkten Gespräches und für rituelle Bräuche der Gelehrtenrepublik, an denen Madame du Châtelet als Frau nicht teilnehmen konnte, vor allem Reisen zu anderen Gelehrten. Ohne Unterlass lud sie deswegen ihre Korrespondenten zu sich ein. An Bernoulli schreibt sie am 11. Januar 1740 in freudiger Erwartung seiner Ankunft: Vous me devez bien des réponses, monsieur, mais je ne laisse cependant de vous écrire pour vous donner avis de l’occasion du monde la plus heureuse pour moi puisque je puis espérer de vous voir plus tôt que je ne comptais.17
Doch dieses Treffen kam nicht zustande und so wurde der folgende Brief an Bernoulli selbst Ort des Gespräches und der Diskussionen: „Cette lettre seule doit suffire, je crois, pour vous prouver que […]“18 Selten stand Emilie du Châtelet im Dialog mit nur einem Adressaten, in den Briefen an Maupertuis forderte sie häufig auch seinen jüngeren Kollegen Clairaut indirekt auf, sie an Stelle des „maître“ weiter in Geometrie zu unterrichten, wenn sie mit ihren Studien nicht weiter kam: Vous serez peut-être étonné que ce ne soit pas à monsieur Guinée19 à qui je donne la préférence mais il me semble qu’il me faut ou vous ou monsieur Clerau
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Aus diesem Rahmen fallen die späten Liebesbriefe an den Marquis de Saint-Lambert kurz vor ihrem Tode, in denen die Autorin trotz der zeitgleichen Arbeit an der NewtonÜbersetzung ausschließlich von ihrer unglücklichen Liebe schreibt. Lettres, I, 7. Juni 1734. Lettres, II, 11. Januar 1740. Lettres, II, 1. Februar 1740.
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Newton und Leibniz in Frankreich
pour trouver des grâces à ce dernier. A propos de m. Clerau […] je me remettrai à étudier a+b pour lui écrire […]20
Zudem informierte sie ihre Adressaten über Neuerscheinungen, Aufgaben, Projekte und Reisen dritter Korrespondenten: „A propos de Fontenelle, Maupertuis va au pôle mesurer la terre.“21 Eine Zirkulation dieser Briefe bzw. ihres Inhaltes innerhalb des Freundeskreises, sei es im direkten Gespräch verschiedener Adressaten – wie im Jahr 1740, als Maupertuis und Voltaire sich zur selben Zeit in Berlin aufhielten – oder indirekt in einem weiteren Brief eines der Adressaten, war somit immer möglich. Zudem konnte mit einer Herausgabe ihrer Briefe innerhalb der Korrespondenz der hochberühmten Adressaten gerechnet werden. Dieses System der ‚öffentlichen‘ Zirkulation musste im Prozess des Schreibens reflektiert werden und nicht selten fordert die Autorin ihre Adressaten zur unmittelbaren Weiterleitung von Briefen oder Informationen auf und bekommt ebensolche Aufträge. Insofern ist die Annahme, die Briefe der Marquise du Châtelet seien „une vraie correspondance privée“ ebenso wenig haltbar wie deren Beweisführung, die abenteuerliche Orthografie, Durchstreichungen und Überarbeitungen in den Manuskripten zeugten von einem zerstreuten „style non recherché“, der sich nicht für ein eventuelles Publikum eignete.22 Auch die neueste Forschung will in der Korrespondenz von Emilie du Châtelet nur ein journal intime einer talentierten épistolaire sehen.23 Aber gerade die Prozesse der Überarbeitung, der Zusammenstellung und der anschließenden Sammlung der Briefe bedeuten schon einige Schritte aus dem privaten in einen öffentlichen Raum. Der einzelne Brief in der Korrespondenz von Emilie du Châtelet ist immer mehr als die ‚Hälfte des Dialogs‘, er fordert den Austausch und verweist auf das gesamte kommunikative System zwischen den jeweils beiden Briefpartnern, welches theoretisch erst mit dem Tode eines der Korrespondenten endet und er verweist ebenso auf seine Zugehörigkeit zu dem kommunikativen Schriftraum der République des Lettres. _____________ 19 20 21 22
23
Guisnée, Mitglied der Académie des sciences, dessen Studie Application da l’algèbre à la géométrie 1733 neu herausgegeben und von Mme du Châtelet studiert wurde. Vgl. Lettres, I, 7. Juni 1734. Lettres, I, 23. Oktober 1734. Lettres, I, 15. Juni 1735. Einer der wenigen Aufsätze zur correspondance von Madame du Châtelet in der französischen Forschung spricht bedenkenlos von dem „privaten“ Charakter der Briefe: Bonnel, Roland, „La correspondance scientifique de la marquise du Châtelet: la ‚lettre laboratoire‘“, in: Marie-France Silver/Marie-Laure Girou Swiderski (Hrsg.), Femmes en toutes lettres. Les épistolaires du XVIIIe siècle, Oxford 2000, S. 79–95., hier S. 81. Béatrice Didier und Jürgen Siess anlässlich der Tagung „Tricentenaire de la naissance de le marquise Du Châtelet“, Juni 2006, Bibliothèque nationale de France Paris.
III. ENZYKLOPÄDIEN DES 18. JAHRHUNDERTS DIGITAL Einführung von Ulrich Johannes Schneider Enzyklopädien haben eine magische Anziehungskraft. In Haushalten mit wenigen Büchern stehen die allgemeinbildenden Lexika meist prominent im Wohnzimmer und jedes Familienmitglied greift ins Regal, um Fragen zu beantworten, die irgendwo aufgetaucht sind. Auch in den Privatbibliotheken der Gelehrten waren bis vor kurzem die Nachschlagewerke und Lexika, die Enzyklopädien und Überblickswerke zentrale Orte für Konsultationen aus allen möglichen, mehr oder weniger wissenschaftlichen Zusammenhängen. Oft in der Nähe des Schreibtischs platziert, besitzen enzyklopädische Werke eine wichtige Mittlerfunktion zwischen dem Lesen und dem Schreiben, ihr kondensiertes Wissen leitet die Lektüre an und orientiert die Autoren. Durch Digitalisierung und Bereitstellung im Internet rücken jetzt die Nachschlagewerke näher an die Leser und Schreiber heran. Orientierung beim Schreiben geben neben den gedruckten Werken längst auch OnlineDienste wie Wikipedia, während die Lektüre zugleich von Fachportalen und einschlägigen Hypertexten gesteuert wird, die immer weniger dazu auffordern, den Schreibtischstuhl zu verlassen. Die Kultur des wissenschaftlichen Arbeitens mag gleich bleiben, ihre Medien ändern sich entscheidend, wenn sie digital werden. Für das 18. Jahrhundert und seine Erforschung bedeutet die Digitalisierung gedruckter Literatur eine Arbeitserleichterung und zugleich eine Horizonterweiterung. Neben einigen Enzyklopädien sind hier die Zeitschriften des 18. Jahrhunderts zu nennen, die an der Universitätsbibliothek Bielefeld gescannt wurden und am Bildschirm durchblätterbar sind.1 Für die biografische Recherche – oft ein sehr mühseliges Unterfangen! – gibt es die elektronische Version des Deutschen Biographischen Archivs und anderer entsprechender Archive des Saur-Verlages, die im „World Biographical Information System“ zusammengefasst sind.2 Eine entscheidende Horizonterweiterung stellen auch die vielen digitalisierten Bilder und Illustrationen dar, häufig aus der Literatur genommen, die über verschiedene Pro_____________ 1 2
http://www.ub.uni-bielefeld/diglib/aufklaerung. http://www.saur-wbi.de.
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III. Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts digital. Einführung
jektdatenbanken zugänglich sind und oft in bester Qualität bieten, was man früher mühsam suchen und zusammenstellen musste. Schließlich sind es nicht zuletzt die gewaltigen Datenbanken von „Gallica“3 und „Early English Books Online“4, die einen großen Teil der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts in meist guter Qualität für den (gelegentlich lizenzpflichtigen) Nutzer am Bildschirm zur Verfügung stehen. Eine Volldigitalisierung aller deutschen Drucke des 18. Jahrhunderts ist in Vorbereitung.5 Enzyklopädien stellen eine Literaturgattung dar, die in besonderer Weise von der Digitalisierung profitieren kann, wie im Folgenden die Ausführungen von Nico Dorn, Annette Meyer und Hans-Ulrich Seifert deutlich machen. Technisch gilt es zu unterscheiden zwischen einer Digitalisierung der Buchseiten als Images, die über die Lemmata angesteuert werden können, und einer Digitalisierung als Volltext, d. h. einer Umwandlung in eine Textdatei, die insgesamt durchsuchbar ist. Die verschiedenen Stufen einer Zugänglichmachung auf elektronischem Wege haben verschiedene Erkenntnisgewinne zur Folge, wie sich an der größten Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, Zedlers vollständigem Universal-Lexicon, darstellen lässt. Die erste Stufe bestand in einem Umwandlungsprozess von MikrofilmBildern in elektronische Bilddateien, die über die Lemmata der auf ihnen jeweils beginnenden Artikel aufgerufen werden können. Schon dieser Schritt der elektronischen Bearbeitung, den die Bayerische Staatsbibliothek in den 90er Jahren unternahm, hat für den Nutzer einen wesentlichen Vorteil, denn nun existiert ein Inhaltsverzeichnis.6 Die über 284.000 Artikel und ca. 276.000 Verweisungen sind freilich nicht wirklich übersichtlich darstellbar, das mühsame Blättern in den 68 Bänden machen sie dennoch erfolgreich überflüssig. Ein an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsbibliothek durchgeführtes und 2007 abgeschlossenes Projekt erlaubt auf der Basis des Inhaltsverzeichnisses zusätzlich eine sachliche Suche, weil Kategorien gebildet wurden, in denen zusammengehörende Artikel sozusagen Auszugslexika des Gesamtwerks bilden. Für die Forschung eine wiederum verbesserte Situation, erreicht durch Gruppierung der Hyperlinks. Erst mit dieser Erschließungsleistung ist es möglich, in bestimmten Fachgebieten der Forschung spezifischere Fragestellungen aufzugeben, weil man nun wenigstens ungefähr erkennen kann, welchen Umfang die einschlägigen Artikellisten haben. Ein dritter Schritt der Erschließung des UniversalLexicon bestünde in der Volltexterfassung aller Artikel, die zu einem nicht _____________ 3 4 5 6
http://gallica.bnf.fr. http://eebo.chadwyck.com. http://de.wikipedia.org/wiki/VD_18. http://www.zedler-lexikon.de.
Ulrich Johannes Schneider
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geringen Anteil sehr umfangreich sind. Es wäre dann der Text insgesamt zugänglich; alle in den Artikeln selbst genannte Namen und Begriffe würden unser Wissen über das im 18. Jahrhundert zusammengestellte Wissen enorm bereichern und neue Zusammenhänge erkennbar machen. Diese Volltexterfassung einer umfangreichen Enzyklopädie ist im Falle des ökonomischen Lexikons von Krünitz bereits erfolgt.7 Die 242 Bände, die zwischen 1773 und 1858 erschienen, sind vom Digitalisierungszentrum der Universitätsbibliothek Trier in Text umgewandelt, der online durchsucht werden kann. Der Vorteil des insgesamt durchsuchbaren Textes ist nochmals gesteigert durch die sachliche Erschließung mit Hilfe der Dezimalklassifikation von Dewey, die auch mehr als 3.000 Abbildungen einbezieht. Die fortschreitende Arbeit der Erschließung dieser gewaltigen Enzyklopädie, die mehrere Wissensstufen des 18. und 19. Jahrhunderts repräsentiert, ergibt ein Sachregister, das in hierarchischer Ordnung ein strukturiertes Suchen erlaubt und zugleich durch Hyperlinks von den Stichworten jedes beliebigen Artikels zum nächsten führt. Das Krünitz’sche Projekt stellt das Maximum dessen dar, was man an Erschließungsleistung einem so umfangreichen Text abverlangen kann; vielleicht sind spätere Bearbeitungen der Textmenge durch so genannte Text-Mining-Programme möglich, in denen Häufigkeitsverteilungen analysiert werden. Mit solchen Programmen lassen sich Texte auch jenseits traditioneller geisteswissenschaftlicher Fragestellungen auswerten. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Digitalisierungsarbeit, allein was das 18. Jahrhundert betrifft und allein auf dem Gebiet der Enzyklopädie, noch lange nicht abgeschlossen ist. Wenn die Encyclopaedia Britannica nun als Text im Netz steht8, ähnlich wie die französische Encyclopédie von Diderot und d’Alembert9, sind die Voraussetzungen für ein vergleichendes Arbeiten geschaffen. So wären im Volltextmodus Recherchen möglich, welche die Natur des enzyklopädischen Wissens selbst betreffen, das ja kein fixiertes, kein feststehendes Wissen ist. Das 18. Jahrhundert würde in seiner intellektuellen Dynamik fassbarer, die Wege der Kenntnis sichtbarer. Denn das enzyklopädische Wissen wandert von Auflage zu Auflage und wird dabei transformiert, es wandert auch von Lexikon zu Lexikon und wird dabei übersetzt. Diese Übersetzung betrifft die Sprachen, wenn beispielsweise aus dem Lateinischen oder Französischen ins Deutsche übertragen wird, oder auch die Natur des Textes, wenn etwa ein Fachlexikonartikel das Wissen für ein allgemeinbildendes Lexikon liefert. Der Aufbau des Wissens zu verfolgen: Diese Forschungsgebiet wird mit der _____________ 7 8 9
http://www.kruenitz1.uni-trier.de. http://www.britannica.com. http://portail.atilf.fr/encyclopedie.
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III. Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts digital. Einführung
Digitalisierung der enzyklopädischen Literatur eröffnet. Unser Wissen über Enzyklopädien wird sich jedenfalls durch die digitale Revolution inhaltlich verstärken können, weil nun Redaktionsprozesse durchsichtig werden und überhaupt die gewaltigen Textmengen in ihrer elektronischen Zusammensetzung häufig ein forschungspragmatisches Sortieren nach Interessen erlauben.
„Perhaps the fastest pen in the Scottish Enlightenment“. William Smellies Encyclopædia Britannica in der schottischen Aufklärung Annette Meyer Die Erforschung des 18. Jahrhunderts ist seit vielen Jahren darum bemüht, ihre vormalige Frankreich- und Deutschlandzentrierung systematisch zu überwinden. Der Doyen der englischen Historiografie, Hugh Trevor-Roper, hatte maßgeblichen Anteil an diesem Prozess, indem er 1967 auf dem zweiten Internationalen Aufklärungskongress in St. Andrews die schottische Geisteswelt des 18. Jahrhunderts als eine besondere Strömung der Aufklärungsdenkens identifizierte und mit dem Namen ‚The Scottish Enlightenment‘ versah.1 Spätestens seit Trevor-Ropers Invektive wurden die angelsächsischen Denker nicht mehr ausschließlich in ihrer Rolle als Impulsgeber der kontinentalen Aufklärungsphilosophie interpretiert2, sondern die schottischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts konnten aus ihrem Schattendasein heraustreten und sich unter dem Etikett ‚Schottische Aufklärung‘ als fester Bestandteil der internationalen Aufklärungsforschung etablieren. Der spezifische Gruppencharakter der schottischen Aufklärer hatte beeits zeitgenössisch und damit auch rezeptionsgeschichtlich klare Inklusionsund Exklusions-Prinzipien zur Folge. Zunächst galt es die post festum geprägte Bezeichnung ‚Schottische Aufklärung‘ von dem Terminus ‚Schottische Schule‘ abzugrenzen, was dazu diente, die Edinburger Philosophen um David Hume von der engeren ‚Common-Sense‘-Philosophie, im Umkreis von Thomes Reid und James Beattie, zu unterscheiden, die ihr Selbstverständnis aus einer Gegnerschaft zum Skeptizismus Hume’scher
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Vgl. Trevor-Roper, Hugh [Lord Dacre], „The Scottish Enlightenment“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 58/1967, S. 1635–1658. Dieser Begriff war im Übrigen schon 1900 in einer berühmten Studie von William Robert Scott über den Philosophen Francis Hutcheson geprägt worden. Zur Entstehung der ‚Schottischen Aufklärung‘ als Forschungsgegenstand vgl. Broadie, Alexander, „Introduction“, in: ders. (Hrsg.), The Cambridge Companion to The Scottish Enlightenment, Cambridge 2003, S. 1-7. Vgl. Brandt, Reinhard, „Die englische Philosophie als Ferment der kontinentalen Aufklärung“, in: Siegfried Jüttner/Jochen Schlobach (Hrsg.), Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielheit, Hamburg 1992, S. 66-79.
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William Smellies Encyclopædia Britannica in der schottischen Aufklärung
Provenienz bezog. Mit schottischer Aufklärung war damit eine Gelehrtengruppe umrissen, die sich in der Tat durch enge Schüler-LehrerBeziehungen und ein reges soziales und akademisches Netzwerk auszeichnete: Adam Smith folgte 1751 seinem Lehrer Francis Hutcheson auf den Lehrstuhl für Moralphilosophie in Glasgow. Dessen einflussreicher Schüler John Millar war durch die Vermittlung von Henry Home/Lord Kames 1761 ‚Professor of Law‘ an der Universität Glasgow geworden. Millar war zuvor bei Kames Hauslehrer gewesen und lernte durch ihn David Hume kennen.3 Der Nachfolger von David Hume im Amt des Bibliothekars der Advocates Library in Edinburgh, Adam Ferguson, wurde 1759 mit Unterstützung von David Hume und William Robertson Professor für Moralphilosophie und Pneumatologie an der Universität von Edinburgh, deren Rektor wiederum der Historiker William Robertson 1762 werden sollte.4 Ein Besucher Edinburghs kleidete den Eindruck einer auffallenden Intellektuellendichte in folgendes Bild: „Here I stand at what is called the Cross of Edinburgh, and can, in a few minutes, take fifty men of genius and learning by the hand“.5 Verschiedene Clubs und Gesellschaften, wie etwa die Philosophical Society of Edinburgh (1731), die Select Society (1754) oder die Newtonian Society (1760)6, boten über die schiere Ansammlung von Geistesgrößen hinaus den institutionellen Rahmen der gelehrten Konversationskultur, welche die schottische Aufklärung ausmachte und deshalb vielfach zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Annäherungen an das Phänomen wurde. Allen voran John R. R. Christie7, aber auch Steven Shapin8, Roger L. Emerson9 und Nicholas Phillipson traten mit Arbeiten
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7 8 9
Vgl. Lehmann, William C., Henry Home, Lord Kames and the Scottish Enlightenment, Den Haag 1971, S. 10ff. Smitten, Jeffrey, „William Robertson’s Life and Works“, in: William Robertson, The History of Scotland [1794], Bd. 1, ND London 1996, S. XVII-XXXV, hier S. XIX. Dieses Zitat wird „Mr Amyat, King’s Chemist, a most sensible and agreeable English gentleman“ zugeschrieben. Zitiert bei Smellie, William, Literary and Characteristic Lives of Gregory, Kames, Hume, and Smith, Edinburgh 1800, S. 161f. Scots Magazine (1755) nach Emerson, Social Composition, S. 297. Zu den bekanntesten Mitgliedern gehörten: Adam Smith, David Hume, der Maler Allan Ramsay, Lord Monboddo, Hugh Blair, Lord Kames, Adam Ferguson, William Cullen. Es ist nicht ohne Ironie, dass die berühmtesten Philosophen unter den genannten sich angeblich nie an den Diskussionen beteiligten: „David Hume and Adam Smith never opened their lips.“ Vgl. Fraser Tytler, Alexander, Memoirs of the Life and Writings of the Honourable Henry Home of Kames, Bd. 2, Edinburgh, London 1807, S. 177. Vgl. Christie, John R. R., „Origins and Development of the Scottish Scientific Society (1680–1760)“, in: History of Science, 7/1974, S. 122-141. Vgl. Shapin, Steven, „The Audience for Science in Eighteenth Century Edinburgh“, in: History of Science, 12/1974, S. 95–121. Vor allem Roger L. Emerson hat auf den Ursprung der schottischen Aufklärung im 17.
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hervor, in denen der Begriff der scientific community paradigmatisch an den Kommunikationsformen in der schottischen Aufklärung exemplifiziert wurde. Diese Studien waren elementar für die angelsächsischen Forschungen zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, deren Grundlegung durch Thomas Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962) sich darin verdeutlichte, dass ein klares Referenzsystem zwischen scientific community auf der einen Seite und dem vorherrschenden Wissenschaftsparadigma auf der anderen entwickelt wurde. Der Vorwurf, der schon an Kuhns Konzept gerichtet worden war, betraf den quasi zirkulären Charakter des Modells, das zwar politische Akteure miteinbeziehen konnte und damit auch Patronagesysteme mit in den Blick zu nehmen in der Lage war, aber nichtsdestotrotz wenig Raum für eine Öffentlichkeit außerhalb dieser Bezugssysteme zuließ. Auch wenn mit dem anderen wortmächtigen Stichwortgeber der Wissenschaftsgeschichte, Michel Foucault, das direkte Referenzsystem aus Gelehrtenwelt und Paradigma infrage gestellt werden konnte, so blieben die an deren statt ermittelten Diskursfelder, wie insbesondere das der ‚Naturphilosophie‘, hartnäckig an ihre geistigen Väter gebunden.10 Die Entdeckung der schottischen Aufklärung als wissenschaftlichem und politischem Kommunikationsraum, hinter den die vormals bestimmenden großen Werke berühmter Autoren, wie Treatise of Human Nature oder Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of the Nations, zurücktraten, verbindet sich erst neuerdings mit Interesse am kultur- und buchgeschichtlichen Fundament dieses Raums.11 Nur so erklärt sich, dass trotz der regen und vielfältigen Forschung zur schottischen Aufklärung eines ihrer zentralem Medien, das einzige seit der Frühen Neuzeit durchgängig bestehende Nachschlagewerk, die Encyclopædia Britannica (EB), deren erste Auflage von 1768–1771 erschien, bis heute wenig erforscht ist. Trotz des gerade in jüngster Zeit gewachsenen Interesses an Wissensvermittlung, Enzyklopädik und Wissensverarbeitung in der Frühen Neuzeit, existiert bis heute nur eine Monografie zur EB12, die von 1958 datiert und auf ca. 300 Seiten die 200jährige Geschichte essayistisch erzählt und deren wissenschaftlich unzureichende Grundlage verschiedentlich bemängelt
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Jahrhundert hingewiesen und stellte damit die engere, auf das 18. Jahrhundert spezifizierte Bezeichnung infrage. Vgl. ders., „Natural Philosophy and the Problem of the Scottish Enlightenment“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 242/1986, S. 243-291. Schaffer, Simon, „Natural Philosophy“, in: George S. Rousseau/Roy Porter (Hrsg.), The Ferment of Knowledge. Studies in the Historiography of Eighteenth-Century Science, Cambridge u. a. 1980, S. 55–91. Vgl. etwa den Ausstellungskatalog The Culture of the Book in the Scottish Enlightenment. An Exhibition with Essays by Roger Emerson, Richard Sher, Stephen Brown, and Paul Wood, Toronto 2000. Kogan, Herman, The Great EB. The Story of The Encyclopædia Britannica, Chicago 1958.
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William Smellies Encyclopædia Britannica in der schottischen Aufklärung
wurde. Seither ist besonders der amerikanische Historiker Frank A. Kafker mit Publikationen zur EB hervorgetreten, deren ureigentliches wissenschaftliches Interesse jedoch nicht diesem Unternehmen selbst, sondern der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts gilt, über die Kafker wichtige Forschungen vorgelegt hat. Martin Fontius hat auf den problematischen Umstand hingewiesen, dass Kafker in seinen Arbeiten zur EB diese an den Leistungen der Encyclopédie misst und damit weder dem originären Anliegen der Herausgeber gerecht werden noch eine neutrale Verortung des Unternehmens vornehmen kann.13
Abb. 1: William Smellie and Andrew Bell [1787], aus: John Kay, A Serious of Original Portraits and Caricature Etchings, ND Edinburg 1877.
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Fontius, Martin, „Stellen wir die richtigen Fragen zur Enzyklopädiegeschichte? Bemerkungen zu den Forschungen von Frank A. Kafker“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 22/1998, S. 139145. Kafkers Forschungsperspektive geht bereits deutlich aus den Titeln seiner Anthologien hervor: Kafker, Frank A. (Hrsg.), Notable Encyclopedias of the Seventeenth and Eighteenth Centuries: Nine Predecessors of the Encyclopédie, Oxford 1981; ders. (Hrsg.), Notable Encyclopedias of the Late Eighteenth Century: Eleven Successors of the Encyclopédie, Oxford 1994.
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Fasst man Kafkers verschiedene Aussagen zusammen, kommt er zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die EB sich durch mangelnde Qualität, Originalität, Progressivität und Autorität auszeichne, wie ebenso die gesamte Anlage von einer Unausgewogenheit bzw. Fehlgewichtung der Artikel bestimmt sei. Ich werde nach einer Vorstellung der Unternehmung Encyclopædia Britannica zu zeigen versuchen, dass es genau die von Kafker monierten Punkte sind, welche die EB nicht zu einem inferioren Enzyklopädieprojekt machten, sondern nachgerade zu einem neuartigen Medium in der Vermittlung und Verbreitung von Wissen und Wissenschaft in der Gesellschaft. Die EB war von Anbeginn ihrer Planung, anders als vergleichbare Unternehmen der Spätaufklärung, ein reines Verlagsprojekt. Wir kennen keine Details zu den Umständen, die den aus einer Handwerkerfamilie stammenden jungen Druckermeister Colin Macfarquhar veranlassten, dieses Projekt ins Auge zu fassen. Er wendete sich mit der Idee an den wohl etablierten Kupferstecher Andrew Bell, Jahrgang 1729, der als Geldgeber des Vorhabens fungierte. Für die inhaltliche Umsetzung ihres groß angelegten Planes konnten die beiden den etwa 25-jährigen William Smellie gewinnen14, der einer radikal presbyterianischen (Cameronians) Baumeisterfamilie mit Freimaurerhintergrund entstammte und bereits eine ungewöhnliche Karriere hinter sich hatte.15 Mit erst 12 Jahren begann Smellie, entgegen dem Wunsch seines Vaters, ein Praktikum im Druckergewerbe bei Hamilton, Balfour & Neill, einem vorrangig wissenschaftlichen Verlag in Edinburgh, der seit 1754 der offizielle Verlag der Universität von Edinburgh war. Im Alter von 16 ist er bereits ‚corrector‘ und darf drei Stunden am Tag das College besuchen; den Höhepunkt seiner Ausbildung stellt eine preisgekrönte lateinische Terenz-Ausgabe dar, mit der er 1759 die Lehrjahre beendet. Als Geselle fängt er beim renommierten Verlag Murray & Cochrane an und darf während der Ausbildung Vorlesungen an der Universität besuchen, für die er keine Gebühren zu bezahlen braucht. Smellie absolviert den ‚Arts Course‘, in welchem er sich durch eine besondere Begabung für das Lateinische hervortut. Bevor er neben seiner Druckertätigkeit sein Hauptstudium
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Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Theoretiker der Geburtshilfe, William Smellie (1697–1763), dessen Kupferstiche der Geburtsvorgänge durch die EB weite Verbreitung fanden. Die umfassendste Darstellung zu Smellies Leben bietet immer noch Kerr, Robert, Memoirs of the Life, Writings, and Correspondence of William Smellie [1811], 2 Bde., ND Bristol 1996. Neuere biographische Überblicke bietet Brown, Stephen W., Art. „Smellie, William (1740– 1795)“, in: The Dictionary of Eighteenth-Century British Philosophers, Bd. 2, Bristol 1999, S. 804808; ders., „William Smellie and Natural History: Dissent and Dissemination“, in: Charles W. J. Whithers/Paul Wood (Hrsg.), Science and Medicine in the Scottish Enlightenment, Glasgow 2002, S. 191-214.
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William Smellies Encyclopædia Britannica in der schottischen Aufklärung
aufnimmt, ist er 1760 zwanzigjährig Gründungsmitglied der Newtonian Society, einer Gruppe von Studenten, die einmal wöchentlich in den Räumen der Universität tagt, und übernimmt die Herausgeberschaft des Scots Magazine (1759), der ersten von fünf Zeitschriften, die Smellie im Laufe seines nicht allzu langen Lebens – er soll 55 Jahre alt werden – herausgeben wird. Im Hauptstudium verlässt Smellie schrittweise seine ursprünglich theologischen Studien und richtet sein Interesse auf Chemie und Botanik, die er vor allem bei John Hope studiert und dessen sämtliche botanische Schriften er drucken wird. Schließlich gilt sein Hauptaugenmerk den medizinischen Vorlesungen, die er mit besonderer Vorliebe bei John Gregory, nicht etwa William Cullen, hört. Im Jahr 1766 kann Smellie Partner im Verlag Auld Balfour werden, wo er seine Lehre absolviert hatte und wodurch er auch die Leitung des Edinburger Universitätsverlages mit übernimmt. In diese Zeit fällt wohl das Ansinnen von Macfarquhar und Bell an Smellie, für eine Pauschale von 200 Pfund die gesamte Redaktion und die Verfasserschaft von mindestens 15 kapitalen Einträgen zu übernehmen, während Andrew Bell für die insgesamt 160 Kupferstiche und Mcfarquhar für den Druck zu sorgen hätte. In der Literatur besteht Uneinigkeit über die Frage der gerechten Verteilung von Aufwand und Nutzen dieses Unternehmens.16 Sicher ist jedoch, dass die EB vom Anbeginn an ein so großer Erfolg war, dass der ersten dreibändigen Ausgabe, deren Auflagenhöhe unbekannt ist, schon 5 Jahre später (1776) eine 10-bändige Ausgabe mit einer Auflage von 1.500 Exemplaren folgte und wiederum 10 Jahre später (1788–1797) eine 18-bändige Ausgabe mit einer Auflage von 10.000. Erst die 4., 5. und 6. Auflage werden zumeist zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Arbeiten genommen, da bekannte Wissenschaftler, wie etwa Dugald Stewart, dann für verschiedene Artikel verantwortlich zeichneten und zu ausführlicheren wissenschaftstheoretischen Präliminarien ausholten.17 Weder das eine noch das andere ist bei Smellies erster Edition der Fall, was zum Befund mangelnder Autorität geführt hat. Im werbenden Subskriptionshandzettel wird die Anonymität der Artikel als Zurückhaltung und Bescheidenheit der Autoren deklariert,
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Kafker kommt zu dem Ergebnis, dass Smellie damit besser gestellt war als Diderot bei der ersten Auflage der Encyclopédie. Der zeitgenössische Biograph Smellies Robert Kerr war indessen der Ansicht, dass Bell und Maqfarquhar, zumindest wenn man die schnelle folgende zweite Auflage von 1776 und die dritte Auflage beginnend mit dem Jahr 1788 einbezieht, an denen Smellie nicht mehr beteiligt war, ein hervorragendes Geschäft mit einem Nettoumsatz von 42.000 Pfund gemacht haben und gemessen daran die 200 Pfund für Smellie ein Hungerlohn waren. Vgl. Kafker, „William Smellie’s Edition of the Encyclopædia Britannica“, in: ders. (Hrsg.), Notable Encyclopedias of the Late Eighteenth Century, S. 145-182, hier S. 147f., und Kerr, Memoirs of the Life, S. 364f. Vgl. Yeo, Richard, „Reading Encyclopedias. Science and the Organization of Knowledge in British Dictionaries of Arts and Sciences, 1730–1850“, in: Isis, 82/1991, S. 24-49.
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die im Vorwort als ‚Compilers‘ bezeichnet werden, was auf die mangelnde Reputation von Smellie zurückgeführt wurde.18 Darüber hinaus wurde im Anhang der einzelnen Artikel keine Literatur angegeben, sondern nur dem kurzen vollmundigen Vorwort eine zweiseitige Liste der maßgeblichen Referenzautoren und -werke angefügt. Es ist gezeigt worden, dass manche dieser Werke anscheinend gar nicht benutzt wurden, andere Artikel wiederum nahezu wörtliche Wiedergaben nicht angegebener Titel sind, was zum Vorwurf mangelnder wissenschaftlicher rectitudo führte. Die Kritik an mangelnder Expertise und wissenschaftlicher Aufrichtigkeit bzw. der latente ‚Plagiatsvorwurf‘ hängen eng zusammen und finden sich fast in jeder, auch zeitgenössischen Besprechung von Nachschlagewerken.19 Interessant scheint jedoch vielmehr die neuartige Form der Wissenszusammenstellung, die durch ihre Anonymität keine subjektive, durch Autorschaft verbriefte wissenschaftliche Fachmeinung, sondern ein am Gegenstand orientiertes ‚objektives‘ Referat darstellt.20 Es ist nicht ohne Ironie, dass nach dem Erscheinen eines materialistisch ausgerichteten Artikels zum Begriff ‚Aether‘, der bekannteste lehrende Mediziner in Edinburgh, William Cullen, dessen eigene Theorie dort ohne Umschweife verworfen worden war, seinen berühmten Kollegen John Gregory hinter der Autorschaft vermutete und dies William Smellie mitteilte, der darüber sehr amüsiert war und die Camouflage seiner eigenen Autorschaft dennoch nicht preisgab. Die Anonymität konnte auch davor wahren, belangt zu werden und bot den Rahmen für Thesen, die schnell im Verdacht der Heterodoxie standen. Etliche der radikaleren Artikel der ersten Auflage wurden in der zweiten und spätestens in der dritten Auflage geglättet.21 Aus Korrespondenzen wissen wir, dass Smellie weit mehr als die zunächst verabredeten Artikel geschrieben hat, nämlich anscheinend fast alle kapitalen Einträge, die – wie in dem kurzen Vorwort ausgeführt wird – systematische Inseln im alphabetischen Aufbau bilden sollten und von denen es 42 an der Zahl gibt. Anders als die bisherigen enzyklopädischen Arbeiten, etwa Chambers oder die französische Encyclopédie,
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Vgl. Kafker, „William Smellie’s Edition“, S. 148. Zum Plagiatsvorwurf im ‚Zedler‘ vgl. Schneider, Ulrich Johannes, „Die Konstruktion des allgemeinen Wissens in Zedlers Universal-Lexicon“, in: Theo Stammen/Wolfgang Weber (Hrsg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 81-101, hier S. 84. In diesem Zusammenhang schließe ich mich Schneiders Ausführungen zum ‚Zedler‘ an, der zwischen Fach- und Sachwissen unterscheidet. (Ebd., S. 97.) Spätestens die dritte Auflage trägt die restaurative Handschrift des episkopalischen Geistlichen George Gleig (1753–1840), der Spuren verdächtiger Denkströmungen, wie ‚Atheismus‘, ‚Deismus‘ und ‚Materialismus‘ aus den Einträgen tilgte. Vgl. dazu auch Sebastiani, Silvia, „Conjectural History vs. The Bible. Eighteenth-Century Scottish Historians and the Idea of History in the Encyclopaedia Britannica“, in: Storia della Storiografia, 39/2001, S. 51-61.
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William Smellies Encyclopædia Britannica in der schottischen Aufklärung
heißt es dort, wolle man die arbiträre alphabetische Ordnung nur in Teilen einhalten, da sie dem eigentlichen Wesen der Wissenschaft widerspreche.22 Betrachtet man diese systematischen Einsprengsel innerhalb der meist sehr knapp gehaltenen alphabetischen Einträge genauer, entsteht wiederum ein sehr eigentümliches Bild, das in der Literatur zum Befund der Fehlgewichtung innerhalb der Ausgabe geführt hat. Ein grundlegendes Ungleichgewicht ist allein darin zu erkennen, dass das Projekt offenbar zunächst größer angelegt war: Der erste Band schließt zwei Buchstaben (A-B) ein, während der zweite Band 10 (C-L) und der dritte Band 14 Buchstaben (M-Z) umfasst. Des Weiteren sind die systematischen Artikel sehr unterschiedlich lang. Gesonderte Einträge sind für die artes liberales vorgesehen, wobei schon hier eine gewisse Umgewichtung auffällt: die Rhetorik hat keinen systematischen Eintrag, dafür ausführlich ‚Law‘ und ‚Moral-Philosophy‘. Diese Gewichtung erscheint auf den zweiten Blick jedoch nicht als Mangel, sondern als interessante Neuordnung der Wissenschaften. So ist insgesamt eine Aufwertung der praktischen Wissensfelder unübersehbar, wie es sich z. B. an den Einträgen ‚Agriculture‘, ‚Bleaching‘, ‚Brewing‘, ‚Farriery‘ ‚Gardening‘, ‚Horsemanship‘, ‚Midwifery‘, ‚Shorthandwriting‘, ‚Tanning‘ oder ‚Clockwork‘ zeigt. Viel Raum wird auch kaufmännischen Begriffen eingeräumt, wie ‚Annuities‘, ‚Book-Keeping‘ oder ‚Fluxions’. Besonderes Augenmerk liegt auf medizinischen und pharmazeutischen Fragen, die allein schon durch den 165 Seiten langen Artikel ‚Anatomy‘ der Anzahl und Ausführlichkeit nach überwiegen, gefolgt von Chemie und Botanik. Der Eintrag zur Hebammenkunst ist dreimal so lang wie der Artikel über Religion und Theologie, der auf nur 13 Seiten abgehandelt wird. Es verwundert daher die Einschätzung, dass die EB sich in ihren religiösen Ansichten durch Konventionalität auszeichne und unberührt von neuen Strömungen des Deismus, Skeptizismus und Atheismus geblieben sei. Eine genaue Lektüre zeigt indessen – neben einem großen Interesse an fremden Religionen, etwa einem 18 SeitenArtikel zu ‚Mahometans‘ und diversen Einträgen zum Judentum –, dass es ein erstaunliches Nebeneinander von orthodoxen und heterodoxen Auffassungen in den verschiedenen Wissensbereichen gibt, sodass sich verschiedene Artikel innerhalb des Lexikons sogar fundamental widersprechen können. So ist man erstaunt, Smellies ureigenstes Fachgebiet der ‚Natural History‘ nur in einem dreiseitigen skizzenhaften Eintrag abgehandelt zu finden, der sich grob an der Linné’schen Klassifikationslehre orientiert. Smellie hatte sich indessen während seines Studiums unter dem
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Vgl. „Preface“, in: Encyclopaedia Britannica; Or A Dictionnary of Arts and Sciences, compiled upon a new plan. In Which The different Sciences and Arts are digested into distinct Treatises and Systems; and The various Technical Terms, &c. are explained as they occur in the order of the Alphabet. By a Society of Gentlemen in Scotland, Bd. 1, Edinburgh 1768, S. III.
Annette Meyer
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Einfluss von Kames zu einem überzeugten Gegner Linnés entwickelt, was sich spätestens darin ausdrückte, dass er die erste Übersetzung von Buffons Histoire naturelle ins Englische anfertigte, die 1780 erschien, obwohl ihm dringend davon abgeraten wurde, sich mit der Übersetzung eines Autors zu profilieren, der durch seine Infragestellung der scala naturae und dem Vergleich von Mensch und Tier im Verdacht der Heterodoxie stand.23 Smellie selbst krönte diese Arbeit mit einer eigenen Philosophy of Natural History (1790), in der er versuchte, das Konzept Buffons mit der Newton’schen Methode zu einer säkular-historischen Weltdeutung zu amalgamieren. Liest man neben dem Artikel ‚Natural History‘ den Artikel ‚Moral Philosophy‘, zeichnet sich Smellies neues Wissenschaftsverständnis ab: Moral Philosophy has this in common with Natural Philosophy, that it appeals to nature or fact; depends on observation; and builds its reasonings on plain uncontroverted experiments, or upon the fullest induction of particulars of which the subject will admit. We must observe in both these sciences, how nature is affected, and what her conduct is in such and such circumstances. Therefore Moral Philosophy inquires, not how man might have been, but how he is, constituted. […] It is thus we understand the office and use of watch, a plant, an eye, or hand. It is the same with a living creature, of the rational, or brute kind.24
Auch wenn dieser Artikel wiederum in Teilen eine Paraphrase des Aberdeener Philosophen David Fordyce darstellt, zeigt sich hier eine naturgeschichtliche Grundlegung der Moral, die ohne göttliche Begründung auskam und damit Kritiker auf den Plan rief, sodass der Artikel in der nächsten Auflage der EB grundlegend geändert wurde. Was an diesem Beispiel gezeigt werden kann ist, dass es gerade das Nebeneinander verschiedener Auffassungen, die Kompilationstechniken, die Neugewichtungen der Wissenschaften sind, welche die EB zu einem besonders interessanten Medium innerhalb der Neuordnung der Wissensfelder im ausgehenden 18. Jahrhundert machen. Das oberste Credo der EB war die Nützlichkeit im Gebrauch.25
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Vgl. Christie, John R. R., „Ideology and Representation in Eighteenth-Century Natural History“, in: Oxford Art Journal, 13/1990, S. 3-10, hier S. 9. „Therefore, to determine the office, duty, or destination of man; […] we must inspect his constitution, take every part to pieces, examine their mutual relations one to the other, and the common effort or tendency of the whole.“ Vgl. Art. „Moral Philosophy“, in: Encyclopaedia Britannica, Bd. 3, S. 270–309, hier S. 270. Roger Vladimir Price hat darauf aufmerksam gemacht, dass William Smellie für den Artikel ‚Moral Philosophy‘ teilweise wörtlich das posthum erschienene Lehrbuch Elements of Moral Philosophy (1754) des Aberdeener Philosophieprofessors David Fordyce (1711–1751) übernommen hat. Vgl. Price, Roger Vladimir, „Introduction“, in: David Fordyce, The Elements of Moral Philosophy, 3 Bde., Bristol 1990, S. V–X, hier S. VI. Wörtlich findet sich das Zitat ebd., S. 8. So lautet der erste Satz des Vorwortes: „UTILITY ought to be the principal institution of every publication. Wherever this intention does not plainly appear, neither the books nor their authors have the smallest claim to the approbation of mankind“. EB, S. V.
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Mit dem Anliegen der systematischen Popularisierung von Wissen, seiner Nützlichkeit und Anwendungsfähigkeit entsprach die EB sicherlich einer Grundauffassung, die für die gesamte schottische Aufklärung geltend gemacht werden kann. Während jedoch einzelne pointierte Positionen bestimmter Autorschaft verschwimmen und es z. B. möglich ist, dass Humes Skeptizismus und Reids ‚Common Sense‘-Philosophie zu einer Position verschmolzen werden, lässt sich mit der EB ein Diskursfeld in der Spätaufklärung beschreiben, in dem sich Gelehrsamkeit und öffentliches Interesse überschneiden. Die Enttäuschung darüber, dass an einem Ort, an dem man 1771 auf einer Kreuzung wartend ohne weiteres 50 Gelehrten ersten Ranges die Hand schütteln konnte, keiner von diesen an der ersten Ausgabe einer weltberühmten Enzyklopädie mitgearbeitet hat, wird dadurch kompensiert, dass die Entstehung der EB und die Umtriebigkeit ihres nahezu vergessenen Herausgebers eine Ahnung davon vermittelt26, auf welche Weise sich die Gedankenwelt dieser Männer in die Kultur des Wissens eingeschrieben hat.
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„[...] we can be sure that every one of those fifty men knew William Smellie well, and held strong opinions about him as a businessman and a thinker“. Vgl. Brown, Stephen, „William Smellie and the Culture of the Edinburgh Book Trade (1752–1795)“, in: The Culture of the Book in the Scottish Enlightenment, S. 61-88, hier S. 64.
Krünitz online. Planung und Realisierung der digitalen Ausgabe von Johann Georg Krünitz’ Ökonomisch-technologischer Enzyklopädie Hans-Ulrich Seifert „Wenn sie alle so wären wie die Krünitzische“ (Novalis, Schriften II,18)
Als letztes großes deutschsprachiges Nachschlagewerk der im Rahmen des 1996 aufgelegten DFG-Programms „Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen für eine verteilte Digitale Forschungsbibliothek“ zur Digitalisierung vorgesehenen Wörterbücher und Enzyklopädien war zur Jahrtausendwende nur noch die Œconomische Encyclopädie von Johann Georg Krünitz ‚unversorgt‘. Digitale Ausgaben von Zedlers Universal-Lexicon, Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart sowie Erschs und Grubers Allgemeiner Encyclopädie der Wissenschaften und Künste waren von den beiden Digitalisierungszentren in München und Göttingen bereits in Angriff genommen bzw. fertiggestellt worden. In Trier stieß das in mancherlei Hinsicht sperrige Werk insofern auf Interesse, als es eine im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm häufiger zitierte Quelle darstellt, mit dessen Digitalisierung das Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Berlin im November 1998 begonnen hatte. Anders als in den eingangs zitierten Digitalisierungsprojekten, in denen mit unterschiedlichen Navigationselementen ausgestattete digitale Imageversionen von Nachschlagewerken erarbeitet wurden, strebte das Trierer Kompetenzzentrum in seinen unterschiedlichen Projekten die Produktion XML/SGML-konformer und recherchierbarer elektronischer Volltextversionen der der Digitalisierung zugrunde gelegten Werke an. Dieser von der DFG bereits verschiedentlich unterstützten Strategie schloss sich die 2000 in Digitalisierungsfragen noch eher unerfahrene Universitätsbibliothek an und beantragte im März 2001 Mittel, um Krünitz’ zwischen 1773 und 1858 in 242 Bänden erschienenes Werk vollständig zu digitalisieren und im Inter-
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net zur Verfügung zu stellen. Das Vorhaben sollte auf in anderen Trierer DFG-Projekten bereits erprobten Standards und Methoden der Textdigitalisierung aufsetzen und die umfangreiche Enzyklopädie unter einer komfortablen und bedienungsfreundlichen Benutzeroberfläche zur Verfügung stellen. Bei Krünitz’ Werk handelt es sich um eine ursprünglich als Übersetzung der französischen Encyclopédie œconomique, ou système général de l’œconomie rustique, domestique et politique (Yverdon 1770/71, 16 Bände) geplante technisch-ökonomische Enzyklopädie, die sich aber bereits nach wenigen Bänden zu einem eigenständigen Werk auswuchs, das nach Krünitz’ Tod unter verschiedenen Herausgebern erschien. Der während des langen Erscheinungszeitraums (1773–1858) nur leicht variierende Titel (Oekonomischtechnologische Enzyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt, Haus- und Landwirtschaft) lässt erkennen, dass es sich bei dem Krünitz’schen Werk nicht nur um ein sprachhistorisch interessantes Wörterbuch sondern vor allem um eine primäre Hilfsquelle aller historisch arbeitenden Wissenschaften handelt. ‚Der Krünitz‘ ist mit seinen 144.000 Seiten und über 10.000 Abbildungen nicht nur „one of the largest works of its kind ever issued“, wie Robert L. Collison 1966 in seiner Studie über bedeutende Enzyklopädien festgehalten hat1, sondern die deutschsprachige Quelle zur Technik- und Wirtschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts schlechthin und zugleich eine der umfangreichsten deutschsprachigen UniversalEnzyklopädien überhaupt, deren wissenschaftliche Nutzung durch das Fehlen einer Reprintausgabe in Papierform ebenso behindert war wie durch die Anlage des Werkes selbst, das als Druckausgabe seinen Gehalt an Information in oft umfangreichen, wenig strukturierten Artikeln verbirgt, deren Nutzung durch keinerlei Register erleichtert wird. Die Digitalisierung des Werks hat nicht nur seine Benutzung erleichtert, sondern ganz neue Nutzungsmöglichkeiten eröffnet. Voraussetzung hierfür bildete die Volltexterfassung und strukturelle Auszeichnung des gesamten Texts, der nur als kodierter Text die Retrievalansprüche wissenschaftlicher Forschung erfüllen kann. Die einzelnen Schritte zu diesem Ziel werden in den nachfolgenden Punkten erläutert. Dokumentenanalyse, Datenerfassung und Fehlerkorrektur Die quantitative Auswertung der 242 Bände des Werks im Hinblick auf die zu erfassende Zeichenmenge ergab eine Gesamtzeichenzahl von 243.799.800 Zeichen inkl. Vorkodierung typographisch eindeutiger Struk-
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Collison, Robert L., Encyclopaedias: Their History Throughout the Ages [1964], 2. Aufl., New York, London 1966.
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turelemente (im Vergleich dazu das Grimmsche Wörterbuch: 319.500.000 Zeichen inkl. Kodierung). Einschließlich der zum Zweck der besseren Übersichtlichkeit von den Herausgebern vergebenen Unterlemmata für Großartikel wie ‚Rind‘ oder ‚Schaf‘ umfasst die Enzyklopädie knapp 125.000 Lemmata. Eine erste strukturelle Analyse des Werks hatte ergeben, dass optische Marken, die den strukturellen Aufbau eines Textes sichtbar machen und für eine automatische Umsetzung in SGML-Auszeichnungen eine Grundvoraussetzung bilden, in der Krünitz’schen Enzyklopädie nur in bescheidenem Ausmaß vorhanden sind. Eine eingehende formale und inhaltliche Analyse erbrachte eine differenzierte Anweisung für die in China geleistete Texterfassung. Diese berücksichtigt typografische Merkmale der Vorlage, um diese im Hinblick auf eine spätere SGML-Kodierung aufzubereiten. Für die chinesischen Bearbeiter präsentiert sich die Anweisung wie unten in Abb. 1 dargestellt.
Abb. 1: Arbeitsanweisungen für das Double Keying in China
Im Einzelnen finden in der Anweisung etliche im Hinblick auf die spätere Kodierung des Textes relevante Parameter Beachtung: neben unterschiedlichen Schriftarten und Schriftgrößen, Kolumnentiteln, Zeilensprüngen, Absatzwechseln und Einzügen werden die im Original durch Fettung und ihre Position formal identifizierbaren Lemmata zur Kodierung herangezogen. Für Sonderzeichen (griechische und hebräische Schrifttypen, mathematische Sonderzeichen) und die im Text in großer Zahl eingestreuten Tabellen) wurden analog Kodierungen vorgesehen, die ein leichtes Auf-
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finden der entsprechenden Textstrecken zur späteren Weiterbearbeitung ermöglichen. Die aus China per ftp nach Trier zurückgesandten doppelt erfassten Textdaten wurden einem automatischen Textvergleich unterzogen und korrigiert. Grundlage dieses eine fehlerbereinigte Fassung ermöglichenden Versionenabgleichs bildete ein Vergleichsprotokoll. Der am Ende dieses Arbeitsschrittes erzielte Text diente als Ausgangspunkt für die weitere Kodierung der elektronischen Version. Kodierung und Erschließung des Textes Die Erfassung in China beinhaltete neben dem reinen Text der Enzyklopädie auch eine Reihe von typografischen Merkmalen, die in Form von Kodierungen in den Datenbestand eingetragen wurden. Hierfür wurde u. a. das Tübinger System von Textdatenverarbeitungsprogrammen TUSTEP eingesetzt. Die Kodierungen wiederum dienten dazu, logische und hierarchische Strukturen automatisiert zu erkennen und für die weitere Erschließung des Werkes aufzuarbeiten. Aus Platzgründen kann dieser Bereich, der eine komplexe Abfolge von Arbeitsschritten beinhaltet, hier nicht differenziert dargestellt werden. Ausführlichere Information dazu bietet der Abschlussbericht des Projekts, der über die Projektseite (http://www.kruenitz.uni-trier.de) aufgerufen werden kann. Bildbearbeitung und Bilderschließung Sämtliche Abbildungen der Enzyklopädie stehen in der Datenbank voll erschlossen (hypertextuelle Vernetzung mit Band-Seiten-Zeilen-Konkordanz, DDC-Kennung und Verstichwortung) online zur Verfügung. Die der Papierausgabe in der Regel auf Tafeln am Bandende beigegebenen Kupferstiche und Lithografien zählen bis 9398. Da etliche Abbildungen mit Zusätzen ((a), (b), (c), ...) versehen sind, beläuft sich ihre Gesamtzahl auf ca. 11.000. Alle Abbildungen wurden aus der Papierausgabe mit 300 dpi farbig eingescannt. Die Reproduktionsqualität der im Schwarz-WeißModus ausgeführten Mikroficheausgabe war für das Online-Angebot unzureichend. Ein Scan erfasst jeweils eine Tafel, auf der zumeist mehrere Abbildungen untergebracht sind. Die bandweise im Archivierungsformat TIFF und im Präsentationsformat JPEG abgelegten ca. 5000 Bilddateien haben insgesamt ein Datenvolumen von ca. 35 GB. Für die Onlinepräsentation werden sie in einer für diesen Zweck heruntergerechneten Auflösung von ca. 80 dpi und mit einem Wasserzeichen versehen an-
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geboten, was schnelles Laden und Identifizierung hinsichtlich der Provenienz aus dem Krünitz-Projekt erlaubt. Die Erschließung des Bildmaterials und seine Aufbereitung für die Suche erfolgte in mehreren Schritten. Jede Abbildung wurde mittels der Dewey-Dezimal-Klassifikation klassifiziert. Ungefähr 3200 Abbildungen bekamen dabei zwei oder mehr DDC-Stellen zugewiesen. Insgesamt sind ca. 11.000 Abbildungen mit über 20.000 DDC-Stellen verknüpft. Darüber hinaus wurde jedem Bild als begrifflicher Sucheinstieg das Lemma zugeordnet, in dem es auftaucht und darüber hinaus eine Reihe von frei vergebenen Stichworten, die den Bildinhalt im engeren Sinne und sein assoziatives Umfeld umschreiben. Auf eine Normierung mit Schlagworten nach RSWK oder ikonographischen Klassifikationsystemen wie Iconclass wurde aufgrund der mit der DDC-Klassifikation bereits erzielten Normierung des Bildinhalts verzichtet. Inhaltserschließung mit DDC Das in über 80 Jahren zusammengetragene Material der Krünitz’schen Enzyklopädie ist in seiner internen Verweisstruktur nicht konsistent und in sehr ungleichen Teilen auf unterschiedliche Alphabetstrecken verteilt. Auch führte die technische Entwicklung in dem langen Veröffentlichungszeitraum dazu, dass maßgebliche Nachträge zu Sachbereichen, deren Bedeutung sich zwischen 1773 und 1858 grundlegend geändert hatte, ihrer Aktualität wegen in der Enzyklopädie noch untergebracht werden sollten. Wegen der alphabetischen Anlage des Werks kamen sie daher nur an ‚versteckter‘ Stelle zu stehen. So finden sich die Nachträge zu dem sechsseitigen Artikel „‚Elektrizität“ aus dem Jahr 1785 unter dem Lemma „Vis electrica“ (1855, 294 S.), die zu dem Artikel ‚Gährung‘ (1786, 8 S.) in dem Artikel „Vis fermentativa“ (1855, 30 S.) oder die zu dem Artikel „‚Italien“ (1784, 45 S.) in dem Artikel „Welschland“ (1857, 191 S.). Eine Volltextsuche ist nur bedingt geeignet, die inhaltlichen Zuordnungen zwischen den Texten zu gewährleisten. Aus diesem Grund suchten die Herausgeber der elektronischen Ausgabe nach einer Möglichkeit, jedes Lemma der Enzyklopädie und bei umfangreicheren Artikeln auch jeden mit einer eigenständigen Bedeutung versehenen Absatz innerhalb eines Enzyklopädieartikels semantisch eindeutig zu klassifizieren und auffindbar zu machen. Als Mittel zur Erreichung dieses Ziels setzten sie die international verbreitete „Dewey-Dezimal-Klassifikation“ ein. Diese, ursprünglich als Aufstellungssystematik von Bibliotheken entwickelte Klassifikation, die heute in 35 Ländern vornehmlich zur Klassifikation nationalbibliografischer Daten eingesetzt wird, ermöglicht thematisch zusammengehörende Be-
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griffe und Bilder miteinander zu verknüpfen und nach klassifikatorischen Gesichtspunkten recherchierbar zu machen. Die Bibliothek setzte dafür zunächst die 21. Auflage der englischsprachigen Druckausgabe der DDC ein und erstellte eine ihren Bedürfnissen angemessene Teilübersetzung des Werks, die in den Prototyp der ersten Online-Version der Enzyklopädie Eingang fand. Da die Deutschen Nationalbibliothek (Frankfurt am Main) im Oktober 2002 im Rahmen eines DFG-Projekts mit der Erarbeitung einer vollständigen deutschen Ausgabe der DDC begann, stellte die Trierer Arbeitsstelle ihre bis dahin erzielten Ergebnisse den mit der Deutschen Nationalbibliothek kooperierenden Übersetzerinnen und Übersetzern zur Verfügung und übernahm nach Abschluss des Projekts „DDC deutsch“ im Oktober 2005 die in dem Frankfurter Projekt erzielte deutschsprachige Normung. Zur weiteren DDC-Erschließung der Krünitz’schen Enzyklopädie nutzt die Bibliothek den von der Deutschen Nationalbibliothek seit Januar 2006 angebotenen deutschen DDC-Web-Service „Melvil“. Mit der Einführung der DDC deutsch gingen lizenzrechtliche Vereinbarungen mit dem die Rechte an der Publikation haltenden Online Computer Library Center (OCLC, Ohio (USA) einher, die zur Folge hatten, dass die Anzeige von Klassennotation und Klassenbeschreibung mit der DDC in Onlinepublikationen nur eingeschränkt (bis zur dritten Klassifikationsebene) zulässig ist. Aus diesem Grunde wurde die Anzeige der mehr als drei Stellen umfassenden Notationen, einem Hinweis der Deutschen Nationalbibliothek folgend, unterdrückt. Die verbale Suche innerhalb der Klassifikation und die optische Präsentation des klassifikatorischen ‚Suchbaums‘ werden durch diesen Schritt nicht eingeschränkt: Den durch die DDC-Erschließung des Werks erzielten Informationsgewinn kann man an beliebigen Beispielen verdeutlichen: Eine DDCSuche nach dem Vorkommen des Begriffes „Kochen“ in den Klassenbenennungen liefert 13 bisher für die Erschließung der Krünitz’schen Enzyklopädie herangezogene DDC-Treffer: Kochen; Preisgünstiges und zeitsparendes Kochen; Kochen für Kochen für spezielle Situationen, Anlässe, Altersstufen; Kochen mit bestimmten Herden, Öfen, Töpfen; Kochen / Haltbargemachtes; Kochen mit Getränken und Verwandtem (inkl. Essig); Kochen von Produkten aus Pflanzenbau, von Feldfrüchten; Kochen mit Honig; Preisgünstig kochen, Armenküche; Kochen für Kranke; Kochen mit Blick auf (anders-)religiöse Einschränkungen und Vorschriften; Kochen für spezielle Gelegenheiten. Diese sind mit 1228 Lemmata verknüpft. Die Klasse „Kochen für spezielle Situationen, Anlässe, Altersstufen“ führt zu 68 Lemmata, die ohne klassifikatorische Erschließung auch mit einer äußerst differenziert gestalteten Volltextsuche nicht in einen inhaltlichen Zusammenhang gebracht werden könnten, der im vorliegenden Fall beispielsweise für Ethnologen, Religionswissenschaftler oder Sozial-
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historiker von Relevanz wäre: neben Fasten, Fastenspeise, Fisch, Karpfen und Karthäuser weist die DDC-Erschließung dem Benutzer auch den Weg zu den Lemmata Fieber, Flechte, Gans, Bouillon, Gesinde, Hering, Henkermahl, Hochzeit u. a. m. Bearbeitung der bibliografischen Kürzel Die Krünitz’sche Enzyklopädie enthält Tausende bibliografischer Angaben in stark gekürzter Form, die sich selbst historisch geschulten Lesern heute nicht ohne weiteres entschlüsseln. Außerdem wird ein und dasselbe Werk nicht selten mit zwei, drei oder mehr unterschiedlichen Kürzeln referenziert. Da das Werk kein Siglen- oder Abkürzungsverzeichnis beinhaltet, musste ein vergleichsweise aufwendiges Verfahren eingesetzt werden, um dem Benutzer der Online-Ausgabe die Auflösung undurchsichtiger Quellenangaben abnehmen zu können. Zunächst wurden die anhand ihrer typografischen Auszeichnung mit Hilfe von TUSTEP-Routinen im Textkorpus auffindbaren bibliografischen Angaben identifiziert und eindeutig als bibliografische Quelle, getrennt nach ‚Monografie‘ und ‚Zeitschrift‘ kodiert. Mit Hilfe unterschiedlicher bibliografischer Datenbanken (KVK, ZDB u. a. m.) wurden die Kürzel im Quelltext nach vereinfachtem MAB-Standard aufgelöst. Die Disambiguierung von Mehrfachkürzeln wird durch Patternmatching unter TUSTEP erreicht, das dafür sorgt, dass unterschiedlichen Kürzeln, die für eine Quelle verwendet werden, automatisiert ein Titel zugewiesen werden kann. So wird für die Kürzel allgem. ökonom. Forst=Magazin, allgem. ökonom. Forstmagazin, Allgem. öconom. Forstmagazin, Forstmagazin, Oecon. Forstmagazin, Allgemeines Forstmagazin, Allgemeines öconomisches Forstmagazin, Allgemeines ökonomisches Forstmagazin, Allgem. oecon. Forstmagazin, Stahls Forstmagazin, Stahls allgem. ökon. Forstmagazin, die alle ein und dasselbe Werk, nämlich die von J. F. Stahl herausgegebene Zeitschrift Allgemeines oeconomisches Forst-Magazin (1.1763–12.1769) referenzieren, sichergestellt, dass alle vorkommenden Formen des Kürzels in automatisierten Suchläufen adäquat aufgelöst werden. In der Online-Version der Enzyklopädie können bibliografische Verweise im Text der Enzyklopädie optional farblich hervorgehoben und mit einem Mausklick in einem separaten Fenster aufgelöst werden. Datenbankstruktur Die Daten der Enzyklopädie sind in einer MySQL-Datenbank abgelegt. Diese besteht aus mehreren Tabellen, die unterschiedliche Informationen für die Internetpräsenz bereithalten. Zu diesen Informationen gehören
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unter anderem der HTML-Code des Artikeltextes, bibliografische Angaben, Verweisangaben (z. B. zu anderen Lemmata innerhalb der Enzyklopädie oder auf bestimmte Seiten), DDC-Angaben und DDC-Hierarchie, Angaben zum Bildmaterial, Angaben zur Volltextsuche. Da die Textdaten und somit auch die Daten für die Volltextsuche sehr umfangreich sind, existieren entsprechende Tabellen für jede Buchstabenstrecke. Auch dieser Arbeitsbereich, kann aus Platzgründen hier nicht differenziert dargestellt werden. Ausführlichere Information dazu bietet der Abschlussbericht des Projekts, der über die Projektseite (http://www.kruenitz.uni-trier.de) aufgerufen werden kann. Webpräsentation (Web-Oberfläche und Suchmöglichkeiten) Die Web-Oberfläche der Enzyklopädie gliedert sich in zwei Hauptbereiche. Ein Bereich ist eingeteilt in Lemmalaufleiste, Artikelfenster mit Stichwortsuchfenster und Buchstabenleiste. Der zweite Bereich bietet die Möglichkeit, zusätzliche Informationen über die Enzyklopädie abzurufen. Der Bildbestand der Enzyklopädie, der aus den Kupfertafeln und den Portraits der Bandpaten besteht, kann unter der Funktion Abbildungen durchsucht werden. Mit der Funktion DDC ist eine Suche im Rahmen einer sachlichen Erschließung nach der Dewey Decimal Classification möglich. Weitere Recherchemöglichkeiten sind über die Funktion Volltextsuche gegeben. Eine genaue Beschreibung aller Funktionalitäten ist in der Hilfe-Funktion der Online-Enzyklopädie verfügbar. Der Aufruf der unterschiedlichen Funktionen und auch das Laden der Textinhalte der Artikel geschieht mit Hilfe von Javascript und CGI-Programmierung. Die CGI-Progarmmierung ist dabei in Tcl realisiert. Zum Laden der Artikeltexte wird der HTML-Code dynamisch aus der entsprechenden MySQL-Tabelle ausgelesen, der Zugriff geschieht über die eindeutige Lemma-ID. Auch sämtliche Funktionsergebnisse wie die Darstellung des DDC-Hierarchie-Baumes, die Darstellung der Hierarchie der Kupfertafeln, der Bandpaten und die Volltextsuche werden mit Hilfe der in den MySQL-Datenbanktabellen gespeicherten Informationen dargestellt. Add-ons Die Einstiegsseite des Projekts http://www.kruenitz.uni-trier.de/ dokumentiert neben der Entstehungsgeschichte von Krünitz’ Werk, den zugrunde gelegten Quellen und der vollständigen Sekundärliteratur den Projektver-
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lauf und das Projektziel. Darüber hinaus werden alle ermittelten Rezensionen zu dem Werk aus Friedrich Nicolais Zeitschriften Allgemeine Deutsche Bibliothek (ADB) und Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek (NADB) nach dem Exemplar der UB Trier als Bilddateien angeboten. Eine Band-SeitenKonkordanz weist alle Lemmata noch einmal außerhalb der Datenbank gesondert im Hinblick auf ihren Standort in einem spezifischen Band nach, ist aber direkt mit der Datenbank verlinkt. Die Konkordanz bildet zudem die Grundlage für die Indexierung sämtlicher Lemmata durch die Suchroboter der gängigen Internet-Suchmaschinen. Die 2002 begonnene Dokumentation zum enzyklopädischen Umfeld der Krünitz’schen Enzyklopädie – ein chronologisch geordnetes Verzeichnis aller ökonomischtechnologisch orientierten Nachschlagewerke seit Beginn des Buchdrucks bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts – wurde 2005 in ein eigenständiges Langzeitprojekt überführt, das anstrebt, sämtliche Enzyklopädien seit Erfindung des Buchdrucks in einer differenziert recherchierbaren Datenbank nachzuweisen (vgl. "N-Zyklop" unter http://enzyklopaedie.uni-trier.de/).
Abb. 2: Brief Johann Georg Krünitz’ an Albrecht von Haller (Ausschnitt) vom 24. Oktober 1773 (Burgerbibliothek Bern, Signatur N Albrecht von Haller Korr, Kruenitz an AvH)
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Unter der Rubrik „Krünitz-Korrespondenz“ wurden sämtliche in öffentlichem Besitz nachweisbare Briefe des Begründers der ÖkonomischTechnologischen Enzyklopädie im Faksimile wiedergegeben: Eine chronologisch geordnete Übersicht listet die in unterschiedlichen deutschen und schweizerischen Bibliotheken, Museen und Archiven aufbewahrten Briefe auf, ein Klick auf den Adressaten ruft die dazu gehörende(n) Bilddatei(en) auf den Bildschirm. Die besitzenden Einrichtungen haben in großzügiger Weise die elektronische Publikation ihrer Materialien erlaubt. (Abb. 2) Nutzung Mit der Online-Präsentation der ersten Bände der Enzyklopädie wurde ein öffentlich zugängliches Statistikprogramm (Webalizer Version 2.01) zur Dokumentation der Zugriffe auf das Angebot aufgesetzt, das die Nutzung der Krünitz-Seiten seit Oktober 2003 detailliert im Hinblick Zahl der Anfragen und Besuche, Provenienz der Besucher, Volumen der heruntergeladenen Dateien und andere Parameter dokumentiert (http://www.kruenitz1.uni-trier.de/statistik/). Die Zahl der Anfragen stieg im Produktionszeitraum mit dem kontinuierlich wachsenden verfügbaren Bild- und Textangebot auf zuletzt durchschnittlich 3 Mio. per Monat. Im ersten Halbjahr 2007 waren tagtäglich durchschnittlich 100.000 Anfragen zu verzeichnen.
Zedlers Universal-Lexicon und das Problem seiner inhaltlichen Erschließung Nico Dorn Dass Johann Heinrich Zedler um 1730 plante, seinem Verlagsprogramm ein Lexikon hinzuzufügen, ist an sich kein ungewöhnlicher Schritt. Erschienen doch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland so viele Lexika wie nie zuvor, zumal in Leipzig, dem deutschen Zentrum von Buchproduktion und -vertrieb, in das Zedler 1727 mit seiner Verlagsbuchhandlung übergesiedelt war. Leipziger Verleger wie Gleditsch oder Fritsch hatten für ihr Sortiment in der Vergangenheit bereits Speziallexika zu allen erdenklichen Themen drucken lassen. Zedler entschied sich somit, ein Segment zu bedienen, das sich bereits vor Jahrzehnten etabliert hatte und lukrativ war. Sein Plan sah allerdings nicht vor, der Masse an bereits existierenden Lexika, die sich thematisch mehr oder minder stark beschränkten, ein weiteres hinzuzufügen. Auf die Frage, mit welchen Themen sich sein Lexikon beschäftigen werde, hätte er durchaus mit einem lakonischen „mit allen“ antworten können. Das werbewirksame Eigenlob im „Vorbericht“ zum 19. Band seines Universal-Lexicons rückt zumindest genau diese Tatsache in den Vordergrund. Zedler rühmt es dort als ein Werk, das „in einem Buche alles“ enthalte, „was das allmächtige und allerweiseste Wesen hervorgebracht hat“.1 Das allumfassende Programm, das hinter diesem Eigenlob steht, wird bereits auf dem überladenen Titelblatt, das minutiös alle Themenfelder auflistet, denen sich das Lexikon widmet, ausgebreitet. Zwar ist es in dieser Zeit immer noch nicht unüblich, einem Lexikon ein barockes Titelblatt dieser Art voranzustellen, doch wäre es zu einfach, hierin allein Konvention oder den übertreibenden Gestus eines Kaufmanns zu sehen, der durch großartige Versprechen möglichst viele Abnehmer für sein Produkt zu gewinnen suchte. Das häufige Auftauchen des Pronomen alles, die kleiner werdenden Drucktypen, die in Auslassungszeichen auslaufen, und Formulierungen wie „ein vollkommener Inbegriff der allergelehrtesten Männer […] und _____________ 1
Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon, 68 Bde., Halle, Leipzig 1732– 1754, „Nöthiger Vorbericht“, Bd. 19, [S. 1].
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Zedlers Universal-Lexicon und das Problem seiner inhaltlichen Erschließung
der von ihnen gemachten Entdeckungen“ sollten vielmehr als programmatische Aussagen verstanden werden. So gelesen, spannt bereits das Titelblatt einen Rahmen, dessen Ränder nicht genau zu lokalisieren sind, der beispielsweise nicht nur die Personen, sondern auch die Dinge und Konzepte einschließt, mit denen sie zusammenzudenken sind. Auf diese Weise wird das thematische Feld entgrenzt, es erweitert sich zu einer nicht exakt bestimmbaren Größe, es wird universal. Auf dem Boden dieser Programmatik entstand ein monumentales Werk von 68 Bänden, die all das enthalten, was schon das Titelblatt des ersten verspricht – allerdings in je nach Thema variierender Gewichtung und letztlich unvollständig, brechen die Supplemente doch mitten im Buchstaben C ab. Der letzte Eintrag, als wollte er ein Zeichen für die Unmöglichkeit sein, wirklich das gesamte Wissen in einem Werk zu bündeln, lautet „Caq. . . .“2 Das Alphabet als Ordnungsprinzip Die Artikel des Universal-Lexicons variieren in Inhalt, Stil und Umfang stark. Das einzige Prinzip, dem alle gehorchen, ist die alphabetische Ordnung, in der sie aufeinanderfolgen. Auch wenn Zedler und Carl Günther Ludovici, der mit Band 19 die Herausgeberschaft übernahm, dieses Ordnungsprinzip lobend hervorheben, weil man so „ohne die geringste Mühe“ beziehungsweise „ohne grosse Mühe“ finden könne, was man suche3 – gerade an ihm lassen sich viele der Probleme festmachen, denen man sich beim Zugriff auf das Lexikon gegenübersieht. Der schon physisch unübersichtliche Umfang, die entgrenzte Stoffmasse, der weite stilistische Rahmen der Artikel und eben die alphabetische Ordnung tragen alle dazu bei, dass das gesammelte Wissen nicht mehr als eine Ganzheit, sondern in seine kleinsten Bestandteile aufgelöst erscheint. Das damit einhergehende Problem der systematischen Erfassung dieser quasi amorphen Informationsmassen ist bereits Ludovici als virulent bewusst gewesen. Darum postuliert er auch in seiner „Vorrede“ zum 21. und 22. Band von 1739: Allein wir wollen nicht dabey stehen bleiben, daß dieses Werck nur als ein Lexicon könne gebrauchet werden. Wir gedencken durch einen oder höchstens zwey Bände, die nach dem völligen Beschluß desselben sollen geliefert werden, ihm den so höchstwichtigen Vortheil zu verschaffen, daß es auch zugleich einen wahrhafftig systematischen Zusammenbegriff oder Cörper aller Künste und Wissenschafften abgeben könne.4
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Ebd., Supplement 4, Sp. 1448. Ebd., Bd. 19, „Nöthiger Vorbericht“, [S. 1] u. Bd. 19, „Vorrede“, S. 3. Ebd., Bd. 21, „Vorrede“, [S. 1].
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Hinter Ludovicis Vorhaben steht nicht nur der Wunsch, dem Leser den Zugriff durch Systematisierung zu erleichtern. In ihm spiegelt sich auch die zeitgenössische Reserve kritischer Gelehrter gegenüber lexikalischen Werken, deren Ordnungsmuster rein alphabetischer Natur ist.5 Die einzelnen Wissensbereiche könnten, so die Kritik, in ihrer Struktur nicht mehr rekonstruiert werden, der Bezug der ‚Wissensatome‘ aufeinander und ihr Verhältnis zueinander werde auf diese Weise nicht deutlich, das Wissen bleibe dem Leser letztlich in seiner Systematik verschlossen. Kurz: Die enzyklopädischen Werke der Zeit sind nicht Ordnung, sondern Sammlung von Wissen. Genau diese Dichotomie bildete die Basis dafür, dass das Wort Enzyklopädie für das Universal-Lexicon nicht titelgebend wurde. Denn der Enzyklopädiebegriff der Zeit ist vor allem durch das Sem Ordnung bestimmt: „Encyclopaedia […]. Ist ein Zusammenbegriff aller Wissenschafften, welche die Alten in eins zusammen brachten, um dadurch die Ordnung, wie sie auf einander folgten, vorzustellen.“6 Der Begriffsinhalt begann sich erst mit dem Erscheinen der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert endgültig in Richtung des Sems Sammlung zu verschieben. Erstaunlich ist dabei, dass d’Alembert in seiner Einleitung zur Encyclopédie noch exakt dieselben Funktionen für das von ihm betreute Werk vorsah, wie sie Ludovici bereits zwölf Jahre zuvor für das Universal-Lexicon nach dessen Fertigstellung prognostizierte: Das Werk, das wir begonnen haben und zu Ende zu führen wünschen, hat einen doppelten Zweck: Als Enzyklopädie soll es, soweit möglich, die Ordnung und Verkettung der menschlichen Kenntnisse erklären; und als methodisches Sachwörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe soll es von jeder Wissenschaft und jeder Kunst […] die allgemeinen Grundsätze enthalten […].7
Für beide, Ludovici und d’Alembert, beschreibt der Begriff Enzyklopädie mithin die Systematik des Wissens, die man sich als eine virtuelle, diskursive Verknüpfung der gesammelten Lemmata mit den Wissensfeldern, zu denen sie gehören, vorstellen muss. Die Kritik daran, dass weder die Encyclopédie noch das Universal-Lexicon eine Enzyklopädie in diesem Sinne sind, berücksichtigt allerdings nicht, dass die primäre Funktion dieser Nachschlagewerke vor allem in der Klärung partieller Interessen und nicht in der systematischen Erfassung eines gesamten Wissensfeldes liegt. In seiner programmatischen „Vorrede über das Universal-Lexicon“ begegnet der Jurist Johann Peter Ludewig dieser Art von Kritik bereits im Voraus – wenn auch implizit. Seine Begründung dafür, dass man das Verfassen der Artikel Fachleuten für den jeweiligen Wissensbereich übertragen _____________ 5 6 7
Vgl. Fontius, Martin, „Stellen wir die richtigen Fragen zur Enzyklopädiegeschichte?“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 22/1998, S. 139-145, hier S. 142. Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 8, Art. „Encyclopaedia“, Sp. 1138. D’Alembert, Jean Baptiste le Rond, Einleitung in die französische Enzyklopädie von 1751 (Discours préliminaire), Leipzig 1912, S. 2.
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Zedlers Universal-Lexicon und das Problem seiner inhaltlichen Erschließung
habe, reflektiert die Unmöglichkeit des Einzelnen, in allen Wissensfeldern einen gleich tiefen Einblick zu erlangen: Ein gelehrter Mann muß zwar alles überhaupt wissen/ […] nur ein anders ist es/ einen Begriff von allem zu haben; wieder ein anders/ in allem Meister zu seyn/ und wieder ein anders/ hinlängliche Zeit zu haben/ allem allein abzuwarten.8
Das Universal-Lexicon kann gerade deswegen niemanden zum Universalgelehrten bilden, weil es diese im Grunde nicht mehr geben kann, denn „in allem Meister zu seyn“ sei „schlechterdinges unmöglich“.9 Zedlers Lexikon markiert somit eine kulturgeschichtliche Wende, deren Ergebnis ausgesprochen moderne Züge trägt. Der primäre Verzicht auf die Systematisierung des Wissens nach inhaltlichen Gesichtspunkten, der sich in der Wahl der alphabetischen Ordnung niederschlägt, reflektiert einerseits die Tatsache, dass das faktische Wissen derart gewachsen ist, dass es nunmehr ganz und gar unmöglich scheint, es überhaupt noch in einer Art Metasystematik erfassen zu können. Andererseits ist diese Wahl auch Ausdruck für eine Verbreiterung des Adressatenkreises und der sich allmählich verändernden Lesegewohnheiten, die damit einhergingen: Wissen wird in immer größerem Umfang konsultiert und in immer geringerem in seinen komplexen Bezügen begriffen. Man muss fast sagen: Der Wunsch, das Universal-Lexicon mit einer ‚Enzyklopädie‘ abzurunden, stammt aus einer anderen Zeit. Ein Zeichen der Zeit ist es hingegen, dass dieses Vorhaben nicht verwirklicht werden konnte. Das Problem des Findens Die Probleme beim Zugriff auf Zedlers Universal-Lexicon lassen sich nicht allein aus der Menge an Informationen, die sich nicht mehr einheitlich systematisieren ließen, ableiten. Die alphabetische Ordnung an sich trägt bereits wesentlich zu den Schwierigkeiten bei, denen man sich auch heute noch gegenübersieht. Denn die Lemmawahl orientierte sich keineswegs durchgehend an inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern ist oftmals den Produktionsbedingungen oder -umständen geschuldet: (1) Bei der Benutzung des Lexikons muss mit einer ungewohnten Zerlegung oder Benennung der Lemmata gerechnet werden. Ein Beispiel: Die Suche nach der philosophischen Erläuterung dafür, was ein Grundsatz sei, gestaltet sich aufgrund einer ungewöhnlichen Zerlegung des Lemmas schwierig. In Band 11, unter dem Buchstaben G, findet sich zwar das Lemma „Grund-Satz“, doch verweist dieses nur auf „Principium“. Unter _____________ 8 9
Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 1, „Vorrede über das Universal-Lexicon“, § 14, S. 6. Ebd.
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„PRINCIPIVM“ wiederum steht sowohl ein kurzer Artikel zu einer römisch-antiken Institution als auch ein Verweis, der das Lemma „Anfang“ in Band 2 referenziert. Dieser Artikel ist jedoch theologischer Natur. Das eigentliche Ziel hätte man über Band 34 erreicht. Dort findet sich der Eintrag „Satz (Grund-)“, bei dem es sich zwar um einen mathematischen Artikel handelt, doch verweist dieser auch auf „Axioma“ in Band 2, in dem die gesuchte Erklärung zu finden ist.10 Das Beispiel zeigt zum einen, dass die Glieder vieler Komposita noch nicht so fest miteinander verknüpft waren, wie es heute der Fall ist. Darüber hinaus waren sich die Redakteure offenbar nicht immer sicher, welches der Glieder als bedeutungstragend einzustufen sei. Nur locker gefügte Komposita wurden, wenn der letzte Bestandteil höher gewichtet wurde, zerlegt und konsequenterweise an Stellen im Alphabet eingerückt, die heute ungewohnt wirken. (2) Einige Schwierigkeiten resultieren auch aus der Tatsache, dass die Schreiber der Artikel (aus heutiger Sicht) Dialektsprecher waren. Ihre regional geprägte Aussprache schlägt sich in der Verschriftlichung und folgerichtig auch in der Anordnung der Lemmata nieder. Einen Artikel oder Verweis mit dem Namen „Bursche“ wird man in Band 4 aus genau diesem Grund vergeblich suchen. Fündig wird man hingegen in Band 29, wo es die Lemmata „Pursch“ und „Pursche“ gibt. Auf solche Buchstabenvarianzen ist jedoch kein Verlass. So gibt es in Band 3 das Lemma „Bausch und Bogen“ und in Band 26 zusätzlich das Lemma „Pausch und Bogen“, die inhaltlich beide dasselbe Themenfeld berühren. Varianzen dieser Art erklären auch, warum sich in Band 11 unter „Gutsche“ ein Verweis auf das Lemma „Kutsche oder Gutsche“ in Band 15 befindet. Offenbar wurde von den Redakteuren die Wortform Kutsche eher als jenem „reinen“ Deutsch zugehörig empfunden, das man in den Vorworten immer wieder beschwört.11 In diesem Fall bedachte man jedoch zusätzlich, dass sich nicht alle Leser „zeitlich daran gewehnen [!]“ würden, dass man dem Schriftgebrauch der „Preußischen und Chur-Sächsischen Cantzeleyen vornemlich den Vorzug“ gab, und half ihnen mit einem Verweis weiter.12 (3) Die mitunter starke Streuung der Informationen über das Alphabet belegt, wie bedeutend eine systematische Gliederung, wie sie Ludovici andachte, am Ende des Lexikons gewesen wäre. Denn ohne diese sind alle Informationen zu einem Thema nur schwer zu finden. So verteilen sich z. B. die Artikel, die sich mit Stieren oder Ochsen beschäftigen, über zahlreiche Bände: „Brumm-Ochs, Brümmer, Stier“ (Bd. 4), „Farren oder Ochsen“ (Bd. 9), „Gemein-Ochse oder Gemein-Rind“ (Bd. 10), „Joch-Ochsen“ (Bd. 14), _____________ 10 11 12
Das Beispiel folgt z. T. Kossmann, Bernhard, „Deutsche Universallexika des 18. Jahrhunderts“, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 89/1968, S. 2947-2968, hier S. 2963. So in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 19, „Nöthiger Vorbericht“, [S. 3]. Ebd., Bd. 1, „Vorrede über das Universal-Lexicon“, § 7, S. 3.
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Zedlers Universal-Lexicon und das Problem seiner inhaltlichen Erschließung
„Stier“ (Bd. 40), „Wütende Stier“ (Bd. 59). Der größte und ausführlichste Artikel befindet sich aber in Band 25: „Ochse, Rind“. Bemerkenswert ist, dass er nicht alle Informationen der anderen, recht kurzen Artikel enthält, es aber trotzdem zu thematischen Überlagerungen kommt. Die Gründe für derart starke Streuungen lassen sich nicht genau ausmachen. Vielleicht sind sie Folge der Verteilung thematischer Zuständigkeiten an verschiedene Redakteure, die den Blick auf das große Ganze natürlich erschweren; vielleicht aber auch Folge der großen Geschwindigkeit, mit der man das Lexikon produzierte, erschienen doch in manchen Jahren vier Foliobände, von denen jeder über 2.000 Spalten lang sein konnte; vielleicht sind die Streuungen aber auch aus organisatorischen Schwierigkeiten zu erklären, die zum Beispiel darin bestanden, dass die Bände anfangs nicht in Zedlers Verlagsort Leipzig gedruckt werden konnten, sondern nur in Delitzsch und Halle. Ein Grund besteht auf jeden Fall darin, dass Artikel verfasst wurden, die es eigentlich nie geben sollte. Ihre Inhalte wurden als derart wichtig eingestuft, dass man sie nicht bis zum Erscheinen der bereits früh geplanten Supplemente aufsparen wollte. Ging man mit der Vergabe der Lemmata kreativ genug um, wurde es möglich, vergessene oder verspätet eingetroffene Informationen in Bänden, die man aktuell bearbeitete, einzurücken. Ein schönes Beispiel hierfür ist der Artikel „Farbe, (blaue)“ in Band 9. Er beginnt mit einer Rechtfertigung: Die Farbe blau sei zwar bereits in mehreren Artikeln behandelt worden, doch seien hierzu Ergänzungen nötig, weil „des Brüßler-Blau und der neu erfundenen blauen Farbe D. Jo. Friedrich Henckels nicht gedacht worden“.13 Über die gleich am Anfang des Artikels stehenden Verweise wird versucht, den Artikel gleichsam ‚an den rechten Platz‘ zu rücken. Bezeichnend an diesem Beispiel ist, dass in Verweisen, die in später erschienen Bänden folgen, der Artikel „Farbe, (blaue)“ nicht mehr erwähnt wird. In „Preußisch-Blau“ wird nur auf „Berliner-Blau“ verwiesen, in „Blau (Berg-)“ in den Supplementen nur auf „Bergblau“ und „Blaue Farbe“.14 Die Existenz des nachgeschobenen Artikels in Band 9 wurde offensichtlich vergessen, denn es existieren keine weiteren Artikel, die dasselbe Bezeichnungsmuster verwenden. Die Gründe für das nachträgliche Einrücken von Lemmata wie „Farbe, (blaue)“ scheinen allerdings nicht immer allein auf das verspätete Eintreffen von Informationen zurückzugehen. Eventuell spielten in diesem konkreten Fall auch ökonomische Gesichtspunkte eine Rolle. 1733 erwarb Zedler die Verlagsbuchhandlung des 1730 verstorbenen Johann Herbord Kloß. Sein Kauf beinhaltete nicht nur ein großes Sortiment an Büchern, _____________ 13 14
Ebd., Bd. 9, Sp. 241; Kursivierung im Original. Vgl. ebd., Bd. 29, Sp. 373, und Supplement 3, Sp. 1386.
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sondern auch Privilegien, die Kloß zuvor erworben hatte. Darunter die zwischen 1717 und 1726 erschienene Zeitschrift Sammlung Von Natur- und Medicin- Wie auch hierzu gehörigen Kunst- und Literatur-Geschichten (kurz BreßlauerSammlungen), die Zedler zügig neu auflegte. Die Existenz des Artikels „Farbe, (blaue)“ könnte darauf zurückgehen, dass Zedler, nachdem er die Verwertungsrechte erworben hatte, einen seiner Redakteure anwies, Zeitschriftenartikel in Lexikonartikel umzuarbeiten. Dies brachte selbstredend den ökonomischen Vorteil mit sich, mit nur einem Kauf zwei Verlagsprodukte bedienen zu können. Der Artikel „Farbe, (blaue)“ besteht zumindest fast vollständig aus zwei Artikeln, die aus den Breßlauer-Sammlungen stammen. Es ist ein Leichtes, viele weitere Artikel ausfindig zu machen, die komplett oder gekürzt aus der Zeitschrift übernommen wurden. Bemerkenswert ist an diesem Beispiel, dass die Herkunft der Zitate ausführlich angegeben wurde und das lange Zitat durch vom Redakteur eingeschobene inquit-Formeln („schreibet der Auctor“ – „fähret der Auctor fort“) zweimal unterbrochen wird, gleichsam als wolle man den Leser an den Textmodus erinnern, in dem er sich befindet. Bei Zitaten aus den BreßlauerSammlungen werden diese in aller Regel korrekt nachgewiesen, in vielen Zedler-Artikeln fehlen jedoch Quellenangaben, auch wenn wörtlich zitiert wird. So zum Beispiel im Artikel „Frauenzimmer“15, der nahezu komplett aus dem bei Gleditsch verlegten Frauenzimmer-Lexicon stammt.16 Das Fehlen von Quellenangaben in abgeschriebenen Artikeln geht unter anderem darauf zurück, dass Zedler von Anfang an mit Plagiatsvorwürfen anderer in Leipzig ansässiger Verleger zu kämpfen hatte, die den Absatz ihrer eigenen Produkte gefährdet sahen. Aus ihren nicht unbegründeten Vorwürfen folgte unter anderem, dass Zedler den Druck des Lexikons ins ‚preußische Ausland‘, nach Halle, verlagern musste. Diese Vorwürfe könnten auch der Grund für eine weitere Schwierigkeit beim Zugriff auf das Lexikon gewesen sein. (4) Einige Lemmata wurden anscheinend nur deshalb gewählt, weil man die Herkunft des plagiierten Artikels zu verschleiern suchte. So geht der Zedler-Artikel „Staats-Wissenschafft, Staats-Lehre“ auf den Artikel „StaatsLehre“ aus dem im Leipziger Verlagshaus Gleditsch erschienenen Philosophischen Lexicon von Johann Georg Walch zurück.17 Der Artikel ist komplett übernommen worden, eine Literaturangabe fehlt. Zwar stammt eine Vielzahl an Artikeln aus dieser Quelle, allerdings lässt sich nicht sagen, dass die Zedler-Redakteure systematisch versucht hätten, ihre Herkunft dadurch zu camouflieren, dass sie die Lemmata umbenannten. Es gibt sogar mindestens _____________ 15 16 17
Ebd., Bd. 9, Sp. 1782ff. Amaranthes [d. i. Gottlieb Siegmund Corvinus], Nutzbares, galantes und curiöses FrauenzimmerLexicon [1715], ND Frankfurt am Main 1980, Sp. 573-578. Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 39, Sp. 707ff., und Walch, Johann Georg (Hrsg.), Philosophisches Lexicon, 2. Aufl., Leipzig 1733, Sp. 2431ff.
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Zedlers Universal-Lexicon und das Problem seiner inhaltlichen Erschließung
einen Artikel, aus dem eine lange Passage wortwörtlich übernommen und die Herkunft des Zitats angegeben wurde.18 Häufig zu beobachten ist allerdings, dass man die kopierten Artikel mit zahlreichen Synonymen versah und zusätzlich den Artikelanfang modifizierte. Daneben finden sich aber auch Artikel, die ohne Änderungen eins zu eins übertragen wurden.19 (5) Eine letzte Zugriffsschwierigkeit, die ebenfalls auf der Lemmawahl basiert, ergibt sich aus der Disparität der verwendeten Quellen. So wurde das Universal-Lexicon zwar, wie gezeigt, einerseits aus fremden Lexika kompiliert, die bereits selbst alphabetisch strukturiert waren, deren Ordnungsmuster man somit einfach nur zu übernehmen brauchte. Andererseits wurden Artikel auch aus Zeitschriftenaufsätzen erstellt, die einem ganz anderen Ordnungsprinzip folgten und erst einem einzigen Schlagwort untergeordnet werden mussten. So ist der Artikel „Von des Hr. Hoffrath Wolffs in Halle neuer Entdeckung der wahren Ursache von Vermehrung des Getraydes“ aus den Breßlauer-Sammlungen komplett in dem Zedler-Artikel „Korn-Vermehrung“ aufgegangen.20 Worin hier das Problem besteht, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in diesem Fall genauso gut die Lemmata ‚Getrayde-Vermehrung‘ oder ‚Ursache der Getrayde-Vermehrung‘ hätten gewählt werden können. Dies hätte natürlich zur Folge gehabt, dass der Artikel in einem ganz anderen Lexikonband erschienen wäre. Zedlers Universal-Lexicon ist, gerade weil so viele zeitgenössische Lexika von ihm gleichsam absorbiert wurden, eine hervorragende Quelle für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Die Zugriffsschwierigkeiten, die, wie gezeigt, aus einem Problemkomplex heraus zu verstehen sind, für die monokausale Erklärungsmuster folglich nicht greifen, bestehen zum Teil auch heute noch fort. Die Digitalisierung des Lexikons auf Lemmabasis durch die Bayerische Staatsbibliothek und die kategoriale Erschließung durch die Herzog August Bibliothek, die seit kurzem eine Suche in 72 verschiedenen thematischen Feldern ermöglicht, beheben bereits einige der dargestellten Probleme.21 Eine vollständige Tiefenerschließung der immensen Stoffmasse des Universal-Lexicons, welche die mitunter explizit genannten Quellen erfasst, sowie die Feststellung der im Wesentlichen unbekannten Autoren stehen jedoch noch aus.
_____________ 18 19 20 21
Nämlich in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 15, Art. „Krieg“, Sp. 1889-1898. Etwa Art. „Siegs-Recht“, in: Walch (Hrsg.), Philosophisches Lexicon, Sp. 2371f. u. in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 37, Sp. 1102f. Kanold, Johann (Hrsg.), Sammlung Von Natur- und Medicin- Wie auch hierzu gehörigen Kunst- und Literatur-Geschichten, 38 Bde., Breslau 1717–1726, hier Winter-Quartal 1718, S. 588-594, und Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 15, Sp. 1544-1554. Online zugänglich unter http://www.zedler-lexikon.de/.
IV. PRIVATBIBLIOTHEKEN Einführung von Gabriele Ball Die Sektion begreift die Privatbibliothek als Wissensreservoir der Frühen Neuzeit, welches das europaweite Kommunikationsnetzwerk widerspiegelt. Neben dem Brief, der Zeitschrift und der gelehrten Gesellschaft geben die Bestände beredte Auskunft darüber, was die res publica litteraria für aufbewahrungs- und diskussionswürdig hält. Die Entscheidungen über die Gestaltung der Privatbibliothek liegen in der Hand des an der Wissensgesellschaft partizipierenden Bibliotheksbesitzers, manchmal auch der Bibliotheksbesitzerin. Der im Auktionskatalog abgedruckte repräsentative Kupferstich weist auf die Bedeutung dieser Persönlichkeit hin, die zum einen die Bücher ausgewählt und zum anderen die jeweilige Ordnung hergestellt hat. Die Bibliotheken sind somit Bestandteil der Biografie ihrer Besitzer und übermitteln die Sammel- und Lektürevorlieben derselben.1 Insbesondere als unverzichtbares Arbeitsinstrument des Gelehrten zeugt die Privatbibliothek von der Vielfalt der Arbeiten, manchmal auch von seiner Arbeitsweise und vor allem von der Stellung in der res publica litteraria, in der er zudem als Briefeschreiber, Mitglied gelehrter Sozietäten oder Rezensent und Zeitschriftenherausgeber präsent ist. In den nachfolgenden Beiträgen steht damit nicht die Büchergelehrsamkeit im Vordergrund, sondern der Umgang mit dem Wissen, die medialen, sozialen und öffentlichen Aspekte der Privatbibliothek. Fraglos bleibt die Privatbibliothek als „Vorrathskammer der Seele“, wie sie im 18. Jahrhundert von Johann Christoph Stockhausen im „Critischen Entwurf
_____________ 1
Grundlegend zum Thema: Adam, Wolfgang, „Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Fortschrittsbericht (1975–1988)“, in: IASL, 15/1990, S. 123-173; Bepler, Jill, „Early Modern German Libraries and Collections“, in: Max Reinhart (Hrsg.), Early modern German literature (1350–1700), Columbia/S.C. 2007, 697-735; vgl. auch die Abhandlung Über das Büchersammeln des jüdischen Anwalts und Bibliophilen Ludwig Töpfer (Wien, Leipzig [1927]). Seine Privatbibliothek wurde 1941 von Martin Bormann für das geplante Reichsmuseum in Linz erworben und als Depositum der Bundesrepublik Deutschland 1972 auf drei Orte verteilt: Marbach (Deutsches Literaturarchiv), Frankfurt am Main (Freies Deutsches Hochstift) und Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek); jüngst Wägenbaur, Birgit, Die Bibliothek Ludwig Töpfer im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Geschichte und Bestand, Marbach/Neckar 2005.
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IV. Privatbibliotheken. Einführung
einer auserlesenen Bibliothek für den Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaften“ bezeichnet wurde, bedeutsam, jedoch wird sie als ein (Wissens-)Speicher betrachtet, der die Voraussetzung schafft, an der literarischen, politischen und wissenschaftliche Öffentlichkeit und den aktuellen Diskussionen teilzunehmen. Sie spiegelt somit das sich in der Frühen Neuzeit verändernde Bild des Gelehrten: vom humanistischen Büchergelehrten hin zum debattierfreudigen Akteur in den Diskussionen der Zeit. 2 Die Einleitung wird als Chance genutzt, einige Desiderate im Kontext der Institution „Privatbibliothek“ aufzuzeigen. Noch kaum erforscht ist der weibliche Bücher- bzw. Bibliotheksbesitz.3 Ein herausragendes Beispiel für eine Büchersammlung des weiblichen Adels, das uns am Tagungsort, dem Bibelsaal der Herzog August Bibliothek, direkt vor Augen geführt wird, betrifft die bibliotheca biblica der Herzogin Elisabeth Sophia Maria von Braunschweig-Wolfenbüttel (1683–1767). Im Laufe ihres Lebens sammelte die Herzogin auf Auktionen in Ulm, Den Haag, in Berlin und Leipzig mehr als tausend Bibeln und ließ diese 1764 vom „Grauen Hof“ in Braunschweig nach Wolfenbüttel bringen, wo sie mit der Sammlung Herzog Augusts zusammengeführt wurden.4 Mit der Frauenzimmerbibliothek wird häufig die bibliotheca idealiter der Moralischen Wochenschriften assoziiert, die LektüreInstruktionen für den Aufbau einer überschaubaren Bibliothek für Frauen gibt. Es wäre aufschlussreich, diese von ausgewiesenen Aufklärern, von Johann Jakob Bodmer, Barthold Hinrich Brockes oder Johann Christoph Gottsched präskribierten Frauenbibliotheken mit den wenigen noch nachweisbaren Büchersammlungen bürgerlicher Frauen zu vergleichen.
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Vgl. die Notwendigkeit, Bibliothek als Wissensarchiv zu kontextualisieren und sowohl „Speicher“ als auch „Prozess“ zu repräsentieren in: Bödeker, Hans Erich / Saada, Anne (Hrsg.), Bibliothek als Archiv. Mit 15 Abbildungen und 1 Tabelle, Göttingen 2007, S. 11. Dies gilt sowohl für Adelsbibliotheken als auch für die Büchersammlungen bürgerlicher Frauen; vgl. zu ersteren die Aufsätze von Helga Meise und Bärbel Raschke in: Hof – Geschlecht – Kultur. Luise von Anhalt-Dessau (1750–1811) und die Fürstinnen ihrer Zeit. Zusammengestellt von Wilhelm Haefs und Holger Zaunstöck (Das achtzehnte Jahrhundert, 28/2004, H. 2) sowie das von Jill Bepler und Ulrike Gleixner initiierte Projekt an der Herzog August Bibliothek: „Erstellung eines Forschungsüberblicks: Bibliotheken von Fürstinnen in der Frühen Neuzeit (1550–1750)“. Zu Bibliotheken bürgerlicher Frauen s. Ball, Gabriele: „Die Büchersammlungen der beiden Gottscheds. Annäherungen mit Blick/ auf die livres philosophiques L.A.V. Gottscheds, geb. Kulmus“, in: dies./Helga Brandes/Katherine R. Goodman (Hrsg.), Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched, Wiesbaden 2006, S. 213-260. [Knoch, Georg Ludolph Otto], Bibliotheca Biblica. Das ist Verzeichnis der Bibel–Sammlung welche durchlauchtigste Fürstinn [...] Elisabeth Sophia Maria erst verwitwete Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg [...] etc. zum Beweise der Ausbreitung und Verherrlichung des Nahmens Gottes [...] gesammlet und [...] aufgestellet hat, Braunschweig 1752.
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Aufmerksamkeit sollte jedoch nicht nur die Gattung der „Moralischen Wochenschrift“ erhalten, sondern auch die des „gelehrten Journals“. Die Rezensionszeitschrift wird mit Recht als eine Art Bibliothek auf dem Markt bezeichnet.5 Sie müsste als Vorform der „öffentlichen“ Bibliothek in die Erforschung und Einordnung von Privatbibliotheken als Teil der res publica litteraria integriert werden, indem der „virtuelle“ Büchersaal der Rezensionszeitschrift gleichsam der konkreten Privatbibliothek gegenübertritt und so Interdependenzen sichtbar werden können. Die extensive wie intensive Auseinandersetzung mit gelehrten Zeitschriften würde außerdem so manche Information zu Privatbibliotheken und deren Historie zutage fördern. Nimmt man in diesem Kontext die Überlieferung von Privatbibliotheken in den Blick, so zeigt sich, dass die Büchersammlungen nur noch selten am Entstehungs- und Sammelort zu finden sind. Häufig dienten sie der Bestandserweiterung von Bibliotheken. So wurde die Herzog August Bibliothek während des 18. Jahrhunderts um die Büchersammlungen ihrer beiden Bibliothekare Lorenz Hertel (1659–1737) und Jacob Burckhard – letztere mit einem Teilbestand – und um die Gelehrtenbibliothek Gottfried Leonhard d. J. Baudis (1712–1764), Hofrat und Professor der Geschichte am Collegium Carolinum in Braunschweig, bereichert. Von Angehörigen des Welfenhauses erhielt sie zwischen 1752 und 1801 allein zehn Privatbibliotheken mit insgesamt 36.000 Bänden. Neben den beiden genannten Überlieferungsmöglichkeiten spielt der Auktionskatalog eine bedeutende Rolle. Er geht in der Regel auf private Initiative zurück und ist Dokument der Auflösung einer Bibliothek. Das Conringsche Motto des Katalogs Johann Heinrich Burckhards, Bruder des oben genannten Bibliothekars Jacob Burckhard, „Privatae cuiusvis bibliothecae duratio paene momentanea est“, umschreibt diesen Umstand treffend.6 Zugleich weist der Auktionskatalog den Buchbestand des Sammlers nach und gilt deshalb mit Recht als Hauptquelle des privaten Buchbesitzes in der Frühen Neuzeit. Schließlich ist das Nachlassinventar zu erwähnen, das an einen Rechtsakt gebunden ist, und die zu einem fixierten Zeitpunkt vorgefundene Habe eines Hauses, einer Person oder Institution beschreibt. Die fünf im Folgenden präsentierten Privatbibliotheken belegen diese unterschiedlichen Überlieferungsweisen eindrücklich:
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Vgl. Adam, Wolfgang / Fauser, Markus / Pott, Ute (Hrsg.), Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 10. Vgl. zu Conring besonders die von Peter Mortzfeld aus dem Lateinischen übersetzte Schrift über die Bibliothek Herzog Augusts: Conring, Hermann, Die Bibliotheca Augusta zu Wolfenbüttel: zugleich über Bibliotheken überhaupt; Brief an Johann Christian Freiherrn von Boineburg, Göttingen 2005.
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IV. Privatbibliotheken. Einführung
In der Nähe des Entstehungsortes, noch erkennbar integriert in die herzogliche Sammlung, befinden sich die Adelsbibliotheken des Ehepaares Friedrich III. (1699–1772) und Luise Dorothea v. Sachsen-GothaAltenburg (1710–1767). Wesentlich für eine adäquate Einordnung ist zunächst die Unterscheidung zwischen der herzoglichen Bibliothek und den privaten Büchersammlungen auf der Grundlage des Kompendiums der Hausväterliteratur von Franciscus Philippus Florinus Oeconomus prudens (1719). Deutlich wird das symbiotische Verhältnis von Hof und Aufklärung, vermittelt durch das literarisch-politische Beziehungsgeflecht, in das beide Ehegatten eingebunden waren und das in den jeweiligen Bibliotheken sichtbar wird. Die mit etwa 3600 Bänden ausgestattete Bibliothek der Herzogin vertritt in der Sektion „Privatbibliotheken“ den weiblichen Buchbesitz im 18. Jahrhundert. Als Teil des Nachlassinventars ist die Bibliothek des Hofarchitekten Friedrichs II., Georg Wenzeslaus von Knobelsdorffs (1699–1753), überliefert. In dessen Büchersammlung findet man neben Schriften zur Numismatik, Malerei und Gartenkunst berufsbezogene Spezialbestände, so zum Beispiel Werke von Palladio, Scamozzi und Blondel. Besonders aus der Literatur von Zeitgenossen (Perelle, Mariette, Decker) bezog der Hofarchitekt die Ideen für seine Baukonstruktionen. Als Mitglied der Berliner Akademie stand er zudem in engem Austausch mit Voltaire und d’Argens. Teilweise erhalten ist die Bibliothek des Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803), die anhand ihrer historischen Kataloge von 1804, 1846 und 1865 vorgestellt wird. Sie verkörpert eine der herausragendsten Sammlungen der Zeit, die den Universalismus der europäischen Aufklärung bestätigt. Das Exlibris „Gleimii et amicorum“ bestätigt zum einen Gleims Rolle als Kulturvermittler und Mäzen, zum anderen weist es auf die Idee der aktiven Bibliotheksnutzung durch Gleims Freunde hin. Wichtig sind die handschriftlichen Autorenwidmungen, die den kollektiven Wissensaustausch im umfassenden Kommunikationsnetz Gleims mit der Individualität des jeweiligen Freundes in Zusammenhang bringen. Ein Auktionskatalog liegt im Falle des Vertreters der Spätaufklärung Johann Gottwerth Müller (1743–1828) vor. Die enzyklopädisch eingerichtete Privatbibliothek des Erfolgsschriftstellers, Verlagsbuchhändlers und Lesegesellschaftsleiters verbindet Gelehrsamkeit und Pragmatismus in der „literarischen Wüste“ Itzehoe. Müller repräsentiert als Besitzer einer Privatbibliothek, die mit einem umfangreichen Anteil von Zeitschriften ausgestattet ist, den aufgeklärten Wissensvermittler und Teilnehmer an aktuellen kontroversen Debatten, seien diese nun theologischer, philosophischer oder politischer Natur.
Die fürstlichen Privatbibliotheken am Gothaer Hof im 18. Jahrhundert. Die Sammlungen Herzog Friedrichs III. und seiner Gemahlin Luise Dorothea Kathrin Paasch „Die berühmten Fürstlichen Bibliothequen in Teutschland sind die Berlinische, die Wolffenbüttlische, die Sachsen-Gothaische [und] die Weimarische“, hieß es 1719 in einem der wichtigen Kompendien der Hausväterliteratur.1 Die Hofbibliothek der Herzöge von Sachsen-Gotha-Altenburg entstand im Zuge der Gründung des Herzogtums unter Herzog Ernst I. (1601–1675) nach 1640.2 Sachsen-Gotha-Altenburg war mit 300 Quadratmeilen und 150.000 Einwohnern das größte und das wirtschaftlich sowie außen- und reichspolitisch „schwergewichtigste ernestinische Herzogtum“ im 18. Jahrhundert, wenngleich ein „recht normaler Kleinstaat im Gefüge des Alten Reiches“.3 Im Reigen der großen, aus der Kunstkammer hervorgegangenen herzoglichen Sammlungen, dem Archiv, der Schlosskirche und dem Theater, die sich auch heute im Schloss Friedenstein befinden, war die Hofbibliothek „dem Lande zum Besten“ und „zur Unterstützung derer hohen Collegiorum“4 angelegt und damit integraler Bestandteil höfischer Kultur.5 _____________ 1 2
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Florinus, Franciscus Philippus, Oeconomus prudens et legalis continuatus oder grosser Herren Stands und Adelicher Haus-Vatter, Nürnberg 1719, S. 128. Noch immer grundlegend: Jacobs, Friedrich, Beiträge zur ältern Litteratur oder Merkwürdigkeiten der Herzogl. öffentlichen Bibliothek zu Gotha, Leipzig 1835; vgl. auch den Eintrag „Gotha 1. Forschungs- und Landesbibliothek“, in: Friedhilde Krause (Hrsg.), Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 19: Thüringen A-G, Hildesheim 1998, S. 242-280. Klinger, Andreas, „Das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Die Gothaer Residenz zur Zeit Herzog Ernsts II. von Sachsen-GothaAltenburg (1772–1804), Gotha 2004, S. 9-12, hier S. 12. Zur wirtschaftlichen Situation vgl. Greiling, Werner u. a. (Hrsg.), Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, Köln 2005. Rudolphi, Friedrich, Gotha Diplomatica oder ausführliche historische Beschreibung des Fürstenthums Sachsen-Gotha, Teil 2, Frankfurt am Main 1717, S. 198. Vgl. Seckendorff, Veit Ludwig von, Teutscher Fürsten-Stat, Frankfurt am Main 1660, S. 436f.; Florinus, Oeconomus prudens, S. 128.
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Die fürstlichen Privatbibliotheken am Gothaer Hof im 18. Jahrhundert
Neben der Hofbibliothek6, die in Gotha Herzogliche Bibliothek genannt wurde, bestanden hier zum Teil zeitgleich nebeneinander private, von der Herzoglichen Bibliothek räumlich getrennte, aber miteinander verzahnte Büchersammlungen aller Regenten sowie weiterer Mitglieder des Herzoghauses auf Schloss Friedenstein und in den Lustschlössern. Sie wurden 1823 mit dem Aussterben der Sachsen-Gotha-Altenburger Linie in die Herzogliche Bibliothek integriert.7 Solche Privatsammlungen wurden als Phänomen in der zeitgenössischen Hoftheorie reflektiert.8 Die jüngste Forschung charakterisiert sie als Bestandteil der Lösung der kulturellen Einrichtungen des Hofes von den persönlichen Bedürfnissen des Landesherren und ihrer Institutionalisierung als Landeseinrichtungen und widmete ihnen erste Überlegungen anhand der Gothaer Privatbibliotheken.9 Darüber hinaus haben diese allerdings weder in der Gothaer Bibliotheksgeschichtsschreibung noch in der aktuellen Diskussion zur Residenz- und Hofkultur im Umkreis des Weimarer (Musen)hofes eine nennenswerte Rolle gespielt.10 Die Privatbibliotheken umfassten bei ihrem Eingang in die Herzogliche Bibliothek etwa 42.000 Bände, während die Herzogliche Bibliothek gleichzeitig etwa 70.000 besaß. Insgesamt sind bislang 14 Sammlungen bekannt.11 Die kleinste war mit 117 Titeln die Handbibliothek Herzog Friedrichs I. (1646–1691, reg. ab 1680).12 Die größte Sammlung mit 10.200 Titeln gehörte Herzog Ernst II. (1745–1804, reg. ab 1772).13 Die übrigen Biblio_____________ 6
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Zu den Fürsten- oder Hofbibliotheken vgl. Arnold, Werner, „Der Fürst als Büchersammler. Die Hofbibliotheken in der Zeit der Aufklärung“, in: ders. (Hrsg.), Bibliotheken und Aufklärung, Wiesbaden 1988, S. 41-59; ders., „Fürstenbibliotheken“, in: ders. (Hrsg.), Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland, Wiesbaden 1987, S. 398-419; ders., „Die Erforschung von Adelsbibliotheken“, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte, 1/2006, S. 35-46. Diese wurde durch Herzog Friedrich IV. am 13.12.1824 testamentarisch zum Fideikommiss erhoben [vgl. Thüringisches Staatsarchiv Gotha (im Folgenden: ThStAG), Geh. Archiv, QQ (H, XII), 5-7] und konnte so dauerhaft in Gotha gesichert werden. Vgl. Florinus, Oeconomus prudens, S. 128. Raschke, Bärbel, „Fürstliche Privatbibliotheken im Zeitalter der Aufklärung. Ein Problemaufriß am Beispiel der Bibliothek Luise Dorotheas von Sachsen-Gotha und ihrer Voltairesammlung“, in: Buch und Bibliothek, 37/2004, S. 39-67, hier S. 42. Auf dieser Arbeit und einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2005 geförderten Projekt der Forschungsbibliothek Gotha (im Folgenden: FBG) zur Erschließung der Privatbibliotheken der Aufklärungszeit beruhen die folgenden Ausführungen. Erstmalig erwähnt bei Jacobs, Beiträge zur ältern Litteratur. Lediglich die Bibliothek Ernsts II. wurde beschrieben, vgl. Schaab, Rupert, „Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg und die Bücher“, in: Die Gothaer Residenz, S. 101-124. Sammlungen Herzog Friedrichs I., II., III., IV., Herzog Ernsts II., Herzog Augusts, Prinz’ August, Herzogin Luise Dorotheas, Herzogin Charlottes, die Bibliotheken der Lustschlösser Molsdorf, Friedrichswerth, Ichtershausens, die so genannte Amerikabibliothek Ernsts II., die Jugendbibliothek Friedrichs III. Überliefert sind etwa 80% der Bücher. Catalogus librorum […] Friderici […] Anno 1690, d. 16. May [FBG, Chart A 1092 (1)]. Catalogus Bibliothecae Ernestinae. Confectus anno MDCCCXVI [FBG, Chart A 232].
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theken umfassten von 400 bis einige tausend Titel und überstiegen damit den Umfang „kleinere[r] Handapparate“.14 Alle Sammlungen ermöglichen – wenngleich unterschiedlich intensiv – Einblicke in die Persönlichkeit ihrer Besitzer. Angesichts der zum Teil schlechten Quellenlage wäre ihre Auswertung ein wichtiger Beitrag für die noch zu schreibende Gothaer Geschichte der fürstlichen Buchkultur als Teil der „Hofkultur“.15 Letztlich könnte ihre Erforschung dazu dienen, den jüngst zu den zahlreichen kleinen Höfen Mitteldeutschlands thematisierten Zusammenhang zwischen Hofkultur und Aufklärung näher zu beleuchten.16 Wenngleich es Gotha im Gegensatz zum benachbarten Weimar nicht gelang, kulturpolitische Bedeutung wirkungsmächtig zu inszenieren17, gingen von hier während der Regierungsperioden Herzog Friedrichs III. (1699–1772, reg. ab 1732) und Herzog Ernsts II. kulturelle und wissenschaftliche Impulse aus. Wurde das Wirken Ernsts II. zuletzt in zwei Publikationen behandelt18, fehlen zur 40-jährigen Regierungszeit seiner Eltern, Friedrichs III. und seiner Gemahlin Luise Dorothea (1710–1767), grundlegende neuere Arbeiten. Dies ist umso erstaunlicher, wurde doch jüngst der Gothaer Hof seit den 1730er Jahren als Beispiel für ein „geradezu symbiotisches Verhältnis“ von Hof und Aufklärung benannt.19 Jedenfalls war es der Herzogin gelungen, den Hof „in das elitäre Bündnis zwischen den großen französischen Schriftstellern des siècle des lumières und deutschen absolutistischen Kleinstaaten zu integrieren“ und eine „Atmosphäre französischer Salonkultur“ zu etablieren.20 Die Regierungszeit Friedrichs III. galt als „siècle de la Duchesse Luise“.21 Und tatsächlich blieb der Herzog im Gegensatz zu seiner Gemahlin weitgehend ohne Konturen. Zeitgenossen beschrieben ihn als gutmütig, wohlwollend, ohne größere Begabung und politisch ohne größere Ambitionen – als einen Regenten allerdings, der es verstand, gut ausgebildete Beamte an sich zu binden, die eine _____________ 14 15 16 17 18 19 20 21
So bezeichnet Werner Arnold („Der Fürst als Büchersammler“, S. 41) die fürstlichen Privatbibliotheken in Absetzung von den Hofbibliotheken Zum Begriff vgl. Daniel, Ute, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 449. Vgl. Jacobsen, Roswitha, „Die Blütezeit der Residenzkultur im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Konrad Scheurmann (Hrsg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen. Essays, Mainz 2004, S. 52-64. Vgl. Klinger, „Das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg“, S. 12, dort auf Weimar bezogen. Vgl. Greiling u. a. (Hrsg.), Ernst II., und Die Gothaer Residenz. Vgl. Jacobsen, „Die Blütezeit der Residenzkultur“, S. 62. Raschke, Bärbel, „Französische Aufklärung bei Hofe. Luise Dorothea von Sachsen-Gotha (1710–1767)“, in: Michel Espagne (Hrsg.), Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers (1750–1850), Leipzig 1996, S. 23-38, hier S. 26. H[einrich] A[ugust] O[ttokar] Reichard (1751–1828). Seine Selbstbiographie, Hermann Uhde (Hrsg.), Stuttgart 1877, S. 106, in Anlehnung an Voltaires Le siècle de Louis XIV.
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Die fürstlichen Privatbibliotheken am Gothaer Hof im 18. Jahrhundert
stabile Innen- und Außenpolitik sicherstellen konnten.22 Die Verzeichnisse und überlieferten Bestände der beiden zeitgleich bestehenden Privatbibliotheken des Herzogpaares23 bieten Gelegenheit, Friedrichs Persönlichkeit im Vergleich mit der deutlicher konturierten Darstellung seiner Gemahlin einige Facetten hinzuzufügen.24 Es darf als wahrscheinlich gelten, dass die Büchersammlungen des Herzogpaares in ihren privaten Appartements im Nordflügel des Schlosses aufgestellt waren. In einem Porträt Luise Dorotheas in ihrem Schreibkabinett 1754 lässt eine geöffnete Tür den Blick in das benachbarte Bibliothekszimmer frei.25 Ob beide Sammlungen schon zu Lebzeiten ihrer Besitzer sachlich und innerhalb der Sachgruppen nach Formaten geordnet waren, so wie sie in den erst in den Todesjahren des Herzogpaares erstellten Katalogen verzeichnet sind26, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Fest steht, dass beide Sammlungen von dem zweiten Bibliothekar der Herzoglichen Bibliothek, Gottfried Christian von Freiesleben (1740–1774), betreut wurden.27 Im Katalog für Friedrichs Bibliothek übernahm er das Klassifikationssystem des französischen Buchhändlers Gabriel Martin (1678–1761) mit den fünf Hauptgruppen théologie, jurisprudence, sciences et arts, belles-lettres und histoire.28 Da die Gliederung der theologischen Schriften im System Martins eine katholische Handschrift trägt29, modifizierte Freiesleben das Schema für die dezidiert theologisch-protestantische Sammlung Friedrichs. Die privaten Bibliotheken sind Sammlungen zeitgenössischer Literatur. In ihnen dominiert die französische Sprache30 – ein für deutsche Adelsbi_____________ 22 23 24
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Vgl. Huschke, Wolfgang, „Politische Geschichte von 1572 bis 1775. Die Ernestiner“, in: Hans Patze (Hrsg.), Geschichte Thüringens, Bd. 5, 1, 1, Köln 1982, S. 6-551, hier S. 427-442. Während die Privatbibliothek Luise Dorotheas durch Bärbel Raschke für mehrere Aufsätze herangezogen wurde, gibt es bislang keine Untersuchung zur Bibliothek Friedrichs III. Allerdings behindert die Aussonderungspolitik im Zuge der Integration der privaten Sammlungen in die Herzogliche Bibliothek im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Auswertung der Sammlung Friedrichs. Offensichtlich wurde die Bibliothek Luises integriert, während diejenigen Bände, die in Friedrichs Sammlung doppelt zu der Luises waren, ausgesondert wurden. Deutsches Historisches Museum, Berlin, Öl/Leinwand 59,5 x 76,5 cm, Inv.-Nr.: 1990/123. Catalogue de la Bibliothèque du Cabinet de […] Frederic III. […] de glorieuse Mémoire, Fridenstein 1772 (FBG, Chart A 1094; im Folgenden: KF); Katalog der Privatbibliothek Luise Dorotheas von Sachsen-Gotha-Altenburg, o. O. u. J. (FBG, Chart B 123; im Folgenden: KLD). Zur Datierung des Katalogs von Luise vgl. Raschke, „Fürstliche Privatbibliotheken“, S. 53. Die Bücher beider Bibliotheken sind mit den jeweiligen Katalogsignaturen versehen. Vgl. ThStAG, Geh. Archiv E XIII 42i 1762 und Geh. Archiv U.U. XXXIX, 11, Bl. 51r. Vgl. Artikel „Catalogue“ in: Diderot, Denis / d’Alembert, Jean Le Rond (Hrsg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences des arts et des métiers, Bd. 6, Lausanne 1779, S. 509-513. Diese „französische Systematik“ fußt auf der 1678 für das Pariser Jesuitenkolleg entwickelten Gliederung. Die nichtkatholische Literatur wurde unter den „Théologiens héterodoxes“ bzw. der „l’histoire ecclésiastique des héresies et des hérétiques“ eingeordnet. Bibliothek Luise Dorotheas: 74%, Bibliothek Friedrichs III.: 45%.
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bliotheken des 18. Jahrhunderts typischer Befund. Luises Sammlung hatte 3.567, Friedrichs immerhin 2.368 Bände. Bei der prozentualen Verteilung der einzelnen Fächer werden die Unterschiede in den Sammelinteressen deutlich, wobei der zahlenmäßige Befund gegenüber anderen Bibliotheken von Fürsten31 oder von Fürstinnen32 keine Besonderheiten aufweist. In Friedrichs Bibliothek führen die theologischen Schriften mit 25,5% den Fächerreigen vor den historischen Werken (24,1%), den belles-lettres (17,3%), den unter „sciences et arts“ zusammengefassten (11,3%) und den juristischen Bänden (7,9%) an.33 Die theologische Sammlung steht fest auf dem Boden des lutherischen Protestantismus, als dessen Sachwalter sich die Gothaer Herzöge sahen. Sie enthält die Handexemplare34 grundlegender Theologica seines Urgroßvaters, Großvaters und Vaters sowie die Grundlagenliteratur seiner Jugendzeit, die in seiner Jugendbibliothek35 standen. Stark vertreten sind die Werke des orthodoxen Lutheraners und Gothaer Generalsuperintendenten Ernst Salomon Cyprian (1673–1745)36, der die theologische Ausrichtung Gothas mitbestimmte, bis seine Auffassungen in den 1740er Jahren immer stärker mit dem aufklärerischen theologischen Gedankengut, dem Luise Dorothea verbunden war, kollidierten. Zu finden ist eine Schrift von Nikolaus Ludwig von Zinsendorf, dessen Herrnhuter Kreis Friedrich in Gotha Fuß fassen und 1763 im benachbarten Neudietendorf ansiedeln ließ.37 Auffällig sind die zahlreichen Ausgaben von evangelischen Gesangbüchern, die möglicherweise ein Indiz für seine bekannte Musikliebe und besondere Vorliebe für Kirchenmusik sind. In Friedrichs III. Bibliothek war alles vorhanden, „was für eine gute Regierung notwendig“ war, „das Gedächtnis des Zeitalters und die Instrumente der Herrschaft über die anderen“.38 Ob und wie er die Bücher tatsächlich gelesen _____________ 31 32 33 34
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Vgl. Anm. 6. Vgl. Raschke, Bärbel, „Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach – Buchbesitz, Lektüre und Geselligkeit“, in: Joachim Berger (Hrsg.), Der „Musenhof“ Anna Amalias. Geselligkeit, Mäzenatentum und Kunstliebhaberei im klassischen Weimar, Köln 2001, S. 81-105. Die verbleibenden prozentualen Anteile entfallen auf die Handschriften, ungebundenen Werke und Dubletten, die in einzelnen Listen ausgewiesen sind. Vgl. KF, S. III. U. a. Luther, Martin, Geistliches Gesangbüchlein, Gotha 1660 (Eintrag Ernsts I. auf dem Titelblatt; FBG, KF, Nr. 442); Arndt, Johann, Vier Bücher vom wahren Christenthum, Leipzig 1674 (Handexemplar Friedrichs I.; FBG, KF, Nr. 316); Biblia […]. Mit einer Vorrede Gottlob Friedrich Seligmanns, Leipzig 1699 (Eintrag Friedrichs II; FBG, KF, Nr. 145). Der Katalog wurde angelegt als Friedrich 15 Jahre alt war: Catalogus librorum […] principis haereditari, Dn. Friderici III. […] 17. Mart. 1714 conscriptus (FBG, Chart B 1806). Vgl. Koch, Ernst (Hrsg.), Ernst Salomon Cyprian (1673–1745). Zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung, Gotha 1996. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von, Theologische und dahin einschlagende Bedencken, Büdingen 1742 (vgl. FBG, KF, Nr. 133). Roche, Daniel, „Noblesses et culture dans la France du XVIIIe. Les lectures de la Noblesse“, in: Buch und Sammler. Private und öffentliche Bibliotheken im 18. Jahrhundert, Heidelberg
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Die fürstlichen Privatbibliotheken am Gothaer Hof im 18. Jahrhundert
hat, lässt sich bislang nicht nachweisen.39 In den durchschossenen Exemplaren des Gothaer Hofkalenders, den er als Schreibkalender nutzte, verzeichnete er politische Daten sowie die Krankheiten, die neun Geburten sowie die Beichten mit seiner „Herzgeliebtesten Gemahlin LD“40; zu Lektüren finden sich keine Einträge. Auch in Luises Bibliothek finden sich keine Lesespuren, allerdings geben Briefwechsel und Exzerpte Einblicke in Ihre Lektüre.41 Mit ihrer Bibliothek steht auf den ersten Blick eine Fürstinnenbibliothek vor uns, die als jener weibliche Rückzugsraum gedeutet werden könnte, als der die Musenpflege und leichte Lektüre durch den weiblichen Adel immer wieder charakterisiert wird. Wie von anderen deutschen Fürstinnen ist auch von Luise Dorothea ein Gemälde überliefert, das sie in drei Büchern gleichzeitig lesend zeigt.42 Die belles-lettres43 machen mit 41,6% den Hauptteil der Sammlung aus – weit vor den historischen (32,1%), philosophischen (14,3%) und theologischen (10,8%) Werken.44 Doch Luise Dorotheas Lektüreinteressen waren nicht auf die belles-lettres fixiert. Sie können als Teil der Regierungstätigkeit charakterisiert werden, unter der Luise keinesfalls nur die Organisation geselliger Lektüre und der Konversation verstand, sondern ein Gemeinschaftsunternehmen mit ihrem Gemahl.45 Die Bibliothek spiegelt darüber hinaus ihr Erziehungswerk an ihren Söhnen.46 In ihrer philosophischen Bibliothek, die wesentlich umfangreicher als die ihres Gemahls ist47, stehen _____________
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1979, S. 9-27, hier S. 10 (in Übersetzung). Friedrichs Sammlung enthält normative juristische Texte, Verordnungen, genealogische, geographische, Architektur-Werke, Memoirenliteratur, Militaria. Es finden sich keine Lesespuren. Nach Arnold („Der Fürst als Büchersammler“, S. 55) ist die Lektüre deutscher Fürsten nur selten dokumentiert. Hoch-Fürstlicher Sachsen-Gothaisch- und Altenburgischer Hof- und Adress-Calender, Gotha 1741– 1770 (FGB, Chart B 1551). Die Bezeichnung deutet auf ein inniges Verhältnis zu seiner Gemahlin hin, wohingegen Raschke („Französische Aufklärung bei Hofe“, S. 25) von einem eher distanzierten Verhältnis, zumindest von Luise zu ihrem Gemahl, spricht. Vgl. ThStAG Geh. Archiv E XIIIa 28; vgl. Raschke, Bärbel (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Luise Dorothée von Sachsen-Gotha und Voltaire (1751–1767), Leipzig 1998. Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Schlossmuseum, Mi 76. Das Spektrum reicht von den antiken bis zu den deutschen Autoren. Vgl. die Namensaufzählungen in den zitierten Aufsätze von Raschke. Der verbleibende prozentuale Anteil entfällt auf die Handschriften. Vgl. Raschke, Bärbel, „‚Madame Vous etiéz faite pour Gouvernér des Empires […]‘. Möglichkeiten und Grenzen politischer Aktivitäten verheirateter Fürstinnen am Beispiel Luise Dorotheas von Sachsen-Gotha“, in: Julia Frindte (Hrsg.), Handlungsspielräume von Frauen um 1800, Heidelberg 2005, S. 311-330. Raschke, Bärbel, „‚…un modèle pour tous les princes‘. Fürstenbild, Regierungskonzeption und Politikverständnis im Erziehungsjournal Luise Dorotheas von Sachsen-Gotha für den Erbprinzen Ernst“, in: Greiling u. a. (Hrsg.), Ernst II., S. 227-238. Dem trug auch der Verfasser des Katalogs von Luises Bibliothek Rechnung: Werden bei Friedrich die philosophischen Schriften im Sinne der französischen Systematik unter die
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die Werke der von ihr verehrten Christian Wolff (1679–1754)48, Johann Christoph Gottsched (1700–1766)49 und Voltaire (1694–1778)50 sowie weiterer französischer und englischer Aufklärer.51 Sie bezog die Correspondence litteraire52 und besaß alle vor ihrem Tod erschienenen Bände der Encyclopèdie.53 Für Bücherkäufe gab die Herzogin durchschnittlich 330 Taler jährlich aus – im Vergleich zu den 15.000 Talern, die sie aus ihrer Privatschatulle insgesamt ausgab, ist dies wenig, im Vergleich zu den 400 Talern für die Herzogliche Bibliothek sehr viel.54 Darüber und über nicht abgestimmte Anschaffungen, die Dubletten in den Sammlungen erzeugten, klagte denn auch der leitende Hofbibliothekar, Julius Carl Schläger (1706–1786).55 Allerdings finden sich auch in den beiden Privatbibliotheken auffällig viele Titel in mehreren Exemplaren oder verschiedenen Ausgaben. Dazu gehören geografische, genealogische und historische Werke, die den Herrschaftsanspruch des Sachsen-Gotha-Altenburger Hauses legitimieren sollten, Werke von Autoren aus ihrem Umfeld56 und Bestseller.57 Beide Sammlungen zeugen vom gemeinsamen Interesse an Experimenten zur Elektrizität58 und von ihrer Theaterbegeisterung.59 _____________ 48 49 50 51 52 53 54
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„sciences et arts“ eingeordnet, so wird die Philosophie im Katalog Luises zu einer eigenständigen Klasse, in der die „sciences et arts“ eine Untergruppe bilden. FBG, KLD, S. 62, 65, 66. FBG, KLD, S. 65. Zur Voltairesammlung vgl. Raschke, „Fürstliche Privatbibliotheken“, S. 59-67. Vgl. Raschke, „Französische Aufklärung bei Hofe“, S. 28. Vgl. FBG, KLD, S. 437. Die Zeitschrift wurde von Friedrich Melchior Grimms (1723– 1807) herausgegeben, der das Herzogpaar auch mit Büchern belieferte. Vgl. ThStAG, Geh. Archiv E XIII 42a, Bl. 11r-15v. FBG, KLD, S. 145. Zu den Zahlen vgl. Raschke, „Fürstliche Privatbibliotheken“, S. 55. Übrigens ließ das Herzogpaar seine Bucherwerbungen für die Herzogliche Bibliothek mit seinen vergoldeten, verschlungenen Initialen kennzeichnen. In Luises Sammlung tragen lediglich Kalbslederbände ihre vergoldeten Initialen. „Folglich wird die Hochfürstl. Bibliotec ein gar großes von dem bisherigen Ruhm abgehen, und sich dessen nach einigen Jahrn um so gewißer beraubt sehen, jemehr sie durch die, zu ihrem Unterhalt gnädigst bewilligte 400 Thaler vielen privatBibliothequen gleich gemacht, einigen auch so gar nachgesetzet ist.“ (ThStAG, Geh. Archiv U.U. XXXIX. 11, Bl. 99r). U. a. des Göttinger Staatsrechtlers Johann Stephan Pütter, der als Prinzenerzieher 1762 an den Hof berufen worden war (FBG KF, Nr. 594, 609; KLD, S. 322), des Bibliothekars Freiesleben (FBG, KF, Nr. 858; KLD, S. 157, 161). Etwa Klopstock, Friedrich Gottlieb, Messias, Halle 1749 (FBG, KF, Nr. 973; KLD, S. 161); Rousseau, Jean-Jacques, Emile, in verschiedenen Ausgaben (FBG, KF, Nr. 690, 804; KLD, S. 76); Fénelon, François, Télémaque, in verschiedenen Ausgaben (FBG, KLD, S. 330; KF, Nr. 990). FBG, KF, Nr. 714-717 und FBG KLD, S. 86. Die Vorführung solcher Experimente war an Fürsten- und Königshäusern beliebt. Vgl. Greiling u. a. (Hrsg.), Ernst II., S. 155. Vgl. Ranke, Wolfgang, Europäische Literatur am Gothaer Fürstenhof, Gotha 1999. Die frühesten nachweisbaren Erwerbungen Friedrichs auf seiner europäischen Kavalierstour 1718 bis 1724 sind zwei Libretti französischer Dramen ([FBG, Poes 8° 1038/01; Poes 8° 631/03).
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Die fürstlichen Privatbibliotheken am Gothaer Hof im 18. Jahrhundert
Alle Sammlungsteile sind von den Erzeugnissen der lokalen Gothaer und Altenburger Buchproduktion durchzogen. Dies ist besonders in Friedrichs Sammlung augenfällig, in der die etwa 10% Doppel- und Dreifachexemplare (250 Bände), überwiegend in Gotha gedruckt, von einem Autor aus Gotha-Altenburg verfasst worden sind bzw. einen inhaltlichen oder persönlichen Bezug zum Herzoghaus haben. Friedrichs Bibliothek scheint somit zumindest in Teilen der Verwahrort für unaufgefordert zugesandte und dem Herzog zugeeignete60 Werke gewesen zu sein. Diese Bücher, auch die unaufgefordert geschickten, soll er großzügig honoriert haben.61 Weder Friedrichs noch Luises Bibliothek verraten bibliophile Neigungen.62 Trotzdem galt das Buch neben den üblichen „plaisirs“ und „divertissements“, die traditionell als Ergänzung zu den politischen Amtsgeschäften angesehen wurden, als Statussymbol. Ist die Sammlung Luise Dorotheas zugleich Arbeitsinstrument sowie Ausdruck ihres – in Grenzen – eigenständigen kulturellen Handelns, so dokumentiert die Büchersammlung Friedrichs III. Standesbewusstsein und das Bemühen um Regierungslegitimation sowie mäzenatisches Handeln und diente der Dokumentation eines Ideals vom gebildeten – protestantischen – Fürsten63, wenngleich dieses Ideal für den Adelsstand des 18. Jahrhunderts nicht mehr verbindlich war.64 Dieses Ideal verkörperte dann in ungleich stärkerem Maße sein Sohn, Ernst II., dessen Büchersammlung nicht nur die größte unter den privaten herzoglichen Sammlungen, sondern auch die mit den ausgeprägtesten bibliophilen und wissenschaftlichen Schwerpunkten war.65 Inwieweit Ernsts Sammlung mit denen seiner Eltern und seiner Nachkommen verflochten war und welche Rolle Buchbesitz und Lektüre zum Ende des 18. Jahrhunderts am Gothaer Hof spielten, muss weiteren Studien vorbehalten bleiben.
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Die früheste Zueignung erhielt er als 15jähriger: Müller, Philipp, Concordia […], Leipzig 1705 (FBG, Theol 4° 461/03). Vgl. Jacobs, Beiträge zur ältern Litteratur, S. 20. Unter den wenigen Manuskripte in beiden Bibliotheken (Friedrich: 56 Bände, Louis: 39) befinden sich hauptsächlich den Archivalien zuzuordnende Texte. Vgl. Adam, Wolfgang, „Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Fortschrittsbericht (1975–1988)“, in: IASL, 15/1990, S. 123-173, hier S. 140, 141. Vgl. Arnold, „Der Fürst als Büchersammler“, S. 41. Vgl. dazu Schaab, „Herzog Ernst II.“.
Die Bibliothek des preußischen Hofarchitekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699–1753) Martin Engel Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff ist einer der Schöpfer des friderizianischen Rokoko. Seine Hauptwerke sind das Berliner Opernhaus Unter den Linden, Schloss Sanssouci, die Wohnungen Friedrichs des Großen im Schloss Charlottenburg und der weitgehende Umbau des Potsdamer Stadtschlosses. Seine künstlerischen Leistungen, insbesondere sein Beitrag zur preußischen Baukunst des 18. Jahrhunderts sind in der kunsthistorischen Forschung relativ gut dokumentiert und dargestellt worden, zuletzt im Jahr 1999 im Rahmen einer Ausstellung anlässlich seines 300. Geburtstages.1 Der zentrale Punkt in allen biografischen Darstellungen ist das besondere Verhältnis zwischen Knobelsdorff und dem 12 Jahre jüngeren König Friedrich II., dem er eine Art künstlerischer Mentor war. Die tiefe Verbundenheit und Hochachtung kommt in der Eloge, die Friedrich II. dem früh verstorbenen Knobelsdorff widmete, deutlich zum Ausdruck. Knobelsdorff wird von ihm als ein zum Maler und großen Architekten geborenes Genie geschildert, als wissensdurstig, eigenwillig und wahrheitsliebend, als ein vielseitiges Talent, das selbstverständlich zum Ehrenmitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde. In der Eloge führt Friedrich II. dann weiter aus, man wundere sich nicht einen Maler und großen Architekten unter Astronomen, Mathematikern, Physikern und Dichtern sitzen zu sehen. Künste und Wissenschaften sind Zwillingsgeschwister. Ihre gemeinsame Mutter ist das Genie. Natürliche und unzerreißbare Bande verknüpfen sie miteinander. Die Malerei erfordert genaue Kenntnis der Mythologie und Geschichte; sie führt auch zum Studium der Anatomie, denn sie bedarf der Kenntnis des Zusammenspiels aller Teile, die zur Bewegung des menschlichen Körpers nötig sind, damit die Darstellung der Muskulatur der Wirklichkeit entspricht. Die Landschaftsmalerei erfordert die Kenntnis der Optik und Perspektive, und bei der Darstellung der Architektur auch das Studium der Geometrie, der dynamischen Kräfte und der Mechanik. Vor allem hängt die Malerei mit der Dichtkunst zusammen. Das glei-
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„Zum Maler und großen Architekten geboren“. Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699–1753). Ausstellung zum 300. Geburtstag. Katalog, Generaldirektion der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hrsg.), Berlin 1999.
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Die Bibliothek des preußischen Hofarchitekten G. W. von Knobelsdorff
che Feuer der Einbildungskraft, das den Dichter beseelt, muss auch den Maler durchglühen. Das alles gehört zum Schaffen eines guten Malers. Vielleicht liegt einer der großen Vorzüge unseres aufgeklärten Jahrhunderts darin, dass es die Wissenschaften unentbehrlich gemacht und sie dadurch verbreitet hat.2
Die von Friedrich II. konstatierte Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft ist im Grunde bereits in den Kunsttheorien der Renaissance von Alberti und Leonardo da Vinci angelegt und bezieht sich auf den Bildungsstandard, der von einem Künstler erwartet wird. Das Knobelsdorff’sche Testament, das ich vor etwa 10 Jahren in den Akten des Berliner Kammergerichts im Brandenburgischen Landeshauptarchiv gefunden habe3, ermöglicht mit dem darin enthaltenen umfangreichen Verzeichnis seiner Bücher nun eine wesentlich differenziertere Betrachtung seines weit gefächerten Interesses an Literatur und Dichtung, Wissenschaft und Philosophie. Im Folgenden gilt es, die Sammlungsschwerpunkte der Knobelsdorff’schen Privatbibliothek mit ihren Besonderheiten darzustellen und den Bezug zu bislang unbekannten oder nicht berücksichtigten Aspekten der Biografie des Malers und Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff herzustellen.4 Das Verzeichnis der Bücher wurde einige Wochen nach Knobelsdorffs Tod am 16. September 1753 auf Befehl des Kammergerichts von dem Berliner Buchhändler Johann Adam Rüdiger erstellt. Die Bücher stellen einen relativ kleinen Teil des Nachlasses dar, zu dem das gesamte Mobiliar und vor allem eine wertvolle Kunstsammlung gehörten.5 Laut Testament vom 11. März 1753 vermachte Knobelsdorff seiner Lebensgefährtin Christiane Sophie Charlotte Schön, die seiner wihrtschafft bißhero treulich vorgestanden und mir noch überhaupt viele Proben ihres redlichen gemüthes gegeben, alle meine meublen, Schildereyen, Haus- und Küchengeräthe, Silber, Zin, Kupfer, Messing, Porcelain, Wäsche, Kleider, und leinen Zeug, und mit einem wohrte mein gesamtes mobiliarisches vermögen.
Der Kunstbesitz wird in dem Testament ausdrücklich genannt, während die Bücher implizit im mobilen Vermögen erfasst sind. Sechs Tage vor seinem Tod verfasste Knobelsdorff am 10. September 1753 einen Testamentszusatz, ein so genanntes Codicill, in dem er verfügte: „[…] alle meine _____________ 2 3 4
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Ebd., S.13. Landeshauptarchiv Brandenburg, Pr. Br. Rep. 4A Testaments- und Nachlassregister, Nr. 8672 und 9215. Aus Platzgründen bleiben einige wichtige Sammlungsgebiete aus Knobelsdorffs Privatbibliothek unberücksichtigt: Historisch-Politische Schriften, Memoiren, Erziehungsliteratur, Sprachbücher, Reiseberichte und die zahlreichen Länderbeschreibungen. Diese bleiben einer neuen Biografie zu Knobelsdorff vorbehalten, die auf der Grundlage des hier nur kurz vorgestellten Bücherverzeichnisses neu geschrieben werden muss. Dazu: Engel, Martin, Die Knobelsdorffsche Kunstsammlung, in: „Zum Maler und großen Architekten geboren“, S. 150.
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Tableau, Kupferstiche und Bibliothecke […] legire ich hiermit meinem guten Freund den Obristlieutenant von Keith […]. “ Oberstleutnant Peter Christoph Carl von Keith (1711–1756) war seit 1747 Kurator der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Er erhielt durch diese Änderung des Testaments rund 85 % des auf insgesamt rund 7200 Reichstaler geschätzten mobilen Vermögens. Über Oberstleutnant von Keith, der Knobelsdorff nur um 3 Jahre überlebte, ist leider nicht viel bekannt, so dass sich die Spur der Knobelsdorff’schen Bibliothek schnell verliert. Bei meinen Recherchen fand ich keinen Hinweis, dass die Bücher in den Besitz der Akademie übergangen wären. Es fiel jedoch auf, dass der überwiegende Teil der Titel in der Staatsbibliothek zu Berlin nachgewiesen werden kann, so dass die Vermutung nahe liegt, dass die Bücher schließlich doch in königlichen Besitz gelangten. Die vom Buchhändler Rüdiger erfasste Bibliothek umfasste 340 zum Teil mehrbändige Werke im Gesamtwert von rund 420 Reichstalern. Der Wert der Bücher ist, wohl dem Zweck der testamentarischen Erfassung entsprechend, etwas zu niedrig angesetzt, insbesondere wenn man zum Vergleich die Rechnungen heranzieht, die Friedrich II. für Bücherkäufe zu begleichen hatte. In der Knobelsdorff’schen Bibliothek waren allerdings auch nur wenige in Leder gebundene Werke zu finden.6 Architekturliteratur Die meisten und zugleich auch die teuersten Bücher gehören zur Gattung der Architekturliteratur. In Zahlen ausgedrückt heißt das: 76 der insgesamt 340 Werke gehörten zu dieser Gruppe, was einem Anteil von 22% entspricht – und da es sich zumeist um großformatige und reich bebilderte Bücher handelte, belief sich deren Wert auf rund 212 Rtlr., was etwa 50% des gesamten Schätzwertes ausmachte. Neben den klassischen Schriften von Vitruv, Alberti, Palladio, Serlio und Scamozzi besaß Knobelsdorff auch die Werke der französischen Architekten Philbert de l’Orme, Davillier, François Blondel und Alexandre Le Blond. Das Hauptthema dieser Bücher ist, grob gesagt, die Berechnung der Säulenordnungen, daneben findet man aber auch die grundlegenden Überlegungen von der Wahl des Bauplatzes über die Anlegung des Grundrisses bis hin zu den praktischen Hinweisen für den Baubetrieb und die Organisation von Baustellen – also Wissen, das Knobelsdorff als leitender Architekt benötigte und das er sich im Selbststudium beibringen _____________ 6
Die gesamte Bücherliste ist abgedruckt in: Engel, Martin, „Die Bibliothek des preußischen Hofarchitekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff“, in: ders. (Hrsg.), Barock in Mitteleuropa, Wien 2007, S. 435–458 (Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, 55/56).
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Die Bibliothek des preußischen Hofarchitekten G. W. von Knobelsdorff
musste. Da Knobelsdorff keine spezielle Ausbildung zum Baumeister oder Baubeamten hatte, aber als Surintendant vielfältige Aufgaben zu meistern hatte, wundert es nicht, dass er auch technische Lehrbücher zur Zimmermannskunst und zur Wasserbaukunst und ein relativ teures Buch über den Steinschnitt besaß. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Werke von Hubert Gautier über den Brücken- und Straßenbau, deren Besonderheit darin bestand, dass darin die durch Vitruv und zahlreiche Relikte der antiken Baukunst bekannte Technik der Römer dargelegt und der modernen Bautechnik gegenübergestellt wird. Von ganz praktischem Nutzen waren die Werke zur zeitgenössischen Architektur, wie die Architecture francoise von Jean Mariette, die AnsichtenSammelwerke von Adam Perelle, die Vues de plus beaux batimens de France und die Vues de plus beaux endroits de Versailles oder der Fürstliche Baumeister von Paulus Decker, die als Inspirationsquelle bei der eigenen Entwurfsarbeit genutzt wurden. Medaillen Friedrich der Große gilt gemeinhin als ein sparsamer Potentat mit einer gewissen Neigung zum Geiz. Diese weit verbreitete Sicht gilt jedoch in keinem Fall für die ersten Monate seines Königtums. Für Luxus und Prunk war er bereit große Summen auszugeben, wohl auch mit dem Ziel europaweit für Aufsehen zu sorgen. Ein bewährtes Mittel der Selbstinszenierung waren im 18. Jahrhundert Medaillen. Seit langem ist bekannt, dass Knobelsdorff in diesem Zusammenhang aktiv war und den berühmten in schwedischen Diensten stehenden Medailleur Johann Carl Hedlinger nach Berlin holte.7 Knobelsdorff lieferte auch die Vorlage für zwei herausragende Medaillen, die von Hedlinger angefertigt wurden. Nicht bekannt war bisher, dass Knobelsdorff zwei wichtige Bücher zur Numismatik besaß. Das eine, La Science des Medailles von Louis Jobert (1637-1719) ist ein praktischer Ratgeber zur systematischen Erfassung, Beschreibung und Bewertung der Medaillen mit historisch kritischen Anmerkungen, das andere, die Medailles du régne de Louis XV. ist eine Prachtausgabe mit den Abbildungen aller 54 Medaillen, die zum Gedenken an dynastische, militärische und kulturelle Ereignisse unter Ludwig XV. geprägt wurden. Bei der Medaille zur Neugründung der Akademie im Jahr 1747 wird deutlich, dass man sich in Berlin an diesem Vorbild orientierte. _____________ 7
Felder, Peter, Medailleur Johann Carl Hedlinger (1691–1771). Leben und Werk, Aarau, Frankfurt am Main, Salzburg 1978, S. 33.
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Kunst und Malerei In den Jahren ab 1729 ließ sich Knobelsdorff von dem preußischen Hofmaler Antoine Pesne im Malen und Zeichnen unterrichten, der ihm gewiss auch das nötige theoretische Fundament vermittelte. In seiner Bibliothek hatte Knobelsdorff einige frühe kunsthistorische Schriften, wie Carel van Manders Sammlung von Künstlerviten oder Philipp von Stoschs Pierres antiques gravées. Darüber hinaus besaß er mehrere sehr aufwendige Sammlungsinventare, wie den sehr teuren, auf 16 Rtlr. taxierten Recueil de Marbres antiques qui se trouve dans la Galerie du Roi de Pologne a Dresde von 1733, sowie zwei wichtige Lehrbücher für angehende Künstler: Leonardo da Vincis Tractat von der Mahlerey in deutscher Übersetzung und Het Groot Schilderboeck von Gerard de Lairesse. In seiner Kunstsammlung, deren Wert den der Bibliothek um ein vielfaches überstieg, hatte Knobelsdorff auch ein Bachanal von Lairesse, das im Inventar leider ohne nähere Beschreibung als schön bezeichnet und auf 150 Reichstaler geschätzt wurde. Hier wird deutlich, wie sich die unterschiedlichen Interessen des Kunstsammlers, Malers und homme de lettres ineinander verschränken. Leider wissen wir nicht, ob Knobelsdorff zuerst das Buch oder das Bild besaß. Die einschlägigen Quellen sind zu indifferent, denn allein in den Jahren 1736 bis 1753 stand auf internationalen Auktionen mindestens sechsmal ein Bachanal von Lairesse zum Verkauf. Dass Knobelsdorff an Kunstauktionen interessiert war, belegen die Kataloge von zwei wichtigen Pariser Auktionen der Jahre 1741 und 1744. Zum Verkauf standen damals die bedeutenden und außerordentlich umfangreichen Grafiksammlungen des einflussreichen Mäzens Pierre Crozat einerseits und des M. Quentin de l’Orangère andererseits. Die jeweils mehrere 10.000 Blätter umfassenden Kataloge sind nach Künstlern geordnet und mit Kurzbiografien versehen, und werden damit zu Referenzwerken für Grafik, die für den Kunstsammler Knobelsdorff gewiss sehr nützlich waren. Ob er bei den beiden Auktion auch einige Blätter für seine umfangreiche Grafiksammlung erwerben ließ, ist nicht bekannt. Gartenbau Mindestens ebenso nützlich waren die sieben Bücher zum Gartenbau. In seiner Funktion als Surintendant hatte Knobelsdorff die Aufgabe, den Berliner Tiergarten vom Jagd- und Nutzwald in einen öffentlichen Volksgarten umzuwandeln. Das ist an sich schon eine bemerkenswerte Tatsache, weil
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Die Bibliothek des preußischen Hofarchitekten G. W. von Knobelsdorff
der Berliner Tiergarten der erste öffentliche Park in Deutschland war.8 Leider ist hier nicht der Ort, um auf die innovativen Besonderheiten dieser Gartenanlage einzugehen. Das ist insofern schade, da es bei einem der Parkwege, dem so genannten Poetensteig, eine sinnfällige Verschränkung zwischen Literatur und Gartengestaltung gibt. Knobelsdorff hatte auch einen praktischen Bezug zum Gartenwesen, denn seit 1746 besaß er im Tiergarten eine ehemalige Maulbeerplantage, die er als Meierei bewirtschaftete. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in seiner Bibliothek auch einige Handbücher zum Gartenbau vorhanden waren. Am interessantesten erscheinen hier die Instructions pour les Jardins fruitiers, et potagers… von Jean de la Quintinie, dem Gärtner Ludwigs XVI. In diesem Buch wird haarklein erklärt, in welchem Monat welche Verrichtungen im Gemüse- beziehungsweise im Blumengarten zu erledigen sind, wann gesät, gepflanzt, gejätet, gedüngt und geerntet werden muss. Zudem besaß Knobelsdorff auch Bücher über die Kultivierung von Obstbäumen, kurz gesagt, er hatte alles, was ein Autodidakt in Gartendingen eben braucht – mit einer Besonderheit. In seiner Bibliothek stand auch Johann Grüwels Brandenburgische Bewährte Biehnen-Kunst. Im Titel heißt es dort in barocker Ausführlichkeit: Aus eigener und langer Erfahrung, auch fleißiger Nachforschung, Nach dem 4. Buch Georgicorum Virgilii Maronis also eingerichtet und beschrieben, daß so wol gelehrte, als ungelehrte Liebhaber der Bienen in der Marck Brandenburg, und den angrentzenden Ländern daraus sehen können, wie man: I. die Bienen mit Lust und Nutzen das Jahr über warten, II. Wachs und Honig ausmachen, III. Das Honig brauchen, und Meeth daraus bereiten, IV. Das Wachsfärben, Lichte und einige Sachen daraus verfertigen solle; Auch mit etlichen Kupffer-Stichen deutlich erklähret / Von Johann Grüweln, Käyserl. gekrönten Poeten und Burgemeister zu Cremmen.
An diesem Punkt – und das ist für die Bewertung des Hofarchitekten Knobelsdorff durchaus von Bedeutung – wird eine geradezu hausväterliche Lebenswirklichkeit greifbar, die in der bisherigen biografischen Beschreibung des Künstlers unbekannt ist. Belles Lettres – Galante Literatur Knobelsdorff besaß mehrere zum Teil kommentierte Werke antiker Autoren, von Horaz, Lukrez, Tacitus, Ovid, Terenz, und natürlich auch wichtige Werke von Montesquieu, Rochefoucault, Saint-Èvremond, Fontenelle, Voltaire, Gottsched und vielen anderen. _____________ 8
Dazu: Engel, Martin, „‚Le Parc de Berlin‘ und die Knobelsdorffsche Meierei im Tiergarten“, in: „Zum Maler und großen Architekten geboren“, S. 90-98.
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Auffällig ist, dass er mit Hilfe von Sekundärliteratur sein Wissen über die Entwicklung der Literatur erweiterte, dies gilt insbesondere für die antiken Autoren. So besaß er neben einem Handbuch mit den Viten griechischer und römischer Schriftsteller auch die Considérations sur l’origine et progrès des belles lettres chez les Romains, et les causes de leur decadence von LeMoin, ferner die Observations sur la litterature moderne und Jakob Friedrich von Bielfelds Progrès des Allemands dans les sciences, les belles-lettres & les arts, particulièrement dans la poésie & l'éloquence aus dem Jahr 1752. Knobelsdorff hatte aber auch einen unverkennbaren Hang zur galanten Literatur. In seinem Bücherschrank standen die Werke des Baron von Pöllnitz, die Lettres der berühmten Kurtisane Ninon de Lenclos und zahlreiche weitere Werke dieser Art. Interessant ist der wahrscheinliche, persönliche Bezug, den Knobelsdorff zum Werk der Ninon de Lenclos hatte. Die finanziell unabhängige Ninon de Lenclos verkehrte in der besten Pariser Gesellschaft. Zu ihren Verehrern zählten unter anderen Mr. de Condé, Molière, La Rochefoucault, Saint-Èvremond und der ganz junge Voltaire, dem sie angeblich eine Summe Geldes vermacht hatte, damit er Bücher kaufe.9 Es ist hinreichend bekannt, dass Voltaire in Berlin und Potsdam war, vermutlich gab er Knobelsdorff auch den einen oder anderen Tipp zur französischen Literatur. Zwingend ist das freilich nicht, zumal Knobelsdorff auch mit dem Marquis d’Argens freundschaftlichen Kontakt hatte, der sich ebenfalls am Hofe Friedrichs des Großen aufhielt. Wissenschaft und Philosophie im Umkreis der Akademie Zum Schluss meiner Ausführungen möchte ich noch kurz den überaus spannenden Sammlungsschwerpunkt vorstellen, der die Philosophie und den Umkreis der Berliner Akademie Royale betrifft. Knobelsdorff war Mitglied der Akademie, kannte also deren Mitglieder und besaß auch einige von deren Schriften. Durch seine Nähe zu Friedrich dem Großen war er in dessen Überlegungen eingeweiht, die unmittelbar nach der Thronbesteigung im Juni 1740 zur Rückberufung von Christian Wolff führte. Wolff hatte bis 1723 eine Professur in Halle. Auf Grund von Streitigkeiten mit dem pietistischen Prorektor Joachim Lange über die Möglichkeit einer religionsunabhängigen, allein in der Vernunft begründeten Ethik wurde er von König Friedrich Wilhelm I. des Landes verwiesen. Nach kurzen Aufenthalten in Merseburg und Basel war er ab 1724 in Marburg tätig und sollte nun zum Glanz der erneuerten Akademie der Wissenschaften nach Berlin kommen. _____________ 9
Briefe der Ninon de Lenclos, Frankfurt am Main 1989, S. 27.
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Die Bibliothek des preußischen Hofarchitekten G. W. von Knobelsdorff
Knobelsdorff hatte sich intensiv mit Wolffs Schriften der 1720er und 1730er Jahre befasst. In seinem Bücherschrank befanden sich insgesamt acht seiner Werke über die Welt-Weißheit (1726), über den Weg zur genauen Erkäntnis Der Natur und Kunst (1727), die Vernünfftige[n] Gedancken über Menschen, Tiere und Pflanzen (1725), über die Kräffte des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntniß der Wahrheit (1731), über die Glückseeligkeit (1736) und die Logik (1731). Ferner besaß er das vierbändige Schulbuch über die Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschafften, worin neben der allgemeinen Rechenkunst auch die Algebra, die Artillerie und Mechanik, sowie Optick, Catoptrick und Dioptrick behandelt werden und schließlich die eigenartige Kompilation des Grafen Ernst Christof von Manteuffel Le Philosophe-Roi, et le Roi-Philosophe, La Theorie des Affaires-Publiques. Piecès tirées des oeuvres de Chr. Wolff, die 1740 in Berlin erschienen ist. Leider hat Knobelsdorff nicht selbst geschrieben, und so lässt sich nicht verifizieren, ob er die Werke von Wolff auch gelesen hat. Ein wichtiges Indiz ist aber das Urteil des befreundeten Baron von Bielfeld, der Knobelsdorff als le bon sens personnifié, als personifizierten Verstand bezeichnet.10 Zudem besaß Knobelsdorff auch Schriften von Leibnitz und Thomasius, die wiederum für Wolff wichtig waren: die Essais de Theodice vom einen und die Einleitung zur Sittenlehre vom anderen. Unlösbar erscheint jedoch die Frage, ob Knobelsdorff den Kronprinzen Friedrich mit den Schriften Wolffs bekannt gemacht hat oder ob er Wolffs Werke gelesen hat, um für die Diskussion mit dem Kronprinzen gerüstet zu sein. Schluss Zusammenfassend sei hier noch einmal kurz bemerkt, dass Knobelsdorff auf dem Feld der Kunst und Architektur außerordentlich erfindungsreich war und einige unvergleichliche Werke hinterlassen hat, die sich nicht allein aus der Kunst herleiten lassen. Seine Bibliothek war sicherlich eine wichtige Quelle der Inspiration. Die weitere Forschung muss zeigen, inwiefern sich die künstlerischen Inventionen mit einzelnen Textstellen in Verbindung bringen lassen. Einen wichtigen Hinweis in dieser Richtung lieferte bereits Friedrich II., der in der Eloge auf die gegenseitige Befruchtung der Künste hingewiesen hat, auf das Feuer der Einbildungskraft, das den Dichter beseelt und den Maler durchglühen muss. _____________ 10
Eggeling, Tilo, „Knobelsdorffs malerischer Geschmack – ‚goût pittoresque‘“, in: „Zum Maler und großen Architekten geboren“, S. 52, Anm. 61.
„Gleimii et amicorum“. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Bibliothek Diana Stört „Gleimii et amicorum“ – ,Für Gleim und seine Freunde‘: Dieses Motto, das der Sammler Gleim für das Exlibris seiner Bibliothek bestimmte, könnte gleichsam als Maxime über sein Leben geschrieben stehen. Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) gilt in der Literaturgeschichte als zentrale Gestalt des ,Jahrhunderts der Freundschaft‘. Das von Gleim gewählte Axiom kommt nicht von ungefähr: Es ist geläufig, dass Gelehrte seit dem Humanismus vermehrt Privatbibliotheken anlegten und diese gern „sibi et amicis suis“ widmeten – so z. B. Willibald Pirckheimer – oder Jean Grolier: „Io. Grolierii et amicorum“. Bücher wurden an Freunde am Ort, aber gerade auch an abwesende Freunde in entfernte Gegenden verliehen. Damit wird „das Buch neben dem Brief zum wichtigen Bestandteil des gelehrten Dialogs“ zwischen Freunden, denen der schriftliche Austausch als Ersatz des mündlichen Gespräches dient.1 Gleim stellte sich mit seinem Exlibris einerseits geschickt in die Tradition der frühneuzeitlichen Gelehrten und demonstrierte zugleich seinen Anspruch, ein freigiebiger Freund unter Freunden zu sein. Johann Wilhelm Ludwig Gleim war mit seinen anakreontischen Gedichten („Versuche in Scherzhaften Liedern“, 1744/45) und seinen patriotischen Kriegsliedern („Preußische Kriegslieder von einem Grenadier“, 1756/57) ein populärer Autor des 18. Jahrhunderts.2 Eine Existenz als freier Schriftsteller strebte Gleim jedoch nie an, und so wurde der in Halle studierte Jurist 1747 Domsekretär in der Provinzstadt Halberstadt. Dort war er mit juristischen und wirtschaftlichen Verwaltungsangelegenheiten des Domes betraut. Sein Amt und seine Nebeneinkünfte als Kanonikus,
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Harms, Wolfgang, „Das Buch im Sammlungszusammenhang“, in: Bibliothek und Wissenschaft, 33/2000, S. 50-58, hier S. 55. Zu Gleims Biografie immer noch grundlegend Körte, Wilhelm, Johann Wilhelm Ludwig Gleims Leben. Aus seinen Briefen und Schriften, Halberstadt 1811. Vgl. auch Wappler, Gerlinde, „Sie sind ein ungestümer Freund“. Menschen um Gleim I. Mit einem Beitrag von David Lee zu Karl Wilhelm Ramler, Oschersleben 1998; sowie dies., „Leben Sie wohl, geliebter Vater“. Menschen um Gleim II, Oschersleben 2000.
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Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Bibliothek
gepaart mit finanziellem Geschick, machten ihn im Laufe der Jahre zu einem wohlhabenden Mann.3 Gleim blieb unverheiratet und konzentrierte sich mit zunehmendem Alter auf die Rolle des Literaturpolitikers und Mäzens. Er unterstützte im gesamten nord- und mitteldeutschen Raum Literaten und andere Künstler auf materielle und ideelle Weise. Mittels seines ausgedehnten brieflichen Kommunikationsnetzes, das mehr als 500 Korrespondenten aus Deutschland und der Schweiz umfasste, verhalf er vielen Freunden zu wichtigen Kontakten. Es waren vor allem Zeitgenossen aus dem Literaturbetrieb wie Lessing, Herder, Wieland, Klopstock, Voß, aber auch Frauen wie Elisa von der Recke und Anna Louisa Karsch, die mit dem Halberstädter in Verbindung standen. Doch nicht nur als Autor, Mäzen und Netzwerker ist Gleim für die Forschung von Interesse, sondern vor allem als Sammler: Porträts, Briefe, Manuskripte, persönliche Andenken seiner Zeitgenossen und Bücher gehörten zu den Objekten seiner umfangreichen Sammlungen.4 Seine Porträtgalerie, der ,Tempel der Freundschaft und der Musen‘, vereinigte über 120 Köpfe der gelehrten Welt des 18. Jahrhunderts. Sein Briefarchiv umfasste rund 10.000 Briefe. Seine Büchersammlung gehörte mit ca. 10.000 Bänden zu den bedeutendsten Privatbibliotheken seiner Zeit. Mit der testamentarischen Absicherung der Objekte ermöglichte Gleim die Überlieferung der heute vermutlich größten bürgerlichen Sammlung zur Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts im Gleimhaus Halberstadt.5 Hier soll nun ein Teil dieser Sammlungen, die Bibliothek, anhand ihrer überlieferten historischen Kataloge vorgestellt werden. Schon als knapp 20-jähriger Student der Jurisprudenz legte Gleim ihren Grundstein. Sein Wirtschaftsbuch aus den Jahren 1739–1741 weist einige wenige Seiten von Büchererwerbungen aus.6 D. h. Gleim sammelte ca. 60 Jahre lang Bücher, ein halbes Jahrhundert der Aufklärung. Dabei trug er keine beruflich orientierte Büchersammlung des Juristen und Verwalters zusammen, sondern eine Bibliothek des Autors und interessierten Lesers. Dank der Leserforschung
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Vgl. Mohr, Heinrich, „,Freundschaftliche Briefe‘ – Literatur oder Privatsache? Der Streit um Wilhelm Gleims Nachlaß“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1973, S. 14-75, hier S. 14-17. Zu Gleims Sammlungen und ihren Funktionen ist eine Dissertation der Verf. in Vorbereitung: „Johann Wilhelm Ludwig Gleim und die Praxis des Sammelns im 18. Jahrhundert“. Vgl. das Testament, in: Körte, Johann Wilhelm Ludwig Gleims Leben, S. 467-478. Vgl. Gleimhaus Sign. Hs. C 358. Zu dieser Zeit finanzierte Gleim sein Jura-Studium in Halle u. a. mit der Ordnung und Katalogisierung der umfangreichen Privatbibliothek des Kanzlers der Universität. Seine Kenntnisse über Bücher und literarische Entwicklungen dürften also schon in jungen Jahren beträchtlich gewesen sein. Vgl. Körte, Johann Wilhelm Ludwig Gleims Leben, S. 10.
Diana Stört
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wissen wir, dass um die Mitte des Jahrhunderts nicht nur das Interesse an belletristischen Werken zunahm, sondern ebenso sehr an Sachliteratur: politische, historische, ökonomische Bücher und Reiseliteratur.7 Beide Bereiche sind in Gleims Bibliothek in großem Umfang vertreten und spiegeln die wichtigen Diskurse der Zeit. Gleims umfangreiche Bibliothek war schon unter den Zeitgenossen berühmt und ihr Besitzer dafür bekannt, dass er die Entwicklungen des literarischen Marktes aufs Genaueste verfolgte. Zahlreiche Korrespondenzen bestätigen dies: Am 18. September 1778 fragt z. B. Eschenburg Gleim nach dem wahren Namen Filidor des Dorferers und vermutet Hinweise in dessen Bibliothek.8 Am 25. Mai 1798 fragt Böttiger nach Schriften über die Englische Schaubühne in Gleims Bibliothek.9 Und Krebel verweist in seinem populären Führer für Europäische Reisen unter dem Stichwort ‚Halberstadt‘ auf einem Besuch bei Gleim: Für Gelehrte sind die Barfuesser= und Dominikaner=Bibliotheken, ingleichen der Regierungs=Rath Lichtwer, der Canonicus Jacobi, und Dom=Secretär Gleim vorzüglich anzumerken […]10
Der exakte Bestand der Bibliothek zu Gleims Lebzeiten ist heute schwer zu rekonstruieren, denn ein Katalog von Gleims Hand oder eine vollständige Erwerbungsliste liegen nicht vor. Es existieren drei nach Gleims Tod entstandene handschriftliche Kataloge sowie ein moderner alphabetisch geordneter Verfasserkatalog, der allerdings den heutigen, veränderten Bestand dokumentiert. Die überlieferten historischen Kataloge sind: (1) ein Auktionskatalog: Verzeichniß eines Theils der Kupferstich- und Bücher-Sammlung Johann Wilhelm Ludewig Gleim’s (1804)11 (2) ein „Wissenschaftlich geordnetes Verzeichnis der Gleim’schen Familien-Bibliothek“ (1846)12
_____________ 7 8 9 10
11 12
Vgl. Schön, Erich, „Geschichte des Lesens“, in: Bodo Franzmann u. a. (Hrsg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 1-85. Vgl. Gleimhaus Hs. A 595. Vgl. Gleimhaus Hs. A 374. Krebel, Gottlob Friedrich, Die vornehmsten Europäischen Reisen, wie solche durch Deutschland, die Schweitz, die Niederlande, England, Frankreich, Italien, Daennemark, Schweden, Hungarn, Polen, Preußen und Rußland, auf eine nützliche und bequeme Weise anzustellen sind, mit Anweisung der gewöhnlichen Post= und Reise=Routen, der merkwuerdigsten Oerter, deren Sehenswuerdigkeiten, besten Logis, gangbarsten Muenz=Sorten, Reisekosten u. auch einer neuen Sammlung von Post= und Bothen=Charten, Post=Verordnungen, Post=Taxen, Hamburg 1775, S. 82f. [Eintrag Halberstadt], hier S. 83. Verzeichnis eines Theils […] welcher den 22sten October d. J. und folgende Tage, in den gewöhnlichen Nachmittagsstunden, im sogenannten großen Juden-Hause öffentlich versteigert werden soll, nebst einigen Anhängen, Halberstadt 1804, ND Leipzig 1987. Gleimhaus, ohne Sign.
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Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Bibliothek
(3) ein „Inventarium zum Canonicus-Gleim’schen Nachlasse gehörigen Buecher, Handschriften, Gemälde und Kupferstiche“ (1865)13 Bibliothekarische Aufzeichnungen aus dem 19. Jahrhundert lassen darauf schließen, dass es außerdem einen „sehr alten Handkatalog[]“, gegeben haben muss.14 Dieser ist verschollen, und es ist nicht bekannt, ob er von Gleim selbst stammte. Ich stelle den Bestand anhand des ältesten vorhandenen Gesamtkatalogs, dem „Wissenschaftlichen Verzeichnis“, vor. Im Handbuch der Historischen Buchbestände ist dieser Katalog unter der Jahreszahl 1866 noch als der jüngste historische Katalog angegeben.15 Meine Recherchen haben aber ergeben, dass es sich ganz im Gegenteil um das älteste Verzeichnis handelt, das lediglich im Jahr 1866 verbessert und neu gebunden wurde.16 Die Bibliothek ist in diesem Katalog nach den einzelnen historischen Disziplinen eingeteilt. Innerhalb der Gruppen sind die Bücher nach Formaten geordnet. Die Titel wurden nicht alphabetisch geordnet aufgenommen, aber mehrere Werke eines Autors stehen meist beisammen. Die bibliografischen Angaben erfolgen üblicherweise in der Ordnung: Titel, Autor, Bandanzahl, Verlagsort, Erscheinungsjahr, Einband. Die Auszählung des Katalogbestandes ergibt folgende Zusammensetzung der Bibliothek (die Einteilung nach Disziplinen entspricht dem Katalog):
_____________ 13 14
15
16
Gleimhaus, ohne Sign. Vgl. die Akten des Königlichen Provinzial-Schul-Collegiums Magdeburg, Stadtarchiv Halberstadt, Magistrat, Sign. 1.29.001, Nr. 265-278, hier Nr. 269, S. 136. Diese Unterlagen aus dem Stadtarchiv Halberstadt waren bisher nicht erschlossen. Die Akten dokumentieren eine Auseinandersetzung um verloren gegangene Bücher zwischen zwei Bibliothekaren, die in den Jahren von 1846–1859 bzw. 1859–1862 die Aufsicht über die Gleimbibliothek hatten. Vgl. Loose, Annegret, „Bibliothek des Gleim-Hauses“, in: Friedhilde Krause (Hrsg.), Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Sachsen-Anhalt, Hildesheim 2000, S. 28-31, hier S. 29 u. 31 (Handbuch der historischen Buchbestände, Bernhard Fabian (Hrsg.), 22). Diese fälschliche Annahme resultiert aus den handschriftlichen Vermerk auf dem Einband: „revidiert im Frühling 1866“. Nachweisbar ist dies – abgesehen von äußeren Merkmalen wie verschiedenen Tinten und unterschiedlichen Papiersorten von Einband und Manuskript – anhand einer handschriftlichen Mitteilung auf der zweiten Seite des Katalogs selbst, die eindeutig älteren Datums ist: „Dieser Katalog ist mir von dem Gymnasialdirector Schmidt hierselbst mittelst Schreibens vom 16/Mai d. J. […] ausgehändigt worden. Halberstdt. 27. Juli. 1861. W Kaisenberg I Director.“ Die Akten des „Königlichen Provinzial-Schul-Collegiums Magdeburg“ bestätigen den Befund: Die Bibliothekare benutzen in diesen Akten Signaturen eines Kataloges, den sie als das „Körtesche Wissenschaftliche Verzeichnis“ benennen. Sowohl die Seitenzahlen, die Signaturen als auch die Titelangaben sind identisch mit denen des überlieferten „Wissenschaftlichen Verzeichnis“. Es handelt sich demnach um den „noch bei Lebzeiten des Dr. Körte im Jahre 1845 aufgenommenen wissenschaftlichen Catalog“. (Akten des Königlichen Provinzial-Schul-Collegiums Magdeburg, Nr. 269, S. 136.)
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Bde.
%
Deutsche Literatur
1301
14,32
Biografien
431
4,74
Journalistik u. Bibliografie
1134
12,48
Geschichte
905
9,96
Geschichtl. Hilfswissenschaften
149
1,64
Geografie u. Reisebeschreibungen
493
5,40
Theologie, Religionsgeschichte
173
1,90
Kirchengeschichte
88
0,97
Philosophie u. Pädagogik
349
3,84
Ästhetik u. Literaturgeschichte
537
5,91
Antiquitäten, Kunst, Archäologie, Mythologie
195
2,15
Sprachwissenschaft
53
0,58
Griech. Schriftsteller
293
3,22
Latein. Schriftsteller
352
3,87
Neuere Lateiner
235
2,59
Französische Literatur
1324
14,58
Englische Literatur
361
3,97
Italienische Literatur
295
3,25
225
2,47
Rechtswissenschaft
29
0,32
Vermischte Schriften
50
0,55
Naturwissenschaften, Medizin, Mathematik, Astronomie
110 Stück im Anhang ∑ 9082
Gleim sammelte vor allem deutsche (14,32%) und französische (14,58%) zeitgenössische Literatur. Journalistische Publikationen (Periodika, Wochenschriften, Zeitungen und Journale), also die Medien der Aufklärung in Deutschland, machten 12,48% seiner Bibliothek aus. Der vierte Schwerpunkt liegt auf der Geschichte (11,6%), es handelt sich vor allem um politische Schriften zu Friedrich II. und Preußen sowie zur Französischen Revolution (meist anonyme Veröffentlichungen, Flugschriften). Allein diese vier Bereiche machen bereits 53% der Bibliothek aus.
216
Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Bibliothek
Typisch ist auch der relativ hohe Anteil an ästhetischen, literaturgeschichtlichen und biografischen Werken, an Reiseliteratur und an griechischen und lateinischen Ausgaben: Auffallend ist hier der hohe Anteil an anakreontischer Literatur. Werke anderer Sprachen, theologische, mathematische, medizinische und naturwissenschaftliche Bände komplettierten die Bibliothek. Auch Bücher des 16. und des 17. Jahrhunderts und sogar 13 Inkunabeln finden sich in seiner Bibliothek. Der geringe Anteil an Rechtsliteratur (mit 0,32% die kleinste Abteilung) verweist m. E. darauf, dass Gleim am Dom eine Arbeitsbibliothek besaß oder die Dombibliothek benutzte. Die Bibliothek umfasste zu Gleims Tod ungefähr 10.000 Bücher.17 Rechnet man die Bestandszahlen des Kataloges zusammen, entsteht eine Diskrepanz von ca. 1000 Büchern. Wohin waren diese Bücher verschwunden? Erstens: Gleim verlieh sehr viele Bücher.18 Ein professionelles Leihsystem, dass die Bibliothek vor Verlusten bewahrte, wurde erst mit der Gründung des Gleimmuseums 1862 eingeführt. Der Hauptgrund für die Diskrepanz ist jedoch in der Auktion von 1804 zu sehen, von der ein Auktionskatalog überliefert ist.19 In seinem Testament vom 20. September 1782 legte Gleim fest: Meine Bücher sollen beisammen bleiben, bis auf die großen Werke, die Romane, die vielfachen Ausgaben der verschiedenen Schriftsteller, und die nicht vollständigen Werke. [...] Die ausgesonderten Bücher sollen verkauft, und das Capital dafür zum Nachlaßcapital geschlagen werden.20
Gemäß dieser Anweisung wurde ab dem 22. Oktober 1804, knapp anderthalb Jahre nach Gleims Tod ein Teil seiner Bibliothek veräußert.21 Im Katalog sind an gebundenen und ungebundenen Büchern 3482 Nummern verzeichnet, davon sind 39 Nummern Werke von Gleim. Vor allem Dubletten, unvollständige Reihen und zahlreiche Einzelbände wurden angeboten. Da es sich bei dem überlieferten Exemplar nicht um das
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18
19 20 21
Vgl. Pott, Ute, „Aus dem Geist der Freundschaft: Ein Literaturarchiv für die Nachwelt. Johann Wilhelm Ludwig Gleim als Sammler“, in: dies. (Hrsg.), Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen, Göttingen 2004 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt, 3), S. 61-70, hier S. 63. Vgl. die Anzeige des Nachlassverwalters Wilhelm Körte in: Gemeinnützige Unterhaltungen für 1804. Eine Wochenschrift zum Besten der Armen. Herausgegeben von der Literarischen Gesellschaft Halberstadt, Halberstadt 1804, 16. St., 21.4.1804, S. 256.: „Literarische Bitte. Alle die, welche aus der Bibliothek des seel. Kanonikus Gleim noch das eine oder andere Buch in Händen haben, ersuche ich, da die Vollendung des Inventariums darauf beruht, um deren baldige gefällige Ablieferung.“ Bei dem „Inventarium“ könnte es sich im Übrigen um den oben erwähnten, nicht erhaltenen „sehr alten Handkataloge“ handeln. Vgl. Verzeichnis eines Theils […]. Vgl. ebd. Körte, Johann Wilhelm Ludwig Gleims Leben, S. 468. Vgl. den Titel des Kataloges: Verzeichnis eines Theils […].
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Handexemplar des Auktionators handelt, kann nicht exakt nachvollzogen werden, welche Bücher wirklich verkauft wurden oder welche evtl. später abhanden gekommen sind.22 Ein Abgleich aller angebotenen Titel des Auktionskataloges mit dem heutigen Bestand gehört zudem zu den vielen Forschungsdesiderata. Eine von mir diesbezüglich durchgeführte Stichprobe ergibt folgenden Befund (Verluste kursiv)23: Deutsche Literatur *Goethe [Goethe, Johann Wolfgang von,] Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel, [Frankfurt] 1773. [Goethe, Johann Wolfgang von,] Clavigo. Ein Trauerspiel, Leipzig 1774. [Goethe, Johann Wolfgang von,] Die Leiden des jungen Werthers, T. I.2, Frankfurt, Leipzig 1775. [das Exemplar wurde vom Gleimhaus später wieder zurückgekauft] *Klopstock Klopstock, Friedrich Gottlieb, Oden, Tl. 1.2, Leipzig 1798. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Werke. Prachtausgabe, 7 Bde., Leipzig 1798–1809. *Lessing [Lessing, Gotthold Ephraim,] Kleinigkeiten, Frankfurt, Leipzig [Stuttgart] 1751. Lessing, Gotthold Ephraim, Hamburgische Dramaturgie, Tl. I.2, Hamburg [1767–1769]. Lessing, Gotthold Ephraim, Emila Galotti. Ein Trauerspiel, Berlin 1772. Lessing, Gotthold Ephraim, Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek, Tl I, Braunschweig 1773. *Mendelssohn Mendelssohn, Moses, Phaedon oder Über die Unsterblichkeit der Seele. In drey Gesprächen. M.Titelkupfern, Berlin, Stettin 1767.
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Vgl. zum Katalog auch das Nachwort von Reinhard Selz im Nachdruck (Verzeichnis eines Theils […], S. I-XXIII), sowie ders., „Bemerkungen zu den Auktionskatalogen der Büchersammlungen von Gotthold Ephraim Lessing und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Teil 2. Johann Wilhelm Ludwig Gleim“, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie, 1985, S. 22-55. Ein herzliches Dankeschön für die Unterstützung geht an die Bibliothekarin der Gleimbibliothek, Anne Loose.
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Mendelssohn, Moses, Dissertation qui a remporté le prix proposé par l’academie royale des sciences et belles lettres de Prusse, sur la nature, les espèces, et lesdegrés de l’évidence avec les piéces qui ont concorru. Part I-20, Berlin 1764. *Nicolai [Nicolai, Christoph Friedrich,] Ein paar Worte, betreffend Johann Bunkel und Christoph Martin Wieland, Berlin, Stettin 1779. Nicolai, Christoph Friedrich, Beschreibung der kgl. Residenzstädte Berlin und Potsdam. M. 2 Karten,. Berlin 1769. *Uz Uz, Johann Peter, Lyrische und andere Gedichte, 3. Aufl., Leipzig 1756. [Uz, Johann Peter,] Versuch über die Kunst stets fröhlich zu sein, Leipzig 1760. *Wieland [Wieland, Christoph Martin,] Die Grazien. M. gestoch. Tit., 6 Kupfern, I Kopfstück u. 7 Schlußstücken, Leipzig 1770. [Autorenexemplar] [Wieland, Christoph Martin,] Die Dialogen des Diogenes von Sinope, Leipzig 1770. [Autorenexemplar] [Wieland, Christoph Martin,] Agathon, 4 Bde., Leipzig 1773. [Autorenexemplar] Französische Literatur im Original oder in Übersetzung *Rousseau [Rousseau, Jean-Jaques,] Die neue Heloise, oder Briefe zweyer Liebenden... Aus dem Französischen übersetzt [v. J. G. Gellius]. M. 12 Kupfern, 6 Bde., Leipzig 1761–1766. Rousseau, Jean Jaques, Le Confessions, T.I.2, Genf 1782. *Voltaire Voltaire, François Marie Arouet de, Dictionnaire philosophique, London 1764. Nr. 1672 Voltaire[, François Marie Arouet de], Œuvres. Nouv. ed., 4 Bde., Amsterdam 1738–1739. [ca. 40 Ausgaben von Voltaire werden angeboten, nach Gleims eigenen Schriften der am häufigsten genannte Autor des Versteigerungskataloges]
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Italienische Literatur im Original oder in Übersetzung Goldoni, Carlo, Opere dramatiche, 4 Bde., Turin 1757. Boccaccio, Giovanni di, Il Decamerone, T.I.2, Amsterdam 1679. [Ausgaben von 1587 und 1727 sind in der Bibliothek vorhanden] Tasso, Torquato, Das befreyte Jerusalem. [Deutsch von Johann Jakob Wilhelm Heinse], Bd. I.2, Zürich 1782. [Autorenexemplar] Englische Literatur im Original oder in Übersetzung Shakespeare, William, Theatralische Werke. Aus dem Englischen [v. Chr. M. Wieland], 8 Bde., Zürich 1762–1766. Shakespeare, William, Schauspiele. [Dt. v.] J. J. Eschenburg. Neue verb. Aufl., 24 Bde., Mannheim 1778–1780.
Die Stichprobe zeigt, dass wichtige und für heutige Maßstäbe seltene Werke aus Gleims Sammlung zum Verkauf gestellt wurden.24 Die Auktion verlief jedoch – glücklicherweise aus heutiger Sicht – äußerst schleppend, wie eine Anzeige in den Gemeinnützigen Unterhaltungen Halberstadts verdeutlicht, in der die Bücher erneut, und zwar als „Makulatur“ und zum „Zimmerauskleben“ angeboten werden.25 Zu den bedauerlichen Verlusten gehören Erstausgaben von Lessing, Goethe u. a. Ob die Auktion von 1804 Gleims Zustimmung erhalten hätte, ist angesichts der angebotenen Erstveröffentlichungen und Widmungsexemplare mehr als fraglich. Der dritte überlieferte Katalog schließlich, das „Inventarium“, vermittelt vermutlich einen Eindruck der historischen Aufstellung der Gleimbibliothek. Denn der Verfasser des Inventariums weist daraufhin, dass die neue Zählung in diesem Katalog dem des „älteren Haupt-Catalogs“ entspräche.26 Das Inventarium ordnet die Bücher nach Formaten. Innerhalb der Formate sind Gruppierungen zu erkennen, die allerdings nicht konsequent durchgehalten werden. So gibt es z. B. eine Abteilung Reiseliteratur, Philosophische und Pädagogische Werke bilden eine Gruppe, die antiken Autoren und die dichterischen Werke seiner zeitgenössischen Freunde stehen beisammen. Auch der Auktionskatalog von 1804 entspricht dieser Ordnung, so dass davon auszugehen ist, dass Gleim die Bibliothek nicht wie im „Wissenschaftlichen Verzeichnis“ systematisch nach Disziplinen ordnete,
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Vgl. auch Verzeichnis eines Theils […], S. 29. Gemeinnützige Unterhaltungen für 1804. Eine Wochenschrift zum Besten der Armen. Herausgegeben von der Literarischen Gesellschaft Halberstadt, Halberstadt 1804, 44. Stück, 3. 11. 1804, S. 288. Vgl. die vierte Seite des Inventariums, unpaginiert.
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sondern, den Ordnungskriterien der frühneuzeitlichen Bibliothek entsprechend, nach Formaten und Fakultäten. Die Gleim’sche Bibliothek ist von der Wissenschaft bislang kaum beachtet worden. Zur Erforschung der Formierung des Wissens im 18. Jahrhundert könnte sie so manchen Beitrag leisten. Wichtigste Voraussetzung dafür ist jedoch die Aufnahme in einen Verbundkatalog der Bibliotheken, die es erst ermöglichen wird, die Bestände der Forschung und einer breiten Öffentlichkeit leicht zugänglich zu machen.27
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Ab dem 1. Januar 2009 wird die Gleim'sche Bibliothek über den GBV zugänglich sein.
Der freie und gelehrte Schriftsteller Johann Gottwerth Müller und seine enzyklopädische Privatbibliothek Alexander Ritter
1. Vorbemerkung Es gebe „zwo glückliche Stunden des Tages; eine, des Morgens, wenn ich aufstehe, in meiner Bibliothek, die andere des Mittags im Cirkel der Meinigen“.1 Was für die 1790er Jahre so konstatiert wird, wiederholt ein Hinweis vier Dezennien später: die Tochter Minna und eine „sehr reiche Bibliothek [seien] die beiden Krücken“ des Alters.2 Diese autobiografischen Einschätzungen des spätaufklärerischen Erfolgsschriftstellers Johann Gottwerth Müller (1743–1828) komplementiert die Außensicht Georg Christoph Lichtenbergs3, wenn er ihm 1794 attestiert, er „trage[n] in dem kleinen Itzehoe ein gantzes London“ in seinem „Kopf“.4 Den Äußerungen lassen sich drei Bedingungen entnehmen, die für Müller signifikant sind. Der Schriftsteller verkörpert den Übergangstypus des bürgerlichen Autors zwischen dem des „beamteten und ständischgelehrten Literaten und des ‚freien‘ Schriftstellers […]“.5 Er ist kein Wissenschaftler, sondern gelehrter Buchsammler, der das Konzept einer universalwissenschaftlichen Gelehrtenbibliothek mit dem einer aufklärerisch-pragmatischen, schöngeistigen Bibliothek verbindet. Beide Umstände zusammen kennzeichnen ihn als einen Vertreter, der die kritische Vernunft mit der
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Müller an Nicolai (26.6.1790), in: Antoine, Annette, Literarische Unternehmungen der Spätaufklärung. Der Verleger Friedrich Nicolai, die ‚Straußfedern’ und ihre Autoren, Teil 2: Die Korrespondenz von Johann Gottwerth Müller (1743–1828) und Friedrich Nicolai (1733–1811), Würzburg 2001, S. 43 (Hervorhebungen im Original). Müller an seinen Sohn Georg (11.10.1826), in: Schröder, H[ans], Johann Gottwerth Müller. Verfasser des Siegfried von Lindenberg nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt, Itzehoe 1843, S. 45. Ritter, Alexander, „Johann Gottwerth Müller (gen. von Müller Itzehoe, 1743–1828), Bibliographie der Werke, Korrespondenz und Forschungsliteratur (Stand 2004)“, in: Lichtenberg-Jahrbuch, 2004, S. 221-237. Lichtenberg an Müller (16.7.1794), in: Schröder, Johann Gottwerth Müller, S. 120. Kiesel, Helmuth / Münch, Paul, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland, München 1977, S. 81.
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praktischen Urteilskraft in seiner Auffassung von der wirklichkeitsnahen Bürgeraufklärung verbindet. Dieser Zusammenhang lässt sich anhand des kleinoktavigen Auktionskataloges von 1829 (Auflage ca. 3–400 Exemplare) mit seinen 36 Bogen holzhaltigen Papiers, 595 Seiten, 12.119 Titelnummern und über 13.300 aufgeführten Bänden erläutern.6 Zur rekonstruierenden Analyse von Dokument und Bibliothek, die zu den rund 3% privaten mit über zehntausend Bänden im norddeutschen Raum zählt7, werden Besitzerbiografie, Literaturauswahl, Akquisitionsorganisation und Verwendungszweck und herangezogen. 2. Die Voraussetzungen Entstehung und Organisation von Privatbibliotheken sind besonders im aufklärerischen 18. Jahrhundert eine Funktion von individuellen Existenzkonzepten und Nutzungsabsichten. Müllers Buchsammlung nimmt einen zentralen Platz in seinem Lebensentwurfs ein, mit dem er versucht, die Prinzipien einer freien Schriftstellerexistenz unter den sozio-politischen Bedingungen der aufgeklärt-patriarchalisch geführten Ständegesellschaft im absolutistischen Dänischen Gesamtstaat und eines kommerzialisierten Literaturmarktes zu realisieren. Das Buch ist ihm dabei Mittel der aufklärerischen Botschaft zur Beförderung von Öffentlichkeit, der Orientierung am Wissen der Welt und Objekt seines Sozialstatus‘. Seine Biografie liefert dafür die Voraussetzungen. Sozialisiert im aufklärerischen Milieu Hamburger Intellektuellenkreise, gymnasial, polyglott und republikanisch erzogen, ist der Mediziner ohne Examen und therapeutischer Berufserfahrung an den Umgang mit Bibliotheken gewöhnt. Die verlagsbuchhändlerische und literarische Praxis in Magdeburg (1770f.)
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Verzeichniß der von dem Herrn Dr. Ph. Joh. Gottw. Müller in Itzehoe hinterlassenen Bibliothek, welche, über 12.000 Bände stark, und viele Seltenheiten aus allen Fächern des Wissens, besonders aber aus der Deutschen, der Klassischen und der Französischen Litteratur, wie aus der Litterar=Geschichte, enthaltend, den 31. August 1829 und folg. Tage in der Wohnung des Verstorbenen, der Bekstraße zu Itzehoe, öffentlich versteigert werden soll, Itzehoe 1829. Vgl. dazu die Beiträge von Kopitzsch, Franklin, „Von einem ‚nimmersatten‘ Büchervielfraß und seiner Bibliothek. …“, und von Knabe, Peter-Eckhard, „Die Welt im Bücherschrank. …“, in: Alexander Ritter (Hrsg.), Freier Schriftsteller in der europäischen Aufklärung. Johann Gottwerth Müller von Itzehoe, Heide 1986, S. 159-168 u. 169-181; Ritter, Alexander, „Medizinale Fachliteratur in der Aufklärer-Bibliothek des 18. Jahrhunderts. Zum Buchbestand des medizinisch gelehrten ‚freien Schriftstellers‘ Johann Gottwerth Müller (1743–1828)“, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, 23/2004, S. 69-104. Engelsing, Rolf, Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland (1500–1800), Stuttgart 1974, S. 79-100, 163-181.
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vermitteln ihm zusätzlich Einsichten in die Interdependenz von Buch, Leserverhalten, Aufklärung und Geschäft. Mit dem Umzug 1773 in die holsteinische Kleinstadt Itzehoe (ca. 3700 E.) ist die Entscheidung verbunden, von nun an das Leben eines freien Literaten und Aufklärers zu führen. Aus dieser existenziellen Umorientierung resultieren die maßgeblichen Umstände für den Aufbau einer enzyklopädischen Bibliothek. Es sind fünf Faktoren, die ihn stimulieren: der Unabhängigkeitsanspruch als „freygebohrner Hamburger“ und gebildeter Aufklärer gegenüber der Gesellschaft, den Verlegern, Mäzenen und der ‚Gelehrtenrepublik‘8; die Isolierung in der infrastrukturellen Distanz zu Politik- und Bildungszentren, deutschen Buchhandel wie Literaturmarkt9; sein 35jähriges Verfassen von dreizehn Romanen mit rund 16.400 Druckseiten, für die literarhistorische und stoffliche Orientierung erforderlich sind; die Aktivität als Verlagsbuchhändler, Leihbibliothekar und Lesegesellschaftsleiter, die einen Bücherfundus voraussetzen; das Medizinerinteresse und die selbsttherapeutische Versorgung chronischer Erkrankungen.10 Obwohl seit Ende der 1780er Jahre sein Projekt ‚freier Schriftsteller‘ infolge poetologischer Veränderungen (pragmatischer Aufklärungsroman), ökonomischer (Absatzprobleme) und gesundheitlicher aus der Balance gerät, bleibt die Bibliothek der archimedischen Punkt seines Lebens. 3. Die Bibliothek: Erwerb und Entwicklung Es ist das Bild vom geistig entbehrungsreichen Leben „in dieser literarischen Wüste“11 ohne „Bibliotheken noch Buchhandlung“12, welche die skizzierten Voraussetzungen metaphorisch verdichtet. Und es ist der Impetus, fürs intellektuelle Überleben eine ihn auch materiell umgebende Buchwelt zu schaffen. Ich bin hier, sagt Müller 1815, „präcise der Einzige,
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Müller an Dieterich (30.11.1789), in: Ritter, Alexander, „‚[…] ich bin freygebohrener Hamburger, und lasse meine Freyheit durch nichts unter der Sonne beschränken‘. Geschäftsbriefe des ‚freien Schriftstellers‘ Johann Gottwerth Müller (gen. von Itzehoe) an seinen Verleger Johann Christian Dieterich (Göttingen) zwischen 1788 und 1791“, in: Lichtenberg-Jahrbuch, 2005, S. 168-208, hier S. 184. Ritter, Alexander, „Integrationsanspruch und Differenz. Dichotome Strukturen der literarischen Adels- und Bürgerkultur im gesamtstaatlichen Schleswig-Holstein des 18. Jahrhunderts und des Forschungsganges“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 25/2001, S. 221-230. Ritter, Alexander, „‚Hämorrhiadalkolik‘, ‚Stahl’s gewaltige Pillen‘ und ‚Menschenflicker‘. Johann Gottwerth Müller. Der medizinalkritische Aufklärungsliterat und sein Patientenleiden in Bibliothek, Brief und Buch“, in: Martin Dinges/Vincent Barras (Hrsg.), Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum, Stuttgart 2007, S. 185-196. Müller an Friedrich Vieweg (21.2.1791, unveröffentlicht). Müller an Schwormstädt (2.4.1815). Die Briefe an J. H. Schwormstädt (Hamburg) sind überwiegend unveröffentlicht.
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Johann Gottwerth Müller und seine enzyklopädische Privatbibliothek
der im eigentlichen Sinne eine Bibliothek, das heißt eine Büchersammlung die sich über alle Fächer erstreckt, zusammen zu bringen sucht“.13 Entsprechend universalthematisch steuert er sein Akquisitionsverhalten mit Akzenten auf antiker Kultur, französischer Belletristik, Theologie, ‚Litterargeschichte/Biographie‘, Bücherkunde, Medizin/Naturkunde. Beim organisatorischen Aufbau der Bibliothek folgt er seiner Kenntnis privater wie öffentlicher Einrichtungen. Zusätzlich orientiert er sich an Handreichungen zur Bibliothekseinrichtung, u. a. an Johann Christoph Stockhausen: Kritischer Entwurf einer auserlesenen Bibliothek […] (1764) und Immanuel Vertraugott Rothe: Die Kunst, sich eine Bibliothek zu sammeln […] (1798). Müllers Aufträge an den Hamburger Kommissionär Schwormstädt bezeugen, dass er über den Buchmarkt in Dänemark, Deutschland, Frankreich, Holland und Spanien, die internationale Auktionsszene und die Marktpreise informiert ist. Sein Wissen gewinnt er aus Periodika, Lexika, Katalogen von Verlagen, Auktionen, Bibliotheken, der Leipziger Buchmesse, aus Gelehrten-, Länder- und Stadtgeschichten usw., die auch Anschaffungsobjekte sind. Die Besorgung von Büchern ist kein logistisches Problem. Er kauft auf regionalen Auktionen ein, führt als Kommissionär solche durch und nutzt sie zum Bucherwerb. So ersteht er auf einer Auktion von rund 6000 Büchern für 56 Aufträge über fast 2000 Bände insgesamt 731 Exemplare, dazu 256 für sich selbst.14 Ergänzend organisiert er ein System postalisch vernetzter Bezugsstellen. Zu diesen zählen seine Verleger Dieterich in Göttingen und Nicolai in Berlin, J. H. Schwormstädt (1814–1817) als Mittelsmann für die Auktionsszene im Hamburger Raum, Kommissionäre in Kopenhagen und Paris. Über einen Agenten hält er Kontakt zur Leipziger Buchmesse. Die berufliche Umorientierung, ein freier Schriftsteller zu werden, führt zur Umorientierung des Bücherinteresses. Der ‚unnütze‘ „Plunder“, der aus der Studienzeit stammende „juristische, medicinische, pharmaceutische und kritische Kram“, wird während seiner Zeit in Helmstedt bis auf „ein wenig Logik, […] Physik, […] Naturkunde“‚ worauf’ er „ein Pretium Affektionis“ hat, veräußert.15 Diesen Grundbestand erweitert er zwischen 1773 und 1790 auf „5 bis 6000 Bücher“16, bis 1814 auf „über 7.000 Bände“17, von
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Ebd. vom 6.7.1815 (Hervorhebungen im Original). Beispiel eines Auktionseinkaufs (Müller an Schwormstädt, 5.10.1818): Müller ersteht aus dem Angebot von rund 6000 Büchern als Kommissionär für 56 Aufträge (rd. 2000 Bände) 731 Exemplare und 256 für sich selbst. Gewinnkalkulation: 8 ß/Buch. Schröder, Johann Gottwerth Müller, S. 53; Müller, Johann Gottwerth, Der Ring. Eine komische Geschichte, Itzehoe, Hamburg 1777, S. XIVf. Müller an Nicolai (26.6.1790), in: Antoine, Literarische Unternehmungen, S. 43.
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1815 bis 1817 auf rund 8000 Bände18, in den folgenden elf Jahren um rund 5500 weitere, d. h. im Jahresdurchschnitt um ca. 240 Exemplare. Buchmenge und Anschaffungstempo führen zu einem exzessiven Finanzaufwand. Die Kosten für eine Familie von zeitweise elf Personen, Geldentwertung in Dänemark, Porto- wie Buchbinderausgaben und Buchankäufe vermag Müller nur mühsam durch sinkende Honorare, den Gewinn aus über hundert Kommissionärsaktionen auf Auktionen, die Kopenhagener Pension von 200 Rtlr. (1796) bzw. 400 Rtlr. (1803) und Schuldenaufnahme auszutarieren.19 Legt man – nach Müllers Kalkulationshinweisen20 – einen langfristigen Buchpreis von mehr als einem Taler zu Grunde, Inflation und Marktwert antiquarischer Bücher nicht einrechnen könnend, dann hat er insgesamt um 15.000 Taler aufgebracht.21 Das ist ein beachtliches Vermögen, das zu Lasten der täglichen Lebensqualität gegangen ist: „Ich habe diese 6 oder 8 Jahre her manchem Bedürfnisse entsagt, […], und noch jetzt trage ich oft ein Kleid ein Jahr länger, um ein Buch mehr kaufen zu können.“22 Die Tochter Minna verfügt nach des Vaters Ableben am 23. Juni 1828 die Veräußerung der Bibliothek. Bestandserfassung, organisiert vom Literaturhistoriker und Freund Hans Schröder, und Katalogdruck dauern sechs Monate.23 Die dreiwöchige Verauktionierung vom 31. August 1829 an in Müllers Wohnung erbringt etwas mehr als 5000 Mark, ungefähr 1400 Taler, weniger als ein Zehntel der Investitionen, den Sammlerwert von seltenen Drucken und Editionen verfehlend.24 Die Kommerzialisierung des Literaturmarktes, Billigausgaben aus den ‚Übersetzungsfabriken‘, spekulative Überproduktion, extensives Leseverhalten und Geschmackswandels, wissenschaftlicher Fortschritt führen um 1800 dazu, dass große Biblio-
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Müller an Schwormstädt (1.12.1814). Ebd. (30.7.1815). Ebd. (28.9.1818). Vgl. Müller, Johann Gottwerth, Emmerich. Eine komische Geschichte […], 8 Teile, Göttingen 1786–1789, S. 27, 65, 79-84. Überschlagsweise Ausgabenkalkulation für Buchanschaffungen: 1773–1790 (17 Jahre): 1790: 5 bis 6000 Bücher (Stand 1790) = 7–8000 Taler = rund 470 Taler/Jahr; 1791–1828 (38 Jahre): 13.000 Bücher (Stand 1828) = 7000 Taler = 185 Bücher/Jahr = 185 Taler/Jahr. Müller an Nicolai 26.6.1790, in: Antoine, Literarische Unternehmungen, S. 43. November 1828: Katalogisierung; 1.4.1829: Datierung des Vorworts; April 1829: Publikation, Versand, Werbung; ab 31.8.1829: Auktion. Auftragsannahme: in Itzehoe Pastor Vietheer, Candidat Schröder, Goldarbeiter Müller (Sohn), Buchdrucker Schönfeldt, Buchbinder v. Ancken, Gerichtsdiener Kaßler; in Hamburg Schwormstädt. Währungen: SchleswigerHolsteinischer/Hamburger Courant. Auktionsverlauf: geringer Direktverkauf bei niedrigem Erlös; von Hamburger Bibliotheken erworbene Bestände werden durch den Brand von 1943 vernichtet. Verkaufswert von Bibliotheklen vgl. Engelsing, Der Bürger als Leser, S. 174-178.
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theken kaum noch gelehrte Buchkenner als Käufer finden und im Preis verfallen. 4. Die Bibliothek: Bestand und exemplarische Deutung Der Katalog vermittelt einen Schlusszustand. Dieser sagt nichts über den Entstehungsprozess, über Ankauf, Verschenken, Verleihen, Verluste, Lesenutzung (* Annotationen) aus. Auch sind Erwerbsweg, Ankaufsdatum, Verwendungswert und Besitzdauer nicht rekonstruierbar. Die Ausdeutung wird durch die dilettantische Organisation erschwert, denn Müllers Bücherkosmos – aufgestapelt, in Kartons verpackt, verteilt auf mehrere Räume – überfordert die Sortierer intellektuell, organisatorisch und zeitlich. Das führt zu fehlerhafter Titelerfassung, thematisch verstreuter Zuordnung, falscher Bandmengenzählung von Gesamtausgaben wie beigebundenen Schriften. Die systematisierte Übersicht in 17 Sektionen ist zwar thematisch, aber weder alphabetisch noch chronologisch sortiert, sondern nach Formaten geordnet und nach Bandmengen durchgezählt. Der Buchbestand umfasst den Publikationszeitraum vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, mit dem Schwerpunkt im achtzehnten, mehrheitlich in deutscher und französischer Sprache. Er dokumentiert den Diskurs der philosophischen, theologischen, politischen, anthropologischen, ästhetischliterartheoretischen und naturwissenschaftlichen Theoriebildung, einschließlich ihrer Kontroversen von Aufklärung, theologischer Orthodoxie (Lessing, Bahrdt, Goeze etc.) und Judentum, Reflexionen und Analysen zur Staats- und Gesellschaftsentwicklung, zur Emanzipation, zur Reform von Schule und Krankenversorgung, zur Rolle von Individuum und Staat. Signifikant für Müller und seine Zeit erweisen sich die Titel zur deutschen, französischen und englischen Aufklärungsphilosophie. So sind fast sämtliche Exponenten und Popularisierer der Philosophie- und Naturgeschichte verzeichnet, darunter die Vertreter rationalistisch-empiristischer Positionen wie Locke, Hobbes, Montaigne u. a. Zusätzlich berücksichtigt er jene Schriften, die der pragmatisierten, pädagogisierten Popularisierung im öffentlichen wie individuellen Interesse des vernünftig-richtigen Handelns dienen. Es interessieren ihn ebenso Publikationen zu komplementären, antirationalistischen Denkansätzen, welche die gefühlskulturellen Eigenschaften des Individuums beachten (Empfindsamkeit, Pietismus, Frühromantik) und irrationale Aspekte wie die von Magie, Seelenwanderung, Wunderheilung, Somnambulismus u. ä. behandeln. Die Schwerpunktsetzung in seinen ‚Lieblingsfächern‘ wie Bücherkunde, Griechische, Römische und Französische Literatur (4654 Bände, mit 35% größter Anteil) weist Müller als eigenwilligen und schöngeistig Interessierten aus, die Bio-
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grafien und geografischen Berichte als historisch denkenden Aufklärer, die populärphilosophischen und unterhaltungsliterarischen Texte als sozial pragmatisch orientierten Literaten. Hinzu kommen die Fachbücher, Publikationen zu wichtigen Realienthemen und zur literarhistorischen Entwicklung im mitteleuropäischen Raum. Zeittypisch umfangreich ist der Zeitschriftenbestand. Er enthält u. a. Jahrgänge vom Teutschen Merkur, Deutschen Museum, Berlinischen Monatsschrift und diverse medizinischen Periodika. An dem Sektionsbeispiel ‚medizinale Literatur‘ lassen sich symptomatisch die Sammlungsprinzipien erläutern. Krankheit ist während der Aufklärung verbreiteter Reflexionsgegenstand in Korrespondenz und Belletristik. Müller begreift als Aufklärer, Literat und Patient das medizinwissenschaftliche Syndrom Gesundheit/Krankheit/Heilkunde als Teil des gesamtwissenschaftlichen Prozesses, auf der geschichtsphilosophisch-literarischen Metaebene als Metapher des politisch-sozialen Gesundheitszustandes von Ständegesellschaft und aufklärerischer Sozialutopie. Als polyglotter Leser (gr., lat., engl., frz., holl.) bevorzugt er Originaleditionen in deutscher, französischer und lateinischer Sprache, Übersetzungen aus dem Englischen, Dänischen sowie Holländischen ins Deutsche und Französische. Die vorrangigen Herkunftsländer Deutschland, Frankreich, England, Holland, Italien und Schweiz verweisen auf den Zusammenhang von Zentren medizinischer Forschung und Verlagen mit medizinalthematischen Programmen. Die Sammlung mit 239 Katalogpositionen und über 280 Bänden Zeitschriften, Handbücher, Lexika, Biografien und populären Handreichungen umschließt einen Zeitraum vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt im achtzehnten (160 Titel/68 %). Der Bestand informiert über den medizinischen Diskurs im Übergang von der humoral- zur solidarpathologischen Gesundheits- bzw. Krankheitskonzeption vom 17. Jahrhundert an und dokumentiert diachron die medizingeschichtliche Entwicklung und synchron den zeitgenössischen Stand der personellen Zusammensetzung, heilkundlichen Entwicklung und Kontroversen, medizinalorganisatorischen Strukturen, sozialmedizinischen wie berufsethischen Neuerungen und aufklärerischen Wissenschafts- und Popularisierungsdiskurs medizinaler Themen. Weil Müllers Einstellung zeittypisch zwischen kritischer Einforderung schulmedizinischer Professionalität und dem Interesse an naturheilkundlichen Konzepten, selbsttherapeutischer Hilfe und staatlicher Heilfürsorge changiert, verzeichnet der Katalog neben dem Bestand wissenschaftlicher Standardwerke die Titel zu aktuellen Kontroversen und medizinalen Innovationen. Dazu zählen u. a. Publikationen zu Ärzteausbildung, Medikamentenkontrolle, Forensik und Sozialmedizin sowie die Kontroversen über biomechanistische versus psychodynamistische Lebensdeutung, die
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damit verbundene physiologisch begründete Sensibilitäts- bzw. Irritabilitätslehre des Nervensystems, über Hypochondrie bzw. Empfindsamkeit und Erregbarkeit, über Magnetismus und Scharlatanerie im weitesten Sinne, diätetische Lebensweise und naturheilkundliche Krankenversorgung. Diese Interessenlage spiegelt die Entdeckung derjenigen komplementären Bedingungen menschlicher Existenz, die die Romantik in Weltanschauung und Literatur als Synthese rationaler und irrationaler Kräfte vollzieht. Der Buchbestand erweist sich zugleich als ein Rezeptionsdokument zeitgenössischer Zirkulation medizinaler Literatur, ein Beitrag zur Geschichte ärztlicher Privatbibliotheken und ein Beleg für Müllers subjektive Wahrnehmung des Medizinaldiskurses. 5. Zusammenfassung Die enzyklopädische Privatbibliothek des Aufklärers Müller beschreibt das intellektuelle Profil ihres Besitzers. Sie dokumentiert ebenfalls als Korpus des Weltwissens das kulturelle Profil seiner aufklärerischen Epoche und ihrer Voraussetzungen. Aus beidem resultiert ihre wissenschaftliche Relevanz. Der Katalog informiert über die Privatbibliothek als Instrument intellektuellen Selbsterhalts des gebildeten Bürgers. Sie ist, zeitlich nachhängend, als Übergangsform zwischen Gelehrtenbibliothek und bürgerlicher Gebrauchsbibliothek symptomatisch für die Epochenschwelle. Mit der damit verbundenen Wendung von der intensiven zur extensiven Erfassung sämtlicher publizierter Erfahrungsbereiche ergibt sich der Anspruch an die Öffnung ihrer Diskurse im Sinne praktizierter Aufklärung.
V. PERIODISCHE FORMEN DES WISSENSCHAFTLICHEN DENKENS, SCHREIBENS UND PUBLIZIERENS Einführung von Jens Häseler Beschleunigung im Bereich von Gewinnung, Austausch und Diskussion von Erkenntnis ist unübersehbar ein Merkmal der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts und gehört damit zur Charakterisierung der „Kulturen des Wissens“. Sie erfasst wichtige Bereiche naturwissenschaftlicher Forschung, von der Mathematik, der Astronomie, der Mechanik bis zur Chemie, der Geologie und der Medizin, aber auch die Auseinandersetzungen um die „philosophischen“ Wissenschaften und ihren Bezug zur Glückseligkeit des Menschen. Äußere Zeichen der Beschleunigung sind die wachsende Zahl von Publikationen, die Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften und die Zunahme an periodischen Publikationen verschiedenster Art. Die institutionellen Formen des Austausches – angefangen bei der häufig an den Messen orientierten Verlagsproduktion, über die regelmäßigen Zusammenkünfte der wissenschaftlichen Gesellschaften bis zu den Periodika – lassen deutlich die Organisation des Austauschs in regelmäßigen zeitlichen Abständen erkennen. Die zeitliche Verdichtung der Wissenszirkulation wird zu einem wichtigen Merkmal aufklärerischer Wissenschaftsentwicklung. Vor diesem Hintergrund scheint es aufschlussreich zu sein, eine quer zu den gewohnten Forschungslinien verlaufende Diskussion in Gang zu setzen, die sich mit den Möglichkeiten, Zwängen und Auswirkungen zunehmend periodischer Darstellung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse im 18. Jahrhundert auseinandersetzt, kurz mit der Frage nach der Beschleunigung und Dynamisierung als Teil der „Kulturen des Wissens“. Hintergrund für die Formulierung dieses Themenfeldes sind zwei Beobachtungen: (1) Das System der Wissenszirkulation durch wissenschaftliche Zeitschriften, das neben den Korrespondenzen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts beherrschend geworden war, unterliegt im 18. Jahrhundert einer wachsenden Spezialisierung und Diversifizierung. Diese ist nicht unbeeinflusst vom Phänomen des Enzyklopädismus und einer sich ausbreitenden
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Kultur der Lexika und Wörterbücher. In einzelnen Fällen kommt es sogar zu einer Konkurrenz zwischen diesen so verschiedenen Publikations- und Darstellungsformen von Wissen. Grundlage ist die Zeitgebundenheit beider Publikationstypen und ihr gemeinsames Ziel, eine nützliche, in der Sache allerdings mehrheitlich sekundäre Aufbereitung neuer Erkenntnisse zu leisten. (2) Der Prozess der Spezialisierung und Diversifizierung von Zeitschriften und die Entwicklung des Enzyklopädismus werden von deutlichen Veränderungen in der Form der Darstellung des Wissens, des Aufbaus, des Stils, der Anordnung und Erschließung der Texte begleitet. Zwischen diesen und dem Bereich des primären wissenschaftlichen und des künstlerischen Schreibens kommt es zu häufigen Konflikten und regelmäßigen Wechselwirkungen. Mit diesen beiden Beobachtungen ist sowohl ein äußerer Aspekt der Entwicklung, Veränderung und Funktionsanpassung von Publikationsund Verbreitungsformen wissenschaftlicher Erkenntnisse angesprochen als auch der eher innere Aspekt der verwendeten Darstellungsformen und Aufbereitungsarten, des Zugänglichmachens der Erkenntnisse. Während die Betonung der äußeren Geschichte von Periodika und enzyklopädischen Wissensspeichern leicht die Gewissheit geordneter Verhältnisse in zwei unterschiedlichen Segmenten des Literatur- bzw. Wissenschaftsmarktes vermittelt, öffnet die zweite, innere Betrachtungsweise den Weg zur vergleichenden Betrachtung eines Universums von Texten, die in der Lektüre ihres Gattungszusammenhangs entkleidet und neu verbunden werden können. Erleichtert wird diese „piratenhafte“ Lektüre durch die in den meisten Textgattungen gleichmäßig weiter wirkenden rhetorischen Traditionen zur Erstellung wissenschaftlicher Texte. Anders gesagt, der zunehmenden Diversifizierung und Spezialisierung in der Form von periodischen oder nichtperiodischen Wissensspeichern folgt erst mit einer gewissen Verzögerung eine grundsätzlich verschiedene, normierte Textgestaltung. Das 18. Jahrhundert erscheint damit als eine Experimentierperiode nicht nur in Bezug auf die enorme Erweiterung der Felder des Wissens, sondern ebenso in der Art und Weise der Aufbereitung, des Austausches und der abrufbereiten Speicherung neuer Erkenntnisse zum praktischen Nutzen. Zur Verdeutlichung des Gesagten mögen zwei Beispiele aus meinem eigenen Forschungsfeld dienen. Der Berliner Akademiesekretär, Philosophieprofessor und Journalist Jean Henri Samuel Formey (1711–1797) hat sich über mehrere Jahrzehnte mit dem Problem des Enzyklopädismus beschäftigt.1 Die Materialien seines früh begonnenen, eigenen enzyklo_____________ 1
La Correspondance de Jean Henri Samuel Formey (1711–1797): inventaire alphabétique, avec la Bibliographie des écrits de Jean Henri Samuel Formey établie par Rolf Geissler, Jens Häseler (Hrsg.), Paris 2003.
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pädischen Wörterbuchs überlässt er den Pariser Verlegern als diese ihr Encyclopédie-Projekt starten. An der von 1770 bis 1780 in Yverdon erscheinenden Neubearbeitung der Encyclopédie durch Bartolomeo Fortunato de Felice ist er maßgeblich beteiligt. Als eine Art methodische Bilanz schlägt er in den 1770er Jahren einen Vergleich, eine Comparaison des Encyclopédies vor und denkt sich schließlich einen neuartigen Wissensspeicher aus, der schneller als alle bisherigen Enzyklopädien in der Lage sei, die neuesten Erkenntnisse aufzunehmen. Dieser solle nur noch die Nomenklatur der Stichworte enthalten, eine kurze Definition und dann Literaturhinweise auf die einschlägigen wissenschaftlichen Abhandlungen insbesondere aus den periodisch erscheinenden Akademiememoiren bzw. wissenschaftlichen Zeitschriften. Dieser Vorschlag erinnert an eine Form kommentierter Linkliste, deren erläuterte und verfügbar gemachte Kenntnisse dem sonst nur durch periodisch erscheinende Zeitschriften dargestellten Wissen auf dem Fuße folgt. Aktualitätsanspruch und systematische Verzeichnung liegen so dicht als möglich beieinander. Auch wenn sein populär aufgebautes Dictionnaire instructif (1767 bei Gebauer in Halle erschienen) sich diesem Schema annähert, ist der Plan Formeys als solcher nicht verwirklicht worden. Allerdings fasst er weitsichtig die beiden Grundelemente zusammen, die tatsächlich Ansporn für die parallele Entwicklung von Enzyklopädien und Zeitschriften waren. Die Pariser Encyclopédie reflektiert das eigene Konkurrenzverhältnis zu den Periodika in den Artikeln zu ‚Journal‘ bzw. ‚Journalistes‘, während eine Zeitschrift, wie Pierre Rousseaus Journal encyclopédique seinen Auftrag als periodisches Register der Fortschritte des menschlichen Geistes zusammenfasst und gelegentlich Abhandlungen druckt, die für die Encyclopédie geschrieben wurden, dort aber wegen zensurbedingter Verzögerungen nicht sogleich erscheinen konnten. Während also Encyclopédie-Autoren wie Diderot sich unter dem Druck des wissenschaftlichen Fortschritts des Zwangs zur Aktualität durchaus bewusst waren und zur späteren Aufnahme neuer Erkenntnisse das Alphabet der Stichworte überlisten mussten, waren sich die meisten wissenschaftlichen Zeitschriften ihrer Funktion als dauerhaftes Nachschlagewerk ebenfalls bewusst und sorgten für regelmäßige Register, um dem Leser auch die retrospektive Benutzung zu erleichtern. Diese strukturellen Erwägungen lassen vermuten, dass es sich um wissenschaftliche Erkenntnisse und Einsichten unbestrittener Geltung gehandelt habe. Gerade das aber entsprach sicherlich nicht oder nur teilweise dem Charakter einer Epoche, die sich selbst als die des esprit philosophique oder des kritischen Denkens ansah. Eng verbunden mit der Darstellungsoder sogar Popularisierungsfunktion der hier in Rede stehenden Texte war daher die Art der Beurteilung der diskutierten Probleme. Diese führte zur Verwendung neuer, teils auch literarischer, dialogischer Formen und zu
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lebhaften Variationen im Innern selbst solcher traditioneller Gattungen wie der klassischen Rezension, des Extrakts. Die drei folgenden Beiträge nähern sich dem grob skizzierten Problemfeld beispielhaft aus drei Perspektiven. Helga Meise geht dem engen Zusammenhang zwischen der akademischen Soziabilität, dem regelmäßigen Austausch von Arbeiten in den Sitzungen der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften und den Formen der periodischen Publikation ihrer Arbeiten nach. Christian Hippe nimmt ein grundsätzliches epistemologisches Problem auf, indem er sich ausgehend von Klopstock mit der Frage der „Kürze“ wissenschaftlicher und journalistischer Darstellung in einer Zeit der anwachsenden Informationsflut beschäftigt. Damit reißt er ein Problemfeld an, dass sowohl wissenschafts- als auch literaturgeschichtlich aufschlussreich zu werden verspricht. Wolfgang Rother thematisiert anhand der Zeitschrift Il caffè die Möglichkeiten und Grenzen der eigentlich philosophischen Auseinandersetzung mit aktuellen Gegenständen im Medium einer Zeitschrift. Er behält damit den Zusammenhang aber auch die grundsätzliche Differenz zwischen dem Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und einer breiten, beschleunigten Zirkulation von Kenntnissen im Blick. Die Beiträge der Sektion verstehen sich als Anregungen zu einer Verschränkung von wissenschafts- und literaturgeschichtlichen Untersuchungen des Zusammenhangs zwischen „äußerer“ und „innerer“ Veränderung periodischer Formen wissenschaftlichen Denkens, Schreibens und Publizierens.
Gelehrte Kürze. Zum Feindbild der Zeitschriften in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik Christian Hippe
Geschwätzige Periodika In Friedrich Gottlieb Klopstocks fiktivem Entwurf einer Republik der Gelehrten, seiner 1774 veröffentlichten Schrift Die deutsche Gelehrtenrepublik, hat die Zeitschriftenkultur des 18. Jahrhunderts einen schweren Stand. Wie ein Vorfall während der letzten Zusammenkunft der Gelehrten im Jahre 1772 zeigt, richtet sich der Argwohn insbesondere gegen das prosperierende Kritik- und Rezensionswesen der Periodika – wohl auch dadurch motiviert, dass die Zeitschriftenkritik für den lebenslangen Stipendiaten Klopstock, nachdem sie anfangs seinen Ruhm mit begründet hatte, zum unkalkulierbaren Risiko geworden war. Am fünften Morgen der Zusammenkunft 1772 schickt die „Zunft der Kundigen“ ihren Anwalt aus, um bei den intellektuellen Anführern der Republik, den sogenannten Aldermännern, ein Großtribunal über die „Ankündiger“ und „Ausrufer“, also die Rezensenten und Kritiker, zu erwirken.1 Vordergründig zielt die Anklage auf eine Eindämmung der Polemiken, die durch die anonyme Veröffentlichungsmöglichkeit in den Zeitschriften ein völlig neues Ausmaß erreicht hätten und, als ein albernes Schauspiel, den Status der Gelehrten vor den etablierten Mächten unnötig schwächen würden. Ein Blick auf eines der beiden Gesetze, auf denen die Anklage beruht, zeigt jedoch, dass eine weit grundsätzlichere Problematik angeschnitten ist. In voller Länge lautet dieses Gesetz: „Wer zu wenigem Inhalte viel Geschwäz gemacht, und dieß hundert und Einen Tag getrieben hat, entgilt es durch die laute Lache.“2 Es hat den Anschein, als ginge es bloß um ein Bagatell_____________ 1 2
Vgl. hier und nachfolgend: Klopstock, Friedrich Gottlieb, Die deutsche Gelehrtenrepublik, Bd. 1: Text, Rose-Maria Hurlebusch (Hrsg.), Berlin, New York 1975, S. 146ff. (Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Horst Gronemeyer u. a. (Hrsg.), Bd. 7.1). Ebd., S. 29.
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Zum Feindbild der Zeitschriften in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik
delikt. Doch das Gesetz zählt zu den sieben Kerngesetzen der Republik und der beigefügte Kommentar macht dementsprechend deutlich, dass es sich um nichts Geringeres als eine Gefahr epochalen Ausmaßes für die gesamte gelehrte Welt handele: um die „grosse ansteckende und gar gefährliche Krankheit unsers erleuchteten achtzehnten Jahrhunderts“.3 Die Anklage gegen die Kritiker und Rezensenten aufgrund des Gesetzes „viel Geschwäz bey wenig Inhalte“ erreicht damit vor allem eines: die Zeitschriften als Hort und Inbegriff einer gefährlichen, weil schlicht und einfach überflüssigen Geschwätzigkeit auszuweisen. Im Gegenzug boten sie Klopstock die ideale und willkommene Folie, sein zentrales Leitbild der „Kürze“ gelehrten Schreibens zu exponieren, das sich wie ein roter Faden durch den disparaten Text der Gelehrtenrepublik zieht. Illustre Kürze Klopstock unterbreitet in der Gelehrtenrepublik ein ganzes Paket von Maßnahmen, die Schwatzhaftigkeit unter den Gelehrten einzudämmen. Bloß oberflächlich bleibende Schwätzer werden kategorisch von den „rechten Schatzgräber[n]“ des Wissens, die lieber „graben“ statt zu schwatzen, abgegrenzt.4 Besonders ins Visier geraten die „Ausschreiber“, die lediglich die Erkenntnisse anderer ein weiteres Mal wiederholen oder ausbreiten. Gegen sie richten sich speziell zugeschnittene Gesetze, die darauf zielen, „der Vervielfältigung und selbst der Verdickung der Bücher, als woraus seit langer Zeit so vieles der Ehre der Republik nachtheiliges gekommen ist“ Einhalt zu gebieten.5 Was für experimentelle Ideen Klopstock dabei en passant entwickelt, zeigt sich etwa in dem originellen Vorschlag, wie mit dem Problem textschinderischer Anmerkungen zu verfahren sei. Und zwar solle der Leser jeweils mit der Formel „Vorgesehen!“ vor derartigen Exkursen gewarnt werden: „So bald man also die Formel erblikt; so darf man nur das Auge von dort an bis zum Ende des Absazes fortlaufen lassen; und man ist gerettet!“6 Ein besonderes Reizwort in der Gelehrtenrepublik ist die publizistische Tugend der „Vollständigkeit“, da sie zur Tarnung überflüssiger Geschwätzigkeit geradezu einlädt. Bereits im ersten Kerngesetz der Republik wird erklärt: „Wer, unter dem Vorwande der Vollständigkeit, das Wiederholte wiederholt, ist auf Jahr und Tag zu Belonungen unfähig.“7 Die Forderung der „Kürze“ macht nicht bei über_____________ 3 4 5 6 7
Ebd. Vgl. ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 48f., hier 48. Vgl. ebd., S. 102f., hier 103. Ebd., S. 27.
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flüssigen Büchern oder Passagen Halt, sondern schlägt bis auf die Ebene einzelner Wörter durch. Dies wird auch in dem folgenden Ratschlag der Aldermänner ersichtlich, der den bezeichnenden Titel „Von der Kürze“ trägt: Liebst du runden gediegnen Sinn, so bist du karglaut, und sezest da der Wörtlein nur etliche, wo andre ganze lange Zeilen daher laufen lassen. Bist dann freylich auch gar übel dran mit dem, welchem die Art des Verständnisses, so ihm etwa worden ist, sich nicht anders öfnet, als durch schlackichte und vieleckichte Gedanken. Solcherlei Gedanken haben nun zwar, besieht man’s bey’n Lichten, nichts in sich, das nur etlichermaassen des Merkens werth sey; aber das verschlägt dem Manne nichts, dem nur durch sie das Verständnis kann geöfnet werden. Er hegt und pflegt sich nun einmal mit selbigen. Mag er doch. Aber was soll’s der Demut dich mit ihm zu schaffen machen? Sorge du für die, denen du, bey aller deiner Karglautigkeit, viel eher ein Wörtlein zu viel, denn eins zu wenig sezen köntest.8
Nirgends ist das Ideal strengster Kürze, die jedes Wort abwägt und lieber zu wenige als zu viele Wörter setzt, markanter formuliert als in diesen Sätzen. Sie sind Ausdruck einer strikt an Effizienzsteigerung ausgerichteten Sprach- und Wissensökonomie, die auf „schlackichte und vieleckichte Gedanken“ keinerlei Rücksicht nimmt und umständliche gedankliche Zwischenschritte zu Lasten des Rezipienten auslagert. Aber wenn auch die Radikalität einzelner Formulierungen neu ist9, bildet das grundsätzliche Plädoyer für eine Ökonomie der Zeichen und des Wissens in Klopstocks Gelehrtenrepublik im 18. Jahrhundert keine Ausnahme. So verfolgte etwa auch die Encyclopédie Diderots und d’Alemberts das Ziel, etliche Bücher überflüssig zu machen, Bücherwissen zu komprimieren und zukünftige Autoren zum Kurzfassen ihrer Schriften zu animieren.10 Enger gefasst, am Verhältnis von res und verba ausgerichtet, bemühte sich die englische Royal Society for the Improving of Natural Knowledge bereits im 17. Jahrhundert um die Bekämpfung überflüssigen rhetorischen Schmucks und eine Rückkehr „zu der ursprünglichen Reinheit und Kürze […], da die Menschen so viele Sachen fast mit der gleichen Anzahl von Wörtern mitgeteilt haben“.11 Auf eine allgemeine Ökonomie des Wissens _____________ 8 9 10 11
Ebd., S. 86. Vgl. auch das später den Kerngesetzen zugefügte Epigramm „Bitte an Apollo“, in: ders., Die deutsche Gelehrtenrepublik, Bd. 2: Text/Apparat, Klaus Hurlebusch (Hrsg.), Berlin, New York 2003 (Werke und Briefe, Bd. 7.2), S. 424 (zu 30, 15/16). Vgl. den Artikel zum Stichwort „Encyclopédie“, etwa in: Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, Manfred Naumann (Hrsg.), Leipzig 1972, S. 396-522, bes. S. 456, (466), 473, 484f., 492, einschränkend hingegen S. 510. So Thomas Sprat in seiner programmatisch ausgerichteten History of the Royal Society [1667]; hier zit. nach Kretzenbacher, Heinz L., „Wie durchsichtig ist die Sprache der Wissenschaften“, in: ders./Harald Weinrich (Hrsg.), Linguistik der Wissenschaftssprache, Berlin, New
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Zum Feindbild der Zeitschriften in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik
zielten ferner etwa auch die zeichentheoretischen Bemühungen im Umkreis des französischen Institut National des Sciences et Arts gegen Ende des 18. Jahrhunderts, die Effektivität wissenschaftlichen Schreibens durch Anlehnung an die Formelsprache der Algebra und der Chemie zu verbessern.12 Für den deutschsprachigen Raum ist es – neben Lessing, Lichtenberg und anderen – vor allem Johann Joachim Winckelmann, der die Gelehrtenwelt von einer „Sündflut von Schriften“ überschwemmt sah und wiederholt das Ideal „strengster Kürze“ vertrat.13 Wie in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik galt auch für ihn das „Gesetz“, „nichts mit 2 Worten zu sagen, was mit einem geschehen kann“, um „alles merklicher und stärker zu machen“.14 In seiner Person wird zudem die Tradition augenfällig, in der das Kürzestreben des 18. Jahrhunderts ruhte: dem bis in die Antike zurückzuverfolgenden rhetorischen Ideal der brevitas, der „erleuchteten und reinen Kürze“, die Winckelmann bei den Schriftstellern des Altertums bewunderte.15 Auch Klopstock steht in diesem Traditionszusammenhang, wie etwa der oben zitierte Ratschlag „Von der Kürze“ verdeutlicht, dessen Formulierungen „besieht man’s bei’n Lichten“ und „des Merkens werth“ unverkennbar das rhetorische Leitbild der „illustren“, „nachdrücklichen“, „lehrhaften“ oder auch „merklichen“ Kürze aufrufen. Dennoch lässt sich Klopstocks Kürzepostulat nicht auf die rhetorische Tradition der brevitas beschränkten. Denn entgegen dem klassischen Kürzeideal guter Rednerkunst und anders als die vergleichbaren Bestrebungen seiner Zeitgenossen – konsequenter auch als Winckelmann – sanktionierte er in der Gelehrtenrepublik darüber hinaus eine Form der Kürze, die nicht bloß die Optimierung von Erkenntnisprozessen, sondern, wie nachfolgend verfolgt werden soll, eine ganz besondere Qualität der Erkenntnisgewinnung in Aussicht stellte.
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14 15
York 1994 (Forschungsbericht, Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 10), S. 15-39, bes. 20ff., hier 21. Vgl. Schäffner, Wolfgang, „Medialität der Zeichen. Butet de la Sarthe und der Concours ‚Déterminer l’influence des signes sur la formation des idées‘“, in: Inge Baxmann u. a. (Hrsg.), Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 274-290. Vgl. Rüdiger, Horst, „Pura et illustris brevitas. Über Kürze als Stilideal“, in: Gerhard Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 345-372. Zu Winckelmann vgl. zudem: Zeller, Hans, Winckelmanns Beschreibung des Apollo im Belvedere, Zürich 1955, bes. S. 180-197. Zit. nach Zeller, Winckelmanns Beschreibung, S. 180. Vgl. ebd., S. 181.
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Affektive Kürze In ihrer erkenntnistheoretischen Substanz ist die Deutsche Gelehrtenrepublik ein noch immer verkannter Text. Obwohl Klopstock wiederholt auf die Termini „Erfinden“ und „Erfindung“ zurückgreift, wurde der zwingend nahe liegende Zusammenhang zur Leibniz-Wolff’schen Tradition der ars inveniendi bisher in keinerlei Hinsicht berücksichtigt. Leibniz, der diesbezüglich das ambitionierte Projekt einer ars characteristica combinatoria verfolgte, war geradezu besessen von der faszinierenden Idee, dass es ausreiche, lediglich Zeichen spielerisch neu zu kombinieren, um gänzlich neue und gültige Erkenntnisse zu gewinnen.16 Klopstock dürfte vor allem durch Christian Wolff auf die Idee einer allgemeinen Erfindungskunst aufmerksam geworden sein. Im Vergleich zu Leibniz sah Wolff darin ein noch weit umfassenderes Instrument jeglichen Erkenntnisgewinns und skizzierte in diesem Zusammenhang zahlreiche heuristische Mittel und Fertigkeiten.17 Neben offenkundigen Anleihen, etwa was den Sonderstatus von Experiment und Observation angeht, kommt es in Klopstocks Gelehrtenrepublik zu einer kleinen, aber markanten Akzentverschiebung: Das Ziel, neue „Wahrheiten“ zu finden, wird hier von der Aufgabe überlagert, die Ursache von „Wirkungen“ zu bestimmen, nicht zuletzt aber auch neue Wirkungen hervorzubringen.18 Besondere Bedeutung hat die Erfindungskunst in der Gelehrtenrepublik für die Geschichtsschreiber, Redner und Dichter, die zusammen die Gruppe der „darstellenden Wissenschaften“ bilden. Über diese Wissenschaften heißt es, dass sie „erfinden“, insofern sie auf neue Art „darstellen“.19 Das derart als Erfindungskunst verstandene Konzept der „Darstellung“ wird scharf abgegrenzt von der ordinären wissenschaftlichen Form der „Abhandlung“: Abhandlung ist gewöhnlich nur Theorie, […] Darstellung hat Theorie. Sie vergegenwärtiget, durch Hülfe der Sprache, das Abwesende in verschiedenen Graden der Täuschung. Sie beschäftigt, bey der Hervorbringung und bey dem Eindrucke,
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Vgl. zu Leibniz: Ricken, Ulrich, „Zum Thema Christian Wolff und die Wissenschaftssprache der deutschen Aufklärung“, in: Kretzenbacher/Weinrich (Hrsg.), Linguistik der Wissenschaftssprache, S. 41-90, und Meier-Kunz, Andreas, Die Mutter aller Erfindungen und Entdeckungen. Ansätze zu einer neuzeitlichen Transformation der Topik in Leibniz’ ‚ars inveniendi‘, Würzburg 1996, bes. S. 53-113. Vgl. zu Wolff: Peursen, Cornelis-Anthonie van, „Ars inveniendi im Rahmen der Metaphysik Christian Wollfs. Die Rolle der ars inveniendi“, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Christian Wolff (1679–1754). Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg 1983, S. 66-88. Vgl. Klopstock, Gelehrtenrepublik, Bd. 1, S. 80f., zur Höherschätzung der „Erfindung“ vgl. S. 32f., zum Stellenwert der „Wirkung“ zudem S. 22. Vgl. ebd., S. 9f.
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Zum Feindbild der Zeitschriften in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik
welchen sie auf den Zuhörer macht, die ganze Seele; Abhandlung nur das Urtheil.20
Auch an anderer Stelle nennt Klopstock die lebhafte Täuschung als Ziel der Darstellung.21 Diese erst übe eine Wirkung auf die „ganze Seele“ aus, die sich bei Klopstock stets aus den drei Hauptkräften Verstand, Einbildungskraft und Herz bzw. Willen zusammensetzt.22 Andererseits aber erfordere die Täuschung gerade eine solche Wirkung auf die Totalität der Seele, um überhaupt erst als Täuschung gelingen zu können. Genau dafür nun ist der Aspekt der Kürze von entscheidender Bedeutung. So heißt es im Zusammenhang der Darstellung: Unsre Sprache ist einer Wortfolge fähig, welche die Erwartung sehr reizen, und einer Kürze, durch die der Dichter machen kann, daß die genung gereizte Erwartung nun auch früh genung zu ihrem Ziele komme. Durch Sprachkürze werden die wenigsten Worte zu einem gewissen Inhalte verstanden, dieser mag dann einfache, oder zusammengesetzte Gedanken in sich begreifen.23
Die hier im Rahmen der Darstellung verhandelte „Sprachkürze“ dient demnach der nuancierten Modulation seelischer Spannungskurven und Spannungszustände. Eine solche Verankerung des Kürzeprinzips in einer Sprache des Affekts, welche die „ganze Seele“ in Bewegung setzt, hatte Klopstock erstmals im Zusammenhang seiner 1757 veröffentlichten Geistlichen Lieder theoretisch begründet. In der „Einleitung“ heißt es dort über den „kurzen“ Gesang: […] es ist eine von seinen Hauptpflichten, daß er schnell von einem großen Gedanken zum andern forteile. Er fliegt von Gebirge zu Gebirge, und läßt die Täler, wie schön und blumenvoll sie auch sein möchten, unberührt liegen. Denn wenn unsre Seele entweder durch die Hoheit der Gedanken, oder durch das Feuer der Empfindungen stark bewegt ist; so ist es ihrer Natur gemäß, so zu denken. Gewisse nähere Erklärungen, gewisse Ausbildungen will sie alsdann nicht. Sie eilt fort. Sie hatte das alles schon hinzugedacht.24
Mit einer Optimierung von Erkenntnisprozessen und deren Vermittlung in der Tradition der illustren oder merklichen Kürze hat diese zur emotionalen Erschütterung und grundlegenden Illusionierung des Lesers eingesetzte affektive Kürze nichts mehr gemein. Der Bruch mit dem brevitasIdeal der Redekunst wird insbesondere im Hinblick auf das perspicuitas_____________ 20 21 22 23 24
Hier zitiert nach der überarbeiteten Fassung der Gelehrtenrepublik in: ebd., Bd. 2, S. 418 (zu 9,19f.); vgl. ebd., Bd. 1, S. 9. Vgl. ebd., S. 171f. sowie die spätere Schrift „Von der Darstellung“, in: ders., Werke in einem Band, Karl August Schleiden (Hrsg.), München, Wien 1969, S. 1031-1038. Zu dieser immer wiederkehrenden Trias vgl. etwa „Von der heiligen Poesie“, in: ebd., S. 997-1016, hier 1002. Ders., Gelehrtenrepublik, Bd. 1, S. 172. Ders., „Einleitung zu den geistlichen Liedern“, in: ders., Werke in einem Band, S. 1009-1016, hier S. 1012.
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Gebot ersichtlich. Denn während der klassischen Rhetorik „Deutlichkeit“ als Ziel, aber auch als quasi-natürliches Regulativ der Kürze galt, um jeglicher „Dunkelheit“ vorzubeugen, ist dieses Konfliktverhältnis in der Gelehrtenrepublik, wo Kürze zum Mittel der Affektmodulation aufgewertet ist, schlicht und einfach außer Kraft gesetzt. So heißt es in Bezug auf „erhabene Gegenstände“ provokant, dass Kürze für deren „deutliche“ Vorstellung „nicht etwa nur gut“, sondern gar „notwendig“ sei.25 Klopstock kennt demnach keine Scheu, eine gewisse obscuritas in Kauf zu nehmen. Im Gegenteil: Er integriert das weite Feld der „dunklen“, nämlich sensitiven, auf die unteren Seelenvermögen wirkenden Erkenntnisprozesse innerhalb des gelehrten Kürze-Ideals, das traditionell einzig dem Ausdruck der höheren, „deutlichen“ Verstandeserkenntnis vorbehalten war. Vom Leitbild der Kürze aus betrachtet, bedeutet dies, dass Klopstocks Streben nach Kürze an der Aufwertung einer Form von Erkenntnis teil hat, welche die klassische Verstandeserkenntnis überschreitet. Mehr als nur auf eine Ökonomie des Wissens, zielt das Leitbild der Kürze, indem es auf einen erkenntnistheoretischen Erfahrungsraum der „ganzen Seele“ zurückgreift, auf eine grundsätzliche Erweiterung des Wissensbegriffs: eine Ausrichtung am affektiv ergreifenden, mobilisierenden, unmittelbar wirkenden Wissen26 – ein Wissen, das auf gesellschaftlich-praktisches Handeln hin offen ist und das unerhörte Selbstbewusstsein der Gelehrten gegenüber den traditionellen Eliten in der Gelehrtenrepublik mit zu erklären hilft.27 Die Form der Darstellung – innerhalb derer die zur Affektmodulation eingesetzte Kürze zum Tragen kommt – gilt in der Gelehrtenrepublik als ein (wenn auch nicht zwangsläufig zu erfüllendes) Ideal für das gesamte gelehrte Wissen.28 Für die ausschließlich mit Sprache arbeitende Gruppe der „darstellenden Wissenschaften“ ist sie geradezu konstitutiv. Diese Gruppe profitiert daher auch am stärksten von dem Verständnis der Darstellung als einer Erfindungskunst. Das gilt nicht zuletzt für die Literatur, deren wissenschaftliche Dignität überhaupt erst im Rekurs auf die ars inveniendi einsichtig wird. Entsprechend selbstbewusst heißt in einem Fragment zur Fortsetzung der Gelehrtenrepublik, dass es nach Wolff nicht etwa dessen Schüler, sondern am ehesten die Dichter gewesen seien, die in der ge_____________ 25 26 27
28
Vgl. ders., Gelehrtenrepublik, Bd. 1, S. 74. Vgl. ebd., S. 22. Zum politischen Affront gegen die etablierten gesellschaftlichen Eliten vgl. auch Zimmermann, Harro, „Gelehrsamkeit und Emanzipation. Marginalien zu Friedrich Gottlieb Klopstocks ‚Deutsche Gelehrtenrepublik‘“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Friedrich Gottlieb Klopstock. Text und Kritik Sonderband, München 1981, S. 70-81. Vgl. Klopstock, Gelehrtenrepublik, Bd. 1, S. 22.
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Zum Feindbild der Zeitschriften in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik
lehrten Welt Epoche gemacht hätten.29 Es fällt nicht schwer herauszuhören, dass Klopstock hier wohl als erstes an sich selbst gedacht haben wird, denn das Modell der zeichenkombinatorischen Erfindungskunst beschreibt exakt, was Klopstock jahrzehntelang als Dichter, nicht zuletzt bei der steten Überarbeitung des „Messias“, betrieb: ein kombinatorisches, am Gesichtspunkt affektiver Kürze ausgerichtetes Spiel mit einzelnen Wörtern, Silben und Buchstaben, dessen seelische Wirkungsqualitäten er kontinuierlich überprüfte und – wie überhaupt die spezifischen Bildungsmöglichkeiten der deutschen Sprache, Grammatik und Metrik – fortwährend zu erforschen bemüht war.30 In zwei späteren Projekten, die in der Gelehrtenrepublik fragmentarisch antizipiert sind, gewann Klopstock dem Leitbild der Kürze noch weitere Wendungen ab. Dazu zählt das sprachtheoretische Spätwerk Grammatische Gespräche, in dem er durch Beispielübersetzungen eine spezifisch „deutsche Kürze“ (im verhältnismäßig geringfügigen Silbenbedarf des Deutschen im Verhältnis zu anderen Sprachen) nachzuweisen bemüht war. Als zweites seine Vorschläge zur Rechtschreibreform, die dem Bestreben um Schreibverkürzungen und einer Eliminierung überflüssiger Buchstaben verpflichtet waren. Spätestens mit diesen Ausformungen des Kürzeaxioms traf Klopstock bei Zeitgenossen, und selbst bei Freunden, jedoch auf völliges Unverständnis. Besonders seine thesenartigen Übersetzungen waren scharfen Angriffen ausgesetzt. Carl August Böttiger etwa notierte zu einer Übertragung des Horaz in sein Tagebuch: Im Original hat die Fabel 37 Hexameter. Klopstocks Jubel war es, sie in 35 zusammengepreßt zu haben. Allein man findet bei genauerer Untersuchung gar bald, daß um dieser Kürze willen mancher bedeutende Nebenzug, manches malerische Beiwort bei einem Dichter, bei dem man keine Sylbe je missen möchte, wegbleiben mußte […]. Die sonderbarste Instanz dieser Kurzredenheit gab er an einem laconischen Staatsbericht beim Thucydides. Auch diesen, sagte er jubelnd, habe ich um zwei Sylben kürzer übersetzt.31
Aber auch wenn Klopstocks Übersetzungskonzeption zum Spott einlud, entwickelte er in seinen sprachtheoretischen Arbeiten lediglich auf medialer Ebene konsequent weiter, was er gemäß dem Leitbild der Kürze in der Gelehrtenrepublik bereits eingängig entfaltet hatte: Erstens eine auf Effizienz gerichtete ökonomische Reduktion des Zeichengebrauchs, mehr noch aber zweitens die Erschließung der Sprache als einer nur aufs Lautliche bezogenen, silben- und buchstabenarmen und somit quasi entmateriali_____________ 29 30 31
Vgl. ebd., Bd. 2, S. 37f. Vgl. Schneider, Karl Ludwig, Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert, 2., unveränd. Aufl., Heidelberg 1960, bes. S. 57-86. Böttiger, Carl August, „Klopstock im Sommer 1795. Ein Bruchstück aus meinem Tagebuche“, in: Minerva, 6/1814, S. 315-352, hier 327-330.
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sierten, unmittelbaren Seelensprache – wozu sich, folgt man Klopstocks Ausführungen, vor allem das (wenn auch orthographisch reformbedürftige) Deutsche eigne, dessen Legitimität als Wissenschaftssprache er somit auf eine völlig neue, seinen komplexen Erkenntnisansprüchen genügende Grundlage stellte. Laute Lache Den wegen Geschwätzigkeit angeklagten Rezensenten und Kritikern auf dem letzten Landtag der Gelehrtenrepublik im Jahre 1772 wird ein fairer Prozess versagt. Aus Überdruss endet die Untersuchung ihrer Schriften zumeist vorzeitig durch Ausrufe wie „Abgebrochen! Genung! Völlig genung!“32 Und auch eine angemessene Verteidigung wird den Beklagten in der Regel vorenthalten, um einer unnötigen „Plauderhaftigkeit“ vorzubeugen33 – was zugleich ein Schlaglicht auf weitere Facetten des KürzeIdeal im verbalen Umgangston der Gelehrten wirft, wo Kürze, einem antirhetorischen Impuls folgend, mit unverstellter Ehrlichkeit, Einvernehmen, Gradlinigkeit und Tatkraft verbunden wird. Dementsprechend entwickelt sich der Prozess für die angeklagten Kritiker und Rezensenten zum Desaster.34 Zwar wird in neunundneunzig Fällen einer Entschuldigung durch Krankheit stattgegeben. Gleichwohl aber kommt es zu über hundert Verurteilungen, in dreizehn Fällen wird sogar auf Hochverrat entschieden. Milder, dafür aber umso beschämender, fällt die Bestrafung der dreiunddreißig Beschuldigten aus, die aufgrund des Gesetztes „viel Geschwäz bey wenig Inhalte“ angeklagt sind. Ihr Vergehen wird mit der „lauten Lache“ geahndet, über die es lapidar heißt: „Die laute Lache ist voller herzlicher Spott“.35 Angesichts dieser ungewöhnlich scharfen Angriffe gegen das Rezensionswesen der Zeitschriften war abzusehen, dass Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik in der zeitgenössischen Kritik auf wenig Gegenliebe stoßen würde.36 Tatsächlich war die Aufnahme der Schrift derart vernichtend, dass Klopstock sogar den ursprünglichen Plan aufgab, einen zweiten Teil folgen zu lassen. Die wenigen erhaltenen Vorarbeiten für eine Fortsetzung der Gelehrtenrepublik zeigen jedoch, dass er auch hier nicht im Geringsten daran dachte, moderatere Töne anzuschlagen. In einer Randbemerkung werden die Periodika hinsichtlich ihres Zwangs zur „notwendige[n] Fül_____________ 32 33 34 35 36
Vgl. Klopstock, Gelehrtenrepublik, Bd. 1, S. 151. Vgl. ebd. Vgl. hier und im Folgenden ebd., S. 154f. Ebd., S. 15. Vgl. die Rezeptionszeugnisse in: ders., Gelehrtenrepublik, Bd. 2, S. 313-377.
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Zum Feindbild der Zeitschriften in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik
lung ihrer Blätter“ verunglimpft.37 Die althergebrachte Kritik wird als ein „Schwal rezensentischer Redensarten“, mit denen in der Luft herumgepinselt würde, gebrandmarkt38, und in einer fiktiven Lesereise durch das Zeitschriftenangebot des 18. Jahrhunderts, die „dicken vierteljährigen, und die dünnen monathlichen kritischen Hefte“, werden die Hilflosigkeit der Rezensenten angesichts wirklich neuer Werke und ihre Manier, längst veraltete Werke zu loben, als die charakteristischen „Wahrzeichen“ der Zeitschriften der Lächerlichkeit preisgegeben.39 Es deutet demnach alles darauf hin, dass die Stigmatisierung der Periodika als Inbegriff und mediale Disposition gelehrter Schwatzhaftigkeit im zweiten Teil der Gelehrtenrepublik sogar noch verschärft werden sollte. Zur Inszenierung des diametral entgegen gesetzten Ideals der Kürze gelehrten Schreibens blieben sie Klopstock ein ebenso lohnendes wie dankbares Kontrast- und Feindbild. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass auch der Kürze-Theoretiker Klopstock während seines gesamten Schaffens immer wieder dem Vorwurf der „Weitschweifigkeit“ ausgesetzt war. Diese Kritik traf nicht zuletzt auch die Deutsche Gelehrtenrepublik, obwohl Klopstock die dort erhobene Forderung nach Kürze auf vielfältige Art und Weise im Text einzulösen bemüht war. Besonders bezeichnend ist eine Äußerung Herders gegenüber seinem Briefpartner Hamann: „Unausstehlich dem Einen Einfall Umfang gegeben!“40 Irritationen wie diese zeigen aber nur, wie umkämpft der Begriff der „Kürze“ im 18. Jahrhundert war – und wie gewagt Klopstocks Vorstöße für eine am Leitbild der „Kürze“ zu orientierende Sprache der Gelehrten ausfielen.
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Vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 94ff. Zit. ebd., S. 330.
Publizistik im Dienste der Aufklärung. Zum philosophischen Selbstverständnis der Zeitschrift Il Caffè Wolfgang Rother Mit der von Pietro Verri (1728–1797) herausgegebenen Zeitschrift Il Caffè, die zwischen Juni 1764 und Juni 1766 alle zehn Tage zunächst in Brescia, dann in Mailand in einer Auflage von 500 Exemplaren erschien1, 1766 in Venedig nachgedruckt und durch die Übersetzung einschlägiger Beiträge ins Französische und Deutsche auch über Italien hinaus bekannt wurde2, hatte sich die Mailänder Aufklärung ein Sprachrohr geschaffen, das sich vor allem als Medium zur Popularisierung von Philosophie und Wissenschaft verstand. Die nachfolgende Lektüre der selbstverständnisrelevanten Stücke orientiert sich an folgenden Leitfragen: (1) Was bedeutet es für die Philosophie, wenn sie sich aus der Kammer des Gelehrten und aus den Hörsälen verabschiedet, um sich gewissermaßen im Kaffeehaus niederzulassen? (2) Welche Themen und Gegenstände sind relevant für den neuen Typus philosophischen Wissens? (3) An welche Leserschaft wendet sich Il Caffè? Inwieweit vermag das Periodikum den Kreis der Philosophierenden zu modifizieren oder zu erweitern? (4) In welchem Verhältnis steht das Periodikum zu anderen Medien philosophischer Reflexion, Kritik, Bildung und Wissensvermittlung? (5) Welches sind die Chancen, welches die Grenzen periodischen Philosophierens? (1) Der Name der Zeitschrift steht für ein neues Programm des Philosophierens. Il Caffè ist dabei doppelt zu verstehen: zum einem als jene den Schlaf verscheuchende „Droge der Aufklärer“3, zum anderen als der _____________ 1 2 3
Romagnoli, Sergio, „‚Il Caffè‘ tra Milano e l’Europa“, in: ders./Gianni Francioni (Hrsg.), „Il Caffè“ (1764–1766), 2. Aufl., Turin 1998, S. XXIV; Francioni, Gianni, „Storia editoriale del ‚Caffè‘“, in: ebd., S. LXXXIII, CXVIII-CXIX. Franz. Übersetzung von Artikeln in der Gazette littéraire de l’Europe (1766) und in den Variétés littéraires (1768); dt. Übersetzung von 31 Artikeln vor allem aus dem ersten Jahrgang: Das Caffee (Zürich 1769). Vgl. Francioni, , „Storia editoriale del ‚Caffè‘“, S. CXXIII-CXXIV. Vgl. Klettke, Cornelia, „Der Kaffee als Droge der Aufklärer“, in: Helmut C. Jacobs/Gisela Schlüter u. a. (Hrsg.), Die Zeitschrift „Il Caffè“. Vernunftprinzip und Stimmenvielfalt in der
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Publizistik im Dienste der Aufklärung
wahre locus philosophandi – das Kaffeehaus und nicht mehr das akademische Milieu des Hörsaals. Eine Inszenierung dieses Doppelaspekts von ‚Caffè‛ ist das Gespräch, das Pietro Verri einen Kaufmann mit einem Philosophiestudenten in Demetrios Kaffeehaus führen lässt: Die Rahmenfiktion der Lokalität inspiriert den Studenten in rollenüberschreitender Weise zu einem Lehrdiskurs über jene „die Lebensgeister erweckende Wirkung“ des Kaffees, die er der einschläfernden Wirkung des Opiums entgegensetzt.4 Die Philosophie ist hier gewissermaßen der Kaffee der Aufklärung. Der Kaffee soll die Menschen aus ihrem lethargischen Dasein herausreißen: „scrivete cose che riscuotano dal letargo i vostri cittadini“5, ruft Pietro Verri den Gelehrten zu; und wenn sein Bruder Alessandro (1741– 1816) das Leben der Menschen mit nicht zu überhörendem Pessimismus als „beständigen und tiefen Schlaf der Irrtümer“ bezeichnet, „aus dem sie von Zeit zu Zeit erwachen“6, dann wird klar, wie sehr sich Il Caffè im Dienste jener lichten Phasen der Aufklärung sieht. Dass die Philosophie sich aus Studierstuben und Hörsälen verabschiedet und im Kaffeehaus niederlässt, verweist auf einen wichtigen Aspekt ihres neuen Selbstverständnisses: Das Café ist der die traditionelle Institutionalität transzendierende, zugleich öffentliche und privat-intime Ort, in dem ein neuer Typus des Philosophen verkehrt: der mondäne, gesellschaftsfähige und kommunikative „filosofo socievole“, der „filosofo amabile“, dem jede akademische Strenge fremd ist und der seine Erkenntnisse in der „Heiterkeit der Konversation“ zu diskutieren pflegt.7 Il Caffè – zugleich das Kaffeehaus und die Zeitschrift – ist der Ort, an dem die „nützlichen Erkenntnisse“ der Philosophie auf unterhaltsame Weise verbreitet werden können8: Die Kaffeehausphilosophie soll weniger
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italienischen Aufklärung, Frankfurt am Main 2003, S. 131-147. „V’e nel caffè [...] una virtù risvegliativa degli spiriti animati, come nell’oppio v’è la virtù assoporativa e dormitiva.“ Verri, Pietro, [„Introduzione“], in: Romagnoli/Francioni (Hrsg.), „Il Caffè“, S. 14. Zur Rahmenfiktion vgl. die literaturwissenschaftlich-narratologische Analyse von: Jacobs, Helmut C., „Die Rahmenhandlung von ‚Il Caffè‘ im Spannungsfeld von inszenierter Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, in: ders./Schlüter u. a. (Hrsg.), Die Zeitschrift „Il Caffè“, S. 107-129. Verri, Pietro, [„Dell’onore che ottiensi dai veri uomini di lettere“], in: Romagnoli/Francioni (Hrsg.), „Il Caffè“, S. 287. „[...] la vita de’ mortali è un continuo e profondo sonno di errori, dal quel si svegliano di tempo in tempo [...].“ Verri, Alessandro, „Comentariolo di un galantuomo di mal umore che ha ragione, sulla definizione: L’uomo è un animale ragionevole, in cui si vedrà di che si tratta“, in: ebd., S. 625. Ders., „Dei difetti della letteratura e di alcune loro cagioni“, in: ebd., S. 548. „Qual fine vi ha fatto nascere un tal progetto? [...] il fine di spargere delle utili cognizioni fra i nostri cittadini divertendoli [...].“ Verri, P., [„Introduzione“], in: ebd., S. 11.
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belehren als vielmehr erfreuen – eine Maxime, der ein Stil entspricht, der jegliche Langeweile vermeidet.9 Diese Unterhaltungsmaxime hat methodologische Implikationen, die Cesare Beccaria (1738–1794) im Editorial zum zweiten Jahrgang reflektiert. Periodisches Wissen soll nicht more geometrico vermittelt, sondern rhetorisch beliebt gemacht werden, das heißt, das Publikum soll durch den „süßen Zauber einer sanften Beredsamkeit“ überzeugt werden. Explizit abgelehnt werden der erhabene Stil, der eine zu belehrend-moralisierende Wirkung auf das Publikum ausübt, wie auch stilistische Trivialität, die Verachtung hervorruft und Langeweile erzeugt.10 Dass die Unterhaltungsmaxime mit ihrer Tendenz zur Verabsolutierung des Stilaspekts auch Gefahren für den philosophischen Diskurs birgt, darauf weist Pietro Verri im Artikel „Su i parolai“ – über die Wortemacher, die Schwätzer – hin, wenn er auf der Grundlage einer strukturalistischen Differenzierung zwischen Zeichen und Bezeichnetem geltend macht, dass in einer Argumentation („discorso“) die Sachen, nicht die bloss als Bezeichnungs- und Stilmittel figurierenden Wörter essenziell sind.11 (2) Die Frage der Themen und Gegenstände des neuen Typus philosophischen Wissens, das die Zeitschriften vermitteln sollen, beschäftigt Pietro Verri von Anfang an. Als er das Erschienen eines neuen Periodikums ankündigt, listet er eine Reihe von Disziplinen und Themen auf, die in der Zeitschrift behandelt werden sollen. Unter den genannten Gegenständen entspricht die Literatur der Unterhaltungsmaxime, Handel und Landwirtschaft entsprechen der Utilitätsanforderung, aber auch die Sitten und Gebräuche sowie die Vorurteile sollen untersucht werden. Ist in dieser Aufzählung ein neuer Kanon philosophischer Disziplinen angelegt? Auf den ersten Blick erscheint die Liste der Gegenstände als sehr disparat, und sie wird als offen deklariert: „jede Art von Dingen, die alle auf das Ziel gerichtet sind, die Aufklärung zu vermehren“. Und die Klammer, die die Gegenstände zusammenhält, ist der Bezug auf den proklamierten _____________ 9
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„[...] ma con quale stile saranno eglino scritti questi fogli? Con ogni stile che non annoi.“ (Ebd.) Die periodischen Vorbilder für diese fruchtbare Verbindung von Nützlichem und Angenehmem werden ausdrücklich genannt: Es sind die von Richard Steele, Jonathan Swift, Joseph Addison und Alexander Pope lancierten Zeitschriften The Tatler (1709–1711) und The Spectator (1711–1714). Zum Motiv des Kaffeehauses in diesen beiden Periodika vgl. Klettke, „Der Kaffee als Droge der Aufklärer“, S. 138, 140. „[...] non colla geometrica dimostrazione, ma col dolce incanto di una mansueta eloquenza non trasportata né sublime, perché mette in guardia i lettori, non vile e triviale, perché genera disprezzo e noia.“ Beccaria, Cesare, „De’ fogli periodici“, in: Romagnoli/Francioni (Hrsg.), „Il Caffè“, S. 415. „Ella è cosa per sé evidente che l’essenza d’un discorso consiste nelle cose che si dicono e le parole altro non sono che i mezzi coi quali vien significato il discorso: quindi è evidente pure che il primo oggetto dell’attenzione d’un uomo ragionevole devono essere le cose e le parole devon essere un oggetto assai secondario.“ Verri, Pietro, „Su i parolai“, in: ebd., S. 472.
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Zweck der Zeitschrift: „accrescere i lumi“ – die Förderung und Verbreitung der Aufklärung.12 Dass erst dieser Zweck die Gegenstände philosophischen Wissens konstituiert, wird durch die quasi programmatischen Bemerkungen Pietro Verris in der Einleitung zur ersten Nummer bestätigt. Hier werden die Gegenstände noch unspezifischer als „cose varie, cose disparatissime“ bezeichnet, sodass man nicht von einem neuen Kanon philosophischer Disziplinen sprechen kann, sondern im Gegenteil von einer eigentlichen Destruktion des Kanons, flankiert von der Gewinnung der Gegenstände periodisch-philosophischer Reflexion aus dem utilitaristisch präzisierten Aufklärungszweck: „cose tutte dirette alla pubblica utilità“.13 Dass der öffentliche Nutzen das eigentliche Geschäft des Philosophen ist, macht auch Beccaria im Editorial zum zweiten Jahrgang geltend, wenn er Il Caffè als das Publikationsorgan der „wahren Philosophen“ bezeichnet, die nicht einfach die „unmittelbaren und greifbaren Vorteile“ im Blick haben, sondern sich den wirklich „erhabenen“ Dingen zuwenden: dem „öffentlichen Nutzen“ und der „Verbreitung der Aufklärung“.14 Für ihn ist klar, dass Il Caffè in erster Linie einen moralischen Anspruch erhebt, das Periodikum soll der Tugend nicht nur „Respekt“ verschaffen, sondern sie vor allem „beliebt machen“, das heißt, die Menschen vom Egoismus befreien und ihnen das Glück des Nächsten zu einem Anliegen werden lassen.15 Über diese altruistisch-moralische Zielsetzung hinaus will die Zeitschrift politischökonomisches Wissen vermitteln und auf diese Weise zur Verbesserung der realen Lebensbedingungen, d. h. zur Maximierung des öffentlichen Glücks beitragen.16 Die thematische Offenheit des philosophischen Diskurses zeigt eine weitere Facette des Aufklärungsperiodikums: Wenn Demetrio, das alter ego Pietro Verris17, am Ende des ersten Jahrgangs das Kaffeehaus als „Gelegen_____________ 12
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„Se per esempio ogni dieci giorni uscisse un foglio in stampa, in cui vi fossero varie scritture, sulla letteratura, sul commercio, sull’agricoltura, su i costumi, su i pregiudizi, su ogni genere in somma di cose tutte tendenti al fine di accrescere i lumi e la coltura de’ nazionali; e che ciò fosse scritto con chiarezza, con varietà, e interrotto da qualche lampo di buon umore, credete voi che sarebbe per diffondersi?“ Ders., „Il mal di milza“, in: Mario Schettini (Hrsg.), Milano in Europa, Mailand 1963, S. 434f. Ders., [„Introduzione“], in: Romagnoli/Francioni (Hrsg.), „Il Caffè“, S. 11. „[...] quei veri filosofi che sanno essere superiori agli immediati e palpabili avvantaggi per altri più sublimi e meno sensibili alle viste comuni: la pubblica utilità, lo spandimento della luce [...].“ Beccaria, „De’ fogli periodici“, in: ebd., S. 418. „Il vero fine di uno scrittore di fogli dev’essere di rendere rispettabile la virtù, di farla amabile, d’inspirare quel patetico entusiasmo per cui pare che gli uomini dimentichino per un momento se stessi per l’altrui felicità [...].“ (Ebd., S. 414.) „[...] le cognizioni tendenti a migliorare i comodi della vita privata e quelli del pubblico [...].“ (Ebd.) Romagnoli, „‚Il Caffè‘ tra Milano e l’Europa“, S. LXXIV.
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heitsenzyklopädie“ („enciclopedia all’occasione“) bezeichnet18, scheint sich Il Caffè in die enzyklopädischen Bemühungen der Epoche einzureihen19, doch ist diesem occasionellen Kaffeehausenzyklopädismus jeder systematische Anspruch wie auch jeder Anspruch auf Vollständigkeit fremd. Das Verbindende ist höchstens ein aufklärerisch motivierter wissenschaftsvulgarisierender Anspruch. (3) An welche Leserschaft wendet sich Il Caffè? Mit der oben konstatierten Verschiebung des locus philosophandi geht eine Verschiebung und zugleich eine Erweiterung der philosophierenden Subjekte einher. Beccaria versteht das Periodikum als ein exoterisches Medium im Dienste der Bildungs- und Leseförderung: „les ouvrages périodiques sont un des meilleurs moyens pour engager les esprits incapables de toute application forte à se livrer à quelque lecture“, schreibt er 1766 an Abbé Morellet in Paris.20 Der exoterische Charakter des philosophischen Periodikums besitzt eine emanzipatorische Dimension, auf die Beccaria hinweist, wenn er geltend macht, dass Zeitschriften auch für die Bildung der Frauen bestens geeignet seien. Seine Begründung, deren Analyse ihn als Verfechter einer völligen Gleichberechtigung der Frau ausweist, ist differenziert und gleicht einer Gratwanderung, die sich davor hüten muss, weder in einen misogynen noch in einen galanten Diskurs abzustürzen. Als misogyn mag es auf den ersten Blick erscheinen, wenn er mit Bezug auf die Frauen schreibt, dass „ein Buch, eine ernste und methodische Unterweisung, viel zu starke Drogen für ihre delikaten Organe sind“21, doch erscheint diese Aussage als sehr viel differenzierter, wenn man sie in ihrem argumentativen Kontext liest: Es geht ihm in seinem Editorial um die Frage nach dem Bildungsmedium für die wahren Philosophen, zu denen er hier – zunächst nur implizit – die Frauen zählt, aber er spricht ihnen auch explizit philosophische Kompetenz zu, indem er ihnen – im Unterschied zu den Männern, die sich häufig der Wahrheit widersetzen – eine besondere Fähigkeit als Lehrmeiste_____________ 18 19
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„Una bottega di caffè è una vera enciclopedia all’occasione, tanto è universalissima la serie delle cose sulle quali accade di ragionare [...].“ Anonym, „Demetrio ai lettori di questi fogli“, in: Romagnoli/Francioni (Hrsg.), „Il Caffè“, S. 403. Zum enzyklopädischen und wissenschaftsvulgarisierenden Anspruch des Caffè vgl. Gipper, Andreas, „Die Poetik des Wissens im Zeitalter des Periodikums. Wissenschaft und Wissenschaftsvulgarisierung in ‚Il Caffè‘“, in: Jacobs/Schlüter u. a. (Hrsg.), Die Zeitschrift „Il Caffè“, S. 47-68; Ihring, Peter, „‚Le arti e le scienze tutte formano una catena?‘ ‚Il Caffè‘ und die Frage nach der Einheit des menschlichen Wissens“, in: ebd., S. 89, spricht in diesem Zusammenhang von einem „universalen Kompetenzanspruch“, den sich das Periodikum zuweise; zur Kettenmetapher als Ausdruck des enzyklopädischen Selbstverständnisses des Caffè vgl. ebd., S. 92ff. Firpo, Luigi / Francioni, Gianni (Hrsg.), Edizione nazionale delle opere di Cesare Beccaria, Bd. 4, Mailand 1994, S. 223. „Un libro, una seria e metodica instruzione sono droghe troppo forti per i delicati loro organi.“ Beccaria, „De’ fogli periodici“, in: Romagnoli/Francioni (Hrsg.), „Il Caffè“, S. 412.
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rinnen der Tugend attestiert. Wenn er die Frauen als „Dompteusen“ („domatrici“) der Männer bezeichnet, dann mögen darin durchaus erotisch-galante Töne anklingen, doch der Kontext, der durch die grundlegenden Themen der theoretischen und praktischen Philosophie (Wahrheit und Tugend) bestimmt ist, eröffnet eine tiefere Dimension des Arguments, das in Wirklichkeit für die Stärke und Überlegenheit der Frauen plädiert, die dank ihrer Qualitäten in der Lage sind, die Männer aus dem moralischen Naturzustand („ferocia“) zu führen und zu zivilisieren.22 Die Frauen erscheinen hier dank ihrer im Vergleich zu den Männern besseren natürlichen Disposition für die essenziellen Gegenstände der Philosophie, nämlich Wahrheit und Tugend, als die wahren Philosophen. Und als solche sind sie als das bevorzugte Publikum des philosophischen Periodikums: „Felice quel filosofo che dalle amabili donne sarà letto.“23 In dem erwähnten Gespräch zwischen einem Kaufmann und einem Philosophiestudenten in Demetrios Café zeigt sich eine weitere Facette der Vergrößerung des Kreises der philosophierenden Subjekte: Der Kaufmann, der hier gewissermaßen in den Prozess der Aufklärung hineingenommen wird, steht für den Bereich ökonomischer Praxis, in dem aufklärerischer Reformismus realisiert wird. Die Metaphern des Aufmunterns, Aufweckens, der Wiederbelebung – „il caffè rallegra l’animo, risveglia la mente“24 – tauchen denn bezeichnenderweise im ökonomischen Kontext wieder auf, wo die Forderung nach Belebung bzw. Wiederbelebung des Handels („animare il commercio“, „rianimare il commercio“) den Reformanspruch frühliberaler Wirtschaftspolitik zum Ausdruck bringt.25 Die Philosophie ist also nicht nur der Kaffee der Aufklärung, sondern auch der politischen Ökonomie eines glücks- und wohlstandsfördernden Wirtschaftswachstums. (4) Die Frage nach dem Verhältnis des Periodikums zu anderen Medien philosophischer Reflexion, Kritik, Bildung und Wissensvermittlung thematisiert Beccaria im erwähnten Editorial zum zweiten Jahrgang. Der Antagonist des Periodikums ist die systematische Abhandlung, das Buch, das er mit einem Menschen vergleicht, der sich in meine Angelegenheiten einmischen und alles von Grund auf reformieren will; das periodische Blatt hingegen ist ein „Freund, der dir gewissermaßen nur ein einziges Wort ins Ohr flüstert und der dir die eine oder andere nützliche Wahrheit _____________ 22 23 24 25
„Gli uomini [...] si oppongono altresì con una fibra più incallita alle scosse del vero; ma le donne, domatrici della ferocia dell’uomo, se sono più facili al cambiamento, sono anche più capaci di piegarsi alle dolci attrattive della virtù [...].“ (Ebd., S. 412f.) Ebd., S. 412. Verri, Pietro, „Storia naturale del caffè“, in: ebd., S. 16. Ders., „Elementi del commercio“, in: ebd., S. 36f. Vgl. dazu Santato, Guido, „‚Industria‘ e pubblica felicità in Pietro Verri“, in: Giorgio Bárberi Squarotti/Carlo Ossola (Hrsg.), Letteratura e industria, Bd. 1, Florenz 1997, S. 210f., 218f.
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empfiehlt“.26 Unaufdringlichkeit und Liebenswürdigkeit zeichnen das periodische Philosophieren aus: Der wahre Philosoph zieht die Zeitschrift dem Buch und der auf Belehrung angelegten Abhandlung vor; das Periodikum erscheint als das geeignetere Medium philosophischer Aufklärung. Beccaria macht noch einen weiteren Nachteil des Buches geltend: Bei der Lektüre eines Buches öffnet sich eine Kluft zwischen Leser und Autor, die „Distanz“ zwischen beiden ist zu groß. Er erblickt in der Rezeptionskonstellation der Buchlektüre die Gefahr, dass die „Eigenliebe“ des Lesers tendenziell verletzt wird: Die meisten Menschen sehen sich nicht in der Lage, ein Buch zu schreiben, aber jeder traut sich durchaus zu, einen Zeitschriftenartikel zu verfassen.27 Weitere Punkte, die er für die Überlegenheit des Periodikums als Mittel zur Verbreitung von Philosophie und Aufklärung anführt, sind die leichte Zugänglichkeit, die bequeme Transportmöglichkeit und die Kürze der Lektürezeit.28 (5) Schließlich zeigt Beccaria die Grenzen auf, die dem philosophischen Diskurs in den Periodika gesetzt sind: Sie mögen zwar dazu geeignet sein, dem kritischen Anspruch der Aufklärung auf Zerstörung der Vorurteile und der vorgefassten Meinungen zu genügen – zur Verbreitung „positiver Erkenntnisse“ sind sie allerdings eher ungeeignet.29 Der aufklärerische Anspruch der Mailänder Gruppe um Pietro Verri erschöpft sich demzufolge nicht in cartesianisierender Zerstörung der Vorurteile, in popularphilosophischer Volksaufklärung und mondäner Kaffeehausphilosophie, die in heiterem und unterhaltendem Stil zuweilen ironisch vorgetragen wird. Das Periodikum als Organ der Kritik wird also in komplementärer, nicht in alternativer Funktion zur systematischen Abhandlung des Buches gesehen. Periodische Kritik bedeutet keineswegs einen generellen Verzicht der Mailänder Aufklärer auf „positives“ und vielleicht sogar systematisches Philosophieren30, sondern repräsentiert gewissermaßen nur die pars destruens eines methodischen Programms philosophischer Kritik und Aufklärung, dessen pars construens sich in einer beachtlichen Buchpubli_____________ 26 27 28 29
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„[...] come un amico che vuol quasi dirti una sola parola all’orecchio [...].“ Beccaria, „De’ fogli periodici“, in: Romagnoli/Francioni (Hrsg.), „Il Caffè“, S. 411. „La distanza che passa tra l’autore di un libro e chi lo legge mortifica per lo più il nostro amor proprio [...].“ (Ebd., S. 411[f.].) Ebd., S. 412. „Finalmente i fogli periodici nontanto devon servire ad estendere le cognizioni positive, quanto contenerne molte di negative, vale a dire a distruggere i pregiudizi e le opinioni anticipate [...]; ad ogni verità grande ed interessante mille errori e mostruose falsità stanno d’attorno che la inviluppano e la nascondono agli occhi non sagaci, ed è questo sicuramente una gran parte della scienza dei secoli più illuminati; essi travagliano più a distruggere che ad edificare [...].“ (Ebd., S. 416.) Vgl. Rother, Wolfgang, La maggiore felicità possibile. Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien, Basel 2005, S. 73-77.
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kationstätigkeit des Kreises der Mailänder Philosophen um Pietro Verri manifestiert, denen die Grenzen periodischer Wissensvermittlung also durchaus bewusst waren. Im Sinne eines Resümees lässt sich festhalten: Ein zentraler Aspekt des philosophischen Selbstverständnisses der Zeitschrift Il Caffè ist der Anspruch, die Menschen aus ihrer lethargischen und vom Irrtum dominierten Daseinsform herauszureißen, wobei die Metaphern des Aufweckens und Animierens auch den politisch-ökonomischen Reformanspruch aufgeklärten und praxisorientierten Philosophierens zur Geltung bringen. Der Name des Periodikums steht für ein komplexes Aufklärungsprogramm: Il Caffè – der Kaffee als das die Geister weckende Getränk, aber zugleich auch das Kaffeehaus als der alternative Ort des philosophischen Diskurses; die Philosophie ist aus den Hörsälen der Universität, aber auch aus den Salons der honnêtes hommes und philosophierenden Damen und Herren des Adels ausgezogen und hat sich am gesellschaftlichen Treffpunkt der Bürger und Kaufleute niedergelassen. In dieser Hinsicht kann das in der Rahmenfiktion des Kaffeehauses angelegte Konzept durchaus als revolutionär bezeichnet werden: Das Café steht für die Erweiterung der Kreises der Adressaten philosophischer Aufklärungsbemühungen und der philosophierenden Subjekte, in den die Frauen nicht nur ausdrücklich mit eingeschlossen sind, sondern denen gar eine den Männern überlegene philosophische Kompetenz zugesprochen wird. Die generelle Einschätzung der Möglichkeiten des periodischen philosophischen Diskurses bleibt jedoch ambivalent: Zum einen ergibt sich durch die Destruktion des Kanons philosophischer Disziplinen die Chance enzyklopädischer Offenheit, in der sich die Gegenstände aus dem Aufklärungszweck konstituieren, zum anderen aber stößt ein exklusiv periodisches Philosophieren an Grenzen, die einen Rückgriff auf traditionelle Medien des philosophischen Diskurses als angezeigt erscheinen lassen.
Die wissenschaftliche Zeitschrift als Mittler. Von den Prager gelehrten Nachrichten zu den Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften Helga Meise Differenzierung, Professionalisierung und Institutionalisierung einer Kultur des Wissens in Böhmen sind in erster Linie durch die Geschichte der Böhmischen Gesellschaft für Wissenschaften belegt. Ihre Einrichtung, 1789 definitiv abgeschlossen durch die Weigerung der Gesellschaft, mit der Königlich Patriotischen Ackerbaugesellschaft zu fusionieren, spiegelt sich unmittelbar in drei sich aufeinander beziehenden, unterschiedlich erfolgreichen Zeitschriftenprojekten, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gestartet wurden. Die Titel lauten in chronologischer Folge: Prager gelehrte Nachrichten1, Abhandlungen einer Privatgesellschaft in Böhmen zur Aufnahme der Mathematik, der Vaterländischen Geschichte und der Naturgeschichte, zum Druck befördert von Ignatz Edler von Born2 und Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, auf das Jahr […] nebst der Geschichte derselben. Mit Kupfern.3 Geht man die Nummern der drei Zeitschriften von 1771 bis 1789 durch, treten nicht nur Entwicklung und Wandel hervor, sondern auch die zentrale Rolle, die das Medium Zeitschrift bei der Institutionalisierung der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften übernimmt: Zunächst Ersatz für die „mangelnden öffentlichen Anstalten in unseren Gegenden“4, wird es aufgrund seiner langen, wenngleich mehrfach unterbrochenen Laufzeit zum Geburtshelfer der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, einer staatlich anerkannten und vielfach geförderten öffentlichen Institution.
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Prag, Gerle, 1.1770–2.1771. Prag, Gerle, 1.1775–6.1784. Prag, Walther, [1.]1785, [2.]1786, [3.]1787(1788), 4.1788(1789). Abhandlungen einer Privatgesellschaft, 1/1775, S. 1: „Vorrede des Herausgebers an den Leser. Verschiedene meiner Freunde klagten öfters über den Mangel an öffentlichen Anstalten in unsern Gegenden, wodurch die einzelnen Beobachtungen der Gelehrten aufgesammelt, und dem Publikum mitgetheilet werden könnten.“
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Die wissenschaftliche Zeitschrift als Mittler
Die Prager gelehrten Nachrichten 1771/72: Kampf um Öffentlichkeit Die Prager gelehrten Nachrichten, 1771 und 1772 bei Wolfgang Gerle in Prag erschienen, sind das Unternehmen einer „Gesellschaft gelehrter Männer“.5 Ihr gemeinsames Ziel ist, „alle in den österreichischen Staaten jüngst ausgegebene oder künftig auszugebende Werke, durch wöchentliche gelehrte Nachrichten bekannt zu machen“.6 Zwischen den Werken bereits bekannter Gelehrter und „kleineren Schriften“ wird kein Unterschied gemacht; „jedes Fach der Wissenschaften“ wird für würdig befunden7, vorgestellt zu werden, mit Ausnahme der Theologie. Es geht zum einen um den Nachweis, dass auch in den Ländern der Habsburgermonarchie „hundert Männer […] an der Aufklärung unsrer Nation gemeinschaftlich arbeiten“8, zum anderen darum, „die Werke, aus allen Theilen der Wissenschaften, die täglich [in Österreich, H. M.] ans Licht treten“9, bekannt zu machen. Tatsächlich stellen die beiden Jahrgänge der Zeitschrift in 109 bzw. 108 Rezensionen Werke aus allen Bereichen des Wissens vor. Böhmen und die Mineralogie sind als Themen überproportional häufig vertreten. Einige Gebiete des Wissens werden öfter bedacht als andere. Im ersten Jahrgang sind dies die Landwirtschaft, die Medizin und die Kameralwissenschaften, im zweiten die Geschichte und das Recht. Die Literatur ist quantitativ und qualitativ, von Reden und Briefen bis hin zu zeitgenössischen Zeitschriften, Romanen und Theaterstücken, gut präsent. Werke aus Astrologie und Mathematik, Chemie, Physik und Naturkunde werden zwar gleichfalls gewürdigt, sind aber im Vergleich zur Literatur und den genannten Wissenschaften unterrepräsentiert. Festzuhalten ist das krasse Missverhältnis im Hinblick auf tschechische Publikationen. Im Vergleich zur Vielzahl lateinischer Publikationen findet pro Jahrgang lediglich ein tschechisches Werk Aufnahme. Während die zusammengetragenen Kritiken, verfasst von „tüchtigen Recensenten, die sich in diesem Fache einiges Ansehen erworben“10, das gesamte Feld des zeitgenössischen Wissens unter Ausschluss der Theologie vorführen, schneiden die Paratexte der beiden Nummern das Problem an, dem sich die Zeitschrift tatsächlich gegenüber sieht. Vignette und Motto des Titels, entlehnt von Virgil und Horaz, fordern dazu auf, jedermann sein eigenes Urteil zuzubilligen und selber mit Maß zu urteilen. Die „Vorberichte“ der beiden Nummern heben die „Unpartheylichkeit“ und
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Prager gelehrte Nachrichten, 1/1771, S. 3. Ebd. Ebd. Ebd., S. 2[v]. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3[v].
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die „uneigennützigen Absichten“ der Rezensenten hervor11; kritisiert wird jede Kritik, die sich durchsetzen will. Die „Vorberichte“ werben darum, das Publikum möge die ihm vorgelegten Urteile über die Werke von Wissenschaftlern ebenso unparteiisch und uneigennützig, offen und unvoreingenommen aufnehmen: widerholen wir hier bloß neuerdings, daß das Publikum unsre Urtheile nie als Machtsprüche ansehen solle, die wir ihnen aufdringen, sondern blos als unsre Meynungen, die man prüfen und sehen kann, wer von beyden Theilen, der Recensent, oder der Autor, Recht habe.12
Der „Mangel inländischer gelehrter Journale“13 wird ebenso beklagt wie der lückenhafte Vertrieb des Buchhandels14 und das Verhalten einiger „geldgieriger“ Protagonisten des Buchmarktes, die selbst vor Drohung und Erpressung nicht zurückschrecken.15 Die Prager gelehrten Nachrichten scheinen mit dem Umstand konfrontiert, dass eine Öffentlichkeit, welche die in Böhmen und der Monarchie publizierten wissenschaftlichen Werke kritisch begleitet, noch nicht existiert. Der Kampf um eine solche Öffentlichkeit, um das vernünftige Raisonnement steht im Zentrum, nicht die Verbreitung von Wissen. Die Abhandlungen einer Privatgesellschaft in Böhmen, zur Aufnahme der Mathematik, der vaterländischen Geschichte und der Naturgeschichte (1775–1784) Im Gegensatz dazu konzentrieren sich die Abhandlungen einer Privatgesellschaft in Böhmen zur Aufnahme der Mathematik, der Vaterländischen Geschichte und der Naturgeschichte auf die Forschungen der Mitglieder der Gesellschaft. Wieder stehen diese unter Beweislast: Das Publikum wird aus diesem und den künftigen Bänden, die wir jährlich fortzusetzen entschlossen sind, urtheilen können, wie leicht es sey, daß Gelehrte auch ohne öffentliche Aufmunterung und Unterstützung ihrem Vaterlande nützlich werden können, wenn sie nur von einem eben so erhabenen Eifer für die Verbreitung der Wissenschaften und des Ruhms ihres Vaterlandes beseelet sind, als diejenigen, welche sich zur Ausgabe dieser Abhandlungen vereiniget haben.16
Wieder wird neben den Zielen des Unternehmens, der „Verbreitung der Wissenschaften und des Ruhms ihres Vaterlandes“, die Tatsache ausge-
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Ebd., S. 4. „Partheylichkeit oder Eigennutz sind gewiß nicht Vorwürfe, die man uns mit Grunde machen kann.“ (Ebd., 2/1772, o. S.) Ebd. Ebd., 1/1771, S. 3. Ebd. Ebd., 2/1772, o. S. Abhandlungen einer Privatgesellschaft, 2/1776, S. *2.
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stellt, dass sich Böhmen von jeher durch die „Fruchtbarkeit an großen und gelehrten Männern“ vor den anderen Ländern der Monarchie ausgezeichnet habe17, wieder die Abwesenheit von Eigennutz und Parteilichkeit unterstrichen, arbeiten doch die, die sich in der „Privatgesellschaft“ zusammentun, wie die Rezensenten der Prager gelehrten Nachrichten, „ohne alle Nebenabsicht“.18 Aber Ziel ist nicht die Kritik des „schleunigen Fortganges der Literatur“19, sondern der Austausch über eigene Forschungen und die Publikation der „für wichtig“ gehaltenen Arbeiten.20 Die Wissensfelder werden, gleichfalls im Unterschied zu den Prager gelehrten Nachrichten, umrissen: Im Zentrum stehen die Mathematik sowie die Geschichte und Naturgeschichte Böhmens. Die „Vorberichte“, die die Nummern von 1775 bis 1784 eröffnen, setzen neue Akzente. Plädierten die Prager gelehrten Nachrichten für die „gesunde Vernunft und das Verdienst unsere Gegenden aufzuklären“21, so klagen die Abhandlungen der Privatgesellschaft ihre Unterstützung durch die Öffentlichkeit ab der zweiten Nummer direkt ein. Der „Vorbericht“ der ersten Nummer hatte sich noch damit begnügt, den Status der „Privatgesellschaft“ näher zu erläutern: Die gute Absicht, in welcher wir zu der Ausgabe dieser Ausarbeitung schreiten, muß uns hier statt der öffentlichen Diplomen dienen, welche andere gelehrte Gesellschaften gemeiniglich ihren Abhandlungen vorzudrucken pflegen. Der Patriotismus unserer einheimischen Gelehrten soll dafür Bürgschaft leisten, daß wir jährlich einen Band dieser Abhandlungen liefern werden; der Beyfall der Gelehrten aber, und der Dank unserer Mitbürger soll der einzige Lohn seyn, den wir für unsere Bemühungen erwarten, und der uns immer mehr und mehr aneifern wird, uns desselben würdiger zu machen.22
Der „erhabene Eifer“, den die zweite Nummer ausstellt, wird in der fünften Nummer (1783) neu ausgelegt. Das Adjektiv „patriotisch“ löst das Adjektiv „erhaben“ ab, wie gleich der erste Satz des „Vorberichtes“ klarstellt: „Der patriotische Eifer, für die Verbreitung der Wissenschaften und den Ruhm ihres Vaterlandes, der die gelehrten Mitarbeiter dieser Abhandlungen beseelt, liefert in diesem Bande wiederum die Früchte ihrer nützlichen Beschäftigungen.“23 Der Antrieb, dessen der Forscher bedarf, scheint nicht mehr allein vom Gegenstand und der wissenschaftlichen Tätigkeit auszugehen, sondern vom „Vaterland“: Es ist nicht mehr nur eines der Ziele der wissenschaftlichen Betätigung, sondern sein Ursprung.
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Ebd. Ebd. Prager gelehrte Nachrichten, 1/1771, S. 2[v]. Abhandlungen einer Privatgesellschaft, 1/1775, S. 2. Prager gelehrte Nachrichten, 2/1772, o. S. Abhandlungen einer Privatgesellschaft, 1/1775, S. 2f. Ebd., 5/1782, S. a.
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Waren die Rezensenten in den Prager gelehrten Nachrichten anonym geblieben, erlauben nun die Angaben von Namen und beruflicher Position zu Beginn eines jeden Artikels, die Beiträger zu identifizieren. Dies gilt in erster Linie für Ignaz von Born (1742–1791) selbst24, der als Initiator und als Garant des gesamten Unternehmens erscheint, figuriert er doch sowohl als Herausgeber aller Bände wie als Autor und Korrespondenzpartner der Gesellschaft. Die von ihm gezeichneten „Vorberichte“ sind der Beleg für die in Böhmen entstehende Kultur des Wissens, bezeugen aber auch deren Instabilität. Diese ist dem Status der „Privatgesellschaft“ geschuldet: Jeder Todesfall, ja jede private Lebensentscheidung des einzelnen Gelehrten, etwa ein Umzug von Prag nach Wien, bedroht sowohl die Zeitschrift wie das gesamte Unternehmen. Beide stützen sich gleichwohl auf einen harten Kern von Mitarbeitern, die aus dem einheimischen Adel, der Universität, dem höheren Schulwesen und der Bibliothek stammen. Die sechs insgesamt vorliegenden Nummern umfassen Beiträge aus allen wissenschaftlichen Disziplinen. Zentraler Gegenstand sowohl historischer wie naturgeschichtlicher Forschungen ist Böhmen, gefolgt von Beiträgen zu Mineralogie, Meteorologie und Naturgeschichte. Münzkunde, Kirchengeschichte und -recht, Kameralwissenschaften und Literatur, Reisen und Anleitungsliteratur, in den Prager gelehrten Nachrichten noch präsent, kommen nicht mehr vor. Die Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften (1785–1789) Das Scheitern auch dieses Projekts führt zu einem dritten Anlauf. Die neue Zeitschrift, die nicht mehr bei Gerle, sondern bei Walther erscheint25, widmet sich ebenfalls Böhmen und den Naturwissenschaften, bricht aber mit dem Status der „Privatgesellschaft“. Die Herausgabe geht an eine gleichzeitig gegründete wissenschaftliche Gesellschaft über. Die von dieser vier Jahre später getroffene Entscheidung gegen die Vereinigung mit der Königlich Patriotischen Ackerbaugesellschaft macht die Differenzierung einer Kultur des Wissens in Böhmen erstmals direkt greifbar: Die neue „Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften“ setzt sich gleich zu Beginn des vierten Bandes ihrer Zeitschrift 1789 von der seit 1770 arbeitenden Ackerbaugesellschaft ab26, indem sie ihre eigenen Ziele – Förderung von Mathematik,
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Reinalter, Helmut (Hrsg.), Die Aufklärung in Österreich. Ignaz von Born und seine Zeit, Frankfurt am Main, Bern, New York 1991 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa“ 1770–1850, 4). Prag, Walther, 1785–1789. Im folgenden zitiert als Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft. Vgl. Dinklage, Karl, „Gründung der theresianischen Ackerbaugesellschaften“, in: Zeitschrift für Agrarwissenschaft und Agrarsoziologie, 13/1965, S. 200-211; Cerman, Ivo, „Agrikulturgesell-
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Naturlehre und -geschichte sowie der Geschichte Böhmens – im Unterschied zu denen der Ackerbaugesellschaft darlegt. Bereits die diesem Band vorausgehenden Jahrgänge belegen die systematische Professionalisierung und Institutionalisierung, die die Gesellschaft seit ihrer Gründung betreibt. Jeder Band stellt Arbeitsgebiete, Aktivitäten und wissenschaftlichen Anforderungen vor, gleichzeitig nutzt die Gesellschaft das Medium zur Selbstdarstellung. Die dazu ins Leben gerufene Rubrik wird auf der Titelseite im Untertitel eigens aufgeführt: „Nebst einer Geschichte derselben“. Die Beiträge der einzelnen Jahrgänge sind erstmals thematisch gegliedert: An das jeweils der „Geschichte“ gewidmete erste Kapitel schließen sich „Fremde Aufsätze“ an, dann folgen die Aufsätze der Mitglieder der Gesellschaft, geordnet nach ihrer Zugehörigkeit zur Mathematik, Naturlehre und -geschichte bzw. der Geschichte Böhmens. In der Regel finden sich 5 bis 8 Artikel pro Rubrik, die Bände nehmen Jahr um Jahr an Umfang zu. Die ersten Kapitel zur „Geschichte der Gesellschaft“, durchweg von einem anonymen Autor verfasst, liefern sukzessive genaue Einblicke in die Konstituierung der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. Festzuhalten ist zunächst das strategische Vorgehen der selbst anonym bleibenden Gründungsmitglieder. Zum Bemühen um die Anerkennung der Gesellschaft durch Kaiser Joseph II. heißt es lakonisch: Der Wunsch der theilnehmenden Mitglieder war es schon lange, ihrem bisherigen Privatinstitute einen ausgebreiteten Umfang, und für die Zukunft eine gegründete Dauer und wahren Glanz zu geben.27
Sie unterbreiten dem Kaiser Statuten und Organisation. Das bezeigte allerhöchste Wohlgefallen und Genehmigung, über die innere Einrichtung und Gesetze, hatte die Gesellschaft zu gleicher Zeit, durch ein eigenes an das Königliche Landesgubernium erlassene Hofdekret, das Vergnügen zu erhalten.28
Die Gesellschaft ist zur öffentlichen Institution geworden. Das erste Kapitel der ersten Nummer berichtet detailliert über die Wahl des Präsidenten durch die Mitglieder, die Bestellung eines „Direktors“ zu seiner Unterstützung, die Mitgliederordnung und die Einrichtung von zwei Klassen, einer physischen und einer historischen. Die Anzahl der Mitglieder pendelt sich von Anfang an ein: Die Gesellschaft umfasst in der Regel 14 ordentliche, 10 auswärtige und 2 außerordentliche Mitglieder, hinzu kommen Präsident und Vizepräsident sowie im Laufe der Zeit einige wenige Ehrenmitglieder.
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schaften und die agronomische Aufklärung in den böhmischen Ländern“, in: Popplow, Marcus (Hrsg.), Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Regionale Fallstudien zu landwirtschaftlichen und gewerblichen Themen in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, Münster, New York 2008 [im Druck]. Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft, 1785, S. IV. Ebd.
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Wie ihre Vorläufer, auf die sich das erste Kapitel des ersten Jahrganges explizit bezieht, wenn es die Vorgeschichte der Gesellschaft bis an den Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt29, verschreibt sich die Gesellschaft der Verbreitung der Wissenschaften und des Ruhmes des Vaterlandes, setzt dazu aber andere Mittel ein. Da sind zunächst die Preisaufgaben, die Jahr um Jahr thematisch ausgeweitet werden und gleichzeitig dazu dienen, die eigenen wissenschaftlichen Anforderungen an den eingesandten Schriften darzulegen und durchzusetzen. Gleich im ersten Jahr findet sich die eingehende Auseinandersetzung mit den Antworten auf die erste, noch in den letzten Jahrgang der Abhandlungen einer Privatgesellschaft eingerückte Aufgabe. Diese hatte gelautet: Was ist bis jezt über die Naturgeschichte Böhmens geschrieben worden? Was fehlt in derselben noch? Welches wären die besten Mittel, dieselbe zu mehrerer Vollkommenheit zu bringen, um aus ihr den möglichsten Nutzen für das Vaterland zu ziehen?30
Da die Antworten nicht zufriedenstellend ausfallen, sieht sich die Gesellschaft genötigt, die Aufgabenstellung zu erläutern: Es kommt hier nicht sowohl auf die Kenntniß einer großen Anzahl ängstlich herzuzählender Werke, ihrer Uebersetzungen und verschiedenen Auflagen an, als auf die genaue Bestimmung ihrer Brauchbarkeit in der Naturgeschichte Böhmens, oder Warnung vor ihren Fehlern und Mängeln, um den künftigen Naturforschern die undankbare Mühe zu ersparen, eine so große Bibliothek ganz zu durchsuchen. Dieses war eigentlich die Bewegursache, warum eine Frage, die den ersten Augenblick bloss historisch=litterarisch erscheinet, mit einer physikalischen und physikalisch=politischen verbunden worden.31
Gleichwohl werden erster und zweiter Preis zuerkannt, wobei es zur Begründung des zweiten Preises heißt: […] bedauerte die Gesellschaft ungemein, nicht noch einen zweyten Preis austheilen zu können, um den Verfasser […] wegen seinen bewiesenen mühsamen Fleiß und Kenntnissen in dem litterar= und historischen Theil, ihren Beyfall erkennen zu geben; bloß weil der Verfasser seinen Stoff nicht physisch behandelte, mußte ihm die Gesellschaft den zweyten Platz anweisen […].32
Auch im folgenden Jahr wird es erforderlich, aufgrund der eingegangenen Antworten den Anforderungskatalog an die ausgeschriebene „Beschreibung eines merkwürdigen Bezirkes oder Kreises von Böhmen“ noch einmal zu verdeutlichen, von der Bestimmung der exakten geographischen
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Ebd.: „Die Absichten und der Zweck der Gesellschaft ist schon damals, in der Vorrede zum ersten Bande [der Abhandlungen der Privatgesellschaft, H. M.], von den gelehrten Herausgebern berühret worden.“ Ebd., S. VI. Ebd., S. VII. Ebd., S. IX.
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Lage über die Beschreibung der Morphologie, Pflanzen und Tiere, der „Gewürme […] ihrer Vermehrung […] nützlicher oder schädlicher Einwirkung auf verschiedene Erzeugnisse in der Natur“ bis hin zu der Beschreibung ihrer Bewohner, ihrer „Volkskrankheiten […] Aufklärung, Denkungsart“.33 Da sind weiter die Forschungsvorhaben einheimischer und auswärtiger Gelehrte, die in den ersten Kapiteln vorgestellt werden. Der Rekurs auf die unterhaltenen Korrespondenzen mit anderen Gelehrten und Gesellschaften erbringt den Beweis, dass die Böhmische Gesellschaft in die Netzwerke der gelehrten Welt integriert ist und als Gesellschaft eigenes Gewicht hat. Ihre kontinuierlich anwachsende Ausstattung stützt die Selbstdarstellung auch materiell: Sie bezieht bei ihrer Gründung 1785 ein neues Domizil, legt 1786 eigene Sammlungen, 1787 eine eigene Bibliothek an. Die Einweihung des Denkmals auf ihren Förderer, Karl Egon von Fürstenberg (1729– 1787), im Jahre 1786 wird programmatisch mit einer „ausserordentlichen und öffentlichen Versammlung, im Beysein einer Menge hoher Fremder“ begangen.34 Als ihr 1788 von höchster Stelle die Fusion mit der „Königlich Patriotischen Ackerbaugesellschaft“ nahegelegt wird, verweigert sie den Zusammenschluss mit dem Argument, dass weder die Ökonomie, der sich die Ackerbaugesellschaft verschreibe, noch der damit verbundene Zwang ihre Sache sei: Diese Gesinnungen, welche unserer Gesellschaft ihr erstes Dasein gegeben, und unter den Gliedern sich bis jezt erhalten haben, […] stehen dem entgegen. Vaterlandsliebe, und Neigung zu den Wissenschaften, waren bisher die einzigen Triebwerke, die wir kannten, weil wir Vergnügen daran fanden, dem Vaterlande nützlich zu seyn, und uns dadurch selbst belohnten. Wir arbeiteten freywillig, wann und wie wir wollten. Der bloße Gedanke eines Zwanges, würde dem Fleiße einzelner Mitglieder und der Gesellschaft selbst hinderlich seyn.35
Unter Berufung auf die „vollkommene Gleichheit, ohne Ansehen des Ranges“ ihrer Mitglieder36, die in ihren Statuten festgesetzt sei, besteht die Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften unter diesem Namen bis 1870.37
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Ebd., 1786, S. VIf. Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft, 1787, S. XII. Ebd., 1789, S. 8. Ebd., 1785, S. VI. Die Titel variieren leicht. Vgl. Neuere Abhandlungen der Königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften auf das Jahr […] nebst der Geschichte derselben, Prag, 1.1791–3.1798; [3. F.] 1.1802/04–8.1822/23 (1824); N.F. = [4.F.] 1.1824/26 (1827)–5.1836 (1837); 5.F. 1837/40 (1841)–15.1866/75; 6.F. 1.1867(1868)–3.1869(1870) [?].
VI. DIE MORALISCHE ÖKONOMIE DES WISSENS Einführung von Marian Füssel Der Begriff der „moralischen Ökonomie“ wurde von Edward Palmer Thompson zu Beginn der siebziger Jahre im Rahmen von Untersuchungen zur Kultur der englischen Arbeiterklasse im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne geprägt.1 Thompsons Ansatz war, dass das aufrührerische Verhalten der Arbeiter sich nicht mit den klassischen marxistischen Termini der politischen Ökonomie erklären ließ, sondern vielfach einer moralischen Codierung folgte, die über Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz obrigkeitlicher Zumutungen entschied. Inzwischen ist der Begriff weit über die Ebene der Brotpreise und Hungerrevolten auch in der wissenschaftshistorischen Forschung etabliert und hat sich dabei zum Teil von seiner ursprünglichen Prägung entfernt. Steven Shapin etwa benutzt ihn als Beschreibungskategorie in seiner Untersuchung über die Sozialgeschichte der Wahrheit im England des 17. Jahrhunderts. Er führt den Begriff der „moralischen Ökonomie“ ein, um dem Zusammenhang zwischen sozialen und epistemologischen Geltungsbedingungen aufzudecken: To the aggregate of individuals we need to add the morally textured relations between them, notions like authority and trust and the socially situated norms which identify who is to be trusted, and at what price trust is to be withheld. The epistemological paradox can be repaired only by removing solitary knowers from the center of knowledge-making scenes and replacing them with a moral economy.2
Einen theoretischen Klärungsversuch hat schließlich Lorraine Daston unternommen.3 Unter den „moralischen Ökonomien der Wissenschaft" versteht sie ein „Netz affektgesättigter Werte, die in fest umrissenen Beziehungen zueinander stehen und fungieren.“4 „Moral“ hat hier gleichzeitig psychologische wie normative Konnotationen. Ihre Ökonomie wird zu einem „balancierten System emotionaler Kräfte“. Die damit eingeführte _____________ 1 2 3 4
Thompson, Edward Palmer, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, Berlin u. a. 1980. Shapin, Steven, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago 1994, S. 27 u. 34 und öfter. Daston, Lorraine, „Die moralischen Ökonomien der Wissenschaft“, in: dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt am Main 2001, S. 157-184. Ebd., S. 158.
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VI. Die moralische Ökonomie des Wissens. Einführung
Betonung von Affektivität und Werthaltung soll jedoch keine individualpsychologischen Deutungen implizieren, sondern sich auf kollektive Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster beziehen. In Anlehnung an Ludwik Fleck spricht Daston daher auch von „Gefühls- und Denkkollektiven“.5 Die moralischen Ökonomien des Wissens lassen sich schließlich empirisch noch konkretisieren, wenn wir ihr fleischgewordenes Substrat in Gestalt des gelehrten Habitus mit berücksichtigen.6 Auf diese Weise wird es möglich, die gelehrten Akteure wieder in die Betrachtung mit einzubeziehen, ohne die individualistischen und subjektphilosophischen Erblasten mit zu tragen. Der Habitus bildet gleichsam das Scharnier zwischen den moralökonomischen Wertesystemen und den Praktiken der Wissensbefassung, also den vielfältigen Weisen, Wissen zu produzieren, anzueignen und weiterzugeben. Ausgehend von diesen allgemeinen theoretischen Überlegungen geht es uns hier vor allem darum zu bestimmen, was die moralischen Ökonomien speziell des 18. Jahrhunderts ausmachte. Wir wollen also mit anderen Worten nach der spezifischen Historizität solcher „Netze“, Habitusformen und Werthaltungen fragen. Daston selbst hat beispielsweise im Rückgriff auf verschiedene wissenschaftshistorische Studien für die Wissenskultur des 17. Jahrhundert auf den Stellenwert der Neugier oder die Dominanz des Vertrauensparadigmas aufmerksam gemacht. Dabei eröffnet die Historisierung und Kontextualisierung von Wissensfeldern gleichzeitig eine Verbindung zur neuen Kulturgeschichte.7 Wissenschaft als kulturelle Praxis zu problematisieren, eröffnet schließlich auch einen Weg jenseits überkommener Alternativen von internalistischer vs. externalistischer Perspektive.8 Frühneuzeitliche Wissenskulturen gehen nicht in ihren sozialen Kontexten auf, sondern werden in ihrer Differenz zu ihnen als eigene Kultur erst sichtbar. An zwei Bereichen werden in den folgenden Beiträgen mögliche Fragerichtungen skizziert: den institutionellen Mechanismen der Wissenslegitimation und -produktion sowie der Ebene des gelehrten decorums. Für eine Kulturgeschichte des Wissens im 18. Jahrhundert macht es dabei einen signi_____________ 5 6 7
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Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 4. Aufl., Franfurt am Main 1999. Füssel, Marian, „Akademische Lebenswelt und gelehrter Habitus. Zur Alltagsgeschichte des deutschen Professors im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, 10/2007, S. 35-51. So deutet für Daston „sehr viel darauf hin, dass die moralischen Ökonomie der Wissenschaft ihre Formen und ihre emotionale Kraft aus der Kultur ziehen, in der sie eingebettet sind – bürgerliche Gewissenhaftigkeit, protestantische Introspektion, Ehrenregeln der Gentleman –, und hier liegt ein vielversprechendes Feld für eine Allianz der wissenschaftshistorischen Forschung mit der neuen Kulturgeschichte und deren anthropologischen Seitenzweigen.“ (Daston, „Ökonomien“, S. 178.) Vgl. Bödeker, Hans Erich / Reill, Peter Hanns u. a. (Hrsg.), Wissenschaft als kulturelle Praxis (1750–1900), Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 154).
Marian Füssel
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fikanten Unterschied, welche institutionellen Rahmungen der Produktion, Distribution und Legitimation von Wissen zu Grunde lagen. Die Universität bildete längst nicht mehr den alleinigen Ort des Wissens. Spätestens seit der Renaissance war der Hof als Wissensraum hinzugetreten, indem adelige Macht in Gestalt von ökonomischem wie symbolischem Kapital zum Förderer gelehrten Wissens wurde. Mit der Akademiebewegung kam es andererseits zunehmend zur Ausbildung von Wissensräumen, die sich zumindest dem Anspruch nach von den sozialen Geltungsbedingungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt emanzipierten. So beleuchtet der Beitrag von Iris Fleßenkämper einen klassischen Gegenstand der Aufklärungsforschung in Gestalt der Produktion egalitär strukturierter Diskursräume. In der spezifischen Rekonstruktion der „kommunikativen Etikette“ der Schotten geht sie jedoch einen entscheidenden Schritt über bisherige Forschungen hinaus, indem sie stärker auf die unterschiedlichen Legitimationsstrategien gelehrten Wissens abhebt und damit einen Beitrag zur Erforschung der „moral economy“ der schottischen Aufklärung leistet. Auch Sebastian Kühns Beitrag stammt aus dem Kontext der Akademiebewegung. Er rekonstruiert exemplarisch die gelehrte Streitkultur am Beispiel Denis Papins und Leibniz sowie der Royal Society und zeigt so welchen Einfluss affektgeladene Wertungen auf den Ausgang wissenschaftlicher Kontroversen haben konnten. Dass auch die eher virtuellen Kommunikationsräume von Gelehrtenrepublik und Markt über dynamische moralökonomische Mechanismen verfügten, lässt sich am gelehrten Selbstverständigungsdiskurs über Fragen des decorums aufzeigen. So deutet Daniel Fulda das frühaufklärerische Ideal des politisch-galanten Gelehrten als Ausdruck einer Umstellung von polyhistorischen Wissensansprüchen zu situationsspezifisch angelegtem Gefallen, die Ausdifferenzierungsprozesse im wissenschaftlichen Feld reflektiere. Wie hingegen gelehrte Kommunikationsstile der Spätaufklärung ästhetisch gerahmt wurden, zeigt Carlos Spoerhase mit seiner Analyse des Tons als „epistemologischer Reflexionskategorie“ bei Lessing, Kant und Fichte. Dass damit auch Fragen des jeweiligen wissenschaftlichen Habitus berührt werden, deuten bereits die zeitgenössischen Gegenüberstellungen von „Komplementierton“ und „grobem Ton“ an. Der Ton führt gleichsam in das Zentrum dessen, was hier als moralische Ökonomie angesprochen werden soll: die soziale Dimension des Wissens, dessen Geltung sich nicht allein aus sich selbst, sondern ebenso aus dem Status der jeweiligen Akteure und ihren kommunikativen Praktiken speiste, die über Gewinne und Verluste an epistemischer Geltung entscheiden konnten.9 _____________ 9
Vgl. Füssel, Marian, „The Charlatanry of the Learned: On the Moral Economy of the Republic of Letters in Eighteenth-Century Germany,“ in: Cultural and Social History, 3/2006, 3, S. 287-300.
Die Select Society of Edinburgh (1754–1764). Soziale Logik und kommunikative Etikette Iris Fleßenkämper Im 18. Jahrhundert griffen die schottischen Gelehrten, ähnlich wie ihre Kollegen auf dem europäischen Festland auch, auf ein stetig wachsendes Netzwerk von Akademien, Clubs und Sozietäten zurück, das einen kontinuierlicheren, einen dichteren, intensiveren und vor allem organisierteren Austausch von Wissenswertem versprach. Die Select Society of Edinburgh gehörte zu den gelehrten Gesellschaften mit dem zugleich differenziertesten und prominentesten Sozialprofil im Schottland der Aufklärung. Zu ihren Mitgliedern zählte die geistige, klerikale und soziopolitische Elite Schottlands, darunter nicht nur die aus heutiger Sicht renommiertesten Protagonisten der „schottischen Aufklärung“1 David Hume, Adam Smith, William Robertson und Adam Ferguson, sondern auch von der internationalen Forschung bislang weniger beachtete Gelehrte wie der Dramatiker John Home, der Dichter William Wilkie oder der Mediziner Alexander Monro. Trotz der Prominenz der Mitglieder war die Select Society bisher noch nicht Gegenstand einer systematischen monografischen Untersuchung – in Forschungsbeiträgen zur schottischen Aufklärung kam ihr lediglich eine periphere Bedeutung zu.2 Der Grund liegt sicherlich darin, dass die heutige Forschung vermehrt von traditionellen Ansätzen ausgeht und die schottische Aufklärung primär als Produkt geistiger Umtriebe denn als soziokulturelles Phänomen begreift.3 Da die _____________ 1 2
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Der Begriff „schottische Aufklärung“ wurde erstmals im Jahre 1900 von William Robert Scott in einer klassischen Studie über Francis Hutcheson geprägt. Scott, William R., Francis Hutcheson: His Life, Teachings and Position in the History of Philosophy, Cambridge 1900, S. 2. Roger Emerson widmete der Select Society als bisher einziger Historiker einen eigenen Aufsatz; sein Themenschwerpunkt blieb hier jedoch auf die soziale Zusammensetzung der Sozietät begrenzt. Emerson, Roger L., „The Social Composition of Enlightened Scotland: the Select Society of Edinburgh (1754–1764)“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 114/1973, S. 291-329. Eine Monografie zur Select Society von Iris Fleßenkämper ist fertiggestellt und erscheint 2009. Der traditionelle ideengeschichtliche Forschungsansatz geht auf Hugh Trevor-Roper zurück, der die schottische Aufklärung in seinem gleichnamigen Aufsatz Ende der 1960er Jahre als „efflorescence of intellectual vitality“ definierte: Trevor-Roper, Hugh, „The Scottish Enlightenment“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 58/1967, S. 1635-1658, Zitat
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Die Select Society of Edinburgh (1754–1764)
Sitzungsprotokolle der Sozietät weder die konkreten Redebeiträge der Mitglieder noch das Gesamtergebnis der in den Versammlungen geführten Debatten dokumentieren, eignen sie sich nur bedingt als Grundlage für eine geistesgeschichtlich orientierte Untersuchung der Select Society. Eine im engeren Sinne ideengeschichtliche Analyse ist jedoch nicht Ziel dieses Beitrags. Im Mittelpunkt steht vielmehr die kulturhistorisch inspirierte Frage, unter welchen sozialen und kommunikativen Bedingungen eine wissenschaftliche Zusammenarbeit in der Sozietät funktionieren und neues Wissen im Schottland der Aufklärung produziert, angeeignet und legitimiert werden konnte. Gemessen an ihrer differenzierten sozialen Zusammensetzung verspricht die Rekonstruktion der kommunikativen Etikette und des sozialen Funktionierens der Gesellschaft generaliter auch einen Zugang zu der Frage nach den allgemeinen Formen des gelehrten Umgangs im Schottland des 18. Jahrhunderts zu eröffnen. Die Select Society of Edinburgh ging im Mai 1754 auf die private Initiative des Künstlers und Gelehrten Allan Ramsay (1713–1784) zurück.4 Vordergründiges Ziel der Sozietät war es, ihre Mitglieder in Rhetorik und Geisteswissenschaft zu schulen.5 Eine solche Zielsetzung kam in erster Linie jungen und ambitionierten Berufseinsteigern entgegen, die in der Politik und Justiz, im Bildungsbereich und in der Kirche eine höhere Karriere anstrebten. Die wöchentlichen Versammlungen der Sozietät fanden jeden Mittwoch Abend von November bis August zunächst im Untergeschoss des Gebäudes statt, in dem auch ehemals das schottische Parlament getagt hatte. Auf den Sitzungen sollten die Mitglieder die Möglichkeit erhalten, ihre Rede- und Vortragskunst in freien Debatten um ein im Vorfeld gemeinsam vereinbartes Thema zu trainieren – das Themenspektrum reichte dabei von Recht, Wissenschaft, Literatur und Kultur bis hin zu ökonomischen und staatstheoretischen Fragen.6 Als _____________
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S. 1637. Neuere ideen- und philosophiegeschichtliche Forschungsarbeiten zur schottischen Aufklärung finden sich z. B. in: Broadie, Alexander (Hrsg.), Scottish Enlightenment, Edinburg 2001; ders. (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Scottish Enlightenment, Cambridge 2003. Der Kleriker Alexander Carlyle (1722–1805), konstituierendes Mitglied der Select Society, notierte in kurzer Form die Gründung und den Werdegang der Sozietät und übergab die Skizze dem Philosophen Dugald Stewart (1753–1828), der sie in seine Biografie über William Robertson einfügte. Stewart, Dugald, An Account of the Life and Writings of William Robertson, London 1801, S. 137ff. (Appendix A). Zum Leben und Werk Ramsays siehe Smart, Alastair, Allan Ramsay (1713–1784), Edinburg 1992 Ebd., S. 137. Die Select Society führte ein „Question-book“, in dem sich ein Großteil der in der Gesellschaft debattierten und vorgeschlagenen Fragen verzeichnet findet: Questions debated in the Select Society [1754–1763], National Library of Scotland [hiernach NLS], MS. 25453, ff. 36-39. Der Fragenkatalog wurde auch im Protokollbuch der Sozietät handschriftlich fixiert: Minute-Book of the St. Giles or Select Society of Edinburgh [1754–1763], NLS, Adv. MS. 23.1.1, ff. 187-201 [hiernach Minutes].
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Diskussionsforum richtete sich die Select Society demnach hauptsächlich an vorgebildete Professionisten, die nicht nur ganz allgemein ihren Wissenshorizont erweitern und zum Gemeinwohl beitragen, sondern auch speziell die für ihren beruflichen Werdegang erforderlichen Zusatzqualifikationen erlangen wollten. Obwohl die Select Society hauptsächlich auf die private Initiative von bürgerlichen Professionisten – Advokaten, Professoren, Medizinern und Geistlichen – zurückging, wurden schon bald zahlreiche Mitglieder des hohen Titularadels von der Gesellschaft kooptiert.7 Von den insgesamt 163 Mitgliedern der Sozietät gehörten knapp ein Drittel dem höheren und niederen Erbadel an; die restlichen Mitglieder sind überwiegend dem titellosen Landadel und den höheren bildungsbürgerlichen Mittelschichten zuzurechnen, wobei die Grenze zwischen beiden Schichten oftmals fließend verlief.8 Die hochrangige und professionale Zusammensetzung erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass in Edinburgh nach der anglo-schottischen Realunion wichtige Institutionen erhalten blieben. Zwar verloren die Schotten 1707 ihr Parlament und damit ihre Souveränität, sie behielten auf Grundlage des Unionsvertrages dennoch ihre eigene Kirche, ihr eigenes Rechts- und Bildungswesen. Edinburgh blieb als Tagungsort der Generalsynode der presbyterianischen Scottish Kirk wie auch als Sitz selbstständiger Rechtsinstitutionen, ihrer eigens verwalteten Universität und nach 1707 neu eingerichteten Administrativbehörden ein metropolitanes Zentrum, das weiterhin zahlreiche berufliche und ehrenamtliche Betätigungsfelder für eine schottische Elite bot. Die Aufklärungsgesellschaften in Edinburgh konnten somit auf ein breites Rekrutierungspotenzial an qualifizierten Kräften und hochrangigen Gentlemen zurückgreifen, das in anderen Städten des Landes nur schwerlich zu finden war.9 _____________ 7
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Die numerische und personelle Zusammensetzung der Sozietät lässt sich zum einen aus den handschriftlichen Sitzungsprotokollen (Minutes, vgl. Anm. 6), zum anderen aus den anfangs jährlich im Oktober erstellten Mitgliederlisten erschließen. Die National Library of Scotland führt zwei Mitgliederlisten der Select Society in gedruckter Form, die jeweils auf den 20. Oktober 1756 und 18. Oktober 1758 datiert sind (MS. 25453, f. 34 und FB.l.177). Eine Liste vom 17. Oktober 1759 befindet sich im Anhang von: Stewart, Life and Writings of William Robertson, S. 318ff. Stewart erhielt die Liste von Alexander Carlyle. Ein weiteres Mitgliederverzeichnis vom 1. Februar 1763 ist im Protokollbuch zu finden: Minutes, List of St. Giles’s Society 1st February 1763, ff. 185-186. Zur engen Verknüpfung von Adeligen und Bürgerlichen in der britischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts vgl. Schröder, Hans-Christoph, „Der englische Adel“, in: Armgard von Reden-Dohna/Ralph Melville (Hrsg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters (1780– 1860), Stuttgart 1988, S. 22-88. Grundlegend hierfür Emerson, Roger L., „The Enlightenment and Social Structures“, in: Paul Fritz/David Williams (Hrsg.), City and Society in the 18th Century, Toronto 1973, S. 99124; Phillipson, Nicholas T., „Towards a Definition of the Scottish Enlightenment“, in:
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Die Select Society of Edinburgh (1754–1764)
Es gilt nun zu klären, aus welchen Gründen sich Vertreter des höheren und niederen Adels und des höheren Bildungsbürgertums in der Select Society zusammenschlossen. Eine grobe soziologische Unterteilung der Mitgliederschaft in ein grundbesitzendes adeliges und ein professionelles bürgerliches Element trifft hier allerdings nicht zu, da auch Adelige bürgerliche Berufe ausübten und viele Professionisten der Sozietät Grund und Boden besaßen. Vielmehr ist es sinnvoll, zwischen den Mitgliedern zu differenzieren, die als Juristen, Professoren und Gelehrte ein berufliches, fachliches oder intellektuelles Interesse an den Diskussionen hatten, und den ‚amateurwissenschaftlich‘ Interessierten, die in diesem Fall vorwiegend hochadeliger Herkunft waren. Von Alexander Carlyle, Gründungsmitglied der Select Society, erfahren wir, dass sich die adeligen Mitglieder der Sozietät im Vergleich zu den „literati“ in Edinburgh eher selten an den Debatten beteiligt hatten.10 Es ist also davon auszugehen, dass die hochadeligen Laien ebenso wie die professionellen Experten in der Sozietät jeweils eigene Interessen und Ziele verfolgten, die miteinander kompatibel waren und eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit auch über einen längeren Zeitraum gewährleisten sollten. Um seine ökonomische und soziale Macht auch in Zeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels erhalten und absichern zu können, war der schottische Adel zunehmend auf neues, zeitgemäßes Wissen angewiesen. Durch eine gezielte Zusammenarbeit mit studierten Experten konnten die adeligen Grundbesitzer nicht nur ihren Bildungsstand allgemein erweitern, sondern auch nützliche Erkenntnisse etwa im Bereich der landwirtschaftlichen Technik und Produktion erzielen, die ihren eigenen Wirtschaftsinteressen unmittelbar zugute kamen. Daneben lag es im Interesse des nach 1707 in Schottland zurückgebliebenen Adels, seinen Statusverlust zu kompensieren und sich als sozio-politische Elite neu zu positionieren und zu legitimieren. Während vor der Union noch insgesamt 232 Abgeordnete meist aristokratischer Abstammung das schottische Parlament frequentiert hatten, waren es nach 1707 lediglich 45 _____________
10
Fritz/Williams (Hrsg.), City and Society, S. 125-147; ders., „Culture and Society in the 18thCentury Province. The Case of Edinburgh and the Scottish Enlightenment“, in: Lawrence Stone (Hrsg.), The University in Society, Princeton 1975, S. 407-448. „[The Select Society] included all the Literati of Edinburgh and its neighbourhood, and many of the Nobility and Gentry, who, though a few of them only took any share in the debates, thought themselves so well entertained, and instructed, that they gave punctual attendance.“ Alexander Carlyle zitiert in Stewart, Life and Writings of William Robertson, S. 138. In Akademien und gelehrten Gesellschaften nahmen die Adeligen häufig Ehrenämter ein, während die Bürgerlichen die wissenschaftliche Arbeit übernahmen. Vgl. Voss, Jürgen, „Akademien und Gelehrte Gesellschaften“, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt am Main 1993, S. 32. Es ist jedoch noch nicht hinreichend untersucht worden, aus welchem Anlass sich vor allem die adeligen Laien im 18. Jahrhundert am Gesellschaftsleben beteiligten.
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Commoners und 16 hochadelige Peers, die in das gemeinsame britische Parlament in Westminster gewählt wurden.11 Obwohl sich der Adel in Anbetracht seiner nunmehr eingeschränkten politischen Partizipationsmöglichkeiten vermehrt an der lokalen Selbstverwaltung beteiligte und seine hegemoniale Stellung gleichermaßen als Geburts- und Funktionselite des Landes zu erhalten suchte, fehlte ihm eine Institution, die ihm eine neue kollektive Identität zu geben vermochte. Mit der Select Society hatten Allan Ramsay und seine gelehrten Freunde 1754 eine Gesellschaft ins Leben gerufen, die der in Schottland verbliebenen sozialen Elite einen neuen kulturellen Bezugspunkt bot. Als Ersatz für fehlende politische Kompetenzen spielte nun die Kultur in Form von Wissen und Bildung als Rangkategorie und Statussymbol für den höheren Adel eine zentrale Rolle.12 Die Select Society trug also maßgeblich dazu bei, dass bürgerliche Leitbilder, die sich nicht an der ständischen Ehre und Tradition orientierten, sondern auf Wissen und Leistung bauten, auch in den adeligen Oberschichten ihren Niederschlag fanden. Auf diese Weise gewann auch das gelehrte Wissen eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimität. Die hohe Präsenz des Adels in der Sozietät erwies sich auch für die Gelehrten von Vorteil. So diente die Teilnahme des hohen Adels unter anderem der Legitimation wissenschaftlicher Aktivitäten und Ergebnisse. Im Europa der frühen Neuzeit bestand zwischen sozialem Status und wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit ein innerer Zusammenhang.13 Wie Peter Dear herausstellte, zählten bereits zu den Mitgliedern der frühen Royal Society of London zahlreiche hochrangige Geistliche und Aristokraten, die den Forschungsprojekten zusätzliches Gewicht verliehen und der königlichen Sozietät zu gesellschaftlichem Ansehen verhalfen, „which could itself be turned to evidential advantage“.14 Auch die Gründer der Select Society erkannten wohl zwischen Glaubwürdigkeit und Adel einen engen Zusammenhang. Als Referenten im Kreise eines renommierten Publikums hatten die Gelehrten in der Sozietät gewissermaßen „teil am Adel“ - einem hohen Status, der sich von der „eigenen sozialen Identität“ auf das eigene Fachgebiet, die eigenen Argumente und Ideen transferieren ließ.15 Und _____________ 11 12
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Allan, David, Scotland in the Eighteenth Century. Union and Enlightenment, Edinburg 2002, S. 14. Aus dieser Perspektive erhält auch der Versammlungsort der Select Society im ehemaligen Parlamentsgebäude eine besondere symbolische Dimension, unterstreicht er doch zugleich den Partizipationsanspruch und die kompensatorische Haltung des adeligen Mitgliederkreises. Biagioli, Mario, Galilei, der Höfling. Entdeckungen und Etikette: Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft, Frankfurt am Main 1999, S. 28. Dear, Peter, „Totius in Verba: Rhetoric and Authority in the Early Royal Society“, in: Isis, 76/1985, S. 145-165, Zitat S. 156. Vgl. Biagioli, Galilei, S. 42. In der Analyse der Patronagebeziehungen von Galilei kommt auch Biagioli zu dem Schluss, dass der hohe Status eines adeligen Schirmherrn die
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schließlich verbürgte ein hoher sozialer Status, wie schon erwähnt, die Glaubwürdigkeit neuer Erkenntnisse und Denkansätze. Eine hochrangige Besetzung verschaffte den Mitgliedern und gelehrten Debatten nicht nur ein höheres Maß an sozialer Legitimation, sondern schützte die Sozietät auch vor Diffamierungen und kritischen Reaktionen. Zusätzlich spielten die Adeligen in der Sozietät eine wichtige Rolle als Mäzene und Patrone. Da die Select Society keine staatliche Gründung war und folglich auch nicht von der Krone finanziell unterstützt wurde, erwartete man von ihnen als den wohlhabenderen Mitgliedern eine Subventionierung der gesellschaftlichen Projekte.16 Die Rekrutierung von Adeligen diente den bürgerlichen Professionisten auch vornehmlich dazu, einen erweiterten sozialen Kontakt herzustellen und den gesellschaftlichen Aufstieg zu befördern. Anhand ausgewählter Briefe der Mitglieder der Select Society lässt sich nachweisen, dass vor allem die politisch einflussreicheren Gesellschafter adeliger Herkunft im Zeitraum von 1754 bis 1764 eine bedeutende Rolle als politische Broker oder Mäzene für die bürgerlichen Professionisten und Gelehrten spielten. Die Select Society war daher mehr als nur eine intellektuelle Gemeinschaft, die sich über ihre gelehrte Arbeit definierte: Sie war auch ein sozialer Raum, in dem die Gelehrten einen erweiterten sozialen Kontakt herstellen, einen höheren sozialen Status und größere Glaubwürdigkeit erlangen konnten. Die gemeinschaftliche Zusammenarbeit in der Select Society hing daher nicht zuletzt auch von den statusbedingten Bedürfnissen ihrer sozialen Akteure ab. Obwohl sich die Select Society zu einem großen Teil aus hochrangigen Gentlemen zusammensetzte, so kam ihnen als ‚Laienpublikum‘ keine privilegierte Stellung zu. Das Basisprinzip der Sozietät war die Egalität: Sie strebte eine herrschaftsfreie Kommunikation an, die nicht von ständischen, politischen oder konfessionellen Gründen geleitet war. Auf ihrer konstituierenden Sitzung vom 23. Mai 1754 stellten die Gründungsmitglieder daher spezifische Regeln auf, die ein gleichberechtigtes, diszipliniertes, respektvolles und geordnetes Arbeiten in der Sozietät gewährleisten sollten.17 _____________ 16
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Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Aussagen gewährleistete und gelehrten Klienten die nötige soziale Legitimation als (Natur-)Wissenschaftler verlieh. Zu den finanzkräftigen Projekten der Sozietät gehörten zum Beispiel die seit 1755 im Rahmen ihrer Tochtergesellschaft jährlich veröffentlichten Preisausschreiben. Vgl. hierzu Fleßenkämper, Iris, „‚Exciting a Spirit of Emulation‘. Selbstverständnis und Aktionsfeld der Edinburgh Society for the Encouragement of Arts, Sciences, Manufactures, and Agriculture in Scotland (1755–1764)“, in: Marcus Popplow (Hrsg.), Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Regionale Fallstudien zu landwirtschaftlichen und gewerblichen Themen in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, Münster, New York [erscheint Ende 2008]. Die Konstitutionsschrift der Sozietät erschien in gedruckter Form unter dem Titel Rules and Orders of the Select Society, Instituted on Wednesday the 23d Day of May, 1754 (S. 3-7) und
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Die Satzung schrieb zunächst vor, dass jedes Mitglied in der Reihenfolge, in der sein Name auf der Mitgliederliste erschien, den Vorsitz des Plenums zu übernehmen hatte. Dabei ist zu beachten, dass die Mitgliederlisten, die in gedruckter Form erschienen oder der Satzung beigefügt wurden, die Namen der Gesellschafter in der Reihenfolge ihres Beitrittsdatums und nicht nach sozialen Rängen aufführen. Die wichtigsten Aufgaben des „Praeses“ bestanden darin, die Mitgliederversammlung einzuberufen und aufzulösen, die Diskussion während der Sitzungen zu moderieren und allgemein Ordnung zu halten. Daneben besaß er das Privileg, das Diskussionsthema der folgenden Sitzung aus dem von der Mitgliederversammlung vereinbarten Fragenkatalog zu wählen und verbindlich festzusetzen. Für die Selektion der von den Mitgliedern eingereichten Themenvorschläge war ein gesondertes Gremium zuständig, das vom Plenum in regelmäßigen Abständen neu gewählt wurde. Jedes Mitglied, das sich mit der getroffenen Themenauswahl nicht zufrieden zeigte, konnte gegen die Entscheidungen und Empfehlungen des Komitees jederzeit Einspruch erheben. Sowohl der Präsident als auch die einzelnen Funktionsträger erhielten ihre Aufgaben und Kompetenzen allein von der Mitgliederversammlung und blieben ihr gegenüber rechenschaftspflichtig. Schließlich war jedes Mitglied verpflichtet, einen jährlichen Beitrag von fünf Schilling Sterling an den Kassier zu entrichten, um die Unkosten der Sozietät zu decken. Die allgemeinen Bestimmungen zur Verwaltungsstruktur wurden von Maximen ergänzt, die ein diszipliniertes Gesprächsverhalten und einen gesitteten Umgang in den Plenarsitzungen vorschrieben. Den Referenten war es nicht erlaubt, andere Mitglieder beim Namen oder Titel nennen – sie mussten ihre Redebeiträge allein an den Präsidenten der Sitzung richten. Letztlich sollte unabhängig von Stand und Rang mit sachlichen Argumenten überzeugt werden. Keiner der anwesenden Mitglieder durfte den Redner unterbrechen oder diffamieren. Die Teilnehmer sollten im Gespräch einen disziplinierten, engagierten und sachlichen Habitus an den Tag legen und auf persönliche Provokationen und Beleidigungen gänzlich verzichten. Das Ideal war die Herstellung eines absolut konfliktfreien Dialoges, der ausschließlich der wissenschaftlichen Erkenntnis dienen sollte – strittige Themen, die sich im engeren Sinne auf die Offenbarungsreligion oder den Jakobitismus bezogen, kamen daher nicht zur Absprache. Dem Protokollbuch ist hingegen zu entnehmen, dass die Gesellschafter bereits in den Anfangsjahren auffallend oft gegen die Grundsätze _____________ Additional Rules and Amendments of the Society’s Laws, 17th July, 175 (S. 8-12), NLS, RB.s.1299(5). In der National Library of Scotland befindet sich das vermutlich letzte erhaltene Exemplar der sozietären Satzung.
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und Ordnung der Sozietät verstießen. Warnhinweise, Strafmaßnahmen und Vorschläge zur Neugestaltung des sozietären Programms belegen, dass Norm und Praxis, Reglement und tatsächliches Gesellschaftsleben in der Select Society weit auseinandergehen konnten. So kamen die Mitglieder ihrer Anwesenheits- und Zahlungspflicht nur sehr unregelmäßig nach, weigerten sich oftmals, den Vorsitz und die damit verbundenen Aufgaben zu übernehmen, und reichten nur selten Themenvorschläge für die Debatten ein. Daneben nahmen viele von ihnen nicht aktiv an den Diskussionen teil, trafen häufig verspätet zu den Sitzungen ein und scheuten sich zuweilen auch nicht, die Referenten während ihrer Rede unsachgemäß zu kritisieren und zu provozieren. Auf die häufigen Regelverstöße reagierte die Select Society mit dem Erlass neuer Normen und Vorschriften: So mahnte die Sozietät wiederholt zur Pünktlichkeit, verpflichtete die Mitglieder zu mehr Disziplin, Höflichkeit und Engagement und beschloss im Januar 1757, künftig nur noch sechs ausgewählte Mitglieder mit der Leitung der Arbeitssitzungen zu betrauen. Daneben drohte die Sozietät wiederholt mit der Erhebung von Strafgeldern und sogar mit dem Entzug des Mitgliederstatus, sollten die Mitglieder auch weiterhin den Sitzungen unentschuldigt fernbleiben und ihre Beiträge nicht bezahlen. Da die Strafgesetze jedoch nicht in Kraft traten, stand ihre direkte Umsetzung hier vermutlich nicht im Vordergrund. Vielmehr handelte es sich in letzter Konsequenz um einen Versuch, die Mitglieder moralisch zu disziplinieren und an ihre gemeinschaftlichen Pflichten zu erinnern. Es sollte hier jedoch nicht bei der simplen Feststellung bleiben, dass Reglement und tatsächliches Gesellschaftsleben in der Select Society divergieren konnten. Nicht die Missachtung und Vernachlässigung der im Statut festgeschrieben Pflichten ist an sich erstaunlich, sondern die Tatsache, dass die Mitglieder überhaupt ein Statut entwarfen und ausnahmslos davon überzeugt waren, dass ihre Zusammenarbeit fester Regeln bedurfte.18 Übertragen wir den Ansatz der „Historischen Implementationsforschung“19 auf die vorliegende Untersuchung, so lässt sich die Bedeutung _____________ 18
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Dies gilt nicht nur für die Select Society, sondern freilich auch für andere Aufklärungsgesellschaften. Vgl. Meumann, Markus, „Zur Poetologie von Verhaltensregeln und Hierarchien in der Aufklärung: Konstitutionsschriften von Gesellschaften, Logen und Geheimbünden des späten 18. Jahrhunderts“, in: ders./Holger Zaunstöck (Hrsg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 127-139, bes. S. 138. Meumann brachte den Vorschlag ein, die Statuten von Sozietäten im 18. Jahrhundert aus der Perspektive der Implementationsforschung zu betrachten. Vgl. hierzu Landwehr, Achim, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt am Main 2000, bes. S. 29-38; ders., „,Normdurchsetzung‘ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 48/2000, S. 146-162. Landwehr verfestigte den inzwischen allgemein anerkannten Befund, dass in
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der sozietären Normgebung nicht an ihrem Erfolg, d. h. an ihrer uneingeschränkten Durch- oder Umsetzung bemessen, sondern an ihrer Einsetzung, ihrer „Implementation“. Auch Regeln, die nicht befolgt wurden, konnten internalisiert werden und Normbewusstsein schaffen. Regelverstöße wurden als solche auch bewusst wahrgenommen, entsprechend verurteilt und meist durch die Einsetzung neuer Normen zu überwinden versucht. Allein die Tatsache, dass die Mitglieder der Select Society ihre Satzung mehrmals veränderten und um weitere Bestimmungen ergänzten, sie wiederholt auf ihre Gültigkeit und Praktikabilität überprüften, zeigt, wie intensiv sich die Sozietät mit ihren selbst gewählten Regeln auseinandersetzte. Die Bedeutung der Select Society und die Funktion ihrer Konstitution ist nicht in der Normdurchsetzung, sondern primär in der kommunikativen Auseinandersetzung über Normen zu sehen, die letztlich das Bewusstsein dafür schärfte, was im gelehrten Umgang und geselligen Miteinander als legitim galt und was nicht. Die Select Society of Edinburgh war also mehr als nur eine reine Debattiergesellschaft: Sie war auch ein Forum Stände übergreifenden sozialen Umgangs, in dem adelige Laien und gelehrte Professionisten in gegenseitiger Abhängigkeit ihre statusbezogenen Ziele verwirklichen und unter eigenen, vom Rang abstrahierenden sozialen Regeln miteinander wissenschaftlich kommunizieren konnten. Obwohl die Mitglieder oftmals ihren sozialen Verpflichtungen nicht nachkamen und gegen den Verhaltenskodex der Sozietät verstießen, so bedeutet dies nicht notwendig, dass die gesellschaftlichen Regeln nicht verinnerlicht oder gar kollektiv für ungültig erklärt wurden. Im Gegenteil: Gerade die Nichtbefolgung der Regeln führte zu einer intensiven gemeinschaftlichen Auseinandersetzung über den Charakter und die Geltung von Normen. Nicht nur das Erlassen von Normen, sondern auch und vor allem die Normverhandlungen waren grundlegend für die Einübung neuer egalitärer Verhaltensweisen einerseits und die Kultivierung eines wissenschaftlichen Arbeitsethos andererseits, das auf Solidarität, Toleranz und gegenseitige Achtung ausgerichtet war. In der Erforschung der kommunikativen Praxis von Sozietäten sollte der Kommunikationsbegriff daher nicht nur auf den wechselseitigen Austausch von Wissen und Informationen, sondern auch auf die sozialen Austauschbeziehungen der Mitglieder sowie nicht zuletzt auf die gemeinsame Herstellung und Verhandlung von Normen und Normierungen des Gesellschaftslebens übertragen werden.
_____________ der gesellschaftspolitischen Machtsphäre der frühen Neuzeit ein gravierendes Missverhältnis zwischen „Normsetzung“ und „Normdurchsetzung“ bestand.
Gelehrte Streitkultur und Wissenskollektive. Das Beispiel des Denis Papin Sebastian Kühn Lorraine Daston hat den schon länger gebrauchten Begriff der „moralischen Ökonomien der Wissenschaft“ 1995 konzeptionalisiert und später mit dem eingängigen Begriff der „kognitiven Leidenschaften“ noch weiter spezifiziert.1 Ihr geht es um die Aufweisung einer Verbindung von Emotionalität und Rationalität. Daran anschließend möchte ich aber nicht nach nahezu homogenen, eher kulturübergreifenden Denkstilen suchen, sondern schlage einen anderen Ausgangspunkt vor: Die Wissenschaften um 1700 scheinen epistemologisch und im praktischen Vollzug sehr offen und flexibel zu sein. Dabei kann man ein kulturelles Reservoir an Denk- und Verhaltensweisen, Werten und Identitäten annehmen, die von den Akteuren je aktualisiert werden. Das öffnet den Blick für inhomogene, wechselnde und sich überlagernde Kollektivitäten und entsprechende wissenschaftliche Praktiken. Wie die protestierenden Arbeiter E. P. Thompsons2, allerdings seltener unter Einsatz körperlicher Gewalt, wenden auch Gelehrte Rituale des Konflikts und der Verhandlung an, um ihre Vorstellungen darüber durchzusetzen, wie Wissenschaft legitim organisiert werden kann. Das Handeln wird von ganz unterschiedlichen moralischen Logiken bestimmt: Ehrvorstellungen, Regeln der Freundschaft und der Höflichkeit, Vorstellungen von Eigentum und Rituale der Konfliktaustragung. Ein lohnenswertes Beispiel für die Anwendung diesen Ansatzes bietet sich in der Person des Denis Papin mit seiner durchaus ungewöhnlichen Biografie3: 1647 in Blois an der Loire in einem protestantischen hochbourgeoisen Elternhaus geboren, erwirbt er in Angers den Doktorgrad der _____________ 1
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Daston, Lorraine, „Die moralischen Ökonomien der Wissenschaft“, in: dies., Wunder, Beweis und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt am Main 2001, S. 157-184; dies., „Die kognitiven Leidenschaften. Staunen und Neugier im Europa der Frühen Neuzeit“, in: ebd., S. 77-97. Thompson, Edward P., „The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century“ [1971], in: ders., Customs in Common, New York 1991, S. 185-258. Saussaye, Louis de la, La vie et les ouvrages de Denis Papin, Bd. 1, Blois 1894, S. 75-261.
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Medizin, um darauf als Assistent des berühmten Christiaan Huygens in Paris an der Académie des Sciences zu arbeiten. Mitte der 1670er Jahre geht er nach London und wird als Assistent Robert Boyles und als Kurator der Royal Society tätig. An all diesen Stationen führt er vorrangig Experimente mit der damals spektakulären Vakuumpumpe durch. Zwei Jahre lang arbeitet er ebenso an einer privaten Akademie in Venedig, um schließlich Ende der 1680er Jahre als Mathematikprofessor nach Marburg berufen zu werden und für den Hessischen Landgrafen zahlreiche Maschinen zu bauen, darunter wohl die erste Dampfmaschine. 1707 begibt er sich wiederum nach London zur Royal Society und stirbt verarmt um 1712. Sehr gut dokumentiert ist der lange Briefwechsel, den Papin in seiner Marburger Zeit mit Leibniz führte.4 In diesem findet sich neben dem Austausch über technische Probleme und Projekte auch eine langjährige Streitigkeit beider um die Frage mechanischer Kräfte. Bisher wurde dieser so genannten vis-viva-Kontroverse wenig Aufmerksamkeit geschenkt. D’Alembert bezeichnete die Diskussion als „une dispute de mots plus indigne encore d’occuper des Philosophes“.5 Davon war offenbar auch noch der Herausgeber der Leibniz-Papin-Korrespondenz überzeugt, so dass er die entsprechenden Briefe und Passagen nicht des Abdrucks für Wert erachtete.6 Erst in der neueren Forschung ist man auf die Kontroverse zurückgekommen, hat allerdings meist nicht die Korrespondenz dazu analysiert. Die Kontroverse wird daher implizit meist interpretiert als eine Auseinandersetzung, von der zunächst der irrationale Ballast der Polemik befreit werden muss, um zu den eigentlich wissenschaftlichen Argumenten vorzudringen. Diese erscheinen dann als wenig klar, als missverständlich oder konfus.7 Hier soll aber der Streit als Kommunikation und Verfahren analysiert werden, in dem viele Dinge verhandelt werden. Der wissenschaftliche Inhalt kann davon nicht losgelöst betrachtet werden – er wird in der Kontroverse erst jeweils bestimmt. Der Streit ist eine Kulturtechnik, die in der Wissenschaft gebraucht wurde und als solche interpretiert werden muss. Zunächst wird die Kontroverse in den Acta Eruditorum geführt, beginnend mit einem Papier von Leibniz 1686, auf welches Papin 1689 antwortet. 1690 repliziert Leibniz, ein Jahr später erscheint Papins Antwort und _____________ 4 5 6 7
Saussaye, Louis de la, Œuvres de Denis Papin, Bde. 7-8: Correspondance, Blois 1893. D’Alembert, Jean Le Rond, Traité de dynamique, Paris 1758, S. XXII. Gerland, Ernst, Leibnizens und Huygens Briefwechsel mit Denis Papin, Berlin 1881. Iltis, Carolyn, „Leibniz and the Vis Viva Controversy“, in: Isis, 62/1971, S. 21-35; Papineau, David, „The Vis Viva Controversy: Do Meanings Matter?“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 8/1977, S. 111-142; Ranea, Alberto Guillermo, „The a priori Method and the actio Concept Revised. Dynamics and Metaphysics in an unpublished controversy between Leibniz and Denis Papin“, in: studia leibnitiana, 21/1989, S. 42-68; Freudenthal, Gideon, „Perpetuum Mobile. The Leibniz-Papin Controversy“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 33/2002, S. 573-637.
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darauf noch ein Papier von Leibniz. Papin verfasst dann eine Synopse des Disputs und schickt sie Leibniz. Ursprünglich war auch sie für eine Publikation in den Acta vorgesehen, die aber unterbleibt, weil keine Einigung erzielt werden kann. Darum entspannt sich 1692 die erste direkte Korrespondenz zwischen den beiden. Nach mehrjähriger Pause lässt Papin 1695 schließlich seine Synopse drucken und schickt sie Leibniz – die brieflich geführte Kontroverse beginnt erneut.8 Beide versuchen ihre Ansichten einander mitzuteilen und zu einem gemeinsamen Schluss zu kommen – nur wenn an die Entscheidbarkeit der aufgeworfenen Fragen geglaubt werden kann, macht eine Kontroverse auch Sinn. Die Briefe sind mitunter ermüdend zu lesen, denn Argumente wiederholen sich. Der anderen Seite wird jeweils vorgeworfen, die eigene Position falsch dargestellt oder nicht aufmerksam gelesen zu haben. Meist enden die Briefe mit der Feststellung, dass man nun ja den Adressaten überzeugt habe. Worauf dieser protestiert, er sei falsch verstanden worden und habe doch im Brief von vor zwei Jahren schon behauptet, dass ... Mitte 1695, nach mittlerweile schon sechs Jahren Auseinandersetzung, äußert Leibniz fast verzweifelnd: „Et ce seroit en effect une chose bien estrange, si des personnes qui cherchent la vérité comme nous, ne pouvoient convenir sur une matiére qui depend de la raison.“9 Auch Leibniz scheint nur eine Form der Rationalität anzunehmen, die universell gültig ist und unabhängig von den Formen der Wahrheitssuche wirkt. In der Folgezeit kann man sich selbst auf die Bedeutung verwendeter Begriffe nicht verständigen; es kommt ansatzweise zu Beleidigungen. Schließlich schlägt Leibniz vor, rein formal, scholastisch, in Syllogismen zu argumentieren, um eine Einigung zu erzielen. Diese sehr ermüdende formale Argumentation zieht sich bis 1700 hin bis zu Syllogismus 16 – ohne Einigung. Schließlich versandet die Diskussion, wird überdeckt von anderen Themen zu Dampfmaschinen, davon getriebenen Land- und Wasserfahrzeugen etc. In diesem gelehrten Streit kommen bestimmte Muster der Konfliktaustragung zur Geltung, die von beiden Partizipanten virtuos angewendet werden. So wurde dem Kontrahenten immer wieder attestiert, etwas missverstanden zu haben, was man nun korrigiere. Das ist ein wesentlich höflicheres Vorgehen, als Fehler zu konstatieren, etabliert aber eine Hierarchie der Streitenden. Zugleich werden mit den korrigierenden Erklärungen auch Teile einer Synopse des Streites gegeben. Synopsen sind typische Elemente einer wissenschaftlichen Kontroverse. Dabei nimmt ein Partizipant die Rolle des Richters ein, um den Diskussionsgegenstand und die jeweiligen Posi_____________ 8 9
Eine ausführliche Zusammenfassung und Analyse dieses Teils der Kontroverse bei Freudenthal, „Perpetuum Mobile“. Leibniz an Papin, 30.08.1695 (Saussaye, Œuvres, Bd. 7, S. 179).
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tionen im Streit neu zu definieren. Jede Seite erzählt so, ausgehend von dem gleichen Material, eine andere Geschichte, in der die Beweislast dem Kontrahenten aufgebürdet wird und die eigene Position als Sieger dasteht.10 Damit haben diese Synopsen einen eskalierenden Charakter. Sie fordern den Widerspruch des Kontrahenten heraus, will er sich nicht in allen Punkten geschlagen geben. Eine ähnlich eskalierende Wirkung haben die Vorwürfe, der Korrespondent habe nicht aufmerksam gelesen, etwas übersehen, was man schon lange bewiesen habe. Dem Gegner wird damit vorgeworfen, an der Kontroverse nicht interessiert zu sein. Schließlich kann auch gedroht werden: mit der Veröffentlichung der Korrespondenz, wodurch das Publikum zum Richter würde, oder mit dem Abbruch der Kontroverse, da der Kontrahent nicht ernsthaft auf die vorgetragenen Argumente eingehe. In all diesen Fällen wird der Streitpartner gezwungen, nicht nur überhaupt zu reagieren, sondern in einer bestimmten Weise: Er muss auf die Gegenargumente eingehen, muss erst die ihm zugedachte Rolle des Verteidigers annehmen, ehe er daraus seine eigene Position entwickeln und damit einen neuen Rahmen der Kontroverse abstecken kann. Auch ohne Einigung ist daher ein Streit ein Aushandlungsprozess, in dem die Hierarchie der Streitenden, die Art der Streitführung und der wissenschaftliche Inhalt permanent verändert werden. Eine neue Stufe der Eskalation ist erreicht, als sich Papin genügend provoziert fühlt, um nun zu deutlich beleidigenden Worten zu greifen: Je suis si éloigné de me préparer à quitter l’opinion que je defens, qu’au contraire je m’y conforme tousjours de plus en plus, car enfin quand je considére la belle et vaste réputation que vous vous estes justement acquise, et que néantmoins sur la matiére dont il s’agit vous faittes à toutes heure des beveues quoyque vous n’ayez affaire qu’à moy, je ne puis m’empescher de conclure que cela doibt venir de ce que je combats pour une vérité si forte qu’elle n’a pas besoing d’un Hector pour la defendre contre quel opposant que ce puisse estre […].11
Papin hatte bisher die Höflichkeitsformen gewahrt, die einem berühmteren Gelehrten und Hofrat zustanden; nun aber sieht er explizit von diesen Ehrbezeugungen ab und kann statt von „malentendus“ von „bévues“ schreiben. Ein Affront Leibnizens, seines Ansehens, seiner Stellung und seiner Ehre. Neuere Arbeiten zur Ehre lesen die hochritualisierten Ehrenhändel als Code, der es ermöglicht, über anders kaum zu lösende Konflikte zu streiten.12 Beleidigungen zwischen Gelehrten können entsprechend als _____________ 10 11 12
Vgl. Freudenthal, „Perpetuum Mobile“, S. 579. Papin an Leibniz, 15.01.1696 (Saussaye, Œuvres, Bd. 7, S. 209f.). Dinges, Martin, Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994; Schreiner, Klaus / Schwerhoff, Gerd (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar u. a. 1995.
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gezielte Provokationen verstanden werden, um festgefahrene Kontroversen weiter zu führen. Leibniz beschwert sich umgehend über diesen Tonfall und schlägt wenig später die erwähnte formale Argumentation in Syllogismen vor, um „prévenir les mesentendus ou les brouilleries“, fügt aber entschuldigend hinzu, dass diese Art der Auseinandersetzung sehr langweilig, unbequem und schulisch sei.13 Hier wird gerade noch ein Mittel gefunden, um eine Ehrstreitigkeit zu umgehen – auf Kosten allerdings der Bedeutungsvielfalt. Aber auch wenn nun keine Einigung mehr erzielt wird, vielleicht auch nicht erzielt werden kann, eröffnet diese neue Diskussionsart die Möglichkeit, weiterhin miteinander freundschaftlich zu kommunizieren. An dieser Stelle möchte ich ein anderes Beispiel, allerdings nicht aus Papins Umfeld, dafür anführen, wie wissenschaftliche Diskussionen geführt werden können. Es findet sich im Konzil (dem Selbstverwaltungsorgan) der Londoner Royal Society. Am 29. März 1710 eskaliert eine schon länger andauernde Streitigkeit zwischen Hans Sloane, Arzt und langjähriger Sekretär der Royal Society, und John Woodward, ebenfalls Arzt, Medizinprofessor und Mitglied des Konzils: The Words spoken of Dr Sloane by Dr Woodward were: Speak Sense or English and we shall understand you. If you understood Anatomy you would know better: or to that purpose. / And Dr Sloane and Dr Woodward being withdrawn, The Question was put, Whether these Words are Reflecting or not. It was carried in the Affirmative. / Mr Clavell affirmed that Dr Sloane made Grimaces, with a Laughter, and holding up his hands at Dr Woodward, before the reflecting Words abovementioned were spoken. / The Question was put, Whether Dr Sloane by the said Gestures gave a sufficient provocation for the above-mentioned Reflections. It was carried in the Negative. The Question was put, Whether the said reflecting Words tended to the Detriment of the Royal Society. It was carried to the Affirmative.
Zwei Monate später beschäftigt dieser Vorfall immer noch das Konzil und steuert einem weiteren Höhepunkt entgegen: Dr Sloane declared that he meant no Affront to Dr Woodward by any Gestures he made at a late Meeting of the Society. / These following Questions were proposed, and the Votes taken by Ballott: Whether it be the opinion of the Councill, that Dr Slone’s having declared that he did not intend by any Grimaces to affront Dr Woodward, be sufficient Satisfaction. Carried in the Affirmative that it is sufficient Satisfaction. Whether it be the opinion of the Councill, that Dr Woodward declare that he is sorry that he misunderstood Dr Sloane, and beg his pardon for the reflecting Words he spoke. Carried in the Affirmative that Dr Woodward do declare it. / Dr Woodward refusing to make the said declaration and to beg Dr Sloane’s pardon, the following Question was put: Whether Dr Woodward for creating disturbance by the said reflecting words after a former Admonition upon
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Leibniz an Papin, 9.04.1696 (Saussaye, Œuvres, Bd. 7, S. 236-239).
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Gelehrte Streitkultur und Wissenskollektive. Das Beispiel des Denis Papin
the Statute of Ejection, and for restoring the peace of the Society be removed from the Council. Carried in the Affirmative that he be removed.14
Grimassen, Gesten, Lachen, beleidigende Worte, Schlichtungsversuche und Genugtuung geben – ganz theatralisch verhalten sich Gelehrte hier in einem ursprünglich wissenschaftlichen Streit, in dem es um anatomische Fragen ging. Mit dem gezielten Einsatz von Emotionen und Leidenschaften, rituellen Handlungen der Ehrverletzung und -wiederherstellung wird das wissenschaftliche Problem nun zwar nicht gelöst, aber zumindest entschieden. Dem aus dem Konzil ausgeschlossenen Woodward wurde damit auch das wissenschaftliche Argument entzogen. Die vielen wissenschaftlichen und wohl unlösbaren Differenzen hätten, würden sie konsequent ausgefochten und zur Entscheidung gebracht, eine Zusammenarbeit von Gelehrten unmöglich gemacht, sie hätten die Akademien gesprengt. Auf der Ebene von Ehrstreitigkeiten aber wurde eine Lösung ermöglicht – ob in der Art wie Leibniz/Papin, oder weniger konziliant im Streit zwischen Woodward und Sloane. Der ausgeschlossene John Woodward erscheint als Opfer der Royal Society, um deren Existenz weiter zu ermöglichen, aber diese Ehrhändel hatten zugleich auch eine für alle Seiten ungemein integrative Kraft. Es stritten sich nicht nur die beiden Opponenten, sondern zwei Parteien. Seit spätestens 1695 standen sie sich gegenüber – damals ging es um beleidigende Kritik an Woodwards Buch über die Erdentstehung, mit entsprechenden beleidigenden Antworten, ausgetragen in Briefen, in der Society, und in Traktaten. Die Konfliktspur zieht sich dann weiter bis zum berichteten Fall 1710. Dieser hatte zwar zum Anlass die Diskussion anatomischer Sachverhalte, gliedert sich aber ein in den Versuch Woodwards, Sloane aus dem Sekretärsamt zu vertreiben und nun selbst mit Hilfe seiner Freunde die Royal Society zu dominieren. In ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten wirken die gleichen Allianzen – die Loyalität der Freundeskreise wird immer wieder einem Test unterworfen. Es ist hoffentlich deutlich geworden, wie ich diese zwei Beispiele verstanden wissen möchte: Weder Leibniz und Papin, noch Woodward und Sloane können mit den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln zu einer Einigung kommen. Um eine Entscheidung dennoch zu erzwingen, wurde in beiden Fällen versucht, über Beleidigungen einen Ehrstreit zu inszenieren, welcher gerichtet werden kann und muss. In der Folge aber werden zwei grundsätzlich verschiedene Wege eingeschlagen: Im einen Fall die extreme intellektuelle Askese durch regelhafte Argumentation, wo kein Raum mehr ist für Beleidigungen, aber auch nicht für die neuen experimentellen Beweisführungen. Die formale Diskussion in Syllogismen _____________ 14
Royal Society, London, Council minutes II, S. 165-170.
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befriedet die Kontrahenten und beschränkt die Kontroverse auf zwei Personen, schiebt aber die Entscheidung der Kontroverse in eine ungewisse Zukunft. Im Londoner Fall wird das Problem auf der Ebene des Ehrstreits, mit Beteiligung breiterer Anhängerschaften, schnell von einer dritten Instanz entschieden. Die Versuchung ist groß, die Unterschiedlichkeit der beiden Beispiele auf verschieden ausgeprägte wissenschaftliche Streitkulturen in den jeweiligen lokalen oder gar nationalen Rahmen zurückzuführen. Doch auch Papin praktiziert sehr verschiedene Streitformen. In den 1690er Jahren führt er in Marburg einen Streit, der einen Nachbarschaftskonflikt mit Rangstreitigkeiten in der Kirche und einen theologischen Streit an der Universität um den Cartesianismus verbindet.15 Wie im Falle des Streites Woodward/Sloane bilden sich die Allianzen und Gegnerschaften auf mehreren Ebenen aus, werden mehrere Probleme miteinander verhandelt. Dass Papin in der Kontroverse mit Leibniz dessen Cartesianismusvorwurf nicht als weiteren Punkt der Eskalation aufgreift, ist eine gewählte Handlungsoption. Gegenüber seinem Streitgegner in Marburg macht die Cartesianismusdebatte einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung vor der Universität aus. Eine weitere Streitform ist der unter Gelehrten sehr häufig anzutreffende Prioritätsstreit, in dem es um das intellektuelle Eigentum einer Erfindung geht, die sich nach der Erstentdeckung richtet.16 Meist hängt davon auch die wirtschaftliche Nutzung der Erfindung ab, die Zuerkennung von Patenten oder Privilegien. Ab 1707 streitet sich Papin mit dem englischen Mechaniker Thomas Savery darum, wer zuerst eine funktionsfähige Dampfmaschine entwickelt hat. Als Entscheidungsorgan wird die Royal Society angerufen.17 Auch in dieser Streitform werden quasijuristische Lösungsverfahren eingesetzt, ganz im Gegensatz zur Kontroverse mit Leibniz. Dem jeweiligen Gegner wird vorgeworfen, die eigene Arbeit gestohlen zu haben; seine Arbeit sei nur ein Plagiat. Diese Streitform wird ebenso gezielt eingesetzt und ergibt sich nicht zwangsläufig aus unklaren Bestimmungen der Autorschaft. So hatte Papin in den 1670er Jahren bei Boyle maßgeblich die Experimente mit der Vakuumpumpe konzipiert und durchgeführt. Er verwendete dazu auch sein von ihm gebautes Instrument und schrieb die Berichte dazu auf. Unter Boyles Namen wurden sie 1680 publiziert, der im Vorwort nur die Mitarbeit Papins anerkennt. Dieser verweist auf die in Boyles Haus durchgeführten Experimente nun aber nicht, als seien sie von ihm durchgeführt, sondern be_____________ 15 16 17
Wintzer, Eduard, Denis Papin’s Erlebnisse in Marburg (1688–1695), Marburg 1898. Vgl. Iliffe, Rob, „‚In the warehouse‘. Privacy, Property and Priority in the Early Royal Society“, in: History of Science, 30/1992, S. 29-68. Royal Society, London, Classified Papers VI, 61; XVIII (I), 80; Papin, Denis, Nouvelle Maniere pour lever L’Eau par la Force du Feu, Kassel 1707.
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Gelehrte Streitkultur und Wissenskollektive. Das Beispiel des Denis Papin
zeichnet sie als Boyles Experimente.18 Intern wurde hier ein Weg der Verteilung von Eigentumsrechten gefunden, so dass sich nicht die Notwendigkeit eines Prioritätsstreites ergab. Papin stellt sich in diesen Streitigkeiten ganz verschieden dar. Gegenüber Leibniz zeigt er sich als mathematisch und mechanisch versierter Gelehrter. Das Bild als Familienvater in prekärer Lage wirkt hier als Gegenpol, wenn er den Streit vorerst 1692 beendet mit der Begründung, für seine Familie sorgen zu müssen und daher keine Zeit für „Spekulationen“ zu haben.19 In dem komplexen Marburger Streit erscheint er als Angehöriger der Universität, Mitglied der französischen Gemeinde und Familienvater – alle drei Zugehörigkeiten sind involviert. Im Prioritätsstreit mit Savery inszeniert sich Papin als Erfinder und Handwerker. – Die Akteure in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen identifizieren sich ganz unterschiedlich in Relation zu anderen Personen und setzen diese Identifizierungen und Beziehungen strategisch ein. Jeweils sind andere Personen unter anderen Gesichtspunkten involviert, bilden sich andere Handlungs- und Denkkollektive. Diese Mehrschichtigkeit personaler und kollektiver Identität lässt erst Handlungsoptionen offen, die wissenschaftliche Inhalte mit bestimmen. Entsprechend verschieden sind auch die Streitformen und die Vorstellungen darüber, was legitim ist und was nicht. Im Ehrstreit herrschen Prinzipien der Loyalität, Freundschaft und Ehre vor. Im Prioritätsstreit wird das intellektuelle und wirtschaftliche Eigentum maßgeblich. Beide Fälle mobilisieren eine möglichst große Anhängerschaft. Der Streit umfasst meist mehrere Ebenen und Probleme und folgt einem Muster der Eskalation. Schließlich wird eine übergeordnete dritte Instanz angerufen, um den Streit zu entscheiden. In der geordneten Kontroverse durch Syllogismen hingegen wird der Streit inhaltlich und personell radikal beschränkt. Zugunsten der direkten Streitklärung wird auf eine Eskalation verzichtet. – Jeweils wirken unterschiedliche moralische, affektgeladene Werte, die zunächst mit Wissenschaft nichts zu tun haben müssen, aber die jeweiligen wissenschaftlichen Ergebnisse maßgeblich beeinflussen.
_____________ 18 19
Boyle, Robert, „Experimentorum novorum physico-mechanicorum continuatio secunda“ [1680], in: The Works of Robert Boyle, Bd. 9, Michael Hunter/Edward B. Davies (Hrsg.), London 1999, S. XIX-XXI, 121-263. Papin an Leibniz, 9.10.1692 (Saussaye, Œuvres, Bd. 7, S. 158f.).
Von der Polyhistorie zur modernen Wissenschaft. Zum politisch-galanten Gelehrtenideal der Frühaufklärung Daniel Fulda
1. „Alles hat heutzutage seinen Gipfel erreicht, aber die Kunst, sich geltend zu machen, den höchsten“.1 Die Diagnose, dass der Schein mehr zähle als das Sein, ist meistens kritisch gemeint. Mit Blick auf den Wissenschaftsund Universitätsbetrieb wird sie gegenwärtig wieder häufiger gestellt. „Vor dem Hintergrund der Exzellenzinitiative und des internationalen Wettbewerbs schielen die Universitäten vor allem nach äußerer Reputation.“2 Eine frühere Hochzeit solcher Kritik war die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Hier war es der Begriff des Galanten, unter dem die Orientierung am Wohlgefallen des jeweiligen Gegenübers als Oberflächlichkeit und Verfehlen der ‚Sache selbst‘ gebrandmarkt wurde, wie Julius Bernhard von Rohr 1728 vermerkt: Die Liebe zur Galanterie, erstreckt sich nicht allein auf mancherley bürgerliche Handlungen, sondern sie ist auch biß in die Wissenschafften und die Gelehrsamkeit eingedrungen. Vielen ist mehr an der galanten, als an der soliden Gelehrsamkeit gelegen.3
Solche Kritik reagierte auf ein Verhaltensleitbild, das sich in Deutschland seit etwa 1700 ausgebreitet hatte4: die Orientierung an den Reaktionen der anderen auf das eigene Handeln und die eigenen geäußerten Meinungen. Sozialharmonischer Deutung zufolge zielte solches Verhalten darauf, niemandes Missfallen zu erregen und einen allgemeinen Interessenausgleich _____________ 1 2 3 4
Gracián, Balthasar, Handorakel und Kunst der Weltklugheit […], Arthur Hübscher (Hrsg.), Stuttgart 1990, S. 5 (Nr. 1). Seel, Martin, „Vom Verbund zur Firma. Zwei Arten der wissenschaftlichen Konkurrenz“, in: Forschung & Lehre, 14/2007, 1, S. 16f., hier S. 16. Rohr, Julius Berhard von, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen [1728], Gotthardt Frühsorge (Hrsg.), Leipzig 1989, S. 6 definiert das ‚Galante’ „durch eine Geschicklichkeit bey seinem äusserlichen Wesen, den meisten oder doch den vornehmsten, zu gefallen“. Vgl. Göttert, Karl Heinz, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München 1988, S. 88-100.
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Von der Polyhistorie zur modernen Wissenschaft
zu erreichen, indem jeder dem anderen entgegenkommt. Ebenso möglich und verbreitet war eine Deutung, die von der Prämisse einer Gesellschaft in unablässigem Konkurrenzkampf ausging. Sich am anderen zu orientieren hieß dann, dem potentiellen Feind gegenüber stets wachsam zu sein und dessen Widerstand gegen die Durchsetzung der eigenen Interessen durch Höflichkeit zu unterlaufen. (Idealtypisch lassen sich die beiden Denkansätze als galant und ‚politisch‘ unterscheiden, also als eher dem Castiglionischen und später französischen Ideal kunstvoller Harmonie oder den von Machiavelli und Gracián empfohlenen Überlebensstrategien verpflichtet; in den Quellen geht der Gebrauch der beiden Begriffe jedoch durcheinander, dem Interferieren beider Konzepte entsprechend.5 Daher spreche ich zusammenfassend vom ‚politisch-galanten‘ Verhaltens- oder Kompetenzideal.) „Bemühe dich bey denen Leuten das Ansehen zu erlangen / daß du vor andern weise / gelehrt / klug und geschickt seyst. Ich sage: vor andern“, bringt der Inspektor des Eisenacher theologischen Seminars und spätere Göttinger Professor Christoph August Heumann den Primat der Geltung bei anderen („Ansehen“) ebenso wie die Grundbedingung der Konkurrenz („vor andern“) auf den Punkt.6 Selbst Autoren, die „eine rechte Ehrerbietung gegen GOtt und sein Wort“ nach wie vor über „die Kunst den Leuten zu gefallen“ stellen, erkannten an: Wer in der Welt fortkommen will / und bey rechtschaffenen Leuten in guten Credit sich setzen / der muß eine rechte Conduite haben / das ist: Er muß sich also aufzuführen wissen / daß man ihn vor einen verständigen / höflichen und geschickten Menschen hält.7
In die Philosophie und überhaupt die Universitätslehre wurde dieses Kompetenzideal durch Christian Thomasius eingeführt8: Die Urteilskraft, die den Philosophen auszeichnet, müsse sich auch und gerade in der gesellschaftlichen Interaktion bewähren, nämlich in der raschen Erkenntnis von „anderer Menschen Gemüt“.9 Denn nur so kann man sich auf das jeweilige Gegenüber einstellen. Für Thomasius steht fest, _____________ 5 6 7 8 9
Vgl. Barner, Wilfried, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 178ff. Heumann, Christoph August, Der politische Philosophus, das ist / Vernunftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben, Frankfurt, Leipzig 1714, S. 153 (im Orig. hervorgeh.). Scharffenberg, Friedrich Wilhelm, Die Kunst Complaisant und Galant zu Conversiren, Oder In kurtzen sich zu einen [!] Menschen von guter Conduite zu machen. […], Chemnitz 1723, S. 1f. Vgl. Scholz, Leander, Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700, Tübingen 2002, S. 80, 84f. Vgl. Thomasius, Christian, „Erfindung der Wissenschaft anderer Menschen Gemüt zu erkennen. Schreiben an Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg zu Neujahr 1692“, in: Fritz Brüggemann (Hrsg.), Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und Christian Weise, Leipzig 1938, S. 61-79.
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daß ein Mensch / der noch so gelehrt / darbey aber von ungeschickten moribus und übler conduite sey / in der Welt vielweniger fortkommen könne / als ein anderer / der ohne Gelehrsamkeit artige und höffliche Sitten an sich habe.10
Mit der traditionellen Ausrichtung der Philosophie auf Wahrheit stimmte diese neue Prioritätensetzung keineswegs umstandslos zusammen. Abgesichert wurde sie, indem Thomasius zwischen den etablierten Kriterien für richtiges Verhalten – dem honestum als moralisch Gebotenem und dem – iustum als rechtlich Erlaubtem – eine Lücke ausmachte, in die er das decorum als drittes Kriterium platzierte. Mit dem decorum ist das Betragen bezeichnet, das sich gehört im Umgang mit anderen, ohne dass es sich um eine moralische oder rechtliche Verbindlichkeit handeln würde. Sich daran zu halten, was sich gehört, dient wiederum nicht nur der sozialen Harmonie, sondern empfiehlt sich auch im Erfolgsinteresse des einzelnen. Um etwas zu gelten, brauche man „nicht allein eine gute Gelahrtheit / sondern auch eine kluge / vernünfftige / und geschickte conduite“, konstatierte in der Folge selbst ein dem Pietismus zugeneigter Theologe wie Johann Franz Budde.11 Das politisch-galante Gelehrtenideal verbreitete sich im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, ähnlich wie die ab 1694 in Halle durchgeführte thomasianische Universitätsreform – mit der Aufkündigung bloß traditionsbegründeter Geltungsansprüche sowie der Umstellung der Lehre auf praktische Bedürfnisse – nach ganz Deutschland ausstrahlte.12 2. Wie ist das politisch-galante Gelehrtenideal wissenschaftsgeschichtlich einzuschätzen? Gunter E. Grimm, einer der besten Kenner frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit, sieht in der „politisch-galanten Tendenz ein von außen an die Wissenschaften herangetragenes Element […], das der Weiterentwicklung der Wissenschaft nicht diente und ausschließlich an den gesellschaftlichen Zustand des Feudalismus gebunden war“.13 Das zentrale _____________ 10 11
12 13
Thomasius, Christian, Freimüthige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher, Bd. 2: Juli–Dezember 1688, Frankfurt am Main 1972, S. 647. Budde, Johann Franz, „Moralischer Discours von dem Elend und Mängeln der Gelehrten […]“, in: Martin Musig, Licht Der Weisheit. Bd. 2 / in welchen Die Sitten-Lehre / das Natur u. Völcker-Recht / wie auch die Staats-Klugheit / Nach Anleitung derer Philosophischen Grund-Sätze Herrn Io. Franc. Buddei abgehandelt werden […], Frankfurt am Main, Leipzig 1711, nicht paginiert, § 24. Vgl. Beetz, Manfred, „Der anständige Gelehrte“, in: Sebastian Neumeister/Conrad Wiedemann (Hrsg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Teil 1, Wiesbaden 1987, S. 153-174, hier S. 164f. Grimm, Gunter E., Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland. Von der Renaissance bis zum Sturm und Drang, Tübingen 1998, S. 150.
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Von der Polyhistorie zur modernen Wissenschaft
Argument für diese Auffassung ist die Herkunft jenes Ideals aus der Hofsphäre des Adels. Sich geschickt zu präsentieren, um anderen zuvorzukommen, war primär dort gefordert, wo Entscheidungen getroffen wurden und Karrieren glückten oder scheiterten, eben am Hof. Ein berühmtes Detail von Thomasius’ akademischen Neuerungen scheint die Orientierung an der Adelswelt anschaulich zu bestätigen: Seine Vorlesungen hielt er nicht mehr im schwarzen Talar, dem traditionellen Gelehrtenhabit, sondern im „tressenbestickten A-la-mode-Kostüm“, bei dem auch der Degen, das wichtigste Accessoire des waffenberechtigten Edelmanns, nicht fehlte.14 Aus der Orientierung an höfischen Sitten schließt Grimm, dass es sich um eine historisch rückwärtsgewandte Tendenz handelte. Zukunftsweisend stellen sich ihm erst der nachfolgende Aufstieg der „mathematischphysikalischen Disziplinen“ sowie die „auf mathematisch-logischer Basis gegründete Philosophie“ Christian Wolffs dar, die er „mit dem Erstarken des Bürgertums“ verbunden sieht.15 Hier wird Wissenschaftsgeschichte durch die Identifizierung führender Sozialgruppen strukturiert. Geht man dann davon aus, dass der ‚Aufstieg des Bürgertums‘ gewissermaßen die Agenda des Aufklärungsjahrhunderts gewesen sei, so erscheint das politisch-galante Gelehrtenideal ohne Zukunftspotenzial. Dagegen möchte ich eine Deutung vorschlagen, die im politisch-galanten Kompetenzideal einen wesentlichen Schritt hin zur Moderne – auch in der Wissenschaft – erkennt. Voraussetzung dieser Neueinschätzung ist, dass ich jenes Ideal nicht in einen Bezugsrahmen von Führungskämpfen zwischen Adel und ‚Bürgertum‘ stelle (der sozialhistorisch ohnehin zweifelhaft ist16). Um die Modernität einer Gesellschaft wie einzelner ihrer Bereiche zu bestimmen, empfiehlt es sich vielmehr, die Ausdifferenzierung autonomer, d. h. nach eigenen, spezifischen Kriterien funktionierender Teilbereiche der Gesellschaft als entscheidendes Kriterium anzusetzen. Die These, dass sich die moderne Gesellschaft durch funktionale Ausdifferenzierung auszeichne, wurde neuerdings vor allem in der Systemtheorie Niklas Luhmanns ausgearbeitet. Als Grundgedanke geht dieses Modernitätskriterium allerdings bereits auf Max Webers Beobachtung autonomer ‚Wertsphären‘ zurück.17 In diesem Rahmen lässt sich die politisch-galante Ausrichtung _____________ 14 15 16 17
Beetz, Der anständige Gelehrte, S. 166f. Grimm, Letternkultur, S. 151. Der historische Bezugspunkt ‚Aufstieg des Bürgertum‘ ist problematisch, weil suggeriert wird, dass es eine einigermaßen fest umrissene Sozialgruppe Bürgertum gab, die hätte aufsteigen können bzw. ‚müssen‘. Vgl. Weber, Max, „Zwischenbetrachtung“, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 536-573. Die Wissenschaft als autonomes System analysiert: Luhmann, Niklas, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992, S. 271-361, bes. S. 271-299.
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auf das Gefallen des jeweiligen Gegenübers als Modernisierungsfaktor deuten, weil sie die Intention auf ein allumfassendes Wissen, die noch das 17. Jahrhundert kennzeichnet, ablöst durch das Ideal einer Situationsflexibilität, die auf funktionale Ausdifferenzierung reagiert. 3. Das primäre Differenzierungsmuster der vormodernen Gesellschaft Alteuropas war die ständische Schichtung: Kommunikationsformen und Handlungsmöglichkeiten bemaßen sich hauptsächlich nach dem Stand, dem man selbst sowie der jeweilige andere angehörte. Auf Rechte zu pochen, die der Abgrenzung nach unten dienten und Anerkennung von oben verschafften, war entscheidend für die soziale Positionierung: Doctores brauchten vor Magistrat und Richter nicht zu stehen, sie durften sitzen und darüber hinaus – wie Adlige – im Wagen fahren. Juristische Doktoren hatten beim Betreten der Amtsstube Anspruch auf einen besonderen Empfang, – eine Variante der allen Promovierten an Universitäten zustehenden Präzedenz gegenüber Nichtpromovierten.18
Auch innerhalb der Universität, zwischen den Fakultäten gab es Rangunterschiede: von der Theologie an der Spitze über Jurisprudenz und Medizin bis hinunter zu den propädeutischen Fächern der Philosophischen Fakultät. Diese Abfolge bemaß sich am Rang des jeweiligen Gegenstandes im Wertesystem der Gesellschaft; es handelte sich nicht um wissenschaftsspezifische Kriterien: ein Zeichen dafür, dass Wissenschaft hier noch nicht autonomisiert war. In ihren Methoden und Lehren hingegen – auch das ist als vormodern zu bewerten – standen sich die Fächer und sogar Fakultäten weit näher als heute; wir brauchen wieder nur an den Juristen und Philosophen Thomasius zu denken. Als für das 17. Jahrhundert charakteristischer Gelehrtentypus gilt denn auch der Polyhistor, der auf tendenziell allen Gebieten arbeitete. Damis, die Zentralfigur in Lessings Lustspiel Der junge Gelehrte, ist ein solcher Polyhistor. Dass „unser Wissen […] Stückwerk“ ist, weigert er sich einzugestehen.19 Als Komödienfigur verkörpert er das polyhistorische Wissenschaftsideal natürlich in satirisch übersteigerter Form: „Ich verstehe sieben Sprachen vollkommen, und bin erst zwanzig Jahr alt. In dem ganzen Umfange der Geschichte, und in allen mit ihr verwandten Wissenschaften, _____________ 18 19
Beetz, Der anständige Gelehrte, S. 157. Ausführlich dazu Füssel, Marian, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Lessing, Gotthold Ephraim, „Der junge Gelehrte. Ein Lustspiel in drei Aufzügen. Verfertiget im Jahre 1747“, in: ders., Werke, Karl Eibl/Herbert G. Göpfert (Hrsg.), 8 Bde., Darmstadt 1996, Bd. 1, S. 279-374, hier S. 283 (I,1).
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bin ich ohne gleichem“. Es folgen Damis’ Ansprüche auf höchste Kompetenzen in der Philosophie und der Beredsamkeit; „auch in der Poesie darf ich meine Hand nach dem unvergänglichsten Lorbeer ausstrecken.“20 In den drei oberen Fakultäten glaubt er ebenfalls glänzen zu können: Vom Dienstmädchen lässt er sich schmeicheln, dass er auch „ein guter Prediger“ wäre (von „schöner Statur“ und mit „starker deutlicher Stimme“), genauso aber „Kranke kurieren“ oder „einmal der beste Ratsherr von der Welt werden“ könnte (u. a. weil er über eine „fixe Zunge“ verfügt).21 In der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Lessing seine Komödie schrieb, war ein solcher Anspruch per se lächerlich, egal ob ihn ein durchaus beschlagener Gelehrter (wie Damis) oder ein kleinerer Geist erhob. Alles beherrschen konnte niemand mehr; das polyhistorische Gelehrsamkeitsideal war dysfunktional geworden, weil es der unvermeidlichen Spezialisierung entgegenstand. Verabschiedet wurde es mit einer Flut von Satiren auf den mit tausend Nebensächlichkeiten allezeit beschäftigten, aber völlig unpraktischen Gelehrten – Lessings Komödie ist nur eine davon. Die neuen Maßstäbe, an denen der Gelehrte gemessen wurde, waren zum einen das aufklärerische Nützlichkeitsideal22, zum anderen aber auch – und ich meine: sogar vor allem – das politisch-galante Kompetenzideal. Vor dem Nützlichkeitsideal konnte der Polyhistor nicht bestehen, weil er sein Wissen allein aus Büchern gewann und daher, je nach Alter der Bücher, womöglich fast mehr in der Antike als in der eigenen Zeit lebte. Gefordert war Gegenwarts- und Praxisorientierung – die ebenso genuin aber zum PoliticusIdeal gehört, das darüber hinaus noch weitere Verhaltensnormen etablierte: Der ‚politische‘ Gelehrte weiß, dass seine Geltung immer die Geltung bei anderen ist: Wahre Wissenschaften werden durch ungeschickte Minen und Geberden bey vielen zum Gelächter. Wer keine Fähigkeit hat, durch Minen und Geberden sich bey andern beliebt zu machen, der wird auch durch seine Erkenntnis keinen grossen Nutzen stifften.23
Er wird sich also nicht als Sonderling und Menschenfeind gebärden, wie es die Satiren des frühen 18. Jahrhunderts dem Polyhistor zuschrieben. Er weiß, dass seine Mitmenschen nicht, um seiner tiefen Gedanken willen, darüber hinwegsehen werden, wenn er auf die Pflege von Körper und Kleidung verzichtet (so eine weiteres beliebtes Motiv der Satire). Und er hat gelernt, dass Kommunikation nur dann erfolgreich verläuft, wenn man _____________ 20 21 22 23
Lessing, Der junge Gelehrte, S. 342f. (III,3). Ebd., S. 323-326 (II,6/8). Diesen Aspekt betont Martens, Wolfgang, „Von Thomasius bis Lichtenberg. Zur Gelehrtensatire der Aufklärung“, in: Lessing Yearbook, 10/1978, S. 7-34. Stolle, Gottlieb, Kurtzgefaßte Lehre der Allgemeinen Klugheit. Mit einer Vorrede Vom Reformiren der Wissenschafften und Anwenden der Philosophie auf andere Theile der Gelahrheit, Jena 1748, S. 160.
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sich auf sein Gegenüber einzustellen sowie in Konventionen zu bewegen weiß. Über Lessings Polyhistor-Figur heißt es dagegen, und zwar mit Recht: „Er hat alles gelesen, nur kein Komplimentierbuch“ – soll heißen: er weiß nicht, wie sich adressatenbezogen äußert und höflich (galant) miteinander umgeht (I,1, S. 281). Normativ tritt, um es mit einem Wortspiel zu sagen, der Anstand an die Stelle der mittlerweile illusionären Allzuständigkeit des Gelehrten. Was aber ist an alledem modern im eben erläuterten Sinn, dass Funktionssysteme sich ausdifferenzieren? Zum einen, negativ, die Verabschiedung des Ideals vom umfassenden Wissen, von der „allgemeinen Erkenntnis“, wie Damis sie reklamiert (I,1, S. 283). Zum anderen, positiv, die Einstellung auf eine funktionsdifferenzierte Praxis. Was den Politicus auszeichnet, ist seine Fähigkeit, sich auf laufend wechselnde Gegenüber, Konstellationen und Anforderungen einzustellen. Er kennt nicht nur die Praxis im Unterschied zur Theorie, sondern ist sich der Unterschiedlichkeit der vielen Praxen bewusst, mit denen konfrontiert zu sein er erwarten muss. Sein Urteilsvermögen beweist sich nicht zuletzt darin, sich die Unterschiedlichkeit der gesellschaftlichen Anforderungen bewusst zu machen und sein Verhalten dementsprechend zu differenzieren. „Sich allen zu fügen wissen: ein kluger Proteus: gelehrt mit dem Gelehrten, heilig mit dem Heiligen“, heißt es bei Baltasar Gracián, dem gesamteuropäisch einflussreichsten Klugheitsschriftsteller.24 Weit mehr als das Nützlichkeitsstreben ist es dieses Spezifikum der politischen Klugheit, das den Gelehrten des frühen 18. Jahrhunderts befähigt, der beginnenden Ausdifferenzierung von autonomen Sozialsystemen gerecht zu werden. 4. Die politisch-galante Ausrichtung auf die Geltung bei anderen kann leicht als Oberflächlichkeit verstanden werden. Vollends nicht vereinbaren lässt sie sich mit dem im Neuhumanismus um 1800 entwickelten Programm einer Erkenntnis, die ‚um ihrer selbst willen‘ erstrebt wird. Die damit unterstellte Dichotomie hat freilich mehr programmatischen als analytischen oder theoretischen Wert. Denn Wissenschaft vollzieht sich nie in der „Voraussetzungslosigkeit“, die Theodor Mommsen als Ausschluss aller „Zweckerwägungen und Rücksichtnahmen“ beschwor.25 Sie ist nie nur an der Sache interessiert, sondern will diese – und damit sich selbst – immer auch zur Geltung bringen. Schon das, was überhaupt als Wissen_____________ 24 25
Gracián, Handorakel, S. 40 (Nr. 77). Mommsen, Theodor, Reden und Aufsätze, 2., unv. Aufl., Berlin 1905, S. 434, 432.
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Von der Polyhistorie zur modernen Wissenschaft
schaft gilt, wird nicht einfach wissenschaftsintern beschlossen, sondern kristallisiert sich in Wechselwirkung mit externen Anforderungen heraus. Noch die esoterischste Forschung ist an ein Publikum adressiert, im Extremfall an einen einzigen Fachkollegen – oder an die Nachwelt. Egal, wie groß der Adressatenkreis ist: ‚Darstellung‘ ist in jedem Fall unumgänglich, ja konstitutiv. Mit kulturtheoretischer Grundsätzlichkeit wird die Untrennbarkeit von Darstellung und Dargestelltem seit einigen Jahren als ‚Performanz‘ diskutiert. Performativ sind Handlungen, die das, von dem sie handeln, erst herstellen; das Dargestellte entsteht erst im Darstellungsakt. Anders als der Begriff Performanz ist das Wissen von der Unabdingbarkeit, ja Unhintergehbarkeit der Darstellung aber nicht neu. Vielmehr handelt es sich um die zentralen Einsichten der ‚politischen Klugheit‘, die sich eben darin von jener Wirkungsorientierung unterscheidet, welche die Rhetorik seit der Antike fordert, unter Trennung jedoch von res und verba, von Gedanken und schmückend einkleidenden Worten. Bezogen auf die Wissenschaft kann man Thomasius einen frühen Performanztheoretiker nennen. Sein Einbezug des Gelehrten in das politisch-galante, an der Geltung bei anderen orientierte Verhaltensideal machte auf die Unhintergehbarkeit von Darstellung auch in der Wissenschaft aufmerksam. Dass er seine Vorlesung im bunten, tressenbestickten Rock à la mode abhielt, zeigte nicht bloß eine Veränderung der Publikumsorientierung an, sondern legte diese überhaupt erst offen. Weil es die Reflexivität der Wissenschaft stärkte, ist das – neben der Einstellung auf eine funktionsdifferenzierte Praxis – als weiterer Modernitätsgewinn zu verbuchen. Wohl bildete sich das politischgalante Kompetenzideal außerhalb der Wissenschaften heraus und wurde insofern, wie Grimm schreibt, „von außen“ an sie herangetragen. Doch reagierte seine Rezeption als Gelehrtenideal auf ein wissenschaftsinternes Problem (das Unmöglichwerden universalen Wissens), für das es eine durchaus nicht wissenschaftsfremde Lösung (Adressatenorientierung als situative Spezialisierung) lieferte.
Zur prosodischen Dimension einer moralischen Ökonomie des Wissens Carlos Spoerhase
1. Problemstellung In seiner umfassenden Monografie Academic Charisma and the Origins of the Research University bemüht sich William Clark um die Freilegung der Ursprünge der deutschen Forschungsuniversität.1 Seine Studie darf man durchaus als wissenschaftshistorisches Komplement zu Pierre Bourdieus wissenssoziologischer Studie über den Homo academicus verstehen.2 Clarks Studie über die Entstehung des ‚homo academicus germanicus‘ soll erklären, wie die deutsche Universität im 18. Jahrhundert zu einer Institution wurde, an der geforscht wird. Clarks Genealogie verfolgt zu diesem Zweck die Entstehung eines wissenschaftlichen Ethos an den deutschen philosophischen Fakultäten. Eine wichtige historische Veränderung, die Clark in seiner Monografie nachzeichnet, betrifft die Verhältnisse epistemischer Kommunikation. Während die frühneuzeitliche Universität noch weitgehend einer an mündlicher Interaktion orientierten Präsenzkultur verpflichtet ist, ist die neuzeitliche Wissenschaft Clark zufolge zunehmend von schriftlicher Distanzkommunikation geprägt. Erst die Zunahme von kommunikativer Abwesenheit, etwa auch durch Anonymisierung der Beiträge in führenden Rezensionsorganen, lässt die Trennung von „Sache“ und „Person“, d. h. von Wissensanspruch und Wissensträger plausibel und programmatisch werden. Im Rahmen ihrer frühneuzeitlichen Modernisierung schaltet die akademische Interaktion tendenziell auf depersonalisierte Kommunikation um. Die aufklärerische Deontologie des argumentativen Austauschs erlaubt normalerweise nicht, die Bewertung eines Arguments vom Status desjenigen abhängig zu machen, der dieses Argument vertritt. Im 18. Jahrhundert wird hier immer wieder die Unterscheidung von „Grund“ und „Person“
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Clark, William, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago 2006. Bourdieu, Pierre, Homo academicus, Frankfurt am Main 1988.
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Zur prosodischen Dimension einer moralischen Ökonomie des Wissens
bzw. „Wahrheit“ und „Name“ herangezogen. Da ein Wissensanspruch anonymisch gelte, müsse jedes Vorurteil des Ansehens der Person vermieden werden. Um Michel Foucaults Frage – Wen kümmert es, wer spricht? – im Rahmen dieser Problemstellung wieder aufzunehmen: Idealerweise kümmerte es die aufgeklärten Diskutanten nicht, wer spricht, sondern nur, was gesagt wurde und ob das, was gesagt wurde, auch zutrifft. Dass diese Normen nicht immer befolgt wurden, versteht sich von selbst. Rudolf Vierhaus geht um einiges weiter, wenn er hervorhebt, dass diese Normen aufgrund der Logik der Wissenschaften gar nicht befolgt werden konnten, da der „Anspruch auf besseres Wissen, richtigere Erkenntnis, frühere Entdeckung oder Wiederentdeckung“ auch im sich formierenden System wissenschaftlicher Kommunikation im 18. Jahrhundert mit sich bringe, das in der wissenschaftlichen Kommunikation faktisch „Sache und Person“ nicht zu trennen gewesen seien.3 Vierhaus deutet damit auf ein hartnäckiges historisches Phänomen, das sich mit der erwähnten These von einer globalen Depersonalisierungstendenz der neuzeitlichen epistemischen Kommunikation nicht verträgt. Vierhaus’ Überlegungen machen deutlich, wie schwer es ist, die in der Aufklärung stark beanspruchte Unterscheidung von „Person“ und „Sache“ aufrechtzuerhalten. Wie auch Marian Füssel herausarbeitet, sind häufig „die Geltungsbedingungen gelehrten Wissens [...] nicht von den sozialen Geltungsbedingungen seiner Träger zu trennen“.4 Man muss in den komplexen diskursiven Verstrickungen von „Person“ und „Sache“ bzw. von ‚Reputation haben‘ und ‚Recht haben‘ nicht unbedingt wie Clark eine Wiederkehr des „Körpers“ sehen5, um im Problem der personalen Verankerung von Wissen ein zentrales Forschungsfeld auch für die Aufklärungsforschung zu erkennen. Das damit angesprochene Problem der personalen Verankerung von Wissen, das Clark aus wissenschaftshistorischer Perspektive untersucht, ist in jüngster Zeit auch wieder zunehmend aus wissenschaftstheoretischer Richtung analysiert worden, vor allem im Rahmen der Debatten um eine soziale Erkenntnistheorie.6 Phänomene, mit denen sich eine soziale Erkenntnistheorie befasst, sind, um nur einige exemplarische Analysegegen-
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Vierhaus, Rudolf, „‚Theoriam cum praxi zu vereinigen...‘ Idee, Gestalt und Wirkung wissenschaftlicher Sozietäten im 18. Jahrhundert“, in: Detlef Döring/Kurt Nowak (Hrsg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Teil I, Stuttgart, Leipzig 2000, S. 718, hier S. 10. Füssel, Marian, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 435. Clark, Academic Charisma, S. 201. Goldman, Alvin, Knowledge in a Social World, Oxford 1999; Kusch, Martin, Knowledge by Agreement: The Programme of Communitarian Epistemology, Oxford 2002.
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stände zu nennen, Zeugenschaft, Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Autorität, Reputation. In allen diesen Fällen handelt es sich um epistemische Kommunikationssituationen, in denen gerade nicht von der personalen Verankerung des Wissens abgesehen werden kann. Ob ein bestimmter Wissensanspruch plausibel ist oder nicht, lässt sich in Situationen epistemischer Abhängigkeit eben nicht entscheiden, ohne sich ein genaueres Bild von der Person zu machen, die diese Wissensansprüche vertritt. Aus dieser Perspektive stellt sich dann die Frage, welche personalen Eigenschaften es jeweils sind, die bei der Beurteilung eines fremden Wissensanspruchs eine Rolle spielen. Denkbar sind hier sehr viele Eigenschaften, wie u. a. Stand, Konfession, Nation, Institution, Amt, Alter, Geschlecht, Reputation oder ethische Eigenschaften. Im Folgenden möchte ich anhand von drei Beispielen zeigen, dass die Kategorie des „Tons“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dafür genutzt wird, bei der Beurteilung eines fremden Wissensanspruchs die Rolle von ethischen Eigenschaften des Wissensträgers zu thematisieren. Die Verwendung der Kategorie des „Tons“ verweist auf das Ethos des Wissenschaftlers und damit auf die moralische Ökonomie des aufklärerischen Wissens. 2. Historische Beispiele Der in Anschlag zu bringenden kritische Ton hängt für Lessing wesentlich von der Einschätzung des dialektischen Gegenübers ab; je nachdem, ob das dialektische Gegenüber als „Anfänger“, „Meister“, „Stümper“, „Prahler“ oder „Cabalenmacher“ einzuschätzen ist, soll sich der „Kunstrichter“ um einen „gelinden“ und „schmeichelnden“, „bewundernden“ und „zweifelnden“, „abschreckenden“, „höhnischen“ oder „bitteren“ Ton bemühen.7 Die Verwendung eines bestimmten kritischen Tons wird damit in ein Abhängigkeitsverhältnis zu diskursrelevanten Eigenschaften des dialektischen Gegenübers gebracht. Die Legitimität der Verwendung eines bestimmten Tons ist mithin abhängig davon, dass sich die Beschreibung der diskursrelevanten Eigenschaften des Gegenübers als zutreffend erweist. Die Wahl des richtigen Tons setzt deshalb Kenntnisse über die Person desjenigen voraus, dessen Standpunkte kritisiert werden sollen. Auch von Lessing wird ganz im Sinne der aufklärerischen Unterscheidung von „Name“ und „Grund“ beziehungsweise von „Person“ und „Wahrheit“ die Auffassung vertreten, dass man den Verfasser eines Textes
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Lessing, Gotthold Ephraim, „Briefe, antiquarischen Inhalts“ [1768], in: ders., Werke und Briefe, Wilfried Barner (Hrsg.), Bd. 5.2, Frankfurt am Main 1990, S. 351-582, hier S. 355f.
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nicht kennen muss, um die Wahrheit seiner Aussage oder die Wohlbegründetheit seines Arguments zu beurteilen: „wo die Vernunft auf ihren eignen Wege nur Gründe prüfen soll: was soll da der Name des, der das bloße Organ dieser Gründe ist.“8 Die genannte Unterscheidung wird im Rahmen der Vorurteilskritik eingebettet.9 Diese Trennung von „Autor“ und „Sache“ erstreckt sich aber nicht auf die Verwendung des kritischen Tons. Dort, wo der angemessene kritische Ton in Frage steht, ist eine Kenntnis der „Person“ des Verfassers unerlässlich, wenn man sich nicht im Ton vergreifen will. Ob bei der Zurückweisung von fremden Wissensansprüchen zum Beispiel ein polemischer Ton gerechtfertigt ist, hängt auch davon ab, wer diese Wissensansprüche jeweils auf welche Weise vertritt. In diese Richtung verweisen auch spätere Überlegungen Fichtes: Der bescheidene Stümper verdient, daß man barmherzig mit ihm verfahre, der arrogante Stümper aber, der seinen hohlen Kopf durch eine eherne Stirne zu verbergen meint, daß man ihn vor dem Publicum wegwerfe.10
Lessings Überlegungen zur kritischen Kategorie des „Tons“ sind für die kritische Selbstverständigung, gerade im Umfeld des Rezensionswesens, auch um 1800 noch wichtige Bezugspunkte.11 Dieser Sachverhalt lässt sich auch daran erkennen, dass noch Fichte in seinen autobiografischen Fragmenten seine Polemiken ausdrücklich in eine von Lessing ausgehende Traditionslinie gestellt sehen will. Fichte bemüht sich darum, den in der Gelehrtenrepublik „herrschenden Ton“ genauer zu beschreiben und „die Principien und ausgemachten Maximen“ herauszupräparieren, aus denen der „philosophische Ton des Zeitalters“ hervorgeht.12 In den Annalen des philosophischen Tons (1797), aber auch in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (1806), kritisiert Fichte, dass sich die gelehrte Kommunikation weiterhin an ‚ständischen‘ Interaktionsformen orientiert. Auch seien die Umgangsformen in der „Gelehrtenrepublik“ weit davon entfernt, sich von ‚ständischen‘ Repräsentationsnormen abgelöst zu haben. In der Gelehrtenrepublik gebe es immer noch einen „litterarischen Adel“. Die Argumente der literarischen „Adelichen“ müssten selbst dann mit „Unterwürfigkeit, und mit tiefen Verbeugungen“ entgegen
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Ders., „Anti-Goeze (1778)“, in: Werke und Briefe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1993, S. 93-482, hier S. 405. Ebd., S. 401. Fichte, Johann Gottlieb, „Antwort [...]“, in: NotizenBlatt für das Philosophische Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, 4/1797, S. 37-41, hier S. 41. Urban, Astrid, Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik, Heidelberg 2004, S. 57-70. Fichte, Johann Gottlieb, „Annalen des philosophischen Tons“ [1797], in: J. G. FichteGesamtausgabe, Reinhard Lauth u. a. (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. (im Folgenden zitiert als GA), Reihe I, Bd. 4, S. 293-321, hier S. 297.
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genommen werden, wenn sie nicht durch Gründe gedeckt seien – wobei Gründe gleichsam als ‚Währung‘ einer aufklärerisch gefassten Wissenskonzeption zu verstehen sind. Der „Adeliche“ der gelehrten Welt, der für Fichte vornehmlich in der Gestalt der Rezensenten verkörpert ist, könne Argumente ‚auf Kredit‘ vorbringen.13 Der „Adlige“ der gelehrten Welt, dessen Argumente meistens nicht durch Gründe gedeckt sind, erscheint als jemand, der seine Argumentationsschulden nicht einlösen kann und auf sein „EhrenWort“ die Argumente „geschenkt“ bekommt. Der dem „EhrenWort“ einer „berühmten“ Person bezeugte Respekt widerspricht für Fichte aber den fundamentalen, für eine Gelehrtenrepublik geradezu konstitutiven Kommunikationsformen. Der Gelehrte respektiere keine „Personen“, sondern allein „Gründe“.14 Diese Verschiebung der Respektsbezeugung von Personen auf Gründe sei laut Fichte mit der vorfindlichen gelehrten ‚Sittlichkeit‘ aber nicht vereinbar, da kritische Kommunikation immer noch als „unartig“ gelte.15 In Fichtes Augen wird die Gelehrtenkommunikation deshalb weiterhin von Normen gesteuert, die an „Personen“ und nicht an „Gründen“ ausgerichtet sind. Ein rein an „Gründen“ orientierter Argumentationshabitus werde als „völliger Mangel an guter Lebensart“ und als „Anmaßung“ wahrgenommen und konfligiere mit der allseits eingeforderten „Höflichkeit“ und „Bescheidenheit“.16 Der von Fichte im Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums (1793) geführte „heftige Krieg“ gegen das Wort „gewissermaßen“ ist dabei nur ein Beispiel für seine Einstellung, dass es die „höflichen, vorbittenden, allen Widerspruch des Hörers und Lesers sogleich beseitigenden Schmeichelworte“ in der Gelehrtenkommunikation zu bekämpfen gelte.17 Fichtes Bemühungen um eine aufschlussreiche Analyse der diskursiven Funktionen, denen die „Schmeichelworte“ ihre Entstehung und Verwendung verdanken, kreisen um die immer wieder eingeforderten Diskursnormen der „Höflichkeit“ und „Bescheidenheit“. In seiner Auseinandersetzung mit den Diskursnormen, die von einem an der „Spitze“ der Rezensionszeitschriften installierten „höchsten Adel“ der Gelehrtenrepublik formuliert werden, beschäftigt sich Fichte auch mit der immer wieder als Normüberschreitung monierten Texteigenschaft des „vornehmen Tons“.
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Ebd., S. 293f. Ebd., S. 296. Ebd., S. 301f. Ebd., S. 296. Ders., „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution. Erster Teil. Zur Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit“ [1793], in: GA, Reihe I, Bd. 1, S. 201-296, hier S. 238.
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Für Kant ist der „vornehme“ Ton eine mehrdimensionierte Kategorie. In dem Beitrag Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) argumentiert er mit dieser Kategorie erstens gegen eine esoterische Wissenskonzeption, die den Kreis der potenziellen Konsensgeber reduziert und zweitens gegen eine arbeitsscheue Wissenskonzeption, die sich aller Begründungslasten zu entschlagen versucht. Der „vornehme Ton“ bezeichnet also erstens einen restringierten Adressatenkreis für die Wissensansprüche: Hermeneutische Verständlichkeit und argumentative Nachvollziehbarkeit ist in diesem Fall nur für die Mitglieder eines restringierten Adressantenkreises gewährleistet. Bezeichnet ist also das prätendierte esoterische Wissen einer Arkanphilosophie. Hier situiert Kant den „vornehmen Ton“ auf einer Achse zwischen esoterischen und exoterischen Kommunikationsweisen; der „vornehme Ton“ verweist negativ auf das Desiderat einer der Allgemeinheit zugänglichen Philosophie. Der „vornehme Ton“ bezeichnet zweitens eine bestimmte Wissenskonzeption, die voraussetzt, dass die Erlangung von Wissen keine Kraftaufwendung verlangt. Der Begriff des „vornehmen Tons“ wird von Kant mit Metaphern aus dem Umfeld „Arbeit“ näher charakterisiert.18 Die arbeitsökonomische Metaphorik der „Arbeit“, des „Fleißes“, der „Kosten“ läuft hier parallel zu Metaphern aus dem Bereich des Rechts (etwa: der „Beweis“ eines „Besitztitels“ ) und aus dem Bereich sozialer Stratifikation (etwa: „Kaste“, „alter erblicher Adel“, „Gebieter“). Alle drei Metapherntypen verweisen darauf, dass derjenige, der sich eines „vornehmen Tons“ bedient, seine Wissensansprüche nicht verdient habe. Der Adel figuriert in diesem metaphorischen Zusammenhang als eine „Kaste, deren Ton (als besonders Begünstigter) vornehm ist“; als eine Kaste mithin, die für sich eine „Weisheit“ beansprucht, die „keine Mühe macht“.19 So könne man laut Kant zwar „gut im vornehmen Ton reden, wenn man von altem erblichen Adel ist“, nicht aber wenn man als „Kaufmann“ auf die „Prose“ der „Handelbücher“ verpflichtet sei.20 Der „Kaufmann“ bedient sich als metaphorisches Gegenbild des Adeligen eines nüchternen Tones, weil er sich aufgrund doppelter (epistemischer) Buchführung immer darüber im Klaren ist, was er sich in epistemischen Dingen leisten kann. In beiden Fällen richtet sich Kant mit seiner Kritik des „vornehmen Tons“ gegen philosophische Ansätze, die einen verfehlten Wissensbegriff vertreten, weil sie glauben, auf die Allgemeinheit und die Intersubjektivität von Wissen verzichten und ein unmittelbares Wissen von den Sachen
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Kant, Immanuel, „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ [1796], in: Kants gesammelte Schriften, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berlin 1903ff., Bd. 8, S. 387-406, hier S. 390. Ebd., S. 401, Anm. Ebd., S. 406, Anm.
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postulieren zu können, das die Erkenntnisgegenstände direkt zu erkennen vermag. Nicht die „langsame“, „bedächtige“, und „herculische“ geistige Arbeit, sondern die instantane Erkenntnis „durch einen einzigen Scharfblick“ wird von den Enthusiasten in philosophicis propagiert.21 Die Kritik des „vornehmen Tons“ ist deshalb die Kritik an einer grundsätzlichen epistemologischen Haltung. 3. Theoretischer Ausblick Abschließend seien kurz drei wichtige Charakteristika des gelehrten Tons aufgezählt: Der Ton hat erstens eine Ausdrucksdimension, die auf den Affekthaushalt des Sprechers verweist; der Ton hat zweitens eine Gattungsdimension, die konventionalisierte Kommunikationsnormen bezeichnet; der Ton hat drittens eine Beziehungsdimension, in der die sittliche Beziehung zwischen Sprecher und Hörer artikuliert wird. Der „Ton“ charakterisiert also die affektiven, generischen und sittlichen Dimensionen der Rede. Der gelehrte „Ton“ erweist sich als Teil einer Deontologie des gelehrten Diskurses, die für die Teilnehmer der Wissenschaften bestimmte Vorgaben hinsichtlich ihres persönlichen Ethos formuliert. Dort, wo der „Ton“ eines Wissensanspruchs thematisiert wird, wird die Einklammerung des wer spricht teilweise aufgelöst, da der „Ton“ immer auf das Ethos und damit im ungünstigen Fall auch auf epistemisch relevante Charakterdefizite des Sprechers verweist. Im Rückgriff auf die neuere diskursanalytische Ethostheorie ließe sich darstellen22, dass der „Ton“ in textuellen Inszenierungen etwa gelehrter Arroganz oder Bescheidenheit auf wissenschaftliche Habitusformen verweist. Die Kategorie des Tons ist deshalb auch für eine soziale Erkenntnistheorie zentral: Sie rückt die personale Dimension der Diskussion von Wissensansprüchen in den Brennpunkt der Wissenschaftsgeschichte. Gerade im Rahmen einer weitgehend über schriftliche Fernkommunikation prozessierenden Wissenskultur ist die tonale Qualität eines Textes „ein Stück in der Sprache angezeigte Nichtsprachlichkeit“23; mithin indiziert der „Ton“ die gestische Qualität und damit die personale Verankerung des Textes. Der Ton verweist auf die textuelle Präsenz des wer spricht. Der Rekurs auf den „Ton“ erlaubt die Thematisierung des wissenschaftlichen „Ethos“, mit dem ein
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Ebd., S. 390. Maingueneau, Dominique, „Ethos, scénographie, incorporation“, in: Ruth Amossy (Hrsg.), Images de soi dans le discours. La construction de l’ethos, Lausanne 1999, S. 75-101; ders., „Problèmes d’ethos“, in: Pratiques, 113/2002, S. 55-68. Campe, Rüdiger, „Im Reden Handeln: Überreden und Figurenbilden“, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hrsg.), Literaturwissenschaft, Freiburg 1999, S. 123-138, hier S. 127.
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Mitglied der res publica litteraria spricht; und die Beurteilung dieses wissenschaftlichen Ethos hat auch Konsequenzen für die Beurteilung der von ihm vertretenen Wissensansprüche. Letztlich verweist das Vorhaben einer historischen Rekonstruktion der Kategorie des „Tons“ auf das Vorhaben einer Prosodie des Wissens. Für wissenshistorische Texte würde diese Prosodie erklären, wir tonale Eigenschaften eines Textes auf Habitusformen verweisen können, die Teil einer moralischen Ökonomie des Wissens sind.24 Überall dort, wo im 18. Jahrhundert z. B. ein „vornehmer“, „komplimentierender“, „grober“, „wehmütiger“, „übermütiger“, „geifernder“, „erkünstelt moderater“, „höfischer“ oder „arroganter“ Ton moniert wird, wird auch das Ethos eines Redenden oder Schreibenden charakterisiert; ein Ethos, das im Regelfall nicht als etwas der Wissenschaft rein äußerliches beschreiben werden darf.25 Der „Ton“ ist oft eine Kategorie mit epistemologischem Resonanzraum, weil sich die Wahl eines „Tons“ und Wahl einer bestimmten wissenschaftlichen Haltung in aussagekräftiger Weise aufeinander beziehen lassen. Eine Untersuchung des gelehrten decorums im 18. Jahrhundert ist deshalb auf eine Geschichte des „Tons“ angewiesen, die nicht nur für die im engeren Sinne rhetorisch-stilistischen, sondern auch für die tugend-epistemologischen Resonanzen des Begriffs sensibel ist. Eine derart perspektivierte Geschichte des gelehrten Tons verspricht weitere Aufschlüsse über die Herausbildung und Veränderung des wissenschaftlichen Ethos im 18. Jahrhundert.26
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Daston, Lorraine, „The Moral Economy of Science“, in: Osiris, 10/1995, S. 3-24. Roberts, Robert C. / Wood, W. Jay, „Humility and Epistemic Goods“, in: Michael DePaul/Linda Zagzebski (Hrsg.), Intellectual Virtue. Perspectives from Ethics and Epistemology, Oxford 2003, S. 257-289. Das Argument dieses gekürzt abgedruckten Vortragstextes erscheint in einer ausgearbeiteten Fassung als Spoerhase, Carlos, „Prosodien des Wissens: „Über den gelehrten Ton, 1794–1797“, in: ders./Lutz Danneberg u. a. (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden [in Vorbereitung].
VII. KULTUR DES POLITISCHEN WISSENS IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM DES FRÜHEN 18. JAHRHUNDERTS Einführung von Ursula Goldenbaum Es ist ein gängiges Vorurteil gegen die deutsche Aufklärung, dass sie erst spät politisch geworden sei. Während die englische und französische Aufklärung schon seit der Mitte des 17. bzw. dem frühen 18. Jahrhundert politische Forderungen vertreten und einen öffentlichen politischen Diskurs begonnen hätten, habe die deutsche Aufklärung sich zunächst im privaten, familiären Raum entwickelt und sich der Literatur und anderen musischen Gegenständen gewidmet, bevor sie sich erst in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts langsam auch politisierte.1 Dieses Vorurteil sowie die allgemeine Verachtung der deutschen Aufklärung geht zurück bis auf Hegel und andere Größen der deutschen Philosophie- und Literaturgeschichte.2 Diese Parteiurteile gegen die Aufklärung wurden in der Folge kanonisiert und sind bis heute vorherrschend. So beklagt auch der viel rezipierte Hegelianer Hermann Hettner die angebliche Autoritätsgläubigkeit der Wolffianer und die politische Kraftlosigkeit der Pietisten, die allesamt hinter der politischen Gestaltungskraft des englischen Puritanismus und des französischen Jansenismus zurückgestanden hätten.3 In solchem Vergleich der deutschen mit der englischen und französischen Aufklärung werden jedoch ganz unterschiedliche Kriterien verwendet. Während Milton, Locke, Spinoza und andere Frühaufklärer aufgrund ihrer theologisch-politischen Forderungen gleichermaßen als politische Denker und Frühaufklärer gelten, werden deutsche Aufklärer, die in ähnlicher Weise Toleranz und Religionsfreiheit als politische Themen anspre_____________ 1
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Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise, Freiburg, München 1959, S. 11f.; Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 86. Vgl. auch S. 116 u. ö. Vgl. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3. Mit einem Vorwort von Karl Ludwig Michelet (Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, Hermann Glockner (Hrsg.), Bd.19), Stuttgart-Bad Cannstatt 1959, S. 481-487. Hettner, Hermann, Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Berlin, Weimar 1979, 2 Bde., Bd. 1, S. 47.
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chen, als „bloß theologisch“ und noch nicht aufgeklärt abgetan. Dabei sind doch die politischen Forderungen nach Toleranz und Religionsfreiheit, die dem politischen Kampf für allgemeine Meinungsfreiheit vorausgingen, auch im deutschsprachigen Raum seit der Reformation entwickelt und erhoben worden. Leibniz, Pufendorf und Thomasius sind allesamt Streiter für Toleranz, und Christian Wolff, der Vater der deutschen Hochaufklärung, argumentierte in seiner bekannten Rede über die Moral der Chinesen für die Möglichkeit einer säkularen Moral. Kriterium für die übliche Gegenüberstellung der französischen radikalen und der deutschen halbherzigen, moderaten Aufklärung ist gewöhnlich die Bereitschaft zum Sturz der Monarchie und der Errichtung einer Demokratie. Tatsächlich aber galt die Monarchie auf beiden Seiten mehrheitlich als reformierbare Staatsform. Selbst Mirabeau, als er sich nur wenige Jahre vor der Französischen Revolution für mehr als ein halbes Jahr in Preußen aufhielt, verstand sich sogar ausgesprochen gut mit den nur zu oft als beamtete Leisetreter verachteten Reformbeamten in Preußen4, die zugleich Mitglieder der Berliner Mittwochgesellschaft waren. Über die dazu notwendigen Reformen aber war man sich offenbar einig, und Mirabeau war sogar darauf bedacht, von den preußischen Reformbeamten und ihrem Wirken für eine Reform des Rechts, des Schulsystems und der Staatsfinanzen zu lernen.5 Er bewunderte auch Mendelssohns und Dohms politisch-rechtliches Projekt der Judenemanzipation und bedauerte, dass er den großen jüdischen Aufklärer nicht mehr persönlich kennen lernen konnte.6 _____________ 4
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Vgl. dazu Birtsch, Günter, „Einleitung. Die Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte als Gegenstand der Forschung“, in: ders. (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Göttingen 1981, S. 11f.; ders., „Carl Gottlieb Svarez. Mitbegründer des preußischen Gesetzesstaates“, in: Peter Alter/Wolfgang J. Mommsen u. a. (Hrsg.), Geschichte und politisches Handeln. Studien zu europäischen Denkern der Neuzeit. Theodor Schieder zum Gedächtnis, Stuttgart 1985, S. 85-101; Hellmuth, Eckhart, „Zur Diskussion um Presse- und Meinungsfreiheit in England, Frankreich und Preußen im Zeitalter der Französischen Revolution“, in: Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel, S. 205-228; ders., „Aufklärung und Pressefreiheit. Zur Debatte der Berliner Mittwochsgesellschaft während der Jahre 1783 und 1784“, in: Zeitschrift für historische Forschung, 9/1982, S. 315-345; ders., Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1985. Vgl. dazu Weber, Peter, „‚Was eben jetzt noch zu sagen oder zu verschweigen sei, müsst ihr selbst entscheiden.‘ Publizistische Strategien der preußischen Justizreformer 1780 bis 1794“, in: Ursula Goldenbaum, Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung (1697–1786). Sieben Fallstudien, Berlin 2004, S. 729-812. Weber, Peter, „Mirabeau und die Berliner Aufklärer. Zur preußischen Reformideologie im französischen Kontext“, in: Französische Kultur – Aufklärung in Preußen, Berlin 2001, S. 89-99, Nachdruck in: ders., Literarische und politische Öffentlichkeit. Studien zur Berliner Aufklärung, Iwan d’Aprile/Winfried Siebers (Hrsg.), Berlin 2006, S. 169-182.
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Martin Welkes pressegeschichtliche Arbeiten haben gezeigt, dass die meisten deutschen Zeitschriften am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts politische und juristische Zeitschriften und Zeitungen waren, während die oft überschätzten moralischen Wochenschriften erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts populär wurden. Welke wirft der Literaturgeschichte zu Recht vor, dass sie auf der Grundlage der deutschen Hochliteratur vorschnell geschlossen hätten, „daß sich unter dem Eindruck der Französischen Revolution endlich auch in Deutschland die schon seit längerem bestehende literarische Öffentlichkeit in eine politische verwandelt habe“.7 Tatsächlich geschah es erst im Ergebnis der öffentlichen Debatte über die Wertheimer Bibel, als die von der christlichen Dogmatik geforderten Prophezeiungen der Ankunft Christi im Alten Testament nicht mehr gefunden werden konnten, dass die hebräische Poesie und die Poesie allgemein als der Ort der metaphorischen Ambivalenz in den Brennpunkt der Diskussion gelangte und sich junge pietistische Theologen der Anakreontik und der Ästhetik zuwandten. Indem Passagen des Textes des Alten Testaments ein metaphorischer, poetischer, figurativer Sinn unterlegt wurde, konnten sie im Sinne der benötigten Prophezeiungen gelesen werden. Alexander Baumgartens Reaktion auf die Debatte ist 1735 eine Aufwertung der Poesie und die Forderung nach einer neuen Wissenschaft der Ästhetik als einer Erkenntnistheorie der Sinnlichkeit, unabhängig von der Vernunft. Sein Freund Immanuel Pyra übersetzte in den gleichen Jahren die Schrift des Pseudo-Longinus über das Erhabene und arbeitete an einem eigenen Entwurf zum Thema.8 Der Streit Bodmers und Breitingers mit Gottsched über die Regeln der Poesie setzte im Jahre 1740 ein, am Ende der genannten öffentlichen Debatte, wobei die Schweizer sogleich ein Bündnis mit den Hallenser Pietisten eingehen. Mit Klopstocks Messias (1748) wurde diese vor allem von pietistischen Theologen in Halle und Leipzig getragene poetische und ästhetische Bewegung im protestantischen Raum des Alten Reiches populär.9 _____________ 7
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Vgl. Welke, Martin, „Rußland in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts“, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 23/1976, S. 105-276; ders., „Zeitung und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Betrachtungen zur Reichweite und Funktion der periodischen deutschen Tagespublizistik“, in: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung, Elger Blühm (Hrsg.), München 1977, S. 71-99 (Studien zur Kommunikationsforschung, 23); ders., „Die Legende vom ‚unpolitischen Deutschen‘. Zeitungslesen im 18. Jahrhundert als Spiegel des politischen Interesses“, in: Jahrbuch der Wittheit zu Bremen, 25/1981, S. 161-188; ders., „Gemeinsame Lektüre und frühe Formen von Gruppenbildungen im 17. und 18. Jahrhundert: Zeitungslesen in Deutschland“, in: Otto Dann (Hrsg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, S. 29-53. Vgl. Zelle, Carsten, „Einleitung“ zu: Immanuel Jacob Pyra, Über das Erhabene, mit einem Anhang mit Briefen Bodmers, Langes und Pyras, Carsten Zelle (Hrsg.), Frankfurt am Main, Bern u. a. 1991, S. 7-35, hier S. 11. Vgl. Muncker, Franz, Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, Stuttgart 1888, S. 143-161.
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Die gleichzeitige Entwicklung und Rezeption des Wolff’schen Naturrechts, der Hobbes’schen politischen Philosophie, die theoretischen Arbeiten zur Reform des Rechts und die politische Publizistik sind aber von der Literaturgeschichtsschreibung ohnehin ausgeblendet worden. Aber auch die Philosophie- und Politikgeschichte behandelten die politische deutsche Aufklärung stiefmütterlich. Danach konnte die deutsche Aufklärung gar nicht mit der Aufklärung fortgeschrittener Staaten wie England, den Niederlanden oder Frankreich wegen der ökonomischen Rückständigkeit Deutschlands wetteifern. Das sahen allerdings französische und englische Zeitgenossen und Aufklärer par excellence ganz anders. Für sie hatte die Toleranzregelung des Alten Reiches nach dem Westfälischen Frieden Vorbildfunktion.10 Tatsächlich hatte der Westfälische Friede de jure Toleranz für alle drei großen christlichen Konfessionen gebracht. Mit den Regelungen des Westfälischen Friedens wurde auch Zensurhoheit vom Kaiser an die Landesherren abgegeben, um sie von der katholischen Dominanz freizustellen. Die direkte Folge davon war eine Pluralität der Zensur im Alten Reich, wie sie z. B. in Frankreich undenkbar war. Was in einem deutschen Staat verboten war, konnte in einem anderen durchaus gedruckt und gelehrt werden. Ebenso konnten politisch verfolgte Aufklärer wie Thomasius oder Wolff durch einen Staatswechsel solcher Verfolgung entgehen und ihre publizistische Tätigkeit fortsetzen. Es scheint nicht zufällig, dass sich die jüdische Aufklärung und das politische Projekt der jüdischen Emanzipation gerade in Brandenburg-Preußen entwickelte, wo seit dem Westfälischen Frieden intensiv über Toleranz und Religionsfreiheit gestritten worden war.11 Die Ideen der Berliner Aufklärung waren dabei auch gespeist von den praktischen Erfahrungen im Zusammenleben unter den Bedingen der Mehrkonfessionalität, wie sie in rein lutherischen oder katholischen Territorien des Alten Reiches undenkbar waren. Die deutsche politische Aufklärung ist daher ein Desiderat der Aufklärungsforschung, und es bedarf grundlegend neuer Untersuchungen der politischen Philosophie der Aufklärung, vor allem aber auch der politischen Publizistik einschließlich der Satire, des politischen Theaters und der politischen Kunst, um zu einem besseren Verständnis zu gelangen.
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Siehe Voltaire, Abhandlung über die Religionsduldung, Leipzig 1764, S. 46; vgl. zu Locke: Specht, Rainer, John Locke, München 1989, S. 12; zu William Penn, St. Pierre und Rousseau siehe: Raumer, Karl, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg i. Br., München 1953, S. 326-352. Vgl. Heinrich, Gerda, „... man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten“, in: Goldenbaum, Appell an das Publikum, S. 813-895.
„Gute Bürger und Patrioten dem Staat zu pflanzen“. Johann Jakob Bodmers ungedruckte Zürich-Dramen Arnd Beise Seit Mitte der 1750er Jahre schrieb Johann Jakob Bodmer rund fünfzig Dramen; davon sind etwa die Hälfte politische Trauerspiele. Soweit publiziert, fanden diese Stücke bei den Zeitgenossen nicht nur „keine günstige Aufnahm“, sondern wurden „so gar verhöhnt“, wie Johann Georg Sulzer einmal missbilligend feststellte.1 Die Rezensenten zogen über Bodmers Stücke her. Das seien keine Dramen, sondern „Aufsätze“, „Deklamationen“ oder „Predigten“. Und alle hätten dasselbe Thema: „Die Liebe zur Freiheit, der Haß der Tyrannen“.2 Auch Christian Heinrich Schmid fand es 1775 in seiner Chronologie des deutschen Theaters mit die lächerlichste Idee Bodmers, dass Trauerspiele einen „politischen Endzweck“ haben könnten.3 Einen „politischen Endzweck“ verfolgte Bodmer allerdings mit seinen Schauspielen. Er wollte mit den Dramen „den Staat und die Freyheit jedem Herzen näher“ bringen.4 Die Stücke waren die Fortsetzung der Staatsbürgererziehung mit anderen Mitteln, die Bodmers Anliegen als Professor für „Vaterländische Geschichte“ wie als Gründer und Spiritus rector patriotischer Societäten war. Die dramatische Form hielt er für besonders geeignet, weil szenische Situationen, auch wenn sie nur gelesen werden, eindrücklicher wirken als „raisonnierende“ Textsorten.5 Bodmer war auch überzeugt, dass es „ein offenbarer Vorzug der dramatischen Dichtungsarth“ sei, „daß sie mehr Anschauung hat als der einfache Dialoge, und darum desto anzüglicher _____________ 1 2
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Sulzer, Johann George, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 1774, S. 913. Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 7/1762, 2. St., S. 318–333; Hamburgische Neue Zeitung, 161–163/10.–13.10.1768; Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 285/14.6.1764, Bd. 18, S. 181–184; Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, 2/1769, 5. St., S. 90–107; 6. St., S. 209–224; Bd. 3, 11. St., S. 395–409; Bd. 4, 14. St., S. 344f. Schmid, Christian Heinrich, Chronologie des deutschen Theaters [1775], Paul Legband (Hrsg.), Berlin 1902, S. 176. Schweizer Journal, 6. Stück (Brachmonat bis Christmonat), Bern 1771, S. 36. Bodmer, Johan Jakob u. a. (Hrsg.), Die Discourse der Mahlern, Zürich 1721–1723 (ND Hildesheim 1969), Bd. 2, S. 12, 89 u. 205f.; vgl. Volz-Tobler, Bettina, Rebellion im Namen der Tugend. „Der Erinnerer“ – eine Moralische Wochenschrift, Zürich 1997, S. 250f.
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wird“.6 Außerdem erlaubte die dramatische Form dem Autor, sich hinter der objektivierten Figurenrede zu verbergen: „ich kann so“, schrieb er in einem Brief, „in Anderer Mund Wahrheiten sagen, was positiv und in meiner Person selbst, Satyre oder gefährlich wäre“.7 Gefährlich deshalb, weil es ihm um „politische Wahrheiten“ ging, „die den Regierungen verhaßt“ seien.8 So pries er in allen seinen politischen Dramen den „Wehrt popularer Grundsäze und Rechte“9, predigte „die Lehre von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen, von der Volkssouveränität“ oder „von der religiösen Toleranz“.10 Diese Lehren vertrat Bodmer in den publizierten politischen Trauerspielen mit einer noch manchen modernen Interpreten enervierenden Eintönigkeit. Anders in seinen Dramen aus der vaterländischen Geschichte, die er im Gegensatz zu den Antiken-Stücke nicht drucken ließ: Meine politischen Dramen, Schön, Stüßi, Brun, Stauffacher, habe ich im Pult behalten, aus Furcht die Finger zu verbrennen, weil sie republikanischer und historischer sind, als unsere Kadaver von Republiken vertragen können,
schrieb er 1774 in einem Brief.11 Mit den vier Namen bezeichnete Bodmer vier zwischen 1757 und 1762 geschriebene Dramen. Es sind dies in der Reihenfolge ihrer Entstehung: „Die Schweiz über dir Zürich“ (Oktober 1757), „Rudolf Brun“ (April 1758), „Rudolf Schöno“ (März 1761) und „Die gerechte Zusammenschwörung“ (1762). Unter dem Eindruck von Goethes „Götz von Berlichingen“ sah sich Bodmer die dramaturgisch ähnlich kühnen, d. h. episodisch gebauten Stücke im Dezember 1773 noch einmal auf ihre Publizierbarkeit hin an. Doch nur im Fall der „Gerechten Zusammenschwörung“ kam er zu dem Schluss, dass wenigstens eine teilweise Publikation möglich sei, die vermutlich schon Ende 1774 in Form von vier Einaktern auch erschien.12 Die drei anderen Stücke blieben aber auch jetzt ungedruckt, vermutlich
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Aus dem Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich (Ms. Bodmer 26.16). Mörikofer, Johann Caspar, Die Schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1861, S. 200. Vetter, Theodor (Hrsg.), „Bodmer’s Persönliche Anekdoten“, in: Zürcher Taschenbuch, N. F., 15/1892, S. 90–122, hier S. 114. Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 914. Tobler, Gustav, „Bodmers Politische Schauspiele“, in: Johann Jacob Bodmer. Denkschrift zum 200. Geburtstag (19. Juli 1898), Stiftung von Schnyder von Wartensee (Hrsg.), Zürich 1900, S. 117–162, hier S. 156. Mörikofer, Die Schweizerische Literatur , S. 223. Unter dem Sammeltitel „Schweizerische Schauspiele“ neu herausgegeben von Albert Debrunner (St. Ingbert 1998).
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weil sie ihrer engen Beziehung auf das Zürcher Stadtregiment wegen ihm noch immer zu gefährlich schienen. Um sie geht es im Folgenden.13 1336 wurde in Zürich die ritterliche Oligarchie abgeschafft und eine „bürgerliche Zunftverfassung“ eingeführt.14 Mit nur wenig Retuschen war dies die Verfassung, die zu Bodmers Zeit immer noch in Kraft war. Rudolf Brun war die seiner Zeit treibende Kraft bei dieser Revolution gewesen und wurde der erste Bürgermeister der Stadt. Als solcher wird er noch heute in Zürich verehrt; doch Bodmer zeichnete kein besonders positives Bild von ihm. Brun spielt ein doppeltes Spiel, das ich nicht im Einzelnen darstellen will. Er schafft es jedenfalls, sich als Volksfreund durch einen Aufstand des Volks gegen den in der Tat übel gesinnten alten Rat in das dann neu geschaffene Bürgermeisteramt hieven zu lassen, und zwar „auf seine Lebenszeit“ (Brun III/4). Das klingt allerdings nicht sehr demokratisch. Doch stand Brun nach dem erfolgreichen Umsturz vor der nicht ganz „leichte[n] Arbeit“, „ein Regiment zu ersinnen, das unseren Leuten gefällig und zugleich für ihr Naturell und die Umstände der Stadt das bequemste wäre“. Dieses „Regiment“ dürfe die „Ungleichheit“ zwischen den Bürgern und den Regenten nicht mehr so groß werden lassen wie vordem, damit die erneute Entstehung von „Haß“, „Neid“ und „Unordnung“ vermieden würde (Brun III/1). Um dieses gerechtere Regiment zu etablieren, war es bei dem Grad der allgemeinen Verderbnis wohl nötig, zunächst „gute Grundregeln zu einem Prinzen oder Dogen“ zu legen (Brun III/4); also die Diktatur eines Wohlmeinenden zu errichten, um das dem Gemeinwohl Dienliche durchzusetzen. Brun erscheint dadurch aber in einem Zwielicht. Das Stück endet mit einer empfindsamen Abschiedsszene zwischen den Eheleuten Biber, die wir am Anfang als blutrünstige Aristokraten kennen lernen; dieser Abschied des verbannten Biber von seiner Frau ist der nicht denunzierte emotionale Schlusspunkt nach einer Reihe nicht besonders optimistischer Szenen, in der die Unreife des Volks, der zu erwartende kulturelle Niedergang und die Arroganz der neuen Machthaber beklagt oder vorgeführt wurden. Das Drama beginnt wie eine Verherrlichung des Brun’schen Umsturzes, der aus einer üblen Aristokratie wenigstens eine halbe Demokratie machte. Brun teilt Bodmer’sche Grundüberzeugungen etwa von der na-
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Ich zitiere die Stücke nach von mir angefertigten Transkriptionen, welche die Grundlage der von mir vorbereiteten Edition der Trauerspiele bilden, unter Angabe von Akt und Szene. Wehrli, Max, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, 3. Aufl., Stuttgart 1997, S. 438.
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türlichen Gleichheit der Menschen oder der Bildbarkeit aller Schichten15; doch bald schon triumphiert seine „zügellose Ehrbegierde“ (Brun I/2) über die patriotische Tugend der „Verläugnung des persönlichen Vortheils“ (Brun II/1). Das ist für die Leser schockierend, weil der Aufklärer, mit dem sie am Anfang des Stücks zu sympathisieren gezwungen werden, am Ende sich als machiavellistischer Diktator erweist: „eine fatale Folge der menschlichen Begierden“ (Brun I/3). Ähnlich verhält es sich mit Rudolf Stüssi, dem ebenfalls noch heute in Zürich verehrten Bürgermeister der Jahre 1430 bis 1443, der in dem Doppeldrama „Die Schweiz über dir Zürich“ eine der Hauptrollen inne hat. Das Stück thematisiert den Konflikt zwischen Schwyz und Zürich, der sich am Streit über zwei Gebiete entzündete, auf die beide Stätten Anspruch erhoben. Zürich unterlag bei diesem Streit vor dem eidgenössischen Schiedsgericht, weshalb Stüssi nunmehr eine den Eidgenossen feindselige Politik betreibt. Unter anderem will er nicht mehr zulassen, dass den Waldstätten der lebenswichtige Zürcher Kornmarkt offen steht. Darüber kommt es zum Krieg. Wie man aus der Erzählung des Historicus Anwyl erfährt, ein episches Element in diesem Drama, ist Zürich der militärischen Stärke von Schwyz sowie dem strategischen und diplomatischen Geschick des Schwyzer Ammanns Ital Reding nicht gewachsen, so dass die Stadt „genöthiget“ war, „die Forderungen derer von Schwyz zum unverdingten Rechte vor die Cantons kommen zu laßen“ (1. Stüssi II/4). Abermals entscheidet die „Session“ der Cantons zu Gunsten von Schwyz. Die zweite Niederlage vor dem eidgenössischen Schiedsgericht veranlasst Stüssi, nunmehr offensiv die Herauslösung Zürichs aus der Eidgenossenschaft zu betreiben. Anders als er vorgibt, geht es für ihn primär nicht mehr um die Behauptung der Zürcherischen Souveränität, sondern es treibt ihn „Rachgier“. Stüssi kann die dem Schwyzer Ammann zugeschriebene wiederholte Niederlage nicht verwinden und schwört: „Es _____________ 15
„Ich maß mir keine Hoheit über sie an; ich gehe mit ihnen wie mit Menschen meines gleichen um; ich kleide mich nicht beßer; ich nehme theil an ihren Lustbarkeiten […]. Ich halte die alten Familien für keine Ausnahme der Natur: die Leute von dem vornehmsten Geschlecht haben, wann sie in die Welt kommen, vor dem schlechtesten Pöbel, weder in der Bildung, noch in der Complexion, noch in der Stärke etwas voraus; der Unterschied zwischen ihnen entsteht allein aus einer politischen Verfaßung, die aber mit der Würde nicht zugleich Talente zulegen kann […]. Ich glaube, daß man mit einem gewohnlichen muntern Witze die Grundregeln, auf welchen die Ehre und der Nutzen der Staaten beruhet, begreifen könne; dazu gehört dann noch ein patriotisches Gemüth, das gerechten und menschlichen Gesetzen sich mit Vergnügen unterwirft; solchen gleichen Gesetzen, welche die Oberen sich zuerst unterwürffig machen, und eben dadurch ihr Ansehen und die Hochachtung des Volks verdienen. […] [Wenn die gemeinen Leute] erst zu Ämtern kämen, so würdet ihr sehen, in welch kurzer Zeit ihre Talente sich entwickeln, und unter der guten Pflege zu großen Tugenden empor steigen würden.“
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muß am Ende anders gehen, oder ich muß darüber zu Grund gehen. Ich oder Reding!“ (1. Stüssi II/6) Stüssis Kampf gegen die in der Tat übergriffigen Eidgenossen wird aber damit zu einer Privatrache an dem verhassten Schwyzer Ammann. Stüssi entwickelt außerdem despotische Züge, indem er sich benimmt wie ein absolutistischer Monarch. Er will auch die von Brun eingeführte Zunftverfassung wieder abschaffen und erneut eine ritterliche Oligarchie etablieren. Zu diesem Zweck, und um Hilfe für den Kampf gegen die Eidgenossen zu bekommen, verbündet sich Zürich unter Stüssis Leitung mit dem habsburgischen Königshaus, was für die „Cantons“, die sich im Widerstand gegen Habsburg als unabhängige Eidgenossenschaft überhaupt erst konstituierten, eine Provokation und Gefährdung ersten Ranges ist. Stüssi ist also auch eine mindestens zwielichtige Figur. Die Gegenseite ist aber nicht besser. Ital Reding ist ein brutaler und zynischer Pragmatiker der Macht, der ohne weiteres zugibt, dass seine „Gedanken“ vielleicht „nicht die frömmsten sind“, aber deswegen „desto nützlicher wären“ (2. Stüssi I/3). Das sind sie für seine Sache tatsächlich; und so obsiegen im Alten Zürichkrieg die Eidgenossen. Stüssi stirbt, nachdem er in der Schlacht bei St. Jacob an der Sihl tödlich verletzt wurde, trotzdem in dem Bewusstsein, ein Märtyrer der besseren Sache zu sein: „ich habe nicht mit Kaltsinn dulden können“, so spricht der Sterbende zu seinem Freund Stäbler, daß die Rechte der Stadt zu Boden getreten würden. Das hat mir den Tod gebracht – die Nachkinder werden es schwerlich erkennen. Unglück ist in der Sprache der Menschen übels Verhalten, und Schweiz ist über dir Zürich. – Gott und mein Gemüth geben mir Zeugniß. (2. Stüssi III/6)
Das Drama, das die Nachwelt repräsentiert, erkennt in der Tat das Verdienst des Bürgermeisters nicht ohne Einschränkung an. Sein Egoismus und seine Selbstherrlichkeit haben Zürich in diesen verderblichen Krieg geführt. Die Dramaturgie des Stücks läuft zwar auf eine Anerkennung des Heroischen in Stüssis Märtyrertod hinaus (er deckt den Rückzug seiner Mitbürger und opfert sich für sie auf), doch wird dieser Märtyrertod als eigentlich unnötig hingestellt. In einer abschließenden Beurteilung der Politik und des Tods von Stüssi und seinem Vertrauten Stäbler heißt es: Beyde mögen es mit Zürich gut gemeynet haben, aber ihre unzeitige Standhafftigkeit war nichts werth. Eine Beleidigung abzuwenden stürzten sie die Stadt in zehn, und vielleicht beleidigten sie hingegen. Der tolle Einfall, daß sie Österreich gegen die Cantons in die Stadt nehmen wollten, zog uns allen diesen Jammer zu. […] Es fehlete Stüßi an genugsamer Dose von Gedult […]. Er hielte es für Zagheit nachzugeben. [… Doch] Warum nicht nachgeben, wenn man siehet, daß die Cantons, die Waffen, der Himmel, der sie leitet, sich für Schweiz erklären? Es ist kein Aufhören, wenn wir nicht stark genug sind, nachzugeben. (2. Stüssi III/7)
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Hier wird das aristokratische Ethos der Gefallenen beklagt, denen constantia wichtiger war als vernünftige Flexibilität. Gegen den Willen der Vorsehung, welche die Eidgenossenschaft begünstigte, setzten Stüssi und Stäbler ihren Eigensinn. Bodmer fand das heroisch, aber nicht republikanisch gedacht. Sowohl Brun als auch Stüssi fühlen sich als Vertreter der gerechten Sache und frei von Schuld. Ihr Kriterium dafür ist das gute Gewissen, auf das sich beide beziehen. Problematisiert wird dieser Zentralbegriff des frühneuzeitlichen Republikanismus, weil die Leser von der Unschuld Bruns und Stüssis nicht überzeugt sein können. In der Tat legte Bodmer damit den Finger auf eine wunde Stelle in der Theorie des Gewissens, das auch als politische Instanz vor allem von Rousseau, und etwas später von Kant, gebraucht wird. Im Émile hat Rousseau seine Idee von einem nicht mehr religiös gebundenen Gewissen präzisiert: Es verkörpere das dem Menschen angeborene Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend, folge stets der Natur und sei daher der von der Vernunft unabhängige, wahre Führer des Menschen, und zwar auch „gegen alle menschlichen Gesetze“.16 Eine ähnliche Funktion hat das Gewissen in Bodmers Brun-Drama, etwa wenn der Ratsherr Ulrich Manesse am Anfang des Stücks sich beklagt, dass sein Handeln nach Recht und Gewissen ihn bei den Kollegen verdächtig macht, da sie nicht verstünden, „daß ein Mensch, der nur das Beste der Stadt zur Regel seiner Handlungen nimmt, [dies auch dann] im Auge behält, wenn es gleich mit dem Nuzen der Räthe zu streiten scheint“ (Brun I/1). Der Ratsherr kontrastiert hier Gemeinnutz und Eigennutz, republikanische Tugend und menschliche Unsitte. Aber wie kommt er zur Erkenntnis der Tugend? Rousseau hatte behauptet, diese Fähigkeit sei ein dem Menschen angeborenes „natürliches Gefühl“, dessen Ausdruck das „Gewissen“ ist.17 Ist die Tugend des Republikaners also der Natur gemäß, während der menschliche Egoismus unnatürlich ist? Im Brun-Drama jedenfalls antwortet Ulrich Manesses Sohn, der Vater möge sich die Feindschaft seiner Kollegen nicht zu Herzen nehmen: „ihr seyd es lange so gewohnt, daß ihr rechtschaffen handelt, [auch] wann ihr dafür Niemands Beifall habet, als des inwendigen Zeugen, der in der Brust wohnt“ (Brun I/1). Das heißt nichts anderes, als dass das Gewissen der Maßstab des eigenen Handelns ist, gleichgültig wie die anderen Menschen darüber denken. Es erinnert sogar in der Formulierung an eine Erklärung des späten Kant, der vom „Gewissen“ behauptete, es sei „die sich selbst _____________ 16 17
Rousseau, Jean-Jacques, Emil oder Über die Erziehung, Ludwig Schmidts (Hrsg.), 12. Aufl., Paderborn 1995, S. 275 und 303ff. Rousseau hielt „das ganze Naturrecht nur“ für „ein Hirngespinst“, „wenn es nicht auf ein natürliches Bedürfnis des menschlichen Herzens“, dessen Ausdruck das Gewissen sei, „gründet“ (ebd., S. 239).
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richtende moralische Urteilskraft“, die „den Menschen, wider oder für sich selbst, zum Zeugen auf“ stelle.18 Wie dieser Vorgang genau zu denken ist, wusste Kant, glaube ich, nicht. Er nannte daher das Gewissen ein „wundersames Vermögen“19, das der Mensch „als sittliches Wesen“ einfach „ursprünglich in sich“ habe.20 Auch bei ihm lief es letztlich darauf hinaus, dass das Gewissen angeboren sei. Nicht aber bei Bodmer. Er war überzeugt davon, dass der Mensch alles, was er ist, durch Erziehung sei. Das bedeutet, dass ihm auch das sittliche Gefühl anerzogen wurde, dass sein Gewissen ein erlerntes Vermögen ist. Damit aber ist das Gewissen nicht unfehlbar einem überindividuellen moralischen Maßstab verpflichtet, sondern nur einem zufälligen unter anderen möglichen. In Bodmers Stücken bricht sich ein moralischer Skeptizismus Bahn, wenn das gute oder schlechte Gewissen nicht mehr der objektive Maßstab zur Beurteilung der Tugend ist, sondern subjektiv verfügbar wird. Brun und Stüssi hatten subjektiv wirklich ein gutes Gewissen, doch entlastet sie das am Ende nicht von dem Vorwurf, sich objektiv am Gemeinwohl versündigt zu haben. Das dritte, nicht publizierte Zürich-Drama, das „politische Trauerspiel“ „Rudolf Schöno“ ist den beiden anderen in dieser Hinsicht ähnlich. Auch Schöno versucht, für seine Vaterstadt das Beste herauszuholen, doch fehlt und fällt er dadurch. In dem Stück wird vorgeführt, wie Schöno und die eidgenössischen Gesandten um Rat und Volk der Stadt Zürich buhlen. Schöno will Zürich mit Habsburg aussöhnen, die Eidgenossen wollen Zürich im Ewigen Bund halten. Am Ende obsiegen abermals die Eidgenossen. Schöno dringt mit seinen Argumenten bei den Ratsherren und den gemeinen Leuten nicht durch: „Ich dachte“, sagt er nach seiner Niederlage, daß die Nothwendigkeit, uns mit dem Hause Oesterreich zu versöhnen, wann wir nicht über kurz oder lang wollten niedergetreten werden, ihnen unfehlbar einleuchten müßte. Und ich konnte mir nicht vorstellen, daß man sich an dem Artikel ärgern würde, der sagt, wir sollten den Eidsgenossen nicht helfen, wann sie mit Oesterreich einen muthwilligen Krieg anfiengen […]. (Schöno IV/1)
Das Hauptproblem Schönos ist, dass seine Einschätzungen der Lage nicht richtig sind, und zwar nicht nur, was seine Überzeugungskraft bei Rat und Volk angeht, sondern auch was die Notwendigkeit einer Versöhnung mit Österreich betrifft: Wie die Geschichte gezeigt hat, ist es Habsburg nie mehr gelungen, die abtrünnigen Kantone und eidgenössischen Städte _____________ 18 19 20
Kant, Immanuel, Werkausgabe in 12 Bänden, Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Frankfurt am Main 1977, Bd. 8, S. 860; vgl. ebd., S. 573: das Bild vom „inneren Gerichtshof“. Ebd., Bd. 7, S. 223. Ebd., Bd. 8, S. 530f.
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wieder zu unterwerfen. Und dies war allen Lesern des Stücks bewusst. Schöno handelt nach bestem Wissen und Gewissen, aber er irrt historisch und politisch. Deswegen scheitert er. Er ist ein „edler“ und „aufrichtiger Charakter“ (Schöno V/2), aber gleichwohl kein vorbildlicher Held. Alle drei Zürich-Stücke zeichnen sich durch die Preisgabe moralischer Eindeutigkeit aus. Der Handlungs-Struktur dieser „National-Dramen“ eignet eine semantische Ambivalenz, für welche die Unverbindlichkeit des guten oder schlechten Gewissens signifikant ist. Die Politiker Brun, Schöno und Stüssi haben sich nicht vor einem überindividuell gültigen „moralischen Gesetz“ zu verantworten, sondern vor der Geschichte und in einer konkreten historischen Situation zu bewähren. So weit ging Bodmer nur in Stücken, die nicht fürs allgemeine Lesepublikum bestimmt waren, sondern höchstens als Abschriften im Kreis von Gleichgesinnten und Schülern kursierten. Die Handschrift des „Rudolf Brun“ trägt das Motto: „hic piscis paucorum est“ – dies ist der Fisch der Wenigen, nicht der für die Masse. Die Stücke, die Bodmer der breiteren Öffentlichkeit vorlegte, gehorchen einer „Dramaturgie der Bewunderung“, um es mit Albert Meier zu sagen.21 Die Zürich-Dramen dagegen besitzen eine Dramaturgie der Problematisierung. Sie sind bevölkert mit lauter mittleren Menschen, deren moralische Qualität nicht eindeutig ist. Dies verdankt sich der außerordentlichen Quellentreue, die Bodmer aus „einigen politischen Absichten“, wie es in einem Brief aus dem Juli 1758 heißt, wahrte. Er nahm die historischen Konstellationen so uneindeutig in seine Dramen auf, wie sie sich ihm in den Urkunden darstellten, um seine Leser mit der Realität des öffentlichen Lebens zu konfrontieren. Die in den Zürich-Dramen differenziert diskutierten politischen Probleme schienen ihm eher als Vorlagen für Diskussionen in einem engen, republikanisch gesinnten Zirkel geeignet, denn als Vorbilder für die Allgemeinheit. Dieser musste man den Geschmack an republikanischer Freiheit erst einmal durch Heldengeschichten beibringen, wo nicht dauernd die „menschlichen Begierden“ noch die tugendhaftesten Politiker vom rechten Weg abkommen lassen. In den Stücken für den inner circle machte Bodmer Ernst mit einer der vornehmsten Tugenden der Aufklärung, nämlich damit, zunächst einmal alles in Frage zu stellen, auch die moralischen Maßstäbe politischen Handelns. Allerdings hielt Bodmer dergleichen nicht für druckbar.
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Meier, Albert, Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1993.
Zeremoniell in der Zeitung. Periodika des 17. und 18. Jahrhunderts als Medien der ständischen Gesellschaft André Krischer Für eine Schlagzeile reichte es nicht, aber auf Seite 3 berichtete das Wienerische Diarium vom 18. September 1765 über die Trauerfeierlichkeiten beim Tod Kaiser Franz I. in den Reichsstädten Nürnberg und Frankfurt. In der Mainstadt habe der Rat bei Bekanntwerden des Todes sogleich alle öffentlichen Schauspiele sowie Lustbarkeiten verboten und angemessene Trauerfeierlichkeiten veranstaltet: Der gesammte Hochedle Rath versammelte sich frühe vor 7. Uhr in dem Römer, von da er sich in Procession nach der Barfüsser Hauptkirche, und nach geendigtem Gottes=Dienst auf gleiche Weise wieder dahin zurück begab. Um 11. Uhr fuhren die beyden regierenden Herren Burgermeister mit einem Syndico in Trauer=Equipage unter Vortrettung derer Einspänniger und Bedienten nach dem Quartier Sr. Excell. Des hier anwesenden Kaiserl. Gesandten […] die Condolentz abzulegen.1
Die über 200 Zeitungen, die um 1700 mehrmals wöchentlich überall im Alten Reich erschienen, berichteten regelmäßig von den verschiedenen weltlichen und kirchlichen Zeremonien bei Belehnungs- und Huldigungsakten, über Festlichkeiten und rauschende Bälle, über die feierlichen Einzüge, Antritts- und Abschiedsaudienzen von Diplomaten an den europäischen Höfen, über fürstliche Geburten, Hochzeiten, Geburts- und Namenstage sowie Begräbnisse. Aber auch aus den Reichsstädten, die ich hier als Bezugspunkt meiner Ausführungen zugrunde lege, als Leser, Berichtsgegenstand und vor allem Quellenlieferant, erreichten immer wieder Meldungen über aufwendige Ehrenbezeugungen zu kaiserlichen Festtagen das Leserpublikum. Über die Anzahl der Kanonenschüsse, die Dauer des Glockengeläuts, die Errichtung von Ehrenpforten, das Abbrennen von Feuerwerken oder die Teilnahme des Rats an Dankgottesdiensten wurde nicht selten in mehreren Spalten berichtet.2 _____________ 1 2
Wienerisches Diarium, Nr. 75 (18. Sept. 1765), S. 3. Vgl. dazu generell Weber, Johannes, „Deutsche Presse im Zeitalter des Barock. Zur Vorgeschichte öffentlichen politischen Räsonnements“, in: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 137-149 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, 4).
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Die Historiker haben die Anteile solcher Meldungen in den vormodernen Periodika zumeist als Kriterium dazu genutzt, das aufklärerische Potenzial der einzelnen Zeitungen zu bewerten. Dominierten Meldungen über das „unpolitisch, höfisch-gesellschaftlich Leben“, Fürstenreisen, Berichte aus exotischen Gegenden oder über Naturkatastrophen, so disqualifizierte dies in der Regel ein Blatt im Vergleich zu jenen Medien, die als Motoren der Aufklärung, als Forum öffentlicher Meinung und sinnstiftendem Orientierungswissen über alle ständischen Grenzen hinweg fungierten. Berichte über symbolisches Handeln werden dagegen als bewusste Irreführungen des Publikums gewertet, denen man aus Gründen der Staatsräson Informationen über die wahren politischen Vorgänge vorenthielt.3 Das Unbehagen an einer solchen, defizitären Pressearbeit hat eine lange Tradition. Bereits im Vormärz, 1841, goss Hoffmann von Fallersleben in einem Gedicht beißenden Spott über die devote Hofberichterstattung aus den Filtern der Zensur, die nach Ansicht des Dichters die Intelligenz eines jeden gebildeten Bürgers beleidigte: Wie ist doch die Zeitung interessant / Für unser liebes Vaterland! / Was haben wir heute nicht alles vernommen! / Die Fürstin ist gestern niedergekommen, / Und morgen wird der Herzog kommen, / Hier ist der König heimgekommen, / Dort ist der Kaiser durchgekommen – / Wie interessant! Wie interessant! / Gott segne das liebe Vaterland! [...]4
Diese zeittypischen Vorbehalte, die in manchem der negativen Beurteilung symbolischen Handels durch die Historiker des 19. Jahrhunderts ähneln, haben sich bis in die jüngste Zeit tradiert. So hat z. B. der Romanist Edgar Mass mit Blick auf die rheinische Presselandschaft die Berichterstattung über die feierliche Ankunft des Kölner Koadjutors Max Franz von Österreich in den Stiftslanden 1780 in der Kölner Postzeitung, im Kölnischen Staatsbothen, im Gazette de Cologne und im Nouvelliste politique d’Allemagne untersucht. Widmete sich eine Zeitung ausführlich den verschiedenen Ehrenbezeugungen, so stellte dies für Mass ein gedrucktes Unterwerfungsritual in vorauseilendem Gehorsam dar. Wenn schon die strenge Zensur eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kandidaten für die Regierungsnachfolge verhinderte, dann zeichneten sich aufgeklärte Zeitungen dadurch aus, dass sie die Ankunft des hohen Herrn allenfalls sachlich registrierten, keinesfalls aber lobpreisend repräsentierten.5 _____________ 3 4 5
Vgl. Angelike, Karin, Louis-Francois Mettra. Ein französischer Zeitungsverleger in Köln (1770– 1800), Köln, Weimar u. a. 2002, S. 12. Zitiert nach Weber, „Deutsche Presse“, S. 143. Mass, Edgar, „Die französische Presse im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Köln, ein unrepräsentatives Beispiel“, in: Dieter Kimpel (Hrsg.), Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung, Hamburg 1985, S. 167-177.
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Es geht hier nicht darum, die Einsichten der modernen Forschung für die Bedeutung der Presse im Prozess der Aufklärung, als Promotor öffentlicher Meinung, kritischer Vernunft und somit sozialen Fortschritts im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft in irgendeiner Weise zu relativieren. Doch mir scheint, dass die Geschichte des Zeitungswesens im 17. und 18. Jahrhundert zu sehr teleologisch auf den Durchbruch räsonierender Blätter in den 1770er Jahren zugespitzt wurde. Obwohl man sich bewusst kritisch von den apodiktischen Urteilen früherer Historiker absetzte, wonach Zeitungen keinen genuinen Quellenwert besäßen, gleicht die inhaltliche Erschließung der Zeitungen vor 1750 nicht selten einer Bestandsaufnahme irritierender Themenfelder, von denen dann spätestens die emphatischen Berichte über die revolutionären Vorgänge in Paris oder über den Unabhängigkeitskrieg der nordamerikanischen Kolonien in einer Zeitung wie dem Hamburgischen Unpartheyischen wohlwollend abgehoben wurden. Zumeist wurde dies als Widerlegung jener von Jürgen Habermas postulierten Dichotomie einer lediglich „repräsentierenden Öffentlichkeit“ im 18., und einer „bürgerlich-kritischen Öffentlichkeit“ im 19. und 20. Jahrhundert verstanden. Wenn man jedoch die 150 Jahre Pressegeschichte vor dem Zeitalter der Aufklärung nicht als Inkubationsphase eines sich seiner eigentlichen Bestimmung selbst noch nicht bewussten Mediums deuten will, so gilt es auch zu fragen, welche Funktion die Zeitung in der ständischen Gesellschaft, jenem hochgradig von hierarchischen Ordnungsvorstellungen, von Rang- und Ehransprüchen geprägten Sozialsystem besaß bzw. ihr von den Zeitgenossen zugeschrieben wurde.6 Immerhin gehörten Zeremonialberichte wie die Schilderungen von „Ankunft und Einholung großer Herren Ambassadöre / Fürstl. Einzüge und Abzüge“ neben den Wechselfällen von Krieg und Frieden zu den häufigsten Themen einer Zeitung.7 Die Rede ist hier von der Zeitung, die sich durch Aktualität, Periodizität, Universalität (i. S. der thematischen Vielfalt) und Publizität (i. S. allgemeiner Zugänglichkeit) auszeichnete und durch diese Merkmale von den Moralischen Wochenschriften, politisch-ökonomischen Zeitschriften oder denen der Wissenschaft, Kunst, Literatur oder Musik gewidmeten Journalen unterschied. Beispiele dafür sind die kaiserlichen Reichsoberpostamtszeitungen, die in den meisten größeren Reichsstädten erschienen, in Köln der Staatsboth oder die Dienstags=Zeitung, in Wien das Wiener Blättl (gegr. 1622). Genau um diese Medien in der Wissensordnung der ständischen _____________ 6
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Wichtige Hinweise dazu schon bei Weber, Johannes, „‚Die Novellen sind eine Eröffnung des Buchs der gantzen Welt‘. Entstehung und Entwicklung der Zeitung im 17. Jahrhundert“, in: Klaus Beyrer/Martin Dallmeier (Hrsg.), Als die Post noch Zeitung machte. Eine Pressegeschichte, Frankfurt am Main, Gießen 1994, S. 15-25. Stieler, Kaspar, Zeitungs Lust und Nutz [1695], Gert Hagelweide (Hrsg.), ND Bremen 1969, S. 52.
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Periodika des 17. und 18. Jahrhunderts als Medien der ständischen Gesellschaft
Gesellschaft drehen sich die Überlegungen des Sprachforschers Kaspar Stieler (1632–1707) in seinem 1695 veröffentlichten Kompendium Zeitungs Lust und Nutz.8 Folgt man seinen Überlegungen, so zeigt sich, dass man um 1700 an Volksaufklärung durch Zeitungen nicht gedacht hatte: Das gemeine Volk solle lieber die Bibel lesen.9 Eine Lust auf Zeitungen, so stellte Stieler nämlich fest, haben im Grunde alle Menschen. Aus dem natürlichen Trieb der Neugier stürzten sie sich wie Jäger auf die neuesten Nachrichten und seien begierig zu erfahren, was denn der Kaiser, der Papst, der Sultan und andere große Herren machten, ob ein Vulkan ausgebrochen sei oder auf den Monden Geister wohnten. Ob sie davon Ehre und Nutzen hätten, ob sie diese Sachverhalte überhaupt etwas angingen, bezweifelte Stieler jedoch nachhaltig. Die Frage, wer denn sinnvoll welche Nachrichten rezipieren solle, beantwortet sich für Stieler gemäß der Ordnung der ständischen Gesellschaft. Was für den Bürger in der Stadt oder den Bauer auf seinem Hof von Interesse sei, gehe die Mädchen in den Backhäusern dennoch rein gar nichts an.10 Dass die Zeitungen faktisch von großen Teilen der Bevölkerung in Stadt und Land gelesen wurde, lässt sich natürlich nicht bestreiten, dieser Umstand steht hier jedoch nicht zur Debatte. Einen echten „Zeitungsnutzen“ attestiert Stieler nur wenigen sozialen Gruppen, allen voran den Höfen, dem Fürst, seinen Ministern, Räten und Diplomaten. Dies ist für Stieler die logische Konsequenz daraus, dass sich die Berichterstattung in den Zeitungen hauptsächlich auf die politische Welt bezieht. Und dies hat wiederum seinen Grund darin, dass die gedruckten Zeitungen aus den handschriftlichen Relationen der Diplomaten an ihre Prinzipalen hervorgegangen waren: „Diese Leute forschen alles aus/ geben auf alles Achtung [...] oft auch [auf] das allerkleinste und geringste / woraus nur [...] ein Nachdenken erweckt werden kann“.11 Zeitungen präsentierten also politisches Wissen für diejenigen, die ohnehin mit Politik befasst seien. Politisches Handeln aber ist für Stieler untrennbar verbunden mit einer bestimmten sozialen Qualität, womit er eines der Grundprinzipien der ständischen Gesellschaftsordnungen berührt. Was aber heißt dann politisches Wissen (oder Politik überhaupt) und wer machte was damit? Ich will dies im folgenden anhand nur eines von ganz vielen möglichen Szenarios verfolgen, nämlich dem politischen Nutzen, den reichsstädtische Regierungen aus den Zeremonialnachrichten in den von ihnen erworbenen und sorgfältig archivierten Zeitungen ziehen konnten.12 _____________ 8 9 10 11 12
Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 10. Ebd., S. 16. Ennen, Leonard, „Die Zeitungspresse in der Reichsstadt Köln“, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 36/1881, S. 12-82.
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Die Regenten der Reichsstädte etwa hätten Stieler durchaus zugestimmt, dass es eine gelungene Berichterstattung kennzeichne, wenn die beschriebenen Staatshandlungen auch konkreten Personen zugeschrieben würden. Man müsse z. B. schon wissen, wie der englische Gesandte heiße, von dessen Ankunft und Einholung in Konstantinopel man lese. Wer heiratete an welchem Hof, wer taufte welches Kind, wer hatte wann Geburtstag, wer wurde begraben usf. Politisches Wissen begann damit, den Überblick über die europäische Adelsgesellschaft und Fürstenfamilie zu behalten, die, trotz aller Modernisierungstendenzen, noch nicht aus abstrakten Machtstrukturen bestand, sondern aus konkreten, hochadligen Personen, die politische Allianzen bekanntlich durch auch heutige gebräuchliche Formen der Vergesellschaftung stifteten. Niemand, sagte Stieler, könne sich als „Staatserfahrner“ bezeichnen, der nicht die Namen und Vornamen der Potentaten, Minister, Generäle und Diplomaten, der Grafen und Freiherren wisse: Welcher Graf Starenberg hat etwa vor Wien die Türken bekämpft, welcher vor Philippsburg die Franzosen? Dem idealen Zeitungsleser sollten bei der Lektüre die Stammbäume und Familienwappen der erwähnten Personen vor Augen stehen, die Stieler auszugsweise im Anhang präsentierte. Wer aber konnte was mit einem solchen Wissen anfangen? Vor allem die ständig im Fluss sich befindlichen Rangverhältnisse, Ämter und Titel der hohen Herren empfahl Stieler den Lesern aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen, ebenso auch die dynastischen Feierlichkeiten13 – ein Hinweis, den etwa der Kölner Rat zu befolgen schien, wenn er bei seiner Zeitungslektüre genau solche Meldungen häufig unterstrich. Gold wert war für Stieler beispielsweise das Wissen darum, welcher Titel und welche Ehrenbezeugungen etwa dem Kurfürsten Johann Hugo von Trier in seiner neuen Würde als Kammerrichter zu geben seien – dies übrigens eine Frage, worüber sich 1677 auch der Frankfurter Rat den Kopf zerbrochen hatte und es schließlich aus der dortigen Postzeitung erfuhr. Wie in solchen Fällen üblich, setzte man sogleich ein Glückwunschschreiben auf und schickte dies mit einer Wagenladung voller Geschenke nach Trier, wo ein Syndikus der Reichsstadt das Ganze dann überreichte – nicht ohne dabei ausführlich für die Prozesse zu werben, die Frankfurt gerade beim Reichskammergericht betrieb.14 Ganz ähnliches passierte bei Promotionen im Umfeld anderer Institutionen wie dem Reichstag, dem Reichshofrat oder den kaiserlichen Behörden. Der reichsstädtische Ausstoß an Geschenken und Zeremonialschreiben wuchs im 17. Jahrhundert auch deswegen so enorm an, weil durch die Zeitungen kaum eine Standesveränderung mehr unbekannt blieb. _____________ 13 14
Stieler, Zeitungs Lust und Nutz, S. 132. Vgl. zu diesen Praktiken ausführlich Krischer, André, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006.
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Periodika des 17. und 18. Jahrhunderts als Medien der ständischen Gesellschaft
Wer jetzt an Korruption denkt, liegt allerdings nicht ganz richtig. Es handelt sich vielmehr um die Umkehrung des Prinzips Herrschaftsvermittlung, das Historiker wie Stefan Brakensiek, André Holenstein u. a. an die Stelle einer leicht anachronistischen, bürokratiegeschichtlichen Perspektive setzen: Territoriale Behörden (von den Reichsinstitutionen ganz zu schweigen) konnten ihren Entscheidungen nicht schon dadurch bei den Untertanen Geltung verleihen, indem sie diese in der Zentrale formal korrekt produzierten. Alles musste vor Ort immer erst noch auf ganz verschiedenen Wegen ausgehandelt werden.15 Ebenso wenig, so wäre zu ergänzen, ließ sich aber auch von unten etwas ohne Umstände in die Institutionen einspeisen, die sich eben nicht als organisierte Bürokratien verstanden. Vormoderne Verwaltung vollzog sich immer als Tauschgeschäft: Fügsamkeit von unten gegen Zugeständnisse von oben, die Ausstellung von Privilegien und die Durchführung von Prozessen gegen Honorar. Die heutige Verwendung dieses Begriffs als Vergütung freiberuflicher Leistungen verdeckt, dass man um 1700 darunter ganz konkret ein Ehrengeschenk verstand. Die städtischen Geschenke an Kammerrichter, Assessoren, Reichshofräte, Reichsvizekanzler usw. waren bisweilen zwar üppig, doch als Bestechung wird man sie trotzdem nicht bezeichnen können, schon weil sie stets öffentlich, mit großem Zeremoniell, überreicht wurden.16 Sie waren Ehrengeschenke im Wortsinn, mit denen eine neu erworbene Würde – und als solche verstanden etwa Kurfürsten neue Ämter in erster Linie – honoriert wurde. In Amt und Würden war man in der Frühen Neuzeit nicht allein schon durch neue Einkünfte, sondern erst dadurch, dass man von Dritten durch symbolische Transfers, durch ‚verbale‘ und ‚reale insinuationes‘ (so der barockrhetorische Fachterminus17) sichtbar darin ausgezeichnet wurde, durch Zeremoniell und andere Ehrenerweise, Geschenke, Briefe, Feuerwerke usf. Dies galt für den Amtsantritt, aber ebenso auch für periodisch wiederkehrende, persönliche und „dienstliche“ Jubiläen, worüber die Zeitungen berichteten. Einen Glückwunsch zu übermitteln, ein Geschenk zu überreichen, Ehrensalven abzufeuern usf. waren _____________ 15
16 17
Brakensiek, Stefan, „Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich“, in: ders./Heide Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, Köln, Weimar u. a. 2005, S. 1-21; Holenstein, André, „Kommunikatives Handeln im Umgang mit Policeyordnungen. Die Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert“, in: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar u. a. 2005, S. 191-208. Vgl. dazu Krischer, André, „Das diplomatische Zeremoniell der Reichsstädte, oder: Was heißt Stadtfreiheit in der Fürstengesellschaft“, in: Historische Zeitschrift, 284/2007, S. 1-30, hier S. 21f; ferner ders., Reichsstädte, S. 161-175. Vgl. Weise, Christian, Politischer Redner. Das ist kurtze und eigentliche Nachricht, wie ein sorgfältiger Hofmeister seine Untergebenen zu der Wohlredenheit anführen soll [1683], ND Kronberg/T. 1974.
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daher genuin politische Handlungen in der Ständegesellschaft. Über diesen Bedarf an symbolischem Kapital aber musste erst einmal informiert werden, weil sich die europäische Fürstengesellschaft ja nicht an einem Hof konzentrierte, wo Informationen face-to-face ausgetauscht werden konnten.18 Im besonderen Maße schätzten entsprechend die Reichsstädte die Streuungsfunktion dieses Mediums, das, wie eingangs skizziert, pompöse Ehrenbezeugungen an bestimmte hochrangige Adressaten kommunizierte, mit denen die Städte nicht regelmäßig direkt in Interaktion treten konnten. „Festivitas publicatur durch den truck der post-zeitungen“ heißt es lapidar im „Protocollum Ceremoniale“ des Kölner Magistrats vom 27. Januar 1742.19 Berichtet wurde von der Eilfertigkeit und Ausgiebigkeit, mit der die Stadt die Wahl Karl Albrechts von Bayern zum Kaiser gefeiert hatte. Die Wertschätzung dieses Mediums zur reichsstädtischen Repräsentation lässt sich auch aus dem Befund ableiten, dass unter den Berichten, die Kölner Agenten aus Wien und Regensburg an den Rat sandten, regelmäßig Belegexemplare jener Zeitungen zu finden waren, die über Kölner Festveranstaltungen zu Ehren des Kaisers referierten.20 Auch für den Adressaten eines Zeremoniells auf Distanz war die entsprechende Zeitungsnachricht als Zeugnis politisch-sozialer Ehrerbietung durchaus relevant. Ravensburg übersandte z. B. Franz I. 1745 Zeitungsexemplare mit Meldungen über die städtischen Freudenfeste nach dessen Wahl, nachdem der Kaiser seiner Irritation über die Bemühungen der Stadt, sich von der kostspieligen Lokalhuldigung befreien zu lassen, Ausdruck verliehen hatte.21 Die Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts bedienten mit der Zeremonialberichterstattung also ein prinzipielles Informationsbedürfnis der politischen Akteure, die symbolisches Handeln als Erhebung und Austausch von politisch-sozialen Geltungsansprüchen verstanden.22 Ehrenbezeugungen für bestimmte Personen wurden so selbst medialisiert und publiziert. In Zeitungen wurde darüber berichtet, jeder konnte lesen, welche Ehrenbekundungen ein Reichsvizekanzler wo erfahren hatte, ohne selbst dort gewesen zu sein.23 Dies aber grenzt politische Handlungsmöglichkeiten ein auf einen sehr engen Kreis von Personen, deren Wertschätzungsbekundungen auch wirklich als Transfer von symbolischem Kapital _____________ 18 19 20 21 22 23
Vgl. grundlegend zur Hofforschung: Pečar, Andreas, Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740), Darmstadt 2003. Historisches Archiv der Stadt Köln, Bestand 30, C 611, p. 31v. Historisches Archiv der Stadt Köln, Bestand 50, Nr. 350/2. StA Ravensburg, Büschel 501c. Stollberg-Rilinger, Barbara, „Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert“, in: Majestas, 10/2002, S. 1-26. Krischer, Reichsstädte, S. 139f.
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Periodika des 17. und 18. Jahrhunderts als Medien der ständischen Gesellschaft
gewertet wurden. Dies war bei normalen Untertanen nicht der Fall, die ihren Landesfürsten allenfalls aus Pflichtschuldigkeit zu beglückwünschen hatten.24 Insofern waren die Zeremonialnachrichten für die Untertanen kein politisches Wissen, was nicht ausschließt, dass sie diese dennoch gerne gelesen haben. Soziale Schätzung vermitteln und daraus Kapital schlagen konnten nur diejenigen, die selbst zur Adelsgesellschaft gehörten. Durch die Übermittlung sozialer Schätzung wurden Verpflichtungsverhältnisse unterhalb der Kulturform Patronage gestiftet.25 In der Forschung steht man bei diesem Thema noch ziemlich am Anfang, doch bei der vormodernen Gesellschaftsordnung, in der sozialer und politischer Status nicht voneinander zu trennen sind, liegt diese Zuspitzung eigentlich auf der Hand. Zeremoniellberichte in der Zeitung schufen genuin politische Partizipationsmöglichkeiten, aber eben noch nicht in Form eines kritischen Diskurses, der in der bürgerlichen Gesellschaft politisch folgenreich werden sollte, etwa bei Wahlen. Möglich wurde vielmehr die Partizipation am Kreislauf wechselseitiger sozialer Geltungsbehauptungen, deren Anerkennung sich in ganz verschiedener Hinsicht auszahlen konnte, materiell wie symbolisch. Ich werbe hier also für eine Historisierung des Politik-Begriffs, aber nicht auf der klassisch begriffsgeschichtlichen Ebene, sondern auf der praxeologischen.26 Klar ist freilich, dass ein solches politisches Wissen nicht modernisierbar war. Die Bedeutung von Zeremoniell in der Zeitung wandelte sich mit der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft, moderner Bürokratien, Amtsrollen, Organisationen usf., und es wurde spätestens um 1850 daher mit Recht entweder als Boulevard oder Verschleierungstaktik verstanden. Diese Entwicklung sollte aber nicht den Blick für den spezifischen Nutzen von Zeremoniellnachrichten um 1700 verstellen: Sie waren ein Bestandteil des politischen Zeichengebrauchs in der ständischen Gesellschaft und daher eine Nachrichtenform, deren Bedeutung und Funktion sich nicht unabhängig von deren Werten verstehen lässt.
_____________ 24 25 26
So schon Daniel, Ute, „Überlegungen zum höfischen Fest in der Barockzeit“, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 72/2000, S. 45-66. Vgl. zum Begriff Droste, Heiko, „Patronage in der Frühen Neuzeit. Institution und Kulturform“, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 30/2003, S. 555-590. Vgl. zur Historisierung politischer Verfahren: Stollberg-Rilinger, Barbara (Hrsg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001.
Kulturpolitik als Beruf. Zum Begriff des Politischen im Wirken Johann Matthesons Rainer Bayreuther
Matthesons Beruf und Stellung Wer war Johann Mattheson? Die Musikwissenschaft, zu der der Autor des vorliegenden Texts gehört, kennt ihn traditionell als Musiktheoretiker und Musikpublizisten, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland meinungsführend war. Nach der Wiederentdeckung zahlreicher Notenhandschriften in osteuropäischen Archiven, die bislang als Kriegsverlust galten, lernt man ihn jüngst auch als Komponisten von Opern, Oratorien und Kammermusik kennen, von der Qualität der Musik auf Augenhöhe mit Telemann oder Keiser. Dass die eine Tätigkeit die andere in neuem Licht erscheinen lässt, ist evident und wird das Matthesonbild nicht unverändert lassen. Matthesons Brotberuf als Diplomat, seit langem bekannt und dokumentiert, hingegen sinkt in der Perspektive der Nachgeborenen zur Nebentätigkeit ab, nur weil sie wenig Spuren in der Öffentlichkeit hinterlassen hat; Matthesons Aufgabe war politische Beratung, nicht politische Exekutive. Dabei kann man sich unschwer klarmachen, dass das Selbstbewusstsein, das aus einer dieser Tätigkeiten erwächst, auf die anderen abstrahlt. Wie also wirken die Tätigkeiten ineinander? Wie lässt sich ein Begriff des Politischen bestimmen, der die politische Relevanz aller drei Tätigkeiten integriert? Welches kulturpolitische Selbstverständnis hatte Mattheson? Mattheson (1681–1764) stammt aus der untere Mittelschicht der Freien Reichsstadt Hamburg.1 Der Vater war ein kleiner Zoll- und Steuerbeamter. Johanns Karriere begann als musikalisches Wunderkind; als Neunjähriger schon gab er Orgelkonzerte. Ab 1690 ist er Sänger an der _____________ 1
Das Folgende nach: Marx, Hans Joachim, Johann Mattheson (1681–1764). Lebensbeschreibung des Hamburger Musikers, Schriftstellers und Diplomaten, Hamburg 1982. Zu Details und Quellen siehe Fiebig, Folkert, „Johann Mattheson als Diplomat in Hamburg“, in: George Buelow/Hans Joachim Marx (Hrsg.), New Mattheson Studies, Cambridge, New York 1983, S. 45-74.
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Zum Begriff des Politischen im Wirken Johann Matthesons
Hamburger Oper, ab 1699 reüssiert er auch als Komponist von Bühnenwerken. Bald aber entwickelt Mattheson andere, stärkere Interessen als das praktische Musizieren. Wie er in seinem eigenen Eintrag in der Grundlage einer Ehren-Pforte (1740), einer Sammlung von Lebensläufen der bedeutendsten Musiker seiner Zeit, schreibt, nimmt er 1705 Abschied von der Oper, um „fortan sein Augenmerck auf etwas wichtigeres, dauerhaffteres und gültigers“ zu richten.2 Dieser Abschied ist die Wende zum Politischen. Mattheson wird zunächst Erzieher im Haus des Gesandten der englischen Krone für die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck sowie den Niedersächsischen Kreis, John von Wich; er betreut dessen Sohn Cyril. Sozusagen nebenberuflich macht er weiter Musik: Er ist Domkapellmeister, das bei weitem nicht bedeutendste musikalische Amt in Hamburg, wo er in regelmäßigen Abständen Oratorien zu komponieren und aufzuführen hat. Im Jahr 1719 wird er zudem zum Hofkapellmeister des Herzogs von Holstein-Gottorf in Kiel ernannt, auch dies eher ein Ehrentitel als eine reale Aufgabe, für die viel Arbeitszeit aufzuwenden gewesen wäre. Wichtiger ist die Karriere im diplomatischen Dienst. Im Haus des englischen Attachés wird Mattheson bald Privatsekretär. Seine Zuständigkeit erstreckt sich auf Zoll- und Passangelegenheiten, auf die Reinschrift von Gesandtschaftsbriefen und -akten, er verhandelt mit der politischen Führung der Hansestädte, er übergibt Noten der englischen Krone, er verfasst wöchentliche Berichte für London. Formal ist er nur Sekretär, privat angestellt beim Botschafter, also nicht der englischen Krone unterstellt – ein Punkt, der wichtig erscheint und auf den zurückzukommen ist. Faktisch aber ist er der Stellvertreter des Botschafters, der diesen bei Reisen oder Krankheit mit weitreichenden Befugnissen vertritt. 1713 starb John von Wich, und sein Sohn Cyril, den Mattheson als Kind unterrichtet hatte, trat die Nachfolge als Botschafter an. Das Verhältnis Matthesons ist zum Sohn ähnlich eng, beinahe noch enger als beim Vater. Im Jahr 1741 – Mattheson ist sechzig Jahre alt – wird Cyril von Wich nach St. Petersburg abberufen. Amtsnachfolger ist ein gewisser James Cope. Zu ihm kann Mattheson überhaupt kein Verhältnis aufbauen; er hegt Gedanken an den Ruhestand, bleibt nach einer Intervention des englischen Außenministers aber in Stellung, allerdings mit stark reduzierten Befugnissen. Im Jahr 1756 – Mattheson ist schon hoch in den Siebzigern – stirbt James Cope durch Suizid, und erst dann zieht sich Mattheson ins Private zurück. Seine offizielle Dienstbezeichnung ist seit 1741 „actueller oder wirklicher Legations-Sekretär“. Als solcher unterzeichnet Mattheson auch in den meisten der musikalischen Schriften die Widmungen. _____________ 2
Mattheson, Johann, Grundlage einer Ehren-Pforte [...], Hamburg 1740, ND Kassel 1969, S. 193.
Rainer Bayreuther
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Bis in die dreißiger Jahre des Jahrhunderts komponiert Mattheson mit beachtlicher Frequenz weiter, zunehmend behindert durch fortschreitende Taubheit. Ebenso beachtlich ist sein publizistischer Ausstoß. Es überwiegen Bücher und Lehrschriften zur Musik, aber zunehmend erobert sich Mattheson weitere Metiers: Er gibt moralische Wochenschriften heraus, er übersetzt Historica aus dem Englischen, er mischt sich in die Debatte um die Reinheit der deutschen Sprache ein und streitet wider Gottsched. Ab den 1740er Jahren verfasst er auch christlich-erbauliche Schriften, aus denen ein frommer, bibelfester, zuletzt antiaufklärerisch frömmelnder Lutheraner zu erkennen ist. Matthesons politischer Begriff von Musik Die musikalische Kunst, abstrakteste aller Künste, ist bis heute die am wenigsten politische. Im Diskurs der Aufklärung, in dem zum ersten Mal in der res publica litteraria die gesellschaftliche Relevanz der Künste thematisiert wird, blieb die Musik der Sonderfall. Erkennbar ist das daran, dass Musiker und Musiktheoretiker zu den großen Aufklärungsdebatten so gut wie nichts beigetragen haben. Wird die Musik zum Thema, dann eher als komplexes anthropologisches Theorem, wie bei Herder oder Rousseau, denn als kultureller Beitrag, der diskursiv zu den Debatten beitragen kann. Auch Mattheson, der getrieben war von der Idee, diesen wenig intellektuellen Status der Musik zu revidieren, hat letztlich wenig an der Situation geändert, wenn man als Maßstab seine Resonanz außerhalb der musikalischen Community nimmt. Nichtsdestoweniger besteht sein Versuch, die politische Dimension von Musik zu präzisieren und einen Begriff des Politischen in der Musik zu entwickeln, der seiner Auffassung nach geeignet war, die politische Diskursfähigkeit seiner Disziplin herzustellen und sie aus der ebenso kommoden wie gesellschaftlich irrelevanten Ecke repräsentativen Dekors herauszuholen. Ansatzpunkt Matthesons ist eine Umkehrung der gängigen wissenschaftlichen Klassifizierung der Musik. In der artistischen Tradition galt die Musik als Teildisziplin der Mathematik, genauer: als eine Art akustische Veranschaulichung wesentlich mathematischer Strukturen. Matthesons Ansatz demgegenüber lautet: Musik ist als solche, nämlich als musikalische Kunst, wesentlicher Bestandteil von Disziplinen, die ohne Musik gar nicht existierten. Explizit nennt er Theologie und Politik, auszunehmen sei nur die Außenpolitik.3 Welche politische Funktion Musik hat, präzisiert Mattheson programmatisch im Musikalischen Patriot (1728), einer _____________ 3
Mattheson, Johann, De eruditione Musica, Hamburg 1732, S. 6f. u. 10.
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Moralischen Wochenschrift, die sich die Aufklärung eben jenes Themas zum Ziel setzt: Des Landes Wohlfahrt und die rechten patriotischen Angelegenheiten eines Staats haben offt solche verborgene, geringe und unansehnliche Quellen, daß die wenigsten Menschen darauf die Augen wenden [...]. Den Zustand der Regierung, und was in der Policey vorfällt, muß ebenfalls niemand aus den Augen setzen, der dem Vaterlande, es sey auf welche Art es wolle, Vortheil zu schaffen gesinnet ist; und also wird in folgenden Vorträgen nothwendig ein und anderes politisches, dramatisches, theatralisches, etc. vorfallen.4
Im Kern besteht die politische Funktion von Musik demnach darin, eine der verborgenen Quellen der Wohlfahrt eines Landes zu sein. Diese Bestimmung ist erst auf den zweiten Blick innovativ; auf den ersten weist sie der Musik die durchaus traditionelle Rolle zu, das Gute und Schöne im Gemeinwesen zu repräsentieren und über den pädagogischen Nebeneffekt, den Repräsentation hat, zu befördern. Bei näherem Hinsehen wird aber jenes Repräsentationsmoment gänzlich neu bestimmt und enthält einen genuin politischen Aspekt, der in der tradierten Vorstellung der Musik als Repräsentantin mathematischer oder theologischer Weltverhältnisse nicht enthalten war. Mattheson nennt im Musikalischen Patriot drei Lebensbereiche als Felder des Politischen: den geistlichen, weltlichen und häuslichen.5 Jeder Bereich ist auf einen obersten Zweck hin ausgerichtet, den zu verwirklichen die Musik jeweils unabdingbar beiträgt. Im geistlichen Bereich ist dieser oberste Zweck das Lob Gottes. Die Maxime des weltlichen Bereichs ist „gute Ordnung“ als „Seele des gemeinen Wesens“. Im häuslichen Bereich diversifiziert Mattheson: Zwecke seien Einigkeit, fromme Erziehung der Kinder und häusliche Tugenden. Für den weltlichen Bereich lautet Matthesons Erläuterung: In Politica Statûs zielet die Music auf gute Ordnung, als die Seele des gemeinen Wesens; auf Anfrischung zur Tapferkeit; auf Beförderung schöner Wissenschafften und geschickter Leute; auf Beehrung und Erhebung wolverdienter Personen; Verherrlichung löblicher Thaten, Erleichterung und Versüßung der Regiments-Geschäffte etc.6
Das ist zunächst eine platonistische Konzeption7: Musik soll die staatliche Ordnung unterstützen; sie ist dazu in der Lage, weil sie selbst eine zum idealen Gemeinwesen analoge Ordnung repräsentiert. Man missverstünde Mattheson aber, fasste man auch seinen Begriff der Ordnung platonistisch auf. Entscheidend für das innovative Moment von Matthesons Auffassung _____________ 4 5 6 7
Der musikalische Patriot, Hamburg 1728, Vorbericht, S. 5. Ebd., S. 28. Ebd. Platon, Der Staat, 424ff.
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politischer Musik ist gerade sein Begriff der Ordnung. Dies wird deutlich, wenn man dagegen die Repräsentation politischer durch musikalische Ordnung bei Andreas Werckmeister dagegenhält, der für Mattheson immer wieder die Folie der Kritik ist, vor der er seine eigene Konzeption profiliert. Werckmeister hatte musikalische Ordnung in einem metaphysischen und theologischen Konzept der „unität“ begründet: Gott hat die physikalische Welt, die somatische Einrichtung des Menschen und die soziale Ordnung nach einem Prinzip geschaffen. Daher existieren Medien, welche die „aequalität“ dieser einen Ordnung repräsentieren und die Querverbindung zwischen den Bereichen herstellen können. Diese Medien sind im wesentlichen die Mathematik, besonders die Proportionenlehre, und die Musik.8 In dieser Weise kann bei Mattheson der politische Begriff von Musik nicht mehr gedacht werden, weil er eine philosophische Prämisse dieser Art von Platonismus nicht mehr bereit ist zu akzeptieren: dass sich politische Ordnung durch mathematische Proportionenlehre formalisieren lässt. Damit fallen die Musik wie auch die physikalischen Verhältnisse der Welt als mediale Repräsentationen politischer Ordnung aus. Der Abschied von solcherart spekulativem Platonismus ist ein Signum des aufgeklärten Denkens überhaupt. Die Aufklärung hat aber dann die Rolle der Künste neu zu bestimmen. Eine Möglichkeit ist hier, den Künsten jegliche Potenz der Repräsentation von Ordnungen der Welt abzusprechen und ihren Zweck auf psychologische Unterstützung der Aufrechterhaltung von Ordnung zu beschränken, auf Vergnügen und Ergötzen – immer mit der Gefahr, dass leichtfertiger Umgang mit diesen Psychoaktiva rasch das Gegenteil bewirken kann. Solche Beschränkung findet sich beispielsweise bei Christian Wolff.9 Mattheson hat hier eine deutliche Antwort: Zur Ergetzlichkeit der Ohren gehört die Music, so wol die Instrumental- als Vocal-Music, oder das Singen. [...] Weiter meldet der berühmte Wolff: Man habe in dieser Absicht im gemeinen Wesen auch Musicanten vonnöthen, die, bey sich eräugnenden Fällen, durch das Ohr ein Vergnügen machen können. Das ist aber eine sehr kriechende, und nicht die wahre Absicht der Music, in so fern sie dem gemeinen Wesen nützen soll; dadurch wird ja allen Bierfiedlern das Wort geredet.
Wolffs Position markiert ein extremes Entweder-Oder: Entweder Musik repräsentiert politische Konstellationen in toto, oder sie repräsentiert über_____________ 8
9
Werckmeister, Andreas, Musicæ Mathematicæ Hodegus Curiosus. oder Richtiger Musicalischer WegWeiser / das ist Wie man nicht alleine die natürlichen Eigenschafften der Musicalischen Proportionen / durch das Monochordum, und Ausrechnung erlangen / Sondern auch vermittels derselben / natürliche und richtige rationes über eine Musicalische Composition vorbringen könne [...], Frankfurt am Main, Leipzig 1687, S. 12 u. 69f. Wolff, Christian, Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes [1721], 4. Aufl., Frankfurt am Main, Leipzig 1736, S. 385f.
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Zum Begriff des Politischen im Wirken Johann Matthesons
haupt nichts. Wenn ersteres nicht mehr sein kann, bliebe törichterweise nur letzteres, und damit wäre die Musik unter Wert verhökert. Diese Dichotomie scheint Mattheson nicht zu behagen. Es ist ihm um echte sittliche Besserung durch die Musik zu tun, und zwar durch eine im engeren Sinn politische Form von Sittlichkeit. Sein Beispiel des musizierenden Kaisers Karl VI. und seiner Gattin markiert den entscheidenden Punkt10: Erst der aktive Vollzug von Musik legt die politische Relevanz der Musik frei, noch nicht der Konsum von Musik zur bloßen Unterhaltung. Das nun bedarf der Erläuterung, und Matthesons Erläuterung läuft auf die Zuspitzung hinaus, die politische Relevanz – die politische „Besserung des menschlichen Willens und Verstands“ – der Musik habe man bisher in der Harmonie gesucht, tatsächlich aber liege sie in der Melodie (Melopoeia).11 Die Musik von harmonischer Perspektive aus betrachtet, waren die Weltverhältnisse, more mathematico antiquo, in der technischen Verfasstheit von Musik überhaupt aufgehoben, in den Intervallen und ihren zugehörigen Zahlenverhältnissen. Diese Verfasstheit besteht ein für allemal und muss nicht konkretisiert werden, um sich politisch zu ereignen. Der harmonische Fokus liefe auf das alte platonistische Repräsentationsmodell hinaus. Die Harmonie repräsentiert zwar Ordnung als eine politische Kardinaltugend, eine andere Kardinaltugend der Politik aber bleibt ungefördert, nämlich das geschickte politische Handeln, oder mit einem Begriff des 17. Jahrhunderts: die Politesse. Letzteres Merkmal des Politischen ist neu; in den europäischen Diskurs eingeführt wird es von Gracián und der höfischen Klugheitslehre in Frankreich. In Deutschland war der Propagator dieses neuen, von übertriebenem Prunk absehenden, auf Natürlichkeit und Geschmeidigkeit des Handelns auch der politischen Amtsträger zielenden Politikbegriffs Christian Thomasius. Es lässt sich nachweisen, dass sich Matthesons (und einiger anderer Zeitgenossen) Verständnis von Musiktheorie und dem, was in der Musiktheorie an Politischem aufgehoben ist, direkt aus der Beschäftigung mit der thomasianischen Politologie und Rechtslehre entwickelte.12 Die Kombination von Ordnung und Natürlichkeit ist musikalisch in der Melodie, nicht in der Harmonie repräsentiert. Die Melodie ist der harmonischen Gesetzmäßigkeit unterworfen; insofern repräsentiert sie Ordnung. In ihrem schlichten einstimmigen Fließen _____________ 10 11
12
Vgl. Musicalischer Patriot, S. 12f. Ebd., S. 6. Im Vorwort des Librettos seines Oratoriums Der blutrünstige Keltertreter (Hamburg 1721) schreibt Mattheson ähnlich, eine „simple, aber doch dabey noble Melodie, ohne sonderlich gekünstelte Figuren und viele krumme Sprünge“ mache „in ordentlichen Gemüthern“ einen größeren Eindruck als alle „gezwungenen decorationes“. Vgl. ausführlich Bayreuther, Rainer, „Perspektiven des Normbegriffs für die Erforschung der Musik um 1700“, in: ders. (Hrsg.), Musikalische Norm um 1700. Bericht der Internationalen musikwissenschaftlichen Tagung. Frankfurt am Main 26.–28.2.2007, Tübingen 2009.
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repräsentiert sie aber zugleich Natürlichkeit. Das ist in Matthesons Verständnis keine naive Natürlichkeit (wie später im 18. Jahrhundert in der Verklärung des Volkslieds), sondern gleichsam eine Natürlichkeit zweiten Grades, welche die Ordnung der harmonischen Vorgänge in sich aufgenommen hat und, basierend auf einem ziemlich komplexen Normierungsvorgang, in eingängiger, unmittelbar überzeugender Einfachheit wiedergibt. Die Melodie ist damit die Repräsentantin des politischen Handelns schlechthin, sofern man politisches Handeln als Vorgang des Abwägens komplexer, oft uneindeutiger Optionen auf Erreichen eines politischen Ziels hin auffasst. Repräsentierte die Harmonie Wahrheit, damit ein auf die Inszenierung von Wahrheit abzielendes politisches Handeln, so repräsentiert die Melodie Zweck und damit einen neuen, auf die Durchsetzung von Zielen inmitten kontingenter Bedingungen orientierten Politikbegriff. Matthesons politisches Selbstverständnis Matthesons Ideal der Verbindung von Kunst und Politik hat sich vom Typus des barocken Herrschers, der Macht durch Kunst inszeniert, völlig abgelöst. Sein Ideal ist der Herrscher, der Kunst nicht nur in den politischen Dienst nimmt, sondern ihre Prozessualität internalisiert und die strukturelle Querverbindung der Prozessualität von Musik und Politik begriffen hat. Das läuft auf eine Kulturpolitik hinaus, die nicht auf die Inszenierung von Herrschaft, sondern auf den ästhetischen Nachvollzug von Regieren abzielt. Das kann, wie Mattheson Bispiel von Karl VI. zeigt, durchaus noch auf personale Repräsentation des Regenten hinauslaufen. Der Regent ist aber nurmehr primus inter pares. Damit sind für den politisch bewussten oder in politischem Auftrag arbeitenden Komponisten neue Anforderungen verbunden. Im platonistischen Repräsentationsmodell war eine quasi automatische Richtigkeit der Repräsentation des Politischen durch Musik eingebaut, sofern der Komponist nach den harmonischen Regeln die Töne setzte. Nun aber müssen Politik und Politesse in einem ästhetischen Normierungsverfahren erst austariert werden, das nicht weniger mühsam und nicht weniger kontingent ist als Realpolitik selbst. Was bedeutet dies im Hinblick auf Matthesons kulturpolitisches Selbstverständnis? Relevant erscheint nun, dass Mattheson eine doppelt unabhängige Position hat: Er ist als Privatangestellter eines Politikers politisch unabhängig, aber engstens in Politik involviert. Er ist kein Beamter und braucht in keiner Weise eine einseitig huldigende, bloß panegyrische Funktion der Musik zu exekutieren. Er ist, modern gesprochen, ein persönlicher Referent und ein political consultant. Sein musikalisches Selbstver-
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Zum Begriff des Politischen im Wirken Johann Matthesons
ständnis hat dazu bezeichnende Strukturparallelen. Mattheson ist Musiker, aber keiner im Haupterwerb, schon gar keiner in einer Anstellung, in der nur politdekorative Anlässe bedient werden müssten. In engster Analogie dazu entwirft Mattheson einen politischen Begriff von Musik, der mit der akustischen Dekorierung von Politik kaum mehr zu tun hat, vielmehr diesem eine Fähigkeit der Musik entgegenstellt, den Vorgang politischen Handelns zu repräsentieren und auf eine Verbesserung des politischen Handelns zurückzuwirken. Damit ist die alte Funktion der Musik als interessengeleitetes Vehikel der Politik erledigt. Matthesons Selbstverständnis artikuliert historisch erstmalig ein modernes Verständnis von Kulturpolitik, wie es zum Beispiel dem von der Schröder-Regierung entwickelten Amt des Kulturstaatsministers zugrunde liegt.
VIII. POPULARISIERUNG GELEHRTER WISSENSBESTÄNDE Einführung von Ute Schneider Neben Vernunft und Kritik lautete ein tragendes Konzept der Aufklärung „Öffentlichkeit“. Damit war einerseits die auf akademische Bücherkenntnis rekurrierende Binnenöffentlichkeit der Gelehrten gemeint, die sich als Kommunikationsraum aus dem kritischen Diskurs über tradierte und neue Wissensbestände konstruieren lässt, andererseits sollte auch, über die engen Grenzen des Gelehrtenstandes hinausgehend, die bürgerliche Öffentlichkeit am stetigen Erkenntnisfortschritt teilhaben. In nahezu allen Fachgebieten lassen sich Popularisierungsprozesse beobachten, mit denen gelehrte Erkenntnisse einem nichtgelehrten Publikum vermittelt werden sollten: dazu gehören Fortschritte in den Naturwissenschaften, chemische und physikalische Entdeckungen, aber auch philosophische, theologische, geografische oder historische Fragestellungen. Neben der dezidiert geistig ausgerichteten Bildung, die jedoch nicht nur aus der Summe von Wissensbeständen kumuliert werden, sondern darüber hinausgehen sollte und den Mensch auch mit seinem Alltagswissen als bildbares, vernünftiges Wesen in den Mittelpunkt rückte, wurde praktisch anwendbares, nützliches Wissen für den Lebensalltag, zum Beispiel zur Prophylaxe von Krankheiten oder haushaltstechnisches Wissen, in den Vermittlungsprozess einbezogen. Der Begriff „Popularisierung“ ist facettenreich und vielschichtig. In den letzten Jahren sind etliche Forschungsarbeiten zu diesem Themenkomplex entstanden1, in denen deutlich wurde, dass sich der Popularisierungsprozess an ein Publikum richtet, das „nicht selbst im Zentrum der Wissensproduktion steht“.2 Die im 18. Jahrhundert einsetzende strenge Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft provozierte schließlich einen „Gegensatz zwischen fachlich-disziplinärem und populä_____________ 1
2
Vgl. z. B. die Studien von Daum, Andreas W., Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, München 1998; Schwarz, Angela, Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914), Stuttgart 1999; Kretschmann, Carsten (Hrsg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin 2002, und Wolfschmidt, Gudrun (Hrsg.), Popularisierung der Naturwissenschaften, Berlin 2002. Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 25.
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VIII. Popularisierung gelehrter Wissensbestände. Einführung
rem Wissensstandard“.3 Erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung war eine allgemein verständliche Sprache, die – mündlich wie schriftlich geäußert – eine gewisse Breitenwirkung erzielen konnte. Gemeinverständlichkeit und Komplexitätsreduktion kennzeichnen in der Regel die Popularisierungsbemühungen. Der anvisierte Adressatenkreis aller aufklärerischen Bemühungen um Wissensvermittlung setzte sich zunächst vorwiegend aus dem städtischen Bürgertum zusammen, aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Zielpublikum sozialstrukturell mehr und mehr erweitert, um den Wissensvermittlungsprozess kontinuierlich in eine möglichst umfassende Volksaufklärung münden zu lassen. In graduellen Abstufungen sollten schließlich alle erreicht werden, die bis dahin nicht oder kaum am vernunftbasierten Wissen partizipieren konnten. Abgrenzbare Teilöffentlichkeiten mussten allerdings auch mit unterschiedlichen Mitteln und Strategien erschlossen werden. Um den Popularisierungsprozess aktiv voranzutreiben, wurden verschiedene Steuerungsmechanismen zur Wissenskanalisierung eingesetzt, die sich nicht nur im zielgerichteten Einsatz geeigneter Medien niederschlugen, sondern es wurden auch spezifische Vermittlungsstrategien entwickelt, mit denen jeweils heterogene Wissensbestände einer breiteren Öffentlichkeit nahe gebracht wurden. Großen Anteil an der Diffusion gelehrten Wissens hatten unstrittig Druckmedien wie Bücher, Zeitschriften und Broschüren, was der zeitgenössische Buchhandel ökonomisch profitabel zu nutzen wusste und damit auch eine lenkende Funktion im Wissensvermittlungsprozess übernahm. Zu den Medien der Popularisierung zählen jedoch nicht allein die gedruckten Texte in Büchern und Periodika. Ebenso relevant waren Bilder, Kupferstichwerke sowie optische und andere physikalische Instrumente. In den folgenden Beiträgen wird anhand von Fallbeispielen aus der jeweils spezifischen Perspektive ganz unterschiedlicher Disziplinen danach gefragt, welche typischen Medien, welche charakteristischen Verfahren und Lenkungsprozesse zur Popularisierung gelehrten Wissens vorwiegend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Anwendung fanden und welche aktuellen Forschungsprobleme berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus werden auch die Rezeptionsorte und die Rezeptionssituationen untersucht. Der Wissenschaftshistoriker Oliver Hochadel widmet sich der zeitgenössischen Modewissenschaft Elektrizität und kann zeigen, dass umherziehende Elektrisierer, die auf Jahrmärkten und anderen viel besuchten Orten ihre Kunst zur Schau stellten, als mediale Schnittstelle zwischen Wissenschaft und nichtwissenschaftlicher Öffentlichkeit fungierten und _____________ 3
Baasner, Rainer, „Bedingungen, Ziele und Mittel der Popularisierung von Wissen im 18. Jahrhundert“, in: Wolfschmidt (Hrsg.), Popularisierung der Naturwissenschaften, S. 41.
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damit auch die gesellschaftliche Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse voran getrieben haben. Der Historiker Kai F. Hünemörder erläutert die Strategien der Popularisierung landwirtschaftlichen Wissens am Beispiel der Celler Landwirtschaftsgesellschaft (1764–1804). Auch in diesem Beitrag wird deutlich, dass sich die Medien der Popularisierung nicht auf Druckmedien beschränken lassen und dass die Vermittlungsstrategien der Aufnahmefähigkeit des anvisierten Zielpublikums, hier des Landmanns, angepasst werden mussten. Mit Subventionen und Anreizsystemen wurde ein langfristiger Prozess eingeleitet, an dessen Ende die allmähliche Durchsetzung neuer landwirtschaftlicher Technologien stand. Weniger das ländliche, als vielmehr das bürgerlich-städtische Publikum bildete die Zielgruppe der im 18. Jahrhundert eingerichteten Gemäldegalerien, wie der Kunsthistoriker Joachim Penzel anhand ihrer Vermittlungspublizistik (insbes. des Catalogue raisonné) analysiert. Die Galerie als Wissensraum mit ihrem spezifischen Inszenierungsmedium, der mit Gemälden behängten Wand, wurde insofern zum intermedialen Raum, als sammlungsbeschreibende Kataloge das visuelle Erlebnis lenkten. Heute bilden diese Kataloge eine bedeutende Quelle zur Rekonstruktion von Ausstellungen. Sammlungen können allerdings nicht zwingend unter die populärwissenschaftlichen Medien mit pädagogisch-aufklärerischer Funktion und Orte des Wissenserwerbs subsummiert werden. Der Kunsthistoriker Michał Mencfel äußert in seinen Überlegungen über Kuriositätenkabinette und physikotheologische Kunstsammlungen Zweifel an ihrem augenscheinlichen Beitrag zur Durchsetzung eines neuen, auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauenden Weltbildes. Auf die Problematik einer eindeutigen Differenzierung von wissenschaftlichen und populärem Wissen weist die Mathematikerin Maria Remenyi hin. Gerade im Falle der Mathematik zeigt sich, dass es im Wissensvermittlungsprozess an ein nichtgelehrtes Publikum nicht – wie lange in der Forschung angenommen – zu einer Qualitätsminderung und zum Substanzverlust gelehrter Inhalte kommen muss. Der Literaturwissenschaftler Alexander Košenina lenkt den Blick auf die Bedeutung vielgelesener und über Jahrhunderte tradierter populärer Literatur bei der Verbreitung zeitgenössischer Rechtsauffassungen. Die beim Lesepublikum beliebte Kriminalliteratur der Frühen Neuzeit und der Aufklärung nahm Rechtsfragen unterhaltend auf, diente Meinungsfindungsprozessen, und ihre Motive fanden schließlich auch Eingang in die so genannte Höhenkammliteratur.
Die Fußtruppen der Aufklärung. Umherziehende Elektrisierer im 18. Jahrhundert Oliver Hochadel Martin Berschitz ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts wohl der bekannteste und erfolgreichste Vorführer elektrischer Experimente im deutschen Sprachraum. Anfang der 1780er Jahre wird er in einem Lexikonartikel als herausragendes Exemplar seiner Gattung gewürdigt: „Einige von diesen herumschweifenden Elektrisirern brachten es wirklich weit wie z. B. ein gewisser Martin Berschitz, der in unsern Zeiten die auffallendste, merkwürdigste und stärkste doch allen Physikern bekannte Versuche vor Geld sehen läßt.“1 Welcher Art diese Versuche sind, beschreibt ein Zeitungsartikel anlässlich seines „Auftritts“ im Dezember 1781 in Kassel. Berschitz zeigt 1) einen Versuch, das Pulver auf 50 Schritte von der Maschine unter Wasser anzuzünden dabey 2) das Wasser nebst einen kleinen dazu verfertigten Schiffgen unter dem heftigsten Knallen in die Luft zu sprengen, wobey letzteres in Trümmern herunter fiel. 3) wurde ohnweit des Wassers ein dazu verfertigter Pulverthurm auf die nemliche elektrische Art in den Brand gesteckt, um die Schnelligkeit des Blitzes zu zeigen, welcher sich dann mit vielen Prasseln und Kanonenschlägen in Rauch verzehrte.2
Im Juli 1782 inszeniert er auf der Weser in Bremen eine ähnlich spektakuläre Explosionsorgie, bei denen die Zündung zum Teil unter Wasser erfolgt. Es ist von „2 mal 70.000“ Zuschauern die Rede, was sicherlich mehr als übertrieben ist, aber doch auf ein großes Publikum schließen lässt.3 Bereits in den 1740er Jahren machen leuchtende Kopfaufsätze, geheimnisvoll bewegte Glockenspiele und die Entzündung von Weingeist durch eine Degenspitze die Elektrizität zu der Modewissenschaft der Aufklärung. Mit seinen Freiluftveranstaltungen erweitert Berschitz dieses Repertoire weit über diese Salonkunststücke hinaus. Angesichts der starken Konkurrenz unter den Schaustellern müssen diese stets auf neue „Kunststücke“ sinnen. _____________ 1 2 3
Köster, H. M. G. / Roos, J. F. (Hrsg.), Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1783, S. 215. Augsburger Staats- und gelehrte Zeitung, 16.1.1782. Augsburger Ordinari Post-Zeitung, 7.8.1782.
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Der englische Naturkundige Joseph Priestley setzt den Beginn dieses elektrischen Showbusiness mit der Erfindung der Leidener Flasche an, die sehr starke Entladungen und damit auch entsprechende Effekte ermöglicht: „[I]n the same year [1746] in which it was discovered, numbers of persons, in almost every country in Europe, got a livelihood by going about and showing it.“4 Aber in den Quellen finden sich nur verstreute Hinweise auf diese „herumschweifenden Elektrisirer“. Selbst von einer Halbberühmtheit wie Martin Berschitz lassen sich nicht einmal seine Lebensdaten eruieren. Im Folgenden soll anhand seines Beispiels gefragt werden, welchen Platz die Schausteller in der Wissenschaftskultur der Aufklärung einnehmen. Inwiefern produzieren sie Wissen? Welcher Art ist dieses Wissen und inwiefern wird es weitergegeben? In welcher Beziehung stehen Berschitz und Kollegen mit den Naturkundigen der Universitäten? Auf wissenschaftlicher Wanderschaft Martin Berschitz wird vermutlich um 1740 in Wien geboren. Das erste Mal taucht sein Name 1771 in den Quellen auf, das letzte Mal 1800. In diesen dreißig Jahren beackert er zwischen seiner Heimatstadt Wien und Pressburg im Südosten, Bremen im Norden, Löwen in den österreichischen Niederlanden und Lille im Westen und Solothurn bzw. Bern im Südwesten ein gewaltiges Terrain mit einem Schwerpunkt im südostdeutschen Raum. Etwa vierzig Aufenthalte lassen sich nachweisen, während denen er einige Wochen, mitunter gar Monate an einem Ort seine elektrischen Demonstrationen vorführt und Blitzableiter montiert. Mehrmals ist davon die Rede, dass er zu dritt reist. Unter seinen beiden Helfern befindet sich auch sein 1782 etwa 18-jähriger Sohn Joseph.5 Von Kassel begibt sich Berschitz Anfang 1782 nach Göttingen und trifft dort auch mit dem führenden Elektrizitätsforscher Georg Christoph Lichtenberg zusammen.6 Dieser Begegnung verdanken wir einiges an Informationen über Berschitz – wenn auch nur aus dem Munde Lichtenbergs. Hier gilt es also vorsichtig zu sein. Es wäre etwa irreführend Berschitz’ Wissen an jenem Lichtenbergs zu messen, den Professor gleichsam als Maßstab zu etablieren. _____________ 4 5 6
Priestley, Joseph, The History and Present State of Electricity, London 1767, S. 84. Die einzelnen Nachweise müssen hier unterbleiben. Siehe dazu wie zur Thematik überhaupt: Hochadel, Oliver, Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung, Göttingen 2003. Für eine ausführliche Analyse der Begegnung von Lichtenberg und Berschitz s. Hochadel, Oliver, „‚Martinus Electrophorus Berschütz‘. Georg Christoph Lichtenberg und die wissenschaftlichen Schausteller seiner Zeit“, in: Lichtenberg-Jahrbuch, 1998, S. 155–175.
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Über welche Art von Wissen verfügt Berschitz? Von einer formalen Ausbildung ist nichts bekannt, Berschitz ist wohl Autodidakt. Lichtenberg konstatiert in einer Mischung aus Herablassung und Mitleid: „Im gantzen ist er doch ein Kerl, der zu bedauern ist, daß er nicht bey Zeiten unterrichtet worden.“ Bevor er sich selbstständig macht, arbeitet Berschitz in Wien als „Handlanger“ des jesuitischen Physikers Joseph Franz, der dort etwa dem Kaiserhaus elektrische Kunststücke vorführt.7 Was „lehrt“ Berschitz bei seinen Darbietungen in Marktbuden, Hinterzimmern von Gasthäusern oder angemieteten Sälen? Er erklärt, indem er zeigt – auf seinem Anschlagzettel heißt es: „Des berühmten Herrn Franklins Theorie von der Elektrizität wird er durch eine besondere Maschine, und Experimente deutlich vor Augen stellen.“ In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konkurrieren grob gesprochen zwei Theorien in verschiedenen Ausprägungen, die unitaristische Franklins, die eine Art der Elektrizität postuliert, und eine dualistische, die von zwei Arten ausgeht. Dies wiederum ist für Lichtenberg, der selbst einer dualistischen Sichtweise zuneigt, „kein geringer Beweiß für die edle Einfalt der Francklinschen Theorie daß ein solcher Mensch [Berschitz] sie so gut faßt, daß er ohne sich zu schaden sich mit sehr zusammengesetzten Versuchen abgiebt“. Immerhin gesteht der Professor dem Schausteller zu, dass seine Experimente komplex sind. Er stellt ihm gar ein Attestat aus, „daß auch Kenner einige seiner Versuche mit Vergnügen sehen würden“. Aber Berschitz macht Lichtenberg „zuviel Lärmens“ von seinen Versuchen und schwindle dabei auch um den Effekt zu erhöhen.8 Der häufig geäußerte Vorwurf, die Schausteller setzten nur auf den Effekt, ist freilich mit Vorsicht zu genießen. Sicherlich, gerade bei seinen seinen Freiluftinszenierungen setzt Berschitz auf die visuelle Überwältigung seines Publikums. Aber auch die Physikprofessoren lassen die Funken sprühen und die Heiligenscheine leuchten. Lichtenberg versucht durch möglichst „explosive“ Vorlesungen so viele Studenten als möglich anzulocken. Nur durch ausreichende Hörergelder lassen sich die Kosten für die teuren Instrumente, die im 18. Jahrhundert häufig noch vom Professor selbst beschafft werden müssen, wieder „einspielen“. Wobei Lichtenberg bei den hunderten Versuchen, die er im Laufe eines Semesters vorführt, ein Assistent zur Seite steht, der auch dafür sorgt, dass die Elektrisiermaschine und andere Instrumente funktionstüchtig sind. Die Instrumente selbst werden in der Regel von außen angekauft. Berschitz hingegen erfüllt diese drei Funktionen alle in Personalunion: er kommentiert die Versuche, führt sie vor und baut die benötigten Gerät_____________ 7 8
Lichtenberg, Georg Christoph, Briefwechsel, Ulrich Joost/Albrecht Schöne (Hrsg.), Bd. 2, München 1985, S. 448. Ebd., S. 303 u. 317f.
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schaften selbst. Zu seinem Portfolio gehört ja auch der Verkauf von Elektrisiermaschinen samt Zubehör. Franz Ferdinand Wolff, ein Amateurwissenschaftler und Korrespondent Lichtenbergs, der Berschitz’ Darbietungen im Mai 1782 in Hannover verfolgt, ist noch zwanzig Jahre später voller Respekt für dessen Leistungen. „Nie habe ich in 14 Abenden bemerkt, dass ihm auch nur ein einziger Versuch misslungen wäre.“ 9 Gerade von Seiten der akademischen Physik wird diese Fähigkeit aber als bloße „Geschicklichkeit“ abgetan. Der Professor will nicht wegen seiner Fingerfertigkeit gelobt werden, wie Lichtenbergs Göttinger Kollege Abraham Gotthelf Kästner klar stellt: „Physik lehren und die Handarbeit beym Experimentiren thun, welcher Lehrer der Physik könnte sich mit einem Taschenspieler oder Aequilibristen vergleichen?“10 Geschickt ist eben noch lange nicht gelehrt und steht lediglich für handwerkliche Fähigkeiten, nicht für die gedankliche Durchdringung und kausale Erklärung von Naturphänomenen. Diese Rhetorik gilt es zu dekonstruieren. Diese Abgrenzung von den Schaustellern steht für den Versuch verschiedene Formen des Wissens zu hierarchisieren oder gar dem „praktischen“ Wissen den Status des Wissens überhaupt abzusprechen. Es ist aber gerade dieses „praktische“ Wissen von Mechanici, Instrumentenmachern, Apothekern, Optikern und auch von Alchemisten, das in den letzten Jahren eine grundlegende Neubewertung erfahren hat.11 Herausragende handwerkliche Fähigkeiten, spezielles (geheimes) Wissen um die Materialien und Prozesse sowie langjährige Erfahrung (tacit knowledge) machen diese heterogene Gruppe von Praktikern zu unverzichtbaren Partnern der Gelehrten. Die (Erfolgs-)Geschichte der frühneuzeitlichen Wissenschaft ist eine „complex story of complicity between contemplation and manipulation“.12 Kopf und Hand auseinanderdividieren zu wollen wäre zutiefst ahistorisch, die Vorstellung einer theoretischen Wissensproduktion, die schließlich in eine praktische Anwendung münde, erweist sich als wirklichkeitsfern. Es geht dabei aber nicht um eine „Ehrenrettung“ der umherziehenden Elektrisierer, sondern um die Rekonstruktion einer sich ausdifferenzierenden Wissensproduktion. Denn es sind gerade zahlreiche führende Elektrizitätsforscher im ausgehenden 18. Jahrhundert, die sich als überaus _____________ 9 10 11 12
Wolff, Franz Ferdinand, „Etwas über Blitzableiter“, in: Annalen der Physik, 8/1801, S. 6983, S. 70 (Anm.). Kästner, Abraham Gotthelf, Vermischte Schriften, 2. Teil, neue vermehrte Aufl., Altenburg 1783, S. 363. Smith, Pamela H., The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004. Roberts, Lissa / Schaffer, Simon / Dear, Peter (Hrsg.), The Mindful Hand. Inquiry and Invention from the late Renaissance to early Industrialization, Amsterdam 2007, S. IX.
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geschickte Experimentatoren profilieren, nicht zuletzt Lichtenberg selbst. Das beste Beispiel einer Personalunion von Kopf und Hand ist wohl Alessandro Volta, der Erfinder der elektrischen Batterie, der sein „Gehirn in den Fingerspitzen“ hat.13 Beide, Berschitz und Lichtenberg, versuchen schnell auf neue Entwicklungen zu reagieren bzw. diese aufzunehmen. Dabei zeigen sich charakteristische Unterschiede, wie die folgenden zwei Beispiele illustrieren. Mit der Ballonfahrt entsteht 1783 auch ein neuer Markt für die wissenschaftlichen Schausteller. Bereits im September 1783, also nur wenige Monate nach dem ersten Ballonaufstieg überhaupt, versucht Berschitz im französischen Lille erfolglos einen Ballon aufsteigen zu lassen. In April 1784 kündigt er an, in Aachen einen weiteren Anlauf zu unternehmen.14 Auch Lichtenbergs Ehrgeiz ist schnell geweckt, aber es gelingt ihm allenfalls, „eine ausserordentliche grose Schweins-Blase“ an die Zimmerdecke steigen zu lassen. Die logistische und technologische Herausforderung eines echten Ballonaufstiegs nimmt Lichtenberg nicht an. Berschitz hingegen würde gerne die neuen Möglichkeiten der Gaschemie nutzen. In seinen eingangs geschilderten Freiluftversuchen muss er sich mit Pulver begnügen. Mit „dephlogistisierter Luft“ (Sauerstoff) ließen sich schöne Knall- und Leuchteffekte erzielen – Berschitz möchte sein Repertoire wohl in dieser Richtung erweitern. Im Oktober 1782 bittet er Lichtenberg in einem „sehr kläglichen Brief“ aus Münster „um die Mittheilung des Versuchs mit der Uhrfeder“, für den „dephlogistisirte Lufft“ vonnöten ist.15 Zu diesem Zeitpunkt ist er jedoch längst in Ungnade bei dem Professor gefallen. Lichtenberg denkt nicht daran ihm zu helfen, während er mit anderen Naturkundigen wie etwa dem genannten Wolff sein Wissen gerne teilt. Der Blitzableiter – umstrittenes Wissen Die Speerspitze der technologischen Entwicklung in der Elektrizitätslehre ist der Blitzableiter.16 Zwar ist die Schutzfunktion des Blitzableiters zumindest unter den Gelehrten um 1780 weitgehend unbestritten, doch wie dieser anzulegen sei, ist Anlass für zahlreiche theoretische und auch prak_____________ 13 14 15 16
Pancaldi, Giuliano, Volta. Science and Culture in the Age of Enlightenment, Princeton/NJ, Oxford 2003, S. 203. Archives municipales Lille, A 6 703, police des spectacles (registre Nr. 65, fol.13) und C 703 O 10; Stadt-Aachener Zeitung, 24.4.1784. Lichtenberg, Briefe, S. 448. Heering, Peter / Hochadel, Oliver / Rhees, David (Hrsg.), Playing with Fire. A Cultural History of the Lightning Rod, erscheint Philadelphia 2009.
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tische Kontroversen. Berschitz etwa behauptet 1779 in Bern und 1789 in Augsburg, dass die dort angebrachten Blitzableiter gefährlich und durch seine eigenen zu ersetzen seien.17 Im November 1788 zeigt Berschitz seine elektrischen Kunststücke in Ulm. Dabei überzeugt er auch den Magistrat der Stadt, auf dem Münster einen Blitzableiter anzubringen. Im Anschluss daran bietet Berschitz auch an, „den hiesigen Landbau-Inspector H. Kapfer, welchen ich schon auf dem Münster mehrere Aufschlüsse gegeben, vollkommen darin zu instruiren, dass er nicht allein im Stande seyn wird, die von mir gefertigten Gewitter Ableiter in beständig brauchbarem Stande zu erhalten, sondern auch in Stadt und auf dem Lande, wo es ins künftige beliebt werden dürfte, neue anzubringen.“18 Dass Berschitz’ Interesse in erster Linie ökonomischer Natur ist, steht außer Frage. Aber Aufklärung und Geschäft schließen sich bekanntlich keineswegs aus. Berschitz gibt sein praktisches Wissen auch weiter, der genannte Johann Martin Kapfer übernimmt in den nächsten Jahren die „Betreuung“ der Blitzableiter auf dem Ulmer Münster. Und auch in seinen Darbietungen zeigt Berschitz laut seinem Anschlagzettel Versuche mit dem „Donnerhaus, wodurch der wichtige Nutze eines sogenannten Konduktors, oder Strahlableiters augenblicklich gemacht und gewiesen wird“. Wird die „metallene Leitung unterbrochen“, so wird das Modellhaus zerschmettert. Diese Demonstration der Wirkungsweise des Blitzableiters en miniature ist seinerzeit sehr beliebt und findet sich zum Teil noch heute in Technikmuseen. Auch in der eingangs beschriebenen Explosionsorgie geht es ja darum die „Schnelligkeit des Blitzes zu zeigen“. Die Bremer Aufführung muss derart eindrücklich gewesen sein, dass sie der Pastor Hinrich Heeren noch im folgenden Jahr in einer Predigt erwähnt – als Beleg für die Herrschaft des Menschen über die Elektrizität und damit auch für die Wirksamkeit des Blitzableiters.19 Schon bald nach Berschitz’ Abreise aus Ulm werden Klagen laut, sein Blitzableiter sei nicht richtig montiert: die Spitze befinde sich nicht an der höchsten Stelle des Münsters und die Ableitungsstangen seien uneinheitlich dick. Im März 1789 brechen gar einige dieser „Communications=Stan_____________ 17 18 19
Hochadel, Oliver, „‚Hier haben die Wetterableiter unter den Augsburger Gelehrten eine kleine Revolution gemacht.‘ Die Debatte um die Einführung der Blitzableiter in Augsburg (1783–1791)“, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben, 92/1999, S. 139-164. Stadtarchiv Ulm A [1619], No. 3. Ich möchte Holger Steigerwald danken, der diese und andere Quellen zu Berschitz aufgespürt hat. Heeren, Hinrich, Ueber die Verehrung Gottes im Gewitter. Eine Predigt am 20. Aug. 1783 [...], Bremen 1783, S. 13.
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gen“ ab und sollen von Kapfer repariert werden.20 Schließlich wird Kapfer zu dem Physikprofessor Joseph Weber an die Universität Dillingen geschickt, „um sich mit demselben über die Anlegung der Wetter Ableiter mündlich zu besprechen“ und „hat nun auch nach des Professor Webers Anleitung einen auf das Münster gesetzt.“21 Professor sticht Schausteller. Dieses Muster ist typisch für die 1780er Jahre, in den zum ersten Mal Blitzableiter in größerer Zahl in Deutschland errichtet werden. Denn damit stellt sich auch für die Auftraggeber die Frage, wen sie damit beauftragen und wem sie trauen können. Schon Lichtenberg macht sich 1782 über Berschitz’ Blitzableiter lustig, „die er einem herumreisenden Italiäner zu verdancken hat“ und rät der Kriegskanzlei in Hannover dringend davon ab, diese von ihm anbringen zu lassen.22 Inwiefern Berschitz’ Blitzableiter besser oder schlechter sind als jene, die von den Physikprofessoren vorgeschlagen werden, lässt sich mangels Quellen kaum sagen. Sein Ulmer Blitzableiter scheint in der Tat mangelhaft zu sein, wobei einer der damals höchsten Kirchtürme der Welt (ca. 100m) sicherlich keine kleine Herausforderung ist. Wobei wie bei den Vorführungen auch hier gilt, dass die wissenschaftlichen Schausteller die Blitzableiter nicht nur konzipieren, sondern auch selbst anbringen, während die Professoren meist einen Mechanikus instruieren. Ausnahmen bestätigen die Regel: Joseph Weber und insbesondere der kurpfälzische Abt Johann Jakob Hemmer legen trotz ihres Gelehrtenstatus immer wieder selbst Hand an.23 Abgrenzung von den Schaustellern Der Blitzableiter ist eines der wenigen Beispiele, in denen die Naturkunde ihre von den Aufklärern immer wieder beschworene Nützlichkeit für die Gesellschaft tatsächlich beweist. Umso mehr sind die Naturforscher – den „Beruf“ des Naturwissenschaftlers gibt es noch nicht – bemüht sich zu profilieren, wobei die umherziehenden Schausteller als Kontrastfolie dienen. Diese boundary-work, diese Grenzziehungsarbeit der „ernsthaften“ Wissenschaftler wird durch das rhetorische Aufbauen von Gegensätzen vorangetrieben: Seine Tätigkeit ist ernsthaft, von der Suche nach neuem _____________ 20 21 22 23
Stadtarchiv Ulm A [1619], No. 5,7,8. Schwäbische Chronik, 5.6.1789. Lichtenberg, Briefwechsel, S. 303. Hochadel, Oliver, „Physiker, Aufklärer und ‚Experte‘. Joseph Weber an der Universität Dillingen“, in: Rolf Kießling (Hrsg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. Festschrift zum 450jährigen Gründungsjubiläum, Dillingen/Donau 1999, S. 729-752 (Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau, 100).
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Wissen getrieben, die Arbeit selbst oft entbehrungsreich. Sie ist weit entfernt von der wissenschaftlich sterilen Wiederholung der immer gleichen elektrischen Kunststücke, die lediglich ein ungebildetes Publikum amüsieren. Der Naturkundige möchte die Elektrizität „wissenschaftlich“ verstehen. Er betrügt nicht und tut es nicht für Geld. Im Gegensatz zu Berschitz, der, wie eingangs zitiert, „allen Physikern bekannte Versuche vor Geld sehen lässt“. Dieser Abgrenzungsprozess geht einher mit der Hierarchisierung von Wissensbeständen, in der „wissenschaftliches“ oder „theoretisches“ Wissen gegenüber anderen Wissensformen privilegiert wird. In unserem Falle wird handwerkliches Wissen von den Naturkundigen als bloße Geschicklichkeit abgewertet. Das „Vorführwissen“, also elektrische Kunststücke vor Publikum erfolgreich durchzuführen – das ist keine kleine Kunst, man denke nur an die zerbrechlichen Instrumente und den Funkenkiller Feuchtigkeit – wird als reines Spektakel abgetan. Umherziehende Schausteller sind Teil einer sehr reichen und komplexen Kultur wissenschaftlicher Praxis im 18. Jahrhundert. Ihr Beitrag zum „Fortschritt“ der Elektrizität kann aber nicht in der Anzahl gemachter Erfindungen oder eingeführter Theoreme angegeben werden. Und doch spielen sie eine wichtige Rolle für die Verbreitung der Elektrizität und der Beschäftigung mit ihr. Sie erreichen ein breites Publikum, generieren ein starkes Interesse an der Materie und liefern auch die entsprechende „materielle“ Grundlage mit ihren Instrumenten und Dienstleistungen. Der Titel der Sektion, in welcher der diesem Artikel zugrunde liegende Vortrag gehalten wurde, hieß „Popularisierung von gelehrten Wissensbeständen“. Das wäre zu hinterfragen, denn im Begriff der Popularisierung steckt bereits in nuce die Hierarchisierung verschiedener Wissensformen. Dahinter verbirgt sich ein Top-Down-Modell, wonach in einer gleichsam abgeschotteten und abgehobenen Sphäre Wissen produziert wird, das dann „nach unten“, also an eine unwissende, aber des Wissens bedürftige Gesellschaft weitergegeben wird. Im Prozess dieser Popularisierung werde das Wissen im besten Falle stark vereinfacht, im schlimmsten Falle verzerrt und verfälscht. Die Wissenschaftsforschung hat dieses Modell längst als simplifizierend und vor allem unilinear und statisch abgelehnt.24 Sie bezieht sich dabei in der Regel auf Beispiele aus der Gegenwart, aber auch der hier vorgeführte historische Fall zeigt, wie unzureichend das Top-Down-Modell ist. Berschitz lediglich als einen Popularisierer jenes Wissen über die Elektrizität zu sehen, das Gelehrte wie Lichtenberg generieren, wird der Komplexität der Situation sicherlich nicht gerecht. Von _____________ 24
Felt, Ulrike / Nowotny, Helga / Taschwer, Klaus, Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main 1995.
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„sicherem“, also allgemein akzeptiertem Wissen über Elektrizität lässt sich im 18. Jahrhundert angesichts der konkurrierenden Theorien ohnehin nicht sprechen. Die Hierarchisierung von Wissensbeständen darf nicht als gegeben betrachtet werden, sondern ist zu historisieren. Die umherziehenden Elektrisierer sind hierfür ein gutes Werkzeug. Im Jahre 1800 setzt Berschitz sich in Wien zur Ruhe, verkündet in einer Zeitungsannonce das Ende seiner Reisetätigkeit, offeriert aber weiterhin seine Dienste innerhalb der Stadt.25 Sein Sterbedatum ist nicht bekannt.
_____________ 25
Wiener Zeitung, 19.7.1800, S. 2330.
Strategien einer Schlüsselinstitution der Popularisierung agrarischen Wissens in Kurhannover: Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft (1764–1804) Kai F. Hünemörder
1. Einleitung Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft trat 1964 mit einem klaren Programm an die kurhannoverische Öffentlichkeit. Sie wollte nicht weniger als nach auswärtigem Beispiel „der Oeconomie [...] in bewährten Erfahrungen nach[...]gehen und eigene und anderer Proben [...] sorgfältig [...] samlen und gemeinnützig bekannt [...] machen.“1 Im Gegensatz zur „Fußtruppe der Aufklärung“ gehörte die frisch gegründete Celler Institution eher zur „Reiterei der Aufklärung.“ Sie fügte sich ein in die Gründungswelle ökonomisch-patriotischer Sozietäten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Insgesamt soll es im deutschsprachigen Raum mehr als 200 dieser ökonomischen und wissenschaftlichen Gesellschaften gegeben haben. Doppelmitgliedschaften nicht herausgerechnet hatten diese etwa 30.000 Mitglieder.2 Sie bildeten damit – neben Intelligenzblättern und Korrespondentennetzwerken – einen wichtigen institutionellen Rahmen der praktischen Aufklärung.3 Die Celler Landwirtschaftsgesell_____________ 1
2 3
Konzept eines Briefes von Jacobi an die Königl. Regierung v. 19.3.1764, in: Hauptstaatsarchiv (HStA) Hannover, Hann. 136 Nr. 1, vgl. auch „Un vorschreiblicher Vorschlag, wie die Künste der patriotischen Gesellschaft zu eröffnen und einzurichten“ (ca. 1764), in: HStA Hannover, Hann. 136 Nr. 1. – Die intensiven Forschungen zur Celler Landwirtschaftsgesellschaft erfolgten im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Interdiziplinäre Umweltgeschichte. Naturale Umwelt und gesellschaftliches Handeln in Mitteleuropa“. Vgl. Lowood, Henry E., Patriotism, Profit, and the Promotion of Science in the German Enlightenment. The Economic and Scientific Societies (1760–1815), New York, London 1991, S. 32. Zu dem Gesamtphänomen erscheint ein neuer Sammelband mit regionalen Fallstudien: Popplow, Marcus (Hrsg.), Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Regionale Fallstudien zu landwirtschaftlichen und gewerblichen Themen in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, Münster, New York 2008; siehe auch ders. / Meyer, Torsten, „‚To employ each of Nature’s products in the most favorable way possible‘. Nature as a Commodity in EighteenthCentury German Economic Discourse“, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung, 4/2004, S. 4-40.
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Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft (1764–1804)
schaft gehörte neben der Leipziger ökonomischen Gesellschaft bald zu den aktivsten Zirkeln der Popularisierung agrarischen Wissens in Norddeutschland. Die Konzentration auf neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Landwirtschaft stand im Einklang mit dem programmatischen Anspruch auf Verbreitung „nützlichen Wissens“. Freilich rieben sich die gelehrten Wissensbestände an dem verbreiteten agrarischen Alltagswissen, was zu Konflikten zwischen den unterschiedlichen „Kulturen des Wissens“ führte. Die Bauern traten den Verkündern einer verwirrenden Vielfalt neuer Lehren und empirischer Versuche mit traditioneller Skepsis entgegen. Daher ersannen die Mitglieder der Societät immer neue Methoden der „Überredung“. Ihr Idealbild war die fiktive Figur des „gelehrten Bauern“, welcher seinen Verstand durch die Wissenschaften aufgeklärt, und sich dadurch geschickt gemacht hat, Anmerkungen zu machen[,] aus Erfahrungen und Versuchen allgemeine Sätze herzuleiten, eine Sache gründlich zu beurtheilen, und seyne Meynung auf eine verständliche brauchbare Art zu Papier zu bringen.4
Die folgenden Ausführungen zu den Popularisierungsstrategien der Celler Landwirtschaftsgesellschaft stützen sich vor allem auf die Auswertung ihrer Periodika und ungedruckten Protokolle im Hauptstaatsarchiv Hannover. 2. Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft als zentrale Institution der Generierung und Systematisierung agrarischen Wissen in Kurhannover Die Initiatoren der Celler Landwirtschaftsgesellschaft orientierten sich vor allem an den englischen „Rules of the Society of Arts & Science“.5 Nach dem grundlegenden Patent des Landesfürsten Georg III. sollte die Gesellschaft den Wohlstand Unserer Teutschen Lande durch landwirthschaftliche Verbesserungen [...] befördern und zu dem Ende so wol ihre eigenen dahin einschlagenden Einsichten und Erfahrungen bekannt [...] machen, als die von anderen gemachten Bemerkungen ein[...]sammeln und [...] verbreiten.6
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6
Aristipp, „Kann man ein guter Oekonome seyn, ohne jemals ein Landwirth gewesen zu seyn?“, in: Hannoverisches Magazin, 4/1766, Sp. 1-16, hier 10f. Vgl. Schreiben von Behr aus London an die Königl. Churfürstl. Braunschw. Lüneburgische Gesellschaft der Land Wirtschaft und des Ackerbaus v. 3.4.1764, in: HStA Hannover, Hann. 136 Nr. 1. – Hauptinitiatoren waren Konsistorialrat Jacobi und der Legationsrat Jobst Anton von Hinüber. „Patent Georgs III. über die Königliche Genehmigung der Königlichen LandwirthschaftsGesellschaft v. 29. Mai 1764“, zit. n. Festschrift zur Säcularfeier der königlichen LandwirthschaftsGesellschaft zu Celle am 4.6.1864, 3 Bde., Erster Theil, Hannover 1864–1865, S. 9. – Erreichen wollte sie dieses Ziel über die Propagierung und partielle Umsetzung einer intensivierten Nutzung natürlicher Ressourcen.
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Georg III., zugleich König von Großbritannien, förderte die Gesellschaft auch finanziell. Die Aufmerksamkeit für die systematische Verbesserung der Landwirtschaft hatte in England bereits früher eingesetzt und reichte bis in die höchsten gesellschaftlichen Klassen.7 Die Gesellschaft bestand aus einem Engeren Ausschuss sowie einer wachsenden Zahl an Ehrenmitgliedern und Assoziierten. Getragen wurde sie vor allem von Angehörigen des Kameral-, Forst- und Militärwesens sowie Gutsbesitzern und Pastoren.8 Bald schmückte man sich zudem mit klingenden Namen. Unter ihnen stachen etwa Gelehrte wie Carl von Linné, Albrecht von Haller und Johann Beckmann hervor. Buffon wurde 1779 die Ehrenmitgliedschaft angetragen.9 Bis 1786 wuchs die Zahl der Mitglieder auf über 260 an. Organisatorisches Zentrum war der Engere Ausschuss. Er trat in der Regel jeweils im Winter und im Frühjahr in Celle zusammen. Zuvor zirkulierten alle entscheidenden Schriftstücke und Ideen zwischen seinen acht ständigen Mitgliedern. Im Rahmen dieses Sammelbandes sind die Strategien der Popularisierung neuer Wissensbestände von vorrangigem Interesse. Diese reichten von Anreizsystemen für die Sammlung nützlichen Wissens bis zu direkten Subventionen etwa des Anbaus von Futterkräutern. 3. Strategien der Popularisierung neuer agrarischer Wissensbestände Zunächst konzentrierte sich die neue Celler Institution auf Anreizsysteme, um neue agrarische Wissensbestände zu sammeln. Dazu gehörten vor allem Preisfragen. Ziel war es, die Haushälter im ganzen Kurfürstentum zur Mihilfe bei der Sammlung spezifischen nützlichen landwirtschaftlichen Wissens zu bewegen.10 Zudem sollten Preisausschreiben die Gesellschaft bekannt machen. Diese hatten also bewusst eine Doppelfunktion. Zweimal im Jahr traf man sich in Celle, um die meist anonym eingesandten Preisschriften, Produkte und Halbfabrikate auf ihre Qualität hin zu _____________ 7
8 9 10
Georg III. bewilligte der Gesellschaft erhebliche Beihilfen. Während die Einnahmen von Michaelis 1766 bis 1767 757 Rthlr. ausmachten, belief sich die Summe 1791/2 auf 1.791 Rthlr. Vgl. die Einnahme- und Ausgabenrechnungen, in: HStA Hannover, Hann. 136 Nr. 18/1. Vgl. auch Festschrift zur Säcularfeier, Erster Theil, S. 5, 13. Zu den genauen Anteilen siehe Deike, Ludwig, „Celler Landwirtschaftsgesellschaft“, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, München 1980, S. 161-194, hier: S. 178. Vgl. HStA Hannover, Hann. 136 Nr. 11, S. 417 u. Der Königl. Churfürstl. Braunschw. Lüneb. Landwirtschaftsgesellschaft Nachrichten von Verbesserung der Landwirtschaft und des Gewerbes, Zweyter Band, Celle 1772, S. 731ff. Vgl. etwa Landwirtschaftliche Protokolle im engeren Ausschuß, Bd. 1: 1764–1770, in: HStA Hannover, Hann. 136 Nr. 9, S. 31f.
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prüfen. Die besten Vorschläge prämierte man mit goldenen und silbernen Medaillen sowie Preisgeldern.11 Hielt man im Engeren Ausschuss eine Preisschrift für besonders nützlich, verlas man sie auf der Jahresversammlung der Gesellschaft. Parallel veröffentlichte man sie zusammen mit weiteren agrarkundlichen Beobachtungen und erprobten Versuchen im gesellschaftseigenen Publikationsorgan, den „Nachrichten über Verbesserung der Landwirthschaft und des Gewerbes“.12 Häufig bediente man sich zudem des Hannoverischen Magazins13, der zweiten zentralen Institution der Popularisierung nützlichen Wissens in Kurhannover. Um die Inhalte ihres Periodikums über die lesekundigen Kreise hinaus zu verbreiten, schickte man die Aufsatzsammlungen an die Pastoren in den Kirchspielen. Zugleich wurden alle „Patrioten“ aufgefordert, den „Haußleuten Ihres Orts“ diejenigen Teile ihrer Nachrichten zu erklären, „welche sie nach der Beschaffenheit ihres Ortes nachahmlich und nützlich halten [...].“ Dieses Zitat weist auf ein zweites Spezifikum der Popularisierungsstrategien hin. Die Gesellschaft drang darauf, das neue Wissen an den besonderen örtlichen Gegebenheiten zu erproben. Damit setzte sie sich bewusst von der älteren allgemein gehaltenen und an alle Landmänner gerichteten Hausväterliteratur ab und schob eine zusätzliche Prüfungsstufe der gelehrten Wissensbestände ein. Dieser Drang ist auch in einer weit gestreuten gedruckten Aufforderung an die Hofbesitzer spürbar. Sie sollten der Celler Gesellschaft melden, ob Dero Orts und mit welchen Fortgange einige neuere ökonomische Versuche angestellet sind [...]. Ob bey Ihnen besondere Landfrüchte, [...], bessere, als die gewöhnlichen Bestellungsarten des Ackers und der Gärten, auch ausserordentlich geschickte Künstler und Handwerker anzutreffen sind.14
Organisatorisch schlug sich dieser Blick auf die unterschiedlichen Landesteile und naturräumlichen Gegebenheiten in der Gründung regionaler organisatorischer Untergliederungen nieder. (Andernorts wie in Bern wur_____________ 11 12
13
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Vgl. ebd., S. 64. Die Nachrichten erschienen seit 1765 in mehreren Stücken und wurden von 1768 bis 1774 in drei Bänden gesammelt. In der Zeit von 1778 bis 1788 erschienen unter dem Namen Neue Abhandlungen und Nachrichten weitere zwei Bände. Vgl. Deike, „Celler Landwirtschaftsgesellschaft“, S. 180. Vgl. Landwirtschaftliche Protokolle im engeren Ausschuß, Bd. 1: 1764–1770, in: HStA Hannover, Hann. 136 Nr. 9, S. 32; siehe auch Ulbricht, Otto, Englische Landwirtschaft in Kurhannover in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ansätze zu historischer Diffusionsforschung, Berlin 1980, S. 93; zur Ausrichtung des Hannoverischen Magazins siehe Hünemörder, Kai F., „Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft und das Hannoverische Magazin: Schnittstellen der ökonomischen Aufklärung in Kurhannover (1750–1789)“, in: Popplow (Hrsg.), Landschaften agrarischökonomischen Wissens. „Gedruckte Aufforderung an Patrioten, die Landwirtschaftlichen Sammlungen der Gesellschaft ihren Hausleuten zu erklären [1760er]“, in: HStA Hannover, Hann. 136 Nr. 1.
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de auch die topografische Beschreibung aller Landesteile gefördert.) 1770 wurde in Celle ein eigener Garten gepachtet und bewirtschaftet, um landwirtschaftliche Versuche in eigener Regie durchzuführen. Zugespitzt lässt sich behaupten, dass sich die agrarische Wissensvermittlung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von früheren Ansätzen nicht durch ihren durchschlagenden Erfolg, sondern durch ihre dezidierte Abkehr von allgemeingültigem Rezeptwissen der Barockzeit abhebt. Die Erprobung des gesammelten Wissens an den sogenannten „Localumständen“ entwickelte sich bald zum festen Programm. Dass man landwirtschaftliche Informationen aus allen Teilen Europas zunächst einmal sammelte, spricht nicht gegen diese These. Schließlich waren die Gesellschaftsmitglieder intensiv in das europäische Kommunikationsnetz der Gelehrtenrepublik eingebunden.15 Martin Stuber stellt die Struktur und Dichte dieses Netzes in Sektion II dieses Sammelbandes (‚Gelehrte Korrespondenzen‘) fokussiert auf eine andere bedeutende ökonomische Societät, die Berner ökonomische Gesellschaft, ausführlich vor. Entscheidend war jedoch, dass man erkannt hatte, dass dieses Wissen insbesondere im landwirtschaftlichen Bereich nicht 1:1 umgesetzt werden konnte, sondern zunächst vor Ort erprobt werden musste. Als drittes Spezifikum der Popularisierungsstrategien ist auf die zeitgenössische Vergegenwärtigung von Hindernissen und Grenzen einer flächendeckenden Umsetzung agrarischer Innovationen in Kurhannover einzugehen. Denn diese wurden im Engeren Ausschuss intensiv diskutiert. Ein entscheidendes Hindernis sah man in den Denkstrukturen der Adressaten der Popularisierungsanstrengungen. Der „Landmann“ wurde gemeinhin als gesteuert von „Gewohnheit, Vorurtheil und Unwissenheit“ angesehen.16 Wie aber reagierten die Protagonisten der Landwirtschaftsgesellschaft auf diese „Analyse“, die sich bereits im 18. Jahrhundert zu einem Topos zu verdichten begann? Zum einen setzten sie auf die Wirkung gelungener Beispiele vor Ort, die im „Landmanne eine Begierde zur Nachahmung“ erwecken sollten. Aus heutiger Perspektive sind einige der „Mustergüter“ _____________ 15
16
Im nummerierten Katalog der Bibliothek der Landwirtschaftsgesellschaft, der bezeichnenderweise mit von Carlowitz Anweisung zur wilden Baumzucht von 1732 beginnt, finden sich auch 16 Bände der Abhandlungen und Beobachtungen durch die ökonomische Gesellschaft zu Bern von 1762–1773, die zweibändige Sammlung der Schweizerischen Gesellschaft in Bern von Landwirthschaftlichen Dingen (Zürich 1760) und die Neuen Sammlungen physisch-ökonomischer Schriften von der öconomischen Gesellschaft zu Bern, Bern 1779. Vgl. Verzeichniß von Büchern der Königlichen Landwirthschafts-Gesellschaft zu Celle zugehörend, Celle 1832. „Nachricht von der zu Lyon errichteten Schule, zur Heilung der Viehkrankheiten, aus dem Französischen übersetzt von G. S. Klügel“, in: Hannoverisches Magazin, 4/1766, Sp. 1059; siehe auch [Hirzel, Hans Caspar,] Die Wirtschaft eines philosophischen Bauers von Hirzel, Wien 1768, S. 19.
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der Aufklärungszeit als Inseln agrarischer Modernität anzusehen. Zum anderen versuchten die ökonomischen Aufklärer den Bauern – in heutiger Diktion – intellektuell dort abzuholen, wo er sich angeblich verschanzt hatte, in seinen Vorurteilen: Je mehr der gemeine Landmann von Vorutheilen eingenommen ist, und je schwerer es hält, ihn von den Gewohnheiten seines Vaters und Großvaters abzuleiten, desto grösser ist das Verdienst, wenn man nicht müde wird, ihm die Vorschläge zur Verbesserung seiner Handthierung so lange zu wiederholen, bis sie ihm klar, und also von ihm mit beyden Händen angenommen werden. Nur Geduld, alles ist doch nicht in den Wind geredet.17
Sichtbar wird diese Haltung auch an der literarischen Form der Volksbelehrung. In Norddeutschland wurde diese etwa vom neuen Mitglied des Engeren Ausschusses, dem jungen Albrecht Daniel Thaer, konzipiert. Sein „Unterricht über den Kleebau und die Stallfütterung“ wurde in den 1790er Jahren in einer Auflage von über 1500 Exemplaren kostenlos verbreitet. Darin rechnete der Arzt und spätere Agrarreformer dem „Lüneburgischen Landmann“ vor, dass mittels gezielten Kleeanbaus „von demselben Fleck Landes, worauf sich eine Kuh sat frißt[,] fünf Kühe auf dem Stalle genähret werden.“ Indem Thaer zugleich populäre Urteile in der Landbevölkerung aufgriff und in seinen Antworten im direkten Anschluss widerlegte, versuchte er die Bauern didaktisch aus ihrer Vorstellungswelt heraus – und an die neuen Produktivitätsziele heranzuführen. Später entwickelte Thaer diesen Ansatz weiter zu seinem System praktischer Pädagogik. Ein weiteres Hindernis lag auf dem Feld der Politik. Nach ihren Statuten sollte sich die Gesellschaft „in nichts mischen, oder mit Dingen abgeben [...], die auf Beurtheilung einer Landesregierung, Cammer oder Kriegscollegii Anordnungen und Verfügungen abzielten“.18 Diese Beschränkung der Zuständigkeit hatte durchaus Konsequenzen. Als etwa ein Einsender den Vorschlag machte, den Verfall der Forsten im Cellischen über die Aufteilung an die Bauern als Eigentum zu stoppen, beschied der Engere Ausschuss folgerichtig, „da dieses principium vor Königs Cammer gehörte: so könnte die Landwirtschafts-Gesellschaft keinen Gebrauch davon machen“.19 _____________ 17
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Noch 1865 rekurrierten die Autoren der Festschrift zum 100 jährigen Bestehen der Celler Landwirtschaftsgesellschaft auf diesen Topos: „Es ist eine bekannte Thatsache, dass bei einer Mehrzahl der Bauern Belehrung durch Rede und Schrift nur sehr langsam wirkt, und dass nur allein das Beispiel zu Verbesserungen sie zum Fortschritt antreibt.“ Festschrift zur Säcularfeier, 2. Abtheilung, S. 15. Landwirtschaftliche Protokolle im engeren Ausschuß, Bd. 1: 1764–1770, in: HStA Hannover, Hann. 136 Nr. 9, S. 34. Ebd., S. 77.
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Diese Zurückhaltung galt auch für zentrale Fragen wie die Aufhebung der Allmende. Da bei dieser Frage die Herrschaftsinteressen der Landesadministration unmittelbar berührt waren, wurden sie von den Mitgliedern des Engeren Ausschusses zunächst für „zu kitzlich“ gehalten.20 Initiativen zur Ausweitung des Anbaus von Futterkräutern stießen daher aufgrund der üblichen „gemeinen Hut und Weide“ noch lange an Grenzen. Nicht selten wurden privat angelegte Futterkräuterbeete von Schafherden einfach abgegrast. Dem Vorstand der Gesellschaft waren die politischen Grenzen seines Handels durchaus bewusst und wurden bei der Wahl der Popularisierungsstrategien berücksichtigt. 4. Fazit Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft bediente sich bei der Verbreitung nützlichen Wissens unterschiedlicher Strategien. Neben der Konzentration auf neue Anreizsysteme bei der Sammlung landwirtschaftlichen Wissens (Stichwort: Preisfragen) lag ein deutlicher Akzent auf der Stimulierung agrarischer Versuche, um die Eignung der Rezepte und neuen Anbaupflanzen für die kurhannoverischen Regionen zu überprüfen. Der Blick auf einige zeitgenössisch erörterte mentale und politische Hindernisse für die Umsetzung neuer agrarischer Innovationen konnte nur die Sicht innerhalb der Landwirtschaftsgesellschaft wiedergeben. Um die Konflikte zwischen den neuen gelehrten Wissensbeständen und den agrarischen Alltagsroutinen herauszuarbeiten, müssten Erkenntnisse über spezifisch kleinbäuerliche Risikowahrnehmungen und Strategien zur Abfederung von Gefährdungen berücksichtigt werden.21 Dazu gehören etwa die Ergebnisse von Rainer Beck zur bäuerlichen Rationalität und Eigenlogik bäuerlichen Verhaltens. Nicht selten lag sie quer zum Ziel der Steigerung der Produktivität im Gesamtterritorium. Wie die Geschichte der Agrarreformen im 19. Jahrhundert zeigt, dauerte es noch viele Jahrzehnte, bis die von den ökonomischen Aufklärern intendierten Erfolge der Konfrontation der unterschiedlichen Wissenskulturen auf breiter Fläche auch wirklich eintraten.
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Ebd. Siehe etwa Zimmermann, Clemens, „Bäuerlicher Traditionalismus und agrarischer Fortschritt in der frühen Neuzeit“, in: Jan Peters (Hrsg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, S. 219-238.
„Popularisierung“ und „Wissenschaft“ – ein Gegensatz? Die mathematischen Wissenschaften und ihre Vermittlung im 18. Jahrhundert Maria Remenyi
1. Formen und Funktionen von Popularisierung Die Mathematischen Wissenschaften haben sich wegen ihres grossen und vielfältigen Nutzens so beliebt gemachet, dass man mit Recht behaupten kann, dass sie zu keiner Zeit in so hohem Werth gewesen, und mit solchem Eifer als heut zu Tage getrieben worden […].1
Mit diesen Worten umschrieb der Esslinger Mathematiker, Astronom und Kartograf Tobias Mayer (1723–1762) im Vorwort seines Mathematischen Atlasses, den er in den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts verfasste, den Stellenwert der mathematischen Wissenschaften im Kanon des gelehrten Wissens der Aufklärung. Mathematik galt als Grundwissenschaft des rationalistischen Zeitalters und sie umfasste deutlich weiter reichende Wissensbestände, als man ihr gegenwärtig zuordnet. Demgemäß präsentiert Mayers Werk in systematischer und zusammenfassender Weise neben arithmetischen und geometrischen Grundlagen auch wesentliche Inhalte und Probleme der Geografie, Kartografie, Astronomie, des Befestigungswesens und der Artillerie, ebenso wie der Baukunst und der Optik. Mayers Anliegen war es, in seinem Atlas, wie er weiter in dessen Vorwort schreibt, das „[…] nöthigste und nützlichste auszulesen, und auf eine kurze, jedoch leichte und deutliche Art denen Geneigten Liebhabern dieser Wissenschaften in die Hände zu liefern“. Neben diesem vom Autor formulierten Profil macht auch die sprachliche und inhaltliche Gestaltung deutlich, dass es kaum zu vertreten ist, dem Mathematischen Atlas einen eindeutigen Stempel im Sinne von
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Vorwort zu Mayer, Tobias, Mathematischer Atlas, Augsburg 1745–1750; zu Mayer siehe auch den Ausstellungskatalog: Tobias Mayer (1723–1762). Vermesser des Meeres, der Erde und des Himmels. Esslingen in alten und neuen Karten. Ausstellung des Stadtarchivs, Esslingen 1986; des Weiteren Aufgebauer, Peter, „Die Anfänge der Sternkunde in Göttingen“, in: Göttinger Jahrbuch, 50/2002, S. 75-92.
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Die mathematischen Wissenschaften und ihre Vermittlung im 18. Jahrhundert
„populär“ oder „wissenschaftlich“ aufzudrücken. Er wird in der historiografischen Literatur häufig im Grenzbereich zwischen „Lehrbuch und fundiertem populärwissenschaftlichen Sachbuch“ angesiedelt.2 Das Attribut populärwissenschaftlich kommt dabei für das 18. Jahrhundert einem Anachronismus gleich, denn die Verbindung von populärer Rhetorik und mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen ist begrifflich wie inhaltlich eine Schöpfung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.3 Die mathematischen Wissenschaften spielten auch hierbei eine besondere Rolle, denn die ersten Werke, welche von Autoren wie Rezipienten als populär oder populärwissenschaftlich bezeichnet und aufgefasst wurden, behandelten Themen der Astronomie. Genannt seien in diesem Zusammenhang zwei prominente Beispiele: die Populären Vorlesungen zur Sternkunde von 1833 aus der Feder des Heidelberger Philosophieprofessors Jakob Friedrich Fries (1773–1843) und die Wunder des Himmels, mit welchen Johann Joseph Littrow (1781–1840), Astronom und Direktor der Wiener Sternwarte, zum meistgelesenen deutschsprachigen Astronomen seiner Zeit avancierte. Populärwissenschaftliche Literatur erlebte im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine rasante Expansion und erfüllte im Kontext der zunehmenden Ausdifferenzierung naturwissenschaftlicher Disziplinen und deren Institutionalisierung sowohl in Wissenschaft als auch Gesellschaft zahlreiche Funktionen. Populäre Publizistik diente nicht nur der Aufklärung, Information und Unterhaltung, sondern wurde auch als Medium zur gesellschaftlichen Kontrolle der Deutungsmacht von Wissen genutzt. Die Legitimierung naturwissenschaftlicher Forschung und der Entstehung neuer Disziplinen, eben so wie die besonders von Wissenschaftler als zunehmend für notwendig erachtete Abgrenzung von Laien und Experten vollzog sich häufig im Rahmen populärwissenschaftlicher Rhetorik.4 Gleichzeitig war die Frage der Nützlichkeit und Qualität von Popularisierung selbst Gegenstand populärer Diskurse. Neben einer regelrechten Euphorie für eine selbstständige so genannte Populärwissenschaft stand gleichzeitig die Heraufbeschwörung der Gefahr der Seichtigkeit und mangelnden Ernsthaftigkeit populärwissenschaftlicher Literatur.5
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Vgl. Menzel, Wolfgang W., Vernakuläre Wissenschaft:. Christian Wolffs Bedeutung für die Herausbildung und Durchsetzung des Deutschen als Wissenschaftssprache, Tübingen 1996, S. 262. Zur Genese und Entwicklung des Begriffes Popularisierung vgl. Daum, Andreas W., Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, München 1998, S. 33-41. Vgl. Gieryn, Thomas F., „Boundaries of Science“, in: Sheila E. Jasanoff/James C. Petersen/Trevor J. Pinch, Handbook of Science and Technology Studies, Cambridge 1994, S. 393-443. Vgl. hierzu Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 249-254; speziell Virchow, Rudolf, „Über die Aufgaben der Naturwissenschaften im neuen nationalen Leben Deutschlands“ [1871], in: Karl Sudhoff, Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscherversammlungen, Leipzig 1922, S. 99-118, besonders S. 111.
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Für das 18. Jahrhundert spielten Auseinandersetzungen dieser Art kaum eine Rolle. Die Vermittlung mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissens galt als aufklärerische Aufgabe und wurde auf facettenreiche Weise für eine Vielzahl unterschiedlicher Publiken realisiert. Dieses Bündel an Vermittlungsstrategien mit dem Oberbegriff Popularisierung zu charakterisieren, macht insofern Sinn, als dass sie zum Teil die gleichen gesellschaftlichen Funktionen erfüllten, wie die populärwissenschaftlichen Aktivitäten des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus repräsentierten sie das Werkzeug, mit dessen Hilfe sich die von der Naturwissenschaftsgeschichte beschriebene Konsolidierung und gesellschaftliche Etablierung der Errungenschaften des Zeitalters der so genannten naturwissenschaftlichen Revolution vollzog.6 Nach wie vor Gegenstand von Diskussionen ist dabei die Interpretation und Einordnung der Verbreitungsprozesse mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft. Eine immer wieder vertretene, aber seit einiger Zeit in die Kritik geratene Vorstellung geht von einem hierarchisch geordneten oder auch diffusionistischen Modell aus, nach dem gelehrtes Wissen durch Vermittlung mit zunehmender fachbezogener intellektueller Distanz des rezipierenden Publikums zu den Wissensproduzenten an Präzision, Substanz und damit an Qualität verliere.7 2. Christian Wolff als Popularisierer Neben dem Mathematischen Atlas von Tobias Mayer, dessen Zielgruppe den Fachmann genauso einschloss wie den allgemein gebildeten Laien, zeigen auch die mathematischen Werke Christian Wolffs (1679–1754) eindrücklich, dass der diffusionistische Ansatz wenig geeignet ist, die in ihrer Wirksamkeit vielfältigen Prozesse mathematisch-naturwissenschaftlicher Wissensvermittlung des 18. Jahrhunderts angemessen zu beschreiben. Christian Wolff, führender Philosoph der Aufklärung und, wie Immanuel Kant 1787 schrieb, „der Urheber des Geistes der Gründlichkeit in Deutschland“8, unterrichtete über viele Jahre hinweg Mathematik an der Hallenser Universität. Er war einer der ersten, der Fachvorlesungen in
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Zu Formen und Funktionen von Popularisierung im 18. Jahrhundert vgl. Tschopp, Silvia Serena, „Popularisierung gelehrten Wissens im 18. Jahrhundert“, in: Richard von Dülmen/Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln, Weimar u. a. 2004, S. 469-489; zur Rolle naturwissenschaftlichen Wissens im öffentlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts siehe Porter, Roy, „Introduction“, in: ders. (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd. 4: Eighteenth-Century Science, Cambridge 2003, S. 1-19. Zur Kritik am diffusionistischen Modell von Popularisierung siehe Shinn, Terry / Whitley, Richard (Hrsg.), Forms and Functions of Popularization. Sociology of the Sciences, Bd. 9, Dordrecht 1985. Zitiert nach Weber, Walter, „Christian Wolff“, in: Bernd Lutz (Hrsg.), Metzler Philosophenlexikon, Stuttgart, Weimar 1995, S. 930ff.
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Die mathematischen Wissenschaften und ihre Vermittlung im 18. Jahrhundert
deutscher Sprache hielt, und vertrat in seiner Lebensbeschreibung die Auffassung, „[…] dass unsere Sprache zu Wissenschaften sich viel besser schicket, als die lateinische und dass man in der reinen deutschen Sprache vortragen kann, was im Lateinischen barbarisch klingt.“9 Er stand damit in der Nachfolge von Galilei in Italien und Descartes in Frankreich, die schon früher der Landessprache dem Lateinischen den Vorrang gegeben hatte. Wolff gehörte nicht zu den vorrangig schöpferisch tätigen Mathematikern. Es gibt nur wenige und nicht sehr tief gehende mathematische Forschungsergebnisse, die ihm zugeeignet werden.10 Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit entstanden jedoch mehrere bemerkenswerte mathematische Werke: unter anderem 1710 die Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften in vier Teilen und 1716 das Mathematische Lexikon.11 Die Anfangsgründe dienten zur Unterstützung des mathematischen Unterrichts sowohl an „höheren als niedrigen Schulen“, wie es im Untertitel heißt, waren aber auch für das Selbststudium geeignet. Das vierteilige Werk nahm um die Mitte des Jahrhunderts eine Monopolstellung ein. Es war eines der wenigen Lehrbücher in deutscher Sprache und unter diesen das mit Abstand erfolgreichste: zwischen 1710 und 1800 erlebte es insgesamt elf Auflagen und Übersetzungen in mehrere Sprachen. Erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde es in seiner führenden Rolle durch entsprechende Lehrbücher unter anderem von Abraham Kästner (1719–1800) und Johann Gustav Karsten (1732–1787) abgelöst. Inhaltlich umfasste es den aus heutiger Sicht erweiterten Gegenstandsbereich der mathematica mixta. Neben Rechenkunst, Geometrie, Trigonometrie, Algebra und Differenzial- und Integralrechnung behandelt es auch Themen der Mechanik, Astronomie und Geografie, ebenso wie der Baukunst, Artillerie und Fortifikation.12 Tobias Mayer hatte sich sein mathematisches Wissen, in Ermangelung eines ausreichenden Mathematikunterrichts an der von ihm besuchten Lateinschule, im Selbststudium aus Wolffs Anfangsgründen angeeignet und sich so nicht von ungefähr bei der Konzeption und Durchführung seines Mathematischen Atlasses an Wolffs Werk orientiert.13 Allerdings erhebt der
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Wuttke, Heinrich (Hrsg.), Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, Leipzig 1841, S. 9. Zur Rolle von Christian Wolff in der Disziplinengeschichte der Mathematik siehe Cantor, Moritz, Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik, Tübingen 1899, S. 270f. u. S. 496-499. Wolff, Christian, Die Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften: zu mehreren Aufnehmen der Mathematik so wohl auf höheren als niedrigen Schulen [1717], Halle im Magdeburgischen 1750; ders., Mathematisches Lexicon, Leipzig 1716. Siehe Nobre, Sergio, Christian Wolffs Beitrag zur Popularisierung der Mathematik in Deutschland, europäischen und außereuropäischen Ländern, Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin (Hrsg.), ND Berlin 2004, hier S. 3ff. Siehe Menzel, Vernakuläre Wissenschaft, S. 261.
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Atlas weniger als die Anfangsgründe einen Anspruch auf systematische Vollständigkeit und präzise Deduktion der Begriffe. Genau darin bestand aber unter anderem die Wirksamkeit und Besonderheit des Wolffschen Lehrbuches. Durch eine exakte, in deutscher Sprache gehaltene Definition von Grundbegriffen erfüllte es die ambivalent anmutende Aufgabe, das Deutsche als Wissenschaftssprache zu etablieren und gleichzeitig für eine weite Verbreitung mathematischen Grundwissens zu sorgen. Die Klärung von Grundlagen und der systematisch-axiomatische Aufbau war eine Konsequenz seiner didaktischen Bemühungen, denen er im Vorwort seines Textes Ausdruck verlieh: Es ist viel daran gelegen, dass man die mathematische Lehrart wohl verstehe. Denn wenn man weiß, was man zu sagen hat, giebt man nicht allein auf die Lehren, die vorgetragen werden, genau acht, und erkennet die Ursache ihrer unwiedersprechlichen Gewissheit, sondern man lernet auch dieselbe desto hurtiger in anderen Wissenschaften anbringen.
Im Zusammenhang mit den Attributen „populär“ und „wissenschaftlich“ traf auf Wolffs Lehrbuch für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen zu, was der Mathematikhistoriker Moritz Cantor 1908 zu Abraham Kästners 1760 erschienenen Anfangsgründe der Analysis endlicher Größen zu sagen hatte: Er beschrieb Kästners Buch als […] ein Werk, welches den Bedürfnissen des Universitätsunterrichts in Deutschland entsprach und zugleich die Lehren großer Mathematiker so erfolgreich popularisierte, dass es lange Zeit das beliebteste Kompendium war.14
Ähnliches lässt sich auch zu dem 1716 erschienenen Mathematischen Lexicon sagen. Der Wortlaut des vollständigen Titels verwies auf sein anspruchsvolles Ziel: Darinnen die in allen Theilen der Mathematik üblichen Kunst-Wörter erkläret, und zur Historie der Mathematischen Wissenschaften dienliche Nachrichten ertheilet, auch die Schriften wo iede Materie ausgeführet zu finden, angeführet werden.
Wolffs Lexicon hatte vergleichbare Vorläufer in dem Dictionnaire Mathématique von Jacques Ozanam (1640–1717) aus dem Jahr 1691 und Gerolamo Vitalis 1668 erschienenen astrologischen Lexikon (Lexicon mathematicum astronomicum geometricum). Das Mathematische Lexicon war allerdings weitaus vollständiger und erlaubte es, sich in einer konzisen Weise darüber zu orientieren, was man von denen der Mathematik Kundigen ihrer Zeit an Grundwissen in fast allen relevanten Bereichen erwarten konnte. Wie in seinem gesamten Wirken bestand Wolffs Leistung auch hier darin, die deutsche Sprache als Fachsprache zu etablieren: das Mathematische Lexicon erklärt die so genannten Kunst-Wörter nicht nur inhaltlich, sondern
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Cantor, Moritz, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik, Bd. 4, Leipzig 1908, S. 74.
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Die mathematischen Wissenschaften und ihre Vermittlung im 18. Jahrhundert
präsentiert für die bis dahin gebräuchlichen lateinischen und französischen Fachausdrücke zahlreiche deutsche Begriffe, die zum Teil bis heute Bestand haben. Diese Begriffe prägten jedoch nicht nur die Ausbildung von Mathematikern, sondern entfalteten einen sehr viel weiter gehenden Wirkungskreis. Zu einem großen Teil finden sie sich als Stichworte in dem zwischen 1732 und 1754 in 68 Bänden erschienenen Zedlerschen Universallexikon wieder. In manchen Bänden entsprechen nahezu 85% der mathematischen Stichworte bis auf marginale Vereinfachungen und Kürzungen den Texten des Wolffschen Lexikons. Dies ist insofern nicht erstaunlich, als das Wolff selbst in Folge seiner beherrschenden Stellung im geistigen Leben seiner Zeit etwa in Band 58 des Zedlerschen Lexikons insgesamt 128 Spalten zugeeignet sind. 350 weitere Spalten beschäftigen sich mit der Wolffschen Philosophie. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf eine freundschaftliche Beziehung zwischen Wolff und einem der drei Redakteure des Zedlerschen Lexikons: Carl Günther Ludovici. Soweit bekannt, konnte keiner der Redakteure auf eine mathematische Ausbildung zurückgreifen, und so verwundert es nicht, dass auch weniger geglückte und inhaltlich nicht mehr dem neuesten Entwicklungsstand entsprechende Begriffe in das Zedlersche Lexikon übernommen wurden. Die beiden weiteren 1734 und 1747 veröffentlichten Auflagen des Mathematischen Lexikons enthalten zahlreiche Korrekturen und Erweiterungen. Es ist allerdings unklar, inwieweit und in welcher Form Wolff daran mitgewirkt hat.15 Fest zu halten bleibt, dass ein ursprünglich für Studierende und Gelehrte konzipiertes Werk mit zahlreichen Inhalten seinen Weg in ein weit verbreitetes, wenn man so will, populäres Medium fand, und die Art der sprachlichen Vermittlung sich dabei kaum veränderte. Dies ist einer der Gründe dafür, dass Wolff als Schöpfer einer deutschen Wissenschaftssprache wahrgenommen und gleichzeitig als „Pionier der Popularisierung der Wissenschaft“ bezeichnet wird.16 3. Die Naturwissenschaft für „Frauenzimmer“ Dass eine direkte Korrelation zwischen der Komplexität und den Rezipienten von Texten mathematisch-naturwissenschaftlichen Inhalts schwer herzustellen ist, zeigt auch der Vergleich zweier wohlbekannter Vertreter einer für das 18. Jahrhundert typischen Form der Wissensvermittlung, der naturwissenschaftlichen Literatur für Damen.
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Nobre, Christian Wolffs Beitrag zur Popularisierung der Mathematik, S. 10-17. Ebd., S. 2.
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Bernard Fontenelles (1657–1757) erstmals 1686 erschienenen Entretiens sur la pluralité des mondes erlebten neben mehreren verbesserten französischen Auflagen im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch eine Reihe deutscher Übersetzungen, deren bekannteste wohl die 1725 von Johann Christoph Gottsched besorgte ist. In sechs abendlichen Gesprächen eines Gelehrten mit einer Gräfin werden die Grundlagen der kopernikanischen Astronomie vermittelt, wobei zum Verständnis keinerlei naturwissenschaftliche Vorkenntnisse angenommen werden. Dabei bedient sich die illustrative Sprache zahlreicher Topoi höfischer Rhetorik. Die Weltbeschreibung Fontenelles zu Beginn des Buches als eine große, komplex inszenierte Oper weist auf eine weitgehende Einbettung vom Wissen über die Natur in einen länderspezifischen kulturellen und sozialen Kontext hin. Francesco Algarotti (1712–1764) präsentierte in dem 1737 im italienischen Original und 1745 erstmals in deutscher Übersetzung erschienenen Werk mit dem Titel Newtons Weltwissenschaft für das Frauenzimmer zwar auch eine metaphernreiche und gegenständliche Sprache.17 Allerdings trug er dabei der Tatsache Rechnung, dass den gebildeten Damen im Italien des 18. Jahrhunderts zum Teil weiter reichende Bildungsmöglichkeiten offen standen als im übrigen Europa. Algarotti ging deshalb in seinem ebenfalls dialogisch gehaltenen und sich formal ausdrücklich an Fontenelles Werk orientierenden Unterweisungen davon aus, dass seine Gesprächspartnerin über grundlegende Kenntnisse des Cartesianismus verfügte. Newtons Weltwissenschaft für das Frauenzimmer erwies sich somit als weitaus weniger zugängliche Lektüre und erfüllte auch inhaltlich eine andere Funktion als Fontenelles Gespräche von mehr als einer Welt. Während Fontenelle in den zahlreichen Neuauflagen seines Werkes trotz vieler sachlicher Aktualisierungen dem Cartesianismus verhaftet blieb, zeugen Titel und Inhalt bei Algarotti von seinem Bestreben der Etablierung der Lehren Newtons. Er verfasste seine Schrift, während er in engem brieflichen und persönlichen Kontakt zu den um 1740 eine Minderheit bildenden französischen Newtonianern wie Voltaire, Maupertuis und Du Châtelet stand, und der italienischen Originalausgabe folgte innerhalb eines Jahres die erste französische Übersetzung.18 Sowohl Fontenelles als auch Algarottis Beiträge zur Verbreitung mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissens werden in aller Regel bezogen auf die ihnen gemeinsame Rolle als Vorläufer der populärwissenschaftli-
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Zu den entsprechenden Werken Fontenelles, Algarottis und anderer Autoren siehe Kleinert, A., Die allgemeinverständlichen Lehrbücher der französischen Aufklärung, Aarau 1974; Douglas, Aileen, „Popular Science and the Representation of Women. Fontenelles and After“, in: Eighteenth-Century Life, 18/1994, S. 1-14. Siehe Fissell, Mary / Cooter, Roger, „Exploring Natural Knowledge. Science and the Popular“, in: Porter (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd. 4, S. 129-183, hier S. 134-139.
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Die mathematischen Wissenschaften und ihre Vermittlung im 18. Jahrhundert
chen Literatur des 19. Jahrhunderts und kaum in ihrer Unterschiedlichkeit wahrgenommen.19 4. Schlussbemerkung Zusammenfassend kann man sagen, dass es – um zu einem klareren und weniger schematischen Verständnis der unterschiedlichen Aspekte von Genese und Wirksamkeit mathematischer Wissensvermittlung zu gelangen – wünschenswert und sinnvoll ist, sowohl die inhaltlichen als auch gesellschaftlichen und sozialen Kontexte stärker zu berücksichtigen. Dabei ist besonders die, bezogen auf ihre Komplexität, vorurteilsfreie Betrachtung von Texten, welche auch für ein breiteres Publikum intendiert waren, hilfreich. Eine solch differenzierte Betrachtungsweise lässt es auch zu, der Tatsache Geltung zu verschaffen, dass im 18. Jahrhundert die Grenzen zwischen Naturphilosophie, Naturgeschichte und religiösen Vorstellungen durchlässig und der Begriff des „Wissenschaftlers“ noch nicht etabliert waren20, weshalb eine übermäßig kontrastierende Einordnung von populären und wissenschaftlichen Vermittlungsformen häufig kaum möglich und auch nicht Erkenntnis fördernd ist.
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Daum, Wissenschaftspopularisierung, S. 265f. Vgl. Fissell/Cooter, „Exploring Natural Knowledge “, S. 130.
Physikotheologisches Dilemma. Wunderkammer, Raritätenkabinette und Naturaliensammlungen als Orte des Wissenserwerbs und Wissensverbreitens? Einige Zweifel Michał Mencfel Es besteht kein Zweifel: das Sammeln ist „ein notwendiger Bestandteil der wissenschaftlichen Praxis“.1 Auch ein anderes Urteil bedarf wohl keines Beweises: nämlich dass die Sammlungen wichtige Mittel der Wissenspropagierung sind. Demjenigen, dem die neuzeitliche Sammelkultur nicht ganz fremd ist oder der zumindest einmal ein heutiges Museum besucht hat, ist es bewusst, welche wichtige Rolle die Sammlungen im Prozess des Wissenserwerbes und Wissensverbreitens spielten und spielen. Ohne die Verdienste der Sammler in Frage zu stellen, schlage ich vor, die Perspektive zu ändern: im Folgenden versuche ich zu zeigen, dass viele der Sammler des 18. Jahrhunderts als diejenigen betrachtet werden können, die den Fortschritt der Wissenschaft eher gehemmt als gefördert haben und dass die Kabinette selbst oft als Orte galten, an denen – so die These – ein falsches Wissen produziert und popularisiert wurde. Meine Ausführung besteht aus zwei Hauptteilen. Im ersten Teil interpretiere ich die Kabinette als Horte des wissenschaftlichen Konservatismus, im zweiten Teil – als wichtige Zentren der Entwicklung und dann auch Bastionen der Verteidigung der Physikotheologie, die als eine antiwissenschaftliche Haltung zu interpretieren ist. Um meine Thesen zu begründen, werde ich die Beispiele der teilweise wenig bekannten, provinziellen (wenn ich so sagen darf) Sammlungen anführen, die zwar keine gesamteuropäische Berühmtheit genossen, die aber in lokalen Gesellschaften hohes Renommee besaßen. Wir sollten nicht vergessen, dass das neuzeitliche Europa mit einem dichten Netz von Raritätenkabinetten und Naturaliensammlungen bedeckt war und nicht nur (und auch nicht vor allem) die größten und bekanntesten unter ihnen sein Sammelantlitz prägten.
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Heesen, Anke te / Spary, E.C., „Sammeln als Wissen“, in: dies. (Hrsg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001, S. 13.
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Physikotheologisches Dilemma
Wenn die von Gaston Bachelard analysierte Hindernisse tatsächlich auf dem Wege zur Bildung des modernen wissenschaftlichen Geistes standen2, dann erscheinen uns viele frühneuzeitlichen Kabinette als Orte un- oder sogar antiwissenschaftlicher Tätigkeit. Ersetzung des Erkenntnisses durch Bewunderung und der Ideen durch Bilder, des dem Reiz der Sprache Unterliegens, vorzeitiges Generalisieren, Suchen nach den universellen Regeln – all diese Erscheinungen fanden im Museum des 18. Jahrhunderts statt. Richten wir unsere Aufmerksamkeit kurz auf das Problem der Faszination, welche die Bilder und Sprache auf die Sammler ausübten. Werfen wir einen Blick auf drei von sieben Vignetten, die am Beginn der folgenden Kapiteln des Buches Museum Regium, des von Jacob Holger herausgegebenen Katalogs der königlichen Kunstkammer in Kopenhagen, zu sehen sind.3 Die auf einzelnen Bildern dargestellten Gegenstände deuten an, von welcher Abteilung der Sammlung im entsprechenden Kapitel die Rede ist. Wir haben hier also: menschliche und tierische Exponate, Mineralien und Fische. Mehr als die Objekte interessiert uns hier jedoch die Art und Weise, auf die sie dem Leser bzw. Zuschauer präsentiert wurden. Es scheint, auch für den Autor selbst war der einzelne Gegenstand von zweitrangiger Bedeutung – er verlor seine Autonomie und diente vor allem als ein Element einer dekorativen, theatralisierten Komposition. Ich will nicht behaupten, dass die Bilder die Methode widerspiegeln, nach der die Exponate im Museum ausgestellt wurden (obwohl darauf hinzuweisen ist, dass die Schildkröte und die Fische an Leinen hängen; sie bilden keine im abstrakten Raum schwebende Anordnung der Formen, sondern es wird suggeriert, dass sie sich in einem konkreten Raum – im Kabinett – befinden). Nichtsdestoweniger dokumentieren sie eine bestimmte Art der Wahrnehmung der Gegenstände und des Denkens an Gegenstände. Es wird ihr ästhetischer Aspekt betont: das Anschauen bedeutet keine kühle Beobachtung, sondern Wundern und Bewundern. Man könnte mit voller Richtigkeit opponieren, dass die genannten Beispiele aus dem 17. Jahrhundert stammen (die erste Ausgabe des Katalogs erschien 1696). Hier habe ich sie jedoch als Ausdruck einer Tradition des „Denkens in Bildern“ angeführt, die noch viele Jahrzehnte später aktuell blieb. Ihre Lebendigkeit im 18. Jahrhundert wird uns klar, wenn wir die Analyse der Sprache der damaligen Sammlungskatalogen vornehmen. Im Jahr 1726 wurde der Katalog einer Sammlung auf lateinisch und 1737 auf deutsch veröffentlicht, die dem Breslauer Arzt Johann Christian
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Bachelard, Gaston, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt am Main 1978. Holger, Jacobaeus, Museum Regium, seu Rerum tam naturalium, quam artificialium, que in Basilica Bibliothecae Augustissimi Daniae Norvegiaeq. Monarchae Friderici Qvarti, Havniae asservantur, Kopenhagen 1696.
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Kundmann gehörte.4 Beim Charakterisieren der Gegenstände strebte der Gelehrte einerseits nach der wissenschaftlichen Präzision, andererseits – war er tief in der Kultur der Neugier verwurzelt, um den bekannten Begriff Krzysztof Pomians aufzunehmen. Die Beschreibungen der meisten Exponate wurden mit Kommentaren versehen, die ihren ästhetischen Wert hervorbringen sollten. Es wurde dabei gern der Superlativ benutzt. Die Sammelobjekte wurden demnach als die seltensten, ungewöhnlichsten, elegantesten, edelsten, größten, längsten, breitesten, weisesten, klarsten, härtesten etc. beurteilt. Darüber hinaus – um stärkere Aussagekraft zu erziele – operierte Kundmann oft mit Bildern, benutzte Vergleiche und freies Assoziationsspiel. So wurde die Größe der Gegenstände oft nicht in angenommenen Einheiten, sondern durch das Nebeneinanderstellen anderer Gegenstände bestimmt: die Embryonen waren „einer kleinen Bohnen groß“, eine Schlange „nicht eines kleinen Fingers dick“, wohingegen die von ihr geschluckte Kröte „nahe 3. Finger breit“, die Blasensteine waren „wie HaselNüsse“ und ein Topas „als eines Kindes-Kopff groß“.5 Manchmal verzichtete Kundmann gänzlich auf die genauere Bestimmung der Größe und beschränkte sich auf die allgemeine Bemerkung, dass etwas riesig oder sehr klein gewesen sei. All das fand an der Schwelle einer Epoche statt, in der es gefordert wurde, die Objekte nach ihrer „Zahl, Gestalt, Proportion und Disposition ihrer Teile“ zu beschreiben.6 Aber noch ein halbes Jahrhundert nachdem Carl Linné diese Beschreibungsregeln formuliert hatte, wurden die Sammelobjekte auf bildliche Art und Weise charakterisiert. In der Sammlung eines Breslauer Domherrn Grafen Johann von Mattuschka, deren kurzer Katalog 1796 veröffentlich wurde, befanden sich unter anderen „eine [Schildkröte] groß wie eine Bohne“ und „ein Bezoar in der Größe eines Kindeskopfes“.7 Mattuschka war im gewissen Sinne gezwungen, solche Beschreibungsweise zu verwenden, weil die in seinem Kabinett aufbehaltenen Gegenstände der wissenschaftlichen Methode kaum anzupassen waren. Denn der Graf ignorierte die
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Kudmann, Johann Christian, Promtuarium rerum naturalium et artificalium Vratislaviense praecipue quas collegit D. Io. Christianus Kundmann medicus Vratislaviensis, Bratislava 1726; ders., Rariora naturae et artis item in re medica: Oder Seltenheiten der Natur und Kunst des Kundmannischen Naturalien-Cabinets wie auch in der Artzney-Wissenschaft, Breslau, Leipzig 1737, S. 349-368. Kudmann, Rariora naturae et artis, S. 350, 351, 355. „§ 167. Nota charakteristica (189) omnis erui debet a Numero, Figura, Proportione & Situ omnium partium Fructificationis (86) differentium (98-104)“; „§ 327. Descriptio (326) compendisissime, tamen perfecte, terminis tantum artis, si sufficientes sint, partes depignat secundum Numerum, Figuram, Proportionem, Situm.“; Linneus, Carl, Philosophia Botanica in qua explicantur fundamenta botanica cum definitionibus partium, exemplis terminorum, observationibus rariorum, edjectis figuris aeneis, Stockholm 1751, S. 212, 257. „Natur Cabinet des Herrn Domherrn Grafen Johann von Matuschka zu Breslau“, in: Schlesische Provinzialblätter, 1796, Literarische Beilage, Drittes Stück.
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Anweisungen der Autoren der zu dieser Zeit unzähligen Handbücher für Sammler, dass „man [...] keine monströse, oder zu fette und zu magere Exemplare in die Sammlung aufnehmen“ darf; „man muß nur solche wählen, die ganz vollkommen sind, oder den natürlichen Habitus, und die charakteristischen Kennzeichen noch unverändert an sich tragen“.8 Statt dessen erwähnte er nicht ohne Stolz die zu seinem Kabinett gehörige fünfundsechzig Stück merkwürdigen und monströsen Skelette, einen monströsen Hecht, „mehrere monströse vierfüßige Thiere in Weingeist“ und auf gleiche Weise aufbehaltene Vögel, „größtentheils monstrose“. Mattuschka schwamm nicht nur wider den Strom der von den professionellen Gelehrten postulierten Sammelmuster und blieb einer barocken Tradition der Raritätenkammer treu, sondern wagte es auch, selbst eine Anweisung für angehende Naturaliensammler zu verfassen, und um 1800 gab er ein Buch über Raupen und Schmetterlinge für Insektensammler heraus.9
Abb.: Kapitelvignetten aus: Jacobaeus Holger, Museum Regium [1696], Kopenhagen ca. 1710
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Zinke, Georg Gottfried, Die Kunst allerhand natürliche Körper zu sammeln selbige auf eine leichte Art für das Kabinett zuzubereiten und sie vor Zerstörung feindlicher Insecten zu sichern. Ein nützliches Taschenbuch für angehende Naturaliensammler, Jena 1802, S. 103. Mattuschka, [Johann] von, Raupen und Schmetterlings-Tabellen für Insecten-Sammler und besonders diejenigen, welche sich mit Abwartung derselben abgeben wollen. Verfaßt von dem Domherrn, Grafen von Mattuschka, Ehren-Mitgliede der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin, Leipzig [um 1800].
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Wir wissen nicht, wie das Buch in der Gesellschaft empfangen wurde, an die es adressiert wurde. Es ist aber sicher, dass es in den Kreisen der professionellen Gelehrten auf vernichtende Kritik stieß. In einer in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek veröffentlichten Rezension wurde dem Autor äußerste Inkompetenz, „gänzliche Unbekanntschaft mit Linnés Schriften und der Sprache der gelehrten Welt“ vorgeworfen. Als Zusammenfassung diente folgender Satz: „Nicht leicht pflegt ein Buch so schlecht zu sein, daß es nicht doch von irgend einer Seite empfohlen werden könnte; an diesem Buche läßt sich aber mit guttem Gewissen gar nichts empfehlen“.10 Man kann vermuten, der Autor dieser Rezension hätte die nach veralteten Mustern angelegte Sammlung Mattuschkas mit gleicher Heftigkeit behandelt. Das ändert aber die Tatsache nicht, dass sie in der lokalen Gesellschaft große Anerkennung genoss. So widmete Johann Josef Kauch ihr drei Seiten in seinen Ausführlichen Nachrichten über Breslau und hegte keine Zweifel, dass sie „zu den ersten Merkwürdigkeiten der Stadt“ gehörte.11 Wenn Johann Christian Kundmann Epigone einer ihren Impetus verlierenden, aber doch noch aktuellen Sammeltendenz gewesen war, dann stand der ein halbes Jahrhundert später tätige Graf von Mattuschka im offenen Konflikt mit neuen Strömungen in der Sammelkultur und im Geistesleben schlechthin. Als lokal bekannte und geachtete Persönlichkeit konservierte er vergangene Anschauungen und Ideen. Wir können sicher sein, dass er weder der einzige, noch auch einer von wenigen war. Die Tatsache, dass die Raritätenkabinette doch allmählich an den Rand der Sammelkultur geschoben und durch die Kollektionen des Normalen, Regulären und Nahen ersetzt wurden, war Verdienst nicht nur der professionellen Gelehrten und wissenschaftlichen Institutionen, sondern auch der Vertreter der Physikotheologie. Hier ging die Physikotheologie Hand in Hand mit der von religiösen Einflüssen freien Naturwissenschaft. Trotzdem kann sie, wie es noch gezeigt wird, als ein Hindernis für die Entwicklung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert betrachtet werden. Für uns ist es wichtig, dass kaum eine Theorie so einflussreich unter den Sammlern dieser Zeit war wie die Physikotheologie. Die Auskristallisierung der Physikotheologie (um die Mitte des 17. Jahrhunderts), deren Ziel es war, „die durch Deismus angegriffene Beziehung zwischen Natur- und Gotteslehre zu stärken und [...] zur Bewunderung der Natur als die vollkommene Schöpfung Gottes zu bewegen“12, war eine Antwort einerseits auf das mit neuen Sprachforschungen zusammenhän-
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Neue allgemeine deutsche Bibliothek, 94/1804, 2. St., S. 446ff., Zitat S. 448. Kausch, Johann Josef, Ausführliche Nachrichten über Breslau, Salzburg 1794, S. 280. Stebbins, Sara, Maxima in Minims. Zum Empirie- und Autoritätsverständnis in der physikotheologischen Literatur der Frühaufklärung, Frankfurt am Main, Bern u. a. 1980, S. 12.
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gende Rütteln an der Glaubwürdigkeit der Bibel, andererseits auf die Entwicklung der atheistisch orientierten Naturforschung. Es war keineswegs die Absicht der Physikotheologen, den Fortschritt der Naturwissenschaften aufzuhalten; es ging darum, sie in den religiösen Kontext einzubetten. Die Hauptprämisse war eine Überzeugung von der Untrennbarkeit der Naturwissenschaft von der Theologie: wenn die Natur vor allem als das Werk Gottes wahrgenommen wird, dann kann sie ohne die Berufung auf die Heilige Schrift nicht erkannt werden. Aber auch umgekehrt: das Naturstudium ist ein Weg zur Gotteserkenntnis. Hier wurzelt die unerschütterliche Meinung der Physikotheologen, dass nur ein Christ wahrer Naturgelehrte werden könne, und gleichzeitig, dass dem wahren Christen die Kenntnis der Naturgeschichte unentbehrlich sei. Die Autoren der unzähligen physikotheologischen Schriften des 18. Jahrhunderts propagierten so die Naturbetrachtung, ermunterten zum Wandern in der Natur, aber auch zum Anlegen der Naturaliensammlungen.13 Denn Naturalienkabinette galten als privilegierte Orte: „Keine bessere Gelegenheit findet man nun zu dieser fast mit himmlischer Lust verknüpfften Betrachtung der Natur“ – schrieb Friedrich Neickel in seiner Museographia – als in Museis oder solchen Orten, welche ausdrücklich darzu an einer bequemen und einsamen Stelle angeordnet sind, woselbst man gleichsam alle unnütze Geschäffte und weltlichen Rumor verläst, dagegen aber seine Sinnen und Gedancken zusammen rufft, und einig und allein zur Ehre Gottes in der Betrachtung aller seiner Wunder anwendet.14
Die Aufrufe der Physikotheologen fanden unheimlich großen Widerhall in vielen Teilen Europas. Mir scheint, sie sind die Erklärung für den Aufschwung der Sammelaktivität unter protestantischen Geistlichen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. So machten in Schlesien die Priester und Theologen zu dieser Zeit ca. 20 Prozent der Sammler aus. Die Spuren des physikotheologischen Denkens sind darüber hinaus in sehr vielen das Sammeln (mehr oder weniger direkt) betreffenden Schriften zu finden, die nicht nur von Geistlichen, sondern auch von Ärzten oder Professoren verfasst wurden. Selbst Johann Heinrich Zedler schrieb in seinem Universal-Lexicon, dass die Sammlung „das ganze Gemüth des Menschen zu mehreren Bewunderung und Verehrung des weisen Schöpffers, auch
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U. a. in seiner Insecto-Theologie (1738) lobt Friedrich Christian Lesser, Pastor, Naturforscher und Sammler, diejenigen „welche bey ihren Neben-Stunden ihren Fleiß an Sammlung derer Insecten gewndet haben“; vgl. Lesser, Friedrich Christian, Insecto-Theologia, oder Vernunfft= und schrifftmäßiger Versuch, wie ein Mensch durch aufmercksame Betrachtung derer sonst wenig geachteten Insecten zu lebendiger Erkäntniß und Bewunderung der Allmacht, Weißheit, der Güte und Gerechtigkeit des grossen Gottes gelangen könne, Frankfurt am Main 1738, S. 13. Neickel, Friedrich, Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlichen Anlegung der Museorum, oder Raritäten=Kammern, Leipzig, Breslau 1727, S. 447.
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der von ihm kommenden Natur- und Kunst-Gaben lencket“.15 Die Kollektion wurde also zu einer Quelle eines naturgeschichtlichen und theologischen Wissens. Die Physikotheologen betonten diesen Erziehungsaspekt sehr stark und begriffen das Lehren als sein Pflicht. Leonard David Hermann, Pastor zu Massel in Schlesien und ein eifriger Sammler äußert sich (1711) dazu ganz deutlich: Ich würde auch der undanckbarste Mensch seyn, wenn ich so überhäuffte Wohltaten und Werke Gottes, die mir so sonderbahr in die Hände kommen, verschweigen, und nicht zu Ehren des grossen Gottes [...] gebührend bekannt machen sollte.16
Die Sammlung konnte auch als ein Argument im theologischen Streit, als Waffe im Kampf gegen Atheismus und als Quelle der moralischen Lehre gelten. Vergessen wir nicht, dass die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Zeit war, in der die Diluvialtheorie große Popularität genoss, welche die Entstehung und Disposition der Fossilien erklären sollte. Im physikotheologischen Diskurs wurden die in einer Sammlung aufbehaltenen Versteinerungen – als „Reliquien der Sündfluth“ interpretiert – zum Beweis sowohl der Wahrhaftigkeit der biblischen Geschichte als auch als an die zeitgenössische Welt gerichteten Warnung. 1728 schrieb Franz Ernst Brückmann: Es ist bekannt, daß man itziger Zeit die Fossilia und figurierte Steine in allen Winckeln [...] der Erden mit grösten Fleiß zusammen suchet [...] und gantze Musea von solchen Steinen formiert; theils als Zeichen und Zeugen der ehemahligen grossen Ueberschwemmung der ersten boßhafften sündlichen Welt, welcher es doch wohl die itzige, zu erbarmen ist es, noch weit an allen Lastern und Übertretungen göttlichen willens zuvorthut“,
teils aus anderen Gründen, jedoch „die es aus erster Absicht thun, handeln am besten“.17 Ich zitiere diese Fragmente – und man könnte beliebig viele ähnliche Äußerungen anführen –, um die Wirkungskraft der Physikotheologie in Sammlerkreisen zu zeigen und gleichzeitig zu veranschaulichen, wie stark wissenschaftlicher und religiöser Diskurs in ihr miteinander verflochten wurden. Denn die Physikotheologen betrachteten ihre Tätigkeit als wissenschaftlich. Die von ihnen gezogenen Schlussfolgerungen sollten genau begründet gewesen sein und auf Erfahrung basiert haben. „Es sind nemlich die Beweise“ – schrieb Bernhard Nieuwetyts 1747 – „[...] blos auf die Versuche und Erfahrung gegründet, die uns die neuen Naturforscher an die
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Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Leipzig, Halle 1732–1754, 68 Bde., Bd. 30, S. 890. Hermann, Leonard Davin, Maslographia Oder Beschreibung des Schlesischen Massel Im OelßBernstädtischen Fürstenthum mit seinen Schauwürdigkeiten, Brieg 1711, Vorrede. Brückmann, Franz Ernest, Thesaurus Subterraneus, Ducatus Brunsvigii, id est: Braunschweig mit seinen Unterirrdischen Schätzen und Seltenheiten der Natur, Braunschweig 1728, Vorrede.
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Hand geben“.18 Es zeigt sich jedoch, die Erfahrungen „der neuen Naturforscher“ wurden nur selektiv benutzt und auf eine besondere Art und Weise interpretiert. Natürlich, es gab auch Momente in der Physikotheologie, die als „modern“ bezeichnet werden könnten. Ein solcher ist zweifellos das Postulat der Gleichberechtigung aller Naturwerke. Nicht nur das Spektakuläre und Ungewöhnliche verdiene die Aufmerksamkeit des Forscher, sondern auch das Bekannte und Unscheinbare: Maxima in minimis lautete das credo der Physikotheologen. William Derham schrieb dazu: „die Ordnung, die Proportion sind an allen [Wercken Gottes] zu spüren, und das mit einer solchen erschrecklichen Mannigfaltigkeit von Abschnitten, Zierrathen und Schönheiten“.19 Damit man die Pracht und Herrlichkeit im scheinbar Gewöhnlichen entdeckt, müsse der Gegenstand – und das ist das zweite „moderne“ Element – genau beobachtet und erforscht werden. Lassen wir uns aber nicht täuschen: die präzise Beobachtung führte hier nicht zur Befreiung von der Herrschaft der Bilder, von der am Anfang die Rede gewesen ist. Ganz im Gegenteil: diese Herrschaft wurde von ihr noch verstärkt, denn gerade nach den (effektvollen) Bildern wurde in den Naturwerken gesucht. Die Physikotheologen wussten, dass die Bilder in ihnen verborgen waren. Die Naturbeobachtung bestand also nicht in der Entdeckung des Unbekannten, sondern in der Bestätigung des Bekannten und Erwarteten. Sie war keine Registrierung, sondern eine Rekonstruktion und manchmal, wie zu vermuten ist, eine Konstruktion der entsprechenden Bilder. Wie Sara Stebbins überzeugend gezeigt hat, war das Ziel der Physikotheologie, die apriorisch angenommenen Wahrheiten zu bestätigen, und nicht, das Neue zu entdecken.20 Aus diesem Grund muss die Physikotheologie als unwissenschaftlich oder eigentlich antiwissenschaftlich beurteilt werden: Wo die Wissenschaft eine These aufstellt, stand bei den Physikotheologen ein Axiom. Deshalb wurden die Ereignisse als selbstverständlich und umstritten präsentiert.21 Es fehlte der Physikotheologie an Zweifel und Selbstkritik.
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Nieuwetyts, Bernhard, Rechte Gebrauch der Welt-Betrachtung zur Erkentnis der Macht, Weisheit und Güte Gottes, auch Ueberzeugung der Atheisten und Ungläubigen, Jena 1747, Vorrede. Derham, William, Physico-Theologie oder Natur-Leitung zur Gott, durch aufmercksame Betrachtung der Erd-Kugel, und der darauf sich befindenden Creaturen, zum augenscheinlichen Beweiß, daß ein Gott-, und derselbige ein Allergütigstes, Allweises, Allmächtigstes Wesen sey, Hamburg 1736, S. XIII-XIV. Stebbins, Maxima in Minims, S. 18-21. „Die erste und allernatürlichste Folge“ – spricht Derham – „die wir aus einer so herrlichen Schaubühne voller so vortrefflichen Wercke [...] ziehen können, ist, daß wir betrachten, wer der große Werkmeister derselben sey“. Und weiter nocht: „Daß aber der Urheber dieses preiswürdigen Schauspieles aller Dinge niemand anders, als Gott sey, das ist ein solcher natürlicher Schluß“; Derham, William, Astrotheologie, oder Anweisung zu der Erkenntniß Gottes aus Betrachtung der himmlischen Körper, ins Deutsche übersetzt, und mit einer Nachricht von mehreren Scribenten, die durch Betrachtung der Natur zu Gott führen, vermehret von Johann Albert
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Die Sicherheit, mit der die Physikotheologen ihre Meinung verkündeten, hatte ihr Quelle in der Überzeugung, dass sie parallel „nicht nur aus dem geoffenbarten Buche der Schrifft, sondern auch aus dem offenbahren grossen Buche der Natur“ läsen und dass die beiden Bücher vollkommen miteinander übereinstimmten. Es wurde die Gleichwertigkeit beider Erkenntnisquellen deklariert, in der Tat jedoch wurde der Bibel immer der Vorzug gegeben. Das wird deutlich, wenn man die Polemiken der Physikotheologen mit den neutral und besonders atheistisch orientierten Naturforschern analysiert. Wurde von jemandem eine Unstimmigkeit zwischen Wort und Natur betont, wurde er sofort aus der Christengemeinde ausgeschlossen, d. h. gleichzeitig – nur ein Christ könne ein Naturforscher sein – als ein falscher Gelehrter entlarvt. Es wurde, wie es Derham postuliert, das Wissen „der neuen Naturforscher“ benutzt, aber nur derjenigen, die diesen Nahmen wirklich verdienten, der physikotheologisch Orientierten. Das 18. Jahrhundert war, wie Giuseppe Olmi festgestellt hat, ein Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Sammelkultur. Es war eine Zeit, in der sich – durch allmähliches Spezialisieren und Neuordnen – eine Sammlungsformel auskristallisierte, die, grob gesehen, bis heute ihre Aktualität beibehalten hat. Man sollte aber nicht vergessen (und der italienische Forscher hat es deutlich betont), dass hier vom Sammelmainstream die Rede ist. Viele Kabinette – nennen wir sie provinziell, mit der Anmerkung, es geht hier eher um eine intellektuelle Topografie – blieben das ganze Jahrhundert dem alten Muster treu. Sie waren Orte, an denen die fabelhaften Überzeugungen vor der wissenschaftlichen Analyse, die Faszination vom Gegenstand vor der kühlen Beobachtung, die fantastische Korrespondenz der Objekte vor der auf dem Vergleich basierenden Taxonomie, curiosité vor der Methode Vorzug hatten. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts wurden die physikotheologischen Tendenzen in der Sammelwelt extrem populär, deren Einfluss noch nach 1800 zu spüren ist. Sie verkündigten das Glauben an Fortschritt der Wissenschaften und stellten sich als modern dar, tatsächlich jedoch, wegen des apriorischen Charakters der von ihnen gezogenen Schlüsse, standen sie im Konflikt mit der zeitgenössischen Wissenschaft. Die Sammlungen, in denen die alten Ideen noch sehr lebhaft waren oder die vom physikotheologischen Denken stark beeinflusst wurden, waren wichtige Punkte auf der Kulturlandkarte der Städte und Provinzen. Als solche trugen sie zur Konservierung und Propagierung des Wissens bei, das schon von ihren Zeitgenossen als inaktuell oder fehlerhaft verworfen wurde.
_____________ Fabritius, nebst desselben Pyrotheologie, oder Anweisung zur Erkenntniß Gottes, aus der Betrachtung des Feuers, Hamburg 1765, S. 156.
Wie man sehen lernte. Zur Entstehung der Vermittlungspublizistik in Gemäldegalerien des 18. Jahrhunderts Joachim Penzel
Titelvignette aus: Joseph Dezallier d’Argenville, Voyage Pittoresque, Paris 1757
Die Entstehung von selbstständigen, allein dem Kunstgenuss vorbehaltenen Gemäldegalerien ist eine historisch späte Erscheinung. So finden sich erst im ausgehenden 17. Jahrhundert gesonderte Bilderkabinette bei niederländischen und italienischen Kunstsammlern; im frühen 18. Jahrhundert separierten zahlreiche fürstliche Sammler in Deutschland ihre Gemäldeschätze von den übrigen Ausstellungsstücken der Kunst- und Wunderkammern, um sie in eigens hergerichteten Galerietrakten der Schlösser oder selbstständigen Galeriebauten zu präsentieren.1 Derartige mit einer unüberschaubaren Zahl an Gemälden geradezu lückenlos gefüllte Räume erscheinen retrospektiv aber nicht nur als exklusive Orte der visuellen Kultur des 18. Jahrhunderts, sondern zugleich auch als Orte der Wissens-
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Galerieeröffnungen: Schloss Salzdahlum 1701, Berliner Schloss 1707, Stallhof in Dresden um 1710, Düsseldorfer Schloss 1710, Stallburg in Wien 1719, Schloss Pommersfelden 1719, Park Potsdam Sanssouci 1764. Dazu: Sheehan, James, Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer zur modernen Sammlung, München 2002, S. 15-70.
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kommunikation und Wissensvermittlung. Wie die Titelvignette des Kapitels über die privaten Kunstsammlungen in einem Pariser Reiseführer von 1757 darstellt, war für damalige Galeriebesucher der Bildgenuss aufs engste mit der Lektüre und der Diskussion von Texten verbunden. Sehen, Sprechen und Lesen waren als Rezeptionsverhalten aufeinander bezogen und so unauflösbar miteinander verwoben, dass Gemäldegalerien als intermediale Räume beschrieben werden müssen, in denen sich eine auf der Dialektik von Bild und Wort basierende Wissenskultur konstituierte und manifestierte.2 Fast jede der großen europäischen, ab der Mitte des 18. Jahrhunderts öffentlich zugänglichen Gemäldegalerien publizierte Gemäldeverzeichnisse und Sammlungskataloge. Hinzu kamen Reiseführer und Kunsthandbücher, in denen sich das kunstinteressierte einheimische und fremde Publikum über die Ausstellungsstücke informieren konnte. Derartige Publikationen fungierten sowohl als Medien der Konstituierung und des Austausches von gelehrtem Wissen als auch als Vermittlungsmedien, die dieses spezifische Wissen für den beständig wachsenden Kreis von Kunstliebhabern aufbereiteten. Deshalb stellen sie heute sowohl die wichtigste Quellengruppe für die Geschichte des kennerschaftlichen Diskurses im Galerieraum als auch für die Vorgeschichte der Museumspädagogik dar.3 Überblickt man sämtliche Veröffentlichungen zu den einzelnen Gemäldegalerien an den deutschen Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts so lassen sich zwei grundsätzliche Publikationstypen unterscheiden. So wurden zum einen von den Direktoren der verschiedenen Sammlungen Gemäldeverzeichnisse herausgegeben, die mit ihrem gut handhabbaren Kleinoktavformat primär für eine direkte Benutzung in den Ausstellungsräumen bestimmt waren. Zum anderen erschienen auf dem freien Buchmarkt umfangreiche Nachschlagewerke, die als „Catalogue raisonné“ den jeweiligen Sammlungsbestand in einen erweiterten kunsttheoretischen und historischen Bezugsrahmen einordneten. Diese beiden Publikationsgattungen differierten sowohl hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Autorschaft als auch ihrer spezifischen Funktionen und ihres adressierten Publikums. Sie stellten unabhängig voneinander zwei Wege dar, die Kunstsammlungen diskursiv zu erschließen.
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Penzel, Joachim, Der Betrachter ist im Text. Konversations- und Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1914, Münster 2007. Zu einzelnen Galeriepublikationen: Ketelsen, Thomas, Künstlerviten. Inventare. Kataloge. Drei Studien zur Geschichte der kunsthistorischen Praxis, Hamburg 1990; Roeseler-Friedenthal, Antoinette, „Katalog“, in: Ulrich Pfisterer (Hrsg.), Metzlers Lexikon Kunstwissenschaft. Idee. Methode. Begriffe, Stuttgart 2003, S. 164-169.
Joachim Penzel
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Das Galerieverzeichnis Bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert gehören Sammlungsverzeichnisse zum Vermittlungsstandard, den die einzelnen Galerien ihrem meist dem Adel und dem gebildeten Bürgertum angehörenden Publikum zur Verfügung stellten.4 Trotz eines leicht differierenden Aufbaus versuchten die meisten dieser Verzeichnisse, verschiedene Verwaltungs- und Vermittlungsfunktionen zu bündeln. (1) Sie dienten der amtlichen Registrierung des vorhandenen Sammlungsbestandes, und das meinte die umfassende Inventarisierung sämtlicher vorhandener Bilder. Zu diesem Zweck erhielt jedes Gemälde eine Bestandsnummer und wurde in schlagwortartiger Kürze mit Angabe des Meisternamens und der Bildgröße beschrieben, beispielsweise in Gerhard Joseph Karschs Düsseldorfer Galerieverzeichnis: „N. 35 ist das Contrafait von Rubens und seiner ersten Frau“. (2) Außerdem berücksichtige einzelnen Galerieverzeichnisse in ihrem listenartigen Aufbau die räumliche Verteilung der Gemälde in den jeweiligen Galeriesälen und an den einzelnen Schauwänden, so dass eine Art Ortsverzeichnis oder Zimmerinventar entstand. Durch diese Reproduktion der Raumordung innerhalb des Textes war das Auffinden der einzelnen Gemälde innerhalb der einzelnen Wandabschnitte durch das Publikum möglich. Die jeweilige Verknüpfung zwischen Text und Bild leisteten Inventarnummern, die an den Bilderrahmen angebracht waren. Als ein Ersatz für damals noch nicht gebräuchliche Bildbeschriftungen übernahm das bestandsabbildende Inventar zugleich die didaktische Aufgabe der Bestandserschließung. (3) Weiterhin erlaubten die schlagwortartig knappen Bildbeschreibungen, sämtliche Gemälde hinsichtlich ihres Urhebers zu identifizieren. Diese Angabe der Autorschaft besaß sowohl eine diskursive als auch eine didaktische Funktion. Der geschulte Kenner wurde durch die Ausweisung des Künstlernamens aufgefordert, die von den Galeriedirektoren vorgenommene Zuschreibung durch eine kritische Bildautopsie zu überprüfen, während der noch wenig erfahrene Liebhaber lernen konnte, bestimmte Stilmerkmale eines Bildes einem bestimmten Autor zuzuweisen. Der Künstlername fungierte dabei als Denotat eines individuellen Stils.
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Byß, Johann Rudolph, Verzeichniß der Gemählde auf der churf. Gallerie, Pommersfelden 1719; Karsch, Gerhard Joseph, Specification derer kostbarsten und unschätzbaren Gemählden […], Düsseldorf 1719; Oesterreich, Matthias, Beschreibung der Königlichen Bildergalleri und des Kabinets im Sans-Souci, Potsdam 1764; Riedel, Johann Anton / Wenzel, Christian Friedrich, Verzeichniß der Gemälde in der Churfürstlichen Gallerie in Dresden, Dresden 1765; anonym, Die Bildergallerie in München. Ein Handbuch für die Liebhaber und Kunstfreunde, München 1787.
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(4) Die Kurzbeschreibung eines Bildes in stenogrammartigen Wortgruppen und Sätzen half außerdem, das dargestellte Motiv ikonografisch zu decodieren, das heißt, die abgebildete Personen, Orte und Handlungen einem historischen, mythologischen oder religiösen Bezugsrahmen zuzuordnen. Diese Inhaltsvermittlung ging allerdings selten über das indexikalische Schema einer nüchternen Wer-Wo-Was-Angabe hinaus und rechnete mit Leser-Betrachtern, denen die dargestellten biblischen oder allegorischen Themen vertraut waren. Der „Catalogue raisonné“ In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen auf dem freien Buchmarkt verschiedene Publikationen über einzelne Gemäldegalerien, deren Umfang und Funktion über den der Verzeichnisse deutlich hinausging. Diesen, damals als „Catalogue raisonné“ bezeichneten Vermittlungspublikationen versuchten die einzelnen Kunstwerke der verschiedenen Sammlungen in den Kontext des formstilistischen, des moralisch ästhetischen und des kunstgeschichtlichen Wissens einzuordnen. Als typische Zeugnisse des Aufklärungszeitalters glichen diese zum Teil bis zu sechshundert Seiten umfassenden Bücher opulenten Nachschlagewerken, die als eine fachspezifische Enzyklopädie das damals verfügbare Wissen zur Malerei anschaulich – und das hieß mit direkten Werkbezügen – wiedergaben.5 Trotz zahlreicher Differenzen im detaillierten Aufbau finden sich in den verschiedenen urteilenden Katalogen ähnliche inhaltliche und methodische Bausteine: (1) So versuchten die einzelnen Autoren in zum Teil sehr ausführlichen Einleitungskapiteln die Grundsätze der qualitätsästhetischen Beurteilungslehre von Malerei, wie sie seit Mitte des 17. Jahrhunderts im Kontext der Pariser Académie Royale entwickelt worden war, zusammenzufassen. Der Hauptakzent lag dabei auf einer Fokussierung technischer und formaler Eigenschaften des Bildes, in deren Konsequenz eine Zerlegung der Werkeinheit in Einzelaspekte wie Komposition, Zeichnung, Farbe,
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Lépicie, Bernard, Catalogue raisonné des tableaux du Roy avec un abrégé de la vie des peintres, Paris 1752; Picage, Nicolas de, La Galerie électorale de Duesseldorff ou Catalogue Raisonné et figuré de se tableaux, Düsseldorf 1778; Lehninger, Johann Anton, Abrégé de la vie des peintres, dont les tableaux composent la galerie électorale de Dresde, Dresden 1782; Rittershausen, Freiherr Johann Anton von, Betrachtungen über die kaiserlich-königliche Bildergalerie zu Wien, Wien 1787; ders., Die vornehmsten Merkwürdigkeiten der Residenzstadt München, München 1787; Puhlmann, Johann Gottlieb, Beschreibung der Gemählde, welche sich in der Bildergallerie, den daranstoßenden Zimmern, und dem weißen Saal im Königlichen Schlosse zu Berlin befinden, Berlin 1790; Mannlich, Christian von, Beschreibung der Churpfalzbayerischen Gemälde-Sammlung zu München und zu Schleißheim, Bd. 1 und 2, Münschen 1805.
Joachim Penzel
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Hell-Dunkel und Ausdruck stattfand. Eine derartige formzentrierte Analyse sollte einerseits dazu beitragen, den ästhetischen Wert eines Gemäldes zu beurteilen und andererseits ermöglichen, anhand der formstilistischen Merkmale die Handschrift eines Künstlers und damit die Autorschaft eines Kunstwerkes zu identifizieren. (2) Außerdem waren die Autoren der einzelnen urteilenden Kataloge bemüht, ihren Lesern das erforderliche historische Bezugswissen zu den Gemälden zu vermitteln. In einem ersten Schritt erhielt man eine kurze kunstgeschichtliche Überblicksdarstellungen über die Entwicklung und den Stil der einzelnen nationalen und lokalen Malerschulen; und in einem zweiten Schritt wurde diese allgemeinen schulstilistischen Grundsätze durch kurze biografische Exkurse zu den wichtigsten Künstlern präzisiert. Dabei vollzog sich in den biografischen Passagen dieser urteilenden Kataloge in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein methodischer Wandel von der anekdotisch narrativen Darstellungen von Lebensereignissen zur Synthetisierung stilistischer Erkennungszeichen der Werke eines Künstlers. Die aus der älteren Vitenliteratur stammende Künstlerbiografik wurde in direktem Kontakt mit den Kunstwerken in eine individual- und schulstilistische Kunstgeschichte transformiert.6 (3) In einem letzten didaktischen Schritt wurde das zunächst abstrakt vermittelte formstilistische und kunstgeschichtliche Bezugswissen anhand der in der jeweiligen Sammlung vorhandenen Gemälde exemplifiziert, so dass der Leser über einen deduktiven Weg von der Systematik der Malerei nun zum Einzelwerk und damit von der abstrakten Wissensvermittlung zur praktischen Anschauung geführt wurde. Der Liebhaber lernte dabei nicht nur, die Ausstellungsstücke in einer formanalytischen und schulstilistischen Perspektive zu betrachten, sondern übte zugleich die richtige Anwendung einer fachgerechten Terminologie bei der Beurteilung von Gemälden. In diesem Sinne verknüpfte die im Konzept des „Catalogue raisonné“ intendierte Wissensvermittlung eine praxisorientierte Betrachterschulung mit einer fachgerechten Sprachschulung. Mit dieser Mischung aus kunsttheoretisch-kunstgeschichtlichem Abriss und Werkbesprechung schien es möglich, dass – wie es Johann Gottfried Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste unter dem Stichwort „Kenner“ formuliert hatte – der „Geschmack allmählich feiner, und aus einem bloßen Liebhaber zuletzt ein Kenner werde“.7 Im Jahr 1783 erschien Christian von Mechels Verzeichnis der Kaiserlich Königlichen Bildergalerie in Wien, in dem der Vermittlungsschwerpunkt auf
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Dazu Penzel, Der Betrachter ist im Text, S. 120-124 und 126 ff. Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste, ND der 2. Aufl. von 1792, Hildesheim 1994, Bd. 3, S. 13.
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kunstgeschichtliche Probleme verlagert wurde. Neben einer komprimierten Sammlungsgeschichte der Wiener Galerie, die einen Provenienznachweis der wichtigsten Sammlungsstücke gleichkam, führte Mechel sämtliche objektive Daten der Gemälde wie Inschriften, Wappen, Signaturen auf, wies auf schriftliche Quellen und Reproduktionen hin und trug mit dieser Ansammlung von positiven Gegenstandswissen über das Einzelwerk maßgeblich zur Transformation des „Catalogue raisonné“ in einen wissenschaftlichen Katalog bei, der nun verstärkt auf den Fachdiskurs der Kenner bezogen war. Der Liebhaber lernte mit Mechels Verzeichnis in der Hand die ausgestellten Gemälde nun einer eindeutig historischen und schulstilistischen Betrachtung zu unterziehen. Dieses spezifische didaktische Anliegen entsprach in besonderer Weise den Ordnungsprinzipien der Belvedere-Galerie, die als erste nach stilgeschichtlichen Prinzipien eingerichtete Galerie Europas den Prozess der Verwissenschaftlichung der Kunstvermittlung forcierte. Das Galerieverzeichnisse und der „Catalogue raisonné“ stellen nicht nur zwei spezifische historische Formen der Popularisierung von kunstgeschichtlichem, formaltechnischem und ästhetischem Wissen der Malerei dar, sondern liefern zugleich ein Zeugnis dafür, dass jede visuelle Kultur nicht außerhalb und unabhängig einer spezifischen Diskurskultur – und das heißt im Konkreten einer spezifischen Lese- und Konversationskultur – begriffen werden kann. In Gestalt von Verzeichnissen und Katalogen drängte der Text zwischen die Kunstwerke und die Augen der Betrachter, was im extremen Fall dazu führte, dass die Originale zu Quasiillustrationen theoretischer Argumentationen umgewertet wurden. Mit dem Buch in der Hand musste der Galerieraum zuerst als ein Raum des Wissens und erst danach als ein Raum der Anschauung erscheinen. Der historische Betrachter entpuppt sich auch als ein engagierter Leser.
Rechtsaufklärung und Kriminalliteratur Alexander Košenina Kein geringer Gewinn wäre es für die Wahrheit, wenn bessere Schriftsteller sich herablassen möchten, den Schlechten die Kunstgriffe abzusehen, wodurch sie sich Leser erwerben, und zum Vortheil der guten Sache davon Gebrauch machen.1
Diese Empfehlung Schillers findet sich in seiner Vorrede zu einer Auswahlübersetzung von François Gayot de Pitavals Merkwürdigen Rechtsfällen (1792). Dies ist die bis dahin erfolgreichste Sammlung von Verbrechensdokumentationen für die juristische Ausbildung wie zur bloßen Unterhaltung des Publikums. Die ‚gute Sache‘ ist dabei das progressive Rechtsverständnis der Aufklärung, orientiert etwa an Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene (1764). Beccaria fordert darin bis heute in vielen Ländern nicht erreichte Standards für ein humanes Rechtssystem: Dazu gehören die uneingeschränkte Abschaffung der Todesstrafe, das Verbot von Folter, die Entwicklung eines differenzierten und angemessenen Strafkodex sowie der Ruf nach einem fairen und strikt geregelten Umgang mit Angeklagten und Untersuchungshäftlingen wie überhaupt nach einer transparenten Prozessführung unter Einbeziehung von Verteidigern und Geschworenen. Im noch jungen Genre der Kriminalerzählung wittert Schiller eine ausgezeichnete Chance, die ‚gute Sache‘ aufgeklärten Wissens über das Recht zu verbreiten. Die ästhetische Strategie besteht darin, die beiden seit Horaz differenzierten Funktionen der Literatur – zu belehren (prodesse/docere) und zu unterhalten (delectare) – aufs engste miteinander zu verflechten. Das Ziel ist die Überwindung des allzu erzieherischen, moralisierenden, besserwisserischen Gestus’ der älteren Aufklärung in Richtung einer möglichst vielen Lesern zugänglichen, gefälligen Literatur, die kaum wahrnehmbar von didaktischen Absichten durchdrungen ist. Statt zu Belehren oder zu Predigen, gilt es – mit Herders emphatischen Begriffen2 – zu Bilden und zwar unter _____________ 1 2
Tekolf, Oliver (Hrsg.), Schillers Pitaval, Frankfurt am Main 2005, S. 76. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit nachgestellter Seitenzahl zitiert. Herder, Johann Gottfried, „Problem: wie die Philosophie zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann“ [1765], in: ders., Sämtliche Werke, Bernhard Suphan (Hrsg.), Bd. 32, Berlin 1899, bes. S. 54-56.
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starker intellektueller und emotionaler Beteiligung des Publikums. In Verbrechensdarstellungen à la Pitaval erblickt man – so argumentiert Schiller – „den Menschen in den verwickeltesten Lagen, welche die ganze Erwartung spannen, und deren Auflösung der Divinationsgabe des Lesers eine angenehme Beschäftigung gibt.“ (S. 76) Das Publikum schärft so das Rechtsempfinden und den Blick für die Psychologie des Verbrechens, übt sich im Verstehen des Täters und der Einschätzung seiner Taten – kurzum, es übernimmt vom auktorialen Erzähler das Privileg, „selbst zu Gericht zu sizen“ (S. 9), also selbst zu denken und zu urteilen. So lautet Schillers Plädoyer in der Vorrede zur eigenen exemplarischen Kriminalerzählung Verbrecher aus Infamie (1786). Es kann als prägnantes Programm für die Verbindung von Rechtsaufklärung und Kriminalliteratur gelten, die zur Ausbildung einer Rechtskultur in der Frühen Neuzeit beiträgt.3 Im Folgenden soll anhand von fünf skizzierten Themenfeldern dafür geworben werden, diesen bisher in seiner historischen und geografischen Verbreitung stark unterschätzten Zusammenhang künftig eingehender zu erschließen. Die Stichworte für die Zwischentitel stammen jeweils von Schiller als einem der prominentesten, wenn auch keineswegs frühesten Vertreter dieser Bewegung. 1. Der von Pitaval ausgehende Plan, „allmählig diese Sammlung zu einem vollständigen Magazin für diese Gattung zu erheben“ (78) Pitavals Causes célèbres et intéressantes (1735-43) steht als Kollektion authentischer Rechtsfälle in der weitaus älteren europäischen Tradition der Histoires tragiques. Dieser Titel von François Rosset aus dem Jahre 1605 markiert die Geburt eben dieses dokumentarischen Genres, das den Begriff des Tragischen im sensationellen Sinne erschreckender Begebenheiten verwendet. Die Darstellung der Fälle changiert zwischen Faktum und Fiktion, zwischen historisch verbürgten Tatbeständen und deren literarischer Vermittlung. Ihr Ziel ist eine Kombination aus Aufklärung über das Rechtswesen und spannender Fesselung des Publikums. Beispiele solcher weit verbreiteten Magazine sind Martin Zeilers Theatrum tragicum (1628), Georg Philipp Harsdörffers Großer Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (1649), Johann Christoph Beers Neu-eröffnete Trauer-Bühne (1708-31) oder Alexander Smith’ The History of the Most Noted Highway-men, Foot-pads, House-breakers (1714). Die Fallgeschichten wandern über Sprachgrenzen hinweg von Sammlung zu Sammlung, sie werden übersetzt, regionalen Ortsnamen _____________ 3
Vgl. Rudolf, Harriet, „Rechtskultur in der Frühen Neuzeit. Perspektiven und Erkenntnispotentiale eines modischen Begriffs“, in: Historische Zeitschrift, 278/2004, S. 347-374.
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und Umständen angepasst und aktualisiert. Erst mit dem von Schiller geforderten „vollständigen Magazin“, in das auch illustrierte Flugschriften und Einblattdrucke aufzunehmen wären, könnten die Überlieferungswege und die literarischen Bearbeitungsstufen rekonstruiert werden. Für die Literaturwissenschaft wäre das ein einzigartiger Quellen- und Motivfundus, denn nicht nur bei Goethe, Moritz, Schiller, Kleist, E. T. A. Hoffmann oder Büchner basieren die meisten Verbrechensgeschichten auf Vorlagen aus diesem Umfeld. Größere Aufmerksamkeit verdienen dabei vor allem Verfasser populärer Kriminalerzählungen wie August Gottlieb Meißner, Christian Heinrich Spieß oder Karl Friedrich Müchler4, die als ‚Zwischenhändler‘ zwischen Gerichtsakten bzw. der aktuellen Berichterstattung und der ‚hohen‘ Literatur fungieren. 2. „Vorzug der historischen Wahrheit“ (76) Nicht nur Theoretiker des Erhabenen wie Edmund Burke wissen im 18. Jahrhundert um die erhöhte Attraktivität, die von der Realität, etwa einer Hinrichtung, gegenüber bloßer Nachahmung, etwa im Theater, ausgeht. Kriminalliteratur nutzt genau diesen Effekt: Schiller spricht vom „allgemeinen Hang der Menschen zu leidenschaftlichen und verwickelten Situationen“ (75), besonders wenn sie wahr und authentisch sind. Realitätsversicherungen wie „Eine wahre Geschichte“ (7) – so der Untertitel zu seiner tatsächlich auf Fakten basierenden Erzählung – gehören zum Standardrepertoire des neuen Genres, selbst wenn sie jeder Grundlage entbehren. Meißner versichert, seine Fälle ausschließlich aus „handschriftlicher oder mündlicher Mittheilung, aus eigener Erfahrung oder aus Akten hergenommen“ zu haben.5 Aber nicht nur der Fall, sondern auch rechtshistorische Details gehören zum Wirklichkeitsgehalt dieser Texte. In Schillers Verbrecher aus Infamie wird beispielsweise auf neue Edikte angespielt (12), die das Jagen auf fürstlichen Gütern plötzlich unter Strafe stellen und damit überhaupt erst das Phänomen des Wilddiebstahls hervorbringen, das die Bauern nunmehr als rebellierende Mutprobe verstehen, die Landesherren hingegen als strafrechtliches Delikt. Die psychologische Schlüssigkeit von Christian Wolfs Verbrechenskarriere, die von diesem Kavaliersdelikt zum Mord aus Trotz und Eifersucht führt, erschließt sich dem Leser nur, wenn er solche rechtshistorischen Details versteht. Um das sicherzustellen, bieten die neuen Kriminalautoren gerne didaktische Hilfestellungen in Fußnoten, in denen _____________ 4 5
Vgl. die Textsammlung von: Dainat, Holger (Hrsg.), Kriminalgeschichten aus dem 18. Jahrhundert, Bielefeld 1990. Meißner, August Gottlieb, Ausgewählte Kriminalgeschichten, Alexander Košenina (Hrsg.), St. Ingbert 2003, S. 8 (Vorrede von 1796).
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sie die bereits erreichten Reformen der Aufklärung gegen die inhumane Vergangenheit ausspielen. Angesichts der Folterung einer Unschuldigen zur Erzwingung eines Geständnisses ruft etwa der Erzähler bei Spieß empört aus: „Guter Gott, ich danke dir inbrünstig, daß ich in einem Zeitalter lebe, wo Richter der Menschen auch Menschen seyn müssen“; an anderer Stelle lobt er ein „weises Gesez“, nach dem die Zimmer einer praktizierenden Hebamme als Tabuzone für Kriminalermittlungen gelten.6 Auch Müchler, der ebenfalls viel in Anmerkungen kommentiert, feiert in der programmatischen „Einleitung“ zu seinen Kriminalgeschichten (1792) den „Sieg der Vernunft“: Unsre Gesetze sind freilich milder geworden, eine wohlthätige Philosophie hat auch hier ihr erwärmendes Licht verbreitet und die Grausamkeiten verfinsterter Jahrhunderte gemildert oder ganz vertilgt. Wir haben Foltern und Hexenproben abgeschafft, wir haben die Zahl der Martern verringert, womit wir die unglücklichen Verbrecher dem Tode opferten.7
3. Der „Kriminalrichter [ist] im Stande, tiefere Blicke in das Menschen-Herz zu thun“ (77) Der Rückgriff auf authentische Kriminalfälle ist nicht nur aus Sicht sensationeller Wirkungsstrategie bedeutsam. Vielmehr kommt die junge Liaison zwischen Jurisprudenz und Literatur ohne die aufstrebende empirische Psychologie nicht aus. Der Grund dafür ist wiederum in der Rechtsgeschichte zu suchen. Die Naturrechtler, namentlich Samuel Pufendorf, beginnen seit Ende des 17. Jahrhunderts eine moralische bzw. psychologische Zuschreibung einer Straftat (imputatio moralis) von der beschränkten Perspektive auf die kodifizierten Gesetze (imputatio juridica) zu unterscheiden und abzutrennen. Ein zweifelsfreier Tatbestand mag demnach eine eingehendere Untersuchung der individuellen und sozialen Umstände des Täters verdienen, die etwa im Falle geistiger Unzurechnungsfähigkeit zu Schuldentlastung führen kann. Insgesamt kommt es so allmählich zu einer Verlagerung vom Tat- zum Täterstrafrecht, von der ‚Tatschuld‘ zur ‚Charakterschuld‘. Schiller fordert entsprechend, man solle mit dem Täter „bekannt werden, eh’ er handelt“, um „ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen [zu] sehen“ (9). Meißner, Mitbegründer des neuen Genres der Kriminalgeschichte, verlangt übereinstimmend, dass man „nie den großen Unterschied zwischen gesezlicher und moralischer Zurechnung“ vergessen und stets „zwischen dem Richter, der nach Thaten, und _____________ 6 7
Vgl. Spieß, Christian Heinrich, Biographien der Selbstmörder, Alexander Košenina (Hrsg.), Göttingen 2005, S. 82 und 111. Müchler, Karl Friedrich, Kriminalgeschichten. Aus gerichtlichen Akten gezogen, Berlin 1792, S. 17f.
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demjenigen der nach dem Blick ins Innerste des Herzens urtheilt“8, unterscheiden solle. Damit gewinnt die Kriminalliteratur über die unterhaltende Rechtsaufklärung hinaus zunehmend auch als Quelle für die Anthropologie an Bedeutung. Die Menschennatur wird von ihren Extremen her erforscht: Schiller entdeckt dafür in „Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten – den Sektionsberichten des Lasters“ (7) ungeheuer reiches Material, Moritz sucht Falldarstellungen über „die Geschichte der Missetäter und der Selbstmörder“ für sein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde9, und Müchler versteht seine Kriminalgeschichten als „Belege einer philosophischen Theorie über den Menschen“.10 Es gilt also „Rechtskenntnisse“ (77) und – im Sinne der imputatio moralis – untrennbar damit verknüpfte „tiefere Blicke in das Menschenherz“ (77) erzählerisch zu vermitteln, um „das Nachdenken der Leser auf würdige Zwecke zu richten“ (76). 4. „Die Unterhaltung, welche diese Rechtsfälle schon durch ihren Inhalt gewähren, wird bei vielen noch mehr durch die Behandlung erhöht.“ (77) Die erfolgreiche Popularisierung von Wissen hängt von den eingesetzten Medien und den Techniken der Darstellung ab. Bereits im früheren Stadium der Rechtskollektion machen sich Fallsammler Gedanken darüber, wo und wie das Material am wirksamsten zu präsentieren sei. Pitaval verteidigt beispielsweise ausdrücklich eine literarische Bearbeitung der Fälle gegenüber der vertrackten juristischen Schreibart, was in späteren Ausgaben in der Formel „arranger les faits“ aufgeht. Die ‚schnellen‘ Medien Flugblatt und Zeitung sind – zumal wenn sie illustriert sind – jeder Zeitschriftenund Buchpublikation überlegen. Sie sind fassbarer, billiger, leichter zu verbreiten und an ein größeres Publikum adressiert. Gleiches gilt für Kupferstiche, die etwa im Falle von William Hogarth mit durchschnittlich einem Schilling pro Blatt nicht billig waren, von anderen Stechern aber zu günstigen Preisen kopiert und imitiert wurden. Gerade im Bereich der Rechtsaufklärung waren solche Drucke von großem Einfluss. Den Bildzyklus Industry and Idleness (1747) komponiert Hogarth beispielsweise eigens für den Gebrauch und die Erziehung der Jugend. Die zwölf Blätter handeln von den gegenläufigen Lebenswegen zweier Lehrlinge aus einer Weberei – dem Aufstieg des fleißigen Francis Goodchild zum Londoner Ratsherrn und Bürgermeister und dem Niedergang des faulen Tom Idle, _____________ 8 9 10
Meißner, Ausgewählte Kriminalgeschichten, S. 10. Moritz, Karl Philipp, „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde“ [1782], in: ders., Werke, Heide Hollmer/Albert Meier (Hrsg.), Bd. 1, Frankfurt am Main 1999, S. 796. Müchler, Karl Friedrich, (Hrsg.), Merkwüdige Kriminalgeschichten, Berlin 1812, S. III.
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der als Verbrecher von seinem ehemaligen Gefährten in einer Gerichtsszene verurteilt und schließlich hingerichtet wird. Mit Tom Rakewell in The Rake’s Progress (1734) oder mit Tom Nero in The Four Stages of Cruelty (1751) geht es in ähnlicher Weise bergab, der erste findet sich im Gefängnis und schließlich im Irrenhaus Bedlam wieder, den zweiten sieht man in der letzten Szene auf dem Seziertisch.11 Auch in der Literatur hängt der Unterhaltungs- und damit der Aufklärungswert entscheidend von dem erregten Interesse ab. Zur Erzeugung von Spannung empfiehlt Schiller, „die lezte Entwickelung zu verstecken und dadurch die Erwartung aufs höchste zu treiben“ (77). Im Unterschied zum juristischen Tatbestandsprotokoll, der so genannten „Geschichtserzählung“ (77) oder Species facti, kommt es in der Kriminalgeschichte auf Verzögerung und Aussparung an, um die Auflösung nicht vorwegzunehmen. Der Leser möchte „das Innerste der Gedanken“ eines Verbrechers und „das versteckteste Gewebe der Bosheit“ (77) verstehen, die Tat gleichsam mit ihm beschließen und ausführen. Für den Schriftsteller bedeutet das, gegebene Gerichtsakten, Verhörprotokolle, Geständnisse so umzuschreiben und neu zu arrangieren, dass die Tatmotivation, das Verbrechen und die Kriminalermittlungen zu einer Handlungsdramaturgie verschmelzen. Ebenso wichtig ist der Einsatz von literarischen Techniken wie erlebter Rede, personaler Perspektive, Zeitraffer oder von eingeschalteten Briefen und Dialogen. Im Gegensatz zur auktorialen Erzählhaltung kann so Unmittelbarkeit erzeugt und dem Delinquenten eine individuelle Stimme verliehen werden, um so die Verbrecherseele von innen darzustellen und auszudrücken (significatio), statt lediglich von außen zu schildern (demonstratio). Meißner betont die unangetastete Ursprünglichkeit seiner wahren Geschichten, räumt aber gleichwohl ein: Daß ich zuweilen unter mehrern Vermuthungen die Wahrscheinlichste wählte; daß ich kleine Lücken, die fast jeder mündlichen Ueberlieferung anhängen, durch unmerkliche Uebergänge verband; dies, hof’ ich, wird man keine Verfälschung nennen.12
Ganz ähnlich annonciert 1792 Müchler seine Texte als „Resultat einer Menge einzelner Fakta, deren Wahrheit nicht abgeleugnet werden kann“; und es bedarf, so fügt er hinzu, keines fremden Schmucks, um das Mitleid gefühlvoller Herzen rege zu machen und den unpartheiischen Leser von der Wahrheit dieser flüchtigen und für manchen vielleicht sehr unwichtigen Bemerkungen zu überzeugen.13
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Vgl. den Katalogbeitrag von: Riding, Christine, „Crime and Punishment“, in: dies./Mark Hallett, Hogarth, London 2006, S. 181-195. Meißner, Ausgewählte Kriminalgeschichten, S. 10. Müchler, Kriminalgeschichten, S. 19.
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5. „Gewinn für Menschenkenntniß und Menschenbehandlung“ (77) Nicht nur Schiller verspricht sich von der juristischen und psychologischen Introspektion durch Literatur einen gewaltigen Aufklärungseffekt. Das Zugeständnis, dass dieses Ziel vielleicht doch eher über „Lesebibliotheken“ (75) und die von schlechten Schriftstellern erlernten „Kunstgriffe“ (76) als durch theoretische Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) oder Bücher wie Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) zu erreichen wäre, zeugt von unerwartetem Realismus. Weder passt es zum Bild des idealistischen Philosophen noch zum elitären Kampf der Weimarer Klassiker gegen „nivellierende Naturen“.14 Gleichwohl gibt es diese Seitenpfade, die auch von der offiziellen Literaturgeschichte gerne verschüttet gehalten wurden. Selbst große Bibliotheken haben Scharteken à la Meißner, Müchler oder Spieß nur sporadisch gesammelt. Tatsächlich waren es aber eben solche Autoren, welche die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben.15 Die hier angedeuteten Befunde zeigen, dass der von Reinhart Koselleck oder Jürgen Habermas beschriebene Selbstbestimmungsprozess der bürgerlichen Öffentlichkeit sich nicht zuletzt in den Niederungen der Unterhaltungsliteratur abspielte und dort breitere Wirksamkeit gewann. Im Falle der Kriminalliteratur wurde hier nicht nur progressives Rechtswissen vermittelt, sondern der Leser unaufdringlich zum Gebrauch seines eigenen Verstandes angestiftet und das juristische wie psychologische Urteilsvermögen geschult. Zu denken ist dieser Zusammenhang nur als ein weitreichendes Zusammenspiel europäischer Literaturen des 17. und 18. Jahrhunderts mit Fortschritten im Bereich der Jurisprudenz und Anthropologie. Gegenüber diesem gewaltigen Vorhaben steckt die Forschung noch in den Anfängen.
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Vgl. Seifert, Siegfried, „Goethe/Schiller und die ‚nivellierenden Naturen‘. Literarische Diskurse im ‚klassischen Weimar‘“, in: Gert Theile (Hrsg.), Das Schöne und das Triviale, München 2003, S. 79-92. So der Titel eines Rundfunkstücks (1932) von: Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, Bd. 4.2, Tillman Rexroth (Hrsg.), Frankfurt am Main 1972, S. 641-670. Eine Auswertung von 51 Autobiografien zeigt allerdings, dass solche Lektüren nicht gerne zugegeben werden; vgl. Korte, Hermann, „Meine Leserei war maßlos“. Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiografien seit 1800, Göttingen 2007.
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Rechtsaufklärung und Kriminalliteratur
Weiterführende Literaturhinweise Dainat, Holger, „Der unglückliche Mörder. Zur Kriminalgeschichte der deutschen Spätaufklärung“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 107/1988, S. 517-541. Halisch, Alexander, „Barocke Kriminalgeschichtensammlungen“, in: Simpliciana, 21/1999, S. 105-124. Košenina, Alexander, „Ratlose Schwestern der Marquise von O.: Rätselhafte Schwangerschaften in populären Fallgeschichten – von Pitaval bis Spieß“, in: KleistJahrbuch, 2006, S. 45-59. — „Recht – gefällig. Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung zwischen Dokumentation und Unterhaltung“, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 15/2005, S. 28-47. — „Schiller und die Tradition der (kriminal)psychologischen Fallgeschichte bei Goethe, Meißner, Moritz und Spieß“, in: Alice Stašková (Hrsg.), Friedrich Schiller und Europa: Ästhetik, Politik, Geschichte, Heidelberg 2007, S. 119-139. — „Tiefere Blicke in das Menschenherz“: Schiller und Pitaval“, in: GermanischRomanische Monatsschrift, 55/2005, S. 383-395. Kramer, Sven, „Ästhetik des Wegsehens. Tendenzen der Folterdarstellung in der deutschsprachigen Prosaliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts“, in: Helmut C. Jacobs (Hrsg.), Gegen Folter und Todesstrafe. Aufklärerischer Diskurs und europäische Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main, Berlin u. a. 2007, S. 131-152. Kronauer, Ulrich / Zeuch, Ulrike (Hrsg.), „Schwerpunkt: Recht und Literatur um 1800“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 31/2006, 1, S. 77-245; 31/2006, 2, S. 90-239. Lüderssen, Klaus, „Daß nicht der Nutzen des Staats Euch als Gerechtigkeit erscheine“. Schiller und das Recht, Frankfurt am Main, Leipzig 2005. Lüsebrink, Hans-Jürgen, Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Literarische Formen, soziale Funktionen und Wissenskonstituenten im Zeitalter der Aufklärung, München, Wien 1983. Meyer-Krentler, Eckhardt, „‚Die verkaufte Braut‘: Juristische und literarische Wirklichkeitssicht im 18. und frühen 19. Jahrhundert“, in: Lessing Yearbook, 16/1984, S. 95-123. Pethes, Nicolas, „Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur“, in: Gereon Blaseio u. a. (Hrsg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 63-92. Schönert, Jörg (Hrsg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991. — Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens: Deutschland, England und Frankreich, 1850-1880, Tübingen 1983. Siebenpfeiffer, Hania, „Narratio crimen: Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse SchauPlatz Jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur“, in: Harsdörffer-Studien, 2006, S. 157-176. Srebnick, Amy Gilman / Lévy, René (Hrsg.), Crime and Culture. An Historical Perspective, London, Burlington/VT 2005. Willems, Marianne, „Der Verbrecher als Mensch. Zur Herkunft anthropologischer Deutungsmuster der Kriminalgeschichte des 18. Jahrhunderts“, in: Aufklärung, 14/2002, S. 23-48.
IX. DAS ANDERE WISSEN: TRAUM, WAHNSINN, GEISTERSEHEREI Einführung von Alexander Košenina Der Wetzstein der aufgeklärten Vernunft war das Dunkle und Unbegreifliche. Es potenzierte sich mit dem rasanten Zuwachs des Wissens in allen möglichen Disziplinen. Denn mit jeder neuen Einsicht ergaben sich weitere ungelöste Fragen, die Grenzüberschreitung zum noch Unbekannten wurde mehr als je zuvor zur eigentlichen Herausforderung. Das gilt besonders für die innere Natur des Menschen, das „wahre innere Afrika“ der Epoche (Jean Paul). Diesem Bereich der neu entstehenden Anthropologie und empirischen Psychologie ist vorliegende Sektion vor allem gewidmet. Die vorgestellten Diskussionsbeiträge lassen sich in folgende zwei Hauptgruppen unterteilen: Drei Vorträge gelten ‚unteren Vermögen‘ wie Einbildungskraft, Laune und Spontaneität aus der Perspektive der Begriffsgeschichte oder historischen Semantik. Zwei weitere Vorlagen verfolgen systematisch Phänomene der Geisterseherei sowie der Hysterie, die sich auf Karl Philipp Moritz als dem Vater der Erfahrungsseelenkunde konzentrieren. Ein weiterer Beitrag befasst sich mit einem kuriosen Traumbuch, das der modernen Rationalität ein ‚anderes Wissen‘ entgegenhält. Diesen sechs Skizzen ist die ‚andere Logik‘ Alexander Gottlieb Baumgartens in gewisser Weise historisch wie systematisch übergeordnet. Frauke Berndt stellt darin Baumgarten als Vordenker eines nicht-begrifflichen, symbolischen Denkens und Darstellens im Sinne Ernst Cassirers vor. Tatsächlich bedeutet Baumgartens Entdeckung des Seelengrundes (fundus animae) auf der Nacht- und Schattenseite der Vernunft eine Revolution für die Philosophie der Kunst: Dort sind nämlich nicht nur die sinnlichen Wahrnehmungen als Basis der Ästhetik sowie alle unteren, vor-vernünftigen, also psychologischen Seelenvermögen (facultates inferiores) verankert, sondern sie gehorchen ihrerseits einer eigenen Logik, die der Vernunft analog ist (analogon rationis). Als Metapoetik oder poesis des ‚anderen Wissens‘, so Berndts These, bildet sie den Nährboden für Kreativität. Auf eben dieser Grundlage stellt Christiane Frey die Laune als eine bislang unterschätzte Disposition vor. Diese unwillkürliche Äußerung einer nicht bewussten, künstlerischen Kraft ist im 18. Jahrhundert erstaunlich
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IX. Das andere Wissen: Traum, Wahnsinn, Geisterseherei. Einführung
präsent. Die Laune ist so unkontrollierbar wie der Trieb, dabei aber auf keinen Zweck gerichtet und von außen nicht erregbar. Wie Witz oder ingenium zählt sie zu den produktiven Seelenvermögen, die entscheidende Voraussetzungen für Kunst und Genie bilden. Verwandte Kategorien sind Traum, Einbildungskraft und Spontaneität. Letztere entwickelt Matthias Rothe aus der zeitgenössischen Diskussion als ungeplante und plötzlich wirkende Selbsttätigkeit der Seele, die zu impulsiven oder instinktiven Handlungen veranlasst, für die kein ausdrücklicher Wille oder klarer Plan erkennbar ist. Im Unterschied zur Spontaneität ist die Einbildungskraft in den letzten Jahren eingehend behandelt worden. Kaum beachtet wurde bisher aber die kulturanthropologische Frage von Lucas Marco Gisi, welche Rolle die Einbildungskraft in außereuropäischen Kulturen spielt. Reiseberichte über Kamtschatka oder Grönland, die eine lebhafte Einbildungskraft der Einwohner dokumentiert, stellt vorhandene Deutungsmodelle wie die Klimatheorie radikal in Frage. Davon ausgehend wurde in der Diskussion erörtert, ob solche relativierenden Befunde für die Forschung nicht eine engere Verflechtung der philosophisch-medizinischen mit der völkerkundlichen Anthropologie – also von Psychologie und Ethnologie – nahelegen würde. Daran lässt sich die Vorlage von Albert Schirrmeister anschließen, der mit dem unbekannten Traumbuch L’art de se rendre heureux par les songes (1746) ein merkwürdiges Bindeglied zwischen diesen anthropologischen Feldern präsentiert. Denn dieser anonyme Text ist eine seltsame Mischung aus literarischen Gattungen und Traditionen: Ratschläge zur Deutung oder pharmakologischen Manipulation von Träumen verbinden sich mit exotischen Traumberichten, die auf wissenschaftliche Expeditionsreisen zurückgehen sollen. Damit tritt der aufgeklärten Rationalität eine exotische Sphäre des anderen Wissens entgegen, die man in Analogie zum literarischen Entwurf von Gegenwelten vielleicht als psychologische Utopie bezeichnen könnte. Zu diesen Spielarten unterer Elementarvermögen kommen die beiden um Moritz zentrierten Fallstudien: Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde erschließt unterschiedliche Phänomene des anderen Wissens und damit weitere Bereiche von Baumgartens campus obscuritatis oder regnum tenebrarum. Bei Yvonne Wübben geht es um eine Vermittlung zwischen psychologischanthropologischen und naturmystisch-hermetischen Wissensbeständen, um der unter Pathologieverdacht geratenen Geisterseherei gerecht zu werden. Wie produktiv umgekehrt bloße Einbildungen zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden können, diskutiert Robert S. Leventhal anhand der legendären Heilung von Moritz’ Hypochondrie durch den Arzt Marcus Herz. Dieser erweckt den sich für sterbenskrank haltenden Patienten durch die Ankündigung seines unmittelbar bevorstehenden Todes zum Leben. Dieser frühe Fall männlicher Hysterie wird – so Leventhal – durch psychologische
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Einfühlung, sorgfältige Analyse von Umständen und eine raffinierte erzählerisch-fiktionale Strategie gelöst. Während die vorangehenden Vorlagen sich alle mehr oder weniger mit dem verborgenen und dunklen Wissen über den inneren Menschen beschäftigen, wendet Ralf Klausnitzer sich einer hermetischen Reaktion auf die rationalistische Entzauberung der Welt zu: Saint-Martins Des Erreurs et de la vérité (1775) ist eine ebenso verbreitete wie umstrittene esoterische Schrift, die gegenaufklärerische Bedürfnisse nach Mystizismus und Geheimwesen bedient und in eine politische Theologie konservativer Freimaurerei umschlägt. Die acht Beiträge deuten insgesamt in eine Richtung, in der das Problem des anderen Wissens wie auch des Nichtwissens weiter zu verfolgen wäre. Offenbar liegt es häufig jenseits der Grenzen verborgen, die sich die Aufklärung selbst steckt. Das noch nicht Erklärbare oder das Unbekannte ist deshalb längst noch nicht das Falsche, die Kulturen des Wissens sind wohl nur mit diesem Blick über ihre eigenen Begrenzungen hinaus sinnvoll zu vermessen. Nicht erst Horkheimer und Adorno benennen in der Dialektik der Aufklärung (1944) Gefahren restloser Entzauberung der Welt: „die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“1 Schon Friedrich Schlegel warnt in seinem Essay „Über die Unverständlichkeit“ (1800): „Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde.“2 Wenn von dieser restlos erklärbaren Welt nicht sogar neue Furcht ausginge (wie Horkheimer/Adorno und Schlegel meinen), so würde in ihr doch wohl Langeweile drohen.
_____________ 1 2
Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1979, S. 7. Schlegel, Friedrich, Kritische Schriften, Wolfdietrich Rasch (Hrsg.), München 1958, S. 349.
Symbolisches Wissen. Zur Ökonomie der ‚anderen‘ Logik bei Alexander Gottlieb Baumgarten Frauke Berndt In dem Augenblick, in dem Ernst Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen zwischen 1923 und 1929 alle Erkenntnis im Reich der Erscheinungen verortet und als Erfahrungswissen von einer medialen Form der Vermittlung abhängig macht, kommt in der epistemologischen Ordnung der Begriff des Symbols ins Spiel. Doch eigentlich schließt Cassirer kein neues Feld auf; er schließt ein altes ab. Die mediale Wende der Philosophie datiert nämlich schon früher, an der Schwelle zur Moderne oder, um genau zu sein: Diese Wende vollzieht sich in den Jahren zwischen 1735 und 1758, in denen Alexander Gottlieb Baumgarten eine „Metapoetik“ des Wissens entwirft.1 Am Anfang dieser ‚Metapoetik‘ steht die kritische Auseinandersetzung mit der bedeutendsten frühneuzeitlichen Enzyklopädie – mit Johann Heinrich Alsteds 1630 erschienener Encyclopaedia septem tomis distincta. Warum sollte nicht ein geschickter Philosoph sich an eine philosophische Encyclopädie machen können, darin er die zur Philosophie gehörende Wissenschaften insgesamt in ihrer Verbindung vorstellte?,
fragt Baumgarten und integriert sowohl die Noeta als auch die Aistheta einem epistemologischen „Schatten-Riss“. Darin stellt er sich die Logik als eine Wissenschaft der Erkenntnis des Verstandes oder der deutlichen Einsicht vor und behält, die Gesetze der sinnlichen und lebhaften Erkenntnis, wenn sie auch nicht bis zur Deutlichkeit, in genauester Bedeutung, aufsteigen sollte, zu einer besondern Wissenschaft zurück. Diese letztere nennt er die Ästhetik [...].2
Gegenstand der Ästhetik ist nicht die wissenschaftliche, sondern die sinnliche Erkenntnis, weil Baumgarten außer für das logische von nun an auch für das symbolische Wissen Interesse zeigt, und das heißt: für Träume, _____________ 1 2
Abbt, Thomas, „Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens“, in: Vermischte Werke [1780], 3 Bde., ND Hildesheim 1978, Bd. 2, S. 215-244, hier S. 222. Baumgarten, Alexander Gottlieb, „Philosophische Briefe von Aletheophilus. Frankfurt am Main/Leipzig 1741“, zit. nach: ders., „Philosophischer Briefe zweites Schreiben“, in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, lat.-dt., Hans Rudolf Schweizer (Hrsg.), Hamburg 1983, S. 68f.
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Einbildungen, Erinnerungen, literarische Texte und andere sinnliche Darstellungen mehr (vgl. AE § 6).3 Im Folgenden wird die Systematik dieser Symboltheorie avant la lettre in drei Schritten nachgezeichnet: Baumgartens Ästhetik lehrt eine ‚andere‘, eine sinnliche Logik, die Erkenntnistheorie und Medientheorie verschaltet (1). Dieser spezifischen aisthesis dienen rhetorischpoetologische Begriffe als Suchmarken nach Prinzipien und Gesetzen für das symbolische Wissen (2), das ebenso wahr wie das logische ist (3). Vom Denken reden, Texte analysieren, Wahrheit wollen – mit diesem, wie sich zeigen wird, widerspruchsvollen Prozedere entfaltet Baumgarten eine Ökonomie der ‚anderen‘ Logik. (1) Die Verbindung zwischen Cassirers Symbolphilosophie und Baumgartens ‚Metapoetik‘ ist insofern eine heikle Angelegenheit, als sie nicht durch den Begriff des Symbols vermittelt wird. Denn tatsächlich unterscheidet Baumgarten – im Sinne der rationalistischen Semiotik – ganz traditionell zwischen logisch-symbolischen und sinnlich-anschaulichen Zeichen: Si signum & signatum percipiendo coniungitur, & maior est signi, quam signati perceptio, COGNITIO talis SYMBOLICA dicitur, si maior signati repraesentatio, quam signi, COGNITIO erit INTUITIVA (intuitus)“ (MET § 620).
Deshalb ist die „Wissenschaft von allem, was sinnlich ist“ (KOLL § 1)4, ihrer Begriffe nach eigentlich keine Symboltheorie, wohl aber der Sache beziehungsweise des Problems nach, dem sich Baumgarten stellt – dem Problem der ‚anderen‘ Logik, wie er es in Träumen, Einbildungen, Erinnerungen, Gedichten und anderen sinnlichen Darstellungen wirksam findet. „Er sah nemlich, damals schon“, rechtfertigt Thomas Abbt den Umstand, dass vor allem lyrische Texte den Analysegegenstand von Baumgartens ‚anderer‘ Logik bilden, daß die Regeln, nach welchen die Dichter arbeiten, aus Grundsätzen herstiessen müsten, die vielleicht allgemeiner wären, als man sich es jetzt noch vorstellete, und daß sie eines schärfern Beweises fähig seyn dürften, als man bishero davon gegeben.5
Wie später Cassirer geht es dementsprechend bereits Baumgarten „darum, den symbolischen Ausdruck, d. h. den Ausdruck eines ‚Geistigen‘ durch sinnliche ‚Zeichen‘ und ‚Bilder‘, in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen“ und diese „Totalität der geistigen Formen der Weltauffassung“
_____________ 3 4 5
Baumgarten, Alexander Gottlieb, Aesthetica [1750/58], ND Hildesheim, New York 1961 [AE]. Baumgarten, Alexander Gottlieb, „Kollegium über die Ästhetik“, zit. nach: Poppe, Bernhard, Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffschen Philosophie und seine Beziehung zu Kant, Leipzig 1907 [KOLL]. Abbt, „Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens“, S. 222f.
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zu umreißen.6 Mit einem solchen Anspruch handelt sich Baumgarten freilich ein philosophisches Problem ein, das nicht zu unterschätzen ist. Denn als Erkenntnisgesetze beanspruchen die „Empfindungs-Gesetze“7, die er sucht, ihre Gültigkeit vor jeder Erfahrung: „Hinc opus est perspicientia veritatis regularum graviorum a priori, quam dein confirmet ac illustret experientia, sicut illius inveniendae forte primum fuit subsidium“ (AE § 73). Diese Definition trifft schnell auf die Grenzen, die ihr die selbst ja nur a posteriori erfahrbaren Darstellungen vorgeben. In systematischer Hinsicht passiert also Folgendes: Baumgarten verweist die Erkenntnistheorie an die Medientheorie, weil er auf die Frage nach den Gesetzen der sinnlichen Datenverarbeitung eine medientheoretische Antwort gibt. Eine solche Zweischneidigkeit in der Anlage ist allerdings kein Ausdruck mangelnden Problembewusstseins. Im Gegenteil, in der Doppelwertigkeit der Rede über das Denken und das Darstellen entfaltet sich ein Problem, für das die zeitgenössische Philosophie zwar weder eine Systematik noch Begriffe bereitstellt, das aber im Horizont der Symbolphilosophie in einem neuen Licht dasteht. In diesem Sinne entpuppt sich vor allem der erste Paragraf der Aesthetica als Schauplatz widerstreitender Aktivitäten. Mutig sucht Baumgarten nämlich in der ‚Theorie der freien Künste‘, in der ‚unteren Erkenntnislehre‘, in der ‚Kunst des schönen Denkens‘ und in der ‚Kunst des der Vernunft analogen Denkens‘ nach einer Systematik für die ‚Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‘. In dieser Systematik werden theoretische Logik, empirische Psychologie, technische Rhetorik und spekulative Metaphysik zur neuen Superdisziplin ‚Ästhetik‘ verschaltet: „AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis,) est scientia cognitionis sensitivae“ (AE § 1). Doch sind die Widerstände, die sich Baumgarten mit diesem Schaltplan einhandelt, offenbar so groß, dass Baumgarten das Experiment sieben Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes der Aesthetica mit dem unvollständigen zweiten Band 1758 abbricht. Den deutlichsten Hinweis auf die Gründe für dieses Scheitern geben die Klammern im ersten Paragrafen der Aesthetica, in dem Baumgarten das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Medientheorie ökonomisch zu regeln versucht. Die Klammern umschließen das Asyndeton der vier Disziplinen: Rhetorik, Psychologie, Metaphysik und Logik. Derart zusammengepfercht, _____________ 6
7
Cassirer, Ernst, „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16: Aufsätze und Kleine Schriften 1922–1926, Julia Clemens (Hrsg.), Darmstadt 2003, S. 75-104, hier S. 78. Zur Baumgarten-Rezeption vgl. Groß, Steffen W., „Felix aestheticus und Animal symbolicum. Alexander G. Baumgarten: die ‚vierte Quelle‘ der Philosophie Ernst Cassirers?“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 49/2001, S. 275-298. Baumgarten, Aesthetica, S. 70.
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haben diese Disziplinen nun als Apposition der neuen Superdisziplin ein unfreies Dasein zu fristen. Das Ergebnis dieser grammatikalisch-stilistischen Maßnahme führt zu einer einwertigen Definition: ‚Die Ästhetik ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‘. Der Rest – vor allem die ‚Theorie der freien Künste‘, also: Rhetorik und Poetik – ist ausgeklammert. Mit dieser rigiden Maßnahme reagiert Baumgarten auf eine Ambiguität, die er in seinen früheren ästhetischen Schriften durchaus noch ertragen kann: Scientia sensitive cognoscendi & proponendi est AESTHETICA, (Logica facultatis cognoscitivae inferioris, Philosophia gratiarum & musarum, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis) (MET § 533),
hält Baumgarten zwischen 1739 und 1757 in allen von ihm selbst besorgten Auflagen der Metaphysica noch fest, ohne sich um die zweiwertige Definition in diesen ersten Entwürfen seiner Symboltheorie zu bekümmern. Vergleicht man beide Paragrafen miteinander, so wird offensichtlich, dass Baumgarten in der Korrektur die Rhetorik aus der Definition herausnimmt und in die Klammer verfrachtet: Aus der ‚Wissenschaft, sinnlich zu denken und darzustellen‘ wird die ‚Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‘. Dadurch zieht Baumgarten in die zur Superdisziplin verschalteten Disziplinen eine Hierarchie ein, bei der das Darstellen dem Denken untergeordnet wird. Eine solche Desambiguierung der Superdisziplin ist aber die unhintergehbare Voraussetzung dafür, dass der Philosoph die Gelehrtenrepublik von der Dignität der Ästhetik überzeugen kann. Eines Philosophen ist die neue Disziplin in der Tat nur dann würdig, wenn sie Gesetze a priori formulieren kann; sie wäre es daher nicht, wenn Baumgarten die Ambiguität der Ästhetik: ihre Doppelwertigkeit als Wissenschaft des sinnlichen Denkens und Darstellens zugelassen hätte. Denn eine wie auch immer geartete Darstellung ist im strengen philosophischen Sinne nie wahrheitsfähig, weil jede Darstellung ihre Medialität voraussetzt. (2) Nach der Korrektur kann sich Baumgarten nun aber des rhetorischen Begriffsinventars bedienen, ohne dass die Disziplin etwas anderes als die Dienstleistung eines ‚Vorarbeiters‘ beanspruchen kann: Es sind die rhetorisch-poetologischen Begriffe, mit deren Hilfe die Prinzipien sinnlicher Erkenntnis vermittelt werden, weil überhaupt erst das Medium die Gesetze des Denkens veranschaulicht. Deshalb ist es für Baumgarten kein Problem, dass er dem Darstellen sogar mehr Aufmerksamkeit zollt als dem Denken: „[H]inc aestheticae pars de proponendo prolixior esset quam logicae“ (MED § 117)8, erklärt er bereits 1735 in den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. „Die Erkenntnisbedeutung _____________ 8
Baumgarten, Alexander Gottlieb, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, Halle 1735; zit. nach: ders., Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, lat.dt., Heinz Paetzold (Hrsg.), Hamburg 1983 [MED].
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sensitiver Vorstellungen“ wird „Baumgarten zunächst am Verfahren der Dichtung deutlich“9, erläutert Scheer das Verhältnis von Erkenntnis- und Medientheorie; und Haverkamp ergänzt sehr richtig, dass Baumgarten vor allem in der Literatur „als ästhetisch dichter Beschreibung“ eine „angemessene methodische Heuristik von Verfahrensmodalitäten“ vorfindet, die er „als ars aus dem rhetorischen Repertoire ableitet[]“.10 Im Mittelpunkt dieser ‚anderen‘ Logik platziert Baumgarten den Begriff ‚sensitivus‘: „REPRAESENTATIO non distincta SENSITIVA vocatur. Ergo vis animae meae repraesentat per facultatem inferiorem perceptiones sensitivas“ (MET § 521). Aus der Triebtheorie importiert, semantisch entleert und der Erkenntnistheorie implementiert, markiert ‚sensitivus‘ das Einfallstor der Medientheorie in die Erkenntnistheorie. Vor allem im rhetorischen Kontext der Meditationes schärft Baumgarten das Begriffsprofil in denjenigen Paragraphen, in denen er ‚sensitivus‘ als Attribut der Rede einsetzt: „ORATIO repraesentationum sensitivarum sit SENSITIVA“ (MED § 4). Diesem Sensitiven spürt Baumgarten in allen seinen symboltheoretischen Schriften intensiv nach, in denen die Textanalyse der Gedankenanalyse stets um eine Nasenlänge voraus ist. Tatsächlich übersetzt Baumgarten ja lediglich Aussagen über das Darstellen in Aussagen über das Denken. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass diese Übersetzungsleistungen, anders als die Forschung bisher angenommen hat, keine einfache Ersetzung des Denkens durch das Darstellen vornehmen, sondern dass Baumgartens Übersetzungen eine konstitutive Doppelrede unterhalten. Auf dem experimentellen Feld der Rhetorik sucht Baumgarten dementsprechend nach den Gesetzen des symbolischen Wissens; was er dort jedoch findet, sind wohl oder übel weniger Prinzipien als vielmehr Phänomene. In der Beschäftigung mit literarischen Texten sieht sich Baumgarten nämlich nicht nur auf die Sprache verwiesen, sondern auch mit der Sprache als Medium konfrontiert, oder anders gewendet: mit den Medien der Sprache. In diesen Texten bekommt er es mit denjenigen Aspekten der Sprache zu tun, die sowohl strukturell als auch material vorprädikativ sind, weil er sowohl auf das Medium der Stimme (Klangfiguren) als auch auf das Medium der Schrift (grafische Figuren) aufmerksam wird. Vor diesem Hintergrund formuliert Baumgarten drei Gesetze der ‚anderen‘ Logik: erstens dasjenige der Verknüpfung, zweitens dasjenige der Unanschaulichkeit und drittens dasjenige der Bewegung. Während die rationalistische Semiotik, unter deren Ägide Baumgarten zunächst anzutreten scheint, vornehmlich an der „Ordnung des Repräsenta_____________ 9 10
Scheer, Brigitte, Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 1997, S. 56. Haverkamp, Anselm, „Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaften in Frankfurt an der Oder“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 76/2002, S. 3-26, hier S. 17.
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tionalen“ interessiert ist11, fungieren in der ersten Symboltheorie der Moderne rhetorische Begriffe als Suchmarken nach diesen material vor- oder besser: nicht-prädikativen Aspekten der Sprache. Im zweiten Teil der Aesthetica behandelt Baumgarten die rhetorische elocutio und damit vor allem die Art und Weise figuraler Verknüpfung. Am Grundelement der Figur macht Baumgarten nämlich die Gesetze der ‚anderen‘ Logik fest, wie weit vor seiner Zeit bereits Aristoteles in der kleinen seelenkundlichen Schrift Über die Weissagung im Schlaf das Grundgesetz des symbolischen Wissens durch den Vergleich mit einem sportlichen Wettkampf veranschaulicht. Im Bild des Werfenden setzt Aristoteles die Darstellungen des Träumenden, des Weissagenden, des Erinnernden und des Dichters in eins; sie „sagen und denken (Dinge, in denen) das Ähnliche dem Ähnlichen zugeordnet ist, [...] und reihen so Vorstellungen aneinander“.12 Die Wendung: ‚Ähnliches dem Ähnlichen‘ oder – wie es bei Baumgarten heißt – ‚simile cum simili‘, ‚cognatum cum cognato‘ (vgl. MED § 72) unterstellt dem symbolischen Wissen eine zweistellige Logik und trägt dadurch genau dem materialen Überschuss Rechnung, der das symbolische Wissen buchstäblich als ein ‚anderes‘ kennzeichnet. Denn die Figuren, die Baumgarten im Anschluss an den Vergleich (‚comparatio‘) – die „figura princeps illustrantium“ (AE § 742) – katalogisiert, verbinden definitionsgemäß immer zwei Vorstellungen einer Sache miteinander. Das Prinzip der Zweiheit hat weitreichende Konsequenzen, wenn es Baumgarten um das zweite proto-mediale Gesetz der ‚anderen‘ Logik geht – um die Unanschaulichkeit. Obwohl das ganze 18. Jahrhundert dem Bild huldigt, vor allem dem bewegten Bild, das die Sprache erzeugt, scheint Baumgarten auf die Kategorie der Anschaulichkeit keinen größeren Wert zu legen, was zur Folge hat, dass die gewohnte Koppelung von symbolischer und intuitiver Erkenntnis außer Kraft gesetzt wird. Oder anders formuliert: Baumgartens ‚andere‘ Logik ist zwar symbolisch, aber nicht anschaulich. Denn Baumgarten – und das ist der Clou seiner Symboltheorie – bindet die bildgebenden Verfahren der (paradigmatischen) Tropen, von deren Analyse er das zweite Gesetz des symbolischen Wissens ableitet, an die Zweistelligkeit der (syntagmatischen) Figuren: „Omnis tropus, quem definivi, est FIGURA, sed CRYPTICA, cuius genuina forma non statim apparet, quoniam est figura contracta per substitutionem“ (AE § 784). Mit dem Begriff ‚crypticus‘ macht Baumgarten dabei einen ramistischen Begriff für seine ‚andere‘ Logik fruchtbar, indem er ihn nach Maßgabe der eigenen Bedürfnisse zuschneidet. Eine kryptische Figur ist insofern zwei_____________ 11 12
Mersch, Dieter, „Paradoxien der Verkörperung“, in: Frauke Berndt/Christoph Brecht (Hrsg.), Aktualität des Symbols, Freiburg i. Br. 2005, S. 33-52, hier S. 34. Aristoteles, „Über die Weissagung im Schlaf“, in: ders., Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 14.3, übers. von Philip J. van der Eijk, Darmstadt 1994, 464b.
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stellig, als sie Substitutum und Substituens in einem zeitlich-räumlichen Kontinuum verbindet, weil Baumgarten – wie später Jakobson – davon ausgeht, dass bei einer solchen Figur das Ähnlichkeitsprinzip vom Paradigma auf das Syntagma projiziert wird. Auf diese Art und Weise wird jeder Tropus zum Knotenpunkt zweier Vorstellungen, die in der kryptischen Figur gleichsam auf kleinstem Raum zusammengezogen werden (‚figura contracta‘). In dieser Verknüpfung büßen die Sprachbilder freilich jegliche Evidenz ein und werden zu opaken Gespinsten. Passgenau fügt sich daher auch das dritte proto-mediale Gesetz in die ‚andere‘ Logik ein. Denn Baumgarten implementiert der Figur schließlich noch die Funktion eines energetischen Impulses, der dafür sorgt, dass die beiden räumlich fixierten Vorstellungen, die eine Figur verbindet, in Bewegung geraten. Eine Figur verknüpft also nicht nur zwei Vorstellungen so dicht miteinander, dass sie opak werden, sondern die eine Vorstellung strebt auch permanent die Verbindung mit der anderen an. Im Hinblick auf die Zweistelligkeit heißt das aber, dass Baumgarten die Figur der Zeit unterwirft. (3) Diese Gesetze der ‚anderen‘ Logik wären keine, würde es Baumgarten am Ende nicht gelingen, ihre Wahrheit glaubhaft zu behaupten – die Wahrheit von Träumen, Einbildungen, Erinnerungen, Gedichten und anderen sinnlichen Darstellungen mehr, die seit Platon unter dem Verdikt der Lüge stehen, also allenfalls Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen können. Baumgartens Lösung ist so einfach wie radikal: Mit Hilfe eines Kunstworts – ‚aestheticologicus‘ – attribuiert Baumgarten die Wahrheit des symbolischen Wissens als zwar sinnliche, aber (zugleich) auch verstandesmäßige; gerade so, wie es der Ambiguität einer ‚anderen‘ Logik geziemt. Begrifflich ist dieser Wahrheit freilich nicht mehr beizukommen, weshalb Baumgartens Argumentation auf eine Metapher zurückgreift. Während das Licht der logischen Wahrheit hell wie die Sonne strahlt, liegt die Wahrheit des symbolischen Wissens in der Dämmerung: Unsere Gegner sagen, die Verwirrung ist die Mutter des Irrtums; lasset uns die Metapher fortsetzen; eine Mutter darf nicht immer gebären, so darf auch die Verwirrung nicht immer Irrtümer hervorbringen. In der Natur ist nicht jetzt Nacht, und dann folgt gleich heller Mittag, sondern es ist eine Dämmerung dazwischen. So haben wir nicht gleich hellen Mittag der Kenntnis, sondern die Verwirrung als die Dämmerung ist dazwischen. (KOLL § 7)
Die Metapher der Dämmerung liefert einen erstaunlichen Befund: Während Baumgarten die Ambiguität der ‚anderen‘ Logik korrigieren muss, weil sie aus dem Widerstreit zwischen Denken und Darstellen entsteht, wendet er die Ambiguität im metaphysischen Kontext ins Positive. Dort bildet die Dämmerung indes nicht die Mitte zwischen Licht und Dunkelheit. Baumgarten entdeckt vielmehr auf dem Wege der Unbegrifflichkeit die absolute Ambiguität des symbolischen Wissens. Nachdem er
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im argumentativen Zusammenhang der Rhetorik erst einmal auf die Zweistelligkeit der Figuren und Tropen aufmerksam geworden ist, bietet sich als Kürzel für diese Metaphysik des Medialen die Zahl Zwei an. Sie drückt aus, wie sehr Baumgarten das Symbol nicht als logozentrische Einheit begreift, sondern als differenzielle Struktur – als Zweiheit. Bei der Bestimmung der metaphysischen Zweiheit macht Baumgarten aber nicht halt, sondern er geht noch einen Schritt weiter, indem er zum einen unter dem Stichwort des ästhetischen Reichtums das Auseinanderdriften der medialen Struktur – ihre Exzentrik – betont, wie er zum anderen unter dem Stichwort der ästhetischen Kürze (und komplementär zu demjenigen des ästhetischen Reichtums) das Zusammenstreben der Struktur – ihre Konzentrik – akzentuiert. Exzentrisch ist die Struktur, weil die erste Vorstellung stets die zweite begehrt, konzentrisch, weil sich die Vorstellungen in ihrer Zweiheit selbst begegnen, indem die Figur den Vektor des Begehrens vom Ziel der zweiten Vorstellung ab-, um- und auf die erste zurücklenkt. Dadurch erhält die Ambiguität der ‚anderen‘ Logik bei Baumgarten ihren letzten paradoxalen Dreh: Er hält das Symbol zwischen Offenheit und Geschlossenheit als ‚unendliche Endlichkeit‘ oder ‚begrenzte Unbegrenztheit‘ in der Schwebe. Zusammenfassend kann man also festhalten, dass Baumgartens Symboltheorie Erkenntnistheorie und Medientheorie verschaltet. In dem Widerstreit entfaltet sich eine Ökonomie der ‚anderen‘ Logik – eine Ökonomie, in der Baumgarten auf der Grundlage der strukturellen und materialen Aspekte literarischer Texte drei proto-mediale Gesetze regelt: dasjenige der Verknüpfung, dasjenige der Unanschaulichkeit und dasjenige der Bewegung. Für das symbolische Wissen beansprucht er eine spezifische Wahrheit, die sich von der logischen nicht quantitativ, sondern qualitativ unterscheidet. So schreibt Baumgarten nicht nur die erste Medio-Metaphysik, sondern er begründet, wie es Haverkamp im Hinblick auf die Symbolphilosophie des 20. Jahrhunderts auf den Punkt gebracht hat, um 1750 die modernen ‚Kulturwissenschaften in Frankfurt an der Oder‘.
Wissen um Trieb und Laune. Zu einem Widerspruch in Anthropologie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts Christiane Frey Sieht man sich die „gepflegte Semantik“ genauer an, in der im 18. Jahrhundert ein neues Wissen vom Menschen in gleichem Maße entworfen wie beschrieben wird1, so fallen zwei Begriffe in besonderer Weise auf, nämlich Laune und Trieb. Beide Terme können nicht nur als exemplarische Redefinitionen älterer Begriffe gelten, die den epistemischen Wandel, dem auch das Verständnis der physiopsychische Doppelnatur des Menschen im 18. Jahrhundert unterworfen ist, in signifikanter Weise verzeichnen, sondern sie stehen auch quer zu dem, was der Aufklärung als Wissen gilt. Sowohl Laune als auch Trieb entziehen sich gleichermaßen jeder aufklärerischrationalistischen Verrechnung, verweisen sie doch auf jenen unerklärbaren Rest, der, wie es Foucault formuliert, in der Art „einer stummen Besetzung in dem wohnt“, was der Mensch als Körperwesen ist, um im gleichen Zuge die Frage aufzuwerfen, „wie es kommt, daß der Mensch denkt, was er nicht denkt“.2 Laune und Trieb sind mithin beileibe keine Figuren des Rationalismus. Allerdings, in den Diskurs der Empfindsamkeit wollen sie sich genauso wenig fügen: weder sind sie, als spontaner oder gerichteter Impuls, die Empfindung einer schönen Seele, noch je affektiv auf den Anderen bezogen. Und schließlich sind sie als Drang und körperliche Tendenz oder vorübergehende ob inspirierte oder kränkliche Disposition des Gemüts weder prometheisch wie das Genie noch pathologisch wie der Wahnsinn. Damit gehören sie offenbar auch nicht, jedenfalls nicht im engeren Sinne, in jene in der Forschung viel berücksichtigte „Trias [von] Genialität, _____________ 1
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Als ‚gepflegte Semantik‘ bezeichnet Niklas Luhmann bekanntlich den „semantischen Apparat“ einer Gesellschaft, und meint damit „ihren Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln“, vgl. Luhmann, Niklas, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt am Main 1980, S. 9-71, hier S. 17. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, S. 390.
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Wissen um Trieb und Laune
Kriminalität, Geisteskrankheit“, die im 18. Jahrhundert die „neue Grundlage für die Kenntnis des Menschen bilden sollte“.3 Um so bemerkenswerter ist ihre Konjunktur im 18. Jahrhundert. Laune wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts regelrecht zu einem Modewort, und das in einem Maße, dass Lichtenberg 1773 monieren kann: „Das Wort Laune wird fast heutzutage in einem so weitläufigen Verstand genommen, als das Wort Butterbrod.“4 Über den Begriff Trieb lässt sich Ähnliches feststellen, zumal, wenn man die allenthalben synonymisch für Trieb gebrauchten Begriffe hinzunimmt, für deren Übersetzung er z. T. gilt, wie etwa: nisus, conatus, appétition, aber auch Instinkt, Begierde, Neigung, Tendenz – um nur die wichtigsten zu nennen. Ebenso ist den beiden Termen, Laune und Trieb, gemeinsam, dass sie nicht nur im 18. Jahrhundert allererst in der gepflegten Semantik auftauchen – in gewisser Hinsicht sogar diskursbegründend wirken und in verschiedenen, vor allem aber anthropologischen Kontexten proliferieren –, sondern ihr Gebrauch von Anfang an mit einer kritischen Reflexion über die Bedeutung des Begriffs selbst einhergeht. So leitet etwa Reimarus seine große Abhandlung Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere von 1762 mit den Worten ein: „Selbst das Wort Trieb, oder Instinct, war bisher so unbestimmt und schwebend, daß es kaum eine gewisse Bedeutung hatte, oder doch sehr verschieden gebraucht wurde.“5 Im Falle der Laune ist die Begriffsreflexion und das Ansinnen, ein neues Wort für etwas in der deutschen Sprache als unbenannt empfundenes (weil übersinnlich nicht mehr zu Erklärendes) einzuführen, sogar noch auffallender, entsteht doch – zwischen Autoren wie etwa Lessing, Herder, Riedel – ein regelrechter Wortstreit um Laune als mögliche Übersetzung des englischen humor. Eine Debatte, der im übrigen entgeht, dass sich Laune sprachlich längst mit ihren eigenwilligen Konnotationen durchgesetzt hat. Angesichts der konjunkturellen Verwendung von Laune und Trieb und den mit diesen Begriffen einhergehenden Fassungen und Konstruktionen von Empfindungsweisen, drängt sich die Frage auf, welche Funktionen den beiden Termen im anthropologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts eigentlich zukommen, welche Bündnisse sie mit anderen Begriffen eingehen, in welche epistemische Verlegenheit sie möglicherweise einspringen, dass sie so erfolgreich immer wieder aufgerufen werden können. Da diese Fragen in diesem Rahmen unmöglich verhandelt werden können, möchte ich mich _____________ 3 4 5
Hagner, Michael, Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2005, S. 19. Lichtenberg, Georg Christoph, „Sudelbücher“, in: ders., Schriften und Briefe, Bd. I, Darmstadt 1968, S. 241 (Heft D 1773–1775, 69). Reimarus, Hermann Samuel, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich ihrer Kunsttriebe. Mit Anmerkungen und mit einer Einleitung von J. A. H. Reimarus. I. & II. Teil (Angefangene Betrachtungen über die besonderen Arten der thierischen Kunsttriebe), 4. Aufl., Hamburg 1798, S. 5.
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im Folgenden auf einen Aspekt genannter Problemstellungen konzentrieren, der vor allem mit einem Unterschied der beiden Begriffe zusammenhängt6: Wie nämlich lässt sich erklären, dass – wenn man eine gewisse Tendenz überbetont – Trieb, meint er die triebhaft und unkontrollierbare Natur des Menschen, im 18. Jahrhundert eher verschoben oder rationalisiert wird, während Laune für eine gewissen Zeit zu einem bedeutenden ästhetisch-poetologischen Konzept avanciert? Um mein Argument ausführen zu können, werde ich zunächst in groben Linien zu umreißen versuchen, wie die Begriffe Laune und Trieb im 18. Jahrhundert gebraucht werden. Deutlich werden soll dann in einem zweiten Schritt, wie ihr jeweils unterschiedliches Potenzial in anthropologischen und ästhetischen Kontexten funktionalisiert wird. (I.) Wie bereits von Reimarus festgestellt, wird das Wort Trieb im 18. Jahrhundert so diffus gebraucht, dass es sich kaum auf den Begriff bringen lässt. Das Hauptproblem, mit dem sich eine Begriffsgeschichte auseinanderzusetzen hätte, könnte man wie folgt beschreiben: zum einen bezeichnet Trieb in der Semantik des 18. Jahrhunderts, in einem ganz weitläufigen Sinn, eine gerichtete Kraft oder Bewegung, die zu etwas hindrängt. Sowohl „edlere Triebe“ wie der „Gesellschaftstrieb“, der „Formtrieb“, ja sogar „Liebe“, „sittliche Triebe“ oder der „Erkenntnistrieb“ können dann genauso gemeint sein wie die „niederen Triebe“ wie schlicht der „Überlebenstrieb“ oder der „Geschlechtstrieb“.7 Im ersten Fall bezeichnet Trieb gerade das, was der Vernunft und dem Willen zugeordnet werden kann, und nur im zweiten Falle das, was der modernere Triebbegriff impliziert, nämlich die stofflichen, sinnlichen, instinkthaften Triebe, die sich der Vernunft und dem Willen per se entziehen oder zumindest selbsttätig und zunächst unabhängig vom Bewusstsein ein bestimmtes Tun in Gang setzen. Eine nächste Frage ist die der Lokalisierung des Triebes. Als sinnlicher Trieb gehört er entweder zum Organischen – und für eine solche Zuordnung hat natürlich vor allem Blumenbachs „Bildungstrieb“ gesorgt, aber auch Wolff und Tetens formulieren, bereits vor Blumenbach, eine solche strebende Energie oder besser: teleologische Kraft des Organischen – oder zu den Affekten.8 Das Problem eines solchen (nicht nur begrifflichen) Auseinanderhaltens ist jedoch, dass das nur Organische dem Bewusstsein _____________ 6 7
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Weitere Ausführungen finden sich in der noch unpublizierten Dissertation der Verf. zum Thema Laune und Individualität in Ästhetik. Anthropologie und Literatur um 1800 (Uni Bonn). Vgl. etwa Wetz, F. J., Art. „Trieb“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1998, Sp. 1483-1488; R. Specht, Art. „Nisus“, in: ebd., Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 857-866 sowie Bienenstock, Myriam (Hrsg.), Trieb, tendance, instinct, pulsion, Paris 2002 (Revue Germanique Internationale, 18). Zum Trieb als Kraft vgl. Blumenbach, Friedrich, Ueber den Bildungstrieb und das ZeugungsGeschäft, Göttingen 1981 und Tetens, Johann Nicolaus, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 2 Bde., Leipzig 1777.
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nicht einmal als Unbewusstes zugänglich ist und so der Transfer zum Psychischen kaum gedacht wird, während andererseits das affektive Begehrungsvermögen zwar objektbezogen ist, aber nicht unbedingt gerichtet. Dem einfachen semantischen Befund nach oszilliert der Triebbegriff im 18. Jahrhundert allerdings mitunter gerade zwischen Organischem und Psychischem. Es bleibt also nur, einen Strang der Bedeutung herauszupräparieren und die Frage zu stellen, welche Funktion Trieb in einer bestimmten Bedeutung erfüllt. Eine Wort- oder Begriffsgeschichte ohne eine transparent gemachte Vorentscheidung dieser Art führt zwangsläufig in ein ungeklärtes und allzu vages Verhältnis von ‚Sachverhalt‘ und ‚Begriff‘.9 Entsprechend werde ich im Folgenden einen einfachen Gebrauch kurz bestimmen, um daraus eine gewisse Funktion des Begriffs abzuleiten. Als eine solche einfache Bestimmung kann in der Semantik des 18. Jahrhunderts Trieb als dem bewussten und rationalen Willen gegenüberstehendes Begehrungsvermögen gelten, und zwar ohne definierten Objektbezug, aber in eine Richtung zielend. Von den zahllosen Verwendungen des Begriffs findet sich in Goethes Iphigenie ein semantischer Einsatz, der die Konnotationen, um die es hier gehen soll, besonders deutlich macht. Mit sarkastischem Unterton fordert Thoas zu Beginn des Stückes (I, 3) bekanntlich Iphigenie auf: So kehr zurück! Tu’ was dein Herz dich heißt; / Und höre nicht die Stimme guten Rats/ Und der Vernunft./ Sei ganz ein Weib und gib/ Dich hin dem Triebe, der dich zügellos/ Ergreift und dahin oder dorthin reißt.10
Die Aufladung des Begriffs ist klar: Trieb wird von Thoas der Vernunft gegenübergestellt, als irrational – metaphorisch dem Pferd gleich: ‚zügellos‘ –, und weiblich (=Natur) vorgestellt, man könnte auch sagen: ‚ohne Sinn und Verstand‘, willkürlich – aber drängend in eine Richtung. Anders als im Falle von Blumenbachs Bildungstrieb drängt dieser Trieb zwar nicht teleologisch in eine Richtung – sondern willkürlich, gleichsam launisch mal in diese, mal in jene –, aber er zieht doch ‚wohin‘. Nimmt man die angeführte Begriffsverwendung als Grundlage – ohne, dass damit etwas über Goethes Iphigenie gesagt sein soll (in der sich bekanntlich der Trieb als so schlecht nicht erweist) –, so ließe sich etwa folgender Strang herausschälen: Wolff zufolge hat jede (freie) Handlung eine causa impulsiva, einen Bewegungsgrund. Dabei ist unter Bewegungsgrund bei Wolff sowohl der _____________ 9
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Vgl. hierzu etwa Koselleck, Reinhart, „Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte“ sowie Wiehl, Reiner, „Begriffsgeschichte zwischen theoretischem Mangel und theoretischem Überschuss. Philosophische Fußnoten zur historischen Semantik“, in: Carsten Dutt (Hrsg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, S. 3-16 und 81-101. Goethe, Johann Wolfgang von, „Iphigenie auf Tauris“, in: ders., Sämtliche Werke. Abt. 1., Bd. 5: Dramen (1776–1790), Dieter Borchmeyer (Hrsg.), Frankfurt am Main 1988, S. 553620, hier S. 568 (Verse 463-467).
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Anlass der Handlung als auch der seelische Antrieb gemeint. Erst Baumgarten wird hier unterscheiden. So schlägt Baumgarten in seiner 1739 verfassten Metaphysica (übersetzt von Meier 1766) unter § 342 vor, die causa impulsiva mit Trieb zu übersetzen und in seinem § 669, zwischen causae impulsivae und elater animi zu unterscheiden.11 Die „Triebfedern des Gemüths“ (§ 493), die elater animi, können in zwei Unterklassen eingeteilt werden: den Beweggrund (motiva) und die sinnliche Triebfeder (stimulus). Der Beweggrund ist dabei gleichzusetzen mit dem vernünftigen Wollen (so in seiner Inaugurallesung von 1740: Gedanken von vernünfftigen Beyfall auf Akademien, § 5), während die sinnliche Triebfeder die sinnliche Stimulanz meint, die von konfusen und dunklen Repräsentationen ausgeht. Nicht zufällig erinnert Triebfeder an ein Maschinenwerk. Baumgarten spricht hier auch von blinden Trieben, sinnlichen Impulsen, die gerade nicht vernunftgesteuert sind, gleichzeitig aber mit der Seele verbunden sind, sich also der bewussten Wahrnehmung nicht ganz entziehen, wie das beim Instinkt der Fall wäre. Bei Kant – der den Triebbegriff allerdings auf bemerkenswert uneinheitliche Weise gebraucht –, vor allem in der Kritik der Urteilskraft (§ 83), wird der Trieb, dessen Bedeutung mit Baumgartens Neudefinition zusammenhängt, z. T. mit den (ungezügelten) Begierden gleichgesetzt, über die, um die Freiheit des Menschen zu retten, frei verfügt werden muss („sie anzuziehen oder nachzulassen [...], nachdem es die Zwecke der Vernunft erfordern“).12 Gleichzeitig kann Kant die „Triebfeder“ rationalisieren, indem er sie in empirische naturhafte Gründe des Begehrens, Neigungen, Gefühle der Lust und Unlust etwa einteilt. Triebe sind damit auf etwas Spezifisches rückführbar, und das Wissen um den Trieb, seine Herleitung, gehört zur Bestimmung menschlicher Freiheit. (II.) Sieht man einmal von Kants Urteil ab, so sieht die Wertung der Laune – bei aller Bedeutungsüberschneidung – im 18. Jahrhundert ganz anders aus. Nicht nur Romanautoren des 18. Jahrhunderts wie Wezel, Hippel, Wieland und andere machen sich das dichterische Potenzial der Laune – einer nicht immer nur heiter-komischen „Abweichung vom klaren Bewußtsein“ – zunutze, um einen besonders authentischen „Einblick in das Innenleben ihrer Charaktere“ zu vermitteln13, sondern auch Mediziner, Philosophen und theoretischer ausgerichtete Literaten rekurrieren auf die Laune als einem poetisch-physiopsychologischen Prinzip ersten Ranges. _____________ 11 12 13
Baumgarten, Alexander Gottlieb, Metaphysica (Editio 7), Halle, Magdeburg 1779. Zu den folgenden Ausführungen vgl. Buchenau, Stefanie, „Trieb, Antrieb, Triebfeder dans la philosophie morale prékantienne“, in: Bienenstock (Hrsg.), Trieb, tendance, instinct, pulsion, S. 11-24. Kant, Immanuel, „Kritik der Urteilskraft“, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 5, S. 165-486, hier S. 432. So formuliert es Alexander Košenina in der Beschreibung der Sektion.
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Dazu gehören etwa Lessing, Herder, Sulzer, Riedel, Eschenburg, Platner, Bernd, Moritz, um nur einige zu nennen. Da Laune in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Bedeutung anreichert, die sie nach 1800 wieder verliert, sei zunächst eine kurze semantische Bestimmung versucht: Als Übersetzung des englischen humor, des französischen humeur, aber auch des italienischen capriccio bezeichnet Laune mal den besonderen Charakter, die allgemeine Stimmung, die Anlage und mal die zufälligen, wechselhaften Stimmungen, spontanen ghiribizzi und Einfälle oder gar kurzen triebhaften Ausbrüche. Die allgemeine Grundstimmung und die spontanen Regungen des Gemüts gehören dem Unbegriffenen und Unkontrollierbaren an, in ihnen zeigt sich das Subjekt der Aufklärung als Objekt des anderen Wissens. Die Laune ist, das gerade macht sie aus, nicht steuerbar. Sie tangiert den ganzen Menschen, Denken und Empfinden in gleichen Teilen. Bezeichnend führt denn auch Christian Garve in seiner Abhandlung Ueber die Laune von 1798 aus: Die Laune ist „eine zufällige, unerklärliche, eigensinnige und vorübergehende Disposition des Gemüths, in seinem denkenden sowohl als in seinem empfindenden Theile“.14 Mit der Leidenschaft verbindet sie, dass das Gemüt ganz unter ihrem Einfluss steht, auch wenn die Laune, anders als der Affekt, kein Objekt hat. So führt Sulzer aus: Die Laune „ist ein leidenschaftlicher Zustand, in dem die Leidenschaft nicht heftig ist, keinen bestimmten Gegenstand hat, sondern blos das Angenehme oder Unangenehme, das sie hat, über die ganze Seele verbreitet“.15 Hebt die Laune dabei – wenigstens vorübergehend – die Selbstbestimmung des Subjektes auf, so ist sie selbst doch autonom gedacht: „Es werden Träume eines Wachenden seyn, Bilder oder Ideen, welche sich ihm wider seinen Willen aufdringen, und ohne sein Zuthun von selbst ihren Fortgang nehmen.“16 Mit der Verselbständigung der Bilder und Ideen, die in der Laune ihren freien Lauf nehmen, geht schließlich auch eine zentrale Funktion des Begriffs einher. Die Laune bürgt gewissermaßen für Originalität und Authentizität, die Natürlichkeit ist durch sie, bei gleichzeitigem künstlerischen Anspruch, ohne ‚Anstrengung‘ gegeben. Auch das bringt Garve auf den Punkt: _____________ 14
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Garve, Christian, „Ueber die Laune, das Eigenthümliche des englischen humour, und die Frage: ob Xenophon unter die launigen Schriftsteller gehöre?“, in: Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Neue Aufl., 2. Teil, Leipzig 1802, S. 29-60, hier S. 35. Sulzer, Johann Georg, Art. „Laune“, in: ders., Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, neue vermehrte 2. Aufl., 4 Bde., Leipzig 1792–1794, hier Bd. 2, S. 156. Garve, „Ueber die Laune“, S. 42.
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Es ist nämlich mit jeder Laune verbunden, daß während derselben die Gedanken des Menschen ein Spiel des Zufalls oder seiner Organisation und der von dem Vernunftzwange gewissermaßen befreyten Imagination sind. Er wählt nicht, was er sagen will, sondern redet, was ihm einkommt. Und in dieser Stimmung zeigen sich oft die ersten natürlichen Anlagen, und die innersten verborgenen Falten am deutlichsten. Man wird wieder offenherzig, wie ein Kind, und so leicht zu durchschauen als dasselbe.17
Es wären noch eine Reihe weiterer Belege anzuführen, mit denen gezeigt werden könnte, dass Laune – hier dem Trieb ähnlich – für das sonst durch die Vernunft Verdrängte steht und dabei zwischen Physischem und Psychischem vermittelt. Gleichzeitig aber – anders als der Trieb – gerade zu einem dichterischen Grundvermögen, ohne das selbst das Genie nicht Genie sein kann, stilisiert wird. Worin liegt also die besondere Funktion der Laune im Unterschied zum Trieb? Ein Versuch, diesem Problem zu begegnen, muss von einem wesentlichen Unterschied ausgehen, der die Terme Laune und Trieb auseinandertreibt. Auch wenn in beiden Begriffen der Impuls von der Natur ausgehend gedacht wird, so erfüllt der Trieb doch ein durch die Natur vorgegebenes Ziel, während die Laune als so grundlos wie ziellos definiert wird. Wieder ist es Garve, der es besonders prägnant formuliert: Die Laune ist „zwey andern Arten der Seelenzustände und der Seelenthätigkeit entgegengesetzt, solcher, die sich aus bekannten Ursachen herleiten lassen, und solcher, die auf Endzwecke abzielen“.18 Diese „Endzwecke“ denkt Garve als „begreifliche oder sichtbare“ und „bestimmte“.19 Nun kann vom Trieb, nicht aber von der Laune, gesagt werden, dass er sein terminologisches Profil im 18. Jahrhundert tatsächlich gerade dadurch gewinnt, dass er auf ein bestimmtes und ‚begreifliches‘ Ziel hinstrebt. So wird etwa in Kants Kritik der Urteilskraft (§ 81), wie bereits angedeutet, auf den Triebbegriff (statt etwa Kraft) rekurriert mit Konnotationen wie „Bestimmung der Thierheit“, aber auch und vor allem in der Bedeutung von „Leitfäden“.20 Es geht also auch hier um die Gerichtetheit und Bestimmung – allerdings ohne zwingende mechanische Kausalität. Folgt man den genannten Bestimmungen, so lässt sich nachvollziehen, dass Laune, anders als Trieb, trotz eines gewissen Determinismus gleich zweifach im Sinne künstlerischer Autonomie funktionalisiert werden kann: die Laune überkommt das Subjekt – genau gesagt: vor allem das geniale Subjekt – und in ihr kann es sich, seiner natürlichen Anlage gemäß, freien Ausdruck verschaffen. Da dieser freie Ausdruck nicht kausal _____________ 17 18 19 20
Ebd., S. 44. Ebd., S. 35. Ebd. Kant, „Kritik der Urteilskraft“, S. 432.
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bedingt ist, ist die Freiheit des Subjekts zwar gefährdet, aber, wie durch einen Geniestreich der Natur, über eine Art Eigengesetz des einzigartigen Individuums dennoch gerettet. Diese Autonomie des Subjekts gilt paradoxerweise nur, so lange der Launige kein Wissen um seine Laune hat, oder besser: um ihren Anlass. „Deren Ursache er selbst nicht einsieht“, heißt es denn auch bei Garve.21
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Garve, „Ueber die Laune“, S. 35.
Die lebhafte Einbildungskraft der ‚Wilden‘ Kamtschatkas als europäisches Konstrukt und außereuropäische Herausforderung Lucas Marco Gisi Phänomene des Aberglaubens, des Wahnsinns oder des Somnambulismus finden im 18. Jahrhundert verbreitet eine ‚natürliche‘ Erklärung, indem sie auf das Vermögen der Einbildungskraft zurückgeführt werden. Dieser Erklärungsmodus für das eigenkulturelle ‚Andere‘ wird aber ebenso auf das ‚Fremde‘ außereuropäischer Kulturen appliziert. Damit einher geht eine Neukonzipierung der Einbildungskraft als kulturschaffendem Vermögen des Menschen: Denn gilt die Beschränkung unzivilisierter Völker auf das Vermögen der Einbildungskraft zunächst als Beleg für deren Situierung auf der untersten zivilisationsgeschichtlichen Stufe, so lassen sich die Vorzüge unzivilisierter gegenüber zivilisierten Völkern – ihre ‚poetischen Fähigkeiten‘ – ebenso auf die Einbildungskraft zurückführen.1 Die Zuschreibung einer lebhaften Einbildungskraft im Spannungsfeld von außereuropäischer Herausforderung und europäischem Konstrukt soll im Folgenden konkret am Beispiel der ethnografischen und (geschichts)philosophischen Beschäftigung mit der Kultur der indigenen Bevölkerung der Halbinsel Kamtschatka, der Itelmenen, nachgezeichnet werden. Die von der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften zwischen 1733 und 1743 mit Beteiligung bedeutender deutscher Wissenschaftler veranstaltete sogenannte Große Nordische oder Zweite Kamtschatka-Expedition bildet das wichtigste Unternehmen zur Erforschung Sibiriens und der Halbinsel Kamtschatka im 18. Jahrhundert.2 Die Berichte über diese Forschungsreisen fanden in Westeuropa große Beachtung, wobei das Interesse vornehmlich den _____________ 1
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Die Konzipierung einer ‚Geografie der Einbildungskraft‘ anhand ethnografischer Berichte in der Aufklärung habe ich ausführlicher dargestellt in: Gisi, Lucas Marco, Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin, New York 2007 (spectrum literaturwissenschaft, 11), S. 235-317. Vgl. Dahlmann, Dittmar, „Von Kalmücken, Tataren und Itelmenen: Forschungsreisen in Sibirien im 18. Jahrhundert“, in: Eva-Maria Auch/Stig Förster (Hrsg.), „Barbaren“ und „weiße Teufel“. Kulturkonflikte und Imperialismus in Asien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1997, S. 19-44.
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Die lebhafte Einbildungskraft der ‚Wilden‘ Kamtschatkas
ethnografischen Beschreibungen sowie – im Kontext einer wachsenden Aufmerksamkeit für Formen des Schamanismus – den naturreligiösen Praktiken galt.3 Als besonders irritierend erwiesen sich die Darstellungen der Religion bzw. Mythologie der Itelmenen, da sie belegen, dass nicht bloß – wie Pierre Bayle in seinen Pensées diverses sur la comète annimmt – ein glückliches Volk von Atheisten denkbar ist, sondern gar eines von Gotteslästerern zu existieren scheint. Verschiedenen deutschsprachigen Gelehrten dienten die Berichte aber auch als Ausgangspunkt bzw. ‚Prüfstein‘ für allgemeine Theorien über die Ausbildung religiöser und mythologischer Vorstellungen. Die für das 18. Jahrhundert zentralen und immer wieder zitierten Reiseberichte waren diejenigen von Georg Wilhelm Steller und Stepan Petrovic Krascheninnikov. Die Angaben des Studenten Krascheninnikov über die Einwohner Kamtschatkas und deren Religion sind knapp, aber deutlich: „Die Eingebornen in Kamtschatka sind so wild, als das Land selbst.“4 Die Ignoranz und Idolatrie der Bewohner Kamtschatkas äußere sich auch in deren religiösen Vorstellungen; diese seien unvorstellbar widersinnig und lächerlich.5 Von ihrer höchsten Gottheit hätten die Kamtschadalen einen „anstößigen Begrif“, bezeigten ihr gegenüber keine „andächtige Verehrung“, lästerten diese vielmehr und erzählten „schändliche Mährgen“ über sie, so dass man sich schämen müsse, diese zu berichten.6 Genau dies tat aber der aus dem Umfeld des Halleschen Pietismus stammende Georg Wilhelm Steller in einer Ausführlichkeit, die für die Zeitgenossen schockierend war.7 Er beschrieb die Sitten der Itelmenen als die eines Volkes „in statu naturali“, das von Ehrgeiz, Eigentum und Schande nichts wisse, gleichzeitig aber die Tötung von Menschen, Abtreibung, Polygamie und Promiskuität, Homosexualität und Sodomie billige.8 Von den geistigen Fähigkeiten der Einwohner Kamtschatkas gibt Steller folgende Beschreibung: _____________ 3 4 5 6 7
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Vgl. Flaherty, Gloria, Shamanism and the eighteenth century, Princeton 1992, insbes. S. 21-113. Krascheninnikov, Stepan, Opisanie zemli Kamtschatki, d. i. Beschreibung des Landes Kamtschatka, Lemgo 1766, S. 205. Krascheninnikov, Stepan, Histoire et Description du Kamtschatka, 2 Bde., Amsterdam 1770, Bd. 1, S. 2, 101f. Die drei Jahre zuvor anonym erschienene Ausgabe ist eine Übers. des engl. Auszugs: ders., Histoire de Kamtschatka, des Isles Kurilski, et des contrées voisines, 2 Bde., Lyon 1767. Krascheninnikov, Beschreibung des Landes Kamtschatka, S. 245-247. Vgl. Dahlmann, „Von Kalmücken, Tataren und Itelmenen“, S. 36f.; Mühlpfordt, Günter, „Halle – Russland – Sibirien – Amerika: Georg Wilhelm Steller, der Hallesche Kolumbus und Halles Anteil an der frühen Osteuropa- und Nordasienforschung“, in: Johannes Wallmann/Udo Sträter (Hrsg.), Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus, Tübingen 1998 (Hallesche Forschungen, 1), S. 49-82, hier: 49-62. Steller, Georg Wilhelm, Beschreibung von dem Lande Kamtschatka, dessen Einwohnern, deren Sitten, Nahmen, Lebensart und verschiedenen Gewohnheiten, Frankfurt, Leipzig 1774, S. 245, 285-296, 345-351, 355-357.
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Was die Kräfte des Gemüths anbelangt, so sind die Itälmenen mit einem sehr vortreflichen und lebhaften Ingenio und Phantasie versehen, mit einer ausbündigen Memorie, mangeln aber alles Judicii. Ihr Ingenium sieht man aus ihren wunderlichen und lustigen Einfällen, Resonnements und Erfindungen, besonders in der Music und den Melodien, ihre Memorie aus tausend Aberglauben, ihr schlechtes Judicium aus ihrer Theologie, Moral, Natur-Erkenntnis.9
Die Kultur des Itelmenen ist somit nach Steller Ausdruck ihrer Kindern ähnlichen ‚lebhaften‘ Phantasie. Ausführlich behandelt Steller die Religion der Bewohner Kamtschatkas. Obwohl ihnen sowohl der Begriff ‚Geist‘ wie auch eine Erkenntnis Gottes über die Vernunft fehle, würden sie eine höchste Gottheit kennen – Kutka. Allerdings […] halten sie sich viel klüger als GOtt, niemand thörigter, unsinniger, dümmer als ihren Kutka, welches man nach meinem Wissen bey keinem einigem Volk unter der Sonnen abendtheurlicher als bey diesem angetroffen, dergestalt, daß man sie ohne einiges Unrecht gebohrne GOttes Lästerer nennen kan.
Das Glaubenssystem der Itelmenen sei widersprüchlich, dessen Widerlegung bekümmere sie jedoch wenig.10 Stellers Darstellung der religiösen und mythologischen Vorstellungen der Einwohner Kamtschatkas mündet in eine Abwertung der letzteren zu einem ‚kulturlosen‘ Volk: Sie „[…] geben ein ächtes Beyspiel ab, wie die Menschen überhaupt ohne theologische und moralische Cultur sich selbst gelassen würden beschaffen seyn“.11 Trotz dieses letztlich apodiktischen Urteils schwankt Steller zwischen der Darstellung eines Volks von Atheisten, Abergläubigen und Gotteslästerern und einem Volk mit äußerst reichhaltigen, wenngleich für einen Halleschen Pietisten auch etwas befremdenden mythologischen Vorstellungen und ‚poetischen‘ Fähigkeiten. In solchen Differenzierungen klingen „Standpunkte des kulturellen Relativismus“ an, die Steller als „teilnehmenden Beobachter“ avant la lettre erscheinen lassen.12 Die Ambivalenz von (abschreckendem) Aberglauben und (bewunderungswürdiger) Mythologie vermag Steller aufzulösen, indem er beide auf das in seinen Wirkungen traditionell ambivalent beurteilte Vermögen der Einbildungskraft zurückführt. Dass es sich dabei um ein deutlich eigenkulturell geprägtes Wahrnehmungsraster handelt, geht aus dem Vergleich mit dem – ansonsten weitgehend übereinstimmenden – Bericht Krascheninnikovs hervor. Hier erschei_____________ 9 10 11
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Ebd., S. 295f. Ebd., S. 267f. Ebd., S. 282. Da die Einwohner Kamtschatkas noch „ganz leere Gefässe“ seien, bedürften sie einer religiösen Erziehung; denn sonst könnten ihre „lebhafte(n) Phantasie“ und ihr „lebhaftes Ingenium“ zu einer gefährlichen Vermischung von Christentum und Aberglaube verleihten (ebd., S. 283f.). Vgl. Kasten, Erich, „Nachwort“, in: Steller, Beschreibung von dem Lande Kamtschatka, ND Bonn 1996 (Klassiker der Deutschsprachigen Ethnographie, 2), S. 281-296, hier: 286f.
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Die lebhafte Einbildungskraft der ‚Wilden‘ Kamtschatkas
nen die Itelmenen als stupide und höchstens neugierig – die anthropologische Annahme einer lebhaften Einbildungskraft fehlt gänzlich.13 Das Erscheinen der Reiseberichte Stellers und Krascheninnikovs über Kamtschatka löste im deutschen Sprachraum ein breites Echo aus. Einerseits wurde die Beschreibung der Freizügigkeit der Kamtschadalen als empörend empfunden, andererseits die Neugierde auf die „Märchen und abergläubischen Nachrichten“ unverhohlen eingestanden.14 Die Reiseberichte beeinflussten aber auch ganz direkt die anthropologischen und kulturhistorischen Theorien der Spätaufklärung, wie sich anhand ihrer Rezeption bei Meiners, Campe, Wieland, Herder und Steeb zeigen lässt. Christoph Meiners reagierte auf die Berichte Stellers und Krascheninnikovs mit einem eigenen Aufsatz über die „Denkungsart“ der Kamtschadalen. Ansatzpunkt ist die Darstellung der Religion der Kamtschadalen, die er zu den „unflätigsten und ausgeartetsten Völkerschaften des Erdbodens“ rechnet, da sie ihre Religion als „lächerliches Spielwerk“ betrachteten.15 Stellers Beschreibung der Verehrung von individuellen Gottheiten, Geistern, Tieren und „Hausgötzen“ anstelle eines institutionalisierten Glaubens(systems) erscheint Meiners jedoch als Applikation eigenkultureller Phänomene des Aberglaubens auf die Religion der Kamtschadalen.16 Nach ihm entsprechen die Jenseitsvorstellungen aller Kulturen in der Geschichte der Menschheit den diesseitigen „Vergnügen“ unter Abzug der damit verbundenen Unannehmlichkeiten; entsprechend trage das „Elysium eines jeden Volks“ eine Ausmalung nach dessen Kultur.17 Diese natürliche Transzendierung der menschlichen Existenz scheint aber bei den Kamtschadalen durch die Lebhaftigkeit ihrer Einbildungskraft in einen ‚Todeswunsch‘ pervertiert.18 Grundsätzlich findet sich nach Meiners bei den Kamtschadalen nicht die einer primitiven Kultur natürliche Verbindung von „Mangel der Kultur“ mit „Unschuld“ (im Sinne Rousseaus); ihre moralischen Maßstäbe seien – im Vergleich mit allen übrigen „aufgeklärte[n] und wilde[n] Nationen“ – vielmehr verkehrt.19 _____________ 13 14 15
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Vgl. Krascheninnikov, Histoire et Description du Kamtschatka, Bd. 1, S. 25, 147. Westfeld, Christian Friedrich Gotthard, „Stephan Krascheninnikow, Beschreibung des Landes Kamtschatka [Rezension]“, in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 4/1767, 1, S. 284f. Meiners, Christoph, „Einige merkwürdige Züge aus der Denkungsart, den Vorurtheilen und Sitten der Kamtschadalen“, in: ders., Vermische Philosophische Schriften, 3 Bde., Leipzig 1775/76, Bd. 1, S. 164-179, hier: 164f.: Als Maßstab für die Religion der Kamtschadelen stehen die griechischen und ägyptischen Gottheiten (ebd., S. 166, 171). Ebd., S. 169. „Es kommt mir vor, als wenn Steller den unbestimmten Begriffen eines so rohen Volks seine eigenen Europäischen Gedanken von Geistern, Teufeln untergeschoben […].“ Ebd., S. 169-173. Ebd., S. 172f. Ebd., S. 173ff.
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In einem im Teutschen Merkur erschienenen Aufsatz versucht Joachim Heinrich Campe aus dem Vergleich der Mythologie der Kamtschadalen mit der griechischen eine allgemeine Theorie der Entstehung von Mythen abzuleiten.20 Sowohl die Griechen als auch die Kamtschadalen kennen eine höchste Gottheit, der sie aber zuweilen auch die schändlichsten Handlungen zuschreiben, was ein Widerspruch sei, „der nur von ungebildeten, mehr durch Imagination als durch reinen Verstand denkenden Völkern verdauet werden kann“.21 Beide Gottesvorstellungen basierten somit auf denselben „Grund-Ideen“, während sich die Unterschiede durch die verschiedene Lebensweise und das Klima erklären ließen. Dementsprechend sei die Phantasie der Griechen mit angenehmeren Vorstellungen anfüllt.22 Dass Träume von ‚Wilden‘ als wirkliche Begebenheiten angesehen würden, belegt nach Campe, dass auf dieser Stufe der Entwicklung des menschlichen Verstandes die Vorstellungen keiner Prüfung durch die Vernunft unterliegen: Denn wie können Menschen, die aus hitzigen Krankheiten und andern Zufällen noch nicht beobachtet haben, daß unsere Einbildungskraft uns sehr oft täuscht, das was sie in Träumen so deutlich gesehen haben, für Betrug der Phantasie halten? […]23
Campe versucht anhand der Annahme einer fortschreitenden Entwicklung des menschlichen Verstandes die v. a. auf der Einbildungskraft basierende ‚Denkweise‘ eines „poetischen Zeit-Alters“ zu rekonstruieren. Dabei erweist sich die seit Lafitau berühmte Parallelisierung von antiken und unzivilisierten Kulturen am Beispiel Kamtschatkas als Zugang zur ‚Geschichte des menschlichen Verstandes‘.24 Der Herausgeber des Teutschen Merkur, Christoph Martin Wieland, konnte sich nicht enthalten, die Ansätze zu einer allgemeinen und vergleichenden Mythentheorie des „jungen Philosophen“ Campe mit einigen bissigen Anmerkungen zu versehen.25 Wieland lehnt Campes Erklärung, dass unzivilisierte Völker mehr mit der Einbildungskraft als dem „reinen Verstand“ ‚denken‘, rundweg ab. Es sei weder ein Volk noch ein Individuum vorstellbar, das nur durch den „reinen Verstand“ gedacht habe: Wer sagt dem Verfasser [sc. Campe], daß ein Volk, deßwegen, weil es durch die Imagination denkt, Widersprüche verdauen könne? denn durch die Imagination
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Campe, Joachim Heinrich, „Anmerkungen über die Religion der Kamtschadalen“, in: Der Teutsche Merkur, 1775, 4, S. 205-242, hier: 205f. Ebd., S. 206f. Ebd., S. 210f. Ebd., S. 233f. Ebd., S. 225f. Ebd., S. 242, Anm.
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Die lebhafte Einbildungskraft der ‚Wilden‘ Kamtschatkas
denken, soll doch hier vermuthlich so viel sagen, als: alles für möglich oder glaublich halten, was man sich anschaulich denken kann.26
Die religiösen Vorstellungen der Kamtschadalen dürften durchaus als traumähnliche Erdichtungen einer „sich selbst gelaßene[n], noch von keinem Zaum der Vernunft gebändigte[n], Kamtschadalische[n] Phantasie“ gelten, die gar die eigenen „Genien“ beschämen könnten; dennoch sei der Vergleich mit den griechischen Gottheiten unpassend.27 Die Vorliebe von Kindern, des „Pöbels“ und unzivilisierter Völker für das Wunderbare in Erzählungen sei nicht die Folge ihrer lebhaften Einbildungskraft, vielmehr übten „Geister- und Zauber-Geschichten“ eine Anziehung auf alle Menschen aus: „Der Grund davon liegt tiefer in der Natur. Wir sind um und um von Wundern, Geheimnissen und Unbegreiflichkeiten umgeben; alles ist Erscheinung für uns.“28 Der „allgemeine(n) Hang“ zu Gespenstergeschichten resultiere aus dem „natürlichen Trieb des Menschen“ zur Transzendierung des eigenen Lebens und dem von Verwandten.29 Wieland zielt hier auf eine erkenntnistheoretische Position, die das innere Gefühl als Kriterium der Wahrheit setzt und die er im folgenden Jahr mit seinem Aufsatz Was ist Wahrheit? präziser darlegen wird. Damit ist für Wieland das Problem der ‚poetischen Weltdeutung‘ ein allgemein anthropologisches der menschlichen Erkenntnis und der historisch-spezifische Einzelfall relational dazu zu erklären.30 Auch Herder rezipiert die Berichte über Kamtschatka. In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) bezeichnet er mit Verweis auf Steller den „Geistescharakter“ der Kamtschadalen als „scheinbare Anomalie in diesem kalten unwirtbaren Klima“, der aber diesem dennoch angemessen sei.31 Die Verschiedenheiten der Einbildungskraft (und ihrer Produkte) führt Herder auf körperliche und klimatische Unterschiede sowie auf Spezifika der Tradition zurück.32 Diese kulturrelativistische Sicht führt Herder für Kamtschatka unter Anführung von Steller und Krascheninnikov aus: Mich wunderte z. B. in der Mythologie der so nördlichen Kamtschadalen eine freche Lüsternheit zu bemerken, die man eher bei einer südlichen Nation suchen sollte; ihr Klima indessen und ihr genetischer Charakter geben auch über diese Anomalie Aufschluß. Ihr kaltes Land hat Feuerspeiende Berge und heiße Quellen:
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Ebd., S. 239, Anm. 3. Ebd., S. 240, Anm. 4. Ebd., S. 241, Anm. 6. Ebd., S. 241f., Anm. 6. Wieland, Christoph Martin, Sämmtliche Werke, Stiftung z. Förderung v. Wissenschaft u. Kultur (Hrsg.), 45 in 14 Bde., 2. Aufl., ND Hamburg 1984, Bd. 24.8, S. 39-54, hier: 44-47, 41f. Herder, Johann Gottfried, Werke, Wolfgang Proß (Hrsg.), 3 Bde., München 1984–2002, Bd. 3.1, S. 197f. Ebd., Bd. 3.1, S. 267-276.
Lucas Marco Gisi
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starrende Kälte und kochende Glut sind im Streit daselbst; ihre lüsterne Sitten, wie ihre grobe mythologische Possen sind ein natürliches Product von beiden.33
Für die Mythologie der Kamtschadalen, welche die Zeitgenossen derart irritiert hatte, findet Herder durch deren Bestimmung als Produkt einer physiologisch („Genius“) und durch die „Lebensart“ bestimmten Einbildungskraft eine natürliche Erklärung. Vermag Herder die Anomalie der kamtschadalischen Mythologie in sein Konzept einer kulturell diversifizierten Einbildungskraft zu integrieren, so zwingt sie andere Autoren im Gegenteil sogar dazu, ihre kulturgeschichtlichen Modelle zu verabschieden. In seinem Werk Ueber den Menschen (1785) wertet etwa Johann Gottlieb Steeb Stellers Beschreibung um in das Bild eines Volkes, das die größten Gegensätze von Kultiviertheit und Unsittlichkeit vereinigt. Die Sitten der Kamtschadalen stehen für Steeb letztlich in derart krassem Widerspruch zu seinen Vorstellungen von einem „rohen Naturvolk“ wie zu seiner klimatheoretisch fundierten Kulturgeografie, dass er sich gezwungen sieht, diese zumindest zu relativieren.34 Anhand der Berichte über die Zweite Kamtschatka-Expedition lässt sich die ‚Konstruktion‘ eines kulturgeschichtlichen Sonderfalls, eines Volks von Gotteslästerern, zwischen ethnografischer Erfahrung und theoretischen Systematisierungsversuchen nachvollziehen. Es handelt sich um eine doppelte Suche nach Erklärungen: Versuchen die Reisenden, das ‚Fremde‘ und ‚Andere‘ mit Hilfe zeitgenössischer Theorien und Konzepte – etwa dem Naturzustandstheorem – zu fassen, so nutzen die Gelehrten deren Berichte als Grundlage allgemeiner Theorien über die Entstehung religiöser Vorstellungen und Mythologien. In beiden Fällen wird die Notwendigkeit einer anthropologischen Fundierung dieser Aussagen über die Entstehung kultureller Phänomene sichtbar. Dabei erweist sich die Parallelisierung von primitiver Mentalität bei unzivilisierten Völkern bzw. antiken Kulturen, ‚kindlichem Denken‘ und volkstümlichem Aberglauben als erfolgreichste heuristische Hypothese, weil sie auf eine gemeinsame Ursache weist: das ambivalente Vermögen der Einbildungskraft. Das Ergebnis ist eine Konzipierung der Einbildungskraft als kulturschaffendem Vermögen oder anders formuliert: eine Kulturalisierung der Geschichte des menschlichen Verstandes. _____________ 33 34
Ebd., Bd. 3.1, S 273. Steeb, Johann Gottlieb, Ueber den Menschen nach den hauptsächlichsten Anlagen in seiner Natur, 3 Bde., Tübingen 1785, Bd. 3, S. 977f.: „Wenn man aber auch diesen Widerspruch in manchen Stücken sich erklären kan; so ist doch so viel richtig, daß dieses, im rohen Zustande lebende Volk, vor allen andern dieser Art etwas Eigenes hat, und daß das Bild, das man sich von andern solchen Völkern abstrahirt hat, durch diese Itälmenische Sitten manche Aenderung leidet. Wenigstens hab ich in meinem Theil die Begriffe, die ich von diesen Völkern hatte, und die ein wenig zu Nordamerikanisch gestimmt waren, nach Durchlesung der Stellerischen Beschreibung, sehr reformirt.“
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Die lebhafte Einbildungskraft der ‚Wilden‘ Kamtschatkas
Die Konfrontation mit naturreligiösen Praktiken ist zunächst geprägt durch die Erklärung mit Hilfe der spätestens seit Fontenelles Histoire des oracles populär gewordenen Priesterbetrugsthese. In dieses Erklärungsmodell lassen sich aber die beobachteten und beschriebenen Phänomene nur teilweise integrieren; etwa, wenn der Betrug von Schamanen zweifelhaft erscheint und diese selbst zu Opfern einer starken Einbildungskraft erklärt werden. Damit werden aber Phänomene der Magie und des Schamanismus ebenfalls anhand eines eigenkulturellen, vielfältig diskutierten Phänomens rationalisiert, nämlich anhand des Enthusiasmus bzw. der Schwärmerei. Diese Identifizierung ist möglich, weil sich all diese Phänomene auf eine überhitzte Einbildungskraft, d. h. auf dieselbe ‚natürliche‘ Ursache, zurückführen lassen. So meint etwa Jens Kraft 1766 bei religiösem Enthusiasmus und Zauberei oftmals eine vornehmlich durch eine „unordentliche Einbildungskraft“ bedingte „würkliche Verrückung des Gehirns“ festzustellen, die er als „Art einer künstlichen Krankheit“ bezeichnet.35 Christoph Meiners führt diese Pathologisierung in seiner medizinischen Erklärung für alle Formen von Magie und insbesondere den Schamanismus weiter. Die ekstatischen Rituale der Schamanen seien keine „Gaukeleyen oder Verstellungen“, sondern die Folge einer „sympathetischen Reizbarkeit“ und mit epileptischen Anfällen vergleichbar.36 Zauberer, Magier, Priester und Schamanen seien zwar oft „Betrüger“, meint auch Herder in seinen Ideen, führt diese gängige These aber sogleich ad absurdum, mit dem Hinweis, dass diese Betrüger „selbst Volk sind und also auch Betrogene älterer Sagen waren“. Folglich: „Die kältesten Reisenden mußten bei manchen Gaukelspielen dieser Art erstaunen, weil sie Erfolge der Einbildungskraft sahen, die sie kaum möglich geglaubt hatten und sich oft nicht zu erklären wußten.“37 Betrogene und Betrüger sind somit, ebenso ungewollt, auch die Reisenden selbst – als Beobachter und Berichterstatter.
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Kraft, Jens, Die Sitten der Wilden, zur Aufklärung des Ursprungs und Aufnahme der Menschheit, Kopenhagen 1766, S. 267, 271f., 307f. Meiners, Christoph, „Ueber die sympathetische Reizbarkeit, und einige daraus zu erklärende Erscheinungen in den schwächern Völkern“, in: Göttingisches historisches Magazin, 2/1788, S. 40-56. Herder, Werke, Bd. 3.1, S. 274.
„L’art
de se rendre heureux par les songes“. Traum, Wissenschaft und Einbildungskraft Albert Schirrmeister Aus der ganzen folgenden Notiz spricht auch mit ihren wieder zurück genommenen Streichungen eine tief greifende Unsicherheit, wie das Buch, auf dessen Vorsatzblatt die Zeilen notiert wurden, zu verstehen ist: Ce livre ne me paroit etre quune plaisanterie et pris dans ce sens elle nest pas absolument mauvaise quoiquelle nesoitque dans lefonds car dans le detail tout autan serieux la 1ere partie est asses bonne alire la 2de contient des recettes ridicules et dont il ny aque les titres a parcourir1
Was ist dies für ein Buch? Der Titel verspricht viel: „L’art de se rendre heureux par les songes“ – Die Kunst, sich selbst durch seine Träume glücklich zu machen. Das extrem seltene Buch ist angeblich 1746 bei einem ungenannten Verlag und Drucker in Leipzig und Frankfurt erschienen, der Autor wird auch nicht genannt. Heute sind über die einschlägigen Kataloge (via Karlsruher Virtueller Katalog) weltweit gerade einmal neun Exemplare nachweisbar, doch schon im 19. Jahrhundert war es wohl nicht häufiger zu finden, wie Charles Nodier konstatiert.2 Bei ihm findet sich auch
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Die Notiz steht von einer Hand des 18. Jh. auf dem Titelblatt eines der beiden Exemplare der Pariser Bibliothèque de l’Arsenal (Signatur: 8° S 14200), sie lautet übersetzt: „Dieses Buch scheint mir nichts als ein [gestrichen: ziemlich schlechter] Witz zu sein. Und in diesem Sinn aufgefasst, ist es nicht ganz schlecht, wenn es nicht doch im Grund und in den Details ganz ernst gemeint sein sollte. Der erste Teil ist recht gut zu lesen; der zweite Teil enthält nur lächerliche Rezepte, von denen nichts als die Titel zu überfliegen sind.“ [Alle folgenden Übersetzungen aus dem Französischen von mir]. Es handelt sich um: L’art de se rendre heureux par les songes c’est a dire en se procurant telle espece de songes que l’on puisse desirer conformement a ses inclinations, Frankfurt, Leipzig 1746. Die Rechtschreibung wird in den folgenden Zitaten aus dem Druck übernommen und nicht modernisiert. Im Folgenden zitiert als ARH. Nodier, Charles, Mélanges tirés d'une petite bibliothèque ou variétés littèraires et philosophiques, Paris 1829, Kap. 26: De l’Onéirocritie, des Songes, et de quelques ouvrages qui en traitent, S. 209.
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Traum, Wissenschaft und Einbildungskraft
bereits die Diskussion der Nachricht, die anonym veröffentlichte Schrift sei vom berühmten Benjamin Franklin verfasst worden. Schon Nodier kann aber hierfür keinen ernst zu nehmenden Hinweis finden. Die Druckorte in Deutschland scheinen ebenso zweifelhaft zu sein, für mich ist kein Grund zu erkennen, warum der Verfasser die französische Zensur hätte fürchten sollen. Das genannte Erscheinungsjahr 1746 wird durch diese Umstände nicht Vertrauen erweckender, aus textlichen Gründen, auf die ich später eingehe, ist es aber wahrscheinlich zumindest annähernd richtig. In der handschriftlichen Notiz ist bereits in der deutlich unterschiedenen Beurteilung erkennbar, dass sich das Buch grundsätzlich in zwei große Teile trennen lässt. Interessant wird das Buch aber, weil es auf seinen gerade einmal 238 Seiten Einflüsse sehr verschiedener Textsorten zu einer äußerst merkwürdigen hybriden Mixtur zusammenfügt. Im Folgenden möchte ich nach einer summarischen Vorstellung des Inhalts die disparaten Elemente, die aus einer Verarbeitung mittelalterlicher Traum- und Kräuterbücher, einer Spielart eines libertären Romans und eines Expeditionsberichts bestehen, analytisch getrennt vorstellen. Ich möchte die Effekte dieser außergewöhnlichen Kombination diskutieren und erkunden, welches die damit verfolgte Absicht des ungenannten Verfassers gewesen sein mag. Eingeleitet wird das Buch durch eine Beschreibung des Verhältnisses von Autor und Herausgeber: Angeblich handelt es sich um die Hinterlassenschaft eines im hohen Alter von 96 Jahren gestorbenen Mannes (dessen Name ungenannt bleibt). Dieser wird vorgestellt als ein großer Philosoph und Chemiker, der auf einer Reihe von Reisen viele außergewöhnliche Kenntnisse erworben habe. Als außergewöhnlich wird der Eindruck von Glück und Zufriedenheit, den er vermittelte, hervorgehoben und der in Kontrast zu seinen bescheidenen materiellen Verhältnissen gesetzt wird: Sa fortune comme il le dit lui-même etoit des plus malaisées & digne d’un homme de sa profession, cependant un air de jubilation & de gayeté repandu sur tout son visage annonçoit un homme heureux & content.3
Die Herausgabe des als „nouveau sistheme de bonheur“ vorgestellten Buches wird als eine ihm als Neffen und Erben übertragene Aufgabe bezeichnet. Der anonyme Herausgeber lehnt jede Verantwortung für die Ernsthaftigkeit des Inhalts ab, plädiert aber dafür, den Autor ernst zu nehmen, der dies in jeder Hinsicht verdiene:
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ARH, „Avertissement de l’editeur“, fol. a 2verso: „Sein Wohlstand war, wie er selber sagte, wohl eher ärmlich und einem Mann seines Berufes würdig; währenddessen verriet aber eine freudvolle Miene, dass er ein glücklicher und zufriedener Mann sein müsse.“
Albert Schirrmeister
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Enfin je sai d’ailleurs que le personnage avoit de l’esprit & du bon sens & que ce n’étoit point du tout un homme à projets chimeriques comme le sont la plus part des chimistes.4
Bereits hier wird eine Verbindung des Autors und seines Textes mit einerseits den wichtigsten zivilen Tugenden („esprit“ und „bon sens“) und andererseits wissenschaftlicher Profession hergestellt. Diese Verbindung wird in dem zweiten Vorwort, das nun eines des Autors selbst zu sein vorgibt, verstärkt. Es will ausdrücklich ein (weiterer) Schutz gegen die Ungläubigkeit sein, die gegenüber der folgenden Erzählung für möglich gehalten wird. Schon in der Überschrift „preservatif contre l’incrédulite“ und genauso explizit in den ersten Sätzen muss man aber auch einen Reflex auf eine Diskussion finden, deren Anfänge im 17. Jahrhundert liegen, die aber gerade in der Mitte des 18. Jahrhunderts in mehreren Publikationen wieder aktuell wird. Es geht um die Frage, wie real Erscheinungen sind, welche Traumberichte glaubhaft sind. Als Ausgangspunkt kann wohl das Buch des Kapuzinerpredigers Jacques d’Autun angesehen werden, der 1674 als eine Apologie gegen Gabriel Naudé L’incrédulité scavante, et la crédulité ignorante au sujet des magiciens et des sorciers veröffentlichte.5 In Auseinandersetzung mit dem Benediktiner Dom Augustin Calmet (1672–1757) und dessen Traité sur l'apparition des esprits, vampires, etc. veröffentlichte Nicolas Lenglet-Dufresnoy 1751 seinen Traité historique et Dogmatique sur les Apparitions, les visions & les Révélations particulières.6 LengletDufresnoy plädiert mit Blick auf (übersinnliche) Erscheinungen, die immer berichtet worden seien, im Vorwort seines Traktats dafür, man müsse den Mittelweg zwischen mittelalterlicher „crédulité“ und einer übermäßigen „incrédulité“ finden. Letztere sei die Eitelkeit derjenigen, „qui veulent avoir la réputation de gens d’esprit“.7 Der Leichtgläubigkeit, die mit dem Epitheton „mittelalterlich“ das absolute Kennzeichen der Unselbständigkeit angeheftet bekommt, wird die
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Ebd, Fol. a 3verso: aber ich weiß, das jener Mann geistvoll und vernünftig war und sich nicht windigen Projekten hingab, wie das die meisten Chemiker tun. D’Autun, Jacques, L’incrédulité scavante, et la crédulité ignorante au sujet des magiciens et des sorciers. Avecque la Response à un Livre intitulé APOLOGIE pour tous les Grands Personnages, qui ont été faussement soupçonnés de Magie. Par le R.P., Prédicateur Capucin, Lyon 1671. Lenglet-Dufresnoy, Nicolas, Traité historique et Dogmatique sur les Apparitions, les visions & les Révélations particulières: Avec des Observations sur les Dissertations du R. P. Dom Calmet sur les Apparitions et les Revenants, Avignon, Paris 1751; vgl. zu ihm: Sheridan, Geraldine, Nicolas Lenglet Dufresnoy and the Literary Underworld of the Ancien Regime (Studies on Voltaire and the eighteenth century, 262), Oxford 1989. Lenglet-Dufresnoy, Traité historique, S. VI; vgl. Wilkins, K.C., „Attitudes to Witchcraft and Demonic Possession in France during the Eighteenth Century“, in: Journal of European Studies, 3/1973, S. 348-362; entsprechend heißt es in: ARH, fol. a4recto: „Croire tout & ne rien croire, sont, de l’avis de tous les philosophes raisonables, deux excès egalement contraires à léxacte perfection de l’esprit humain.“
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Traum, Wissenschaft und Einbildungskraft
ebenso leichtfertige Skepsis zur Seite gestellt und als ein Mittel, sich widerrechtlich ein Anzeichen eines fortschrittlichen und weltgewandten Habitus anzueignen, diskreditiert. Diesem Fehlverhalten gegenüber steht der wahre „homme d’esprit“, als dessen Beispiel der vorgebliche Autor dieses Buches gezeigt wird: Er zeigt sich durchaus offen gegenüber ungewöhnlichen Erscheinungen und Realitäten und lässt seine Skepsis von empirischen Beweisen überwinden. Hierzu fordert er nun seine Leser mit Beispielen aus der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf, die er als noch nicht allgemein bekannt beschreibt.8 Das erste Beispiel beschreibt relativ detailliert einen Versuchsaufbau, der stark den 1745/46 entdeckten Phänomenen der „Leidener Flasche“ ähnelt. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Fähigkeit der Polypen, egal in wie viele Teile sie zerschnitten werden, neue vollständige Exemplare zu bilden. Dieses Phänomen war ausweislich der Encyclopédie erst 1740 von einem Mitglied der Royal Society berichtet worden, wenn auch erste Andeutungen bereits 1703 in den Philosophical Transactions gemacht worden seien.9 Bevor allerdings die Glaubensfähigkeit seiner Leser tatsächlich auf die Probe gestellt wird, diskutiert der Autor erst einmal die Vorstellung, welche die Menschen sich von Glück machen und wie und ob dies erreichbar ist. Das Glück, so schreibt er, sei untrennbar verbunden mit dem unschuldigen Charakter der Mittel, die gewählt würden, um seine Wünsche zu befriedigen, unter anderem dürfe durch das eigene Streben nach Glück niemals das Glück der anderen Menschen gestört werden. Und obwohl er die Intrigen und die Missgunst der Ungläubigen fürchte, hoffe er doch, dass diese nichts gegen die Nützlichkeit seiner Entdeckung vermochten. Er hält es nun für seine Pflicht, angesichts seines fortgeschrittenen Alters von mehr als 92 Jahren, ein solch bequemes Mittel, das doch häufig vergeblich angestrebte Glück zu erreichen, der Gesellschaft zugänglich zu machen. Schließlich hofft er, dass es dem Menschen nicht nur als fühlendem, sondern auch als vernünftigem Wesen nützt. Sein Ziel sei es nicht, den Leidenschaften zu dienen, sondern sie im Gegenteil zu zerstören, sein Ziel sei es, den Menschen beizubringen, wie sie zu einem ständigen, unschuldigen Glück gelangen könnten.10
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ARH, Fol. a8recto: „Que ceux qui refusent avec tant d’opiniatreté de croire rien de ce qui sort le moins du monde des loix generales & des cas les plus communs & les plus ordinaires de la nature, que ceux là dis-je aprennent par ces faits incontestables quil faut au moins se donner la peine d’examiner, de peur d’avoir la honte de rejetter des vérités qui feront quelque jour l’objet du respect & de l’admiration de la posterité.“ Diderot, Denis / d’Alembert, Jean Le Rond, Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences des arts et des métiers [1751–1780], ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1966/67, Bd. 12, S. 945, Artikel: „Polype, Poulpe“. ARH, S. 21: „Mon but au contraire n’est point de les [les passions, A. S.] flatter, mais de les detruire. Mon but est d’aider aux hommes a se guerir & a se corriger, c’est de les rendre
Albert Schirrmeister
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Da aber die Vorstellungen von Glück individuell weitestgehend differieren – durch soziale Bedingungen ebenso geformt wie durch das Lebensalter – stellt sich dem Verfasser noch ein weiteres Problem: Wie geht er mit den körperlichen Folgen von allzu lasziven Vorstellungen von Glück um, die doch auch durch Träume erreicht werden könnten und – wie jeder wisse – erheblich sein könnten. Die Bedingung, sein System öffentlich zugänglich zu machen, sei für ihn deshalb gewesen, dass er das Mittel gefunden habe, dass ein Körper auch unter den deutlichsten sexuellen Träumen („des songes mêmes les plus lascifs“) nicht zu leiden habe. Schließlich schildert er, wie er zu der von ihm als so bedeutend geschilderten Entdeckung gelangt ist, denn, das hält der Verfasser besonders den Gelehrten vor, nicht ihrem Genie oder ihrem Esprit verdankten sie zuallererst ihre Entdeckungen, sondern dem Zufall. Um den Zufall seiner eigenen Entdeckung zu schildern, holt der Autor weit aus (5. Kap., S. 38-57). Er schildert seine Herkunft so, dass sie ihn mit einem zu errechnenden Geburtsjahr zwischen 1647 und 1649 in nachprüfbarer Weise mitten in die naturwissenschaftlichen Kontexte des späten 17. Jahrhunderts führt: Sein Vater sei in Chemie und Botanik sehr bewandert gewesen und er selber habe dadurch die Mitglieder der Académie Royale des Sciences Tournefort und Lémery kennengelernt.11 Vor allem aber habe er Jean Richer auf seiner Expeditionsreise nach Cayenne begleiten können.12 Diese Expedition von 1672/73 wurde von John Olmstedt als Beginn der wissenschaftlichen Expeditionen überhaupt bezeichnet, sie bildete den Auftakt zu einer Serie von Expeditionen der Académie Royale.13 Der Autor behauptet, bei dieser Expeditionsreise, über die Jean Richer selber 1679 einen Bericht publizierte14, an der wissenschaftlichen Arbeit (Astronomie, Botanik, Naturgeschichte) beteiligt worden zu sein. Zudem verdanke er
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meilleurs, c’est de leur apprendre a de venir veritablement & solidement heureux par l’innocence & a gouter un bonheur constant.“ Index biographique de l’Académie des Sciences, Paris 1979: „Joseph Pitton de Tournefort, né à Aix en Provence, le 5 juin 1656; académicien botaniste, le 21 novembre 1691; pensionnaire botaniste, le 21 novembre 1691; – pensionnaire botaniste, premier titulaire, nommé par Louis XIV, le 28 janvier 1699; mort à Paris, le 28 décembre 1708. Professeur au Jardin du Roi et au Collège de France; Nicolas Lémery, né à Rouen, le 17 novembre 1645; associé chimiste, premier titulaire, nommé par Louis XIV, le 28 janvier 1699 – pensionnaire chimiste, le 23 novembre 1699 – directeur en 1712; mort à Paris le 19 juin 1715. Docteur en médecine de l’Université de Caen. Professeur de chimie. Apothicaire du Roi, à Paris.“ Index biographique: „Jean Richer, né en 1630; élève astronome en 1666; mort à Paris 1696. Astronome à l’Observatoire de Paris.“ Olmstedt, John W., „The Scientific Expedition of Jean Richer to Cayenne (1672–1673)“, in: Isis, 34/1942, S. 117-128, S. 118. Richer, Jean, Observations astronomiques et physiques faites en l'île de Caienne; Paris 1679; dieser Bericht wurde 1693 von Richer und 1729 in den Mémoires de l’Académie Royale des Sciences leicht verändert wieder gedruckt.
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Traum, Wissenschaft und Einbildungskraft
Richer den Auftrag des Hofes, nach Kanada zu reisen und dort botanische Forschungen zu betreiben. An dieser Stelle kommt endlich die konkrete Situation ins Gespräch, in welcher der Autor sein System entdeckt haben will. Denn obwohl die beiden Reisen so deutlich unterschieden seien, da seine bis jetzt noch vollständig unbekannt, die von Richer aber weithin in der „philosophischen Welt“ (le monde philosophique) bekannt geworden sei, glichen sie sich doch in einer anderen Hinsicht: Die bedeutsamen Entdeckungen seien nämlich nicht die erwarteten gewesen, sondern ganz im Gegenteil völlig unerwartet, dafür aber mit potenziell wichtigen Effekten.15 In Kanada angekommen, erkrankt der Autor ernsthaft nach dem giftigen Biss eines kleinen Tiers, er zeigt die erschreckendsten Symptome, bis hin zu einem 30 Tage andauernden Zustand völliger Lethargie. Zu seinem Glück hat er sich während der Forschungsarbeiten mit seinem Gastgeber angefreundet. Dessen Frau pflegt ihn nun mit Mitteln eines kanadischen Heilkundigen. An dieser Stelle nähert sich der Text in seinem ganzen Gestus dem „Roman libertin“ an16: Der Patient verfällt in Liebe zu seiner Pflegerin, er träumt sich in diese Liebe immer weiter hinein, hält sich nicht für fähig, der Liebe zu widerstehen. Erst spät erkennt er, dass seine Liebe allein durch die Heilmittel des kanadischen Heilkundigen verursacht worden sind. Das weckt seine wissenschaftliche Neugier, er beginnt daraufhin eine Versuchsreihe mit dem kanadischen Heilkundigen. Dieser hielt sich früher für einen Zauberer, bis er zum Christentum bekehrt worden war. Nun sammelte er zwar weiterhin die Rezepte, führt deren Wirkung aber nur noch auf die Natur zurück. Der ehemals abergläubische, als exotischer Eingeborener geschilderte Kanadier erscheint eben nicht als primitiv, sondern als durch die Bekehrung zum Christentum zivilisiert und sich die wissenschaftlichen Praktiken aneignend. Er ist damit den Europäern, die sich mit ihrer Ungläubigkeit als Zeichen einer aufgeklärten Skepsis schmücken, überlegen. In den folgenden Kapiteln 6 bis 9 (S. 58-103) bindet der Autor seine Erzählung an die philosophischen Diskussionen über den Status des Traums und des Schlafs gegenüber dem wachen Zustand an: Die Wahrnehmungsfähigkeiten im Schlaf sind hier das eine beherrschende Thema, das andere ist die Frage, welche Wirklichkeit die ausschlaggebende für das Wohlbefinden eines Menschen ist. Der Autor führt ein Gedankenspiel durch, in dem er einem König, der allnächtlich träumt, dass er ein Sklave
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ARH, S. 38f.: „Mais la ressemblance de nos deux voyages c’est le hasard nous a fait trouver a l’un & a l’autre tout autre chose que ce que nous cherchions & qu’il nous a conduits a d’etonnantes decouvertes, dont ni nous ni d’autres n’avoient pas eu meme jusque là les premiers soupçons.“ Bernier, Marc André, Libertinage et figures du savoir: rhétorique et roman libertin dans la France des Lumières (1734–1751), Paris 2001.
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sei einen Sklaven gegenüberstellt, der ebenso häufig träumt, er sei ein König. Er kommt zu dem Schluss, dass es beiden gerade gleich gut gehen müsse, da man im Schlaf die gleiche Sensibilität besitze wie während des Wachseins. Allein die stärker variierende Art der Träume führe dazu, dass sie die Menschen häufig weniger berührten. Aus diesen Überlegungen folgert der Autor, dass Glück für die Menschen eher im Schlaf als im Wachen erreichbar sei. Sein Glück im Schlaf und im Traum zu suchen, erspare im Übrigen Folgen in der Realität, die mit dem Glück nicht vereinbar seien. Die nächsten gut einhundert Seiten sind dann den einzelnen pharmazeutischen Rezepten gewidmet, die dazu dienen sollen, die eigenen Trauminhalte zu kontrollieren, um sein persönliches Glück erreichen zu können. In diesen Seiten kann man wiederum Anklänge an wissenschaftliche Kontexte, aber auch an eine weitere, hier eher unerwartete Textsorte erkennen. Einerseits zeigt der Autor wiederum, dass er auf der Höhe der Zeit ist, denn offenbar bezieht er seine Darstellungen kanadischer Heilkunde aus dem 1738 erschienenen Reisebericht des Claude Lebeau.17 Wichtiger für die irritierende Wirkung des gesamten Buches aber ist die Beziehung zu mittelalterlichen Traumbüchern, die sich auf den Propheten Daniel berufen und in Kombination mit Kräuterbüchern ähnliche pharmazeutische Wirkungsweisen versprechen. Nigel Palmer und Klaus Speckenbach, die deutsche Traumbücher des Mittelalters eingehend analysiert haben, weisen auf zwei Dinge hin, die in diesem Zusammenhang zentral erscheinen: Die illustrierten Kräuterbücher des Spätmittelalters liefern erstens in ihrer Verbindung von Astrologie und medizinischem Wissen „nicht so sehr fachbezogenes pharmakologisches Wissen für den Arzt oder Apotheker, als vielmehr Lebenshilfe und Weltdeutung für den gebildeten Laien“.18 Zum anderen ist die deutsche Traumprognostik vorwiegend in medizinischen und astrologischen Sammelhandschriften tradiert: „Die meisten Texte sind [...] als Gebrauchstexte für den Alltag geschrieben.“19
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Lebeau, Claude, Avantures du sr C. Lebeau, […] ou Voyage curieux et nouveau parmi les sauvages de l’Amérique septentrionale, dans lequel on trouvera une description du Canada, Amsterdam 1738; ich zitiere die deutsche Übersetzung: Des Hrn. Claudii Le Beau Parlaments-Advocaten zu Paris Neue Reise unter die Wilden in Nord-America; oder merkwürdige Nachricht von den alten und neuen Gebräuchen und Sitten samt der Lebensart dieser Völker Autor, Leipzig, Frankfurt 1752; offensichtlich scheint mir die Verbindung dort im 2. Hauptteil, im 26. Kapitel „Über die gewöhnlichen Krankheiten der Wilden“ und das dort ausführlich dargestellte Kräuterwissen der Kanadier; vgl. zur Bedeutung solcher Reisebeschreibungen im wissenschaftlichen Diskurs: Dew, Nicholas, „Reading travels in the culture of curiosity: Thévenot’s collection of voyages“, in: Journal of Early Modern History, 10/2006, 1, S. 39-59. Palmer, Nigel F. / Speckenbach, Klaus, Träume und Kräuter. Studien zur Petroneller „Circa instans“-Handschrift und zu den deutschen Traumbüchern des Mittelalters, Köln 1990, S. 47f.. Ebd., S. 196f.
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Traum, Wissenschaft und Einbildungskraft
Es liegt nahe, dass durch diese im ganzen Buch in den verschiedensten Varianten durchgehaltene Verbindung von aktuellem wissenschaftlichem Wissen mit obskuren pharmakologischen Rezepten und philosophischen Diskussionen über das menschliche Glück, die Unsicherheit, wie der Text verstanden werden sollte, begründet wurde.20 Gerade aber in dieser merkwürdigen Mischung von Exotisierungen scheint der Autor ein Mittel gesehen zu haben, die Bedeutung der Einbildungskraft für eine Wahrnehmung der Realität zu diskutieren, denn genau darauf geht er in zusammenfassenden Bemerkungen am Ende des Buches ein und verknüpft seine Überlegungen mit den theologisch-juristischen Diskussionen über die Verantwortung der Hexen für ihre Träume. „le jeu de l’imagination est fort necessaire dans tout ceci“, so betont der Anonymus und ich plädiere dafür, genau dies als Ziel seiner intellektuellen Spielerei zu verstehen: die Einbildungskraft in ihrer Vieldeutigkeit als konstituierendes Element der Realitätswahrnehmung zu verstehen.
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Vgl. hierzu noch einmal Nodier, Mélanges.
„Spontan“. Modifikation eines Begriffs im 18. Jahrhundert Matthias Rothe
Skizze der Bedeutungsgeschichte „Spontan“ und seine französischen bzw. englischen Entsprechungen (spontanée, spontaneous) haben ein lateinisches Vorbild: „spontis“ (Wille, Antrieb). Im Lateinischen wird dieses Wort sowohl für den Menschen im engeren Sinne als auch für Pflanzen, Dinge und Prozesse gebraucht. Im ersten Fall bezeichnet es dann das, was nach jemandes Willen sponte legatorum oder aus eigener Einsicht und absichtlich geschieht mea sponte prospexi. Der Begriff verweist, modern gesprochen, auf Selbstbestimmung gegenüber einem Agieren unter Zwang. Im Bereich der Dinge, der Pflanzen oder des Körperlichen markiert er, was, ohne dass etwas Fremdes hinzukommt, von selbst so ist bzw. sich von selbst so ergibt oder vonstatten geht: sponte natis ali (sich von dem, was von selbst wächst, ernähren) und res, quae sua sponte scelerata est (eine Sache, die an sich/von selbst frevelhaft ist), heißt es bei Cicero.1 Diese beiden Bedeutungen aus eigenem Willen und von selbst werden tradiert, allerdings bleiben spontan und Spontaneität bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Fachbegriffe. Die Medizin, die Naturgeschichte und die Philosophie prägen diese Notionen. Ein erster Beleg findet sich 1541 bei dem Arzt Jean Canappe.2 Er spricht von spontaner Bewegung und definiert sie als eine, die „se fait de soi-même, sans avoir été provoqué“, in einem vergleichbaren Sinne wird das Wort auch für eine Müdigkeit gebraucht, die einsetzt, ohne dass man sich angestrengt hatte („lassitude spontanée“, bei Ambroise Paré, etwa 1590)3 oder, so im Féraud (1787/88), _____________ 1 2 3
Alle Beispiele aus: Georges, Heinrich, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Hannover 1992, Bd. 3, S. 2778. Laboratoire d’Analyse et de Traitement Informatique de la Langue Française, http://atilf.atilf.fr/dendien/scripts/fast.exe?mot=spontan%E9 (Stand: 24.06.2007) Littré, Émile, Dictionnaire de la langue française, Paris 1872–1877, http://francois.gannaz.free.fr/Littre/accueil.php (Stand: 24.06.2007)
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„Spontan“. Modifikation eines Begriffs im 18. Jahrhundert.
für Pflanzen, die sich ohne Zutun verbreiten („les oranges y croissent [...] spontanément“).4 Worauf diese Begriffe (noch) nicht verweisen, ist der Aspekt des plötzlichen bzw. zumindest unerwarteten Auftretens. Mit „spontan“, „spontanée“, „spontaneous“ werden auch die gleichmäßigen Bewegungen des Herzens, des Blutes, der Verdauung etc. bezeichnet. In anderen Worten, Verlauf und Moment: das, was sich von selbst ergibt und das, was sich von selbst erhält oder trägt, sind, so scheint es, nicht als unterschiedliche Phänomene konzipiert, die Selbstbezüglichkeit als solche ist Thema. Die 6. Ausgabe des Wörterbuchs der Académie Française von 1835 charakterisiert dann, im Gegensatz zu den vorangehenden Editionen, Erscheinungen wie die lassitude spontanée mit der Erklärung „qui n’a pas de cause apparente“.5 Auf dieses (neue) Sinnmoment macht auch das Oxford English Dictionary (1989) in seinem etymologischen Teil aufmerksam und argumentiert mit Belegen vom Ende des 17. Jahrhunderts.6 Und das korrespondiert wohl mit der Angabe im französischen Wörterbuch, denn man muss natürlich, benutzt man Wörterbücher dieser Zeit als Dokumente, ihre Trägheit einrechnen. Mit „qui n’a pas de cause apparente“ aber ist eine Verschiebung markiert. Die Müdigkeit produziert sich nicht mehr im eigentlichen Sinne von selbst, das ist in dem nun entworfenen Szenario, wenn überhaupt, nur noch eine Möglichkeit, sondern man kennt ihre Ursache nicht bzw. sie hat keine sichtbaren Ursachen. Darüber ist das, was sich von selbst ergibt, nun deutlich von jenen Gegenständen abgegrenzt, die sich (dauernd) von selbst tragen bzw. erhalten. Auf diese Weise ist das Sinnmoment plötzlich, unerwartet zumindest vorbereitet. Ursache und Wirkung sind im Falle der Phänomene, die sich ergeben, nun als prinzipiell voneinander trennbar gedacht. Nicht mehr ihre Selbstbezüglichkeit ist betont, sondern ihr Auftreten ist erklärungsbedürftig. In anderen Worten, referiert wird nicht mehr (nur) auf eine Eigenschaft der Sache, sondern nach ihrem Zustandekommen wird gefragt, sie wird als Wirkung von etwas, das man nicht kennt vorgestellt. Bei Buffon schließlich hat sich der Gebrauch von spontan im Sinne eines plötzlichen, unerwarteten Auftretens als eine eigenständige Variante durchgesetzt. Wenn er die Sonnenflecken beschreibt und ihr Erscheinen _____________ 4
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Féraud, Jean-François, Le dictionaire critique de la langue française, Marseille 1787–1788, ND Tübingen 1994, http://www.lib.uchicago.edu/efts/ARTFL/projects/dicos/FERAUD/search.feraud.html (Stand: 24.06.2007) Dictionnaire de l’Académie Française, 6. Aufl., Paris 1835, http://www.lib.uchicago.edu/efts/ARTFL/projects/dicos/ACADEMIE/SIXIEME/ (Stand: 24.06.2007). The Oxford English Dictionary, 2. Aufl., J.A. Simpson/E.S. Weiner (Hrsg.), Oxford 1989, Bd. 16, S. 306f.
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spontan nennt („leur apparition spontanée […]“)7, dann kann er nicht mehr meinen, dass sie sich von selbst produzieren oder reproduzieren oder dass niemand weiß, vorher sie stammen, denn er kennt die Ursache: Kometen, die in der Sonne aufschlagen und ihre flüssige, brennende Masse bewegen. Buffon spricht auch gar nicht von den „taches spontanées“, er hält also die Perspektiven auseinander. Möglich sind fortan beide Verwendungsweisen (denn die Selbstbezüglichkeit bleibt Option): spontan kann also heißen von selbst und zugleich plötzlich bzw. unerwartet oder aber nur plötzlich bzw. unerwartet. Auch in Bezug auf menschliches Verhalten findet sich spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts die Bedeutung plötzlich, im Sinne von ungeplant oder unerwartet. Wenn der Handelnde spontan agiert, tut er dies „without thought and premeditation“, so das Oxford English Dictionary (1989).8 Es verweist auf Beispiele aus dem Jahre 1800. Das Wörterbuch der Académie Française bemerkt diesen Gebrauch erst in seiner 8. Ausgabe (1932–35). Zu „spontanée“ heißt es dort, „[ce] que l’on fait de soi-même, de premier mouvement, de façon impulsive (aveux spontanés)“.9 Für den Zedler (1731–1751) hingegen war ein spontanes Geständnis nichts als ein freiwilliges und spontanea action war eine „Handlung, zu der man sich ohne Zwang, freiwillig entschließt.“10 Wenn Jane Austen in Mansfield Park (1814) schreibt: „Lady Bertram agreed to it all with a calm ‚Yes‘; and at the end of a quarter of an hour’s silent consideration spontaneously observed: ‚Sir Thomas, I have been thinking [...]‘“ legt der Kontext („at the end of a quarter of an hour’s silent consideration“) hingegen nahe, dass diese Intervention weder ungeplant noch „without thought“ erfolgt, sie wurde nur vom Betrachter nicht erwartet. 11 Die mühsame Ausarbeitung der Bereiche, in denen impulsiv, ungeplant und absichtlich noch zur Deckung kommen, kann jetzt den Juristen überlassen werden.
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Buffon, Georges-Louis Leclerc, Des Époques de la Nature, Paris 1787, S. 47. Vgl. The Oxford English Dictionary. Dictionnaire de l’Académie Française, 8. Aufl., Paris 1932–1935, http://www.lib.uchicago.edu/efts/ARTFL/projects/dicos/ACADEMIE/HUITIEME/ (Stand: 24.06.2007) Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle, Leipzig 1731–1751, Bd. 39, S. 191. Austen, Jane, Mansfield Park, London 1814, Bd. 2, S. 242f.
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Experimente, Kämpfe und Freundschaften Was aber hat den Übergang vom Gebrauch des Wortes spontan im Sinne einer Selbstbezüglichkeit (sich von selbst ergeben) zu plötzlich entstehen (unerwartet, unvorhersehbar) möglich gemacht? Ich möchte versuchen, zumindest einige der beitragenden Faktoren zu identifizieren, vorerst anhand eines gut dokumentierten Beispiels, dem Konzept der spontanen Generation. Es geht auf Aristoteles zurück. Bei ihm ist von genesis automatos („Entstehung von selbst“) die Rede, eine Bildung von Würmern, kleinen Insekten etc. ohne Paarung aus faulenden, im heutigen Sinne, organischen oder auch anorganischen Stoffen (etwa Schlamm).12 Der aristotelische Begriff wird dann im Lateinischen durch die Wendung generatio spontanea ausgedrückt (so etwa bei Thomas) Im Französischen erscheint das Konzept bei Buffon („génération spontanée“), der, in Allianz mit John Needham, die Debatte um die Spontanenstehung von Lebewesen im 18. Jahrhundert neu belebt. Die aristotelische Physik blieb bis weit ins 17. Jahrhundert hinein ein maßgeblicher Bezugsrahmen, genesis automatos konnte, solange sie innerhalb dieses Kontextes gedacht wurde, wohl weder ohne ersichtliche Ursache noch plötzlich heißen. Das Wasser und die im Wasser enthaltene Luft, so Aristoteles, werden in einem Raum (in der Erde) eingeschlossen und erwärmt. Leben entsteht, denn die Luft ist beseelt, sie enthält Lebenswärme, „so dass gewissermaßen alles mit Leben (Seele) erfüllt ist“ – die moderne Unterscheidung organisch vs. anorganisch verfehlt diesen Tatbestand. Die aristotelische Ursachenlehre versagt vor diesem Phänomen also nicht: alles, was wird, entsteht aus etwas (Wasser/Luft/Erde) und zwar durch das Einwirken von etwas (Wärme) und wird zu etwas (ein bestimmtes Lebewesen, das sein Ziel in sich trägt). Diese Entstehung geschieht von selbst in dem Sinne, dass es für die vier Elemente, die bei jeder Zeugung beteiligt sind, keine Träger gibt (das Männliche trägt üblicherweise das Pneuma und die Feuchtigkeit, mithin den eidos und das Weibliche die Materie, hyle). Die Elemente tragen sich im Falle der Spontanentstehung selbst. Durch eine genaue Beobachtung, etwa von Mücken, die im Schlamm ‚entstehen‘, wird man des Phänomens vielleicht gewahr, aber Aristoteles geht es nicht darum, die Zufälligkeit dieser Entstehung zu beschreiben, ebenso wenig interessiert er sich für die Umstände, die paarungsfähige Lebewesen zusammenführen. Er ordnet, klassifiziert und präsentiert im Rahmen seiner Metaphysik, was jeder sehen oder sich erzählen lassen kann: die verschiedenen Zeugungsarten. _____________ 12
Aristoteles, „Von der Zeugung und Entwicklung der Tiere“, in: ders., Werke, Hermann Aubert/Friedrich Wimmer (Hrsg.), Aalen 1987, Bd. 3, 3.111-3.112.
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Buffons Vorgehen, mithin seine Idee von Spontanentstehung unterscheiden sich davon grundsätzlich. Zu seiner Zeit ist der Aristotelismus, aus Gründe, die sich kaum erschöpfend aufzählen lassen, in der Krise, etwas salopp gesagt, man beschränkt sich nicht mehr auf die Beobachtung natürlicher Abläufe und ihre Klassifizierung im Rahmen einer vorgängigen Kosmologie, sondern widmet sich nun ausführlich den künstlichen und gewaltsamen Bewegungen, um von ihnen auf die natürlichen zu schließen. Das heißt, es wird experimentiert und der Forscher muss zugleich das Ereignis selbst bezeugen. Buffons so erfolgreiche Reanimation der generatio spontanea in der Mitte des 18. Jahrhunderts verdankt sich einem Instrument, dem Mikroskop und einem Streit der Schulen, der aber zugleich ein äußerst politischer war, der Gegnerschaft zwischen den Anhängern einer Epigenesis, den Materialisten (Diderot, Robinet, La Mettrie etc.) und den Präformisten, die mit Hilfe der Idee, dass alles Leben in Miniatur im Samen bereits angelegt ist, zugleich Gottes Plan und seine harmonische Anlage der Welt zu verteidigen suchten. Dass die generatio spontanea auch ein strategisches Element im Kampf gegen die Konzepte Plan und Vorbestimmung war, mag also durchaus dazu beigetragen haben, dass sich spontan mit der Bedeutung plötzlich und ohne ersichtliche Ursache etablieren konnte. Eine diesem Gebrauch entsprechende Erfahrung kommt aber wohl mit dem durch das Mikroskop ermöglichten Beobachtungsverhältnis ins Spiel. Buffon nimmt dieses Instrument sehr ernst. In seiner Histoire Naturelle widmet er ihm knapp hundert Seiten, analysiert mögliche Fehlerquellen und sucht externe Einflüsse auszuschalten (Lichteinfall, das Zittern der Hände, der unebene Grund usw.).13 Was er dann auf dem Plättchen unter dem Mikroskop zu erkennen meint, sind kleine organische Körper. Sie bilden sich, so Buffon, aus „petits globules fort actifs, & dont les mouvements étoient très rapides“.14 Diese kleinen organischen Moleküle formen Körper aufgrund von in ihnen wirkenden Kräften, die „ne pourront jamais tomber sous nos sens“.15 Die organisierten Körper sind also Effekte unsichtbarer Kräfte, mithin ist ihr Auftritt unvorhersagbar. Aber auch die Moleküle selbst sind unsichtbar und ebenso ihre ersten Zusammenschlüsse: „si elles ne se rassemblent qu’en petite quantité, le corps qu’elles formeront, sera trop petit pour être aperçu.“16 Ist man jedoch geduldig, so Buffon, erscheint ein _____________ 13 14 15 16
Buffon, Georges-Louis Leclerc, Histoire naturelle générale et particulière, Paris 1749–1789, Bd. 2, S. 168-255. Ebd., S. 303. Ebd., S. 45. Ebd., S. 300.
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Körper, „qui se meut & qu’on peut apercevoir au microscope“.17 Das ist die génération spontanée à la Buffon. Man weiß warum (unsichtbare Kräfte) und woraus (organische Moleküle), aber man weiß weder was, noch wann, erwartet aber, anders als im Falle der aristotelischen Konzeption, gerade darauf Antworten (dazu wird das Mikroskop schließlich benutzt). In diesem Kontext liegt es nahe, dass das Spontane eben nicht mehr nur die Selbstbezüglichkeit der Elemente meint, sondern auch jenes plötzliche Erscheinen eines Körpers „dans l’oeil de l’observateur“.18 Und dieses Erscheinen wiegt um so schwerer, wenn man bedenkt, dass Buffon wohl nicht auf serielles Experimentieren abzielt19, sondern eher auf das eine qualitative Experiment, das mikroskopische Ereignis, das die „génération spontanée“ beweisen kann, – die entscheidende (erwartete) Überraschung. In anderen Worten, auch das Plötzliche verliert an Wert, wenn es sich wiederholt. Der Gebrauch des Wortes spontan, ist, so scheint es, hier an die Erfahrung einer Emergenz geknüpft: die Entstehung einer Ordnung, die aus den vorausgehenden Elemente allein, nicht mehr erklärbar ist. Man kontrolliert die Ausgangsbedingungen (das Plättchen unter dem Mikroskop), man hat sie sogar selbst hergestellt (ein Tabu der aristotelischen Physik) und dennoch vermag das Ergebnis zu überraschen. Diese Erfahrung kann auf sehr verschiedene Weisen zustande kommen. Beispielsweise gebraucht Ferguson in seinem „Essay on the History of the Civil Society“ (1767) spontan im gleichen Sinn (plötzliches bzw. unerwartetes Auftreten). Er bezeichnet dort die Tugend unter bestimmten Umständen: Herrschaft von Gewalt und Begierden als „spontaneous offspring of the heart“.20 Die Änderung dieser Umstände sollte man nicht vom Staat oder von polizeilichen Maßnahmen erhoffen, sondern sie geschieht (zwar auch) von selbst, aber vor allem dann, wenn es gar nicht mehr erwartet wird, stellt sich eine moralische Ordnung her. Wiederum hat man eine bekannte Ausgangslage (Menschen im Zustand moralischen Verfalls), das Szenario einer Kontrolle (durch die Staatsmacht) und ein (wie erwartet) nicht zu erwartendes Ergebnis. Die besondere Situation der schottischen Aufklärung, Fergusons enger Austausch mit David Hume und Adam Smith, hat es sicher mit ermöglicht, dass eine solche Erfahrung bzw. Figur (Emergenz) sich verallgemeinerte. Sie konnte eine ökonomische (Smith) bzw. anthropologische _____________ 17 18 19 20
Ebd. Ebd., S. 174. Dafür spricht, dass er vor allem die vorbereitende Herausrechnung von Fehlern beschreibt und eben nicht dem Leser Versuchsreihen präsentiert. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society, Edinburgh 1767, http://www.constitution.org/af/civil.htm (Stand: 24.06.2007)
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Absicherung (Hume) gewinnen (vgl. den folgenden Abschnitt). Und sucht man über diese verstreuten Kontexte hinaus ihre Stabilität zu erklären, die, und darum geht es, zum Erhalt des infrage stehenden Wortgebrauchs beiträgt, sollte man vielleicht (mit Foucault) nach einem sozialen Notstand fragen, auf den sie eine Antwort gewesen sein könnte. Die Figur der Emergenz hat die neuen ökonomischen und politischen Akteure gegenüber dem dirigierenden Staat mit einer Rechtfertigung versehen. Laissez faire, und alles wird gut. Die Position des Willens Proudhon (1872) präzisiert Fergusons Szenario. In seinem Begriff spontanéité sociale konvergieren zwei Verwendungsweisen von spontan. Die sozialen Ordnungen „des monarchies et des républiques, la distinction des castes, les institutions judiciaires“ erscheinen, ohne dass man sie vorhersagen kann.21 Sie sind aber Effekte einer anderen Spontaneität, die nicht auf ein plötzliches oder unerwartetes Erscheinen referiert, sondern auf ein ungeplantes Handeln in Gemeinschaft. Proudhon spricht von „la spontanéité d’action, autrement dit, l’instinct“22 und grenzt dieses Handelns von einem Agieren ab, bei dem der Mensch „n’obéit […] qu’à des motifs“.23 Hier hat sich dann die traditionelle Bedeutung von spontan (absichtlich, aus Einsicht, vom Willen her) ganz verkehrt, das wird nicht zuletzt durch das synonym verwendete Wort „l’instinct“ und die Opposition („obéir à des motifs“) einsichtig. Spontan, in seiner neuen Form, wurde also schließlich für die Klassifizierung menschlichen Verhaltens verwandt (plötzlich, ungeplant bzw. unerwartet), – und von diesem Erfolg her rückwirkend stabilisiert, nicht zuletzt entspräche eine solche Richtung den Vermerken in den Wörterbüchern. Man kann dies vielleicht im Kontext der in die Krise geratenen Vermögenspsychologie verstehen, die auch eine veränderte Erfahrung impliziert.24 Der Mensch, so die dort leitende Idee, wird vom Willen bewegt, und der Wille ist ein ‚blinder Souverän.‘ Er wird von zwei Instanzen bedrängt, die ihn zu führen beanspruchen: Leidenschaften und Vernunft. Das Han_____________ 21 22 23 24
Proudhon, Pierre Joseph, Système des contradictions économiques ou philosophie de la misère, Paris 1961, S. 2. Ebd. Ebd. Vermögenspsychologie meint die Annahme von hierarchisch organisierten Abteilungen der Seele (vegetativer, animalischer, vernünftiger Teil) und damit einhergehenden Vermögen (Wille, Vernunft, Phantasie etc.) und Regierungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnissen.
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deln aber liegt, unabhängig davon, welche der Instanzen sich am Ende Gehör verschafft, im Willen selbst begründet, gegen ihn kann nichts mehr eingesetzt werden. Augustinus hat dies vielleicht am prägnantesten formuliert.25 Wenn Leibniz, Anthony Collins, Hume und andere dem schließlich entgegenhalten: ‚Man kann nicht wollen, was man will‘26 steht das nur am Ende einer langen Umordnung, die sich im Laufe des gesamten 17. Jahrhunderts vollzogen hatte. Am deutlichsten sichtbar wird diese Veränderung wohl im Nachdenken über die Affekte. Zum einen wurden die Leidenschaften in den Körper mit Hilfe aller verfügbaren medizinischen Theorien eingeschrieben, zum anderen wurden sie nun als Bewegungen auch von der nicht aristotelischen Physik ernst genommen und über Begriffen wie Kraft, Gegenkraft und Wechselwirkung verständlich gemacht. Kurz, sie wurden auf Selbstlauf gestellt (analog zum gerade entdeckten Blutkreislauf), beständig gemacht und auf diese Weise zur versteckten Antriebskraft. Ob dem Willen nun Gefühle (Hume) oder Lebenskraft (Stahl) oder etwas anderes vorgeschaltet werden, ist unerheblich. Er wird erfolgreich hintergangen, darauf kommt es an. Der Wille ist nur noch Effekt vorgängiger Prozesse und so musste sich auch die Vorstellung davon, was es heißt aus eigenem Willen zu agieren, ändern. Fechners Psychophysik (1889) ist vielleicht die radikale Anerkennung dieser Erfahrung, die Spontaneität wird zum Kernstück der Psychologie. Wenn Menschen (und Tiere) dann, etwa bei Rousseau, als spontan bezeichnet werden27, ist eine andere Bedeutung wieder im Spiel, nur auf neuem Terrain: Sie bewegen sich von selbst. Dieser Gebrauch überlagert an einer sensiblen Stelle (die Bestimmung der causa efficiens) die Bedeutung aus eigenem Willen. Zu der den Menschen hier zugeschrieben Spontaneität gibt es keine Alternative mehr28, sie ist geradezu ein Kennzeichen für das Lebendige. Spontaneität des Menschen heißt nun ganz allgemein Selbsttätigkeit..29 Wie dieses Selbst- aber zustande kommt, worin sein Prinzip liegt, steht zur Debatte und wird von Leibniz, Hume, Kant etc. unterschiedlich beantwortet. Der Wille aber ist allerorts zur ‚Schwachstelle‘ geworden. Er _____________ 25 26 27 28 29
Vgl. Augustinus, Der freie Wille, Paderborn 1947. Vgl. Collins, Anthony, A philosophical Inquiry concerning Human Liberty, Birmingham 1714, S. 41; Hume, David, A treatise of Human Nature, Oxford 2005, S. 265; Leibniz, Gottfried Wilhelm, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Hamburg 1996, S. 159. Rousseau, Jean-Jacques, Emile, Paris 1969, S. 574. Allenfalls eine „spontanéité machinale“, vgl. Proudhon, Système des contradictions économiques, S. 28. Spontan (von selbst) wird hier im Kontext einer anderen Vorstellung von Ordnung produktiv: der Idee vom Organismus als einem Gebilde, das sich ganz aus sich heraus entwickelt und erhält. Selbstorganisation und Emergenz, – zwei außerordentlich anschlussfähige Beiträge des 18. Jahrhunderts.
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ist selbst nur noch eine emergente Erscheinung. Leibniz nennt ihn eine endlich „obsiegende Kraftäußerung“30, die aus einer Vielzahl von Empfindungen, Antrieben und unmerklichen Wahrnehmungen hervorgeht, – wie Buffons kleine Organismen oder Fergusons Tugend. Der Wille selbst also kann plötzlich und unvorhersehbar erscheinen und die Handlung, die er ermöglicht, ist dementsprechend ungeplant (spontan heißt dann aus einem plötzlichen Entschluss heraus agieren). Aber wenn der Wille nicht mehr gewollt werden kann, macht er sich beinahe redundant, man hält sich besser gleich an die dahinter liegenden Prinzipien, handelt spontan (instinktiv) oder folgt eben doch seinen Plänen. Nicht zuletzt können die Formen von Spontaneität, von denen hier die Rede war, sinnvoll verschaltet werden. So wie Proudhon die spontane (unerwartete, ungeplante) Entstehung von Ordnung mit dem spontanen (instinktiven, impulsiven) Handeln erklärt, so beruht doch dieses wiederum auf spontanen (sich selbst tragenden) Prozessen. Blickwechsel Der Verwendung von spontan im Sinne von plötzlich oder unerwartet, die sich im 18. Jahrhundert durchsetzen konnte, impliziert vielleicht zudem eine epistemische Veränderungen (bzw. diese ist Effekt verstreuter, lokaler Prozesse), genauer, sie impliziert ein verändertes Beobachtungsverhältnis, einen ‚Zugriff auf Welt‘, für den die Mikroskopie nur ein Beispiel abgibt. Menschliches Verhalten, die Entstehung von Leben, soziale Phänomen etc. werden unter genau bestimmbaren Bedingungen zu Ereignissen: Ein real oder gedanklich gut abgestecktes Feld und einen darauf bezogenen Beobachter, der selbst unbeobachtet, also ausgeschlossen ist. Nur wenn der Blick in diesem Sinne von außen kommt, hat man es mit plötzlichen, unerwarteten und ungeplanten (eben spontanen) Vorkommnissen zu tun und zugleich werden einem ihre Gründe dunkel, denn diese sind immer schon der Beobachtung entzogen (verborgene Kräfte, innere Prinzipien etc.). Zeugenschaft, so ließe ich grob behaupten, wird zur Bedingung für wahre Aussagen. Zeugenschaft bedeutet: verbürgte Gleichzeitigkeit mit einem Ereignis, die Perspektive eines anwesend ausgeschlossenen Betrachters muss auch im Gestus des Schreibens bzw. Sprechens aufgehoben sein. Dem Wort spontan, sofern es ein unerwartetes, plötzliches Auftreten meint, ist diese Perspektive eingeschrieben. Wenn ich dann von mir
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Vgl. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 172.
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behauptet, ich handle oder entschiede mich spontan, bin ich für mich selbst immer schon ein anderer.31
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Was es über die Leidenschaften und den Willen zu wissen gebe, findet jeder in sich selbst (vgl. Descartes, Réne, Les Passions de l’Ame, Hamburg 1996, S. 1.). Genau dies ist für Hume nicht mehr akzeptabel. Es bedarf eines Beobachters, der sieht, was mir entgehen muss (vgl. Hume, A treatise of Human Nature, S. 262). Die Wahrheit über mich liegt im Blick von außen.
Traum, Wahn und Wahnwissen. Karl Philipp Moritz als Sammler psychologischer Erfahrungsberichte Yvonne Wübben In einem populärwissenschaftlichen, für den Grenzboten verfassten Kurzprosatext nimmt Gottfried Benn eine für seine Zeit nicht untypische Bewertung von Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde vor. Er ordnet die Zeitschrift dort der Phase der so genannten Verwissenschaftlichung der Psychologie zu und meint damit deren empirische Ausrichtung und Anlehnung an die Medizin.1 Einen ähnlichen Akzent setzten Forschungsarbeiten, die sich seit den 1970er Jahren eingehender mit Moritz’ Magazin befasst haben.2 Sie sahen dessen Bedeutung in der Orientierung an der Erfahrung sowie in der Bereitstellung jener Kasuistiken, auf denen die moderne psychologische Wissensbildung gegründet sei.3 Betont wurde erneut der empirische Anspruch des Magazins, der zugleich mit einem spezifischen Seelenverständnis einherginge. In Moritz’ Psychologie, heißt es z. B. bei Lothar Müller, „erhält die Seele einen Status, durch den sie als Objekt wissenschaftlicher Erforschung einem Organ des Körpers prinzipiell vergleichbar wird“.4 Physische Seelenlektüren seien im 18. Jahrhundert zum Gegenstand der Psychologie geworden ebenso wie Romane zu „Observatori[en] der Seele“5 avancierten und damit die Frage nach
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Benn, Gottfried, „Medizinische Psychologie“, in: ders., Essays und Reden in der Fassung der Drucke, Bruno Hillebrand (Hrsg.), Frankfurt am Main 1989, S. 23-27, hier S. 26 (Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, 4 Bde., Bruno Hillebrand [Hrsg.]). Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit. Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, S. 108f.; Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 226ff. Bennholdt-Thomsen, Anke / Guzzoni Alfredo, Der Asoziale in der Literatur um 1800, Königstein 1979, S. 38; Bezold, Raimund, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984, S. 122; Kershner, Sybille, Karl Philipp Moritz und die „Erfahrungsseelenkunde“. Literatur und Psychologie im 18. Jahrhundert, Herne 1991, S. 47 u. 56. Müller, Lothar, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis, Frankfurt am Main 1987, S. 60. Gailus, Andreas, „A Case of Individuality: Karl Philipp Moritz and the Magazin for Empirical Psychology“, in: New German Critique. An Interdisciplinary Journal of German Studies,
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parallelen Momenten bzw. Differenzen von Literatur und Erfahrungsseelenkunde aufwarfen.6 Der vorliegende Beitrag greift diese Fragen auf, indem er das Magazin in den Wissenspraktiken des 18. Jahrhunderts verortet und dessen methodische Ausrichtung im Kontext der Zeit erfasst. In welchem Sinn ist die Erfahrungsseelenkunde empirisch zu nennen? Inwiefern wird mit der Zeitschrift ein neuer Erfahrungsbegriff wissenschaftlich fruchtbar gemacht und auf die Psychologie übertragen? Und worin besteht schließlich ein mögliches gemeinsames Moment von Wissen und Literatur? Moritz’ Diktum, dass das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde in erster Linie dem Sammeln von „Fakta“ dienen solle7, wird häufig als Beleg für die empirische Orientierung der Zeitschrift angeführt8; insbesondere dann, wenn unter „Fakta“ Tatsachen im Sinn des 19. Jahrhunderts verstanden werden, wenn damit „unverarbeitetes, nicht durch Deutungen und Hypothesen affiziertes Grundmaterial der Erkenntnis“ gemeint ist.9 Diese Auffassung ist jedoch problematisch, insofern sie ein modernes Tatsachenverständnis auf das 18. Jahrhundert zurückprojiziert. Zwar ist der Begriff ‚Tatsache‘ bereits um 1750 nachweisbar. Er firmiert allerdings als Übersetzung von ‚matter of fact‘ und kann ein historisches Ereignis oder einen juristischen Sachverhalt bezeichnen. Im Gegensatz zum späteren Begriffsgebrauch meint Tatsache im 18. Jahrhundert nicht etwa die Absenz von Deutungen. Es benennt ein historisches Ereignis, das nicht heilsgeschichtlich gedeutet, sondern in der Naturordnung verortet wird.10 Dieses Verständnis ist besonders in der Experimentalphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts greifbar. Nicht die Suspension von Deutungen, vielmehr der
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79/2000, S. 67-105, Košenina, Alexander, Karl Philipp Moritz. Literarische Experimente auf dem Weg zum psychologischen Roman, Göttingen 2006, S. 99-119 (Kl. Schriften zur Aufklärung, 14). Kershner, Karl Philipp Moritz, S. 115-131; Ecker, Hans-Peter, „Vielleicht auch ein bißchen Geschwätz. Zur Differenz von Anspruch und Realität in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde am Beispiel der Selbstmordfälle“, in: Hartmut Laufhütte (Hrsg.), Literaturgeschichte als Profession. Festschfrift für Dietrich Jöns, Tübingen 1993, S. 177-207, hier S. 199; Eckhardt, Georg, „Anspruch und Wirklichkeit der Erfahrungsseelenkunde, dargestellt an Hand periodisch erscheinender Publikationen um 1800“, in: Olaf Breidbach/Paul Ziche (Hrsg.), Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena/Weimar, Weimar 2001, S. 179-202. Moritz, Karl Philipp (Hrsg.), GNOTHI SAUTON oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, 10 Bde., Berlin 1783 (ND 1978/79), Bd. 1, 1. St., S. 31. Schrimpf, Hans Joachim, „Das ‚Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‘“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 99/1980, 2, S. 161-187, hier S. 162; Davies, Martin L., „Karl Philipp Moritz’s Erfahrungsseelenkunde: Its Social and Intellectual Origins“, in: Oxford German Studies, 16/1985, S. 13-35, hier S. 26. Halbfass, Wilhelm, Art. „Tatsache“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Joachim Ritter u. a. (Hrsg.), Bd. 10: St-T, Darmstadt 1998, Sp. 910-913. Dear, Peter, „Miracles, Experiments and the Ordinary Course of Nature“, in: Isis, 81/1990, S. 663-683.
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Verlust der heilsgeschichtlichen Sinndimension verleiht einem historischen Ereignis somit den Status eines Faktums. Moritz scheint von Fakten in ähnlichem Sinn zu sprechen, wie sein mit Karl Friedrich Pockels ausgetragener Streit über die Zielsetzung des Magazins verdeutlicht.11 Während seiner Italienreise hatte Pockels als Herausgeber des Magazins fungiert und programmatische Weichenstellungen vorgenommen. Offenbar befürchtend, die in der Zeitschrift versammelten Beiträge zu Gespenstererscheinungen könnten den „lächerlichen Geisterglauben“ befördern12, versieht er sie mit einer Lektüreanweisung. Sie sollten vernünftige Leser zum Nachdenken anregen13, und – heißt es in apologetischem Tonfall – als Warnung vor Irrtümern der Religion zu verstehen.14 Vehement richtet sich Moritz nach seiner Rückkehr aus Italien gegen diese Funktionsbestimmung. War das Magazin nach Pockels als Heilmittel im Kampf gegen den grassierenden Aberglauben zu gebrauchen, witterte Moritz hinter dieser Vereinnahmung den Geist platter Aufklärung: Denn was, entgegnet er, geht den Psychologen die Aberglaubenskritik an? In der Revision von Pockels Revision vermerkt er ferner: „Die Revision über die gesammelten Fakta in einem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sind nicht dazu, um diese Fakta nur größtentheils als leere Einbildungen kurz abzufertigen“.15 Ziel des Magazins sei es dagegen, Berichte zu sammeln und nicht, sich ein Urteil über Erfahrungen zu bilden. Die Fragen, die Pockels zum Gegenstand der Psychologie erklärte, bleiben bei Moritz ausgespart. Wie lassen sich dieser Bruch mit der Aberglaubenskritik und die damit verbundene Suspension des Urteils nun wissenshistorisch verorten? Aus welchen Konstellationen gehen sie hervor? Wie für viele seiner Zeitgenossen waren Erfahrungen für Moritz zu einem epistemologischen Problem geworden: Sollten sie als singuläre und individuelle Ereignisse Wissen über Welt enthalten, mussten Erfahrungen von Täuschungen zuverlässig unterschieden werden können. Anders als Immanuel Kant versucht Moritz allerdings nicht, Erfahrungsbedingungen aus apriorischen Prinzipien abzuleiten. Auch kennzeichnete er bestimmte Erfahrungen – wie vermeintliche Geisterwahrnehmungen – nicht vom
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Müller, Die kranke Seele, S. 78 f. Pockels, Karl Friedrich, „Fortsetzung der Revision des 4ten, 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins“, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, 6/1788, 2. St., S. 1-18, hier S. 1ff. Müller, Die kranke Seele, S. 78. Dürbeck, Gabriele, „Aporien der Erfahrungsseelenkunde“, in: Anneliese Klingenberg (Hrsg.), Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahmen – Korrekturen – Neuansätze. Internationale Fachtagung vom 23.-25. September 1993 in Berlin, Tübingen 1995, S. 226-237, hier S. 230. Moritz, Karl Philipp, „Revision über die Revision des Herrn Pockels in diesem Magazin“, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, 7/1789, 3. St., S. 3-11, hier S. 4.
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transzendentalen Standpunkt aus als wahr oder falsch; er etikettiert sie nicht zum bloßen Wahn. Diese Absage mag zum einen strategisch motiviert sein: Um 1780 waren diverse neuplatonische und hermetische Autoren einflussreich, die Geisterwahrnehmungen für wissenschaftlich begründbar hielten. Gegenüber diesen Positionen signalisiert Moritz eine gewisse Offenheit.16 Seine Urteilssuspension scheint zudem wahrnehmungstheoretisch begründet. Obwohl niemals systematisch ausgeführt, basiert sie offenkundig auf ästhetischen Überlegungen, die im Anschluss an Christian Wolff und Alexander Baumgarten in der mittleren Aufklärung verbreitet waren und unter anderem vom Halleschen Aufklärer Georg Friedrich Meier vertreten wurden. Die Halleschen Ästhetiker bemühten sich nämlich nicht nur um eine Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis, die zwar nicht distinkt, aber dennoch klar sei. Sie erklärten das Schöne ferner zu einer Erfahrungskategorie, indem sie auf die Mannigfaltigkeit dunkler Erkenntnisse als Aspekt ihrer Vollkommenheit verwiesen.17 Wiederholte Wahrnehmungen bzw. Erfahrungen, vor allem wenn sie von mehreren Personen geteilt werden, trugen demnach dazu bei, Objekte oder Ereignisse in ihrer Mannigfaltigkeit zu erkennen. Was an der Mannigfaltigkeit dann allgemeingültig war, ließ sich wiederum anhand einer bestimmten Anzahl von Erfahrungen ableiten.18 An diesen Erfahrungsbegriff, der Berichte über mögliche Gespenstererscheinungen zunächst prüft und nicht dogmatisch abweist, scheint Moritz’ anzuknüpfen. Wie bereits Max Dessoir und Helmut Pfotenhauer nahe gelegt haben19, orientiert er sich mit den Konzepten ‚Perzeption‘ und ‚Einheitin-der-Vielheit‘ an der Begrifflichkeit der Wolff-Baumgarten-Schule. In ähnlicher Weise wie Meier reflektiert er über Gespenstererfahrungen. Nicht die psychologische Theorie (etwa die der Einbildungskraft) kann eine mögliche Erfahrung als wahr oder falsch ausweisen, indem sie die Wahrnehmung als Täuschung markiert. Vielmehr soll die Erfahrung, so legt es das Programm nah, allgemeines psychologisches Wissen generieren. Zunächst beschränkt sich das Projekt jedoch auf das Sammeln von Erfahrungsberichten und nicht auf die Wissensbildung. Damit wird indiziert, dass aus den einzelnen Berichten zu diesem Zeitpunkt noch kein all-
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Wübben, Yvonne, „Der Schwärmer als Selbstbeobachter. Zur Transformation hermetischen Wissens in Karl Philipp Moritz’ „Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers“, in: Ursula Goldenbaum/Alexander Košenina (Hrsg.), Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 3, Hannover 2007, S. 171-197. Meier, Georg Friedrich, „Von dem Gegenstand der menschlichen Erkenntnis“, in: Der Mensch, sechster Theil, Halle 1753, S. 387-402, hier S. 387. Meier, Georg Friedrich, Beyträge zur Lehre von den Vorurtheilen, Halle 1766. Dessoir, Max, Moritz als Ästhetiker, Berlin 1889, S. 18; Pfotenhauer, Helmut, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, S. 105.
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gemeines psychologisches Wissen generiert werden kann. Die Objekte der Psychologie, d. h. die Berichte, stehen damit zunächst für sich und haben insofern Faktizitätsstatus, als ihnen nicht die Funktion zukommt, ein bestimmtes Dogma zu be- oder widerlegen. Moritz’ Magazin ist demnach empirisch zu nennen, insofern es „Fakta“ herstellt, d. h. Erfahrungsberichte vereint, und nicht insofern es psychologisches Wissen aus diesen generiert. Wie die Literatur sind diese Erfahrungsberichte narrativ und verweisen damit auf ein gemeinsames Moment von Wissen und Literatur. Im Gegensatz zu Tatsachen des 19. Jahrhunderts müssen die hergestellten Fakten nicht frei von Deutungen sein. Sie sind nicht mit den neutralen Fakten gleichzusetzen, die im Positivismus oder Empirismus als Grundlage von Wissensbildung fungieren sollten. Zugleich zeigt das Magazin, dass Erfahrungen, die, wie vermeintliche Gespensterwahrnehmungen, der anderen Seite der Vernunft zugerechnet werden, nicht aus dem Prozess der Wissensbildung ausgeschlossen werden. Neben Versuchen, das Erfahrungsseelenkunde-Programm wissenstheoretisch zu profilieren, knüpft Moritz an eine verbreitete Wissenspraktik des 18. Jahrhunderts an. Bereits Lothar Müller hat mit dem Hinweis auf Moritz’ Dilettantismus ein wichtiges Stichwort geliefert, das auf die konkrete Durchführung des Projekts verweist. Das Magazin adressiert sich an Gelehrte unterschiedlichster Religionszugehörigkeit20, Herkunft und Profession, die als (Selbst)Beobachter tätig werden, ohne ausgewiesene Experten zu sein.21 Mit der Erweiterung des Adressatenkreises räumt Moritz auch vermeintlichen Dilettanten eine Funktion bei der Wissensproduktion ein. Als Appell an potenzielle Beiträger ergeht ferner die Aufforderung, alles – und zwar vorbehaltlos alles – zu beobachten. Beobachtungen können alltägliche Gegenstände zum Inhalt haben; sie können all jene Gegenstände umfassen, die einem Beobachter als beobachtenswert erscheinen, seien es innere Zustände oder körperliche Zeichen der Seelentätigkeit. Blickt man auf den Inhalt der gesammelten Berichte wird jedoch eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Postulat unvoreingenommener, vorbehaltloser Beobachtung und der eigentlichen Praktik deutlich. Eingesendet und gesammelt wird nämlich nicht alles, sondern vor allem Berichte über außergewöhnliche Erfahrungen (Geister, Visionen, Ahndungen). Möglicherweise reguliert die
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Goldmann, Stefan, „Erfahrungsseelenkunde und Haskala. Jüdische Autoren in dem psychologischen Magazin von Karl Philipp Moritz“, in: Ute Tintemann/Christoph Wingertszahn (Hrsg.), Karl Philipp Moritz in Berlin (1789–1793), Berlin 2005 (Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800, 4), S. 293-316. Zelle, Carsten, „Experiment, Experience and Observation in Eighteenth-century Anthropology and Psychology. Taking the examples of Krüger’s Experimentalseelenlehre und Moritz’ Erfahrungsseelenkunde“, in: Orbis Litterarum, 56/2001, S. 93-105; Müller, Die kranke Seele, S. 77.
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Kategorie des Außergewöhnlichen die Auswahl von Beobachtungen. In den Beiträgen würden somit bestimmte Beobachtungs- und Aufzeichnungskonventionen fortwirken, die bereits frühneuzeitliche Berichte über das Wunderbare oder über ungewöhnliche Ereignisse gekennzeichnet haben. Als Herausgeber des Magazins kam Moritz zugleich die Rolle des Sammlers zu, also desjenigen, der Erfahrungsberichte rubriziert und, wie in den Revisionen, mit potenziellem Wissen anreichert. Während das Sammeln vorbehaltlos erfolgen soll, folgt die Anordnung der einzelnen Berichte medizinischen Kategorien (Seelenzeichenkunde, Diätetik etc.). In dieser Kombination von Sammeln und Ordnen scheint Moritz’ Projekt Unternehmungen des 18. Jahrhunderts vergleichbar, die sich auf dem Feld der Naturkunde etabliert hatten. Zu nennen sind zahlreiche naturkundliche Sammlungen, die auf Beobachtungen, Aufzeichnungen und einer bestimmten Anordnung von Objekten basierten. Wie bei Moritz’ Projekt bestand die Herausforderung in der Herstellung einer Ordnung. Diente sie in Kuriositätenkabinetten dazu, die Formenvielfalt der Natur auszustellen, und damit einen Raum für Bewunderung und Staunen zu eröffnen22, scheint gerade die Ausstellung der Faktizität das vorderste Ziel des Magazins. Nicht die Huldigung der natürlichen Formenvielfalt, sondern die Konstruktion von Faktizität wäre somit das Anliegen der Zeitschrift und damit die Konstruktion eines potenziellen Wissensraums. Dieser weist über das bloße Anordnen und Rubrizieren der gesammelten Objekte bereits hinaus, weil er zukünftiges Wissen in Aussicht stellt und eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung errichtet, d. h. einen Beobachter, der den Beobachter beim Beobachten beobachtet. Obschon in diesem Sinn wegweisend für die moderne Psychologie, ist Moritz’ Magazin zugleich in den Wissenspraktiken und wissenstheoretischen Haltungen des 18. Jahrhunderts fest verankert. Sein erklärtes Ziel war das Sammeln von „Fakta“, d. h. von (Selbst)Beobachtungen, die in Berichten überliefert wurden und aus denen potenziell psychologisches Wissen generiert werden sollte. Die Suspension traditioneller, aus der Aberglaubenskritik hervorgehender Deutungsmuster stellt eine Voraussetzung für die Herstellung von „Fakta“ und die Etablierung eines scheinbar neutralen Beobachtungsstandpunktes dar. Diese Fakten sind keineswegs mit Tatsachen (im Sinn des 19. Jahrhunderts) gleichzusetzen. Das Magazin ist empirisch nur insofern, als es auf Erfahrungsberichten basiert. Aus diesen Erfahrungen allgemeingültiges, psychologisches Wissen zu generieren, wird als prospektives Anliegen der neuen Psychologie meist nur in Aussicht gestellt.
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Findlen, Paula, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley, Los Angeles, London 1984; Heesen, Anke te / Spray, Emma C., „Sammeln als Wissen“, in: dies. (Hrsg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftliche Bedeutung, Göttingen 1999, S. 7-21.
Vorstudien zur Hysterie. Marcus Herz’ Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moriz Krankengeschichte (1798) Robert Leventhal
1. Wandel des Hysteriebegriffs im 18. Jahrhundert Aus dem Dunst der Vapeurs und den körperlichen Gebrechen der Humoralpathologie im frühen 18. Jahrhundert entstehen Diskurs und Medien der modernen Hysterie.1 Mit dem ersten neuropsychologischen Modell der Krankheit am Ende des 17. Jahrhunderts waren die Bedingungen der Möglichkeit einer Ausdifferenzierung und einer wissenschaftlichen Semiotik nicht nur der Hysterie überhaupt, sondern der männlichen Hysterie insbesondere geschaffen.2 Albrecht Koschorcke hat den Wechsel „vom humoralen zum neuronalen Körpermodell“, geradezu eine „Mystik der Nerven“ in der Mitte des 18. Jahrhunderts nachgewiesen.3 G. S. Rousseau hat tatsächlich von einer „Nervenkultur“ gesprochen.4 Marcus Herz schrieb in seinem Versuch über den Schwindel (1786) von der „Mitteilung der Nerven und der Seele“.5 Der Hysteriebegriff löste sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vom weiblichen Körper ab und wurde laut Michel Foucault _____________ 1
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Micale, Mark S., Approaching Hysteria: Disease and Interpretations, Princeton 1995, S. 22; ders., „Hysteria and its Historiography“, in: The History of Science, 27/1989, S. 223-261 und 319351; ders., „Hysteria and its Historiography. The Future Perspective“, in: The History of Psychiatry, 1/1990, S. 33-124; Rousseau, G. S., „A Strange Pathology“, in: Sander L. Gilman, Helen King/Roy Porter u. a. (Hrsg.), Hysteria Beyond Freud, Berkeley, Los Angeles, London 1993, S. 92-223; Trillat, Etienne, Histoire de l’hystérie, Paris 1986; Veith, Ilza, Hysteria: History of a Disease, Chicago 1965; Bresler, Johannes, „Culturhistorischer Beitrag zur Hysterie“, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, 53/1896-97, S. 333-376. Micale, Mark S., „Hysteria Male, Hysteria Female“, in: Marina Benjamin (Hrsg.), Science and Sensibility. Gender and Scientific Inquiry (1780–1945), Oxford 1991, S. 200-242. Koschorcke, Albrecht, Körperströme und Schriftverkehr: Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 54-112; ders., „Poiesis des Leibes: Johann Christian Reils romantische Medizin“, in: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hrsg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 259-272. Rousseau, „A Strange Pathology“, S. 124. Herz, Marcus, Versuch über den Schwindel, 2. Aufl., Berlin 1791.
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zu einem „disease of the nerves […] a pathology of the mind“.6 Trotz des anhaltenden Widerstands gegen männliche Hysterie vor Charcot und auch trotz der Fortsetzung geschlechtsspezifischer Unterscheidungen – Hysterie bei Männern sei Resultat eines wirklich physischen Traumas, während Frauen nur unter „psychischen-emotionalen“ Trauma leiden – hat die Forschung schon im 18. Jahrhundert ein ausgeprägtes Vokabular für Hysterie maskuliner Provenienz nachgewiesen: die Hypochondrie.7 Jedoch gab es schon im späten 18. Jahrhundert eine allgemein anerkannte Differenz zwischen Hypochondrie und Hysterie.8 Die Hypochondrie ist immer noch geschlechtsspezifisch besetzt, insofern Eigenschaften, die zur Zeit meistens leidenschaftlichen Frauen, auch dem Hypochondristen zugeschrieben werden, wie dieses Zitat aus J. A. Unzers medizinischer Wochenschrift Der Arzt (1759–1764) deutlich zeigt: Das Gemüth des Hypochondristen ist mit einer ängstlichen Traurigkeit und schwindlichten Einbildungskraft beschweret […] Die Traurigkeit macht diese Leute schwermüthig, feige, verzagt, kleinmüthig, furchtsam. Sie sehen ihre Krankheiten für weit gefährlicher an, als sie sind. Sie glauben immer zu sterben, und können doch nie dazu kommen.9
Der Hysterie-Historiker Mark Micale sieht den Beginn der männlichen Hysterie in Sydenhams „neuro-psychological model of disease“ am Ende des 17. Jahrhunderts.10 Männliche Hysterie ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sie war jedem Arzt und auch den Gebildeten des 18. Jahrhunderts wohl bekannt.11 Im Folgenden wird ein Fall männlicher Hysterie an der Schwelle zur Romantik (1798 erschienen) interpretiert, geschrieben von dem Berliner Aufklärer und philosophischen Arzt Marcus Herz über seinen Freund Karl Philipp Moritz. Die Entstehung der psychologischen Fallgeschichte zuerst bei Herz in seiner eigenen Krankengeschichte 1783 und bei Moritz in seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ist in den letzten Jahren all_____________ 6
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Foucault, Michel, Madness and Civilization. A History of Insanity in the Age of Reason, New York 1965, S. 151, 158; vgl. auch ders., History of Madness, London, New York 2006, S. 279 (dt. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1973). Siehe auch: Wöbkemeier, Rita, Erzählte Krankheit, Stuttgart 1990, S. 151: „Hypochondrie ist die Kehrseite des Gesundheitsdiskurses des 18. Jahrhunderts.“ Micale, „Hysteria and its Historiography“, S. 33-124; Rousseau, „A Strange Pathology“, S. 93. Vgl. auch Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung, Stuttgart 1977, S. 49f. Anonym, Über die Hypochondrie, Dresden 1777, S. 7. ‚Echte‘ Hysterie sei mit Materie, wogegen Hypochondrie eine Hysterie ohne Materie, ohne ‚eigentliche‘ körperliche Basis ist. Haller, Albrecht von, „Beschreibung der Hypochondrie“, in: J. A. Unzer (Hrsg.), Der Arzt. Eine medizinische Wochenschrift, 1/1759, 25. St., S. 346. Micale, Approaching Hysteria, S. 22 und S. 161-168. Männliche Hysterie sei „a significant area for further investigation“ (168). Rousseau, „A Strange Pathology“, S. 167 und S. 157: „Hysteria came of age in the openness of the Enlightenment.“
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gemeine Fachkenntnis geworden.12 Meine interpretatorische Hypothese lautet: diese psychologische Fallgeschichte lässt gewisse kulturelle Ängste sichtbar werden, versucht gleichzeitig diese Ängste zu bewältigen, indem sie in der Struktur der Resolution und in der Wiederherstellung des Patienten/Arzt Verhältnisses die Hypochondrie als behandlungsfähig darstellt und den philosophischen Arzt in seiner Autorität bestätigt. Es gibt einen weiteren Anlass, den psychologischen Fall historisch zu bestimmen und seiner Eigenart gerecht zu werden. In seinem Buch Rewriting the Soul hat Ian Hacking eine Genealogie der „sciences of memory“ geschrieben, die das Argument aufstellte, in den Jahren 1874–1886 „knowledge about memory became a surrogate for spiritual knowledge of the soul“.13 Mein Argument schließt sich an Hackings an: die psychologische Fallgeschichte im dritten Quartal des 18. Jahrhunderts ist, um Freuds Ausdruck in den Studien zur Hysterie vorwegzunehmen, eine „wissenschaftliche Novelle“14 der „inneren Seele des Menschen“ – d. h. das schriftliche Medium par excellence, „spiritual knowledge of the soul“ zu vermitteln, also eine geschichtlich-diskursive Vorbedingung von Hackings „sciences of memory“ in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts.15 2. Polysemie zum Trotz Die Schwierigkeit einer Begriffsbestimmung der Hysterie ist bekannt: „Hysteria is indiscriminately mobile or immobile, fluid or dense, given to unstable vibrations or clogged by stagnant humors.“16 Manfred Schneider schrieb 1985: „Die Hysterie hat es immer schon nicht gegeben.“17 Methodologisch ist es weiterhin fragwürdig, wenn nicht gefährlich, einen _____________ 12
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Herz, Marcus, „Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit von Herrn D. Markus Herz an Herrn D. J[oël] in Königsberg“, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, 1/1783, 2. St., zit. nach: Moritz, Karl Philipp, Die Schriften in dreissig Bänden, Petra Nettelback/Uwe Nettelback (Hrsg.), Nördlingen 1986, Bd. 1. Siehe dazu: Gailus, Andreas, „A Case of Individuality: Karl Philipp Moritz and the Magazine for Empirical Psychology“, in: New German Critique, 79/2000, S. 67-105. Hacking, Ian, Rewriting the Soul. Multiple Personality and the Sciences of Memory, Princeton 1995, S. 197. Breuer, Josef / Freud, Sigmund, Studien über Hysterie, Frankfurt am Main 1991, S. 180. Hacking, Rewriting the Soul, S. 198: „a. the neurological studies of the different types of memory; b. experimental studies of recall; c. what might be called the psycho-dynamics of memory.“ „Memory […]already regarded as criterion of personal identity, became a scientific key to the soul.“ Foucault, Madness and Civilization, S. 142. Schneider, Manfred, „Hysterie als Gesamtkunstwerk“, in: Alfred Pfabigan (Hrsg.), Ornament und Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende, Wien 1985, S. 212-229, S. 212. Micale, Approaching Hysteria, S. 285, hat argumentiert, eine übergreifende Begriffsbestimmung sei unmöglich, man müsse eher von bestimmten historischen Hysterien reden.
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medizingeschichtlich problematischen Begriff wie ‚Hysterie‘ auf eine Fallgeschichte aus dem späten 18. Jahrhundert anzuwenden. Dagegen würde ich einwenden, dass erstens ein ausgeprägtes Vokabular der Hysterie damals schon existierte, und dass es zweitens einige fast allgegenwärtige Aspekte der Hysterie schon damals gab, die für eine Lektüre des Textes unentbehrlich sind. Erstens indiziert die Hysterie eine Verwischung der Grenzen zwischen Leib und Seele, Körper und Geist. Zweitens spricht die Forschung zur Hysterie von Somatisierung, buchstäblich von einer Verkörperung einer psychologischen Störung: Hysterie sei eine Symbolisierung psychologischen Konflikts; hysterische Symptome sind nach Freud Konversionen und nach Ferenczi als Materialisierungen von unaufgelösten psychischen Widersprüchen zu deuten18; Hysterie imitiert die Identitäten ‚pathologisierter Körper‘.19 Drittens, obwohl der Ursprung der Hysterie in der Gebärmutter schon im 18. Jahrhundert als widerlegt galt, gibt es immerhin die körperliche Festlegung der Hysterie, z. B. den globus hystericus; die Lähmung eines Körperteils, oder die hysterische Blindheit.20 Viertens kommt hinzu die schlüpfrige und flüchtige „Natur“ und die veränderliche Valenz der Hysterie.21 Dies hat natürlich zur Folge, dass die Hysterie fünftens die Fähigkeit der wissenschaftlichen Medizin bzw. des Arztes in Frage stellt, und dass sich daher eine starke Übertragungsbeziehung zwischen Arzt und Patienten entwickelt, eine Verstrickung oder Verwicklung des Arztes in der Hysterie des Patienten herbeiführt. Wie Lucien Israël beobachtet hat: Hysteria as a subject of medical history or the history of medicine mirrors back to its interpellators and analysts precisely the same gesture of indecision, complicity and duplicity that the hysteric’s desire also sets in motion.22
Hysterie verlangt eine „Identifikation zwischen Analyst und Patienten“.23 Manfred Schneider schreibt: Durch das Medium der Arzt-Patient(en)-Beziehung im Kreislauf von Symptomatik und Diagnose zirkuliert die pathologische Semiotik der Dichter, Theologen, Philosophen und Mediziner.24
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Breuer/Freud, Studien über Hysterie, S. 220-233; Ferenczi, Sandor, „The Phenomenon of Hysterical Materialization“ [1919], in: ders., Further Contributions to the Theory and Technique of Psychoanalysis, London 1926, S. 89-104, S. 96. Braun, Christina von, Nicht Ich. Logik Lüge Libido, Frankfurt am Main 1985. „Von den Ursachen der Hypochondrie“, in: Neues Hamburgisches Magazin, 20/1781, 120. St., S. 493-508, insbesondere S. 501; Haller, „Beschreibung der Hypochondrie“, S. 338. Foucault, Madness and Civilization, S. 142. Israël, Lucien, L’hystérique, le sexe, et le médecin, Paris 1976, S. 3. Bronfen, Elisabeth, The Knotted Subject: Hysteria and its Discontents, Princeton 1998, S. 106 (dt. Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin 1998). Schneider, „Hysterie als Gesamtkunstwerk“, S. 217.
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3. Etwas Psychologisch-Medizinisches Herz’ Krankengeschichte über Moritz hebt an mit einer philosophischen Vorrede zum bedauerlichen Ausbleiben der Systematik einer „Heilung körperlicher Gebrechen durch künstliche Veränderungen und Richtungen der Seelenfähigkeiten“.25 Das Problem bei der Herstellung einer solchen Systematik liegt auf der Hand: Verwicklung. Ungleich der mechanischen und chemischen Gesetze sind die Veränderungen des menschlichen Gemüths ihren eigenen Gesetzen unterworfen, ihre Regeln „[…] von einem so feinen, verwickelten Gewebe“ – wie bei der Unübersichtlichkeit der Meteorologie nach Herz – „wegen ihrer zu verwickelten Manigfaltigkeit“ (64), dass nur durch „emsiges Beobachten“ (64) und „behutsame Versuchen“ (65) das „eigene Nachdenken“ und „das erfinderische Genie“ der philosophische Arzt allmählich zum systematischen „Gebäude“ einer „vollständigen medizinischen Seelenlehre“ (64) gelangen kann. Das Eigentümliche des Individuums – die psychische Kenntnis des einzelnen Menschen, „die individuelle Beschaffenheit seines Gemüths und des besonderen Einflusses von dessen Äusserungen und Veränderungen auf seinen körperlichen Zustand“ – stellt sowohl die unerlässliche Voraussetzung als auch das größte Hindernis zur Therapie und zur Klärung des Falles dar. 4. Symptomologie 1782 kehrte Karl Philipp Moritz von einer Reise nach England mit einem kurzen Husten und einer damit verbundenen Engbrüstigkeit zurück. Herz versuchte vergeblich, seinem Patienten eine förmliche Kur mit Arzneimittel anzuordnen: Moritz wehrte sich gegen jeden Vorschlag seines Arztes und Freundes. Wenige Tage später wurde Herz in die Scharnstrasse gerufen, wo „Moritz hingefallen und sich im Blute wälzen soll“. (68) Herz fliegt hin und findet Moritz „in der Stube eines Wundarztes, die ganz voll blut war“. (68) Der Arzt verordnet das Gehörige und empfehlt Stille und Ruhe. Moritz’ Lage verbessert sich. Wochen später wird Herz zu ihm gerufen und findet Moritz im „erbärmlichsten Zustand“. Husten, schwieriges Atem, schneller, zuweilen ausbleibender Puls, Fieber, „ein Schwind_____________ 25
Herz, Marcus, „Etwas Psychologisch-Medizinisches: Moriz Krankengeschichte“, in: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst, 5/1798, 2. St., S. 259-321, zit. nach ders., Philosophisch-medizinische Aufsätze, Martin L. Davies (Hrsg.), St. Ingbert 1998, S. 60-84. Vgl. auch Ebstein, Erich, „Eine vergessene Pathographie von Marcus Herz über Karl Philipp Moritz aus dem Jahre 1798“, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 117/1928, S. 513ff.; Bezold, Raimund, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984, S. 117ff.
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süchtiger im ansehlichen Grade“. (68) Hier begegnen wir den ersten hysterischen Zeichen: „Der schlimmste unter seinen Zufällen aber war die stürmische Unruhe in seiner Seele, eine Folge der übertriebenen Furcht vor dem Tode. Immer den Puls unter seinen Fingern, fuhr er auf, so wie er das Ausbleiben eines Schlages verspürte, das er für das Zeichen eines Polypen im Herzen hielt.“ (68) Nach wenigen Wochen verschlimmerte sich sein Zustand, jetzt begleitet von einem „Toben in seiner Seele“ (69): trotz des freundlichen Zuredens und Versicherns seines Freundes „lief er [Moritz, RL] wild in der Stube umher, schimpfte in prächtigen Hexameter auf seinen Tod, auf die Kunst und höhnte [Herz] mit [seinen] schmeichelnden Hoffnungen“. (69) So „quälte“ Moritz seinen Freund und Arzt monatelang. (69) Herz, der Arzt und Freund, ein großer Polyp am Herzen: die hysterische Konversion bzw. Materialisierung wird schon durch die metaphorische Verdichtung der Krankheit bestätigt. 5. Der kühne Schritt des philosophischen Arztes Angesichts des verschlimmerten Zustandes seines Patienten und dessen Widerstand gegen seine Behandlung entscheidet sich Herz zu einem kühnen Schritt. In einer Begegnung spitzt sich die Lage zu: das ist schrecklich! rief er, nicht ein Schlag wie der andere, das Blut stemmt sich gegen den grossen Polypen, und es wird, es muss bald vollendet seyn […] Ach Herz weiss es so gut und muß es wohl besser wissen. Er kann keinen Polypen des Herzen kuriren, warum sagt er das nicht? Warum behandelt er mich wie ein Kind […] Es ist kein Polyp, sagt er immer […] (71)
Nun fasst der Arzt seinen listigen therapeutischen Plan, Moritz „aus dem zerrüttenden Zustand zwischen Furcht und Hoffnung mit Gewalt zu reissen“. Er versucht jetzt, ihn von seinem gewissen Tod zu überzeugen und „eine vollkommene Resignation auf jeden Gedanken der Wiedergenesung in ihm zu erregen“. (72) Herz teilt Moritz das Gegengift mit: „Sie sind nicht zu retten […] meine Kunst, die Kunst überhaupt ist zu Ende, es ist nichts mehr zu machen […] Sie müssen sterben.“ (73) Und mit dem vollen Hammer bringt Herz Moritz die Gewissheit seiner Endlichkeit in den Blick: auf Moritz’ „Unerhört!“ erwidert Herz („mit einiger Heftigkeit“ heißt die Anweisung): „Unerhört? Wie so? Unerhört, dass jemand an einer unheilbaren Krankheit stirbt?“ (73) Herz erläutert seine Prognose mit einer philosophischen Rede zur notwendigen Vernunftkraft, und auf Moritz’ Zugeständnis, er habe nicht „weise gelebt“, rät ihm Herz, weise zu sterben, und folgt mit einem Rückblick auf den Verlauf der Krankheit und der bestätigenden Diagnose:
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Ich bin nun überzeugt, dass die Lungen selbst gänzlich in Eiter übergegangen und dass im Herzen ein polypenartiges Gewächs sich erzeugt hat, das den schon ohnedies schwierigen Blutumlauf bald zum völligen Stillstand bringen muss. (78)
Mit dem Todesurteil des Freundes verändert sich die Szene ganz: Moritz verliert seine trotzige und wilde, höhnische Miene, „die Thränen floßen ihm stromweise“, und er bittet Herz darum, ihn in der Stunde seiner Not nicht zu verlassen. Herz gewinnt dabei an Macht, und lässt den Patienten versprechen, seinem Arzt und Freund von nun an zu vertrauen und seinen Rat und seine Verordnungen zu befolgen. Die Krankengeschichte endet damit, dass Moritz seine eigene Teilnahme an der Krankheit anerkennt, dass er wieder gesund wird, und zum Vorsatz macht, „weise zu leben“. Den Endrahmen der Fallstudie bildet Herz in der süßen Parole einer Reparté, wo die beiden sich regelmäßig begegnen und als Gruß und Abschied, dieses „so sterben Sie weise!“ und die Antwort „so leben Sie weise!“ jeweils mit verschiedener Betonung: „so leben Sie weise“ oder „so leben Sie weise“ im Wechsel, als symmetrische Zeichen des wiederhergestellten Freundschaftsverhältnisses und als „Zeichen“ der überwundenen Krankheit mit einander verwenden. 6. Unterwegs zu einer „psychischen Cur“ Es ist ein Zeichen der hysterischen Zeichen, dass die körperlichen Beschwerden nach einer psychologischen Katharsis aufgehoben werden: „Die Therapie der Hysterie sucht alle Zeichen zum Verschwinden zu bringen.“26 Jedoch bedarf es einem künstlichen Kunstgriff, genauer gesagt, Betrug, um die hysterische Krankheit als solche ans Licht zu bringen. Und hier hat man mit Recht von einer Ästhetik des Leidens, von der Schönheit der Hysterie gesprochen.27 Die Verschiebung, Verdichtung, Steigerung und Zuspitzung des hysterischen Falls durch das vom Arzt gefällte Todesurteil, die Bekenntnis eines unweisen Lebens und die Anerkennung (anagnorisis) seiner Fehler, letztlich des Falls Aufklärung und Verwandlung in Rede verleihen der Krankengeschichte eine unverkennbare ästhetisch-bildende Struktur. Moritz’ Krankengeschichte folgt nicht nur der hysterischen Struktur des Erscheinens und Verschwindens, der Abwechslung von Furcht und Hoffnung; sie inszeniert jene Logik der hysterischen Kollusion zwischen Arzt und Patienten, deren Aufhebung durch den kühnen Schritt des Arztes, und die Wiederherstellung von Ausgeglichenheit und Symmetrie, die dann in der _____________ 26 27
Schneider, „Hysterie als Gesamtkunstwerk“, S. 214. Ebd., S. 217.
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Begrüßung „leben Sie weise – so sterben sie weise“ rhetorisch als Affirmation des psychischen Kurs wiederholt wird. Zu den vorhin aufgestellten Merkmalen des hysterischen Diskurses in Bezug auf Herz’ Krankengeschichte von Moritz lässt sich Folgendes sagen: Erstens ist die ständige Verwischung der Grenze zwischen Leib und Seele, zwischen Körper und Geist sowohl in Moritz eigener Rede als auch bei Herz in seinen Eingriffen und Rückmeldungen sichtbar: Der anhaltende Wirbel in seinem Gemüth, verbunden mit seiner physischen Unmäßigkeit verdarben in einer Stunde alles, was ich mit der behutsamsten Sorgfalt in vielen Tagen durch meine Arzneyen vor mich gebracht hatte […]28 – Das Fieber, das seine Quelle mehr im Gemüth als im Körper hatte, war nicht zu bekämpfen. (69)
Es geht hier nicht nur um eine gewollte Aufschiebung des Zweifels, sondern um die funktionale ärztliche Annahme, ja Mitproduktion der Hysterie. Zweitens dürfen wir, was die Somatisierung betrifft, von einer Somatisierung der Literatur, bzw. der Lektüre sprechen29, insofern Moritz seine Wut im Medium der Verse ausdrückt, sich gegen die Verordnungen des Arztes mit und in der Poesie wehrt: nicht nur, dass Moritz sich durch die Literatur in einen literarisch-hysterischen Zustand aufgewühlt hatte – seine poetische Raserei, das Schimpfen „in prächtigen Hexametern auf seinen Tod“ (69) – sondern auch, dass Herz als Teil seiner Tagesordnung jetzt das Unterlassen jeder Beschäftigung mit schöner Wissenschaft, besonders mit der Herstellung neuer Literatur anfordert: „schaffen Sie mir ja nichts Neues, vorzüglich, Lieber, beschwören Sie, keine Verse zu machen. Diese würden Ihre Einbildungskraft wieder exaltieren und Ihr Blut in Wallung setzen.“ (81) Die hysterische Hypothese eines Polypen am Herz, der eine der medizinischen Wissenschaft und dem Arzt unabänderliche, unheilbare Gegenmacht diskursiv benennt, ist nur die konkrete, körperlich-materielle Iteration des Hysterieverfahrens. Schließlich sei auf die erforderliche hysterische Identifikation des Arztes mit dem Patienten verwiesen: Tag und Nacht entwich sein und seines Zustandes Bild nicht aus meiner Seele, bald umfasste es den Arzt, bald den Freund, und erhielt beyde in der größten Spannung […] ich versuchte eine Verfahrungsart nach der andern, die Aussicht, meinen Endzweck zu erreichen, wurde mir bald hell bald dunkel, die Hoffnung, meinen Moritz zu retten, stieg heute, fiel morgen wie es bey Krankheiten dieser Art gewöhnlich ist, welche vom strengsten Verhalten des Körpers und der Seele und von dem Einflusse der Witterung so sehr abhängen. (77)
Die labile Gemütsverfassung des Arztes reproduziert die Oszillation zwischen Furcht und Hoffnung des Hysterikers genau. Die symbiotische Ver_____________ 28 29
Herz, „Etwas Psychologisch-Medizinisches“, S. 68. Schneider, „Hysterie als Gesamtkunstwerk“, S. 207: „Die Einführung des hysterischen Zeichens, die Produktion der Symptome, heißt nämlich Lektüre.“
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wischung der Grenzen zwischen Arzt und Patienten im einfühlenden Verstehen täuscht aber über die Gefahr hinweg, dass der philosophische Arzt und die psychische Kur sich in die hysterische Ätiologie und Symptomologie einlassen müssen, der Arzt tatsächlich die Wahrheit der Hysterie und dabei die Rolle des Hysterikers – auch wenn nur gespielt – annehmen muss, seine Logik bis zum unwiderruflichen, unbestreitbaren Schluss folgern muss, um diese zum Verschwinden zu bringen. Das soll aber nicht heißen, dass die hysterischen Zeichen „nichts als ihre literarische Effektuierung sind“30, dass Hysterie nur eine „Rhetorik“ ist31: die Poesie des hysterischen Zeichens mag wohl der Literatur und Literaturwissenschaft des Abendlandes entstammen32, ist aber nicht minder Wirklichkeit: die Hysterie ist zwar ein „illness of representation“33, trotzdem, wie Elisabeth Bronfen sehr treffend schreibt: „Even if hysteria is nothing in and of itself […] the anguish, pain, and disorder that hysteria causes is real to its patients and their peers.“34 Vor allem lässt sich am hysterischen Fall in dieser psychologischen Krankengeschichte jene Verbindung von psychopathologischer Phänomenologie und Leidensgeschichte erkennen35, die Freud als Hauptkennzeichen der Hysterie – einen psychologisch-medizinischen Zwitter – identifizierte.36 Im Doppelspiel des Titels von Herz’ Krankengeschichte zu Moritz – sowohl im „Etwas“ (was ist das denn, dieses „Etwas“?), als auch im Strich, im Auslassungszeichen zwischen „psychologisch“ und „medizinisch“ – lesen wir die wunderschöne Ambivalenz dieses schon im 18. Jahrhundert sehr merkwürdigen und besetzten Phänomens. Es war vor allem diese Ambivalenz, die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Hysterie, welche die Hysterie, und insbesondere die männliche Hysterie, als problematisches Gebiet für die philosophischen Ärzte des späten 18. Jahrhunderts thematisierte. Als „nervous illness“ oder als Krankheit sowohl des Geistes als auch des Körpers agierte die Hysterie an dieser äußerst problematischen Grenze und drückte Ängste auf drei verschiedenen Ebenen aus.37 Erstens, was die damals empirisch-materialistische Medizinwissenschaft betrifft, eine Angst vor deren (Un-)Fähigkeit, Krankheiten an dieser Grenze zu erklären, _____________ 30 31 32 33 34 35 36 37
Schneider, „Hysterie als Gesamtkunstwerk“, S. 219. Ebd., S. 217: „Hysterie ist ein Name für die Rhetorik des weiblichen Begehrens.“ Ebd., S. 207, S. 217ff. Bronfen, The Knotted Subject, S. 103. Ebd., S. 103. Rau, Petra, „The Poetics of Pathology: Freud’s Studien über Hysterie and the Tropes of the Novelle“, in: German Life and Letters, 59/2006, 1, S. 62-77, hier S. 62. Breuer/Freud, Studien über Hysterie, S. 180. Begemann, Christian, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung: Zu Literatur und Bewusstseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1987, S. 83-86.
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Vorstudien zur Hysterie
anders gesagt, die Drohung solcher psychologisch-medizinischen Krankheiten für eine Medizin empirisch-wissenschaftlicher Prägung. Zweitens eine Angst vor „Verweiblichung“38, insofern maskuline Hysterie den männlichen Körper als „weiblich“ konstruierte, als – in den Worten Blackmores aus dem Jahr 1725 – „meager, thin, and unmuscular; of a pale, livid, and saturnine Complexion“39, anfällig für starke leidenschaftliche Änderungen und Somatisierungen, welche die Produktivität der Gesellschaft und Ordnung des Staats gefährdeten. Und schließlich drittens Angst vor einer Kultur der „empfindlichen Lektüre“, der psychologischen Introspektion und Selbstverzweiflung, aber auch einer erhöhten Kunstfähigkeit40, die zu „ängstliche[r] Traurigkeit und schwindlichte[r] Einbildungskraft“ neigte.41 Genau im historischen Augenblick, in dem der deutsche Idealismus die kulturelle Szene mit der absoluten Setzung der Freiheit und der unbegrenzten Macht der Subjektivität blendete, und die literarische Frühromantik mit ihrer Anforderung einer Aufhebung der Gesetze der „vernünftig denkenden Vernunft“42 bezauberte, strengten sich die Disziplinen der Medizin, Anthropologie, und Psychologie mit der Verwischung der Seele-LeibGrenze und deren möglichen gefährlichen Konsequenzen an: die „Feminisierung“ des männlichen Körpers, allzu empfindliche Lesepraktiken, Somatisierung des Leibes, Löschung der Differenz zwischen Experten und Laien, und vor allem die Infragestellung der menschlichen Freiheit. Diese „Gefahren“ bestimmen den psychologisch-kulturellen Raum der männlichen Hysterie und ihre diskursive Funktion am Ende des 18. Jahrhunderts.43
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Vgl. Showalter, Elaine, Hystories. Hysterical Epidemics and Modern Culture, New York 1997, S. 68f. Blackmore, Richard, A Treatise of the Spleen and Vapours or, Hypochondraical and Hysterical Affections, with three Discourses on the Nature and Cure of the Cholick, Melancholy, and Palsies, London 1725, S. 15. Vgl. Mullan, John „Hypochondria and Hysteria. Sensibility and the Physicians“, in: The Eighteenth Century. Theory and Interpretation, 25/1984, S. 141-174, insbesondere S. 146-152. Haller, „Beschreibung der Hypochondrie“, S. 346. Schlegel, Friedrich, „Rede über die Mythologie“ [1800], in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Hans Eichner (Hrsg.), München, Paderborn, Wien 1967, Bd. 2, S. 319. Foucault, Michel, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France (1977–1978), Michel Sennelart (Hrsg.), Frankfurt am Main 2004, S. 94f., wo Foucault vier Kategorien des ‚modernen‘ Sicherheitsdispositivs aufstellte: „der Fall“, „die Gefahr“, „das Risiko“, und „die Krisis“.
„Wer sich auf Chifern versteht, wird schwerlich glauben, daß dies von ungefähr ist.“ Saint-Martins Epistemologie der Gegenaufklärung im Widerstreit Ralf Klausnitzer 1782 erscheint beim Breslauer Buchhändler Gottlieb Löwe die durch Matthias Claudius angefertigte Übersetzung eines seltsamen Werkes.1 Sein Verfasser war als Sekretär des masonischen Systembegründers Martines des Pasqually tätig gewesen, hatte sich intensiv mit Arkanwissenschaften und theurgischen Operationen beschäftigt, stand in Verbindung mit Cagliostro und Swedenborg und trat seit dem Rückzug aus der Öffentlichkeit publizistisch als „Philosophe inconnu“ in Erscheinung: Louis-Claude de Saint-Martin, der seine Abhandlung Des Erreurs et de la vérité ou les hommes rappellés au principe universel de la science im Winter 1773 im Hause des Lyoner Logenaktivisten Jean Baptiste Willermoz geschrieben und 1775 mit irritierender Autor- und Ortsangabe veröffentlicht hatte.2 – Die Vorrede des Übersetzers bereitet den deutschen Leser auf eine schwierige Lektüre vor. Das vorliegende Werk sei ein „sonderlich Buch, und die Gelehrten wissen nicht recht was sie davon halten sollen“; sein Verfasser gehe „wie ein Geist, mit verschlossenem Munde und aufgehobenem Zeigefinger, auf etwas hinweisend, da wir nicht von wissen“. Die gegebenen „Winke und Aeußerungen“ seien „groß und erfreulich wie die Gipfel der väterlichen Berge“, zugleich aber „so ex-centrisch und wunderbar, daß unsre Vernunft ihren Cirkel nirgend anlegen, und sie nicht zusammenhängen und reimen kann“.3 _____________ 1
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[Saint-Martin, Louis-Claude de,] Irrthümer und Wahrheit oder Rückweiß für die Menschen auf das allgemeine Principium aller Erkenntniß. [...] Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Claudius, Breslau 1782, ND Hildesheim, Zürich u. a. 2004 (=Louis-Claude de Saint-Martin, Œuvres Complémentaires et Études Saint-Martiniennes; Série III: Domaine allemand, Bd. 1.1). Louis-Claude de Saint-Martins Abhandlung Des Erreurs et de la verite [...] erschien mit der Autorangabe „Ph[ilosophe] Inc[onnu]“ und fingiertem Druckort Edimbourgh [recte: Lyon] 1775. – Die noch heute aktive Bewegung der „Martinisten“ innerhalb der Freimaurerei verdankt ihre Bezeichnung ursprünglich nicht Louis Claude de Saint-Martin (wie mitunter angenommen), sondern Martinez de Pasqually, der 1754 den Ritus der „Elus Coëns“, der Erwählten Priester begründet hatte und als dessen Sekretär Saint-Martin 1771/72 tätig M. C., „Vorrede des Uebersetzers“, in: [Saint-Martin,] Irrthümer und Wahrheit, S. II.
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Saint-Martins Epistemologie der Gegenaufklärung im Widerstreit
Damit ist nicht zuviel versprochen. Das laut Titelblatt „von einem unbek[annten] Ph[ilosophen]“ stammende Werk beabsichtigt nicht weniger als den Entwurf einer Erkenntnislehre, die die großen Fragen des Jahrhunderts beantworten soll: Explizit angekündigt wird die Vermittlung eines evidenten Wissens „über den Ursprung des Guten und des Bösen, über den Menschen, über die materielle Natur, über die immaterielle Natur und die heilige Natur, über die Basis der politischen Regierungen, über die Autorität der Souverains, über die bürgerliche und peinliche Gerechtigkeit, über die Wissenschaften, die Sprachen und die Künste“.4 Den so behaupteten Aufschluss realisiert der Text durch eine Mixtur aus einer neuartigen „Science de Dieu“ mit Platonismus und mystisch-spekulativer Hermetik5; in ihm vereinen sich ein mit rhetorischem Pathos vorgetragenes Vertrauen in die natürliche (doch auf wenige Individuen beschränkte) Erkenntnisfähigkeit des Menschen mit kaum verständlichem Mystizismus, der bis zu einer ausufernden Zahlensymbolik führt (so etwa wenn das Paradies als Garten mit sieben Bäumen beschrieben wird, von denen jeder sechzehn Wurzeln und 490 Zweige habe6). Die Wirkungen des Textes sind heterogen. Lavater ist begeistert; Goethe bekundet eine ambivalente Wertschätzung („welche Wahrheit! und welcher Irrthum! Die tiefsten Geheimnisse der wahrsten Menschheit mit Strohseilen des Wahns und der Beschräncktheit zusammen gehängt“7) und wird im Xenion Des Erreurs et de la vérité dem deutschen Übersetzer attestieren, allein den „Irrtum“ fortgebracht zu haben.8 Während Johann _____________ 4 5 6
7 8
[Saint-Martin,] Irrthümer und Wahrheit, Titelblatt. Ähnlich fundamental auch die Zielstellung des Werkes in der Vorrede, S. XI. So schon Maistre, Josef de, „Soirées de Saint Petersburg“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 5, Lyon, 1884, S. 248: „un mélange de platonisme, d’origénianisme et de philosophie hermétique, sur une base chrétienne“. [Saint-Martin,] Irrthümer und Wahrheit, S. 42. Auf die Bedeutung dieser Zahlenverhältnisse ist nur knapp hinzuweisen: Die sieben Baumstämme repräsentieren die aus den Zahlen der Vollkommenheit 4 und 3 gebildete axis mundi, die 16 Wurzeln symbolisieren als Quadrat aus 4 und 4 den Innen- oder Seelenraum; sie entsprechen dem quadratischen Allerheiligsten in Salomos Tempel. Die 490 Zweige sind ein Quadrat aus 7 mal 7, multipliziert mit 10; sie symbolisieren die Dimensionen des Heiligen Geistes (dessen Ausschüttung 49 Tage nach der Kreuzigung geschah). Der siebenfache Weltenbaum ragt also nach oben in den Seelenraum des Heiligen Geistes, nach unten in den Seelenraum des Unbewussten; vgl. Bindel, Ernst, Die geistigen Grundlagen der Zahlen, Frankfurt am Main 1987, S. 9ff.; zu den Elementen des hier reaktivierten Neupythagoräismus siehe Schmidt-Biggemann, Wilhelm, „Reuchlin und die Anfänge der christlichen Kabbala“, in: ders. (Hrsg.), Christliche Kabbala, Ostfildern 2003, S. 9-48, hier vor allem 36-44. Goethe an Johann Kaspar Lavater, Brief vom [9.?] April 1781, in: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, 4. Abt.: Goethes Briefe, Bd. 5, S. 108f. Schiller, Friedrich, „Johann Wolfgang Goethe, Xenien und Votivtafeln“, in: ders., Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke, Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert (Hrsg.), 3. Aufl., München 1962, Bd. 1, S. 303.
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Gottfried Herder das Werk kategorisch ablehnt und der mit ihm korrespondierende Johann Georg Hamann es als „elendes Buch“ verwirft9, systematisiert es der Rektor des Osnabrücker Ratsgymnasiums (und späterer Ordinarius für Theologie an der damals dänischen Universität Kiel) Johann Friedrich Kleuker in seiner Schrift Magikon oder das geheime System einer Gesellschaft unbekannter Philosophen.10 Nicht zuletzt diese – für den Herzog Ferdinand von Braunschweig, dem Schirmherrn des Freimaurer-Konvents von Wilhelmsbad verfasste – Darstellung trägt dazu bei, dass Saint-Martins geheimnisumwittertes Opus zu einem Stichwortgeber für die politische Theologie der konservativen Freimauererei bis weit ins 19. Jahrhundert wird; ihr Autor gilt noch in den Soirées de Saint Petersburg von Josef de Maistre als „le plus instruit, le plus sage et le plus élégant des théosophes modernes“.11 Eine besondere Haltung zum Werk von SaintMartin entwickeln die Repräsentanten der Berliner Aufklärung. „Es muß auffallen, daß gewisse wichtige Hauptwörter mit kleinen Anfangsbuchstaben gedrukt sind, da doch andere große haben. Wer sich auf Chifern versteht, wird schwerlich glaube, daß dies von ungefähr ist“, erklärt der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift Johann Erich Biester im April 1785 in einem Kommentar zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherei, als er auf den „philosophe inconnu“ zu sprechen kommt12 – und intensiviert damit eine publizistische Kampagne, die sich nicht mehr nur allein gegen Saint-Martins Werk richtet und als „Jesuitenriecherei“ bzw. „Obskurantenjagd“ in die Geschichte der Spätaufklärung eingegangen ist.13 An diesem „viele Jahre fortgesetzten Kampf“14 bzw. „gelehrten Krieg“15 nehmen zahlreiche Repräsentanten des deutschen Geisteslebens teil: _____________ 9 10
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Johann Georg Hamann im Brief an J. F. Hartknoch vom Dezember 1781, in: ders., Briefwechsel, Bd. 4, Arthur Henkel (Hrsg.), Frankfurt am Main 1961, S. 351. Vgl. Kleuker, Johann Friedrich, Magikon oder das geheime System einer Gesellschaft unbekannter Philosophen unter einzelne Artikel geordnet, durch Anmerkungen und Zusätze erläutert und beurtheilt, und dessen Verwandtschaft mit ältern und neuern Mysteriologen gezeigt. In zwei Theilen, Frankfurt am Main, Leipzig 1784. Neben der Schrift Des Erreurs et de la vérité nutzte Kleuker auch SaintMartins 1782 veröffentlichtes Tableau naturel des Rapports qui existent entre Dieu, l’homme et L’univers. Maistre, „Soirées de Saint Petersburg“, S. 249. Biester, Johann Erich, „[Replik auf T****y,] Unbefangene Bemerkungen über den Beitrag zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherei“, in: Berlinische Monatsschrift, April 1785, S. 343-391, hier S. 388. Dazu jetzt umfassend vom Verf.: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft (1750–1850), Berlin, New York 2007, S. 142-339. Varnhagen von Ense, Karl, „Leuchsenring“, in: ders., Vermischte Schriften, 1. Teil, 2. Aufl., Leipzig 1843, S. 494-533, hier S. 514. [Anonym,] Der Berlinismus oder Freundschaftsgespräch über Doktor Stark und seine Gegner. Templin und Ephesus, [Leipzig] 1788, S. 45.
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Saint-Martins Epistemologie der Gegenaufklärung im Widerstreit
Johann Joachim Christoph Bode entdeckt in Saint-Martins Werk eine doppelte Lesart und erklärt es zum Werkzeug einer heimlichen jesuitischen Steuerung der sichtbaren „Anarchie“ in den Arkanwelten des ausgehenden 18. Jahrhunderts; Friedrich Nicolai verbreitet diese Thesen durch seine informellen Kommunikationskanäle wie in seinem Publikationsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek; zahlreiche Beiträge in der Berlinischen Monatsschrift greifen das Werk des „unbekannten Philosophen“ heftig an, worauf der Rosenkreuzer und spätere Minister Johann Christoph Wöllner interveniert; Christian Garve und Georg Forster mahnen zur Besonnenheit. Nachdem Johann Georg von Zimmermann – nicht zuletzt unter dem Eindruck der aufsehenerregenden Prozesse um den angeblichen „Kryptokatholiken“ Johann August Starck – die rigiden Umgangsweisen mit devianten Wissensansprüchen auf den resonanzreichen Begriff „Jesuitenriecherei“ gebracht hatte16, nimmt noch der „Walpurgisnachtstraum“ im Faust die Bewegung satirisch aufs Korn, indem ein „Neugieriger Reisender“ – deutlicher Hinweis auf Friedrich Nicolai und dessen vielbändige Reisebeschreibung – mit charakteristischen Attributen agiert.17 Im Folgenden soll die verschlungene Wirkungsgeschichte von SaintMartins Werk vor dem Hintergrund der seit den 1770er Jahren intensiv geführten Debatten um „Despotie“ und „Anarchie“ der Aufklärung aufhellt werden. Im Zentrum stehen zum einen die Konturen eines neuartigen und grenzenüberschreitenden Wissens, das von Saint-Martin unter Rekurs auf Bestände der christlichen Kabbala und des Hermetismus sowie die Spekulationen Jakob Böhmes und die Inspirationen Emanuel Swedenborgs formuliert wurde. Thematisiert werden zum anderen die in der Rezeption seines Werks entwickelten Konzepte und Argumente, mit denen man das Problem der Zugänglichkeit von Wissensansprüchen artikulierte und diskutierte. Ziel der notgedrungen knappen Ausführungen ist es, diskursive und performative Formen des Umgangs mit einem „anderen Wissen“ im Spannungsfeld von „Schwärmerei“, „Mystizismus“ und „Obskurantismus“ bzw. ihrer Kritik zu beschreiben und zu erklären. Nach einer notgedrungen knappen Skizze von Saint-Martins Erkenntnislehre (1) wird die Diskussionen um sein esoterisches Wissen insbesondere in den Kreisen der sog. Aufklärer dokumentiert (2); abschließend erfolgt der Versuch einer Deutung und Erklärung (3).
_____________ 16 17
Vgl. Zimmermann, Johann Georg von, Über Friedrich den Großen und meine Unterredungen mit ihm, Karlsruhe 1788, S. 89f. Goethe, Johann Wolfgang, Faust. Der Tragödie erster Teil, V.4319-4322.
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1. Epistemologie der Gegenaufklärung Die synkretistische Theosophie des „unbekannten Philosophen“, die erst vor kurzem wieder als Ausgangspunkt einer „politischen Theologie der Gegenaufklärung“ gewürdigt wurde, kann an dieser Stelle nicht einmal in Umrissen skizziert werden. Doch lassen sich drei untereinander korrespondierende Parameter eines Erkenntniskonzepts konturieren, das von einer natürlichen Fähigkeit des Menschen zur Einsicht in eine „seit dem Ursprung der Dinge“ erkennbare Wahrheit ausgeht und in der Modellierung eines mit „physischer Evidenz“ verbürgten Wissens „Illumination“ bzw. „wahre Aufklärung“ garantieren soll. (1) Saint-Martins Ausgangspunkt ist die direkt ausgesprochene Überzeugung von einem Fehlschlag der bisherigen Aufklärung. Ergebnis ihrer fehlgehenden Suche nach Erkenntnis seien „falsche Begriffe [...] von der Wahrheit“ sowie „schwache und fährliche Waffen, die unsichre Hände angewandt haben sie zu vertheidigen“.18 Sein Konzept verankert Wissen und die zu seinem Gewinn nötigen „Hilfsmittel“ dagegen in einer göttlich geschaffenen „Natur des Menschen selbst“: Sie seien „seit dem Ursprung der Dinge allezeit von einigen unter ihnen erkannt gewesen“ und könnten „nie ganz von der Erde werden weggenommen werden, so lange es auf ihr denkende Wesen gibt“.19 Die Enthistorisierung der Vernunft wird also mit einer spezifischen Limitation verknüpft: Da zwar „das Licht gleich für alle Augen gemacht ist“ und doch zugleich „alle Augen nicht gemacht sind, es in seinem vollen Glanze zu sehen“, ergibt sich für den Autor die Verpflichtung, das ihm (und der „kleinen Anzahl von Menschen, denen die Wahrheiten die ich verkünde anvertrauet sind“) zugängliche Wissen „in einen Schleyer zu verhüllen den mehr als gewöhnliche Augen nicht immer durchdringen mögen, um so mehr da ich darin bisweilen von einer ganz anderen Sache spreche als davon ich scheine zu handeln“.20 – Doch ist die schleierhaft verhüllende Sprache mitsamt der Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Wort und Sache nicht nur eine besondere Darstellungsform zur Vermittlung exklusiver Wissensansprüche. Simulative Rhetorik und partikulare Adressierung sind vielmehr inhärente Elemente eines Wissenskonzepts, das gegenüber begrifflicher Rationalität und kritischer Überprüfbarkeit durch uneingeschränkte Öffentlichkeit nun ein gleichnishaftallegorisches Sprechen für einige wenige Eingeweihte privilegiert. Anstelle einer (angeblich oberflächlichen) Begriffs- und Verstandestätigkeit mit der Subsumption des Besonderen und Individuellen unter das Allgemeine prä_____________ 18 19 20
[Saint-Martin,] Irrthümer und Wahrheit, S. IX. Ebd., S. X. Ebd., S. XII.
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feriert diese Erkenntnislehre eine Vieldeutigkeit, die durch exemplarische Narrationen und symbolische Chiffren übermittelt wird. Beispielhaft realisiert findet sich dieses Prinzip in der „allegorischen Geschichte von dem, was der Mensch in seinem Ursprung war, und von dem, was er durch seine Abweichung von seinem ersten Gesetz geworden ist“. Was hier nach des Autors eigenem Kommentar „dunkel und versteckt“ entwickelt wird, ist eine geschichtsphilosophische Interpretation des alttestamentarischen Berichts von Schöpfung und Sündenfall in Verbindung mit einer Zahlenmagie, die neopythagoräische Vorstellungen aus der christlichen Kabbala reaktiviert: In der That, er [der Mensch] ist auf Abwege gerathen indem er von Vier zu Neun ging, und er wird sich immer nicht wiederfinden können, als wenn er von Neun zu Vier geht. Uebrigens hätte er Unrecht, wenn er sich über die Unterwerfung beklagen wollte, so und nicht anders ist das Gesetz, das allen den Wesen, welche die Region der Mütter und Väter bewohnen auferlegt ist; und weil der Mensch sich freywillig da hinab begeben hat, so ists natürlich, daß er die ganze Mühseeligkeit dieses Gesetzes fühle.21
(2) Mit einer mehrdeutigen und zahlenmystisch ausgestalteten Chiffrensprache verknüpft ist der Rekurs auf ein prälapsidarisches Wissen, d. h. auf Wissensbestände, die vor dem Sündenfall vorhanden waren. Im Zentrum von Saint-Martins Überlegungen steht die adamitische Ursprache, die der Mensch nie ganz verloren habe und deren Wiedergewinn das Ziel der gesamten Wissenschaften sei. Ihre Restitution verbürge nicht nur eine Aufhebung der Verwirrungen aller willkürlichen Sprachen, sondern auch die Vollendung der menschlichen Geschichte.22 Movens dieser Vorstellungen – sie finden sich auch in spekulativen Rekonstruktionen der Bücher bzw. Bibliotheken, die der paradiesische Adam und der antedulevanische Noah besessen haben sollen – ist die Denkfigur von einer Einheit im Ursprung: Die Erscheinungen dieser Welt und insbesondere die sie signierende Sprache sind aus einer Wurzel hervorgegangen und münden wieder in diesen gemeinsamen Grund; der Wiedergewinn dieser Einheit aber sei nur durch spirituelle Reinigung möglich. _____________ 21
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Ebd., S. 45f. Eine Auflösung der Chiffren geben Kleuker, Magikon, S. 68f. sowie SchmidtBiggemann, Wilhelm, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004, S. 96f.: Die Vier, der Quaternar ist die Zahl der Vollkommenheit, des Bestandhabenden und der geraden Linie; sie manifestiert sich im Quadrat als Idee der Weltseele. Als Zahl des Göttlichen Namens enthält die Vier die Fülle der göttlichen Kräfte. Dagegen gilt die Neun als Zahl des Materiellen und der Sinnlichkeit sowie als Symbol der menschlichen Degradation. Der spirituellen Lingua Adamica entspricht die hieroglyphische Schrift, die Saint-Martin zu einer (bis in die Romantik fortwirkenden) Theorie der Naturhieroglyphen bzw. zu einer spirituellen Ästhetik entfaltet. Danach bedient sich Gott zur Kommunikation mit den Menschen bestimmter unwandelbarer Zeichen, die durch Kunst nachgeahmt werden.
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(3) Voraussetzung und Konsequenz dieses religiös fundierten Konzepts von der Wiederherstellung eines adamitischen Urzustandes ist die Bildung eines entsprechenden Erkenntnissubjekts. Folgt man Saint-Martin, so ist der Mensch nach dem Opfertod Christi – dem „régénérateur universel“ – dazu bestimmt, die magische Substanz alles Lebendigen in der Schöpfung auszubreiten, sie zu vollenden und dem erwarteten neuen Himmel entgegenzuführen. Die Überzeugung von der Möglichkeit, den menschlichen Willen und seinen personalen Träger so zu reinigen, dass schon im Diesseits eine Vereinigung mit Gott realisierbar sei, richtet sich gegen die sakramentale und dogmatische Ordnung des Katholizismus – denn wenn der Mensch in sich alle Beweise der Erkenntnisse enthält, offenbaren die Heilige Schrift und ihre Exegeten nur die Anfangsgründe des Erkennbaren und die Traditionen sind nicht primäre Beweismittel. Angesichts dieser hier nur äußerst knapp und fragmentarisch umrissenen Elemente von Saint-Martins Werk wird die Flut von kontroversen Reaktionen plausibel. Selbst die Geister, die sich in den deutschen Ländern seit den 1770er Jahren als Opposition gegen Aufklärung und Rationalismus formieren und in „Schwärmerei“ und „Hang zum Wunderbaren“ vielfache Ausprägungen finden, verhalten sich zum theosophischen Mystizismus keineswegs einheitlich; neben der erwähnten Begeisterung gibt es radikale Ablehnung (etwa durch den „Magus in Norden“, der sich gleichfalls rühmt, übernatürliche Offenbarungen empfangen zu haben). Mehr oder weniger einheitlich aber reagiert die Front der Berliner Aufklärung, die in Saint-Martins Büchern eine besonders subtile Variante des Kampfes gegen Vernunft und Toleranz erkennt – und im Namen dieser Ideale ihrerseits einen unvernünftigen und intoleranten Kampf beginnt. 2. Die Reaktion der Aufklärung Das „sonderlich Buch“ des Louis-Claude de Saint-Martin findet bei Vertretern der norddeutschen Aufklärung ein vielstimmiges Echo. Noch vor Erscheinen der deutschen Version beschäftigt sich der Arkanaktivist Johann Joachim Christoph Bode, namhafter Publizist und Übersetzer und Mitglied in Adam Weishaupts Illuminatenorden, mit dem Werk des „unbekannten Philosophen“. Er entdeckt eine doppelte Lesart: In exoterischer Gestalt würde es sich an ein breites, nach theosophischer Weisheit strebendes Publikum wenden; in seiner esoterischen Variante sei es an ein spezifisch eingeschränktes, mit einem „Schlüssel“ versehenes Publikum adressiert. Bodes im Sommmer 1782 in seiner privaten Weimarer Officin gedruckte Schrift Examen impartial du Livre intitulé des Erreurs et de la Vérité etc. Par un Frère laique en fait de sciences enthält keineswegs die im Titel versprochene „unparteiische Prüfung“ von
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Saint-Martins Epistemologie der Gegenaufklärung im Widerstreit
einem „Laienbruder in Sachen Wissenschaft“, sondern eine auf der Überzeugung von einer jesuitischen Steuerung der Hochgradmaurerei basierende „Dechiffrierung“ des Buches, für die er wiederum einen eigenen Schlüssel erstellt:
Handschriftlicher Schlüssel zu den Zeichen in: [Joh. J. Chr. Bode,] Examen impartial du Livre, intitulé: Des Erreurs et de la Vérité etc. Par un Frère laique en fait de sciences, [Weimar] 1782
Aufschlussreich ist nicht allein die chiffrierte Entschlüsselung einer vermeintlich doppeldeutigen Kommunikation, sondern auch die mit ihrer Kommunikation verbundene Geheimhaltungsstrategie. So bittet Bode den Illuminaten Jacob Mauvillon, „den Schlüssel der Chiffren hinten auszuschneiden und zum Gebrauch so aufzuheben, dass er nicht zu dem Buche zu gehören scheine. Denn die ganze Sache ist zur Enthüllung fürs Publikum noch nicht reif“.23 Diese Hinweise empfing auch Friedrich Nicolai, der von Johann Joachim Christoph Bode neben dem Chiffren-Schlüssel zugleich die zum Konvent von Wilhelmsbad verfasste Denkschrift Anbefohlenes, pflichtmäßiges Bedenken erhielt.24 Nicolai vermittelt die These von _____________ 23 24
Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzoglich Braunschweigischen Diensten verstorbenen Oberstlieutenant Mauvillon gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn F. Mauvillon, Deutschland 1801, S. 165f. Im Juni 1782 hatte Johann Joachim Christoph Bode den Druck des Examen impartial du Livre, intitulé: Des Erreurs et de la Vérité etc. Par un Frère laique en fait de sciences [Weimar 1782] gegenüber Nicolai angekündigt und – wie aus einem Brief Bodes an Nicolai vom 28. November 1782 hervorgeht – das Werk auch an den ADB-Herausgeber und Illuminaten geschickt, von dem es wohl zu Biester und Gedike gelangte; vgl. Wilson, W. Daniel, Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999, S. 91 und 123.
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einer doppelten Lesart von Saint-Martins Werk nicht allein den Berliner Freunden, sondern in informeller Kommunikation auch weiteren Gesprächspartnern wie dem Naturforscher Georg Forster, der gemeinsam mit Samuel Thomas Sömmering zwischen 1780 und 1784 der Kasseler Rosenkreuzerloge angehört und hier intensiv an der Herstellung des lapis philosophorum laboriert hatte. Im Mai 1784 berichtet Forster über seine Leipziger Begegnung mit dem Berliner Verleger: Alle Hieroglyphen bedeuten die J[esuiten], alle Passworte beziehen sich auf sie, alle Teppiche gehen dahin, mit einem Schlüssel, den man im Augenblick lernt, versteht man den ganzen Plunder des Erreurs et de la Verité, des Buches des Rapports qui existent entre Dieu (dem General), l’homme (dem J[esuitenorden]) et l’Univers (der übrigen Welt), des Buches Diadême des Sages. Alle so vielfältige, so widersprechend scheinende Sectenstifter, Thaumaturgen, und Gaukler und Schwärmer seien von ihnen ausgesandt, und würden von ihnen je nachdem es ihre Absicht erfordert, dirigirt, unterstützt oder fallen gelassen u.s.w.25
Für die als „unstreitig“ bezeichnete „Art von Chifernsprache“ liefert der durch Bodes „unparteiische Prüfung“ und Nicolais Beglaubigungen instruierte Johann Erich Biester dann in der Berlinischen Monatsschrift einen Decodierungsvorschlag, der wie bereits die mit der Chiffre „IBM“ unterzeichnete Besprechung in Friedrich Nicolais Rezensionsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek von maximierten Bedeutungszuweisungen zum Nachweis konspirativer Verabredungen ausgeht.26 In Saint-Martins Werk gebrauchte Begriffe und Formulierungen wie „Principe“, „embleme quaternaire“, „cause“ und „chifre universel“ verwiesen nicht auf Gott, sondern auf eine „Weltregierung“ mit einem „verborgenen wunderbaren Oberhaupt“; „de la volonté supréme“ bedeute „Willen der Oberen“ (ohne den nichts geschehen dürfe) und lenke einen Orden, „der in Frankreich schon länger herumgespukt hatte, nun auch in Deutschland aufgestellt (ward), und dessen Mitglieder hießen: Chevaliers bienfaisans de la Cité Sainte“.27 Das Prinzip eines universalen Mißtrauens, das noch kleinste Textdetails als bestätigende Indizien für die vorausgesetzte Überzeugung auswertet, prägt nicht nur den Umgang mit der spezifischen Begrifflichkeit dieses „anderen Wissens“. Die Logik des Verdachts konzentriert sich auch und vor allem _____________ 25
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Georg Forster an Samuel Thomas Sömmering. Briefe vom 20. und 22. Mai 1784, in: Georg Forster’s Briefwechsel mit Samuel Thomas Sömmering, Hermann Hettner (Hrsg.), Braunschweig 1877, S. 44-48, zit. nach berichtigendem Abdruck in: Kopp, Hermann, Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, Heidelberg 1886, 2. Teil: Die Alchemie vom letzten Viertel des 18. Jahrhunderts an, S. 122. IBM., „Weltweisheit. Irrthümer und Wahrheit [...]“, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, 53/1783, 1. St., S. 143-148, hier S. 144: „Das eigentliche Geheime in diesem Buche mögte nur für sehr wenige sein. Es mögte wohl in nichts anderm bestehn, als dass einige gute Freunde (Amis réunis) von einem Ende der Welt bis an das andre sich etwas zu sagen haben, welches sie öffentlich, aber in einer bloß ihnen verständlichen Sprache thun.“ Biester, „[Replik auf T****y,] Unbefangene Bemerkungen“, S. 389.
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Saint-Martins Epistemologie der Gegenaufklärung im Widerstreit
auf Limitationen der Zugänglichkeit durch enigmatische Abkürzungen, etwa in Form der kryptischen Chiffre „C-H-R“ (die von Saint Martin als Garant dafür angesehen wird, „daß ungeachtet der Hüllen damit ich die Wahrheit bedeckt habe, doch die verständigen Menschen sie werden fassen können“28). Für Biester scheiden die Entzifferungen „CHRétiens“ und „CHévaliers“ aus, denn seine Vermutungen zielen auf eine weit größere Gefahr. Auch für ihn ist die Lehre des „unbekannten Philosophen“ nur Instrument einer großangelegten Verschwörung gegen die Aufklärung – „C-H-R“ bedeute darum nichts anderes als „Catholiques Romains“, vor denen „jedem redlichen Protestanten die Haut schaudern“ müsse.29 Ein philosophisches Werk und seine konspirationistische Deutung werden also zum Ausgangspunkt einer publizistischen Debatte, auf deren weitere Rekonstruktion hier leider verzichtet werden muss. Festzuhalten bleibt, dass die Kombattanten und Argumentationen ebenso vielgestaltig wie die genutzten Publikationsforen sind: Während Bode sein Examen impartial der Öffentlichkeit vorenthält und nur in die informellen Kommunikationsnetze der Aufklärer einspeist, sind Entschlüsselungen wie das 1789 veröffentlichte Buch Clef des erreurs et de la vérité par un serrurier connu breiten Leserkreisen zugänglich.30 Während der spätere Verfasser des restaurativen Religionsedikts Wöllner für eine unvoreingenommene Lektüre des Werkes von SaintMartin plädiert, beharren die nach 1786 von einer zusehends reaktionären Politik betroffenen Aufklärer auf ihrer Lesart und schreiben ihre Angriffe bis in die 1790er Jahre fort. Noch Johann August Starcks konspirationistische Ideengeschichte Der Triumph der Philosophie im 18. Jahrhunderte, die unter charakteristischen Titeländerungen bis 1840 wieder aufgelegt wird, partizipiert an Denkmustern, die sich in den offenen und versteckten Kämpfen um das andere Wissen des „unbekannten Philosophen“ formierten.
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[Saint-Martin,] Irrthümer und Wahrheit, S. 605. [Biester, Johann Erich,] „Noch über den Beitrag zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherei“, in: Berlinische Monatsschrift, August 1785, S. 104-163, hier S. 151. Das wahrscheinlich von P. G. Chaumette stammende Werk erschien 1790 in Hamburg und Leipzig u. d. T. Schlüssel des Buches: Irrthümer und Wahrheit oder Rückweis der Menschen zu dem allgemeinen Princip der Vernunft, von einem bekannten Schlosser. Es wandte sich explizit gegen Bodes und Nicolais Hypothesen (S. Vf.), wurde aber aufgrund des ähnlichen Titels mehrfach mit Bodes Text verwechselt.
X. DIE ERZIEHUNG DES AUGES. WISSEN UND VISUELLE PRAXIS Einführung von Robert Felfe Ein erster Blick auf die Zusammenstellung der folgenden Beiträge lässt vor allem eines deutlich werden: „Die Erziehung des Auges. Wissen und visuelle Praxis“ markiert ein Problem- bzw. Forschungsfeld, das sich nicht ohne weiteres in feste Umrisse und eine kohärente inhaltliche Gliederung fügt. So ließe sich völlig zu Recht fragen, ob es tatsächlich erhellend ist, die antikisierenden Scherenschnitte einer dilettierenden Hausfrau neben die generalstabsmäßig organisierte Herstellung von Bildmaterial im Zuge einer wissenschaftlichen Südsee-Expedition zu stellen. Dies gilt auch etwa für Hogarths line of beauty und die künstlerische Rezeption von Newtons Opticks oder in Hinblick auf die Mikroskopie und frühe Beispiele deutschsprachiger Kunstkritik. Allein die Aufzählung dieser Themen setzt eine zentrifugale Dynamik frei, der kaum zu entkommen ist. Von welchem Auge ist eigentlich die Rede? Und muss man von Praxis, wenn man es ernst meint, nicht grundsätzlich im Plural einer irreduziblen Vielfalt sprechen? Genau aus dieser Spannung rühren – neben den Risiken – zugleich die Faszination und der Reiz einer derartig heterogenen Sammlung von Einzelstudien. In allen Beiträgen geht es um ein bestimmtes Vermögen des Menschen, das in sehr verschiedenen Zusammenhängen und Funktionen sensibilisiert und geschult, semantisch aufgeladen und technisch aufgerüstet, aber auch selbst zum Gegenstand von Untersuchungen und Reflektionen wurde. Und es geht um Formen der Darstellung, die speziell an das Sehen adressiert sind. Die Vielfalt der Bereiche, in denen gerade dem Auge und der visuellen Erfahrung dabei eine besondere Rolle zukam, legitimieren es daher durchaus, genau diese Vielgestaltigkeit in ihrer Komplexität eigens zum Thema zu machen. Dabei sollen die folgenden Beiträge, über die jeweils spezifischen Ergebnisse hinaus, einige signifikante Achsen und Berührungspunkte in einer bestimmten historischen Schicht visueller Kultur kenntlich machen. Ein solches Vorhaben kann sich auf eine inzwischen breite Forschung verschiedener Disziplinen stützen, die an dieser Stelle unmöglich angemessen resümiert werden kann. Lediglich zwei Ansätze bzw. Tenden-
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X. Die Erziehung des Auges. Wissen und visuelle Praxis. Einführung
zen, die für die Planung der Tagungssektion besonders wichtig waren, seien jedoch skizziert. Im Bereich der Wissenschaftsgeschichte hat sich insbesondere in den 1990er Jahren eine kulturgeschichtliche Ausrichtung als markante Tendenz entfaltet. Sie ist zum einen durch eine neue Akzentuierung der materiellen Grundlagen von Wissen und wissenschaftlicher Arbeit gekennzeichnet. Diese Perspektive verknüpft Wissen und Erkenntnis konsequent mit den konkreten Bedingungen ihrer Hervorbringung und Vermittlung. Dazu zählen die Entwicklung und der Einsatz von Instrumenten, bestimmte Verfahren, wie Experimente oder statistische Erhebungen, der Einsatz von Medien und Netzwerke der Kommunikation sowie soziale Umgangsformen und die Rolle von Institutionen.1 Ein solches Herangehen bindet das einzelne geschichtliche Phänomen in kulturelle Zusammenhänge, die einen innerdisziplinären Rahmen überschreiten. Damit ist jedoch nicht in erster Linie eine bloße Erweiterung von Kontexten gewonnen. Die eigentliche Stärke dieser neuen Gewichtung liegt in der Synthese erweiterter Problemhorizonte mit einer gesteigerten Sensibilität für konkrete Artefakte und für Handlungszusammenhänge, die eine elementare Ebene in der Praxis von Wissen bilden. Dies beschränkt sich natürlich in keiner Weise auf jene visuellen Praktiken, um die es in den folgenden Beiträgen geht. Letztere bilden vielmehr einen – und vermutlich einen sehr wichtigen – Bereich innerhalb dessen, was sich als Kulturen des Wissens beschreiben lässt.2 Gleichsam komplementär zu dieser kulturwissenschaftlichen Neuausrichtung der Wissenschaftsgeschichte hat sich auch jene Disziplin auf neue Weise den Praktiken des Wissens zugewandt, die traditionell für die bildnerischen Artefakte abendländischer Geschichte zuständig ist: die Kunstgeschichte. Entgegen einer verbreiteten Fixierung auf Werke der so genannten Hochkunst sind damit verstärkt auch solche Bereiche der Produktion und Zirkulation von Bildern in den Blick geraten, die nicht dem Bereich der schönen Künste zugehören, wie er sich im Laufe des 18. Jahrhunderts mit Anspruch auf ein hohes Maß an Autonomie konstituierte. Programmatische Begriffe wie jener der Bildwissenschaft sind lediglich eine
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Bahnbrechend in diesem Zusammenhang: Schaffer, Simon / Shapin, Steven, Leviathan and the Air-Pump: Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton 1985. Programmatisch auch etwa: Jardine, Nicolas / Secord, James A. u. a. (Hrsg.), Cultures of Natural History, Cambridge/Mass. 1996. Historisch übergreifend mit systematischem Fokus zu diesem Beziehungsfeld etwa: Jones, Caroline E. / Galison, Peter (Hrsg.), Picturing Science producing Art, New York, London 1998. Eine programmatische Akzentuierung einzelner visueller Artefakte als Wissensobjekte findet sich etwa in: Daston, Lorraine (Hrsg.), Things that talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2004.
Robert Felfe
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Form, in der sich diese neue Zuständigkeit manifestiert.3 Herstellung und Gebrauch von Bildern in den Wissenschaften wurden hier zu einem exponierten Feld der Forschung. Im Idealfall wird dabei ein spezifisches Wissen um Bildtechniken und -medien sowie um kunsttheoretische und ästhetische Probleme auf Objekte angewendet, die als Bildwerke oder Verfahren der Darstellung einen eigenständigen Zugang und spezifische Fragestellungen in Hinblick auf Erkenntnisweisen und Vermittlungsformen von Wissen eröffnen. Im Schnittpunkt dieser beiden Perspektiven – einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Wissenschaftsgeschichte und der Bildwissenschaft – steht dabei nicht zuletzt die Frage, inwiefern visuelle Praktiken und die Dinge, die sie hervorbringen, nicht nur einer nachgeordneten Ebene der Darstellung angehören, sondern bereits in der Entstehung von Wissen eine produktive Rolle spielen.4 Auf diesem Feld gilt es wiederum, charakteristische Tendenzen, Kontinuitäten und Brüche in ihrer historischen Spezifik kenntlich zu machen. Dabei ist nicht zu erwarten, dass das 18. Jahrhundert die kohärenten Konturen einer Epoche annehmen wird. Vielmehr wäre zu hoffen, dass es gelingt, ein zunehmend dichtes, vermutlich kontrastreiches Gefüge herauszuarbeiten. Einige als charakteristisch geltende Entwicklungen seien lediglich in Schlagworten aufgerufen, um sowohl in historischer wie auch systematischer Hinsicht Anhaltspunkte für übergreifende Zusammenhänge in Hinblick auf das heterogene Themenspektrum der Beiträge zu bieten. So scheint die Spannung zwischen Prozessen der Ausdifferenzierung einerseits und dem Anspruch auf universelle Konzepte und Darstellungsformen von Wissen andererseits eine markante Signatur des 18. Jahrhunderts zu sein. Die zunehmende Emanzipation einzelner wissenschaftlicher Disziplinen, die Autonomisierungstendenzen der schönen Künste oder die Entstehung der Ästhetik als selbstständigem Bereich der Philosophie stehen hier etwa den großen enzyklopädischen Publikationsprojekten gegenüber, einer nach wie vor lebendigen Tradition religiöser Hermeneutik der Natur oder Strömungen wie der Frühromantik gegen Ende des Jahrhunderts. Im Spannungsfeld dieser Pole sind markante Umbrüche epistemologischer Formationen und wissenssoziologischer Gefüge beschrieben worden; zum Beispiel in dem Sinne, dass Aufklärung als Übergang von einer mündlichen Sehkultur zu einer dem Bild generell misstrauenden Schrift-
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Vgl. Hombach, Klaus Sachs (Hrsg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt am Main 2005; Belting, Hans (Hrsg.), Bilderfragen. Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007. Beispielhaft für diese, auf die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften erweiterten Forschung seien hier erwähnt: Holländer, Hans (Hrsg.), Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000; sowie Bredekamp, Horst / Bruhn, Matthias u. a. (Hrsg.), Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik (erscheint seit 2003).
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X. Die Erziehung des Auges. Wissen und visuelle Praxis. Einführung
kultur zu verstehen sei und mit einem „Niedergang visueller Bildung“ einherging.5 Flankiert wird diese vermeintliche Tendenz etwa von der zunehmenden Diskreditierung des Wunders und des Curieux’, einem für das 17. Jahrhundert wichtigen habituellen Typus. Jener Umgang mit Objekten des Wissens, wie der Curieux ihn pflegte, und die von ihm kultivierten Formen der Konversation und Geselligkeit wurden aus den sich systematisch festigenden und professionalisierenden Wissenschaften sukzessive ausgeschlossen.6 Nichts aber verschwindet einfach. Wunder und curiosity fanden zum einen ihr Echo in den Künsten und im ästhetischen Denken. Zum anderen gibt es Indizien dafür, dass ihre Verdrängung aus dem aufgeklärten Wissen selbst in erster Linie Programm blieb. Diese beiden in der jüngeren Forschung formulierten tief greifenden Umbrüche bzw. Verschiebungen sollen an dieser Stelle genügen. Sie öffnen ein Forschungsfeld, bieten Angriffsflächen für Kritik und vorläufige Markierungen mit deren Hilfe sich möglicherweise größere thematische Cluster angesichts der folgenden Beiträge abzeichnen. In mehreren der Fallstudien geht es zum Beispiel um Sphären bzw. konkrete Räume kollektiver Erfahrung und Reflexion. Dabei greift der Gebrauch von Instrumenten, bildnerischen Medien und Textgattungen auf verschiedene Weise ineinander. Wenn dabei visuelle Praktiken und die Diskurse, die sich an ihnen entfalten, selbst in mehrfacher Hinsicht Raum bildend sind, dann setzen sie zugleich Prozesse in Gang, die mit Erziehung nur sehr unzureichend bezeichnet sind. In der Tat geht es einerseits um Regeln und normative Gefüge ästhetischer wie sozialer Ordnungen. Indem der Modus der Vermittlung aber – wie mehrfach in den Beiträgen deutlich gemacht wird – als Einübung, Mitvollzug oder künstlerisch experimenteller Prozess zu verstehen ist, sind Modifizierung, Abwandlung und sogar der Bruch bestehender Regeln und Normen geradezu angelegt. Genau hier liegt zumindest ein produktives Potenzial visueller Praktiken – sie können sowohl Erkenntnisformen erschließen, die sich auf dem Feld wissenschaftlicher Forschung durchsetzen, Medien von Popularisierung sein, aber auch höchst subjektive und eigenwillige Transformationen hervorbringen. Verbunden mit der fundamentalen Bedeutung jeweils herrschender epistemischer Gefüge, Stile und sozialen Träger von Wissen könnte sich möglicherweise vor allem diese spezifische Dynamik als besonderer Impuls und performatives Vermögen visueller Praktiken herausstellen.
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Stafford, Barbara, Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung, Dresden 1998, hier bes. S. 10ff. Daston, Lorraine / Park, Katharine (Hrsg.), Wonders and the Order of Nature (1150–1750), New York 1998, S. 329ff.
Perspektivlehre im 18. Jahrhundert. Normierung des Blicks oder Zugewinn künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten? Regina Schubert Für die Kunstentwicklung des 18. Jahrhunderts wird der Rolle der Perspektive häufig eine eher untergeordnete Position zugewiesen. Gemessen an den Autonomiebestrebungen der Künstler insbesondere zum Jahrhundertende hin, bewertet man sie nicht selten als eine in der akademischen Ausbildung zwar kanonisierte, aber zunehmend obsolete Norm, die schließlich durch andere Darstellungskonzepte ersetzt wurde. Dem steht eigenartigerweise entgegen, dass es gerade im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem ausgeprägten Interesse an der Perspektive, und auch zu einer Flut von neuen Publikationen im diesem Bereich kam. Wie ist das zu erklären? Waren es in der Renaissancezeit vielfach die Künstler selbst gewesen, die maßgeblich an der Theorieentwicklung der Perspektive beteiligt waren, so etwa Piero della Francesca, Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer, ging diese vor allem seit dem 17. Jahrhundert zunehmend in die Hände der Mathematiker über. Bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts schließlich hatten Wissenschaftler wie Girard Desargues in Frankreich, Brook Taylor in England und Johann Heinrich Lambert im deutschsprachigen Raum den Grund zu neuen Methoden der perspektivischen Darstellung gelegt, die nunmehr auf einer kompletten mathematischen Durchdringung ihrer Konstruktion beruhten.1 Damit war in diesem Bereich ein Niveau erreicht, das künftig die Norm vorgab und in der praktischen Anwendung im Wesentlichen bis heute Gültigkeit hat. Die vielfach sehr komplizierten und wenig illustrativen Werke der Mathematiker wurden meist erst durch weitere Autoren in Form von Adaptionen an ein breiteres Publikum vermittelt. Diese Popularisierungs-
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Zur Geschichte der Perspektivetheorie und -konstruktion vgl.: Kemp, Martin, The Science of Art. Optical themes in western art from Brunelleschi to Seurat, New Haven, London 1990; Anderson, Kirsti, The Geometry of an Art. The History of the Mathematical Theory of Perspective from Alberti to Monge, New York 2006.
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Perspektivlehre im 18. Jahrhundert
prozesse zogen sich oftmals über mehrere Jahrzehnte hin und erzeugten dabei eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die jeweils auf unterschiedliche Anwendergruppen inhaltlich zugeschnitten waren und die Theorie durch Beispiele zu vereinfachen suchten. In den Kreisen der Künstler erfolgte die Rezeption der neuen perspektivischen Konstruktionsmethoden ebenfalls erst zeitversetzt. Eine der neuen Schriften, deren weit reichender Einfluss und Wege der Verbreitung sich besonders gut nachverfolgen lassen, soll im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. Es handelt sich um Johann Heinrich Lamberts Traktat Die freye Perspektive, oder Anweisung, jeden perspektivischen Aufriß von freyen Stücken und ohne Grundriss zu verfertigen. Der aus Mühlhausen im Elsaß stammende Naturwissenschaftler und Philosoph publizierte die Schrift erstmals im Jahre 1759 in Zürich, sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Er gab darin eine neue Methode an, perspektivische Bilder ohne Umweg über die üblichen Grundrissverfahren direkt in der Zeichenebene zu konstruieren. Eine zweite, wesentlich erweiterte Auflage des Traktats erschien im Jahre 1774, zu einer Zeit, als Lambert schon seit längerem in Berlin ansässig und Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften war.
Abb. 1: Die Prinzipien der „freyen Perspektive“, demonstriert an einer Landschaft. Radierung von Daniel Chodowiecki nach einer Zeichnung von Johann Heinrich Lambert, 21 x 39,5 cm. Illustrationstafel zum Artikel „Perspektiv“ in Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, S. 896.
Nicht zuletzt dieser Umstand war sicherlich mit entscheidend, dass ein Kondensat seiner neuen Perspektivlehre bereits in die erste Auflage des wichtigsten deutschsprachigen Kunstlexikons der Zeit übernommen wurde, in Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste.2
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Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste, 1. Aufl. Leipzig 1771–1774, Bd. 2, S. 890-899; CD-ROM-Neuausgabe: Digitale Bibliothek 67, Berlin 2002.
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Lambert hatte auf Bitten seines Schweizer Landsmanns und Berliner Wissenschaftlerkollegen für dessen Publikation eigens eine Zeichnung angefertigt, die – von Daniel Chodowiecki radiert – als ausklappbare Tafel dem Eintrag zum Stichwort „Perspektive“ beigeheftet wurde (Abb. 1). Diese Radierung zeigt einen mithilfe der „freyen Perspektive“ perfekt konstruierten Landschaftsraum – ein reines Beispielbild, dem im Kontext des Lexikonartikels die Funktion zukam, die gelungene Anwendung der perspektivischen Regeln in ihrem Nachvollzug zu illustrieren und zugleich überprüfbar zu machen. Mithilfe von Lamberts innovativer Darstellungstechnik konnten die Fluchtpunkte der Gegenstände im Bild anhand eines Winkelmessers vom Projektionszentrum des Augenpunktes (also der Spitze der Sehstrahlenpyramide) aus direkt auf die Horizontlinie übertragen werden. Die Besonderheit des Verfahrens bestand in dem Kunstgriff, die Position dieses Augenpunktes in die Ebene der Zeichenfläche umzuklappen, so dass die Betrachterdistanz zur vertikalen Achse der Bildkonstruktion wurde, und damit zur Referenzlinie für alle in der Zeichenfläche auszuführenden Operationen. In seinem mathematischen Beweis basierte dieses Verfahren auf einer Verbindung von Geometrie und Algebra und damit auf cartesischen Prinzipien. Praktisch beruhte das ganze System auf dem Nachweis von Winkelkongruenzen bzw. auf der Winkelspiegelung von Dreiecken, weil – wie in Sulzers Artikel zu lesen ist – „die Zeichnung ganzer Flächen, von welcher Figur sie seyen, blos von der Zeichnung der Winkel, die ihre Seiten gegeneinander machen, und denn von der Größe einer einzigen Seite abhängt, deren Lage gegeben ist“.3 Anders als bei den klassischen Verfahren der perspektivischen Konstruktion konnte hierbei auf die vorherige Anfertigung eines maßgerechten Grundrisses bzw. Aufrisses verzichtet werden. Alle Operationen wurden direkt in der Zeichenebene ausgeführt. Entscheidend war dabei nur die vorher festzulegende Position des Horizonts und des Hauptpunktes, und die Länge der Augen- bzw. Betrachterdistanz. Damit war die Konstruktion der Perspektive in ein umfassendes, in sich stimmiges System überführt, das die fehlerfreie Wiedergabe von Objekten in jeder beliebigen Lage erlaubte. Vor allem erleichterte dies auch die Darstellung schwieriger Zweipunkt- bzw. Übereckperspektiven. Eine ähnliche Methode, allerdings ohne Verwendung des Winkelmessers, hatte einige Jahrzehnte zuvor auch schon der englische Mathematiker Brook Taylor entwickelt4, und es finden sich einzelne Elemente in älteren franzö-
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Ebd., S. 894. Taylor, Brook, Linear Perspective, or a new Method of Representing justly all manner of Objects as they appear to the Eye in all Situations, London 1715.
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Perspektivlehre im 18. Jahrhundert
sischen Perspektivschriften (Lacaille, Desargues), doch war es Lambert, der sie zu einem für die praktische Anwendung leicht handhabbaren Verfahren systematisierte. Sein „schönes Handbuch“, wie es der Mathematiker Wenceslaus Karsten bezeichnete5, erlaubte dabei nicht nur das einfachere Platzieren aller möglichen denkbaren Konstellationen von Gegenständen im dreidimensionalen Raum. Es schien darüber hinaus auch auf besonders augenfällige Weise die Analogie der perspektivischen Konstruktion mit dem menschlichen Sehen plausibel zu machen. Denn ein Verfahren, bei dem das Einmessen der Objekte im Bild direkt von der Spitze der Sehstrahlenpyramide, also der gedachten Position des Auges aus, durch Winkelberechnungen geschah, schien eindrücklich zu bekräftigen, dass es sich auch beim Akt des Sehens primär um die Wahrnehmung von Winkeln handelte, die wiederum Größenverhältnisse, Distanzen usw. erfahrbar werden ließen. Die Tatsache, dass die perspektivische Konstruktion, ganz im Gegensatz zum menschlichen Sehen, nur eine „einäugige“ Wahrnehmung simulieren konnte, war den Zeitgenossen zwar bewusst, wurde aber nicht problematisiert. Lambert selbst hatte in seinem philosophischen Werk die mathematische Perspektive und die menschliche Wahrnehmung im Sinne einer rationalistischen Erkenntnistheorie verknüpft. 1764 war sein Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein erschienen. In diesem Werk unternahm er den – zutiefst aufklärerischen – Versuch, die erkenntnistheoretischen Zusammenhänge zwischen dem „Schein“ der subjektiven Wahrnehmung und dem Dasein der Körperwelt im Sinne einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Begründung aufzulösen. Seiner Einschätzung zufolge konnte Erkenntnis des objektiv Gegebenen über die menschlichen Sinne prinzipiell erfolgen, wenn die mathematischen Regeln der Übersetzung bekannt waren. Als Referenzmodell diente ihm dabei bezeichnenderweise die Wissenschaft der Optik. Denn gerade in der Kenntnis der Bedingungen perspektivischer Konstruktion sah er die Brücke zwischen dem „Schein“ der Wahrnehmung und dem objektiv Gegebenen geschaffen.6 Wenn nun aber der Schein und damit auch das Abbild des Scheines in den Erkenntnisakt einbegriffen wurden, indem die Prozesse durchschaut werden konnten, so hatte das auch Folgen für die Bewertung von Kunst.
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Karsten, Wenceslaus Johann Gustav, Lehrbegrif der gesamten Mathematik, Bd. 7: „Die Optik und Perspectiv“, Greifswald 1775, S. 190. Vgl. hierzu auch: Deuber-Mankowsky; Astrid, „Eine Aussicht auf die Zukunft. So wie in einem optischen Kasten. Transzendente Perspektive, optische Illusion und beständiger Schein bei Immanuel Kant und Johann Heinrich Lambert“, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hrsg.), ...kraft der Illusion, München 2006, S. 103-120.
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Sie konnte in eine neue Bezüglichkeit zur Welt treten und damit ebenfalls eine Erkenntnis garantierende Funktion annehmen. Ein Gemälde bestand in dieser Hinsicht die Qualitätsprobe allerdings nur, wenn es in allen Teilen perspektivisch richtig konstruiert war. Denn nur dann konnte es Erkenntnis über den Anschein hinaus gewähren und Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der dargestellten Gegenstände zulassen. Bedenkt man diese Zusammenhänge, so erstaunt es nicht, dass Lambert auch in seinem Perspektivtraktat besonderes Augenmerk auf die „umgekehrten Aufgaben der Perspektive“ richtete, also auf das Errechnen wahrer Maße aus fertigen Gemälden.7 Von hier aus wird auch die Rolle klarer, die Johann Georg Sulzer der Perspektive innerhalb seiner aufklärerisch-klassizistischen Kunstdoktrin der Allgemeinen Theorie der schönen Künste zuwies: Dort postuliert er, dass nur ein perspektivisch richtig konstruiertes Bild seinen Inhalt visuell überzeugend vermitteln könne. Zwar handelt es sich bei den mathematischen Konstruktionsprinzipien der Perspektive nicht um Harmonie- oder Proportionsgesetze, die als feste Maßverhältnisse in immer gleicher Weise ästhetisch wirksam werden (wie z. B. der Goldene Schnitt). Aber bei wohl überlegtem Gebrauch der perspektivischen Konstruktion konnte der Künstler Bedeutungsstrukturen im Gemälde generieren, indem er beispielsweise die visuelle Hierarchie der Gegenstände durch die perspektivische Anordnung und die damit einhergehenden Größenverhältnisse beeinflusste bzw. die wichtigen Objekte von ihrer schönsten oder auch ausdrucksvollsten Seite ästhetisch dominant im Bildraum platzierte. Perspektive konnte so zu einem wichtigen Instrument für die Verwirklichung von Bildkonzepten im Sinne einer idealistischen Kunsttheorie werden. Als Stichwort findet sich der Begriff auch in vielen anderen Artikeln der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste bzw. begründet manche Einträge überhaupt erst, so etwa die zum Thema „Gesichtspunkt“, „Gesichtskreis“, „Augenpunkt“, „Horizont“, „Entfernung“ oder „Haltung“. Schon in Bezeichnungen wie „Gesichtspunkt“, „Horizont“ oder auch dem Begriff „Perspektive“ selbst, die alle heute wie damals vielfach metaphorisch gebraucht wurden, klingt erneut die Verknüpfung von physiologischer Optik, mentaler Wahrnehmung und mathematischer Perspektive an. Gerade Lamberts neue Konstruktionsweise, die den natürlichen Raum als ein vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters her zu erschließendes und dabei geometrischen Gesetzen gehorchendes System auffasste, eröffnete – neben ihrem rein anwendungsbezogenen Aspekt – damit Möglichkeiten,
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Vgl. Lambert, Johann Heinrich, Die freye Perspektive, oder Anweisung, jeden perspektivischen Aufriß von freyen Stücken und ohne Grundriß zu verfertigen, Zürich 1759, 8. Abschnitt, §§ 278-315.
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Perspektivlehre im 18. Jahrhundert
Raumwahrnehmung an sich, ihre Bedingungen und schließlich ihre Formulierung in Bildern neu zu überdenken. In einer Epoche wie der des 18. Jahrhunderts, die sich intensiv mit Fragen subjektiver Erkenntnis sowie Theorien der Wahrnehmung auseinandersetzte, konnte ‚sich mit Perspektive beschäftigen‘ daher auch bedeuten, sich Rechenschaft über die eigene Wahrnehmung zu geben, das eigene Sehen zu schulen und die Augen zum „aufgeklärten“ Blick auf die Welt zu erziehen. Nicht anders scheint die ungeheure Attraktivität der Perspektivlehre speziell im ausgehenden 18. Jahrhundert sowohl bei Künstlern als auch bei Laien erklärbar zu sein. So nahmen beispielsweise an Maximilian Verschaffelts Perspektivekursen für die deutschen Künstler in Rom Ende der 1780er Jahre neben Karl Philipp Moritz und Goethe auch die Herzogin Anna Amalia und ihre Hofdame Luise von Göchhausen teil. Aus Bemerkungen in deren Briefen sowie auch aus Goethes eigenen Zeichnungen geht hervor, dass Verschaffelt nach dem System Lamberts unterrichtete.8 In diesem Zusammenhang erscheint es bezeichnend, dass ausgerechnet der Kunsttheoretiker Moritz, der als einer der Begründer der Autonomieästhetik gilt, vom Kurator der Berliner Akademie, Friedrich Anton Freiherr von Heinitz, dazu ausersehen wurde, auch die mathematische Perspektive zu lehren. Sulzers Lexikon und auch Krünitz’ Encyclopädie, in der der Artikel zur „Perspektive“ sowie weitere der oben genannten Stichwörter inklusive der Abbildungen komplette Zitate aus der Allgemeinen Theorie darstellen9, haben in ihrer vereinfachenden und veranschaulichenden Tendenz sicher nicht wenig zur Verbreitung und Popularisierung von Lamberts neuer Perspektivetheorie beigetragen. Dass dabei in ein technologisches Lexikon wie das von Krünitz nach und nach auch Artikel aus Ästhetik, Kunsttheorie und praxis übernommen wurden, wirft ein interessantes Licht auf das Zeitverständnis der Zusammenhänge zwischen Naturwissenschaft und Kunst.10 Der entsprechende Band mit dem Eintrag „Perspektive“ erschien zwar erst 1808. Zu dieser Zeit erfreute sich Lamberts Perspektivlehre aber nach wie vor größter Aktualität, ja man kann tatsächlich gerade für die Zeit um und ab 1800 von einer besonders weit reichenden Rezeption insbesondere innerhalb von Architekten- und Künstlerkreisen sprechen.
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Vgl. Sedlarz, Claudia, „Rom sehen und darüber reden“. Karl Philipp Moritz’ Italienreise 1786–1788 und die literarische Darstellung eines neuen Kunstdiskurses, Hannover 2008 (Berliner Klassik, 12). Krünitz, Johann Georg, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der StaatsStadt- Haus- und Landwirthschaft und der Kunstgeschichte, in alphabetischer Ordnung, Bd. 108, Berlin 1808, S. 710-745; Online-Neuausgabe: Seifert, Hans Ulrich / Reinstein, Hagen (Hrsg.), Trier 2003–2007, http://www.kruenitz1.uni-trier.de/. Ab Bd. 33 (1785) führte Krünitz’ Encyclopädie den Begriff „Kunstgeschichte“ auch im Titel.
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Wenn etwa Philipp Otto Runge im September 1800 von seiner Ausbildung an der Akademie in Kopenhagen vermeldet, er könne nun den „Lambert“ schon gut begreifen11, oder Caspar David Friedrich sich im Jahre 1802 selbst mit Visierklappe porträtiert und damit seine Auseinandersetzung mit dem einäugigen perspektivischen Sehen dokumentiert (Abb. 2), dann mag das ein Hinweis darauf sein, welch große Bedeutung dieses Darstellungsmittel auch in Künstlerkreisen besaß, die der akademischen Ausbildung eher kritisch gegenüberstanden. Das in der Geometrie der Perspektive liegende Potential, die Phänomene der Wirklichkeit über den Weg der Mathematik zu erschließen, den Bildraum hierüber zu systematisieren und einer in allen Teilen logischen Struktur zu unterwerfen, wird diese Künstler in besonderem Maße gereizt haben, sich diesem Darstellungsmittel entschieden zuzuwenden.
Abb. 2: Caspar David Friedrich: Selbstbildnis mit Mütze und Visierklappe, 8.3.1802. Bleistift und Pinsel in Braun, 17,5 x 10,5 cm
Der vorliegende Beitrag trägt im Titel die Frage, ob es sich bei der Perspektivlehre im 18. Jahrhundert eher um den Versuch einer Normierung des Blicks oder aber um den Zugewinn künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten handele. Die Antwort darauf muss vermutlich beide Aspekte um-
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Runge, Philipp Otto, Hinterlassene Schriften. Herausgegeben von dessen ältestem Bruder. Zweiter Teil [1840/41], ND Göttingen 1965, S. 57.
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Perspektivlehre im 18. Jahrhundert
schließen. Denn das Wissen um die Perspektive und ihre Anwendung bedeutete zwar die Festlegung auf eine bestimmte visuelle Darstellungskonvention, aber das damit einhergehende geschärfte Bewusstsein für Themen der Wahrnehmung konnte gleichzeitig auch eine neue, experimentelle Freiheit im Umgang mit dem perspektivischen Bildraum hervorbringen, deren sich die Künstler der Zeit bisweilen in äußerst kreativer Weise zur Erzeugung neuer, unkonventioneller Bildkonzepte bedienten. So scheint das Thema Perspektive im 18. Jahrhundert geradezu eine Art Kondensationspunkt darzustellen, in dem viele verschiedene Aspekte zusammenlaufen: philosophisch-theoretische, utilitaristisch-praktische, ästhetische und mathematische. Wenn auch das der klassischen Perspektive zugrunde liegende Raumverständnis in der Folgezeit durchbrochen, ja sogar überwunden wurde, so scheint doch gerade für diesen Schritt die intensive Auseinandersetzung mit ihren Bedingungen und Möglichkeiten erst Voraussetzung gewesen zu sein.
Gewebe/Gewänder. Die verhüllende Sichtbarkeit in der Mikroskopie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts: Wilhelm Heinses Ardinghello Natalie Binczek Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, zwei zentrale, wenngleich in unterschiedlichen Wissensbereichen wirksame Topoi des 18. Jahrhunderts mit dem Anspruch zusammenzuführen, sie als unterschiedliche Lösungsangebote für verwandte Problemstellungen aufzufassen. Nachgewiesen werden soll, dass die in der Zeit viel debattierte, die visuelle Darstellung des Körpers im Zustand der Nacktheit postulierende Ästhetik1 ebenso wie die Reflexion auf das mikroskopisch ermöglichte Eindringen in die Klein- und Kleinststrukturen empirischer Gegenstände in ähnlicher Weise die Frage der Visualisierung als spannungsreiche Gleichzeitigkeit von Ver- und Enthüllung bzw. von Ver- und Ent- bzw. Aufdeckung verhandeln. Auf diese Weise werden das ästhetische mit dem wissenschaftlichen Feld in Beziehung gebracht und Überlegungen, welche die Angemessenheit hinsichtlich der Mimesis des menschlichen Körpers befragen, mit Prozessen parallelisiert, welche den Umgang mit der spezifischen, die Nacktheit der Dinge entbergenden Sichtbarkeit der Mikroskopie betreffen. In beiden Diskussionssträngen tritt dabei eine Dynamik zutage, die das Frei- und Sichtbarmachen der ‚Nacktheit‘ sogleich wieder zurücknimmt. Insofern die Mikroskopie den observierten Gegenstand anders zeigt, als ihn das bloße Auge erkennt, erscheint dieses in seiner Wahrnehmungs-, mithin aber auch in seiner Erkenntnisleistung erheblich verunsichert. Vor _____________ 1
Winckelmann, Johann Joachim, „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“, in: ders., Kleine Schriften – Vorreden – Entwürfe, Walther Rehm (Hrsg.), Berlin 1968; Lessing, Gotthold Ephraim, „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5.2: Werke (1766–1769), Wilfried Barner (Hrsg.), Frankfurt am Main 1990; Herder, Johann Gottfried, „Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Träume“, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur und Altertum (1774–1787), Jürgen Brummack/Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt am Main 1994.
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allem die Perzeption der Farben, deren zunehmender Verlust mikroskopisch hervorgerufen wird, kann in Folge des Einsatzes dieser optischen Technik nur noch als bloße Täuschung, als physiologisch und physikalisch erzeugter Effekt bestimmt werden. Farben gelten somit nicht mehr als Eigenschaften der beobachteten Gegenstände, sondern als ihnen seitens des Sehmechanismus gleichsam hinzugefügte, d. h. lediglich konstruierte, akzidentielle Wahrnehmungswerte. Blut sei in diesem Sinne ‚in Wirklichkeit‘ keine rote Flüssigkeit, es sei vielmehr eine durchsichtige Substanz, in welcher sich vereinzelt rote Kügelchen befinden. Aber vielleicht müsste auch diese Beschreibung revidiert werden, wie John Locke im Essay Concerning Human Understanding bereits im 17. Jahrhundert zu bedenken gibt, wenn leistungsfähigere Apparate zum Einsatz kämen: Das Blut erscheint dem bloßen Auge ganz rot; unter einem guten Mikroskop aber, in dem auch seine kleineren Bestandteile sichtbar werden, zeigen sich nur einige wenige rote Kügelchen, die in einer durchsichtigen Flüssigkeit schwimmen; wie diese roten Kügelchen erscheinen würden, wenn wir Gläser hätten, die sie in tausendfacher oder zehntausendfacher Vergrößerung zeigen würden, ist ungewiß.2
Die Naturforschung und die an ihr orientierte Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts geraten in Anbetracht der Konkurrenz zwischen dem natürlichen und dem apparativ modifizierten Blick in eine prekäre Konfliktsituation. Einerseits halten sie an der Möglichkeit fest, mittels der Mikroskopie die observierten Bezugsgegenstände in ihrer tatsächlichen Beschaffenheit freizulegen. Die gewissermaßen ‚nackte Wahrheit‘ der Dinge – dies wird ihr zugemutet – soll sie sichtbar werden lassen. Mag diese Erwartung auf der Überzeugung beruhen, die optischen Geräte können die Unzulänglichkeiten der natürlichen Sinneswerkzeuge kompensieren, so wird sie andererseits zugleich auch von einer nicht unberechtigten Skepsis gegenüber der Medientechnik als potenzieller Fehlerquelle begleitet. Dem empirischexperimentellen Wissen der Zeit ist bewusst, dass die Mikroskope in die Erzeugung des Sichtbaren aktiv eingreifen und dabei die Wahrheit der Dinge sowohl zu erkunden helfen als auch zu verstellen drohen. Die Technik schärft und verfeinert die Sicht nicht nur, sie verändert sie auch.3 Demzufolge wird neben der Zuverlässigkeit des bloßen Auges auch diejenige des technisch aufgerüsteten in Frage gestellt. Gleichwohl gilt – das _____________ 2 3
Locke, John, Versuch über den menschlichen Verstand [1689], auf C. Wincklers Übersetzung beruhende Neuausgabe, 5. Aufl., Hamburg 2000, hier S. 374f. Siehe dazu Wolff, Christian, „Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkäntnis der Natur und Kunst der Weg gebähnet wird“ [1729], in: ders., Gesammelte Werke, Abt. 1: Deutsche Schriften, Bd. 20: Deutsche Experimentalphysik III, §§ 74-80, der die von ihm angewandten Vergrößerungsgläser minutiös nach ihrer jeweiligen Stärke und ihrem Schliff differenziert, womit er entscheidende Parameter benennt, welche die Phänomenalität des Observierten mitprägen.
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natürliche, vor allem aber das medientechnisch gestützte – Auge als konstitutives und zentrales Erkenntnisinstrument.4 In dem oben zitierten Passus aus Lockes Abhandlung wird das Mikroskop als Korrektiv der natürlichen Wahrnehmung verstanden. Bleibt dem bloßen Auge der Zugang zu den elementaren Grundlagen, der Korpuskularstruktur, der materiellen Welt verwehrt, wird dem Mikroskop hingegen die Kompetenz attestiert, ebendies zu vermögen. In diese Tradition reiht sich auch George Berkeley ein, wenn er formuliert: „Folglich muß angenommen werden, daß die mikroskopische Darstellung am besten die wirkliche Natur des Gegenstandes, oder was an dieser an sich ist, aufzeigt.“5 Indes wird, um die ‚wirkliche Natur des Gegenstandes‘ zu erforschen, vom Beobachter eine Decodierungsleistung erfordert, welche sich im 18. Jahrhundert noch recht ungefestigt und irritabel zeigt. Unablässig wird die Deutungsfähigkeit des Mikroskopisten auf die Probe gestellt. Derartigen Veränderungen der Wahrnehmung ist er ausgesetzt, dass jeder Rückgriff auf vertraute Beschreibungskategorien zu versagen droht und jede Ähnlichkeit mit dem Wahrnehmungsbild des bloßen Auges preisgegeben scheint. Erkannt und analysiert werden sollen abstrakte Strukturen. In Lockes Worten ausgedrückt: „Was sich uns jetzt als gelbe Farbe des Goldes darstellt, würde [unter dem Mikroskop, N.B.] verschwinden; statt dessen würden wir eine bewundernswerte Textur [...] erblicken.“6 Um der somit aufgedeckten Wirklichkeit begrifflich beizukommen, etablieren sich schon bald die Bezeichnungen ‚Textur‘ bzw. ‚Gewebe‘. Auf der Suche nach der nackten Wahrheit der Empirie findet das mikroskopische Auge Unbekanntes vor, das in der Textur- Gewebemetapher jedoch in eine Art vestimentäre Ordnung eingetragen wird. Die nackte Wahrheit erfährt demnach eine bildhafte Umschreibung, deren Herkunft in der Kulturtechnik des Herstellens von Stoffen und Kleidern liegt. Um die These zuzuspitzen: Wo die Wissenschaft die empirischen Phänomene gleichsam bloßzulegen vorgibt, dort beruft sie sich auf der rhetorischen Ebene zugleich auch auf eine Figur, welche die ‚Nacktheit‘ als Gewebe auszeichnet und damit in gewisser Weise wieder einkleidet. Im Kontext dieser komplexen Konstellation sollen im Folgenden zumindest exemplarisch einige Facetten der visuellen Wahrnehmung in der Ästhetik anhand von Wilhelm Heinses Ardinghello und die glückseeligen Inseln besprochen werden. Von Interesse ist hier nicht, ob der literarische Text vom Ende des 18. Jahrhunderts explizit auf diese in der Naturkunde und _____________ 4 5 6
Vgl. dazu Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, S. 174f. Berkeley, George, Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous, übers. von Raoul Richter, bearb. von Erwin Pracht, Wolfgang Breidert (Hrsg.), 4. Aufl., Hamburg 1991, S. 30. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, S. 374.
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Philosophie seit dem 17. Jahrhundert verhandelte Problemstellung des Sehens Bezug nimmt – dies tut er übrigens nicht; in Frage steht vielmehr, inwiefern sich ein Verhältnis struktureller Korrespondenz hinsichtlich der Gegenseitigkeit zwischen dem Ver- und Entbergen festhalten und das Postulat einer Nacktheit, welche sich letztlich aufschiebt, auch in dem literarischen Text nachweisen lässt. Referiert wird damit auf den grundlegenden Zusammenhang, was als angemessener Darstellungsgegenstand der Kunst zu gelten habe und d. h., was unter einer angemessenen Repräsentation zu verstehen sei. Anders als die mikroskopisch angeleitete Vorgehensweise der Naturforschung, die in das Observierte gleichsam eintaucht und eindringt und dadurch eine taktile Dimension erlangt, lautet das wirkmächtig auf Lessing zurückgehende Postulat der bildenden Kunst, sie könne nur die Oberflächen abbilden. „Alle bildende Kunst“, behauptet Demetri, jene Figur in Heinses Roman, welche Lessings Typologie vertritt und in dieser Hinsicht als Ardinghellos Kontrahent agiert, „ist am Ende bloß Oberfläche. Und dies ist die Ursache, warum wahrhaftig große Menschen unter den Künstlern mit ihren Werken so selten zufrieden waren. Sie konnten nur wenig von dem hineinbringen, was sie fühlten“.7 Ardinghello kontert, indem er die Malerei wie die bildende Kunst überhaupt mit einem Hinweis auf das Rezeptionsvermögen des Betrachters aufwertet: „[D]as geläuterte Gefühl erfahrner hoher Menschen entscheidet hier allein“8. Auf diese Weise spricht er nicht nur seinem Gegenüber die Fähigkeit zur ästhetischen Wahrnehmung ab, sondern zugleich auch das prinzipielle Problem des Sehenkönnens an. „Jede Gestalt zeigt Ursprünglichinnres“,9 so Ardinghello weiter. Demzufolge sei die bildende Kunst durchaus dazu in der Lage, „[d]as höchste Leben“,10 wie die in diesem Roman geltende ästhetische Maxime lautet, hervorzubringen. Dieses ‚höchste Leben‘ aber falle mit dem Gefühl in eins. Nicht auf der Ebene der Kunstwerke sind die Defizite zu verorten, sondern, wie es hervorzuheben gilt, auf derjenigen der Beobachterleistung. Dem naturkundlichen Beobachter vergleichbar, der unter dem Einsatz der Vergrößerungsgläser die Fertigkeit erwerben muss, das Gesehene überhaupt erst zu identifizieren und in einen übergreifenden Zusammenhang sinnvoll einzubinden, mithin richtig zu sehen und zu deuten, muss auch der Kunstbetrachter sein Sehvermögen erst sensibilisieren, um die Qualität eines Werks nachvollziehen zu können. _____________ 7 8 9 10
Heinse, Wilhelm, „Ardinghello und die glückseeligen Inseln“, in: ders., Sämmtliche Werke, Carl Schüddekopf (Hrsg.), Leipzig 1911, S. 189. Ebd., S. 198. Ebd. Ebd., S. 196.
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In beiden Fällen wird daher eine Schulung des Gesichtssinns eingefordert. Während sie im ersten Fall die Dechiffrierung abstrakter Strukturen betrifft, wird sie im Kontext der Ästhetik als eine Kategorie des ‚Gefühls‘ ausgewiesen. Mag auf diese Weise der durchaus berechtigte Eindruck entstehen, es handelt sich in der Naturforschung und Ästhetik um unterschiedliche Problemstellungen, so lässt sich demgegenüber in beiden Wissensbereichen auch eine gleichermaßen konstitutive Tendenz zum Durchbrechen der sichtbaren Oberfläche diagnostizieren. Das Mikroskop tastet diese erst einmal ab, um anschließend visuell in die Naturgegenstände einzudringen – das manifestiert sich nicht zuletzt in bestimmten sprachlichen Wendungen11 –, der ästhetisch fühlende Kunstliebhaber dringt unter die Oberfläche der Werke vor, um dabei ihre Lebendigkeit als Gefühl zu erfassen. Demetri bezweifelt zwar, dass ein Werk der bildenden Kunst dazu geeignet sei, ‚Gefühl in es hineinzubringen‘, wie er sich ausdrückt. Ardinghello aber delegiert diese Leistung an den Betrachter. Zu fragen bleibt daher, wie dieses rezeptive ‚Hineinbringen‘ des Gefühls sich konkretisiert. Nicht unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass der Gefühlsbegriff im 18. Jahrhundert neben der heute üblichen Bedeutung als psychische Gestimmtheit, als emotionale Verfasstheit eine weitere, eine ältere enthält. Er figuriert nämlich auch als handfeste Wahrnehmungskategorie, indem er auf den Tastsinn verweist. Gemäß der Semantik des 18. Jahrhunderts signifiziert ‚Gefühl‘ sowohl Tasten und Berühren als auch psychische Affektivität überhaupt.12 Die in Ardinghello proklamierte Form der ästhetischen Wahrnehmung beruht somit auf der Vorstellung, die Leistung des Gesichtssinns müsse durch die Beteiligung der Emotionalität, aber eben auch der Taktilität komplettiert werden. Besonders augenfällig wird dies in Anbetracht plastischer Werke, die im Anschluss an Herders Differenzierung mit dem Tastsinn aufs engste verknüpft werden.13 In diesem Sinne fordert auch Ardinghello angesichts einer antiken Venus-Skulptur auf: „Doch, was verschwend ich Worte darüber; komm und sieh! und fühle!“14 Deutlich ist diesem Imperativ der Rückgriff auf Herders Ästhetik als Auftrag anzumerken, sich die Plastik mittels Berührung rezeptiv anzueignen. Wie sich aber bereits bei Herder die Zuordnung von Sehen und Tasten _____________ 11 12 13 14
Indem es in die Grundtextur der Körper ‚eindringt‘ – Locke gebraucht dafür im Original die Bezeichnung „penetrate“ –, überschreitet es die Gesetze einer Distanz sichernden Sichtbarkeit. Siehe dazu Scheer, Brigitte, „Gefühl“, in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2: Dekadent-grotesk, Stuttgart, Weimar 2001, S. 629-660. Siehe dazu vor allem Herder, „Plastik“. Heinse, „Ardinghello und die glückseeligen Inseln“, S. 349.
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letztlich als uneindeutig, d. h. als eine beide Wahrnehmungsformen einbeziehende Mischperzeption herauskristallisiert, so nimmt auch Heinse im obigen Passus keine Distinktion vor, er reiht die Imperative ‚sieh‘ und ‚fühle‘ vielmehr aneinander. Das ‚Fühlen‘ folgt dem ‚Sehen‘, als sei es auf dieses als seine Voraussetzung angewiesen. Der Rezeptionsakt mündet jedoch in einem Fühlen, in welchem beide Bedeutungen aktiviert sind. Auch Gemälde sollen, wie die zahlreichen Bildbeschreibungen in Heinses Roman erkennen lassen, nicht nur gesehen, sondern auch visuell gleichsam ertastet und erspürt werden. In der Malerei wie in der Kunst überhaupt geht es nämlich um ein Entbergen und Freilegen des Unsichtbaren. Das eigentlich Schöne wird in Ardinghello zum einen historisiert und zum anderen als etwas bestimmt, das letztlich nicht erschaut, sondern allenfalls erahnt und erfühlt werden kann, wenn es hinter der Verhüllung der Gewänder gesucht wird. Wo es jedoch zum Vorschein kommt, da ist es in besonderer Weise verdeckt, da wird es durch Kleider substituiert. „O wie verlangt mein Herz, jene glückseeligen Inseln und das feste Land auf beyden Seiten noch heut zu Tag zu sehen [...]!“15 In dieser Apostrophe artikuliert sich bereits am Anfang des Romans die Sehnsucht nach dem antiken Griechenland, womit neben der räumlichen, vom Ort der Handlung, von Venedig, auch und vor allem eine unwiederbringliche zeitliche Entfernung adressiert ist. „Ach“, so der Text weiter, „wir sind so weit von der Natur abgewichen, und von der wahren Kunst zurück, daß wir fast insgesammt einen bekleideten Menschen für schöner halten, als einen nackten!“16 Diese kulturkritische Aussage projiziert die Vorstellung von einem naturnahen Zustand der Nacktheit und einer ihm innewohnenden ästhetische Norm historisch zurück. Die Kleidung wird hier zunächst als der Schönheit abträglich bestimmt. „Das kostbarste, prächtigste, feinste und niedlichste Gewand ist für den ächten Philosophen, und das Wesen, das nach klarem frischen Genuß trachtet, ein Flecken, eine Schale, die ihn hemmt und hindert.“17 Das Gewand wird als eine unnötige, störende Hinzufügung abgewertet. Da in den nachfolgenden Bild- und Skulpturbeschreibungen jedoch immer auch Gewänder berücksichtigt werden, diese zuweilen sogar höchsten ästhetischen Anforderungen zu genügen imstande sind, kann ihre eingangs geäußerte Abwertung zumindest nicht unumschränkt bestätigt werden. So versteht auch Ardinghello trotz entgegen gesetzter Behauptungen sie ästhetisch zu würdigen, wovon nicht zuletzt das von ihm selbst gefertigte Gemälde zeugt. _____________ 15 16 17
Ebd., S. 19. Ebd. Ebd.
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Die Madonna war eine holde Jungfrau, die ihr erstes Kind in den Armen hält [...]. Auch der Bube, so recht in Liebe erzeugt, trug die Spuren der vollen Wonne seines Werdens in der Gestalt; er hielt sich mit dem einen Händchen an der rechten halb entblößten Brust unter dem röthlichten Gewand an [...]. Das braune Haar der Madonna war in ein röthlicht gestreiftes Netz gebunden [...]; der blaue Mantel zerflossen, und die Beine und zarten Füße ruhten in reizender Lage.18
Nur zaghaft tritt hier Entblößtes zum Vorschein, nämlich als ‚halb entblößte Brust‘. Ansonsten aber prägen Gewänder, ein rötliches und ein blaues, das Bild. Noch die Haare der Madonna sind in ein ‚Netz‘ gebunden. Die Kleidung, von einem bestimmten Blickpunkt aus der Kunst nicht angemessen, wird hier dennoch ins Ästhetische als ein ihr genuiner Bestandteil integriert. Denn maßgeblich erzeugt sie die Komposition dieses Gemäldes mit. „Bekleidung und Beleuchtung und Scene macht eine süße Harmonie zusammen.“19 Es ist nicht mehr möglich – so die kulturkritische Stoßrichtung des Romans –, Werke nach dem Vorbild der Antike zu schaffen, denn diese konnte auf der Grundlage ihrer Lebensweise das wiedergeben, was sie tatsächlich umgab. Den Nachfahren jedoch fehlen die Gymnasien und Thermen,20 in welchen sie ihren Körper ausbilden könnten. Das antike Kunstideal begreift er demnach als supplementäre Einheit mit dem antiken Lebensideal, beide aber erklärt er für verloren. „[D]ie Vollkommenheit des Nackenden vom Menschen, als des höchsten Vorwurfs der Kunst, und seiner mannigfaltigen Form und Bewegung ist unserm Sinn von Jugend auf in der Wirklichkeit verhüllt [...].“21 Die Aussage gilt es dem Sinne zu verstehen, dass diese ‚Vollkommenheit‘ verhüllt durchaus gegeben ist. Die heutige Kleidung, beklagt der Protagonist, sei bloße „Ziererey“22, also nicht kunsttauglich, ein widerständiges Parergon. „Wenn wir wenigstens nur noch die Bekleidung der Alten hätten!“23, ruft Ardinghello aus. Die dem christlichen Kontext entnommenen Figuren auf seinem Gemälde kleidet er deshalb in antikisierende Gewänder. Da sie sich den natürlichen Körperproportionen fügen, sind sie keine ‚Ziererei‘. Jedoch leisten sie weit mehr, als nur die dargestellten Körper zu umspielen. Recht betrachtet bringen sie diese überhaupt erst hervor: als ‚Spuren der vollen Wonne des Werdens in der Gestalt‘, wie es im obigen Zitat heißt. Wenn Ardinghello seine Figuren mit antikisierenden Kleidern ausstattet, wenn er diese in den _____________ 18 19 20 21 22 23
Ebd., S. 42f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 203. Ebd., S. 261. Ebd., S. 263. Ebd., S. 262.
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Werken anderer großer Renaissance-Künstler bewundert, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass sie zumindest in dieser Form ästhetisch rehabilitiert werden. Sofern es ihnen gelingt, den Körper in der Verhüllung zu gestalten, avancieren die Kleider geradezu zum unabdingbaren Bestandteil der Kunst. Der eigentliche Kunstgegenstand, die Nacktheit eines schönen Körpers, wird zwar substituiert, in diesem Modus jedoch zu einem ästhetischen Gegenstand eigener Art umgewandelt. Aus dieser Verhüllung entsteht das Kunstwerk. Sucht die Naturforschung mittels der Mikroskope die Natur zu entblößen und stößt dabei erstaunlicherweise auf Strukturen, die als Textur und Gewebe, d. h. mit Hilfe vestimentärer Metaphorik umschrieben werden, hält die Ästhetik demgegenüber ein kulturhistorisch zunehmendes Einkleiden, den Verlust der Nacktheit fest. Daraus folgert sie jedoch nicht das Postulat des Entkleidens – der antike Zustand lässt sich nicht einfach wiederherstellen –, sondern im Gegenteil, sie behilft sich mit einer besonderen Technik des Einkleidens. Auch sie verhüllt, was es zu enthüllen gelte.
Bei Licht gesehen. Zur Popularisierung des Newtonschen Sehkonzepts und dessen Folgen für die Aquarellmalerei Isabelle von Marschall Nimmt man die Entwicklung der Aquarellmalerei in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Augenschein, fällt ein Phänomen besonders auf: innerhalb von ungefähr einer Generation wird aus einem Bildmedium, das den unteren Stufen der Medienhierarchien assoziiert wurde, ein Medium, das für vollwertige Kunstwerke eingesetzt wurde. Das Aquarell findet man noch zur Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in Skizzen oder in kolorierten Drucken. Eine gewisse Bedeutung fand es in topografischen Darstellungen im Dienst der Kartografie, die als solche nur bedingt einen künstlerischen Anspruch erfüllten.1 Anders verhält es sich zwei Generationen später. Die Aquarelle William Turners haben nicht nur Formate, die allein eine dem Ölgemälde vergleichbare Rahmung und Hängung ermöglichen, sondern er übersetzte auch Techniken der Ölmalerei in die Aquarellmalerei und umgekehrt, um so die Vorteile des einen Mediums mit denen des anderen zu kombinieren.2 Die Aufwertung eines Mediums, das an sich mit der Zeichnung und deren meist bildvorbereitenden Zwecken assoziiert wurde, zu einem eigenständigen Gemälde, lässt sich bereits bei der letzten Generation von Malern des 18. Jahrhunderts beobachten. Aquarellmaler wie Francis Towne und John Robert Cozens, um hier nur zwei zu nennen, haben gemeinsam, dass ihre Werke Meilensteine in der Entwicklung des englischen Landschaftsaquarells sind. Sie befassten sich vor allem mit einem Aspekt des Landschaftsbildes – dem Licht. Hier soll gezeigt werden, dass das Aquarell nicht nur besonders gut dazu geeignet war, das Spiel des Lichts darzustellen, sondern vor allem auch, dass der Stand der Kenntnisse in der Optik, einen direkten Einfluss _____________ 1 2
Etwa die Ansichten der schottischen Clyde und Forth Täler, die Thomas und Paul Sandby zwischen 1752 und 1755 zeichneten. Siehe: Bermingham, Ann, Learning to Draw. Studies in the Cultural History of a Polite and Useful Art, New Haven, London 2000, S. 79. Shanes, Eric, „Turner and the ‚scale practice‘ in British watercolour art. Tint by tint by tint“, in: Apollo, 146/1997, 429, S. 45-51, S. 45f. u. 49ff.
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Bei Licht gesehen. Zur Popularisierung des Newtonschen Sehkonzepts
auf die Aufwertung des Mediums Aquarell hatte. In der Folge der Erkenntnisse Newtons stand die Bedeutung des Lichts als Vermittler zwischen dem Gesehenen und dem Betrachter fest.3 Das heißt, der Betrachter sieht nicht das Objekt selbst, sondern die Interaktion zwischen dem Objekt und dem Lichtstrahl. Was dies für das Funktionieren der Sicht bedeutete, wurde zu einer der zentralen Fragen des 18. Jahrhunderts. Das Bild bekam damit vor allem eine Funktion – es musste eben diese Interaktion wiederholen, es wurde zum bewusst gemachten Sehen zur Darstellung der Sicht. Isaac Newton und die Aquarellmalerei In seinen 1704 veröffentlichten Opticks or a treatise on the Reflections, Refractions, Inflections & Colours of Light beschrieb Newton die physikalischen Eigenschaften des Lichts, die er bereits im Titel des Werkes zusammengefasst hatte.4 Licht besteht aus unterschiedlichen Farbstrahlen, die durch ihre unterschiedliche Art der Spiegelung, Brechung und Beugung sichtbar werden. Diese Interaktion ist es, die durch das Auge erkannt wird. Für das Sehen bedeutete dies, dass das Licht nicht nur eine äußere Bedingung war, sondern, dass es als der eigentliche Informationsträger anerkannt werden musste. David Hartley verband die physikalischen Eigenschaften des Lichts mit der Wirkung desselben auf den Betrachter. In der Nachfolge John Lockes interessierte er sich dafür, wie visuelle Eindrücke entstehen, abgespeichert und wieder abgerufen werden können. Er nahm 1749 die mechanistischen Elemente der Theorien Newtons auf und bezog sie auf das individuelle Sehen. Die Vibrationen, die durch die Interaktion des Lichts mit der Umwelt entstünden, versetzten Hartley zufolge den Äther des Sehnervs in Bewegung. Dieser Vibrationsmodus sei es, an den das Gehirn sich erinnere bzw. den das Gehirn speichern könne.5
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Welche Bedeutung dies für die Literatur hatte, verdeutlichte bereits: Hope Nicolson, Marjorie, Newton demands the Muse, Princeton 1946. Erste Ergebnisse, darunter die doppelte Brechung des Lichts durch einen Prisma beschrieb Newton bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1672: „A Letter of Mr. Isaac Newton, Mathematick Professor in the University of Cambridge; containing his New Theory about Light and Colors: […]“, in: Philosophical Transactions: Giving some Accompt of the Present Understanding, Studies and Labors of the Ingenious in many considerable parts of the World, 6/1672, 80, S. 3075-3087. Hartley, David, Observations on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations, 2 Bde., London 1749, Bd.1, S. 21 und S. 191-222.
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Die Überlegungen Hartleys fanden durch Joseph Priestley Verbreitung, der diese in kommentierter Form 1772 herausgab.6 Priestley betonte in seinen Kommentaren vor allen Dingen eines: die Abhängigkeit geistiger Wirkung von sinnlichen Erfahrungen. Wirkung und sinnliche Erfahrung mussten demnach als zwei getrennte Momente gesehen werden, wobei ersteres nur aufgrund der Auslöserfunktion der Sinne stattfinden konnte. Für die Malerei bedeutete dies vor allem, dass Farben nicht mehr als Zeichen zu verstehen waren. Das Funktionieren des Auges und der Sicht hingegen fanden in zahlreichen Traktaten von Francesco Algarottis Abhandlungen7 bis zu den Traktaten Richard Payne Knight8 einen Platz. In Aquarell können die physikalischen Eigenschaften des Lichts besonders gut dargestellt werden. Der weiße Malgrund spiegelt weißes Licht, d. h. alle Farben in gleichem Maße. Erst durch das Auftragen der transluziden Farbe entsteht der Eindruck von Buntheit indem die einzelnen Strahlen unterschiedlich gebrochen werden. Das restliche Licht kann jedoch weiter auf dem weißen Malgrund reflektieren – das Bild strahlt.9 Wie einzelne Künstler die Möglichkeiten des Aquarells nutzten, soll an zwei Vertretern gezeigt werden. Francis Towne und John Robert Cozens gehören der gleichen Generation an und befanden sich alle drei zu Beginn der 1780er Jahre auf ihrer Grand Tour in Italien. Von Thomas Jones wissen wir, dass er sowohl mit Francis Towne als auch mit John Robert Cozens in der Campania zeichnete.10 Jeder von ihnen legte jedoch unterschiedliche Schwerpunkte in seiner Darstellungsweise desselben Themas, wobei sie eines gemeinsam haben, das Spiel des Lichts auf der Bildoberfläche. _____________ 6
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Priestley, Joseph, Hartley’s theory of the human mind, on the principle of the association of ideas, with essays relating to the subject of it, London 1775, S. VII-XXI. Zur Optick bei Priestley siehe: ders., The History and Present State of Discoveries relating to Vision, Light and Colours, London 1772. Eine deutsche Übersetzung erschien bereits 1776 von Georg Simon Klügel. Algarotti, Francesco, An Essay on Painting, etc., London 1764. Knight erläuterte die Abhängigkeit ästhetischer Erfahrungen von sinnlichen Reizen bereits in einem Brief an George Romney aus dem Jahr 1776 – dem Jahr, als er mit John Robert Cozens durch Italien reiste. In seinem ausformulierten Traktat, das fast dreißig Jahre später veröffentlicht wurde, sollte die Erklärung, wie diese visuellen Reize im Auge entstehen, fast die Hälfte des Traktates einnehmen. Eine Transkription des Briefes in: Romney, John, Memoirs of the life and works of George Romney […] also some particulars of the life of Peter Romney, his brother, London 1830, S. 331f., und Knight, Richard Payne, An Analytical Inquiry into the Principles of Taste, London 1805. Francesco Algarotti betont diesen Vorteil des weißen Malgrunds explizit, vgl. Algarotti, An Essay on Painting, London 1764, S. 49f. Für beide gilt außerdem, dass sie gemeinsam mit Thomas Jones in Italien zeichneten und sich wahrscheinlich auch kannten. Hawcroft, Francis W., Travels in Italy (1776–1783). Based on the Memoirs of Thomas Jones, Kat. Ausst. Whitworth Art Gallery, Manchester 1988, Kat. Nr. 97, S. 88 u. S. 103f.; Oppé, Paul A. (Hrsg.), „Memoirs of Thomas Jones“, in: The Walpole Society, 32/1946–48, London 1951, S. 53, 73 u. 121.
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Bei Licht gesehen. Zur Popularisierung des Newtonschen Sehkonzepts
Francis Towne, das Bild als Zeuge Bei Francis Townes Ringen um Anerkennung spielen seine Aquarelle eine besondere Rolle. Towne entwickelte bereits auf seiner Tour durch Wales 1777 eine Aquarelltechnik, die er auf seiner Italienreise 1780 bis 1781 noch vertiefte. Anders als John Robert Cozens, der seine einzige Kandidatur (1776) für die Kunstakademie mit einem Ölbild stellte11, schreckte Towne nicht davor zurück für eine Mitgliedschaft im Jahr 1794 mit einem großformatigen Aquarell zu kandidieren.12 Townes Verzweiflung im Jahr 1803 nach zehn Bewerbungen nicht zum Mitglied erwählt worden zu sein, obwohl er doch „niemals in seinem Leben eine Zeichnung ausgestellt“ habe13, macht deutlich, dass er zumindest seine ausgearbeiteten Aquarelle als Gemälde verstand.14 Als Towne im Jahr 1805 sein Œuvre in einer monografischen Ausstellung präsentierte, stellte er einzig und allein Aquarelle aus und betonte damit ein weiteres Mal ihre Bedeutung.15
Abb. 1: Francis Towne: Albaner See, 1781
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Es handelt sich um das einzige Ölbild, das von John Robert Cozens bekannt ist und heute als verschollen gilt. Whitley, William T., Artists and their Friends in England (1700–1799), 2 Bde., New York, London [1928], Bd. 1, S. 315ff. Peters, Martina, Italienreise und Italienansicht. Die Wirkung Claude-Joseph Vernets auf die Freilichtpraxis am Beispiel von Francis Towne und Pierre-Henri de Valenciennes, Diss. FU Berlin 2002, S. 143-146. „[…] I never in my life Exhibited a Drawing“ transkribiert in Timothy Wilcox, Francis Towne, London 1997, S. 163. Greg Smith machte deutlich, dass Aquarelle anfänglich durchaus von der Royal Academy gewürdigt wurden und erst von dem Moment an, wo sie zu einer ernsthaften Konkurrenz zum Ölgemälde aufstiegen, verdrängt wurden. Greg Smith, „Watercolours and Watercolourists at the Royal Academy (1780–1836), S. 189-200“, in: Art on the Line. The Royal Academy exhibitions at Somerset House (1780–1836), Yale 2001, S. 192. Vgl. Wilcox, Francis Towne, S. 162.
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Auf seinen Skizzentouren in Italien aquarellierte Towne vor Ort und hinterließ sorgfältig beschriftete Aquarelle. Es handelt sich dabei jedoch nicht um reine Farbnotizen, wie wir sie etwa von Dürer kennen, denn er notierte auf der Rückseite seiner Blätter die Tageszeit und die Richtung des Lichteinfalls und verankerte damit seine Aquarelle in den Moment ihrer Entstehung. Seine Notizen lauten etwa folgendermaßen: „Italy / No. 7 Lake of Albano taken July 12th 1781 / Francis Towne / Morning light from the left hand [sic heraldisch].“16 Auch wenn wir wissen, dass Towne seine Aquarelle zuhause überarbeitete, werden Ort, Datum, Signatur und Lichteinfall hier zu einem Ganzen verschmolzen. Das Spiel des Lichts auf der dargestellten Landschaft wird damit zum Zeugnis für die Authentizität der sinnlichen Wahrnehmung. Timothy Wilcox konnte eine Verbindung zwischen Joseph Priestley und Francis Towne über Townes Freund dem presbyterianischen Pfarrer Samuel Merivale herstellen, so dass anzunehmen ist, dass auch Towne sich immer wieder mit den Thesen Priestleys konfrontiert sah.17 Doch wie setzte Francis Towne seine schriftliche Bemerkung in seinen Bildern um? Towne handelt auf zwei Ebenen gleichzeitig. Einmal indem er das gesagte mit derselben Präzision darstellt, wie er sie in seiner Notiz beschreibt und ein zweites Mal, indem er versucht, das Strahlen des Lichts in seinen Bildern zum wirken zu bringen. Towne baut seine Bilder auf einer flüchtigen Grafitzeichnung auf, die dann mit breiten Farblasuren übermalt wird. Diese Farblasuren bilden nebeneinander gelegte Licht und Schattenflächen, die weniger die Binnenstruktur der dargestellten Objekte, etwa eines Baums, darstellen, als vielmehr das Verhältnis, welches das Licht zwischen den einzelnen Objekten herstellt. So ist er gezwungen, die Lesbarkeit seiner Objekte wiederherzustellen, indem er zur Feder greift und mit sparsamer Linienführung die einzelnen Gegenstände definiert. In der Darstellung des Albaner Sees kann das Verhältnis zwischen den Büschen unterhalb des Baums links und der Kante des Abgrunds nur mit Hilfe des Verhältnisses der Schlagschatten zueinander verstanden werden. Seine Landschaft wird damit als eine Art Sonnenuhr lesbar, die ihre Authentizität gewissermaßen auf die Minute festhält. Indem Towne auf eine kleinteilige Pinselführung verzichtet, erreicht er vor allem eins: Er lässt das Strahlen des Lichts für den Betrachter lebendig werden. Das Licht das auf das Bild fällt, spiegelt sich aufgrund der dünnen Lasur direkt auf dem weißen Bildgrund. Es kann so direkt in das Auge des _____________ 16
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British Museum, London. Kat. Nr. 269 mit Abbildung, in: Andrew Wilton/Anne Lyles, The Great Age of British Watercolours 1750–1880, London, München 1993, S. 309 u. Abb. 22. Andere Notizen mit dem Vermerk „out of the picture“ zeigen, dass es sich um Angaben im heraldischen Sinne handelt. Ebd. Kat. Nr. 270, S. 309 u. Abb. 17. Vgl. Wilcox, Francis Towne, S. 23ff.
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Bei Licht gesehen. Zur Popularisierung des Newtonschen Sehkonzepts
Betrachters reflektieren, so dass das Strahlen des Lichtes in der Campania für den Betrachter rekonstruiert wird. John Robert Cozens, die Lichtperspektive John Robert Cozens wurde schon sehr früh als der Erneuerer der englischen Aquarellmalerei gefeiert.18 William Turner kopierte seine Werke in der sogenannten Monro-School und viele seiner großformatigen wurden nachweislich bereits von Cozens’ Zeitgenossen gerahmt und in hängender Form präsentiert.19 Auch Cozens machte sich die Eigenschaften der Aquarellfarbe, d. h. die Transluzenz der Farbe und den weißen Malgrund zu Nutze, um seine Bilder zum Strahlen zu bringen. Anders als Francis Towne gebraucht Cozens jedoch einen Diskurs, der bisher der Ölmalerei vorbehalten war, und verknüpft diesen mit populärwissenschaftlichen Interpretationen der Newtonschen Physik. Die Lichtperspektive, die bei Cozens zum Ausdrucksmittel schlechthin wird, kann als eines der typischsten Beispiele dafür gelten, dass „ältere“ Diskurse in der Malerei durch naturwissenschaftliche Argumente neu unterfüttert werden konnten. Cozens baut seine Landschaftsbilder auf Lasuren auf, die von Schicht zu Schicht immer kleinteiliger und dunkler werden. Die Landschaften die so entstehen, bestehen allein aus Licht- und Schattenwerten, die der Betrachter zu Formen zusammenfügt. Wegen der Transluzenz der Farbe bleibt der Grundton, die erste Lasur, die er durch die Farbe des Himmels definiert, bis in die oberste Schicht erhalten, so dass seine Bilder allein auf der Farbe Blau aufbauen, die in weiteren Schichten in Grün und Braun changieren kann. 20 Der Arzt William Cheselden hatte bereit 1728 ein Experiment veröffentlicht, das zu den am öftesten zitierten in den folgenden hundert Jahren werden sollte. Es sollte den Diskurs zwischen der Vorherrschaft von Linie oder Farbe in der Malerei schüren. Cheselden hatte an einem _____________ 18 19
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Pott, J. H., An Essay on Landscape Painting. With remarks general and critical, on the different schools and masters, ancient and modern, London 1782, S. 76. Dies gilt für zwei Aquarelle, die Cozens – laut der Liste von Auftraggebern, die sich auf der Rückseite der dazugehörigen Skizze (Sir John Soanes’s Museum, London, Inv. Nr.44-12-15) befindet – für Sir Richard Colt Hoare zeichnete. Sie werden bei Hoare als Zimmerausstattung beschrieben. Hoare, Richard Colt, The History of Modern Wiltshire, 14 Bde., London 1822– 1844, hier: Hundred of Mere, Bd. 1, London 1822, S. 75. Sunderland, Thomas, „Method of tinting landscapes by Mr. Cozens“, transkribiert in: Charles Bell/Thomas Girtin, „The Drawings and Sketches of John Robert Cozens. A Catalogue with a Historical Introduction“, in: The Journal of the Walpole Society, 23/1934-1935, Anhang, S. 3f.
Isabelle v. Marschall
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blinden Jungen eine Hornhautoperation vorgenommen, die ihm das Sehvermögen zurückgeben sollte. Nach der Operation erklärte der Junge zuerst, er könne Farben sowie Hell- und Dunkelwerte, aber keine Formen erkennen, und bewies damit die Lehren Hartleys für die Medizin. Als dann der Junge den Tastsinn mit dem, was er sah, kombinierte, lernte er die Farb- bzw. Lichtrelationen räumlich zu bewerten. Nun wurden ihm auch Bilder gezeigt. Da er aufgrund seiner vorherigen Erfahrung meinte, dass es sich bei dem Dargestellten um plastische Körper handeln müsse, war er zutiefst erstaunt, als er bemerkte, dass diese Gebilde aus Licht und Farbe in Wahrheit nur zweidimensional waren. 21
Abb. 2: John Robert Cozens, Ansicht bei Terracina, um 1783
Das Lehrbuch von John Robert Cozens Vater Alexander zur Darstellung von Landschaften aus „geklecksten“ Körpern macht sich genau dieses Phänomen zunutze. Beim so genannten „Blotting“ („Klecksen“) sieht der Betrachter in willkürlich in Tusche übereinander gekleckste Gebilde hinein. Er interpretiert die so entstandenen Hell und Dunkelwerte als vorund rückspringende Formen, als Felsen, Bäume und Hügel.22 Der Aufbau der Landschaften Cozens aus Licht- und Schattenwerten geht somit auf das System seines Vaters zurück, die Betonung der Farbe Blau in seinen Landschaften findet jedoch in den Schriften William Gilpins, _____________ 21
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Cheselden, William, „An Account of some Observations made by a young Gentlemen, who was born blind, or lost his Sight so early, that he had no Remembrance of ever having seen, and was couch’d between 13 and 14 Years of Age“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, 35/1728, 402, S. 447-450. Cozens, Alexander, An Essay to Facilitate the Inventing of Landskips, Intended for Students in the Arts, London 1759; ders., A new Method of Assisting in Drawing original Compositions of Landscape, London [1785]; Charles A. Cramer, „Alexander Cozens New Method: The Blot and General Nature“, in: The Art Bulletin, 79/1997, 1, New York 1997 S. 112-119, hier S. 114f.
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Bei Licht gesehen. Zur Popularisierung des Newtonschen Sehkonzepts
der zum Umfeld der beiden Cozens gehörte, eine Erklärung.23 In seinem Traktat zur Druckgrafik macht Gilpin deutlich, dass er vor allem an Einem interessiert ist, dem Spiel des Lichts auf der Oberfläche. So basieren die Merkmale eines Bildes, das man als schön bezeichnen kann, auf Transparenz, polierten Körpern und reflektierten Farben, also auf den Eigenschaften des Lichts Reflektion und Refraktion. Unter dem Begriff „Keeping“ begründet er die Dominanz des Grundtons Blau für das gesamte Gemälde: Air which is naturally blue, is the medium, through which we see, and every objekt participates of this blueness. When the distance is small, the tinge is imperceptible: as it increases, the tinge grows stronger; and when the objekt is very remote, it entirely loses its natural colour, and becomes blue.24
Gilpin zufolge reflektieren die Luftpartikel vor allem blaues Licht, so dass mit zunehmender Ferne eines Objektes, eine zunehmende Menge von blauen Luftpartikeln zwischen dem Objekt und dem Betrachter auftreten. Dies ist es was Cozens in seinen Bildern wieder aufgreift. Die von ihm dargestellte Lichtperspektive ist vor allem als eines zu verstehen: als die Popularisierung der Optik für die Malerei. Beide Maler haben eines gemeinsam: die Aquarelle Francis Townes sowie die von John Robert Cozens sind Zeugnisse ihrer Reisen, Zeugnisse ihrer Landschaftserfahrung, die an weitere vermittelt werden soll. Timothy Wilcox hat gezeigt, dass die Aquarelle Francis Townes als bildhaftes Supplement für seine Reisetagebücher gesehen werden müssen.25 Cozens wie auch Townes Reiseaquarelle gehen jedoch über das Locke’sche Konzept der Darstellung als Aneignung von komplexen Zusammenhängen durch die Zeichnung hinaus26, sie stellen die Bewusstmachung des Sehens dar – einer sensuellen Wahrnehmung, die allein auf einem Vermittler basiert, dem Licht.
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Sloan, Kim, Alexander and John Robert Cozens: The Poetry of Landscape, London 1986, S. 111f. Gilpin, William, An Essay upon prints […], London 1768, S. 42f. Vgl. Wilcox, Francis Towne, S. 18. Vgl. Bermingham, Learning to Draw, S. 72f.
Antikes Wissen. Die Wiederentdeckung der Linie und der Farbe Schwarz am Beispiel der Scherenschnitte von Luise Duttenhofer (1776–1829) Julia Sedda Es war zwischen 1750 und 1760, als in den Pariser Salons schwarze Profilbildchen auftauchten, die trotz ihres ärmlichen Aussehens allgemeines Interesse erregten. […] Man fand, daß sie eine gewisse Verwandtschaft mit den völlig flach gemalten schwarzen Köpfen auf den roten griechischen und etruskischen Vasen besaßen, und gerade diese Übereinstimmung mit der herrschenden Mode sicherte ihnen die Teilnahme und den Erfolg.1
Antikes Wissen und visuelle Praxis Die folgenden Überlegungen zur Antikenrezeption bei Luise Duttenhofer (1776–1829)2 stehen unter der Frage: Welches Wissen hat sie über die Antike gehabt – oder vorsichtiger ausgedrückt: hätte sie haben können – und wie hat sich dieses Wissen auf ihre visuelle Praxis ausgewirkt? Diese Fragestellung soll auf drei Ebenen diskutiert werden: zuerst auf der Ebene der Formensprache, dann auf der des Stils und schließlich drittens auf der inhaltlichen Ebene. Der Akzent liegt dabei auf den prächtigen Tafelwerken zur antiken Vasenmalerei, weil sie den europäischen Kunstgeschmack um 1800 wesentlich beeinflusst haben. Durch die Wiederentdeckung der griechischen Vasenbilder kommt ein neuer Sehprozess in Gang, in dem die Linie sowie die Farbe Schwarz eine neue Bedeutung bekommen. Die Wiederentdeckung der antiken Vasenmalerei und die kunsttheoretischen Erklärungsversuche
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Buss, Georg, Aus der Blütezeit der Silhouette. Eine kunst- und kulturgeschichtliche Studie, Leipzig 1913, S. 16. Zur Biografie Duttenhofers s. Fiege, Gertrud (Hrsg.), Die Scherenschneiderin Luise Duttenhofer (Marbacher Magazin, Sonderheft 13), Marbach 1979; Pazaurek, Gustav E., Die Scherenschnittkünstlerin Luise Duttenhofer, Stuttgart 1924.
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Antikes Wissen. Scherenschnitte von Luise Duttenhofer (1776–1829)
über den Ursprung der Malerei im menschlichen Schatten haben ihren Bezugspunkt in der praktischen Ästhetik des Scherenschnitts. In Scherenschnitt und Schattenriss fand eine gehobene Häuslichkeit ihr beliebtes Betätigungsfeld. So nimmt es nicht wunder, dass in jener Zeit mechanische Hilfsmittel entwickelt werden – Silhouettierstühle, Pantograf bzw. Storchschnabel, Boumagie –, mit dem Ziel, sowohl den Berufssilhouetteuren als auch dem Laien das Schattenreißen zu erleichtern. Der Stuttgarter Scherenschneiderin Duttenhofer wurden Papier und Schere zum „Malwerkzeug“. Sie konnte aus freier Hand schneiden und entfaltete in der Papiertechnik ein künstlerisches Können, so dass sie noch zu Lebzeiten eine der bekanntesten deutschen Scherenschneiderinnen wurde. Das sowohl an Umfang als auch Qualität einzigartige Scherenschnittwerk, das zum größten Teil im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird3, ist durch ein äußerst breites Themenspektrum gekennzeichnet: Porträtsilhouetten, Landschaften, Tier- und Pflanzendarstellungen, Chinoiserien, religiöse und mythologische Szenen, Heiligendarstellungen, Ornamente, Textillustrationen. Im rund 1.500 Scherenschnitte umfassenden Œuvre ist eine antike Formensprache unübersehbar, obgleich Duttenhofer sich nie konkret auf Vorlagen aus der Antike bezieht. Daher stellt sich die Frage nach den Bildquellen. Es ist anzunehmen, dass ihr als Ehefrau des damals bekannten Reproduktionsstechers Christian Friedrich Traugott Duttenhofer (1778–1846) neben Veröffentlichungen über Ausgrabungsfunde in Herkulaneum und Pompeji die prächtigen Tafelwerke über antike Vasenmalerei zur Verfügung standen.4 Ferner darf nicht vergessen werden, dass Stuttgart damals das Zentrum des Schwäbischen Klassizismus war. Antike Formen – Hamiltons Vasenpublikationen Duttenhofers Scherenschnittwerk umfasst eine Vielzahl von Vasendarstellungen, die zum Teil mit rotem Papier unterlegt sind, in Anlehnung an das rot-schwarz der antiken Vasenmalerei. (Abb. 1) An den Vasenschnitten wird deutlich, dass Duttenhofer nicht nur die Vasenform wichtig ist, sondern dass Form und Bild gleichermaßen betont werden. Die Bilder zeigen durchweg Szenen der mythologischen Dichtung. Für die Vasen-
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Die Sammlung in der Bildabteilung des Schiller-Nationalmuseums/Deutschen Literaturarchivs (SNM/DLA) ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bislang noch nicht wissenschaftlich dokumentiert und bearbeitet. Steiner, Ulrike, Die Anfänge der Archäologie in Folio und Oktav. Fremdsprachige Antikenpublikationen und Reiseberichte in deutschen Ausgaben, Ruhpolding 2005 (Stendaler Winckelmann-Forschungen, 5).
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bilder sind keine Vorlagen zu finden; weder in der Vasensammlung des befreundeten Dichters Matthisson noch in den wichtigsten Tafelwerken jener Zeit.5 Duttenhofer scheint die Vasen frei erfunden zu haben.
Abb. 1: Schwarzfigurige Hydria mit der Darstellung des Saturn, B Dep 12/11, 9,9 x 11,7 cm
Neben den Vasenschnitten gibt es Scherenbilder, deren Formensprache an die kolorierten Abrollungen der Vasenbilder der ersten Publikation von Sir William Hamilton erinnern. (Abb. 2)
Abb. 2: Abgerolltes Vasenbild (?), Inv. Nr. SNM/DLA 5674, 10,7 x 18,0 cm
Der in Neapel lebende britische Gesandte Hamilton hatte mit der vierbändigen, großformatigen Veröffentlichung seiner ersten Vasensammlung (1767–1780) europaweit für großes Aufsehen gesorgt, weil nicht mehr das Gefäß an sich von Interesse war, sondern weil er die Vasenbilder in den Mittelpunkt des Interesses rückte. In über vierhundert kolorierten Tafelbildern wurden die Vasenbilder abgerollt gezeigt. Genau das unterschied diese Vasenpublikation von den zahlreichen anderen Werken. Dieser in geringer Auflage erschienene Prachtband wurde in den bürgerlichen Salons ein „Renner“ unter den zahlreichen Werken. Kursierte er auch im
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Heute im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart.
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Antikes Wissen. Scherenschnitte von Luise Duttenhofer (1776–1829)
Hartmann-Reinbeck’schen Haus, dem damals intellektuellen Mittelpunkt Stuttgarts, in dem Duttenhofer regelmäßig die Lesekränzchen besuchte? Der Bildvergleich mag hinken; statt eines abstrakten Ornaments ist im Scherenbild ein florales zu sehen, es gibt keinen Rahmen, sondern lediglich zwei Ornamentbänder – es ist kein direkter Bezug erkennbar, und trotzdem ist eine Nähe der Formensprache wahrnehmbar. (Abb. 3a) Die These ließe sich durch ein weiteres abgerolltes Vasenbild stützen, das immerhin zusätzlich zum abstrakten auch ein florales Ornamentband zeigt. (Abb. 3b) Das Blattwerk kehrt in abgewandelter Form im Scherenbild wieder.
Abb. 3a: D’Hancarville, Antiquités. 2, Tafel 56; Abb. 3b: ebd., Bd. 1, Tafel 25
Eindeutiger ist die Gegenüberstellung zweier Porträtsilhouetten. (Abb. 4 u. Abb. 5) Die Silhouette zeigt einen unbekannten Mann, gerahmt von einem Lorbeerblätterkranz. Im Vergleich dazu aus Hamiltons Publikation ein Profilbildnis eines Mannes, ebenfalls u. a. umrankt von einem Lorbeerblätterkranz.
Abb. 4: Porträtsilhouette eines unbekannten Mannes, Inv. Nr. SNM/DLA 5477, 5,6 x 5,1 cm; Abb. 5: D’Hancarville, Antiquités, Bd. 2, Tafel 3
In einem weiteren Scherenschnitt (Abb. 6) hat Duttenhofer Dannecker, Jean Paul und Matthisson in Halbfiguren porträtiert; drei Männer, die sie persönlich kannte und deren Werke sie bewunderte. Ungewöhnlich ist die
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Darstellung der Porträtierten im Blattkelch. Links ist ihr künstlerischer Förderer Dannecker im Veilchen zu sehen, in der Mitte der von ihr geschätzte Schriftsteller Jean Paul im Maiglöckchen und rechts der von ihr verehrte Dichter Matthisson im Schneeglöckchen. Aufschlussreich ist eine Gegenüberstellung von Scherenbild und Vasenbild. (Abb. 7) Eine Porträtbüste im Blumenornament, oder genauer: im Blattkelch. Die Blattkelchbüste als Bildnisform ist in der antik-römischen Kunst nicht unbekannt, sie taucht bis zur heidnischen Antike vor allem an Gräbern auf. Duttenhofer könnte die Blattkelchbüste als Bildnisform demzufolge auch aus anderen Veröffentlichungen antiker Kunst entlehnt haben oder sie sogar während ihres Romaufenthaltes (1804–06) an antiken Gräbern gesehen haben. Das Entscheidende bleibt aber, dass die Scherenschneiderin eine Porträtform aus der Antike rezipiert.
Abb. 6: Dannecker, Jean Paul und Matthisson als Blattkelchbüsten, Inv. Nr. SNM/DLA 5680, 8,9 x 17,5 cm // Abb. 7: D’Hancarville, Antiquités, Bd. 1, Tafel 56
Diese antike Bildnisform, dieses antike Wissen, setzt Duttenhofer visuell neu um. Neu ist die Darstellung erstens in Verbindung mit lebenden Personen – in der Antike galt diese Bildnisform ausschließlich den Verstorbenen – sowie zweitens als Halbfigur und nicht als Büste. Die Scherenschneiderin findet offenbar eine motivische Anregung, die sie in ihre eigene Bildsprache übersetzt. Überlieferte und eigene Bildsprache fließen in diesem Scherenbild zusammen. Darüber hinaus gibt es im Bild eine weitere Ebene: Duttenhofer überträgt die antike Bildnisform in ihren persönlichen Kontext, indem sie ihr nahestehende Personen porträtiert. Die prächtigen Tafelbilder waren keine konkrete Vorlage, sondern vielmehr eine motivische Quelle, aus der sie geschöpft hat. Antiker Stil? – Beginn eines neuen Sehprozesses Das Augenmerk soll nochmals auf die Blattkelchbüsten gelenkt werden, um die Scherenarbeit unter dem stilistischen Gesichtspunkt zu betrachten. (Abb. 6) Duttenhofer hat mit der Schere den Umriss präzis aus dem Pa-
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Antikes Wissen. Scherenschnitte von Luise Duttenhofer (1776–1829)
pier geschnitten, die Linie ist exakt geführt, ohne Andeutung von Schatten oder Räumlichkeit. Eigentlich das charakteristische Merkmal antiker Vasenmalerei. Lässt sich dies auf Tischbeins Umrissstiche aus Hamiltons zweiter Vasenpublikation (1791–1803) zurückführen, mit der er die Kunst und Kunsttheorie um 1800 wesentlich beeinflusste (Abb. 8)?
Abb. 8: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Collection of engravings from ancient vases..., Bd. 1, Tfl. 4
Tischbeins Umrisszeichnungen liefern in jener Zeit einen völlig neuen Seheindruck. Sie zeigen nichts mehr, was an die Herkunft der Darstellungen auf Vasen erinnert, sondern konzentrieren sich auf das Wesentliche antiker Vasenmalereien. Die Umrisse werden als eigenständige Bilder betrachtet. Sie begründen eine neue Ästhetik der Linie.6 Dies bleibt nicht ohne Einfluss auf die zeitgenössische bildende Kunst. Erinnert sei an Flaxmanns Umrisszeichnungen zu Homer, Aischylos und Dante – Illustrationszyklen, die Flaxmann nach seiner Bekanntschaft mit Tischbein 1791 und dessen Umrissstichen anfertigte. Der Scherenschnitt scheint beispielhaft für die beginnende neue Wahrnehmung der Umrisslinie zu stehen. Die Umrisslinie ist präzis und exakt. Der entscheidende Unterschied besteht allerdings darin, dass die Linie keine weiße Leere umschließt, sondern eine Binnenform begrenzt, die schwarz ausgefüllt ist. Demzufolge ist Scherenschnitt und Umrisszeichnung nur die Kontur gemeinsam. Der Scherenschnitt ist nicht linear, sondern flächig. Linear ist lediglich der Prozess des Schneidens. Der Umriss der Papierarbeit wird durch den Kontrast von schwarzem Scherenbild und hellem Trägerpapier besonders betont. Es entsteht eine Negativform, die wiederum an den Schatten erinnert. Im Schattenbild und in der Silhouette geht es um den Schatten der Dinge. Bezeichnenderweise bekommt zeitgleich mit der neuen Bedeutung der Umrisslinie die Farbe Schwarz als Farbe des Schlagschattens ein neues Ansehen. Insofern steht der Scheren-
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Schmidt, Stefan, „Der aktive Betrachter und die Wahrheit der Linie. Die Ästhetik der Umrißzeichnung am Ende des 18. Jahrhunderts“, in: Hans-Ulrich Cain u. a., Faszination der Linie, Leipzig 2004, S. 22-26.
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schnitt beispielhaft für die im ausgehenden 18. Jahrhundert neue Ästhetik der Kontur als auch für die neue Ästhetik der Farben Schwarz und Weiß. Die Farbe Schwarz und die Farbe Weiß Die neue Bedeutung der Farbe Schwarz basiert auf der Mitte des 18. Jahrhunderts wiederentdeckten Erzählung des Dibutades über den Ursprung der Malerei im menschlichen Schatten, die der ältere Plinius in seiner Naturalis historia (1. Jh. n. Chr.) überliefert hat: Korinthia, die Tochter des Töpfers Dibutades, habe den Umriss ihres Geliebten an einer Mauer festgehalten, als dieser fortgehen musste. In dieser von Korinthia gezeichneten Silhouette sieht Plinius den Ursprung der Malerei. Das wachsende Interesse an der Antike ist vermutlich auch ein Grund für die Aktualität der Fabel Ende des 18. Jahrhunderts. Sie wird zu einem Lieblingsthema der Malerei und die Silhouette gewissermaßen zur „Erbin der plinianischen Fabel“.7 Die Nähe von plinianischer Fabel und Silhouette wird ebenso in der Darstellung des Silhouettierstuhls deutlich, der u. a. in Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775–1778) abgebildet ist. (Abb. 9) Lavater gab der Mode des Silhouettierens einen pseudowissenschaftlichen Rahmen. Stoichita weist darauf hin, dass Lavater im menschlichen Schatten den Spiegel der Seele sah, entgegen der tradierten Vorstellung, dass die Seele der Schatten des Menschen ist. Im Schattenriss offenbarten sich seiner Ansicht nach die Geheimnisse des Menschen in ihrer reinen Form, so dass der wahre Charakter des Menschen in der Kontur seiner Silhouette beurteilt werden könne. Lavater begab sich auf die Suche nach der negativen Seite des Menschen und machte infolgedessen den „Silhouettierstuhl zum Beichtstuhl“.8
Abb. 9: Thomas Holloway u. a., Maschine zum Zeichnen von Silhouetten, Kupferstich für Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Winterthur 1775–1778.
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Stoichita, Victor Ieronim, Eine kurze Geschichte des Schattens, München 1999, S. 154. Ebd., S. 161.
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Antikes Wissen. Scherenschnitte von Luise Duttenhofer (1776–1829)
Antikes Wissen sowie antike Dichtung sind eng mit der Popularität des Schattenreißens verwoben. Der Bezug der Scherenschnittkunst auf die antike Vasenmalerei ist zwar eindeutig, allerdings muss dabei immer bedacht werden, dass die antike Vasenmalerei nicht aus einer „Schattenidee“ hervorgegangen ist. Interessant ist, dass wiederum Scherenschnitte zum Teil als Vorlage für die Bemalung von Porzellanvasen im 19. Jahrhundert dienten.9 Und es gibt weitere Verbindungen und Überschneidungen zwischen den seit 1760 zunehmend populären Scherenschnitten und den für die Zeit um 1800 so bezeichnenden „Schattenphänomenen“, auf die an dieser Stelle wenigstens stichwortartig hingewiesen sein soll. Zum Beispiel werden in der Keramik, nicht nur antike Motive aufgegriffen, sondern es wird sogar die Farbe Schwarz eingesetzt. 1768 gelingt es dem britischen Töpfer Wedgwood schwarz durchgefärbtes Steinzeug herzustellen, das als „Black Basalt Ware“ europaweit für Aufsehen sorgt. Demgegenüber wird die Farbe Weiß als Farbe der Gipsabgüsse von den „farblosen“ Antiken in den Sammlungen die ultimative Farbe. Weiß verkörpert hier wiederum die Idee von Schönheit und Wahrheit antiker Skulpturen. Dann sei daran erinnert, dass Goethes Farbenlehre auf der Polarität von Licht und Finsternis, also letztlich von Weiß und Schwarz, in der Farbenlehre sind es Gelb und Blau, basiert. Dass der beginnende neue Sehprozess nicht nur Malerei, Skulptur und Architektur erfasst, sondern auch andere Bereiche durchdringt, wird an Duttenhofers Scherenschnitten deutlich. Der Scherenschnitt entwickelt sich zu einer bürgerlichen Kunstform, die auch in der zeitgenössischen Literatur aufgegriffen wird.10 Antike Dichtung – Das mythologische Wissen Die Veröffentlichungen der antiken mythologischen Dichtung erleben um 1800 im Zuge der Wiederentdeckung der Antike ebenfalls einen „Boom“. Duttenhofers Œuvre umfasst zahlreiche mythologische Darstellungen, die sich nicht immer auf den ersten Blick dem Betrachter erschließen. Zunächst scheint die Darstellung des Amor und Psyche-Mythos in einer Blumenranke eindeutig zu sein. (Abb. 10) Duttenhofer wählt ein entscheidendes Moment der mythologischen Erzählung: das Moment des Erkennens. Psyche erkennt im Licht der Öllampe den schlafenden Amor. Doch stellen wir uns so die wunderschöne, liebreizende Psyche vor? Mit
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Es gibt Vasen aus der Porzellanmanufaktur Ludwigsburg, deren Bemalung auf Scherenschnitte von Duttenhofer zurückgeht. Etwa Jean Pauls Siebenkäs (1796/97) und Achim von Arnims Jemand und Niemand (1813). Im Zusammenhang mit dem Schattenriss steht auch der Aspekt des Doppelgängermotivs in der deutschen Literatur der Romantik.
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kräftigen Armen und kräftigen Beinen? Ich denke, nein. Daraus lässt sich folgern, dass die Scherenschneiderin in dieser Szene eine Person – oder gar beide Personen –, die zu ihrem Bekannten-, wenn nicht gar Freundeskreis gehörten, porträtiert hat. Wer dies ist, ist nicht bekannt.
Abb. 10: Amor und Psyche in einer Blumenranke, Inv. Nr. SNM/DLA 5653, 12,6 x 18,7 cm
Die Papierarbeit ist ein Beispiel für die inhaltliche Umsetzung eines antiken Mythos, der auf den ersten Blick verständlich zu sein scheint. Bei genauerem Betrachten jedoch wird die individuelle Ebene von Duttenhofer erkennbar. Der Künstlerin dient das antike mythologische Wissen offenbar als Zeichen, um einer Szene des bürgerlichen Alltags Bedeutung zu verleihen. Es drängt sich die Frage nach der Ironie auf. Inwieweit karikiert Duttenhofer hier eine gedrungene, neugierige Person als die eigentlich liebreizende Psyche? Zusammenfassung Dass Duttenhofer die damals beliebtesten Veröffentlichungen zur Antike und zur mythologischen Dichtung kannte, ist für eine Künstlerin jener Zeit nicht verwunderlich, da antikes Wissen populär war und zum allgemeinen Bildungsgut gehörte. Duttenhofer bezieht sich nie auf konkrete Vorlagen, dennoch dienen ihr die Publikationen als Motivquelle. Dieses Bildwissen überträgt sie in den individuellen Kontext und vereint es virtuos in einem komplexen Bildgefüge. Die Scherenschneiderin muss ein enormes Bildgedächtnis gehabt haben. Zudem beherrschte sie eine Technik, die allgemein nicht als hohe Kunst, sondern nur als netter Zeitvertreib angesehen wurde. Hatte sie dadurch einen Raum, in dem sie frei mit der Antike umgehen konnte? Offensichtlich scheint der Antikenbegriff der Scherenschneiderin auch die Ironie einzuschließen, wie am Beispiel von Amor und Psyche gesehen. (Abb. 10) Will sie sich vom allgemeinen Antikenwahn abheben? Ironisiert sie möglicherweise sogar den Antikendiskurs ihrer Zeit? Vielleicht kam ihr letztlich doch die fehlende akademische Ausbildung zugute. Sie war nicht
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Antikes Wissen. Scherenschnitte von Luise Duttenhofer (1776–1829)
gezwungen, nach den Antiken zu zeichnen, wie ihre Künstlerkollegen, die eine akademische Ausbildung hatten. Duttenhofer war Dilettantin – im Sinne des 18. Jahrhunderts. Ein kürzlich dem Deutschen Literaturarchiv aus Familienbesitz geschenktes Scherenbild verdeutlicht ihren Ideenreichtum und ihr künstlerisches Können. (Abb. 11) In der aus Einzelschnitten zusammengefügten Komposition fließen überlieferte und eigene Bildsprache zusammen. Zwar weist nur noch der Palmettenfries auf eine antike Formensprache, dennoch zeigt das Bild, dass die Scherenschneiderin aus einem reichen Themen- und Motivvorrat schöpft, den sie in Einzelschnitten improvisiert. Sie bedient sich unterschiedlichster Sprachmittel – Genreszenen, Chinoiserien, Botanik, Antike –, die sie virtuos zu einem harmonischen Ganzen vereint.
Abb. 11: Porträt Auguste, Marie Luise & Eduard Scheffer, Inv. Nr. B 2006.0025, 25,5 x 25,5 cm
Und die Scherenschneiderin geht noch einen Schritt weiter: sie versucht, die Grenzen des Scherenschnitts zu überschreiten. Die Zweidimensionalität, das Lineare, sowie das antikische Schwarz-Weiß des Schattenrisses scheinen durch den perspektivisch angedeuteten Boden und das farbige Trägerpapier des eckigen Rahmens überwunden. Duttenhofer spielt mit den Elementen, die sie aus ihrem einzigartigen Formenvorrat schöpft. Sie hat in ihren Scherenbildern eine Virtuosität erreicht, die ihresgleichen sucht und das, obwohl ihr ein Malereistudium verwehrt blieb und sie als dilettantische Künstlerin allerlei Sticheleien seitens des Stuttgarter Bürgertums zu ertragen hatte, wie sie in einem Brief an eine Freundin berichtet: […] Ich passire, bey aller Unwissenheit und Nichtskennerey doch für eine gelehrte Frau, […] und wo kein Grund ist, da wird das alles zum Spott bey unserm Geschlecht, die Weiber hassen und die Männer – wenns gnädig geht – verachten und verhöhnen uns. Darum bey allem was uns tief inen bewegt, beym Größten, Schönsten, Herrlichsten, ob Talent, Liebe, Freundschaft, Nur – Still daß die Leute (Menschen?) es nicht hören wie alles dieß uns hochbeglükt! […]11
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Brief an Friederike und Karl Mayer, 06.01.1828, SNM/DLA 32.514.
Erziehung des Auges – Erziehung des Körpers. Die geschwungene Linie als visuelle Ausdrucksform sozialer Normierung Julia Gelshorn 2004 veröffentlichte der britische Schriftsteller Alan Hollinghurst mit dem Roman The Line of Beauty ein schonungsloses Porträt der Londoner Gesellschaft zur Zeit Margaret Thatchers.1 Anhand der Schilderung des Lebens von Nick Guest, einem Oxford-Absolventen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, erhält der Leser Einblick in zwei gegensätzliche Welten: jene der konservativen Oberklasse im Hause der Familie Fedden, bei der Nick zu Gast ist, und jene der Londoner Homosexuellen-Szene, in der er heimlich verkehrt. Während die gesellschaftlichen Anlässe im Hause des Politikers Fedden für den aufstrebenden Nick der Inbegriff von Kultiviertheit, Ästhetik und Erlesenheit sind, sucht er als Homosexueller nach Ausschweifung und Dekadenz. Den Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Integration erreicht Nick, als er Margaret Thatcher auf einer Party seiner Gönner zum Tanz auffordern kann; doch am Ende wird er aus der feinen Gesellschaft wieder verstoßen, als seine Homosexualität an die Öffentlichkeit und die politischen Parteifreunde Feddens gelangt. Die soziale Ambition des Protagonisten findet ihre visuelle Abstraktion in der im Titel des Romans zitierten Line of Beauty, die der englische Künstler William Hogarth im 18. Jahrhundert zum Paradigma einer Schönheitsnorm erhoben hatte und auf die der Roman in ironisch verzerrter Form wiederholt anspielt. Hollinghurst greift die Kunst Hogarths einerseits im Genre, dem Gesellschaftsroman als Sittengemälde, auf, liefert aber zugleich auch eine bemerkenswerte Aktualisierung von Hogarths Theorie und ihrer Rezeption: die Schönheitslinie bildet hier einerseits die visuelle Verkörperung ästhetischer, sozialer und moralischer Ansprüche, übermittelt jedoch andererseits auch den Verdacht der Stilisierung und Künstlichkeit, die der Verstellung gleichkommen. 1753 hatte Hogarth sein bekanntes Formtraktat Analysis of Beauty. Written with a View of Fixing the Fluctuating Ideals of Taste veröffentlicht und dabei _____________ 1
Hollinghurst, Alan, The Line of Beauty, London 2004 (dt. Die Schönheitslinie, München 2005).
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Erziehung des Auges – Erziehung des Körpers
versucht, das visuelle Schöne objektiv zu analysieren.2 Die Form der zweifach geschwungenen line of beauty and grace wurde jedoch als Schönheitsideal nicht theoretisch abstrakt gewonnen, sondern aus Formen des menschlichen Körpers, aus Alltagsgegenständen sowie aus den Bewegungs- und Verhaltensformen unterschiedlicher Gesellschaftsklassen abgeleitet. Hogarths Analyse, die neben der Schlangenlinie auch weitere Prinzipien des Schönen für die Kunst erörtert, ist bereits ausführlich diskutiert und in ihrem kunsttheoretischen und ästhetischen Kontext verortet worden.3 Es soll daher an dieser Stelle vor allem darum gehen, anhand der Visualisierungen von Hogarths Theorie nachzuvollziehen, wie die Erkenntnis einer objektiven Schönheitsform durch ihre Auffindung in verschiedenen Lebens- und Kulturbereichen bzw. durch eine Rückbindung an dieselben hervorgebracht wird. Dabei soll gezeigt werden, dass der ‚Erziehung des Auges‘ bei Hogarth und einigen Zeitgenossen nicht nur ein „physiognomischer Blick“ zugrunde liegt4, sondern auch ein quasi soziologischer. Mein Beitrag versucht folglich, Hogarths Ansatz einerseits selbst als Symptom einer Wissensproduktion seiner Zeit und andererseits als aktiven Impuls für derartige Verfahren zu begreifen.5 Die erste der zwei Schautafeln des Traktats präsentiert antike Statuen und damit ein gängiges Ideal der Verkörperung von Grazie und Schönheit. In der Rahmenleiste führt die Tafel in Entwicklungsreihen unterschiedlich stark geschwungener abstrakter Linien und gegenständlicher Motive die ideale Krümmung von Faltenwürfen, Pflanzen, Kerzenleuchtern, Stuhlbeinen, Korsetts und anderen Formen vor. Für unseren Zusammenhang interessanter ist jedoch die Tafel 2, in der Hogarth den „ornamental way of moving“ in Positiv- und Negativbeispielen verschiedener Tanzpaare visualisiert (Abb. 1). Was die zentrale Abbildung anhand der menschlichen Bewegung in der Aufreihung von Tanzenden demonstriert, wird in den begleitenden Schematisierungen in _____________ 2 3
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Hogarth, William, Analyse der Schönheit, Dresden, Basel 1995 (Fundus, 132), Originalausgabe: The Analysis of Beauty, written with a View of fixing the fluctuating Ideas of Taste, London 1753. Siehe dazu v. a.: Burke, Joseph, „Introduction“, in: William Hogarth, The Analysis of Beauty. With the Rejected Passages from the Manuscript Drafts and Autobiographical Notes, Oxford 1955, S. XIII-LXII; Paulson, Ronald, Hogarth: His Life, Art, and Times, 2 Bde., New Haven, London 1971, bes. Bd. 2, S. 153-187; Dobai, Johannes, Die Kunstliteratur des Klassizimus und der Romantik in England, Bern 1975, Bd. 2, bes. S. 639-655; zur Linie: Gerlach, Peter, „Zur zeichnerischen Simulation von Natur und natürlicher Lebendigkeit“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 34/1989, Nr. 2, S. 243-279; Consonni, Stefania, Linee, intrichi, intrighi. Sull’estetica di William Hogarth, Genua 2003 (Laputa. Collana di studi culturali, Bd. 1). Neumann, Gerhard, „‚Rede, damit ich dich sehe‘. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick“, in: Ulrich Fülleborn/Manfred Engel (Hrsg.), Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts, München 1988, S. 71-107. Der vorliegende Aufsatz enthält erste Überlegungen zu einer umfassenden Forschungsarbeit zum Thema „Erziehung des Körpers – Erziehung des Blicks. Grazie als soziale Norm“.
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der Rahmenleiste in einfache Liniengebilde übertragen, die einerseits die Hauptachse der Bewegungen der einzelnen Tänzer illustrieren (Nr. 71) und andererseits in den Nrn. 123 und 122, die Bewegungen der Paare auf dem Boden beim Kontertanz bzw. beim Menuett nachzeichnen.
Abb. 1 William Hogarth, The Analysis of Beauty, Plate II, 1753, Kupferstich und Radierung, 42,7 x 53,2 cm.
In der Beschreibung der jeweiligen Linienformen im Text spricht Hogarth zunächst nur etwa von „der alten Frau“ und ihrem Tänzer oder von dem „fetten“ und „tölpelhaften“ Mann und erwähnt mit keinem Wort, was der Stich offensichtlich macht: es sind die Verhaltensformen des Hochadels, die als die einzig graziösen gewertet werden, während alle niederen Stände in ihren Bewegungen „lächerlich“ erscheinen sollen. Die abstrakte Form der Schönheitslinie wird dabei auf eine Körperbewegung zurückgeführt, die „wie eine Sprache“ Regeln habe, und die, wie Hogarth betont, durch „bloße Übung oder Nachahmung“ lernbar sei. Erst hier fügt er an: Und im Gegensatz zu den meisten anderen Kopien und Nachahmungen übertreffen Personen von hohem Stand und Reichtum für gewöhnlich ihre Vorbilder, die Tanzmeister, im ungezwungenen Benehmen und in natürlicher Grazie, weil ein Bewusstsein der Überlegenheit ihr Auftreten sicher macht.6
Hier geht es also um die Auffindung einer Form in der Beobachtung von Sozialverhalten einerseits und um die Produktion dieser Form durch Übung und Erziehung andererseits, die so weit geht, dass Hogarth etwa vorschlägt, den widerspenstigen Körper eines Kindes zu disziplinieren, _____________ 6
Hogarth, Analyse der Schönheit, S. 186f., 190. Vgl. dazu auch Busch, Werner, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, bes. S. 322.
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indem der Zopf der Mädchen auf dem Rücken festgebunden werden solle, um den Kopf zur aufrechten Haltung zu erziehen (Nr. 121).7 Die Nähe zu Anstands- und Erziehungsschriften der Zeit liegt nicht nur in diesem Detail auf der Hand. Da es sich aber bei der Analysis um eine Anleitung für Künstler handelt, geht es noch um eine weitere Art der ‚Produktion‘ von Grazie. So beschreibt Hogarth anhand des unter Nr. 119 und 120 dargestellten Kapitells: Wenn man jemanden die Linie der Figur 119 auf einer ebenen Fläche ziehen lässt, er mag beginnen, wo er will, so wird er seine Hand und seinen Arm auf eine schöne Weise bewegen. Zieht er aber die gleiche Linie ein oder zwei Fuß breit in der Höhlung einer Kehlleiste, wie die gepunktete Linie von Figur 120 zeigt, so wird seine Hand eine noch schönere Bewegung beschreiben, die von der ersteren durch den Namen der Grazie unterschieden ist. Und entsprechend der Stärke, die man diesen Linien gibt, kommt Großartigkeit zur Grazie hinzu, und die Bewegung wird mehr oder weniger edel.8
Die angenehme Wirkung dieser Art, die Hand zu bewegen, beschreibt Hogarth im Folgenden auch anhand der Geste, mit der einer Dame eine Schnupftabakdose oder ein Fächer übergeben werde.9 Die künstlerische Produktion der Linienführung geschieht hier also aus einem sinnlichen und taktilen Nachvollziehen der graziösen Volumen und Bewegungen, die gezeichnet werden. Sie wird aber zugleich auch mit kultivierten sozialen Gesten der „Noblen“ enggeführt. Michael Podro hat diese Engführung insofern gedeutet, als er die moralischen Implikationen von Hogarths Traktat weniger in einer moralischen Botschaft findet, als in der durch den Künstler ausgeführten graziösen und damit moralischen Handlung. Die gezeichnete Linie sei selbst geprägt durch das Objekt, das sie forme und durch das sie wiederum die Welt gestalte. Das Zeichnen der Linie werde folglich bei Hogarth selbst zu einer „social performance“.10 Diese Einheit von Produktion und Rezeption der Schönheitslinie als einer „social performance“ wird auch deutlich in Hogarths abschließender Empfehlung, man solle seine Erkenntnisse über die Linien der Bewegung auch in der Schauspielkunst anwenden, um allein durch die Bewegungen in den beschriebenen Linienformen einen Bauerntölpel oder einen vor_____________ 7 8 9
10
Hogarth, Analyse der Schönheit, S. 196. Ebd., S. 194. Ebd., S. 195. Wolfgang Kemp hat jedoch mit Recht darauf hingewiesen, dass Hogarths Formalisierung der Bewegung keine nützlichen Bewegungen betreffen, die den Notwendigkeiten des Lebens dienen; Kemp, Wolfgang, „Die Beredsamkeit des Leibes. Körpersprache als künstlerisches und gesellschaftliches Problem der bürgerlichen Emanzipation“, in: Städel-Jahrbuch, 5/1975, N.F., S. 111-134, bes. S. 120f. Podro, Michael, „The drawn line from Hogarth to Schiller“, in: Zentralinstitut für Kunstgeschichte München (Hrsg.), „Sind Briten hier?“ Relations between British and Continental Art, München 1981, S. 45-56, hier S. 49.
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nehmen Gentleman darstellen zu können.11 Dass diese Empfehlungen, einschließlich ihrer sozialen Implikationen, durchaus von der Schauspieltheorie rezipiert wurden, zeigt etwa Gotthold Ephraim Lessings Fragment Der Schauspieler, in dem er nicht nur verschiedene Haltungen und Gangarten von „Stolzen“, „Ruhmredigen“ und „Bauern“ in unterschiedlich gekippten Linien unterscheidet, sondern in dem er in einem Abschnitt über die „Chironomie“, also die Sprache der Hände, identisch mit Hogarth, angenehme Linien von schöner Krümmung von unangenehmen scheidet, die aus Linien von schlechter oder gar keiner Krümmung bestehen. So empfiehlt Lessing Handbewegungen aus geraden Linien z. B. für das Bäurische und zugleich für heftige Leidenschaften zu verwenden. Für Bedienstete stellt er hingegen fest, es gehörten sich malende Bewegungen in schlechten Linien.12 Diese sozialständische Unterscheidung von Rollenmustern in der Schauspielkunst tritt auch bei Georg Christoph Lichtenberg auf, wobei er in seinem Vorschlag zu einem Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanen-Dichter und Schauspieler weniger auf die Linienführung der Bewegungen eingeht, als auf physiognomische Fragen und Handlungsmuster des spezifischen Standes der „Bediensteten“, deren genaue Beobachtung er besonders empfiehlt, um sich an ihnen zu schulen.13 Dass er seine schriftlichen Ausführungen von Daniel Chodowiecki durch eine Reihung unterschiedlicher Abstufungen von Bedienstetenständen illustrieren ließ, macht jedoch deutlich, dass es ihm durchaus um visuelle Erziehung ging, wobei Lichtenbergs Physiognomielehre, die bei ihm explizit als Pathognomie den gesamten Körper betraf, nicht nur charakterliche oder nationale Zuordnungen machte wie etwa diejenige Lavaters, sondern auch den Ausdruck von Standeszugehörigkeit untersuchte. Entsprechend interessierten ihn keineswegs nur die Linien des Gesichts, sondern er beschrieb in Über Physiognomik die Gesamtheit von Körper, Kleidung, Benehmen oder der Form eines Hutes als „Sprache für die Augen“.14 Barbara Stafford hat diese Faszination Lichtenbergs für den bekleideten Körper und seine Bewegung noch mit Bezug auf das Rokoko und dessen Ausrichtung _____________ 11 12
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Hogarth, Analyse der Schönheit, S. 204f. Lessing, Gotthold Ephraim, „Der Schauspieler, worinn die Grundsätze der ganzen körperlichen Beredsamkeit entwickelt werden“, in: Gotthold Ephraim Lessings Theatralischer Nachlass, 2 Bde., Berlin 1786, Bd. 2, S. 207-222, bes. S. 214, 217f.; vgl. dazu auch Rehm, Ulrich, Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung, München, Berlin 2002, S. 148f. Lichtenberg, Georg Christoph, „Vorschlag zu einem Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanen-Dichter und Schauspieler. Nebst einigen Beiträgen dazu, von G.C.L.“, in: ders., Schriften und Briefe, Wolfgang Promies (Hrsg.), München 1972, Bd. 3, S. 377-405, hier S 383. Lichtenberg, Georg Christoph, Über Physiognomik, wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, Steinbach 1970, S. 58-63.
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auf arabeske Gesten und balletthafte Attitüden gedeutet.15 Auch Erika Fischer-Lichte konnte zeigen, dass sich bei aller aufklärerischen Wahrheitsliebe sämtliche Schauspieltheoretiker von Lichtenberg über Lessing bis Johann Jacob Engel einig waren, dass die Gesten des Schauspielers nicht als sklavische Kopien der Gesten, wie sie in der Wirklichkeit zu beobachten sind, hervorgebracht werden könnten, sondern dass sie ästhetischen Gesetzen und aus ihnen abgeleiteten Regeln zu folgen hätten, damit ‚unsere Augen‘ nicht ‚beleidigt‘ würden. Der formale Maßstab war dabei weiterhin die Hogarthsche line of grace and beauty, deren Einhaltung Lichtenberg entsprechend lobend beim Spiel des Schauspielers Garrick hervorhob.16 Engel nahm jedoch 1785/86 in seinen Ideen zu einer Mimik explizit Abstand von „Hogarths Zergliederung“, da er sich zugunsten des Ausdrucks von Natürlichkeit und Wahrheit gegen eine Anleitung zur graziösen Bewegung in der Mimik wandte.17 Dennoch beschrieb auch er die unterschiedlich abgestuften Gesten des Ausdrucks von Affekten und Charakteren wiederholt anhand unterschiedlicher Linienformen, und in den Illustrationen Johann Wilhelm Meils wird vor allem die soziale Prägung der jeweiligen Gesten deutlich: Wenn es etwa um die Verbildlichung unterschiedlicher Grade von Stolz, Trägheit oder auch „Wohllust“ und „Durst“ geht, werden Bewegungen wie ein schlaffer Körper, ein hängender Kopf, ein plumpes Vorbeugen oder eine grobe Handhaltung stets durch die niederen Stände illustriert. Sanfte oder angenehme Regungen werden hingegen am höheren Bürgertum oder dem Adel und seinen vornehmen Bewegungen gezeigt. So gesteht denn auch Engel im 11. Brief selbst ein: Es ist schon wahr, was Sie sagen: dass ich in einigen meiner Zeichnungen der versprochenen Allgemeinheit vergessen, und zu sehr auf einzelne Nationen und Stände gesehen. Die in den Busen gestekten Hände setzen freylich schon eine gewisse Art Kleidung, und die auswärts gekehrten Füße sogar den Tanzmeister voraus. Aber ich wollte doch Ihrer Einbildungskraft gerne Bilder geben: und Bilder, wissen Sie wohl, lassen sich, ohne partikuläre Züge, weder mit Linien für das Auge, noch mit Worten für die Einbildungskraft zeichnen.18
Es zeigt sich, dass Engels anthropologisches Ausdruckskonzept zwar auf eine differenzierte moderne Gesellschaft ausgerichtet ist und sich von _____________ 15 16
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Stafford, Barbara Maria, Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Cambridge/Mass., London 1991, S. 127. Fischer-Lichte, Erika, „Entwicklung einer neuen Schauspielkunst“, in: Wolfgang F. Bender (Hrsg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, Stuttgart 1992, S. 5170, bes. S. 58; Lichtenberg, Georg Christoph, „Briefe aus England“, in: Schriften und Briefe, Bd. 3, S. 326-367, hier S. 352. Engel, Johann Jakob, Ideen zu einer Mimik, mit erläuternden Kupfertafeln, Berlin 1785, ND Hildesheim 1968, bes. S. 72-78. Ebd., S. 120.
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ständisch bestimmten Interaktionsregulativen lösen will, dass seine visuelle Argumentation jedoch gerade diesen noch verhaftet bleibt.19 Dass diese Unterscheidung von Bewegungsmustern unterschiedlicher Stände dann auch vor allem in der Ausbildung einer bürgerlichen Körpersprache in Abgrenzung von einer aristokratischen Rhetorik aktiv genutzt wurde, ist auch kunsthistorisch bereits unter anderem von Ilsebill Barta, Werner Busch, Wolfgang Kemp oder Ulrich Rehm untersucht worden.20 Busch hat darauf hingewiesen, dass es dabei jedoch nicht um eine Abgrenzung vom Konzept der Grazie an sich ging, sondern dass hier vielmehr eine spezifisch bürgerliche Ästhetik der Grazie entwickelt wurde. So hat Busch die Gegenüberstellungen von Positiv- und Negativbeispielen in Daniel Chodowieckis Natürlichen und affektierten Handlungen des Lebens (1778/79) nicht nur auf Hogarth bezogen, sondern auch ihre Anlehnung an Zeremonialwerke wie etwa dasjenige von Julius Bernhard von Rohr aufgezeigt. Damit konnte er deutlich machen, dass es auch hier um eine ethische Normierung und eine spezifisch bürgerliche Schönheit der Körperformen und der Mode ging. Dass die zeitgenössische Mode durchaus von der line of grace and beauty abwich, hatte schon Hogarth selbst in einem seiner Modern moral subjects demonstriert, die deutlich werden lassen, dass die Oberschicht für ihn keineswegs grundsätzlich normbestimmend war, da er sie im Verfall von Geschmack und Moral begriffen sah. Das Gemälde Taste in High Life von 1742 karikiert die von der englischen Oberschicht imitierte französische Mode mit all ihren Extravaganzen. Dass es in den grotesken Bewegungen und Ausstaffierungen der Figuren um eine Deformation der Schönheitslinie geht, wird durch das große Gemälde an der Rückwand des dargestellten Raums erläutert. Hier sehen wir die in Hogarths Analysis für ihre Grazie gepriesene Medici-Venus in ein Korsett, einen Reifrock und Stöckelschuhe gezwängt, von hinten, während auf ihrem Sockel The Mode 1742 zu lesen ist. Die „schöne Einfachheit“ der Venus ist nun einer „komischen“ Silhouette aus runden Linien von plumper Erotik gewichen.21 _____________ 19
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Zum Problem der Ablösung von ständischen Regulativen, vgl. Geitner, Ursula, „Die ‚Beredsamkeit des Leibes.‘ Zur Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation im 18. Jahrhundert (Neuerscheinungen und Desiderate)“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 14/1990, 2, S. 181-195 und die dortigen Literaturangaben zum Thema. Kemp, „Die Beredsamkeit des Leibes“; Barta, Ilsebill, „Der disziplinierte Körper. Bürgerliche Körpersprache und ihre geschlechtsspezifische Differenzierung am Ende des 18. Jahrhunderts“, in: dies. u. a. (Hrsg.), Frauen Bilder Männer Mythen. Kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987, S. 84-106; Busch, Das sentimentalische Bild, S. 309-326; Rehm, Stumme Sprache der Bilder, S. 138-189. Hinz, Berthold (Hrsg.), William Hogarth (1697–1764). Ausstellungskatalog. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst in der Staatlichen Kunsthalle Berlin 1980, Berlin 1980, S. 122ff., Nr. 81; zur Beschreibung der Venus siehe Hogarth, Analyse der Schönheit, S. 108, zur komischen Wirkung gerader und runder Linien und der Vermengung von Kleidern unterschiedlicher Zeiten: S. 68.
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Dass eben Hogarths in Mieder und Reifrock gezwängte Venus der französischen Mode in Adolph von Menzels Titelblatt zu Raczynskis Geschichte der neueren deutschen Kunst von 1841 als Inbegriff des Rokoko wiederkehrt, führt zur Frage nach dem Verhältnis von Schönheitslinie und Rokoko-Ornamentik. Wie Busch in seiner Untersuchung zur Arabeske im 19. Jahrhundert gezeigt hat, wird in Menzels Versinnbildlichung der Kunststile das Rokoko in seiner Modedeformation und Naturpervertierung bloßgestellt: Die Krinoline der Venus mit Reifrock wächst als Pilz aus dem Boden, neben ihr rankt aus einer Blume die gezierte Hand eines Malers mit einer Spitzenmanschette empor. Natur wird durch Künstlichkeit verdrängt und von einer arabesken Rocaille eingefasst.22 Was Menzel hier zusammenführt, ist auch bei Hogarth bereits, allerdings im positiven Sinne, als ein medienüberspannendes System gedacht: die abstrakte Schönheitslinie wurzelt nicht nur in der graziösen Körperbewegung und im Sozialverhalten, sondern findet wiederum in der Ornamentik des Rokoko ihren Ausdruck. In Hogarths Tafel 2 werden gar menschliche Knochen als Grundformen des Rokokodekor beschrieben. So zeigt uns Hogarth, „wie zierlich“ erst der Beckenknochen erscheint, indem man ihn, wie in Figur 61, ein wenig wie Laubwerk aussehen lässt: Solche muschelähnlich gewundenen Formen, vermischt mit sich darum rankendem Laubwerk, werden bei allen Ornamenten verwendet, ein Art der Komposition, die nur dazu bestimmt ist, das Auge zu erfreuen. Man nehme ihnen die schlangenförmigen Windungen, und sofort verlieren sie alle Grazie und fallen in den elenden gotischen Geschmack zurück, wie er vor hundert Jahren herrschte.23
Diese bei Hogarth doch eher originelle Ableitung des Rokoko-Ornaments aus der Schönheitslinie in der Knochenform möchte ich insofern ernst nehmen, als zu untersuchen wäre, inwiefern die Linienformen des Rokoko-Ornaments ebenso als soziale Ausdrucksform zu lesen sind wie die line of grace. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Rokoko-Ornamentik nicht über eine theoretische Legitimation, sondern vor allem über die Druckgraphik als visuelle Propaganda Verbreitung fand.24 Ein Beispiel hierfür wäre etwa der Stich Midi von Antoine Aveline nach François-Thomas Mondon aus einer Stichserie unter dem Titel Les Quatre Parties du Jour oder Les Actions de la Vie Civile von 1738, der Genre-Szenen in Kombination mit extravaganten Kartuschen zeigt (Abb. 2). Der Ornamentstil wird hier deutlich mit der sozialen Existenz in Verbindung ge_____________ 22 23 24
Busch, Werner, Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 84 und Abb. 12. Hogarth, Analyse der Schönheit, S. 97. Michel, Marianne Roland, „L’ornement rocaille: quelques questions“, in: Revue de l’Art, 55/1982, S. 66-75; Laing, Alastair, „French ornamental engravings and the diffusion of the Rococo“, in: Henri Zerner (Hrsg.), Le stampe e la diffusione delle immagini e degli stili, Bologna 1983, S. 109-127, bes. S. 111 und 117.
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bracht, die von ihm geschmückt und gerahmt wird. Midi zeigt in einem hochmodisch möblierten Interieur eine Mittagsgesellschaft, deren Vergnügen durch den Bogen einer Kartusche einem Bereich gegenübergestellt wird, der sich rechts unten in einer Bäckerstube als eher vulgär beschreiben lässt. Während der Schmuck der Kartusche mit den Rocailleformen fast unmerklich in das dargestellte Interieur, den Kaminschmuck und die Vorhang-Ornamente der feinen Gesellschaft übergeht und sich in ihren gezierten Bewegungen zu spiegeln scheint, setzt sich der Raum der arbeitenden niederen Bevölkerung nicht nur durch den Rahmen der Kartusche, sondern auch durch das schmucklose Interieur davon ab.25
Abb. 2 Antoine Aveline nach François Thomas Mondon, Midi, 1738, Radierung, aus: Les Quatre Parties du Jour oder Les Actions de la Vie Civil, 1738, Tafel 2.
Zu untersuchen wäre an derartigen Beispielen, inwiefern das Ornament des Rokoko in dem Sinne als ‚Rahmen‘ begriffen werden kann, als es nicht nur die angemessene und identitätsstiftende Repräsentationsform einer Gesellschaftsschicht darstellt26, sondern auch über den ‚Decorum‘-Charakter hinaus einen eigenen Ausdruck erhält, der einen entsprechenden gesellschaftlichen Habitus prägt. Die Linienformen des Ornaments wären in diesem Sinne im 18. Jahrhundert als Kommunikationsapparat zu verste_____________ 25 26
Vgl. dazu Scott, Katie, The Rococo Interieur. Decoration and Social Spaces in Early EigteenthCentury Paris, New Haven, London 1995, S. 251f. Scott untersucht dies ausführlich für das Rokoko-Interieur in Paris (ebd.). Vgl. auch z. B. Sarah R. Cohens Untersuchung einer aristocratic tracery am Hof Ludwig des XIV. und der Régence: Art, Dance, and the Body in French Culture of the Ancien Régime, Cambridge 2000.
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hen, der – in Rückführung auf Hogarths umfassenden Ansatz – die gesamte Lebenswelt der „Konversation“ betrifft.27 Gerade die Dekorationen des Rokoko wurden jedoch von einem Klassizisten wie etwa Johann Joachim Winckelmann vehement abgelehnt, da er „die Schnirckel“ und „das allerliebste Muschelwerk“ gerade als Gegner von Natürlichkeit und Wahrheit betrachtete. Stattdessen erklärte er anhand der Grazie antiker Statuen „den schönen Contour des Nackenden, welcher ohne Zwang vor Augen liegt“ für vorbildlich.28 Das Vorbild – die antike Statue – entspricht demjenigen Hogarths. Und doch sind die sinnliche line of grace und Winckelmanns sittliche Schönheitslinie keineswegs deckungsgleich, obwohl sie beide visuell auf der Wellen-, Schlangen- oder Flammenlinie basieren.29 Es scheint, als ob die schön geschwungene Linie, die bis in die Spätaufklärung als paradigmatische ästhetische Anschauungsform diskutiert wurde, wie ein formales Gefäß funktionierte, das mit teilweise widersprüchlichen Konzepten immer neu ‚gefüllt‘ werden konnte. Dass es dabei nicht nur um die Beschreibung eines objektiven Schönen, sondern vor allem auch um soziale Distinktion ging, belegt die Tatsache, dass die ‚Erziehung des Auges‘ über eine visuelle Form funktionierte, die einerseits als Inbegriff aristokratischer Affektiertheit, Ziererei und Verstellung abgelehnt wurde, während sie andererseits aufgeklärte und mitunter gar bürgerliche Natürlichkeit, Freiheit und Wahrheit verkörpern sollte. _____________ 27 28
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Haus, Andreas, „Ornament und Stil. Die Krise des Historismus“, in: Isabelle Frank/Freia Hartung (Hrsg.), Die Rhetorik des Ornaments, München 2001, S. 177-201, bes. S. 181-185. Winckelmann, Johann Joachim, „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“, in: ders., Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, Walther Rehm (Hrsg.), 2. Aufl., Berlin, New York 2002, S. 27-59, bes. S. 57, zum „Contour“, S. 42; ders., „Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst; und Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedanken“, in: ebd., S. 97156, bes. S. 139; ders., „Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst“, in: ebd., S. 145156; vgl. dazu auch Patz, Kristine / Müller-Hofstede, Ulrike, „Anziehende Natürlichkeit. Zur Grazienkonzeption bei J. J. Winckelmann“, in: Johannes Endres u. a. (Hrsg.), Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, München 2005, S. 287-300, bes. S. 296ff. Zur sinnlichen Erotik der Linie bei Hogarth, vgl. Ogée, Fréderic, „The Flesh of Theory: The Erotics of Hogarth’s Lines“, in: Bernadette Fort/Angela Rosenthal (Hrsg.), The Other Hogarth. Aesthetics of Difference, Princeton, Oxford 2001, S. 62-75; Consonni, Linee, intrichi, intrighi, bes. S. 139-182. Johannes Endres verbindet die Konzepte der Schönheitslinie bei Winckelmann, Diderot und Hogarth gerade über das aufklärerische Transparenzideal des unverhüllten Körpers: „Kunst und Depilation. Zu einem intrikaten Aspekt aufklärerischer Ästhetik“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 55/2005, 3, S. 283-307, bes. S. 287-295. Zur regen und z. T. widersprüchlichen Diskussion der Schönheitslinie etwa bei Lessing, Hagedorn, Moses Mendelssohn, Karl Philipp Moritz, Schiller, Herder und Goethe, vgl. Knab, Janina, Ästhetik der Anmut. Studien zur ‚Schönheit der Bewegung‘ im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main u. a. 1996, bes. S. 170f.; Mainberger, Sabine, „Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers ‚Linienästhetik‘. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths Analysis of Beauty“, in: Deutsche Vierteljahreschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 79/2005, 2, S. 196-252.
Schule der Wahrnehmung. Johannes Florentinus Martinets Katechismus der natuur Bettina Noak
1. Einleitung Johannes Florentinus Martinet (1729–1795) folgte aufgrund beschränkter materieller Verhältnisse der Profession seines Vaters als calvinistischer Geistlicher.1 Daneben hatte er sich seit seiner Studienzeit zugelegt auf das Studium der Natur, er promovierte bei Pieter van Musschenbroek (1692– 1761) in Leiden über die Atmung der Insekten. Die empirischen Methoden der Naturkunde, die er während seines Leidener Studiums kennen gelernt hatte, wandte er später auf sein pädagogisch-naturkundliches Reformwerk an. Martinet war sehr daran interessiert, den ihm aufgetragenen Katechismusunterricht in seinen Gemeinden nicht nur auf das Studium der Bibel und der Bekenntnisschriften zu beschränken, sondern die ihm anvertrauten Menschen zur Betrachtung der Schöpfung anzuregen, getreu dem biblischen Wort „denn in ihm leben, weben und sind wir“ (Apost. 17, 28).2 Einem Vorschlag Christian F. Gellerts folgend, der sich in seinen moralischen Vorlesungen einen „Naturkatechismus“ gewünscht hatte, veröffentlichte Martinet zwischen 1777 und 1779 in Amsterdam ein umfangreiches physiko-theologisches Werk mit dem Titel Katechismus der natuur, das in 22 Gesprächen zwischen einem Lehrmeister und seinem Schüler, beginnend mit den Himmelskörpern über die Menschen, die Tiere und endend bei den Pflanzen, die gesamte Schöpfung behandelt. Dieses Buch und seine verkürzte Fassung, der Kleine katechismus der natuur voor kinderen (1779), wurde in den Niederlanden, aber auch mittels zahlreicher Übersetzungen in England, Amerika, Deutschland und anderen Ländern rezi-
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Zu J. F. Martinet siehe: Paasman, Bert, „J. F. Martinet en de literatuur“, in: Nieuwe Taalgids; 63/1970, S. 1-14; ders., Johannes Florentinus Martinet. Een Zutphens filosoof in de achttiende eeuw, Zutphen 1971; Haas, Frieda de, J. F. Martinet en de achttiende eeuw, in ijver en onverzadelijken lust om te leeren, Zutphen 1987. Siehe Martinet, Johannes Florentinus, Kleine katechismus der natuur voor Kinderen, Amsterdam 1779, S. 48.
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Schule der Wahrnehmung. J. F. Martinets Katechismus der natuur
piert.3 In den Niederlanden selbst hatte es eine außerordentliche Wirkung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, man hat sogar gelegentlich den geringen Einfluss deistischer und atheistischer Geisteshaltungen auf das intellektuelle Klima der Niederlande dem Einfluss Martinets zuschreiben wollen.4 Seinem Aufbau nach orientiert sich Martinets Naturkatechismus an der Frage- und Antwort-Form, wie sie den niederländischen Reformierten etwa durch den „Heidelberger Katechismus“ so geläufig war. Ziel des Werkes ist es, in verständlicher Form allen Lesern die aktuellen Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung nahe zu bringen, wobei Martinet sich nicht nur auf eine Elite richtet, sondern auch Rezipienten einbezieht, die wir heute als „bildungsferne Schichten“ bezeichnen würden und ausdrücklich die weibliche und männliche Jugend zum Naturstudium einlädt.5 Undanks dieser allgemein aufklärerischen Tendenz ist das Buch den Kindern des niederländischen Statthalters Wilhelm V. (1748–1806) gewidmet, wobei er den politischen und moralischen Nutzen des naturwissenschaftlichen Kenntniserwerbs besonders betont: Fürstlichen Nachkommen, die über den gemeinen Mann gestellt wurden, geziemt eine überdurchschnittliche Bekanntschaft mit den natürlichen Gegenständen, insbesondere des ihnen anvertrauten Vaterlandes, die Kenntnis Gottes aus der Offenbarung der Natur ist für sie unerlässlich. Am Hof oft von verderblichen, moralisch verwerflichen Lehren gefährdet, wird gerade durch die Lust zur Naturbetrachtung in ihre Seele das Vermögen gelegt, schädliche von unschädlichen Vergnügungen zu unterscheiden.6 Das Thema der Prinzenerziehung und des Einflusses von höfischen Ratgebern auf die fürstlichen Nachkommen wurde zu dieser Zeit in den Niederlanden kontrovers diskutiert.7 Martinet erhoffte sich augenscheinlich viel von naturwissenschaftlichem Wissen und natürlicher Herzensbildung, wobei er die Kinder des Statthalters ausdrücklich dazu auffordert, die Phänomene in der Natur selbst zu studieren und sein Buch nur als Ergänzung zu nutzen.
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Die deutsche Übersetzung erschien bereits 1779: Martinet, J. F. (Hrsg.), Katechismus der Natur. Mit Kupfern, A. M. Mitglied der holländ. Gesellschaft der Wissenschaften zu Haarlem und Diener des göttl. Wors [!] zu Zütphen. Aus dem Holländischen nach der vierten Auflage übersetzt von Johann Jacob Ebert, Prof. der Mathem. zu Wittenberg, Leipzig 1779–1782. Ebert übersetzte auch den ‚Kleinen Katechismus der Natur für Kinder‘: Kleiner Katechismus der Natur, Leipzig 1780. Siehe Paasman, „J. F.Martinet en de literatuur“, S. 61-64. Zur Rezeption des Naturkatechismus in den Niederlanden siehe Brouwer, Han, „Sociale ideeëngeschiedenis en bestedingspatronen: de kopers van de Katechismus der natuur in Zwolle (1777–1785)“, in: Spektator, 18/1988–89, S. 191-202. Martinet, Johannes Florentinus, Katechismus der Natuur, 4 Bde., Amsterdam 1777–1779, Bd. 1, S. 11; vgl. das Frontispiz vor Bd. 1. Ebd., Bd. 1, S. VIII. Zur politischen Situation in den Niederlanden vgl. Israel, Jonathan, De Republiek (1477– 1806), Bd. 2, Franeker 1996, S. 1201-1236.
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2. Naturbetrachtung und ästhetische Erfahrung Naturforschung ist demnach für Martinet in erster Linie Naturbetrachtung. Ausdrücklich fordert er, im Katechismus in der Gestalt eines Lehrmeisters, der einen braven, wissbegierigen, jedoch in der Naturkenntnis noch unerfahrenen Jüngling durch die Umgebung des gelderländischen Zutphen führt, dazu auf, Gottes Weisheit durch das Anschauen seiner Werke in sich aufzunehmen. Neben die Botschaft des Evangeliums tritt das Studium der natürlichen Erscheinungen, das den Lernbegierigen zu wahrer Gotteserkenntnis und wahrem Gottesdienst führen kann.8 Eigens verlassen Meister und Schüler Arbeitszimmer und Bücherweisheit, um die natürlichen Phänomene, gelegentlich unterstützt von Mikroskop, Lupe oder Teleskop, selbst in Augenschein zu nehmen. Der Blick des Schülers fällt demnach, anders als etwa das Auge des gehorsamen Kindes bei Karl Philipp Moritz, nicht ins Buch, sondern in weite Landschaften – der Gesichtssinn wird nicht sofort wieder durch steuernde Lektüre gezähmt, sondern ihm werden immer neue Reize angeboten, aus denen er Verwunderung und Liebe zur Weisheit des Schöpfers ziehen soll.9 Von einer Schule des Sehens verspricht sich der Lehrmeister Einfluss auf die körperliche, geistige und moralische Entwicklung seines Schülers. Zunächst müssen die falschen Sehgewohnheiten ausgemerzt werden, die den Erdenbürgern im allgemeinen eigen sind: Die Welt, so der Meister, sei ein großes Theater, in dem die Menschen, wie viel auch darin zu sehen sei, nichts wahrnehmen könnten, weil sie nicht gelernt hätten, wohin sie ihre Augen wenden müssten. Ihre Aufmerksamkeit richten sie auf weltliche Eitelkeiten und menschliche Werke. Mode, Kunst oder mechanische Erzeugnisse gelten ihnen mehr als die Schönheiten der Natur und regen sie allein zu Bewunderung an. Die natürlichen Erscheinungen hingegen werden hartnäckig übergangen, eine Blindheit, die dem moralischen Verfall Vorschub leistet, weil sie den Menschen des wahren Vergnügens beraubt und ihn den schädlichen Leidenschaften wie Trauer, Zorn, Geiz oder Missgunst ausliefert. Wer jedoch lernt, noch die kleinsten und unscheinbarsten Naturphänomene mit bewundernder Aufmerksamkeit zu betrachten, wird in kürzester Zeit zur wahren Freude geführt. Sinnlichkeit wird dabei nachdrücklich ins Positive gewendet, es gilt, die Weisheit Gottes in seiner Schöpfung so vollständig als möglich auf sich wirken zu lassen und in sich aufzunehmen, um die ursprüngliche, unverdorbene
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Martinet, Katechismus der Natuur, Bd. 1, S. VIII, XIII. „Der Knabe ist sehr aufmerksam und gafft nicht umher. Das offene Auge sieht ins Buch. Mein Auge ist offen, und ich sehe damit ins Buch. Das Buch macht junge Kinder klug.“ Moritz, Karl Philipp, Neues ABC–Buch, München 2000, Buchstaben A und B.
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Erlebnisfähigkeit des Menschen wiederherzustellen.10 Hier beginnt eine Theologie der sinnlichen Erfahrung, denn neben konkretem Wissen liefert diese Form der Naturbetrachtung die Einswerdung mit Gottes Weisheit, Willen und Liebe: Die Geisteskraft des Schülers wird sich durch die Betrachtung der Naturvollkommenheiten nach Gottes unendlichem Verstand bilden, sein Wille, der überall nur Gutes entdeckt, nach der Erfüllung des Guten als göttlichem Zweck streben und somit das Gesetz der Liebe erfüllen.11 Gottes Werke übertreffen bei weitem die Kunst der Menschen, die aus ihnen Demut zu lernen haben. Die Wahrnehmung der Schönheit der Natur geht mit der Wahrnehmung des Nutzens der natürlichen Gegebenheiten einher: „Gott schuf alles so schön, als ob die Schönheit, und gleichzeitig alles so nützlich, als ob der Nutzen sein einziges Ziel gewesen wäre.“12 Vor der Betrachtung des Nutzens spricht der Lehrer stets das ästhetische Empfinden des Schülers an. Dies schließt übrigens die Mitleidsfähigkeit mit der unbelebten und belebten Natur ein. Die geplante Veränderung eines Wasserfalls durch Menschenhand entlockt dem gelehrigen Schüler demzufolge nachdrücklichen Protest, und er empfindet Mitleid mit den Insekten, deren Komplexaugen er zwecks näherer Betrachtung unter dem Mikroskop sezieren soll.13 3. Hierarchie der Sinne Wie häufig in der aufklärerischen Literatur nimmt auch Martinets Lehrmeister eine Hierarchie der fünf Sinne an, in absteigender Reihenfolge werden dementsprechend Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl genannt.14 Infolgedessen wird das Auge auch als das schönste, voll-
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Martinet, Katechismus der Natuur, Bd. 1, S. 2-11. Ebd., Bd. 1, S. 6. Ebd., Bd. 1, S. 18: „God maakte alles zo schoon, als of de schoonheid, en tevens alles zo nuttig, als of de nuttigheid zyn eenigste doelwit geweest ware.“ Ebd., Bd. 3, S. 14-15; Bd. 4, S. 215-216. Über die Sinne und ihre Wirkung: ebd., Bd. 1, S. 245-265. Zum Thema des Sehens und der Hierarchie der Sinne in der Aufklärung vgl. Borgards, Roland, „Die Wissenschaft vom Auge und die Kunst des Sehens: von Descartes zu Soemmerring, von Lessing zu A. W. Schlegel“, in: Thomas Lange/Harald Neumeyer (Hrsg.), Kunst und Wissenschaft um 1800, Würzburg 2000, S. 39-61; Schleusener-Eichholz, Gudrun, „Poetik und Naturwissenschaft: Augenanatomie in Dichtungen des 17. Jahrhunderts und moderner Dichtung (Pierre de Marbeuf, Phineas Fletcher, Catharina Regina von Greiffenberg, Hannelies Taschau)“, in: Daphnis, 26/1997, S. 437-518; Utz, Peter, Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, bes. S. 19-38; ders., „,Es werde Licht!‘ Die Blindheit als Schatten der Aufklärung bei Diderot und Hölderlin“, in: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch, Stuttgart, Weimar 1994, S. 371-389.
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kommenste und erstaunlichste von Gottes Wunderwerken bezeichnet und in seiner Anatomie fünfundzwanzig Beweise von Weisheit und Kunst des Schöpfers aufgezählt. Als bedeutungsvollstes der Wunder Jesu wird auf die Heilung der Blinden verwiesen (Matth. 11, 5).15 Damit greift Martinet den in der Aufklärungsliteratur so beliebten Topos der Blindengenesung auf.16 Der Lehrmeister unternimmt eine theologische Wendung, wenn er – unter Berufung auf die Autorität des Apostels Paulus – den Heiden und ihrem ausschließlich an der (empirischen) Vernunft ausgerichteten Erkenntnisstreben die drei „niederen Sinne“ des Geschmacks, Geruchs und Gefühls zuordnet. Diese lehren die Heiden durch die Vernunft „zu suchen, ob sie [die Vernunft] ihn wohl fühlen und finden könnte“ [„te zoeken of hy hem immers tasten en vinden mogte“] (vgl. Apost. 17, 27). Die christliche Offenbarung hingegen wird mit den auf Unstoffliches gerichteten Sinnen Gesicht und Gehör verbunden, wodurch sie den Unsichtbaren zu sehen (Hebr. 11, 27) und mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herren zu schauen vermöge (2. Kor. 3, 18).17 Ähnlich formulierte Immanuel Kant später in seiner Anthropologie (1798) die Überlegenheit des Gesichts über die anderen Sinne, weil es dem reinen Schauen nahe käme.18 Martinets Lehrmeister betont, dass es dem Auge vorbehalten bleibt, durch die Aufnahme der Naturschönheit eine unmittelbare Wirkung auf die Seele des Betrachters zu erzielen und damit sein ästhetisches Empfinden anzusprechen, wodurch direkt ein angenehmer Seelenzustand und ein Gefühl des Glücks erzeugt wird. Das menschliche Gemüt wird auf diese Weise empfänglich für die Lehren von Gottes Weisheit und Liebe, ein Wissen, das dem rein empirischen Kenntniserwerb „heidnischer“ Gelehrter weit überlegen sein muss. Damit rührt der Lehrmeister das Thema des Vorrangs physiko-theologischer Betrachtungen über die ausschließlich vernunftgeleitete Philosophie an. Bei Martinet war dies möglicherweise eine Reaktion auf die in den Niederlanden zwar rezipierten, jedoch von der Mehrheit der niederländischen Intellektuellen sehr kritisch gesehenen Lehren der französischen Aufklärung. Neben dem Gesichtssinn gelingt es auch dem Gehör, die Seele des Menschen unmittelbar zu affizieren, indem es ihn befähigt, die Töne des diatonischen Systems wahrzunehmen und somit den wohltuenden und
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Zum Auge: Martinet, Katechismus der Natuur, Bd. 1, S. 247-250. Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 29-31. Martinet, Katechismus der Natuur, Bd. 1, S. 264. Kant, Immanuel, „Von dem Sinn des Sehens“, Anthropologie § 17, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Bd. 2, Frankfurt am Main 1968, S. 449 (Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 12). Auf diese Auffassung Kants verweist auch Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 24.
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veredelnden Einfluss von Musik auf den Zuhörer ermöglicht, die ebenfalls positive Sinnesregungen hervorruft.19 4. Funktion des Auges: Schnee Bei aller Bewunderung für diese Fähigkeiten ist es jedoch das Auge, das die eigentliche Verbindung der menschlichen Seele mit der natürlichen Offenbarung vermittelt: „Das Auge geht allen anderen Sinnen voran, lehrt die Seele alle Gegenstände kennen und erfreut sie durch die Betrachtung der Dinge“.20 Die Augen des Naturforschers, so zeigen es auch die Titelkupfer zu den jeweiligen Bänden des Katechismus der natuur, schweifen bei Martinet durch weite niederländische Landschaften, sein Blick wird zunächst nicht eingeengt, etwa im Sinne einer Rahmenschau oder der Darstellung des Auges als einer Camera Obscura, die Martinet scheinbar vermeidet.21 Sie sind, wie erwähnt, zuallererst auf die Auffindung des Schönen gerichtet, da dieser ästhetische Genuss Erkenntniswillen und -fähigkeit des Betrachters gleichsam vorbereiten muss, um in einem zweiten Schritt die Brücke zur Nutzanwendung schlagen zu können. Des Lehrmeisters Fähigkeit zur Wahrnehmung im Großen wie im Kleinen ließe sich natürlich an zahllosen Beispielen zeigen. Auch Erscheinungen, die auf Grund ihrer Beschaffenheit nur kurzzeitig untersucht
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Martinet, Katechismus der Natuur, Bd. 1, S. 254. Der Lehrmeister vergisst schließlich nicht, dem aufklärerischen Interesse für die erstaunlichen Fähigkeiten des Tastsinns einen Tribut abzustatten. Bei Verlust des Augenlichts erreicht demnach das Gefühl eine nahezu unglaubliche Verfeinerung. Angeführte Beispiele sind eine Blinde, die Brüsseler Spitzen fertigte, Statthalter Wilhelm III. (1650–1702), der einen Blinden traf, der Farben auf Spielkarten nach dem Gefühl zu unterscheiden wusste sowie ein junges blindes Mädchen, dass Glasperlenarmbänder fertigte, wobei sie ebenfalls die Färbungen der Perlen mittels des Tastsinns herausfinden konnte. Ebd., Bd. 1, S. 264-265. Ebd., Bd. 1, S. 263. „Het Oog werkt vooruit boven alle Zintuigen, doet alles de Ziel kennen, en streelt haar door de beschwouwing der voorwerpen“. „Anatomie des Auges“, ebd., Bd. 1, S. 247-250; „Seele und Körper“, ebd., Bd. 1, S. 310-320. Zur Rahmenschau und Camera Obscura als Technik des Betrachtens im 18. Jahrhundert, insbesonders bei Barthold Hinrich Brockes, vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina, „Gott und die Welt im Perspektiv des Poeten: zur Medialität der literarischen Wahrnehmung am Beispiel Barthold Hinrich Brockes“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 71/1997, S. 183-216 und Steigerwald, Jörn, „Das göttliche Vergnügen des Sehens: Barthold Hinrich Brockes’ Techniken des Betrachters“, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen, Bonn 2000, S. 9-41. In den ergänzenden Erläuterungen zu Martinets Katechismus von J. de Vries heißt es hingegen, das Auge arbeite wie eine Camera Obscura. Siehe: Johan de Vries, Natuurkundige en ophelderende aanmerkingen over het eerste deel van den Katechismus der natuur, door den Heer J. F. Martinet, Amsterdam 1778, S. 150.
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werden können, wie zum Beispiel der Schnee, gehören dazu.22 Seine unscheinbaren Kristalle inspirieren Martinet zu einer kurzen Chionotheologie.23 Auf schwarzem Samt präsentiert er dem Schüler die zerbrechlichen Wesen der Schneekristalle, die bei der kleinsten Berührung schon vergehen, dennoch die ungeteilte Aufmerksamkeit des Forschers ebenso verdienen wie die größten Himmelskörper. Schnee, so der Lehrmeister, sei vierundzwanzigmal leichter als Wasser, mehr als vierhundert verschiedene, sternförmige Figuren seien hier zu finden, deren Regelmaß und unterschiedliche Form alle Erscheinungen an Schönheit überträfen.24 Auffälligerweise ist der Mensch, ohne eine Anleitung zum Sehen, nicht in der Lage, diese Pracht wahrzunehmen, er tritt Millionen von ihnen, im Gegenteil, aus Unwissenheit mit den Füßen, damit achtlos an Gottes Werken vorbeigehend, die jegliche menschliche Kunst beschämen. Die stete Wandelbarkeit ihrer Formen gibt auch einem Anfänger in der Naturbetrachtung die Gelegenheit, eigene Entdeckungen zu machen und diese mittels Zeichnungen für sich festzuhalten. Schnee, so der Lehrmeister, illustriert die oben genannte These, dass Gott alles gleichzeitig zu Schönheit und Nutzen geschaffen habe, wobei zwei der zwölf Nützlichkeiten mit der ästhetischen Funktion des Schnees zusammenhängen: „er bietet dem Naturkundigen die Gelegenheit, sich an den schönsten Betrachtungen zu erfreuen und den Malern, ihre Zeichnungen mit neuen Figuren zu bereichern.“25 Martinet, der den Schnee im zweiten Gespräch über die Luft bei den Niederschlägen behandelt, bleibt in seiner Sprache hinsichtlich der Entstehung der Schneekristalle auffällig metaphorisch – Gott hält diesen Stoff mit seinen hundertfachen Formen in seinen Schatzkammern bereit (vgl. Hiob 38, 22). Der Übergang zur theologischen Interpretation zielt neben dem Formenreichtum vor allem auf die blendend weiße Erscheinung des Schnees ab, die mit nichts zu vergleichen ist und daher vom Propheten Jesaja als Bild gebraucht wird, um die Wirkung von Gottes Gnade auf das Nachdrücklichste zu schildern, er zitiert den Propheten mit den Worten:
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Über Schnee: Martinet, Katechismus der Natuur, Bd. 1, S. 145-151, mit Abb. 2: „12 Schneefiguren, die ich in Zutphen am 4. und 5. Jan. diesen Jahres [1777] bei günstigem Wetter in meinem Garten wahrnehmen konnte“. Ebd., nach S. 148. Zum Begriff der „Chionotheologie“ siehe auch: Heinsius, Balthasar Heinrich, Chionotheologia oder erbauliche Gedanken vom Schnee als einem wunderbaren Geschöpf Gottes, Züllichau 1735. Martinet beruft sich hinsichtlich der Schneefiguren auf das Werk von Jan Engelman (1708– 1752): Verhandeling over de sneeuwfiguren, en hoe deze natuurbeschouwing best aan te leggen, ter verheerlyking van Gods magt, wysheid en goedheid. 2de uitg. verrykt met een voorrede van Pieter Boddaert, Utrecht 1771. Martinet, Katechismus der Natuur, Bd. 1, S. 150: „zy geeft den Natuurkundigen aanleiding om zich te vermaaken met de schoonste beschouwingen, en de Schilders gelegenheid om hunne tekeningen met nieuwe Figuuren te verryken.“
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„wären eure Sünden auch blutrot, sie sollen weiß werden wie Schnee“ [„Al waren uwe zonden als scharlaken, zy zullen wit worden als sneeuw“] (Jes. 1, 18).26 An dieser Stelle zeigt sich, dass Martinet scheinbar bewusst die cartesianische Erklärung für die Entstehung der Schneekristalle übergeht, die Descartes in seiner Schrift Les Météores (1637) niederlegte. Den dort angegebenen mechanischen Ursachen für die Herausbildung der Kristalle steht bei Martinet die Sinndeutung gegenüber, Gott habe die Formen „in seinen Schatzkammern“ bereits vorbereitet. Hier trifft sich der niederländische Autor mit dem Schweizer Physikotheologen Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), der – ebenfalls unter Verweis auf Hiob 38, 22 – gelehrt hatte, die Entstehung des Schnees sei bei Gott verborgen. Ob Martinet in seinem Werk generell den cartesianischen Lehren ausweicht, müssten gründlichere Untersuchungen ergeben.27 Auch Sehen ist für Martinet Gnade, so könnte man zusammenfassend sagen, aber das Gesehene muss wieder in den Gnadenzusammenhang gestellt werden. Martinet hat keine Angst vor der Fülle natürlicher Sinneseindrücke, ihm schwebt die Ausweitung des Sehens auf immer neue Bereiche vor. Und wie die Gnadenfülle Gottes kein Ende kennt, so auch nicht das menschliche Vermögen zur Wahrnehmung.
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Ebd., S. 151. Zu den unterschiedlichen Lehren Descartes’ und Scheuchzers hinsichtlich des Schnees vgl.: Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste [...], 68 Bde., Bd. 35, ND Graz 1996, Sp. 513-517.
Eine kleine Schule des Sehens – oder: Johann Heinrich Mercks Zeitschriftenbeitrag Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in ** Margrit Vogt Johann Heinrich Mercks Zeitschriftenbeitrag „Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in **“ (1781) vermittelt spielerisch zwischen der französischen Salonkritik und den ersten deutschen Ausstellungsberichten, unter denen er als Ausstellungsfiktion eine Sonderposition einnimmt. Bis 1780 werden in Deutschland nur wenige Akademieausstellungen veranstaltet und Ausstellungsberichte gedruckt.1 Denn die deutsche Kunstlandschaft beginnt sich erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Öffnung fürstlicher Galerien für die Öffentlichkeit, der Gründung von Kunstakademien und Organisation von Kunstausstellungen zu formieren. Danach häufen sich Ausstellungskritiken in deutschen Periodika in doppelter Hinsicht: Einerseits dehnt sich der Fokus der Berichterstattung über Dresden und Leipzig auf Kunstausstellungen in Augsburg und Berlin aus, andererseits kritisieren nun unterschiedliche deutsche Zeitschriften gleichzeitig bedeutende Kunstausstellungen in Form von Kunstbriefen. Die Vorläufer der deutschen Kunstbriefe, Bodmers und Breitingers Discourse der Mahlern (1721/22), widmen sich in Form von Reflexionen berühmter, verstorbener Künstler der moralisch-ethischen Unterweisung der Leserschaft und sehen weitgehend von Themen bildender Kunst ab. Wilhelm Heinses berühmte Düsseldorfer Gemäldebriefe (1776/77) konzentrieren sich schließlich auf die ständige Sammlung der Düsseldorfer Gemäldegalerie und versuchen, den Leser mittels synästhetischer Verfahren in die imaginäre Bildbetrachtung einzubinden. In den 1780er Jahren gesellen sich zu den seltenen Ausstellungsbesprechungen in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste Kunstbriefe im Teutschem Merkur und dem Deutschem Museum, die deutsche Gemäldeausstellungen besprechen und sich statt der Malerei Alter Meister Gemälden zeitgenössischer Künstler widmen.
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Die ersten Berichte deutscher Akademieausstellungen erfolgen spärlich ab Mitte der 1760er Jahre, z. B. Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 2/1766, 1, S. 153-162.
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Im anonym publizierten Kunstbrief „Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in **“ imaginiert der Verfasser, Johann Heinrich Merck, einen Besuch in einer deutschen Gemäldeausstellung. Wenngleich Heinz Lüdecke davon ausgeht, dass sich Merck von den Leipziger Kunstausstellungen habe beeinflussen lassen, die im Rahmen der Frühjahrsmessen stattfanden2, lässt sich nicht eindeutig klären, ob sich Merck wirklich auf eine festlegbare deutsche Ausstellung bezieht. Vielmehr scheint er im Geiste den fiktiven Galerierundgang aus seiner Lektüre der Pariser Salons in französischen Journalen und seinen Kunsterlebnissen in deutschen Galerien und Museen zusammenzusetzen und damit den Ausstellungsbesuch als transnationale Fiktion zu gestalten. Merck selbst reist erst 1791 nach Paris, aber die französische Salonkritik wird in Deutschland lange davor über einzelne übersetzte Salonkritiken in deutschen Periodika3 sowie über französische Journale insbesondere durch den Mercure de France oder die Zeitschrift L’Année Littéraire vermittelt, die in den meisten Universitäts- und Leihbibliotheken einsehbar sind. Mercks Ausstellungsfiktion vermittelt als französisch-deutscher Kulturtransfer die französische Salonkultur, passt sie aber der deutschen Situation an. Damit führt dieser fiktive Ausstellungsbesuch Modi der französischen Salonbesprechung mit kritisch satirischer Distanzierung ein und regt die deutsche Ausstellungspraxis sowie deren verbale Vermittlung im deutschen Kunstbrief an. Wenngleich die französischen Salons und Kunstkritiken wieterhin als Vorbild dienen, ermöglicht allein die Abgrenzung von der Kulturnation Frankreich, welche sich in Mercks „Ausstellungsbericht“ über die Travestie eines französischen Ausstellungspublikums zu vollziehen scheint, die „Deutschwerdung“ der Kunstkritik und die Ausbildung einer deutschen Kunstnation. Pariser Salons und deutsche Kunstausstellungen im Vergleich Die Salons in Paris, welche im Jahres- oder Zweijahresrhythmus im Salon Carré des Louvre abgehalten werden, fungieren – neben ihrer offiziellen Funktion als Ruhmesstätte der königlichen Kunstakademie und damit der französischen Monarchie – als Kunstmesse, Unterhaltungs- und Bildungsort. Der freie Zugang beschert den Salons einen enormen Besucheransturm und verwandelt sie in Kristallisationspunkte sozialer Schichten und hetero-
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Vgl. Merck, Johann Heinrich, Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in **, Heinz Lüdecke (Hrsg.), Berlin 1955, hier S. 57. Vgl. z. B. die Integration des Salons vom Jahr 1769 in der Kunstzeitung der kayserlichen Akademie zu Augsburg, 1770, 10. St., S. 73-79.
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gener Betrachterperspektiven.4 Während die französischen Salons sich auf zeitgenössische Künstler konzentrieren, stellt Merck eine Gemäldeausstellung nach, die neben zeitgenössischer Kunst auch Werke Alter Meister präsentiert und dieser Stil- und Epochenkombination entsprechend deutlich als deutsche Ausstellung erkenntlich wird: Alle Leute von Ansehen widmen zu dergleichen Zerstreuungen gemeiniglich die Vormittagsstunden, und zwar ehe sie an ihre Toilette gehen; und die meisten Personen bürgerlichen Standes wählen daher den Nachmittag dazu. Da nun der Mittag beym Adel beynahe noch nicht eingetreten ist, wenn diese lange abgespeist haben, so sitzen jene kaum bey Tische, wenn diese längst zum Ausgehen geschikt sind.5
In der deutschen Gemäldeausstellung, die im Gegensatz zum Gedränge in den französischen Salons „ein angenehmes Schauspiel“ bietet6, sind ebenfalls alle Stände und Schichten vertreten. Trotz der Varietät des Publikums findet hier beinah keine Vermischung zwischen den Schichten statt. Denn die überschaubare Besucherzahl formiert sich in der deutschen Galerie in kleinen Gruppen, die sich dem Lebensrhythmus entsprechend über den Tag verteilt die Kunstwerke zu Gemüte führen. Mercks Galeriefiktion spiegelt keineswegs die reale Situation in den deutschen Kunstsammlungen und Museen der 1780er Jahre wider, die im Gegensatz zu den zahlreich frequentierten Berliner Akademieausstellungen im folgenden Jahrzehnt spärlicher als in Mercks Ausstellungsfiktion angedeutet besucht werden.7 Sie bringt hingegen seine Idealvorstellung einer zwar ständisch gespaltenen aber im Kunstgenuss vereinten deutschen Nation zum Ausdruck. Die deutsche Ausstellungsfiktion Mercks Galeriefiktion präsentiert die Ausstellungsbesucher als bunte Mischung aus sozialen Schichten und diversen Berufszweigen: Zu den Figuren zählen Vertreter des Klerus und des Adels, ein Oberstallmeister, Arzt und Professor sowie ein deutscher Kunstliebhaber im Gespräch mit einem Kunstkenner. Analog zu den Pariser Salons lässt sich am Grad der Heterogenität des Publikums die Variabilität der Gemäldebetrachtung ablesen. Mit ironischem Unterton präsentiert der Erzähler die Aussagen der
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Vgl. Crow, Thomas, Painters and Public Life in Eighteenth-Century Paris, Yale 1985, hier S. 18. Merck, „Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in **“, in: Der Teutsche Merkur, 1781, 4, S. 167-178, hier S. 167. Ebd. Vgl. Badstübner-Gröger, Sibylle, „Einige Bemerkungen zur geschmacksbildenden Rolle der Berliner Akademie-Ausstellungen im späten 18. Jh.“, in: Michael North, Kunstsammlungen und Geschmack im ausgehenden 18. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 195-215, hier S. 199ff.
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Ausstellungsbesucher. Damit knüpft er an die Travestie der Salonkritik an, die mit Daudet de Jossans „Lettre de Raphaël“ zum Salon von 1769 einsetzt und die Autorität der französischen Kunstakademie satirisch unterläuft.8 Mercks Kunstbrief richtet sich jedoch nicht gegen die französische Akademie, sondern ruft die Tradition der Salontravestie auf, um die Überpräsenz französischer Kunst und Kritik auf die deutschen Kunstzentren einzudämmen, falsche Wahrnehmungsmodi aufzudecken und die richtige Begriffsverwendung des Kunstvokabulars als Instrumentarium zur Beurteilung von Kunstwerken einzuüben. Die Betrachtung „Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in **“ spielt den Kunstgenuss mit steigender Intensität und Erkenntniskraft durch und kulminiert im Plaisir reflechi eines Kunstkenners.9 Die erste und unterste Stufe der Kunstwahrnehmung wird von Offizieren, Pagen und Kammerjunkern repräsentiert, die angeblich den Ausführungen eines Professors über die Malerei lauschen, in Wirklichkeit aber ihre Schuhschnallen oder das brennende Feuer im Kamin betrachten und nebenbei statt die Skizzen an der Wand den Gang und die Statur der vorübergehenden Bürgermädchen beurteilen.10 Ein Indiz dafür, dass das Interesse des deutschen Publikums für Kunst erst erweckt werden muss. Nach dieser kleinen Episode, die den dringenden deutschen Bedarf an Kunstaufklärung veranschaulicht, parodiert Mercks Ausstellungsfiktion den Inbegriff des nationalen französischen Stereotyps eines redegewandten, oberflächlichen und geckenhaften Aristokraten. Denn ein französischer Gesandter und sein 16jähriger Neffe bezeichnen eine Madonnendarstellung von Raphael als höchst „ridicul“ und „agnés“ („schafgleich“; lat. agnus = Schaf) und ziehen Greuze’ erotisch aufgeladenes Genrebild Fille aux oeufs cassé (1756) mit der Begründung vor: „cela parle au moins aux sens.“11 Sie geben das religiöse Gemälde der Lächerlichkeit preis und bevorzugen den direkten Kunstzugang über ihre eigene angeregte Sinnlichkeit. Der Gesandte reduziert die sinnliche Wahrnehmung auf das sinnliche Potenzial des dargestellten Inhalts und verdeutlicht damit, dass weder der Malstil noch die Maltechnik eines Gemäldes seine Sinne zu (be)rühren vermögen. Der Erzähler legt die geäußerte Vorliebe für den Genremaler Greuze als unbedarfte Äußerung des französischen Gesandten offen und stigmatisiert ihn und seinen Neffen gleichzeitig zu typischen Vertretern des zeitgenössischen Kunstgeschmacks, welche den Gemälden Alter Meister mit Un-
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Fort, Bernadette, „Voice of the Public. Carnivalization of Salon Art in Prerevolutionary Pamphlets“, in: Eighteenth-Century Studies, 22/1989, 3 (Sonderheft: The French Revolution in Culture), S. 368-394, hier S. 376. Merck, „Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in **“, S. 175. Vgl. ebd., S. 178. Ebd., S. 169.
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verständnis begegnen. Damit bringt er die Präferenz der französischen Akademie für Historienmalerei und Alte Meister ins Spiel, was darauf hindeutet, dass an dieser Stelle möglicherweise die Tradition der Salontravestie selbst travestiert wird. Jede neu eingeführte Figur speist ihre Sehweise aus ihren Lebensumständen, ein Verfahren, das visuelle Wahrnehmung als sozial vermittelte Praxis anschaulich macht. In diesem Sinn bezeugt der alte Oberstallmeister von G., ein Gemälde einer Reitschule eines jungen, unbekannten und ungenannten Künstlers zu lieben, weil das Pferd mit der Kruppe parallel zur Wand dargestellt sei und die Hand des Reiters mit der Wade in wahrem Verhältnis stehe.12 Dahingegen bezeichnet er die Pferde in einem Landschaftsgemälde von Wouwermann, das der Erzähler als eines der schönsten lobt, als „unbeholfne schwere Geschöpfe“ und das Gemälde deswegen als misslungen.13 Diese Art der Gemäldebetrachtung parodiert die Verwendung der Rubrik der „Proportion“. Die Proportion gilt in der akademischen Tradition als festgelegtes Verhältnis zwischen den Teilen und dem Körperganzen, das zur Erfüllung der ästhetischen Anforderungen eingehalten werden muss.14 Wenn der Oberstallmeister das Größenverhältnis von Wade und Hand vergleicht oder die exakte Parallelität des Pferdekreuzes zur Wandachse lobt, erfährt die Rubrik der Proportion eine ironische Verdrehung und semantische Verformung, welche aus der unreflektierten Übernahme des Kunstvokabulars und dessen Kontextentfremdung resultiert. Gegen den „Schwall übel zusammengereihter Kunstwörter“ als Zielscheibe von Mercks Satire richtet sich auch eine Szene vor einem DanaeGemälde15, das die Gräfin von R. ein Abbé, ein Kastrat und zwei junge Fähnriche betrachten. Der Abbé merkt an, dass der Künstler „wenigstens nicht gegen das Costume gefehlt“ habe16, da die Danae in Kleidern von Licht dargestellt sei. Der Abbé scheint sich mit der Besprechung der Kleidung auf die Rubrik der Draperie zu beziehen, die er bei französischen Salonkritiken aufgeschnappt haben könnte. Dabei zielt seine Anwendung dieses Terminus bei der Darstellung einer nackten Danae aber buchstäblich ins Leere. Des Weiteren kritisiert er die „allzu“ weiße Fleischfarbe der Danae und konstatiert, „qu’il n’etoit pas permis d’etre si blanche même en
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Vgl. ebd., S. 167. Ebd., S. 169. Zur Tradition der Gemäldebetrachtung anhand akademischer Kategorien und deren Einführung in die deutsche kunsttheoretische Diskussion durch Mengs vgl. Osterkamp, Ernst, Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, S. 92100, hier S. 94. Merck, „Ueber die lezte Gemälde Ausstellung in **“, S. 175. Ebd., S. 170.
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peinture“.17 Die strahlend weiße Körperfarbe sei selbst in der Malerei verpönt, denn sie behindere die Imaginationskraft. Eine solche idealisierte Figurendarstellung mache es dem Betrachter unmöglich, sich die Danae real zu vergegenwärtigen. Weshalb oder inwiefern dieses „Vergehen“ die Einbildungskraft des Betrachters beschneidet, bleibt der Interpretation des Lesers überlassen. Fest steht, dass die Ausstellungsbesucher und insbesondere der Abbé die neuen Kunstwörter wild durcheinander wirbeln, indem sie sie dem Verwendungsbereich der bildenden Kunst entreißen und mit neuer Semantik belegen. Nach dieser Besprechung der „Draperie“ und des „Kolorits“ durch den Abbé lauscht die kleine Gruppe den Ausführungen eines Leibmedicus, an welchen sie sich als „exklusiven Richter über die Lehre von den Muskeln“ richtet.18 Die Kunstbetrachtung des Arztes erschöpft sich jedoch in der Überprüfung der korrekten Anwendung der anatomischen Prinzipien, denn er entdeckt im vorliegenden Danae-Gemälde die größte Ignoranz, da nicht die Hälfte der Muskeln angegeben sei, die sich in der Natur zeige.19 Dieser anatomischen Perspektive um der Anatomie willen widerspricht der Galeriedirektor, der die angeblichen „Defizite“ als „nötige Verkürzungen“ zum Ausdruck von Schönheit und Grazie bezeichnet.20 Sowohl der Arzt als auch der Galeriedirektor verkörpern einen Zweig akademischer Ausbildung, da nämlich Anatomie und Perspektive obligatorische Studienfächer jeder deutschen Kunstakademie des 18. Jahrhunderts darstellen. Allein ihre Zusammenführung in der Kunstbetrachtung macht das Kunstkennerurteil aus. Der Erzähler suggeriert, dass selbst die ungebildete Menge das Defizit einer bloßen anatomischen oder rein optischen Betrachtung fühle: Denn der Kampf um das Interpretationsmonopol mündet im Satz des Abbés: „que pour jouir, il ne falloit ni de la Myologie ni de l’Optique“21, dass weder Kenntnisse der Muskellehre noch der Optik unabdingbare Voraussetzungen für den Kunstgenuss seien. Dieses Plädoyer für unmittelbaren Kunstgenuss macht hingegen den Abbé, der als säkularisierter Vertreter des Klerus eine häufig verwendete Kunstfigur in französischen Romanen darstellt, ebenfalls zum Ziel der Satire. Denn durch die Zusammenführung der Betrachterperspektiven relativieren sich das ganzheitliche, gefühlte Sehen der Laien und der kunstkennerische Detailblick, der vage Seheindruck und die anatomische oder optische Gemäldesezierung. Beide Positionen missbilligt der Erzähler, was der abrupt gestaltete Abgang der Galeriebesucher verdeutlicht. Denn die
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Ebd. Ebd., S. 171. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd.
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kleine Gesellschaft will die letzte Gelegenheit nutzen, im Vorhof der Galerie zum Kauf angebotene Puppen aus Muscheln darunter auch der Preußische König zu Pferd zu betrachten. Diesem oberflächlichen Verständnis von Kunst als Event einerseits und als Kitsch und Konsumware andererseits wird eine Schulung des Auges entgegengesetzt, deren Prinzipien im Dialog zweier Ausstellungsbesucher zum Ausdruck kommen. Ein Kunstkenner und ein Kunstliebhaber sind in den Ausstellungsräumen zurückgeblieben und unterhalten sich nun auf Deutsch statt auf Französisch. Dieser Sprachwechsel zeigt an, dass allein die sprachliche Selbstfindung und die richtige Verwendung des Kunstvokabulars, die die Schule des Sehens einübt, die Geburt einer deutschen Kunstnation ermöglichen. Der Kunstliebhaber ironisiert zwar die Arroganz des Kunstkenners, spricht ihm aber doch ein Quantum an tieferer Einsicht in Belangen der Kunst zu: „Ich muß glauben, versezte der Graf, daß die Künstler eine Art von Inspirierten sind, deren Sprache niemand begreift der nicht in ihre Geheimnisse eingeweiht ist.“22 Gegen die vagen Seheindrücke der Laien macht der Kunstkenner seine jahrelangen Bemühungen um „richtiges Sehen“ mit der Steigerung des Sehvermögens geltend: Sollten wir, die wir unser ganzes Leben auf die Erforschung des Schönen in allen seinen Theilen verwendet haben, mit allem unsern guten Willen, bey gleichen Talenten, nicht auch schärfere Sinnen erhalten?23
Die Schärfung der Sinne allein genügt aber nicht, sie muss durch kognitive Tiefe angereichert werden, wie Merck metaphorisch einfordert: „Der Genuß der Kunst ist wie der Genuß des Weins; jeder trinkt, allein nicht jeder kann sagen, was er getrunken hat.“24 Dieser Satz parallelisiert die Erquickung durch Kunst und Wein und suggeriert die Entfaltung des kognitiven Genusses zum umfassenden Sinneseindruck. Die Frage nach der genossenen Rebensorte verlangt nach einer eindeutig verifizierbaren Antwort und die Kunstbesprechung demgemäß nach einem objektiven Urteil. Das Vermögen, den Wein zu erkennen und zu beurteilen, ist mit häufiger Übung und guter Anleitung trainierbar, was die Schlussfolgerung impliziert: Sehen ist lehr- und lernbar, bis zu einem gewissen, individuell geprägten Grad. Um den Kunstinteressierten in der Schule des Sehens schnelle Fortschritte garantieren zu können, fordert Merck ihre Aufrichtigkeit.25 Erst wenn der Laie sein Unverständnis offenbart, kann die Ausbildung des Augensinns beim jeweiligen Wissensstand einsetzen. Damit wird die visuelle
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Ebd. S. 177. Ebd. S. 176. Vgl. Merck, Johann Heinrich, „Briefe über Mahler und Mahlerey an eine Dame“, in: Der Teutsche Merkur, 1779, 4, S. 31-40, hier S. 37. Ebd., S. 33f.
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Wahrnehmung mittels verbaler Einführung zum kognitiven Prozess. Analog zum Künstler in der Kunstakademie muss der Laie künstlerisches Sehen mühselig erlernen: „Der Laye aber hat diese Augen [nämlich die Augen des Künstlers] nicht, und es gehen viele Jahre hin, ehe man sie sich erwirbt“.26 Das Training richtigen Sehens verläuft entlang den Richtlinien der Kunstakademie: Der Kunstliebhaber soll in die Verwendung der Perspektive und die Wirkungserzeugung durch Farb- und Schatteneffekte eingeweiht werden. Die vagen Seheindrücke des Laien werden durch die Beurteilung der Rubriken Zeichnung, Komposition, Ausdruck, Kolorit oder Faltenwurf konkretisiert und fließen in die Betrachtung von künstlerischer Ursache und Wirkung ein. Dabei soll das Gemälde einer Gesamtbetrachtung nach diesen Kriterien unterzogen werden. Der Kunstkenner gesteht dem Gemälde bei dieser komplexen Betrachtung Qualität und dem Künstler Meisterschaft in seinem Fach zu, selbst wenn dieser nicht alle Rubriken optimal erfüllt, dafür aber den Endzweck, den wahren Ausdruck des Sujets, erreicht.27 Die bildende Kunst mutiert damit zur Fremdsprache, die gelernt sein will und sich dem Betrachter nur anhand ausreichender „Sprachkenntnisse“ erschließt. Einerseits entlehnt Mercks Ausstellungsbericht der französischen Kunstkritik die Rubriken zur Kunstbeurteilung, andererseits grenzt sich seine transnationale Ausstellungsfiktion von ihr ab, insofern sie die Aufmerksamkeit der Salonkritik vom Künstler und seinem Werk abzieht und auf den Betrachter oder den Akt des Betrachtens verschiebt. Die ironische Übernahme eines französischen Figurenkabinetts scheint dem Wunsch zu entspringen, den omnipräsenten französischen Einfluss auf die deutsche Kunstbetrachtung und Kunstkritik einzuschränken und damit Raum für die Entwicklung einer erhofften deutschen Kunstnation zu schaffen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist die Verwendung der richtigen Kunstbegriffe, die der Betrachter als Instrumentarium seiner Kunstbeurteilung beiziehen soll. Damit trägt Mercks Schule des Sehens dazu bei, eine kunstkritische Öffentlichkeit auszubilden und dient darüber hinaus als Motivation, häufiger Ausstellungen in Deutschland zu veranstalten und diese in literarischen Zeitschriften zu kommentieren.
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Ebd., S. 36f. Vgl. Merck, Johann Heinrich, „Beschluß des Gesprächs in der Gallerie zu **“, in: Der Teutsche Merkur, 1781, 4, S. 261-270, hier S. 266.
Populäre Bilder. Die Visualisierung des Mikrokosmos in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Peter Heering In diesem Beitrag diskutiere ich die Bedeutung der mit einem Sonnenmikroskop möglichen Darstellungen des Mikrokosmos. Hierbei werde ich zunächst kurz das Gerät vorstellen und anschließend einige Erfahrungen diskutieren, die ich beim Arbeiten mit historischen Geräten machen konnte. Hierauf werde ich diese Erfahrungen im historischen Kontext diskutieren und anhand dieser Diskussion deutlich machen, wie die Popularität, welche die mit einem Sonnenmikroskop erzeugten Bilder im 18. Jahrhundert besaßen, erklärt werden kann. Das Gerät Sonnenmikroskope finden sich ab etwa 1740 in den Katalogen von Instrumentenmachern und werden insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr populär. Bei diesen Geräten handelt es sich um Projektionsmikroskope, die als Lichtquelle die Sonne nutzen. Die Projektionen finden in einem abgedunkelten Raum statt; das Sonnenmikroskop wird dabei so in die Verdunkelung eingesetzt, dass sich außerhalb ein Spiegel befindet, durch den Sonnenlicht auf eine Sammellinse gelenkt wird. Diese Linse bündelt das Licht, kurz vor dem Brennpunkt wird das Präparat platziert, das so sehr hell ausgeleuchtet wird. Hinter dem Präparat wird eine als Mikroskop dienende Linse (bei besseren Geräten auch ein Linsensystem) so platziert, dass das vergrößerte Bild auf einen Schirm oder die dem Gerät gegenüberliegende Wand projiziert wird (vgl. Abb. 1).1
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Das Präparat wird also von dem Licht durchleuchtet – es muss daher aber auch eine entsprechende Transparenz haben, sonst entsteht lediglich ein Umriss-Schatten.
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Die Visualisierung des Mikrokosmos in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Abb. 1: Projektionen mit dem Sonnenmikroskop
Dieses Bild wurde in einer Monografie von Martin Frobenius Ledermüller (1719–1769) veröffentlich und diente als Illustration eines Lehrtextes zur Verwendung des Sonnenmikroskops.2 In dieser Abbildung sind nicht nur das Gerät in seiner Funktion und ein projiziertes Bild zu sehen, sondern auch noch ein Tisch für Zubehör unter dem Gerät sowie ein weiterer kleinerer Schirm. Dieser dient zum Herstellen von Zeichnungen der Präparate, wobei durch die hohe Lichtintensität die Zeichnung auf der Rückseite des Schirms erfolgen konnte. Dies hat den Vorteil, dass die zeichnende Hand keinen Schatten wirft. Außerdem sind auf der Abbildung noch vier Stühle zu sehen, ein intendierter Hinweis darauf, dass diese Projektionen einem Publikum vorgeführt wurden. Zur Bedienung des Geräts war es nicht nur erforderlich, die Präparate zu wechseln und das Mikroskop so zu fokussieren, dass das Bild jeweils scharf erschien. Daneben musste auch noch der Spiegel etwa alle fünf Minuten nachjustiert werden, um die scheinbare Wanderung der Sonne zu kompensieren und somit für eine gleichmäßige Ausleuchtung des Präparats zu sorgen. Der Nachvollzug der Projektionen Im Rahmen eines Forschungsvorhabens am Deutschen Museum München hatte ich die Gelegenheit, zwei Originalgeräten aus dem 18. Jahrhundert für Projektionen zu nutzen.3 Eines der Geräte stammt aus der Werkstatt _____________ 2
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Ledermüller, Martin Frobenius, Nachlese seiner Mikroskopischen Gemüths- und Augen-Ergötzung, Nürnberg 1762. Ledermüller zählt wie August Johann Rösel vom Rosenhof (1705–1759) zu den Naturforschern, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts prachtvoll illustrierte Bände mit Naturbeobachtungen publizierten. Methodisch ist diese Studie eng an der Replikationsmethode orientiert, die seit fast 25 Jahren an der Universität Oldenburg verwendet wird. Für eine Diskussion dieser Methode siehe: Heering, Peter, Das Grundgesetz der Elektrostatik: Experimentelle Replikation, wissenschaftshistorische Analyse und didaktische Konsequenzen, Dissertation Oldenburg 1995, sowie Sichau, Christian, Die Viskositätsexperimente von J.C. Maxwell und O.E. Meyer: Eine wissenschaftshistorische Studie über die Entstehung, Messung und Verwendung einer physikalischen Größe, Berlin 2002.
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des englischen Instrumentenmachers Dollond. Diese Werkstatt hatte einen hervorragenden Ruf und galt insbesondere im Bereich optischer Instrumente als weltweit führend, insofern kann die Qualität dieses vermutlich um 1780 hergestellten Geräts als sehr hoch angesehen werden. Das andere von mir verwendete Gerät stammt von Friedrich August Junker, einem ehemaligen Feldprediger, der ab 1790 Sonnenmikroskope herstellte, die vornehmlich für den Schulgebrauch gedacht waren. Aus diesem Grund versuchte Junker auch, das Gerät so preiswert wie möglich herzustellen. Obwohl hierdurch vermutlich qualitative Abstriche zu erwarten waren, erfährt sein Instrument in der historischen Situation durchaus eine positive Beurteilung. So heißt es etwa in dem von Ludwig Christian Lichtenberg (1738–1812) gegründeten Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte: Ich habe dieses Sonnenmicroscop geprüft und gefunden, daß beyde Linsen nicht allein starke Vergrösserung, sondern auch ziemliche Hellung und große Deutlichkeit gewähren, die Objekte sind sehr gut gewählt und nett präparirt.4
An diesem Zitat wird neben der betonten Qualität des Geräts noch ein weiterer Aspekt deutlich: Es wurde von Junker nicht nur das Gerät ausgeliefert, sondern es gehörte eine Reihe von Präparaten dazu. Dies gilt auch für das von mir verwendete Gerät von Dollond, dieses wurde mit einer Reihe von Zubehörteilen und ebenfalls mit Schiebern, die Präparate enthielten, ausgeliefert. Bei beiden Geräten waren die Originalpräparate noch vorhanden und konnten auch für die Projektionen verwendet werden. Allerdings zeigte sich sehr schnell, dass die Präparate trotz einer äußeren Reinigung deutlich verschmutzt hatten und teilweise auch durch Pilzbefall verändert worden sind. Aus diesem Grund habe ich für die Projektionen auch noch eigene Präparate hergestellt. Das eigentliche Arbeiten mit dem Gerät hat sich als vergleichsweise unproblematisch herausgestellt, dies gilt insbesondere für das Sonnenmikroskop von Dollond. Bereits nach sehr kurzer Zeit war ich in der Lage, damit eine Projektion zu realisieren. Einschränkend ist aber hierbei festzuhalten, dass es zunächst einige Zeit benötigte, den zur Verfügung stehenden Raum (ein Labor mit Fenstern zu einem Innenhof, auf die im Sommer von etwa 10 Uhr bis 14 Uhr die Sonne schien) entsprechend vorzubereiten, d. h. vollständig zu verdunkeln und mit einer Leinwand auszustatten. Die wesentlichen Tätigkeiten am Gerät bestehen darin, die Präparate zu wechseln, die Bilder zu fokussieren und die Spiegel nachzujustieren. Für einen angemessenen Umgang mit dem Sonnenmikroskop von Junker mussten dagegen deutlich mehr Erfahrung gesammelt werden; dies ist letzt_____________ 4
Anonym, „Nachricht von einem brauchbaren und wohlfeilen Sonnen-Mikroskop“, in: Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte, 7/1791, 3, S. 84-87, hier 87.
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lich auf technische Unterschiede zwischen den beiden Geräten zurückzuführen.5 Wenn die erforderlichen Kompetenzen einmal erworben waren, war auch das Arbeiten mit diesem Sonnenmikroskop nicht sehr schwierig – allerdings auch dann noch nicht so einfach wie mit dem Gerät von Dollond. Schauen und Sehen Während des Arbeitens mit den beiden Geräten habe ich sowohl Projektionen dokumentiert als auch sie einem Publikum vorgestellt. Dabei zeigte sich, dass die projizierten Bilder durch ihre Helligkeit und Leuchtstärke beeindruckten.
Abb. 2: Projektion eines Mückenflügels, der Durchmesser des Lichtkreises beträgt 1,60 m.
Daneben wurde an den Reaktionen des Publikums auch deutlich, dass diese Projektionen eine völlig andere Wahrnehmung des Mikrokosmos ermöglichten. Dies möchte ich anhand einer Unterscheidung verdeutlichen, die der polnische Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck in einer ursprünglich 1947 erschienenen Arbeit zum Mikroskopieren vorgenommen hat: Um zu sehen, muss man wissen, was wesentlich und was unwesentlich ist, muss man den Hintergrund vom Bild unterscheiden können, muss man darüber orientiert sein, zu was für einer Kategorie der Gegenstand gehört. Sonst schauen wir, aber wir sehen nicht, vergebens starren wir auf die allzu zahlreichen Einzelheiten, wir erfassen die betrachtete Gestalt nicht als bestimmte Ganzheit.6
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Für eine Diskussion der technischen Entwicklung des Sonnenmikroskops siehe Heering, Peter, Experimentierstile in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Habilitationsschrift Universität Hamburg 2006. Fleck, Ludwik, Erfahrung und Tatsache, Frankfurt am Main 1983, S. 148.
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Dabei ist aber ein wesentlicher Aspekt, dass im Umgang mit einem Mikroskop nicht nur das Sehen, sondern auch das Schauen gelernt werden muss. Bei einem normalen Mikroskop entsteht das Bild erst im Auge des oder der Betrachtenden. Dabei ist es wichtig, dass dieses mikroskopische Schauen gelernt wird, andernfalls werden leicht Artefakte wahrgenommen und nicht als solche erkannt. Gerade dieses Schauen muss aber mit dem Sonnenmikroskop nicht gelernt werden, hier erscheint das Bild der mikroskopischen Präparate auf der Projektionsfläche und kann wie ein gewöhnliches Bild betrachtet werden. Damit bietet das Instrument die Möglichkeit, auch ohne mikroskopische Vorkenntnisse die Bilder der (mitgelieferten) Präparate nicht nur zu sehen, sondern auch zu diskutieren. Dieser Aspekt wird auch in historischen Bewertungen hervorgehoben, so charakterisierte etwa ein weiterer führender englischer Instrumentenmacher, George Adams (1709–1772), das Sonnenmikroskop folgendermaßen: Besides this particular Property it hath, that the Numbers of People may view an Object at the same Time, and may point to different Parts thereof, and by discoursing on what they see, may understand each other better, and more probably find out the Truth, than when they are obliged to look one after the other. (Adams 1747, 11).
Diese Möglichkeit zur kollektiven Betrachtung ist auch von Wissenschaftshistorikerinnen wie etwa Alice Walters als wesentlicher Grund der Popularität der Sonnenmikroskope im 18. Jahrhundert angegeben worden. Dabei verweist sie insbesondere auf die soziale Komponente der Geselligkeit, die auch für wissenschaftliche Praxis des 18. Jahrhunderts bestimmend war: The most challenging obstacle to overcome in the effort to associate science with politeness was dispelling contemporary caricatures of those interested in natural philosophy as solitary, pedantic, asexual, melancholic bores, more comfortable with the microscopic creatures found in pond water than with the polite ladies and gentlemen of society. To counter this image, polite science explicitly associated the study of natural philosophy with conversation, the fundamental activity of polite society.7
Gerade dieses Stereotyp mikroskopischer Praxis trifft aber nun gerade auf das Sonnenmikroskop nicht zu, worauf auch Walters hinweist und damit die Popularität dieser Geräte erklärt: Indeed, solar microscopes strongly encouraged common observation […] The popularity of these instruments in the eighteenth century undoubtedly derived in large part from their ability to illuminate the religiously and aesthetically inspirational microscopic world in polite social settings.8
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Walters, Alice N., „Conversation pieces: Science and Politeness in Eighteenth-Century England“, in: History of Science, 35/1997, S. 123-154, hier S. 126. Ebd., S. 141.
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Die Visualisierung des Mikrokosmos in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Auch wenn dieser Aspekt sicherlich zutreffend ist, geht Walters Analyse nach meinem Verständnis hier zu kurz. Es ist nicht nur die Möglichkeit der gemeinsamen, geselligen Betrachtung des Mikrokosmos, sondern es kommt nach meinem Verständnis eine weitere Komponente zu Tragen, die für die Mikroskopie durch Jutta Schickore bereits angesprochen wurde: The observer’s mental activities were understood to be one major factor conditioning the outcome of microscopical investigations. […] If the observers exerted strict control over their mental operations, they could prevent erroneous results.9
Vor diesem Hintergrund kommt der oben angesprochen Möglichkeit, mit dem Sonnenmikroskop Bilder zu sehen, ohne schauen zu müssen, eine ganz andere Bedeutung zu: Es ist gerade möglich, mikroskopisches Sehen zu erlernen, ohne über die sonst notwendige Kompetenz des mikroskopischen Schauens zu verfügen. Gleichzeitig verschiebt sich durch Berücksichtigung dieses Aspekt auch die Betonung des bereits angeführten Zitats von Adams: In dem von Walters entwickelten Kontext liegt die Betonung gerade auf der Geselligkeit, die das Sonnenmikroskop ermöglicht und die Adams auch anspricht. Aber nach meinem Verständnis liegt der Vorteil des Geräts für ihn noch auf einer anderen Ebene: Es ist gerade die Möglichkeit, bei der Entwicklung der Fähigkeit des mikroskopischen Sehens sich gemeinsam darauf zu verständigen, was denn die ‚Wahrheit‘ dessen ist, das auf dem Schirm abgebildet wird. In gewisser Weise lässt sich der Erfolg des Sonnenmikroskops also gerade mit dessen Potenzial in didaktischer Hinsicht erklären. Mikroskopisches und sonnenmikroskopisches Sehen Allerdings ist auch das mikroskopische Sehen mit dem Sonnenmikroskop deutlich unterschieden von dem mit einem gewöhnlichen Mikroskop möglichen. Dies wird deutlich, wenn zunächst einmal betrachtet wird, wie mit einem Mikroskop üblicherweise gesehen wird: Die Nutzerin oder der Nutzer blickt von oben in das Gerät hinein, schaut also in gewisser Weise in die Welt des Mikrokosmos.10 Dies wird auch durch den Augsburger Instrumentenmacher Georg Friedrich Brander (1713–1783) suggeriert, wenn er im Hinblick auf das Mikroskopieren schreibt: Was kan angenehmer und reizender seyn, als wenn wir, ohne aus unserer Stube heraus zu tretten, gleichsam eine neue Welt, oder wenigstens ganz neue, und uns
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Schickore, Jutta, „Ever-Present Impediments: Exploring Instruments and Methods of Microscopy“, in: Perspectives on Science, 9/2001, 2, S. 126-146, hier S. 128. Für eine differenzierte Diskussion dieses Aspekts mikroskopischen Sehens siehe Stadler, Ulrich, Der technisierte Blick: Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum, Würzburg 2003.
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bisher ganz unbekannt gewesene Einwohner derselben erblicken? Wie gereizt wird nicht unsere Aufmerksamkeit werden müßen, wenn wir in den kleinesten Waßertröpfgen bey einer unzähligen Menge der kleinesten Thiergen eben die Ordnung antreffen, die wir im großen und in dem ganzen Weltgebäude selbst bemerken?11
Das Mikroskop nimmt also eine Vermittlerrolle zwischen den makroskopischen Nutzern und Nutzerinnen und dem Mikrokosmos ein, es trennt und schafft gleichzeitig einen Zugang. Dies ist nun völlig anders bei den Projektionen mit dem Sonnenmikroskop, hier wird keineswegs in dieser Weise eine fremde Welt hineingeschaut. Vielmehr treten die ‚Einwohner‘, wie Brander sie bezeichnet, den sie ansehenden Personen gegenüber.
Abb. 3: Projektion eines Flohs für ein Publikum
Dies wird auch an der Beschreibung des Verhaltens eines Publikums deutlich, die durch einen Vorführer erfolgte: Das bekannte kleine Thier, den Floh meyne ich, lebendig in oben gedachter Größe [eines Löwen oder Elefanten, P.H.] zu sehen, erweckt, sonderlich beym schönen Geschlechte, kein geringes Vergnügen. Sie belachen seine wunderliche Gestalt, in der er auftritt. Mit Fingern weisen sie auf ihn: und schmecken eine große Süssigkeit der Rache; wenn sie für sein, ihnen angethanes Unrecht, Sarkasme gegen diesen Elenden ausstoßen. Nun sehen sie erst, den sie schon so lange gekannt haben, wie fürchterlich dieser ihr Erbfeind ist.12
Gerade dieser Aspekt der direkten Ansprache ist es, der deutlich macht, dass hier das Publikum nicht mehr den Eindruck zu haben scheint, dass es _____________ 11 12
Brander, Georg Friedrich, Beschreibung zweyer zusammengesetzten Mikroscope, Augsburg 1769, Vorbericht, o. P. Anonym, „Versuch über die Vortheile des Sonnenmikroskops“, in: Neues Hamburgisches Magazin, 119/1781, S. 457-479, hier S. 460.
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von dem gegenübertretenden Wesen getrennt ist. Allerdings ist ein unmittelbarer Kontakt nach wie vor nicht möglich, diese Beschreibung erinnert eher an das Verhalten des Publikums in einem Zoo, in dem auch die durch eine Glasscheibe oder ein Gitter von ihnen getrennten Tiere direkt angesprochen werden. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der in diesem Zusammenhang wesentlich ist: Das Publikum ist in gewisser Weise bei den Projektionen mit dem Sonnenmikroskop auch nicht mehr in der gewohnten makroskopischen Umgebung. Vielmehr ist ein neuer Raum geschaffen worden, der von der Außenwelt getrennt ist. Dies wird offensichtlich, wenn es plötzlich dunkel wird in dem Raum. Die Ursache ist klar – es hat sich eine Wolke zwischen die Sonne und den Spiegel des Geräts geschoben. Nicht klar ist aber wie groß diese Wolke ist und wie lange die Unterbrechung der Projektion dauern kann. So kann die Wolke sehr klein sein, und die Unterbrechung dauert nur einige Sekunden. Sie kann auch etwas größer sein und eine Unterbrechung von einigen Minuten erfordern. Es kann aber auch aufziehende dichte Bewölkung sein, die zum Abbruch der Vorführung zwingt. Dies lässt sich aus dem Raum heraus nicht feststellen, alles, was getan werden kann, ist im Dunkeln zu stehen und zu warten. Oder aber die Verdunkelung entfernen und nachzusehen – aber dann ist der Raum zerstört und Projektionen nicht mehr möglich, es sei denn, der Raum wird wieder hergestellt. Zusammenfassung Das Sonnenmikroskop hat sich im Nachvollzug als ein Gerät gezeigt, das vergleichsweise einfach einen Zugang zum Mikrokosmos eröffnet. Dabei ist dieser Zugang in spezifischer Weise von dem mit dem gewöhnlichen Mikroskop unterschieden: Einerseits wird nicht mehr von außen in die mikroskopische Welt hineingeschaut, sondern es wird eine Begegnung mit den (Bildern der) Einwohner dieser Welt ermöglicht. Andererseits sind die zu erwerbenden Kompetenzen deutlich verändert, mit dem Sonnenmikroskop muss nicht mehr das mikroskopische Schauen gelernt werden, sondern ausschließlich das mikroskopische Sehen. Gerade aus diesem Grund erscheint das Gerät in besonderer Weise geeignet, in der Vermittlung dieser Kompetenz des mikroskopischen Sehens eingesetzt zu werden. Insofern erklärt sich der Erfolg der Projektionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einerseits aus der besonderen Form des Zugangs zum Mikrokosmos, den die Bilder ermöglichen, zum anderen aus dem didaktischen Potenzial, das sie besitzen.
Pazifische Impulse. Entdeckungsreisen und visuelle Techniken der naturhistorischen Wissensrepräsentation Jan Altmann Mit ihrer so vollkommen andersartigen Tier- und Pflanzenwelt bedeuteten die Südsee und der australische Kontinent eine enorme Herausforderung für das naturgeschichtliche Wissen und seine Repräsentation am Ende des 18. Jahrhunderts. Der Kunsthistoriker Bernard Smith stellt in seiner zuerst 1960 erschienen und 1985 neu aufgelegten Pionierarbeit zur europäischen Wahrnehmung und Visualisierung der Südpazifikregion die These auf, dass das Auftauchen dieser neuen Welt nicht nur ganz allgemein die Herausbildung biologischen Denkens befördert hat, sondern ein entscheidender äußerer Faktor für das Aufkommen der Idee von der Entstehung der Arten gewesen ist.1 Darwin selbst beobachtete auf seiner Reise etliche australische Tiere, allerdings finden sich davon in seiner Zoology of the Voyage of the Beagle nur äußerst wenige.2 Das lag neben der kurzen Zeitdauer des Zwischenstopps, den die Beagle auf dem fünften Kontinent einlegte, vermutlich in erster Linie daran, dass sich während dieser Zeit kein geeigneter Künstler mehr an Bord befand, um das Gesehene zu dokumentieren. Ebenso wie die ‚Entdeckung‘ des Südpazifiks einschließlich des australischen Kontinents eine Randbedingung für die Umwälzung des Wissens von den Lebewesen war, wirkte dieses Ereignis auch auf die Theorie und Praxis des Ästhetischen zurück. Aufgrund der Leichtigkeit, mit dem der Südpazifik im Vergleich zu anderen Weltgegenden zu erobern und kolonialistisch einzuverbleiben war, bildete er zudem eine tabula rasa für die Fantasien des europäischen Imperialismus’. Noch bis vor kurzem hat sich die Forschung jedoch nur marginal mit den Wirkungen beschäftigt, die die Erkundung des Südpazifiks und Australiens durch die britischen und
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Smith, Bernard, European vision and the South Pacific (1768–1860). A study in the history of art and ideas, New Haven, London 1985. Darwin, Charles (Hrsg.), Zoology of the Voyage of the Beagle, London 1839/40.
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französischen Entdeckungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts auf die Kunst und die visuelle Kultur Europas hatte.3 Bezogen auf die lange Zeitspanne von zweieinhalb Jahrhunderten, während der die Europäer Südostasien und den amerikanischen Kontinent erkundet, erobert und kolonialisiert haben, ist die Zahl der bildlichen Zeugnisse bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts äußerst gering. Die wenigen überkommenen Zeichnungen und Gemälde scheinen die Produkte zufälliger und glücklicher Umstände zu sein, aber nicht auf Planung zu beruhen.4 Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen5, wurde bei den weitaus meisten Expeditionen kaum Wert gelegt auf die Zusammenstellung bildlicher Dokumentationen. Es existierte keine Tradition der Vermittlung oder Veröffentlichung visueller Informationen über das Entdeckte. Das oberste Gebot war Geheimhaltung. Die Künstler aus Europa wurden nicht zum Blick in die Neue Welt und nach Ostindien angehalten. Sie schauten kaum über den europäischen Tellerrand hinaus. Selbst der französische Weltumsegler Bougainville hatte noch keinen professionellen Zeichner mit an Bord genommen.6 So war es schließlich Joseph Banks, der bei James Cooks erster Südsee-Expedition (1768–1771) dazu überging, kompetente Zeichner mit auf Entdeckungsreisen zu nehmen und mit ihrer Hilfe die gesammelten Gegenstände und Beobachtungen bildlich festzuhalten.7 Die piktorale Wiedergabe und Dokumentation von teilweise nur kurzzeitig verfügbaren Objekten und der an ihnen durchgeführten Untersuchungen war eine Grundvoraussetzung für die weiterführende Forschung nach der Rückkehr einer Entdeckungsreise. Doch erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts gewannen wissenschaftliche Interessen entscheidenden Einfluss auf die Planung und Durchführung von Entdeckungsreisen. Neben der exakten kartografischen Erfassung der Küsten und Inseln kam es zunehmend auf die bildliche Darstellung der _____________ 3
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So nahm William Hodges (1744–1797), einer der herausragendsten englischen Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts, der sogar seinen Lehrer Richard Wilson übertraf, an der zweiten Cook-Reise teil, siehe David, Andrew / Joppien, Rüdiger / Smith, Bernard (Hrsg.), The Charts and Coastal Views of Captain Cook’s Voyages, New Haven, London 1988–1992. Smith, Bernard, Imagining the Pacific: in the wake of Cook’s voyages, New Haven, London 1992, S. 52. Etwa Jacques Le Moyne, John White und Theodore de Bry, siehe Alexander, Michael (Hrsg.), Discovering the New World. Based on the works of Theodore de Bry, London 1976; Hulton, Paul, The Work of Jacques Le Moyne de Morgues, 2 Bde., London 1977; ders., „Images of the New World. Jacques Le Moyne de Morgues and John White“, in: Kenneth Andrews/Nicholas Canny/Paul Hair (Hrsg.), The Westward Enterprise. English activites in Ireland, the Atlantic, and America 1480–1650, Liverpool 1978, S. 195-214). Der Naturforscher an Bord, Philibert Commerson, fertigte zwar Zeichnungen an, besaß jedoch nicht die Fertigkeiten eines ausgebildeten Künstlers, vgl. Smith, European Vision, S. 7. Siehe Gascoigne, John, „Joseph Banks. Mapping and the Geographies of Natural Knowledge,“ in: Miles Ogborn/Charles Withers, Georgian geographies: essays on space, place and landscape in the eighteenth century, Manchester, New York 2004, S. 151-173, hier S. 155.
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erkundeten Natur an. Darum wurde es bald zur Norm, dass professionelle Zeichner die ‚Crew‘ einer Forschungsreise komplettierten.8 In einer reziproken Bewegung festigten wiederum die beeindruckende Präsenz und das funktionale Potential der von den Künstlern geschaffenen Bilder die Stellung der Zeichenkunst bei der Planung und Ausrüstung nachfolgender Expeditionen. Verwissenschaftlichung von Entdeckungsreisen Konzentrieren möchte ich mich im Folgenden vorrangig auf die BaudinExpedition nach Australien (1800–1804).9 Hauptinitiatoren dieser unter dem Kommando von Nicolas Baudin (1754–1803) stehenden und vom napoleonischen Staat finanzierten Unternehmung waren das Muséum national d’histoire naturelle und das Institut de France. Der australische Kontinent war damals noch kaum erkundet und erst wenige Jahre zuvor von den Engländern in kolonialen Beschlag genommen worden. Trotz ihrer immensen wissenschaftlichen Erträge ist diese Schiffsexpedition bis heute außerhalb der Spezialforschung immer noch wenig bekannt. Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass im historischen Bewusstsein, bildlich gesprochen, von den Bugwellen der drei Cook-Reisen alle nachfolgenden Schiffsexpeditionen bis zur Reise der Beagle verschluckt wurden. Doch war weder jemals zuvor ein derartiges Unterfangen mit annähernd so viel wissenschaftlichem und künstlerischem Personal ausgestattet wie die Baudin-Expedition, noch hatte eine andere solche enormen Mengen an lebenden oder präparierten Tieren, ethnologischen Realien, wissenschaftlichen Aufzeichnungen und Bilddokumenten mit nach Europa gebracht.10 Den trotz aller geopolitischen Ambitionen bis dahin ungekannten wissenschaftlichen Anspruch des Unternehmens unterstreichen zusätzlich auch die Namen der beiden Korvetten, mit denen die Forscher nach Australien segelten: Le Géographe und Le Naturaliste. Mit Blick auf die Untersuchung wissenschaftlicher bzw. naturgeschichtlicher Illustrationen plädiert Martin Kemp dafür, das komplexe Bedingungsgefüge zu rekonstruieren, in dem sie entstanden sind.11 Es setzt _____________ 8 9 10 11
Bödeker, Hans Erich, „Aufklärerische und ethnologische Praxis: Johann Reinhold Forster und Georg Forster“, in: ders./Peter Hanns Reill/Jürgen Schlumbohm, Wissenschaft als kulturelle Praxis (1750–1900), Göttingen 1999, S. 227-253, hier S. 227. Horner, Franck, The French reconnaissance. Baudin in Australia (1801–1803), Carlton/Vict. 1987. Siehe dazu die in Vorbereitung befindliche Monografie des Verfs.: Zeichnen als Beobachten. Die Bildwerke der Entdeckungsreise zu den Terres Australes (1800–1804), Berlin. Kemp, Martin, „‚Implanted in our natures‘: humans, plants, and the stories of art“, in: David Miller/Peter Hanns Reill (Hrsg.), Visions of empire: voyages, botany, and representations of nature, Cambridge 1996, S. 197-229, hier S. 197.
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sich in erster Linie zusammen aus der offiziellen und ideellen Auftraggeberschaft, etwaigen institutionellen Initiativen, den Motivationen für eine Reise, den finanziellen Ressourcen für die Beobachtungen und die Buchproduktion sowie dem ins Auge gefassten und tatsächlich erreichten Publikum. Diese externen Faktoren schaffen die Voraussetzungen dafür, dass eine wissenschaftliche Begegnung mit einem Gegenstand sowie seine Erforschung und Vermittlung überhaupt stattfinden kann. Mir geht es jedoch weniger um diesen äußeren historischen Rahmen der wissenschaftlichen Tätigkeit und Bildproduktion, als vielmehr um die Bedingungsstrukturen, die „auf der Ebene des Wissens selbst“ und innerhalb der visuellen Praxis liegen.12 Zwischen den Erwähnungen von beobachteten Tieren im offiziellen Expeditionsbericht und den Illustrationen im dazu gehörigen Atlas besteht ein eher loses Verhältnis.13 Dies zeigt sich bereits darin, dass Text und Bild medial voneinander getrennt sind. Bei der Dokumentation einer für die Baudin-Expedition wesentlichen Gruppe naturhistorischer Objekte wie den „Mollusken und Zoophyten“ (Zooplankton und Weichtiere der Hochsee) fällt zudem auf, dass einige der Tiere hinreichend beschrieben, andere jedoch derart summarisch abgehandelt werden, dass die Abbildungen praktisch als alleiniger Informationsvermittler fungieren. Abb. 1: Charles-Alexandre Lesueur und Nicholas-Martin Petit, „Mollusques et Zoophytes“, Aquatinta, polychrom, 51 x 31 cm, Tf. 29 von Lesueur/Petit, Atlas.
Es kommt zwar darauf an, die Tiere immer auch schon bei ihrer schriftlichen Erwähnung im Expeditionsbericht für den Leser taxonomisch zu identifizieren, also die genaue Spezies zu nennen, doch bleibt die textliche Kennzeichnung auf die integrale Darstellung durch die zugehörigen Ab_____________ 12 13
Foucault, Michel, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 1988, S. 151. Péron, François, Voyage de découvertes aux Terres Australes, Paris 1807; Lesueur, Charles-Alexandre / Petit, Nicolas-Martin, Voyage de découvertes aux Terres Australes [...]. Atlas, [Paris 1807].
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bildungen angewiesen. Umgekehrt ist eine solche Abhängigkeit nicht gegeben. Sämtliche Bildtafeln sind bereits mit einer Legende versehen. Die Bilder des Atlasses brauchen die Beschreibungen des Expeditionsberichts nicht, so dass dem Atlas eine gewisse Autonomie zukommt. Er enthält alle für das Verständnis der Bilder notwendigen Angaben und kann auch ohne den begleitenden Text betrachtet werden Das Ende der Naturgeschichte14 Mit Blick auf die mikroskopische Präzision der Beobachtung, das zoologische Verständnis von Details und die Abbildungsgenauigkeit, sowie der schieren Menge an produzierten Bildern, übertrifft Charles-Alexandre Lesueur (1778–1846), der für die Naturgeschichte zuständige der beiden Künstler der Baudin-Expedition, die Zeichner aller vorangegangenen französischen Expeditionen, aber auch aller Reisen von James Cook und Joseph Banks. Er befindet sich damit auf dem gleichen künstlerischen Niveau wie Ferdinand Bauer (1760–1826), der zur selben Zeit die australischen Gewässer auf der Investigator unter Matthew Flinders bereiste (1801– 1803) und den die Kunstgeschichte mit Dürer verglichen hat.15 Trotz des von beiden Künstlern beherrschten eindrucksvollen Naturalismus’ finden sich auf der Ebene unterhalb des persönlichen Stils signifikante Differenzen in der Bildgestalt.
Abb. 2: Charles-Alexandre Lesueur, Korallenkrabbe, Aquarell, 16,5 x 21 cm
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Diese Formulierung ist entlehnt von Lepenies, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München, Wien 1976. Smith, European Vision, S. 189. Siehe Watts, Peter / Pomfrett, Jo Anne / Mabberley, David, An exquisite eye: the Australian flora and fauna drawings 1801–1820 of Ferdinand Bauer, Glebe/NSW 1997.
528 Entdeckungsreisen und visuelle Techniken der naturhistorischen Wissensrepräsentation
Auf den ersten Blick erscheinen die von Lesueur und Bauer stammenden Darstellungen einer Krabbe ausgesprochen ähnlich. Doch zeigen sich bei näherer Betrachtung entscheidende Unterschiede.
Abb. 3: Ferdinand Bauer, Blaue Schwimmkrabbe, Aquarell
Lesueurs Krabbe lebt, Bauers Krabbe ist bereits tot. Das Einfangen von Lebensechtheit spielt für Bauer zwar eine entscheidende Rolle, doch geht es ihm nicht um die Lebendigkeit des Organismus, sondern um das Leben der Art. Er steht damit in der Tradition einer naturhistorischen Anschauung, wie sie am prominentesten von Buffon vertreten worden ist. Für Buffon ist der ursprüngliche Sinn der Naturgeschichte die Konstruktion einer Ordnung der Lebewesen. Bauers Zeichnungen präsentieren die Tiere in völliger Reglosigkeit, als still gestellte Lebewesen und damit ähnlich wie Pflanzen. Die voneinander abweichenden Darstellungsweisen in den naturhistorischen Bildern von Lesueur und Bauer beziehungsweise der Baudin- und der Flinders-Expedition bringen unterschiedliche Formen des Wissens hervor. Zugleich sind die Bilder Lesueurs und Bauers sichtbare Verkörperungen der epistemischen Risse, die sich zwischen der alten und der neuen Wissensform, zwischen der Naturgeschichte und der möglich werdenden Biologie abzeichnet und die um 1800 noch nebeneinander besteht. Zwar war Bauer ein Zeitgenosse Lesueurs, doch gehören seine Zeichnungen (noch) einer anderen wissenschaftshistorischen und bildgeschichtlichen Schicht an.
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Von der taxinomischen Struktur zur biologischen Organisation Besonders brillierte die Baudin-Expedition in der Erforschung der Quallen. Diese taxonomische Familie wurde als systematische Entität überhaupt erst von François Péron (1775–1810), einem der Naturforscher an Bord, geschaffen. Der eng mit Péron zusammenarbeitende Künstler Lesueur konsultierte vor seiner Abreise in die Vereinigten Staaten als Mitglied der Expedition des Geologen William Maclure im Jahre 1815 die Zeichnungen der ersten Cook-Expedition (1768–1771) in der Bibliothek von Joseph Banks in London. In einer Marginalie auf der von Sydney Parkinson gezeichneten Medusa pelagica oder Leuchtqualle, weist Lesueur auf deren Verwandtschaft mit Pelagia panopyra aus dem Atlas der Baudin-Expedition hin.
Abb. 4: Sydney Parkinson, Leuchtqualle, zw. 1768 u. 1771, Bleistift u. Tinte, laviert, 23,5 x 28,5 cm,
Parkinson präsentiert die Leuchtqualle in vier beschrifteten Figuren. Während die Qualle in der Mitte zu schweben oder nach oben zu treiben scheint, taucht sie rechts scheinbar nach unten. Im Rahmen der BaudinExpedition findet sich die erste Wiedergabe dieser Quallenart in Baudins Bordtagebuch. Zwar bleibt diese Darstellung qualitativ noch weit hinter Lesueurs späteren Aquarellen zurück, doch besitzt sie – ebenso wie Parkinsons Zeichnung –, gemessen am damals sehr dürftigen Wissenstand
530 Entdeckungsreisen und visuelle Techniken der naturhistorischen Wissensrepräsentation
über die Quallen und den außerordentlich eingeschränkten Möglichkeiten ihrer Beobachtung Ansätze eines empirischen Naturalismus. George Forster (1754–1794) hat die Leuchtqualle auf der zweiten Cook-Expedition (1772–1775) ebenfalls gezeichnet.16
Abb. 5: Georg Forster, Leuchtqualle, zw. 1772 und 1775, Aquarell
Die bei Parkinsons Federzeichnung zu sehende feine Längsstreifung des Quallenschirms gibt Forster als geschwungene Streifen wieder, die wie auf die Qualle aufgemalt wirken statt sich innerhalb ihres Gallertkörpers zu befinden. Die dicken, roten Tentakel sehen aus wie die Äste einer Koralle. _____________ 16
Die Aquarelle Forsters wurden jüngst erstmalig publiziert: Forster, Georg, Reise um die Welt. Illustriert von eigener Hand, mit einem biographischen Essay von Klaus Harpprecht, Frankfurt am Main 2007.
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Forster erfasst die Qualle nicht als organische Einheit, sondern als komposite Naturerscheinung. Dies ist noch der Blick der klassischen Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts, der die Lebewesen nach ihrer äußeren, taxinomischen Struktur klassifiziert und nicht nach ihrer inneren, biologischen Organisation wie bei Lesueur und Péron. Die ersten Quallen, die die Expedition bei ihrer Fahrt über den Atlantik zur Île-de-France beobachtet hat, gehören zur Spezies Cuvieria carisochroma. Das zugehörige Velinenaquarell zeigt die häufig für die Quallenserie verwendete Kombination von Apikal- und Lateralansicht. Erstere verdeutlicht vor allem die orbikulare Form und das Gefäßnetz, letztere das diskoide Volumen und die Tentakel, die bei dieser Qualle sehr lang sind, aber auch sehr dünn und transparent, so dass sie auf dem cremefarbenen Blatt fast unsichtbar werden. Wie Péron beschreibt, ist der innere Bereich des Schirms von einem zarten Rosa und der Schirmrand goldfarben, die Gefäße sind himmelblau und die Tentakel karminrot.17 Ähnlich ist es in dem zugehörigen Velinenaquarell von Lesueur zu sehen, doch erscheinen hier die Organe und die Farbnuancen der Qualle dermaßen filigran, dass Pérons Worte kaum mitzuhalten vermögen. Lesueurs fein ziselierte Wiedergabe der Färbung und Gestalt des Tieres mutet naturgetreuer an als die verbale Darstellung Pérons. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Pérons Beschreibung, die auf der frühen Beobachtung dieser Qualle in der ersten Phase der Expedition beruht, insgesamt relativ unpräzise und noch mit Termini aus der Botanik durchsetzt ist. Auffällig ist, dass in den Illustrationen im Expeditionsatlas die Subtilität von Lesueurs Vorlagen teilweise verloren geht, denn die Farbgebung von Cuvieria carisochroma ist im Atlas kräftiger als in den Aquarellen.18 Das liegt nicht nur an gestaltungstechnischen Einschränkungen wie sie bei der Übertragung von einem Bildmedium in eine anderes auftreten (hier von der Zeichnung in die Druckgrafik bzw. vom Aquarell in die polychrome Aquatinta). Grund für die ‚stärker aufgetragene Farbe‘ in den Atlastafeln ist vielmehr eine generell in den Atlas-Illustrationen der Baudin-Expedition erkennbare Tendenz zur didaktischen Emphase.19 Angesichts solch in der Natur nur schwer zu beobachtenden, weil diaphanen und fragilen Lebewesen wie Quallen und anderen pelagischen „Mollusken und Zoophyten“ (Weichtiere der Hochsee) ging es um eine naturhistorische ‚Erziehung des Auges‘. _____________ 17 18 19
Péron, Voyage, S. 112 u. 114. Lesueur / Petit, Atlas, Tf. 30. Siehe dazu vom Verf., „Färbung, Farbgestaltung und früher Farbdruck am Ende der Naturgeschichte“, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, 4/2006, 1 (‚Farbstrategien‘), S. 69-77.
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Die Bildwerke der Baudin-Expedition markieren an der Wende zum 19. Jahrhundert einen Riss in der piktoralen Erfassung empirischen Wissens, der nicht nur diachron verläuft und die Voyage de découvertes aux Terres Australes von früheren Entdeckungsreisen scheidet, sondern auch synchron zwischen dieser und etwa der zeitgleichen Flinders-Expedition. Durch die Erkundung der Südpazifikregion und des australischen Kontinents sah sich das ausgehende 18. Jahrhundert mit einer Überfülle an epistemischen und visuellen Herausforderungen konfrontiert. Im Zuge ihrer Bewältigung entwickelten sich neuartige Visualisierungspraktiken und Bildstrukturen. Dazu gehörten eine zunehmende Empirisierung des Ins-Bild-Setzens und Umgestaltung tradierter Bildformen (naturhistorische Zeichnung, selbstständige Buchillustration) ebenso wie die organisierte Mitnahme professioneller Zeichner auf Expeditionen und die aufwändige Veröffentlichung der von ihnen angefertigten Darstellungen. Erst so konnte die Fülle an neuen Erfahrungen umgesetzt werden in ein rapide wachsendes Wissen. Durch die großen Entdeckungsreisen zwischen 1768 und 1804 bekam die naturhistorische Wissenskultur des 18. Jahrhunderts pazifische Impulse, die schließlich zu deren Ablösung beitrugen.
XI. GÄRTEN ALS EPISTEMOLOGISCHE MODELLE Einführung von Holger Zaunstöck Die Gärten des 18. Jahrhunderts sind eine Signatur der Epoche, und sie stellen zugleich ein fruchtbares, ausdifferenziertes Forschungsfeld zum Jahrhundert der Aufklärung dar. Neben der garten- und kunsthistorischen Forschung ist in diesem Kontext auf die dabei methodisch innovative Literaturwissenschaft zu verweisen.1 Aus Sicht der Geschichtswissenschaft stellen sich die Dinge anders dar. Im Zuge des kulturgeschichtlichen Aufbruchs des Faches hat sich in den zurückliegenden Jahren eine breite kommunikationsgeschichtliche Forschung entwickelt, die auch sozial- und politikgeschichtliche Themen und Fragestellungen aufnimmt. Das Aufklärungsjahrhundert wird dabei als ein Säkulum mit einer umfassenden, vernetzten und zunehmend intensivierten, auf einem ausdifferenzierten Mediensystem und einer funktionierenden Infrastruktur basierenden Kommunikationskultur beschrieben.2 Dabei stehen Fragen im Vordergrund, die kommunikative Vorgänge nicht mehr nur als einen eindimensionalen, statischen Akt des Transports einer Information von einem Sender zu einem Empfänger mit Hilfe eines Mediums beschreiben. Vielmehr interessiert die Vielschichtigkeit und Reziprozität von Kommunikationsabläufen. Gefragt wird nach deren Umständen und Hintergründen, nach den daraus resultierenden Zielen und der Auswahl der medialen Mittel sowie nach den Wirkungen, Reaktionen und Folgen: Kommunikationsvorgänge werden als _____________ 1
2
Oesterle, Günter / Tausch, Harald (Hrsg.), Der imaginierte Garten, Göttingen 2001 (Formen der Erinnerung, 9); Hoefer, Natascha N. / Ananieva, Anna, Der andere Garten. Erinnern und Erfinden in Gärten von Institutionen, Göttingen 2005 (Formen der Erinnerung, 22). Das aktive Forschungsfeld zu den Gärten hat sich auch in den Reaktionen auf den Call for papers zur Sektion gespiegelt – das interdisziplinäre, thematisch breit angelegte Tableau der Exposés hätte ohne weiteres die Gestaltung einer eigenen, mehrtägigen Tagung erlaubt. Stollberg-Rilinger, Barbara, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Leipzig 2000, S. 114-145; Müller, Winfried, Die Aufklärung, München 2002, S. 15-36, 107 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 61); Behringer, Wolfgang, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 189); Zaunstöck, Holger, „Zur Einleitung: Neue Wege in der Sozietätsgeschichte“, in: ders./Markus Meumann (Hrsg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 1-10 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 21).
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XI. Gärten als epistemologische Modelle. Einführung
produktive Akte aufeinander bezogener Partizipienten begriffen, die in den jeweiligen sozialen, kulturellen und politischen Kontexten begründet sind und daraus ihre Sinnhaftigkeit beziehen. Die Grenze zwischen aktiv Mitteilenden und passiv Empfangenden löst sich so auf. In diesem kommunikationsgeschichtlichen Großkontext führen die Gärten bislang ein Schattendasein. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen kulturgeschichtlicher Kommunikationsforschung und fachübergreifend ausdifferenzierter Gartengeschichte motivierte sich der Grundansatz für die Sektion: In einem interdisziplinären Gesprächszusammenhang sollten Wege und Ansätze gesucht werden, beide Forschungswelten produktiv aufeinander zu beziehen. Es gilt Fragen an die Gärten zu stellen, die den Blick auf die kommunikativen und medialen Figurationen des Gartenfeldes im Rahmen eines größeren gesellschaftsgeschichtlichen Panoramas schärfen. Entsprechende Überlegungen müssen von vornherein so ausgerichtet sein, dass sie für die Erkenntnisinteressen der unterschiedlichen Fächer anschlussfähig sind. Der Ausgangspunkt dafür ist die grundlegende Beobachtung, dass Gärten im 18. Jahrhundert als Wissensspeicher gedient haben. Der Wissensbegriff, der hier in Anschlag gebracht wird, ist im zeitgenössischen Verständnis offen: Neben verfügbarem und abprüfbarem Wissen in einem umfassenden Sinn zwischen Philosophie, Kunst und Ästhetik sowie Landwirtschaft und Technik, kommen auch esoterische bzw. arkangesellschaftliche Wissensbestände, politische Bedeutungskontexte (z. B. im Zuge der Neogotik) und Facetten des Zeitgeistes in den Blick.3 Daran anschließend lassen sich Fragen formulieren, welche die Sektion grundiert haben, und die auf die Analyse und Offenlegung von Kommunikationsstrategien über das Medium des Gartens im 18. Jahrhundert zielen: Welche Wissensbestände sind von wem auf welche Weise zu welchem Zweck und mit welchem Ziel in die Gärten und Parks einge_____________ 3
Siehe exemplarisch, insb. in Bezug auf den Wörlitzer Park: Hirsch, Erhard, Die DessauWörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen – Strukturen – Wirkungen, Tübingen 2003, insb. S. 405-426 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 18); Bechtoldt, Frank-Andreas / Weiss, Thomas (Hrsg.), Weltbild Wörlitz. Entwurf einer Kulturlandschaft, Ostfildern, Ruit 1996 (Kataloge und Schriften der Staatlichen Schlösser und Gärten Wörlitz, Oranienbaum, Luisium, 1); Niedermeier, Michael, „Die ganze Erde wird zu einem Garten“. Gedächtniskonstruktionen im frühen deutschen Landschaftsgarten zwischen Aufklärung und Geheimnis, in: Georg Bollenbeck/Jochen Golz u. a. (Hrsg.), Weimar − Archäologie eines Ortes, Weimar 2001, S. 120-175; ders., „Germanen in den Gärten. ‚Altdeutsche Heldengräber‘, ‚gotische‘ Denkmäler und die patriotische Gedächtniskultur“, in: Jost Hermand/ders., Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der „alten Freiheit“ der Germanen (1750−1820), Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 21-116; Umbach, Maiken, „Visual culture, scientific images and German small-state politics in the late Enlightenment“, in: Past & Present, 158/1998, S. 110-145; Der Vulkan im Wörlitzer Park, Vorstand der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz (Hrsg.), Berlin 2005 (Kataloge und Schriften der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, 25).
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schrieben worden? Und weiter: Wer sollte dieses Wissen empfangen und wer konnte es – in Form der gestalteten Landschaft und der darin befindlichen Architekturen und Kunstwerke – überhaupt lesen? Eine der Kernfragen ist also die Frage nach Exklusion und Inklusion. Daraus ergeben sich einfache, aber grundlegende bildungs- und sozialgeschichtliche Überlegungen: Wer hatte Zugang zu welchen Gärten, und wer war nach dem tatsächlichen Betreten eines oder mehrerer Gärten in der Lage, was zu verstehen und zu kontextualisieren? Von diesem Fragenkatalog und der damit einhergehenden Ablehnung einer Egalitätsannahme ausgehend, wonach sich im Prinzip jeder Zeitgenosse der Gärten annehmen und deren Wissenswelt entschlüsseln konnte, sollen Leitbegriffe vorgeschlagen werden, die das knapp skizzierte Arbeitsfeld umreißen und als heuristischer Orientierungsrahmen dienen: Wissensvielfalt – mediale Umsetzungen – Bedeutungsschichten – Lesehierarchien – graduelle Rezeptionen. In diesem Rahmen ist weiter nach der Aneignung kommunizierter Wissensbestände zu fragen: Was sehen die Menschen im Garten, und inwieweit deuten bzw. interpretieren sie dies individuell? Wird Kritik an Gartenkonzeptionen und damit in Verbindung stehenden Erkenntnismodellen geübt? Im Spannungsfeld zwischen den Intentionen des Gestaltens und Einschreibens sowie der Vielfalt des Erfahrens und Rezipierens wird der Garten zum kommunikativ strukturierten epistemologischen Modell.
Garten im Text und Garten als Text. Beschreibungen des Landschaftsgartens von Machern am Ende des 18. Jahrhunderts Christiane Holm Im Zuge ihrer Öffnung zu einer transdisziplinären Kulturwissenschaft hat die Literaturwissenschaft ihren Medienbegriff historisch-systematisch erweitert und zunehmend außertextuelle Medien einbezogen. Im Folgenden wird nach dem spezifischen Beitrag gefragt, den die Literaturwissenschaft aus der Perspektive ihres Bezugsmediums, des Textes, für eine fächerübergreifende Gartenforschung leisten kann. In einem ersten Schritt sollen einige bild- und textwissenschaftliche Zugriffe auf den Landschaftsgarten des ausgehenden 18. Jahrhunderts daraufhin befragt werden, wie sie den Garten als Medium fassen, um diese dann in einem zweiten Schritt am konkreten Material der Gartenbeschreibungen von Machern zu erproben. Diese Textgattung widmet sich nicht allein der Machart des Gartens, sondern auch den kulturellen Praktiken im Garten als einem Ort, an dem nicht nur eine Kanonisierung und Aktualisierung von Wissen erfolgt, sondern dieses Wissen überhaupt erst ausgehandelt wird. Im Folgenden liegt der Akzent weniger auf dem „Was“ denn auf dem „Wie“ der Wissensvermittlung und stellt dabei den Medienwechsel vom Garten zur Gartenbeschreibung, vom Raum zum Text ins Zentrum der Überlegungen. Denn sowohl der Garten als auch die Gartenbeschreibung sind, so der Ausgangspunkt aller Medientheorie, nicht verschiedene neutrale Behältnisse für einen festen Wissensbestand, sondern sie strukturieren diesen maßgeblich mit oder bringen ihn sogar erst hervor. 1. Zur Medialität des Gartens Der Landschaftsgarten ist ein plurimediales Phänomen: Er vereint den gestalteten Raum mit architektonischen und plastischen Elementen, auf die Bilder und Texte aufgebracht sind, er besteht zudem aus Gartengeräuschen und -gerüchen sowie nicht zuletzt aus taktilen Qualitäten. In seinen Gründungstexten wird der Landschaftsgarten nicht über ein normatives
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Garten im Text und Garten als Text
Idealmaß definiert, sondern als ein dynamisches Medium, das sich bedingt durch Tages- und Jahreszeiten, durch Licht-, Luft- und Feuchtigkeitsverhältnisse und natürlich durch die lebendige Vegetation in steter Veränderung befindet. In der zunächst kunstgeschichtlich bestimmten Gartenforschung wurde die in der Gartentheoriebildung selbst schon artikulierte Beziehung zum Landschaftsgemälde stark gemacht.1 Demnach wird der Landschaftsgarten nicht nur nach dem Vorbild von malerischen Ideallandschaften angelegt, sondern er übernimmt auch ihr bildnerisches Kompositionsprinzip als solches, wenn er verschiedene Bild- bzw. Landschaftselemente isoliert und miteinander kombiniert. Darüber hinaus ist das Bild auch rezeptionsästhetisch als Leitmedium im Garten verankert, da es nach dem in der Frühaufklärung entwickelten Verfahren der Rahmenschau konstruiert ist und dem Besucher gezielt verschiedene fenstergleiche Ausblicke anbietet. Im letzten Jahrzehnt hat die literatur- als auch die kunstwissenschaftliche Forschung diese Dominanz des Bildes als Referenzmedium des Gartens in Frage gestellt und dessen Bezüge zur Literatur herausgearbeitet.2 Berücksichtigt wurde nicht nur, dass in den Gartentheorien genauso literarische Ideallandschaften angeführt werden, wie etwa der Topus des locus amoenus oder die Gattung der Idylle, sowie die tragende Rolle der Gartenbeschreibung für die Herausbildung eines ästhetischen Selbstverständnisses. Vielmehr rückten bisher vernachlässigte Zugänge zum Garten in den Blick, die Tatsache nämlich, dass man ihn sich gehend erschließen muss. Dieser Ansatz konnte an literaturwissenschaftliche Forschungen zum „Spaziergang als Erzählmodell“ anknüpfen und entdeckte den Gartenweg als zentrales, Raum und Raumwahrnehmung strukturierendes Gestaltungselement.3 In diesem Zuge ließ sich das in der Gartentheorie selbst schon problematisierte Modell des Gartens als eine additive Abfolge von tableaux zugunsten eines dynamischen Wahrnehmungsgeschehens korrigieren. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die strukturelle Analogie zwischen der äußeren und inneren Bewegung des Spaziergängers und der Bewegung des Textes. _____________ 1 2
3
Stellvertretend sei hier auf das nach wie vor einschlägige Standardwerk verwiesen: Buttlar; Adrian von, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik [1980], erw. Neuausg., Köln 1989. Gamper, Michael, „Die Natur ist republikanisch“. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg 1998; Verschragen, Jeroen Leo, Die „stummen Führer“ der Spaziergänger. Über die Wege im Landschaftsgarten, Berlin, New York 2000; Tausch, Harald, „Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst“. Erdichtete Architekturen und Gärten in der deutschsprachigen Literatur zwischen Frühaufklärung und Romantik, Würzburg 2006. Wellmann, Angelika, Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg 1991; Albes, Claudia, Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, Tübingen 1999.
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Wie die Erinnerungsforschung zum Garten gezeigt hat, kann sich der Landschaftsgarten in einer Phase etablieren, in der die Vorstellungen von Gedächtnis und Erinnerung grundsätzlich zur Diskussion stehen.4 Es geht um die Umstellung von der – mit Aleida Assmann gesprochen – ars memoria zur vis memoria, in der das räumliche Gedächtnismodell von einem Wissensspeicher, in dem Bestände hinterlegt und jederzeit abgerufen werden können, an Plausibilität einbüßt. Zwar arbeitet der Landschaftsgarten mit seinen Kompilationen von Weltarchitekturen und Geschichtszitaten augenscheinlich mit dem räumlichen Speichermodell, dennoch wird genau dieser Eindruck in den Gartenbeschreibungen problematisiert, wenn das Abschreiten des Gedächtnisraumes keinesfalls verlässlich dasselbe Wissen hervorbringt. Gerade unter den wahrnehmungstheoretischen Vorgaben des Durchschreitens und des nun ausdrücklich ins Recht gesetzten, der Erinnerung verbundenen Vermögens der Imagination zeigen die Gartenbeschreibungen vielmehr, dass umgekehrt jeder Erinnerungsakt einen neuen Gedächtnisraum konstruiert. Im kulturwissenschaftlichen Dialog der Disziplinen haben die Kulturmodelle von Textualität und Performativität Konjunktur. Mit Blick auf die – freilich äußerst heterogene – Debatte zu „Kultur als Text“ ließe sich auch der Garten als Text verstehen. Spitzt man dies auf die semiologische Seite dieser Debatte zu, dann ließe sich der Garten als ein Gefüge von Zeichen einlesen. Dies birgt aber die Gefahr, dem Garten eine gewisse Festigkeit zu unterstellen, die er als natura naturans weder auf der Objektnoch auf der Wahrnehmungsseite haben kann. Die Performativitätsforschung, die in Abgrenzung zum Textparadigma hier vielmehr eine „Kultur in actu“ entwirft, wird hier stärker das Gartenerlebnis betonen, das keinesfalls alle Elemente mit Sinn belegt. Bezogen auf diese beiden kulturwissenschaftlichen Ansätze ließe sich ein Modell von Garten als Text, wie es in den Gartenbeschreibungen entworfen wird, dahin gehend konturieren, dass dieser Text in Bewegung ist, indem er sich erst im produktivrezeptiven Akt des Durchschreitens aufbaut.5 _____________ 4
5
Hier ist auf die umfangreichen Forschungen des Teilprojektes „Erinnern und Erfinden. Ein ästhetisch-soziales Wechselspiel zwischen poetisierten Gärten und Festen und literarischer Kunst des Erinnerns“ (Günter Oesterle, Harald Tausch, Ute Klostermann, Anna Ananieva) des Gießener Sonderforschungsbereiches „Erinnerungskulturen“ hingewiesen, stellvertretend sei genannt: Oesterle, Günter / Tausch, Harald (Hrsg.), Der imaginierte Garten, Göttingen 2001. Aktuell wird mit dem neuen literaturwissenschaftlichen Forschungsfeld der „Textbewegung“ ein Modell erschlossen, das sich auch für die Vermittlung der beiden kulturwissenschaftlichen Ansätze (Kultur als Text und Performativität von Kultur) fruchtbar machen lässt. Bezogen auf den literaturwissenschaftlichen Gegenstand geht es weniger um die Lesebewegung als um die Spannung zwischen Fixierung und Eigenbewegung des Textes selbst, wie sie in den Ästhetiken um 1800 und um 1900 manifest wird: Buschmeier, Matthias / Dembeck, Till (Hrsg.), Textbewegungen 1800/1900, Würzburg 2007.
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Garten im Text und Garten als Text
2. Medienreflexionen in Beschreibungen des Landschaftsgartens Machern Gartenbeschreibungen, das hat die Studie von Michael Gamper gezeigt, sind eine literarische Textgattung.6 Sie sind zugleich Werbetexte für die jeweilige Anlage, sie verstehen sich als Mittel einer allgemeinen, über Fragen der Gartengestaltung hinausgreifenden Geschmackserziehung, insbesondere als Seh- und Empfindungsschulen, und sie fungieren als Forum der Theoriebildung für die sich professionalisierende Gartenkunst. Betrachtet man sie mit Jürgen Fohrmann als „gelehrte Kommunikation“, dann fungieren sie gleichermaßen als Kommunikations-, Verbreitungs-, Darstellungs-, Arbeits- und Speichermedien.7 Eine solche Textgruppe liegt für den östlich von Leipzig gelegenen Landschaftsgarten Machern in ungewöhnlicher Konzentration vor: Innerhalb von nur vier Jahren erschienen neben drei Serien von Kupferstichansichten drei verschiedene Gartenbeschreibungen.8 Diese zeitliche Verdichtung hat den Vorteil, dass alle Texte unter fast denselben Rahmenbedingungen entstanden sind, was den Stand der Gartengestaltung sowie das aktuelle Theorieangebot betrifft. Carl Heinrich August Graf von Lindenau ließ den Garten auf der Grundlage der Rokokoanlage seines Vaters innerhalb von 15 Jahren, von 1782 bis 1797, nach dem ästhetischen Programm von Christian Cay Lorenz Hirschfeld einrichten. In der letzten Bauphase unter dem preußischen Architekten Ephraim Wolfgang Glasewald entstanden die aufwendigsten Staffagen, eine Pyramide, eine Burgruine und ein auf eine Quelle gesetzter Hygiea-Tempel. Bereits 1802 verkaufte der Graf, seit 1789 am Berliner Hof tätig, die gesamte Anlage und zog in sein bereits umgestaltetes Schloss Klein-Glienicke bei Potsdam (s. Abb.). Der kleine Einblick in die umfangreichen, teilweise reich bebilderten und mit ausgedehntem Anmerkungsteilen und botanischen Verzeichnissen, Bauplänen und Kartenmaterial versehenen Texte mit ihren völlig unterschiedlichen Wahrnehmungs-, Reflexions- und Wegführungen durch den Garten konzentriert sich im Folgenden auf die Medienreflexion im Verhältnis von Garten und Text. _____________ 6 7 8
Gamper, „Die Natur ist republikanisch“. Fohrmann, Jürgen (Hrsg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien, Weimar 2005. In den letzten Jahren erschienen einige Arbeiten zum Landschaftsgarten Machern, denen der vorliegende Beitrag viel verdankt: Ruge, Berit, „Der Landschaftsgarten Machern. Spiegel freimaurerischer Gesinnung versus mystische Initiationsreise im Geist des Ordens der Goldund Rosenkreuzer“, in: Quatuor Coronati, 40/2003, S. 121-154; Verschragen, Die „stummen Führer“ der Spaziergänger, S. 110-144; Gamper, „Die Natur ist republikanisch“, S. 83-113.
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3. Andreaes Machern (1796)9 Der Autor stellt seiner Beschreibung eine Reflexion über den Rezeptionsmodus voran und entwirft den idealen Besucher, den „Gefühlvollen“ (8) in Differenz zum „Fühllosen“ (1). Während ersterer den „Gang der Natur“ (3) im Garten wahrzunehmen versteht, bleibt der zweite an der „Oberfläche“ (1) hängen. Der „Fühlende“ wird durch die sprachlich variationsreichen, fast von Satz zu Satz wechselnden visuellen, akustischen, olfaktorischen und taktilen Reize in Bewegung gehalten. Ebenso wird seine innere Bewegung, die „Rührung“ (1), motiviert, indem er aufgefordert wird, persönliche Erinnerungen etwa an verstorbene Verwandte aufzurufen oder sich seinen Imaginationen an eine abwesende Geliebte zu überlassen. Zudem befindet sich sein Status als Wahrnehmungssubjekt in einem flirrenden Zwischenraum von Text und Garten, indem er mal als „Leser“ (11) eines Textes, mal als „Freund“ (7) vor Ort angesprochen wird und zwischendurch in hypnotisch-suggestivem „Du“ (9) geradezu traumwandlerisch einzelne Passagen allein zurücklegt. Als scheinbar unhinterfragtes Referenzmedium des Gartens wird mehrfach das „Gemälde“ (19) genannt, weil es im Gegensatz zur Literatur die gesehene „Mannichfaltigkeiten der Natur und Kunst […] die das Auge so gerne mit einem Blike umfassen möchte“ (5), simultan darzustellen vermag. Doch das Modell des Gemäldes steht nicht für den Garten als solchen ein, der ja vom Fühlenden ausdrücklich nicht auf die „Oberfläche“ reduziert werden soll, sondern sich vielmehr als multisensuelles Medium darstellt. Zudem wird die Voraussetzung der Rahmenschau nachhaltig dadurch untergraben, dass der „Fühlende“ sich nicht auf einen Betrachterstandpunkt festlegen lässt, sondern eher umgekehrt das Gesehene in Bewegung versetzt, so wie etwa beim Blick in den Bachlauf das „Bild […] über die Kiesel zu hüpfen scheint!“ (8) Diese Dynamisierung wird durch die „Rührung“ noch potenziert und zeigt sich paradigmatisch, als die Sprechinstanz im Winter den gerade erst fertig gestellten Turm der Ruine besteigt und dabei den Garten im Frühling imaginiert, sich also mit der Beschreibung explizit über das Gesehene hinwegsetzt. Spätestens hier tritt die Machart des Textes in Erscheinung, dem es folglich gar nicht um eine mimetische Wiedergabe geht, die „genau den Originalen entsprechen soll“ (16), sondern um die Einübung in die eingangs idealtypisch entworfene Wahrnehmungsdisposition. Dabei wird nicht zwischen realen und imaginierten Sinneseindrücken unterschieden, sondern es geht vielmehr darum, diese mit bestimmten Empfindungen zu korrelieren. Wird _____________ 9
Andreae, Paulus Christoph Gottlob, Machern. Für Freunde der Natur und Gartenkunst. Mit einem Plan und eilf colorierten Prospekten, gezeichnet von J. F. Lange, Leipzig 1796. Die Zitate nach dieser Ausgabe werden im folgenden Abschnitt direkt im Text nachgewiesen.
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Garten im Text und Garten als Text
dem Gemälde explizit zugestanden, den Garten in seiner Visualität besser abzubilden, so wird doch der Text implizit als das geeignetere Repräsentationsmedium des multisensuellen Gartenerlebnisses ins Recht gesetzt. 4. Thieles Spazierfahrt nach Machern (1798)10 Nachdem Andreaes Beschreibung und die ihm beigegebenen aufwendig kolorierten Illustrationen in der Rezension eines Fachorgans, des „Taschenkalenders für Natur- und Gartenfreunde“11, grundlegend kritisiert wurden, weil das Übermaß an Rhetorizität kaum noch etwas vom Garten vermitteln könne, tritt Ludwig Thiele mit einem neuen Entwurf an, der sich ausdrücklich von dem Vorgänger abgrenzt. Dabei stellt er jedoch nicht die theoretische Grundlage von Hirschfelds empfindsamer Gartenkonzeption in Frage und auch nicht den „poetischen Styl“ (19) der Gartenbeschreibung als einem „getreuen Abdruck unserer Empfindungen und Gefühle“ (20). En passant stellt Thiele verschiedene Gartenbeschreibungen mit anderen literarischen Texten in eine Reihe und wertet sie damit zu Literatur auf. Dabei tritt das Landschaftsgemälde in der medialen Bestimmung des Gartens zugunsten literarischer Vorbilder zurück. So wird der „Amor Grund“ mit einem Liebesgedicht Hagedorns dargestellt, weil ein Leser „leicht auf den Gedanken kommen kann, der Graf habe durch seine Anlagen Hagedorns Lehren versinnlichen wollen“ (39). Als Vorbild für das Bauernhäuschen zieht er eine Idylle Geßners heran, und die Burgruine sieht er in der „Epoche der Ritterromane“ (62) vorformuliert. Unter diesem lektüregeleiteten Zugang wird der Text zum Leitmedium des Gartens, der als Textkompilation, als raumgewordene Literatur in Szene gesetzt wird. Anders als sein Vorgänger verzichtet Thiele auf Illustrationen sowie einen botanischen Anhang und wählt das Taschenbuchformat, damit die Besucher es in den Garten mitnehmen können. Die spazierende Autorfigur scheint ihrerseits eine ganze Bibliothek im Handgepäck zu haben, aus der nicht nur Belege für gartengestalterische Ideen herangezogen, sondern auch Passagen zitiert werden, um ihren Empfindungen Ausdruck zu verleihen. So wird das Gartenerlebnis nicht allein über sinnliche Reize, wie bei Andreae, sondern vor allem literarisch generiert. Jedoch auch kulturgeschichtliche und philosophische Lesefrüchte werden dem Leser-Besu_____________ 10 11
Thiele, Ludwig, Die Spazierfahrt nach Machern, oder Taschenbuch und Wegweiser für die, welche von Leipzig aus den großen und schönen Garten daselbst besehen wollen, Leipzig 1798. Die Zitate nach dieser Ausgabe werden im folgenden Abschnitt direkt im Text nachgewiesen. Taschenkalender auf das Jahr 1797 für Natur und Gartenfreunde, Tübingen 1796, S. 200f.
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cher angeboten, denn „der Geist ist hier weit fähiger, als irgendwo, seine Betrachtungen über einen Gegenstand anhaltend fortzusetzen und auszudehnen, hier lockt alles zum Studieren.“ (32) An einer zentralen Stelle des Rundgangs, am Bauernhäuschen, imaginiert sich die Sprechinstanz in einen Leseurlaub hinein, der den ganzen Sommer währen soll und stellt sich dafür eine Gartenbibliothek zusammen. Nicht allein das literarische Wissen, sondern die Kulturpraxis des Lesens selbst wird, vermittelt durch das handliche Gartenbüchlein, zum integrativen Bestandteil des Gartenerlebnisses. 5. Glasewalds Beschreibung des Gartens zu Machern (1799)12 Nach Abschluss der letzten Bauphase erscheint die dritte Gartenbeschreibung von Machern von dem Architekten selbst, der sich ebenfalls im empfindsam-wirkungsästhetischen Konzept Hirschfelds positioniert. Naheliegenderweise interessiert diesen Autor als Macher des Gartens verglichen mit seinen beiden Vorgängern mehr die Medialität des Gartens als die der Gartenbeschreibung, und der Wechsel vom Garten zum Text wird nicht explizit Thema. Glasewald stellt dem Gang durch den Garten eine Reflexion des aktuellen Standes der gartentheoretischen Debatte voran. Er distanziert sich ausdrücklich von einer Gartenkunst, die den Garten zum „Flickwerk“ (3) vorformulierter Bild- und Textelemente macht, deren „Sprung oder zu kontrastirenden Übergang an die Kunst erinnert“ (5). Er begründet den Garten in paragonaler Zuspitzung als Supermedium im „Gewand der Natur“ (5), denn die Gartenkunst „raubt dem Mahler das Ideal seiner Landschaft, der Baukunst ihre Größe, und der Bildhauerei ihre Reize. Sie ist die einzige aller Künste, die sich nicht mit einem isolierten Theile der Natur begnügt – sie umfaßt das ganze Schöne derselben.“ (4) Dem „Gewand der Natur“ wird die Gartenbeschreibung dadurch gerecht, dass der in den Fußnotenapparat ausgelagerte Bereich der botanischen Anordnung den Haupttext zu wenigen Zeilen zusammenschiebt. Bis in die Grammatik hinein erlangt die Wahrnehmungsinstanz vergleichsweise selten Subjektstatus, während Wege oder Wasserläufe zu Akteuren der Bewegung geraten. Das wird dadurch verstärkt, dass der Garten anders als bei Andreae oder bei Thiele nicht einen abgeschlossenen Gefühls- oder Leseraum markiert, sondern sich erst über seine Ränder konstituiert. So wird immer wieder die parallel laufende Straße nach _____________ 12
Glasewald, Ephraim Wolfgang, Beschreibung des Gartens zu Machern mit besonderer Rücksicht auf die in demselben befindlichen Holzarten, Berlin 1799. Die Zitate nach dieser Ausgabe werden im folgenden Abschnitt direkt im Text nachgewiesen.
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Garten im Text und Garten als Text
Leipzig eingebunden, die „vorzüglich zur Zeit der Messe[…] Interesse in die Landschaft bringt“ (23). Diese Seitenblicke auf die bewegt-geschäftige Handelsstraße werden zur Folie für die spezifische Zeiterfahrung des Spaziergängers. Er soll Verlangsamung einüben, sich wie der Schwan in der Schwimmbewegung dem „Genusse der Gegenwart“ hingeben, „in welchem weder Vergangenheit noch Zukunft ihn stört“ (14), er soll am Grabmal nicht nur des Vergangenen gedenken, sondern auch „der Schnelligkeit der Zeit“ (20), die in die Zukunft eilt, und schließlich soll die Ritterburg „die Erinnerung der Vorzeit so lebendig“ in ihm hervorbringen, mit welcher „unser Jahrhundert einen so gewaltigen Contrast macht.“ (61) 6. Zusammenfassung Die von 1797 bis 1799 direkt hintereinander erschienenen Beschreibungen des Landschaftsgartens Machern bringen, trotz des gemeinsamen Bezuges auf Hirschfelds Gartentheorie, drei völlig unterschiedliche Gärten hervor. Alle aber zeichnen sich gleichermaßen durch ein hohes Medienbewusstsein aus, indem sie sich zum Bild als alternativen Repräsentationsmittel in Beziehung setzen und weniger den Garten als solches, als den Aneignungsprozess des Gartens zum Gegenstand der Beschreibungen machen. Diese im Textmedium einholbare Dynamisierung wird auf unterschiedliche Weise gestaltet: als Fluss der Empfindungen, als Gang der Lektüre oder als Inszenierung des Zeitempfindens selbst.
Abb. Landschaftsgarten Machern bei Leipzig, kolorierter Kupferstich. Kartenbeilage aus: Andreae, Paulus Christoph Gottlob, Machern. Für Freunde der Natur und Gartenkunst, Leipzig 1796.
Ewige Fortschreitung zur Vollkommenheit. Das Grab im Garten und das Geheimbundwesen um 1800 Sascha Winter Seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in zahlreichen europäischen Gärten unterschiedliche Formen und Typen von Grabanlagen ausgeführt. Neben historisierenden Mausoleen und Grabzeichen, wie etwa Pyramiden, Tempel, Kapellen, Urnen, Sarkophage und Obelisken, finden sich auch Hügelgräber sowie naturbelassene, mitunter anonymisierte Grablegen. Die Stätten der Toten sind zumeist gestaltete Naturräume, z. B. Heilige Haine, Elysäische Felder, Inseln der Seligen oder historisch konnotierte Orte, die in den räumlichen und ideellen Kontext der Gartenanlagen eingebunden wurden. Die vielgestaltigen ‚Gartenbilder‘ reflektieren zumeist einen komplexen Referenzhorizont mit Bezugnahmen in Kunst, Literatur, Geschichte, Philosophie u. v. m. Damit sollten bei einem entsprechend gebildetem Betrachter vielfältige Imaginationen, Assoziationen und Emotionen hervorgerufen werden.1 In der Gartenforschung ist es spätestens seit den 1980er Jahren eine Art offenes Geheimnis, dass die künstlerischen Konzeptionen und Programme einiger Gärten des 18. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika von geheimgesellschaftlichen, besonders freimaurerischen Ideen beeinflusst wurden. Daher soll mit dem vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen werden, inwiefern auch einige Grabanlagen und Gartenbestattungen von geheimgesellschaftlichen Vorstellungen geprägt wurden. Dabei interessieren zunächst die künstlerisch-medialen Möglichkeiten, Gartenräume nebst Grabmälern mit spezifischen Bedeutungen bzw. (Geheim-)Wissen aufzuladen. Diese gilt es, den Intentionen der Auftraggeber sowie den möglichen zeitgenössischen Wahrnehmungen und Deutungen gegenüber zu stellen. Adrian von Buttlar hat vor über einem Jahrzehnt das Phänomen der „echten“ Gräber in Gärten erstmals in naturreligiöser, insbesondere frei-
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Das Phänomen der Gräber in Gärten um 1800 wird vom Verf. gerade im Rahmen einer Dissertation (bei Prof. Dr. Michael Hesse, Universität Heidelberg) eingehender untersucht.
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Das Grab im Garten und das Geheimbundwesen um 1800
maurerischer Perspektive in den Blick genommen.2 Die Gartengräber fänden sich laut von Buttlar zwar nicht ausschließlich in Freimaurer-Kreisen, doch stellten sie innerhalb des umfangreichen Grabmälerbestandes eine wichtige Auftraggeberschaft dar. Zudem weist er darauf hin, dass „die Entwicklung zur Hochgradmaurerei und das Aufblühen mystisch-okkulter Systeme (Rosenkreuzer, Strikte Observanz, Tempelherren etc.) im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht nur zu politischen Widersprüchen, sondern auch zu einer eklektischen Verwirrung ikonografischer Traditionsstränge, die durchaus heterogene Konnotationen“ zuließe, führte. Folglich versucht von Buttlar anhand ausgewählter Gartenprogramme eine „idealtypische Abfolge von Gartenmotiven“ zu interpretieren, die „für das geistige Klima der Epoche auch jenseits nachweisbarer Logen-Zugehörigkeit repräsentativ“ erschiene. Dabei könne eine Beisetzung in der idealisierten Natur „als letzte und nunmehr reale Station einer Lebensreise, die ethische Vervollkommnung im Diesseits [suche] und Transzendenz als Metamorphose in einen höheren Naturzustand“ verstehe, angesehen werden. Für eine paradigmatische Fallstudie konzentriert sich von Buttlar hauptsächlich auf die Grabstätte Friedrichs des Großen in Sanssouci.3 Der Preußenkönig, der seit 1738 dem Freimaurerbund angehörte, hatte bereits 1744 – noch vor Baubeginn des Schlosses – auf der östlichen Seite der obersten Terrasse heimlich seine Gruft einrichten lassen.4 Die Grablege wird durch eine Flora-Zephir-Skulptur bezeichnet und halbkreisförmig von römischen Kaiserbüsten sowie einem Lerchenhain umfangen. Außer der strikten Geheimhaltung der Gruft und deren Positionierung auf der Ostseite der Terrassen verdiene, nach von Buttlar, vor allem die durchaus freimaurerisch zu lesende Gestaltung der Hauptachse zum Schloss (mit Sphingen, den Vier Elementen, dem Ruinenberg etc.) mehr Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt stützt sich von Buttlar bei seiner Deutung auf das posthum entstandene Gemälde von J. C. Frisch, Friedrich II. und der Marquis d’Argens besichtigen den Gruftbau in Sanssouci (1802). Die Darstellung mit einer offenkundig freimaurerischen Ikonografie verdeutlicht, dass die Grablege und der Wunsch einer Gartenbestattung bereits um 1800 von Zeitgenossen aus dem Umfeld Friedrichs durchaus in Bezug zur Freimaurerei gesetzt wurden.
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Buttlar, Adrian von, „Das Grab im Garten. Zur naturreligiösen Deutung eines arkadischen Gartenmotivs“, in: Heinke Wunderlich (Hrsg.), „Landschaft“ und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1995, S. 79-119; hier auch die folgenden Angaben. Siehe auch Buttlar, Adrian von, „Sanssouci und der ‚Ewige Osten‘. Freimaurerische Aspekte im Garten Friedrichs des Großen“, in: Die Gartenkunst, 6/1994, S. 219-226. Giersberg, Hans-Joachim / Krüger, Rolf-Herbert, Die Ruhestätte Friedrichs des Großen zu Sanssouci, Berlin 1991.
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Wenden wir uns im Anschluss an von Buttlar weiteren Grabanlagen zu, die für unsere Fragestellung interessant erscheinen. Besonders bemerkenswert ist beispielsweise ein Familienbegräbnis, das Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe 1776 in einem Waldgelände seines Sommersitzes Baum, unweit Bückeburgs, für sich, seine Frau und seine dreijährig verstorbene Tochter einrichtete.5
Abb. 1: Baum, Grund- und Aufriss sowie Ansicht des „Ruhegartens“ und des Mausoleums, um 1776 (Original verschollen)
Erste Ideen zu einer Art Mausoleum finden sich bereits 1775 in Wilhelms Tagebuch. Eine flüchtige Skizze zeigt einen mit „MYSTERIUM“ bezeichneten oktogonalen Kuppelbau, von dem aus ein geschlängelter Pfad zu einem runden Platz führt.6 Seitlich stehen u. a. die Anmerkungen „Temple du Mistère, Tempel des Geheimnisses, mit Emblem des Todes, des Schlafes, der Ruhe, des Schweigen’s, Nahmen Züge einiger entschlafener – Urnen mit Gebein u. Beinasche“. Zur Ausführung kam schließlich eine gestufte Pyramide inmitten einer separaten, labyrinthartig angelegten Gartenszene, dem so genannten „Ruhegarten“ (Abb. 1). Auf den Treppenab-
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Siehe vor allem Schweinitz, Anna-Franziska von, Die landesherrlichen Gärten in SchaumburgLippe von 1647 bis 1918, Worms 1999, hier S. 150-159. Ebd., S. 150.
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sätzen der von einer Sphäre bekrönten Grabpyramide waren einst verschiedene Topfpflanzen aufgestellt. Im Giebelfeld des nach Osten orientierten Portikus ist ein Medaillon mit zwei sich vereinigenden Händen angebracht, von denen eine aus den Wolken kommt. Die beistehende Inschrift lautet: HEILIGE HOFNVNG! AVSFLVS GÖTTLICHER KRAFT QUELLE DES BEGLVCKENDEN GEDANKEN DASS VERBINDUNGEN WELCHE DEN ERKENNTNISFÄHIGEN THEIL VNSERER WESEN VEREINIGEN, ALLEN UMBILDUNGEN DES WANDELBAREN OHNGEACHTET VNZERSTÖRBAR BESTEHEN.
Über einem Portal zum abgegrenzten Gartenbereich war unter einer Spirale mit Sonnenscheibe die vergoldete Inschrift angebracht: EWIG IST DIE FORTSCHREITVNG DER VOLLKOMMENHEIT SICH ZV NÄHERN OBWOHL AM GRABE DIE SPVR DER BAHN VOR DEM AVGE VERSCHWINDET.
Der Grabbau in Baum gilt als eine der ersten realen Grabpyramiden im Europa der Neuzeit. Allgemein lässt sich in europäischen Gartenanlagen jedoch bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein Rezeptionsschub von Pyramidenbauten erkennen. Annette Dorgerloh und Michael Niedermeier haben jüngst konstatiert, dass „im Erinnerungskult des frühen Landschaftsgartens genealogisches Denken und eine Wiederaufnahme ägyptischer und antiker Natur- und Mysterienkulte zu einer neuen Nutzung der Pyramide als Bauform führten.“7 Bislang fehlen schriftliche Zeugnisse, die eine Zugehörigkeit Wilhelms zu einer Freimaurer-Loge belegen. Hingegen taucht sein Vater, Albrecht Wolfgang, in den Listen der Londoner Loge „Rummer and Grapes“, eine der vier Gründungslogen der 1717 konstituierten Großloge von London und Westminster, auf.8 Zudem war dieser maßgeblich an der Aufnahme Friedrichs des Großen in den Freimaurerbund beteiligt. In der Forschung ist mit Blick auf einzelne Elemente der Baumer Grabanlage (Inschriften, Pyramide, Dreieck, Sphäre, Sonne etc.) wiederholt auf mögliche Verbindungen Wilhelms zur Freimaurerei hingewiesen worden.9 Anna-Franziska von Schweinitz interpretiert die Grabstätte jedoch eher als einen toleranten, aufgeklärten und liberalen Weltentwurf, den Wilhelm am besten
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Dorgerloh, Annette / Niedermeier, Michael, „Pyramiden im frühen Landschaftsgarten“, in: Pegasus, 7/2005, S. 133-161. Lennhoff, Eugen / Posner, Oskar / Binder, Dieter A., Internationales Freimaurerlexikon [1932], überarb. u. erw. Neuaufl., München 2003, S. 744f. U. a. Kirsch, Rolf, Frühe Landschaftsgärten im niedersächsischen Raum, Göttingen 1993, hier S. 50-53; Köhler, Marcus, „‚Nicht konnt’ ihn die Einsamkeit vor Leid bewahren...‘ Das Jagdschloss Baum des Grafen Wilhelm im Bückeburger Wald“, in: Mitteilungen der Pücklergesellschaft, N. F. 9/1993, S. 41-77.
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mittels einer freimaurerisch inspirierten Formensprache hätte darstellen können.10 Damit ist ein Grundproblem in der Gartenforschung angesprochen: Lassen sich geheimgesellschaftlich-epistemologische Modelle in Gartengestaltungen zwar vereinzelt zeigen, so fehlt es doch zumeist an konkreten Aussagen darüber, wie diese hermetischen Konzeptionen von Zeitgenossen wahrgenommen und reflektiert wurden. Für die Anlage in Baum hat Michael Niedermeier jedoch ein aufschlussreiches Dokument aufgespürt. Es handelt sich um eine Rede, die der bekannte Illuminat und Freimaurer Rudolf Zacharias Becker 1785 vor einer IlluminatenVersammlung in Gotha hielt. Darin berichtet er auch von seinem Besuch der Baumer Grabstätte: Welch herrliche Vorstellung der Reise des denkenden Menschen durch das Leben. Der krumme dornige und rauhe Pfad führt zum stillen Grabe [...]. Vom Grabe erhebt sich der Pfad auf blumichten Stufen immer höher bis zur obersten, wo das Mannigfaltige in Eins zusammen fließt, und das Haupt des Pilgers, der den Pfad hinaufklimmt, unter den Sternen schwebt. Den krummen dornigen Pfad übersieht er nun mit einem Blick unter seinen Füßen, und bemerkt auf ihm die Früchte des edlen Saamens, den er in seinem Zeitalter ausstreute. Und auch hier noch besteht das Band, das den edlen Geist mit seines Gleichen hier verknüpfte. Sie sehen, meine theuersten Brüder, hier denselben Weg, dasselbe Ziel, das wir kennen und führen, und die Thaten des Mannes beweisen.11
Die weltanschaulich-kosmologische Lesart Beckers beweist nun selbstverständlich nicht, dass es sich um die Grablege eines Freimaurers oder Illuminaten handelt. Viel bemerkenswerter zeigt sie, dass die Anlage von Zeitgenossen mit entsprechendem ‚Geheimwissen‘ durchaus so verstanden werden konnte. Interessanterweise erschien zudem eine bildliche Darstellung des Baumer Mausoleums mit Beschreibung im Journal von und für Deutschland (1787, 12. Stück), dessen Herausgeber, Leopold Friedrich Günther von Goeckingh und Philipp Anton von Bibra, Illuminaten waren.12 Die nächsten Beispiele sollen uns neben künstlerisch-gestalterischen Fragen einen Einblick in mögliche freimaurerische Bestattungsformen und -praktiken geben. Sowohl Friedrich der Große als auch Wilhelm von Schaumburg-Lippe hatten in ihren Testamenten recht knapp verfügt, dass sie bei Nacht in aller Stille, ohne jegliches Trauerzeremoniell und Gefolge bestattet werden wollten.13
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Vgl. Schweinitz, Die landesherrlichen Gärten, S. 159. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Freimaurer 5.2. G39, Nr. 112, Dok. 73 II; Niedermeier, Michael, „Gedächtniskonstruktionen. Pyramiden und deutsche Adelsgenealogie in Literatur und Gartenkunst“, in: Pückler, Pyramiden, Panorama. Neue Beiträge zur Pücklerforschung, Cottbus 1999, S. 54-74, hier S. 55-58. Ebd., S. 71, Anm. 7. Vgl. Schweinitz, Die landesherrlichen Gärten, S. 150-159; dies., „Architektur für die Ewigkeit. Der Begräbnisgarten des Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe“, in: kritische berichte, 2/2001, S. 21-29.
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Abb. 2: Gotha, Ansicht der Begräbnisinsel im Herzoglichen Park, nach Rudolph Johann Eyserbeck, um 1822–1825
Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, ein führender Freimaurer und Illuminat, legte indes in seinem Testament von 1799 sorgfältig fest: Sterbe ich hier zu Gotha, so verlange ich die Insel auf dem Teiche in meinem Garten zur Ruhestätte, jedoch nicht in das daselbst befindliche Gewölbe, in welchem 2 meiner Kinder ruhen, sondern oben und neben dem Gewölbe, in die bloße Erde. [...] Ich verlange aus dem Sarge genommen in ein leinenes Tuch in gewöhnlicher alltäglicher Kleidung gewicklet und solchergestalt in die blanke Erde begraben zu werden.14
Zudem verbat er sich ausdrücklich jegliches Denkmal, lediglich ein Baum sei gestattet, da dieser seine gänzliche Auflösung befördern würde. Später fügte er noch hinzu, dass er in militärischer Uniform und dem „christlichen Gebrauche nach mit dem Gesichte gegen Morgen“15 bestattet werden wolle. Bei seiner Beisetzung im Jahr 1804 trugen genau mit dem Glockenschlag zur Mitternachtsstunde zwölf Grenadiere den Sarg vom Schloss hinunter in den Park. Als der Trauerzug auf der so genannten „Heiligen Insel“ angelangt war, hoben die Kammerdiener den mit einer Reiteruni-
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Testament vom 01. Mai 1799, zit. n. Beck, August, Ernst der Zweite. Herzog zu Sachsen-GothaAltenburg als Pfleger und Beschützer der Wissenschaft und Kunst, Gotha 1854, S. 413. Nachtrag zum Testament (05.07.1799) vom 12. April 1804, zit. n. Beck, Ernst der Zweite, S. 416.
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form bekleideten Leichnam aus dem Sarg und bestatteten ihn in einem lediglich mit Rasen ausgelegtem Grab. Die Beisetzung um „Hoch-Mitternacht“ wurde vom ersten Marschalls-Stabs-Führer der Gothaer Loge „Ernst zum Kompaß“ angeordnet.16 Die Zeitangabe „Hoch-Mitternacht“ steht in der Freimaurerei für das Ende der maurerischen Arbeitsstunden und kann hier wohl als symbolisches Ende der irdischen Maurerarbeit Ernsts II. verstanden werden.17 Aber mit dem „Gesichte gegen Morgen“ erhoffte er, den unmittelbaren physischen wie spirituellen Übergang von Körper und Seele in den ewigen Kreislauf der Natur zu erwirken. Als Zeichen der Unsterblichkeit und den Vorstellungen des Herzogs entsprechend pflanzten Freimaurerbrüder eine Akazie auf die Grabstelle, die in bildlichen Darstellungen (Abb. 2) der Begräbnisinsel deutlich zu erkennen ist.18 Eine vergleichbare Bestattung wählte Fürst Friedrich Wilhelm von Hessenstein. Im Park seines Landgutes Panker ließ dieser sich im Jahr 1808 auf der höchsten Erhebung der Gartenanlage, von wo aus der Besucher einen weiten Blick über den gesamten Gutsbezirk bis zur Ostsee genießt, beisetzen. Dabei wünschte er, „das Angesicht gegen das Morgenlicht und den Spiegel des unendlichen Meeres gekehrt“.19 Bis zum Tage der Beerdigung wurde sein Leichnam in einer kleinen Eremitage auf einer Parkinsel aufgebahrt, da er weiterhin erbat, „ihn gleich nach dem Hinscheiden der Natur zu weihen“, um zu verhindern, dass sein „entseelter Körper länger in der lärmenden Behausung der Lebenden verweile“. Und hatte Friedrich Wilhelm II. von Preußen, Mitglied des Ordens der Goldund Rosenkreuzer, 1786 noch den Wunsch Friedrichs des Großen, auf der Terrasse von Sanssouci bestattet zu werden, mit Rücksicht auf die Staatsräson missachtet, dachte er 1795 selbst über eine Erdbestattung im Neuen Garten zu Potsdam nach. In einem Brief äußerte er dazu, dass er glaube es werde mir besser gefallen in die Erde gelegt zu werden als in einer Gruft platziert zu werden, da die Verwesung dort weniger behindert würde, und dass es mir mehr in den Gesetzen der Natur zu entsprechen scheint.20
Der Wunsch einer direkten Erdbestattung gründete deutlich in der Ansicht, dass Werden in der Natur nur durch Vergehen möglich sei und so in
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[Reichard, Heinrich August Ottokar,] Versuch einer Geschichte des D. G. U. V. Ernst zum Kompass und ihrer älteren Schwestern im Orient zu Gotha [...], [Gotha] 1824, S. 38f. Vgl. Lennhoff/Posner/Binder, Internationales Freimaurerlexikon, S. 396. Vgl. [Reichard,] Versuch einer Geschichte des D. G. U. V, S. 41. Zit. n. Messerschmidt, Thomas, „Panker und Hessenstein“, in: Adrian von Buttlar/Margita M. Meyer (Hrsg.), Historische Gärten in Schleswig-Holstein, Heide 1996, S. 464f., hier auch die folgenden Angaben. Brief vom 02. Juni 1795 an Wilhelmine Ritz, zit. n. Hagemann, Alfred, „Ein Philosophengrab für einen armen Sünder? Überlegungen Friedrich Wilhelms II. zu einer Bestattung im Neuen Garten zu Potsdam“, in: kritische berichte, 4/2005, S. 91, Anm. 29.
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ihr ewige Verwandlung herrsche. Die Anschauung, welche die physische Vergänglichkeit, die Verwesung des Körpers, nur als Übergang zu einem Höheren und Besseren erkennen wollte, wurde in den Diskursen des späten 18. Jahrhunderts vielfältig thematisiert.21 Abschließend seien die wesentlichen Beobachtungen und Überlegen nochmals zusammengefasst. Die hier in kürze vorgestellten Beispiele haben bereits gezeigt, dass innerhalb des vielgestaltigen Bestandes von Gartengräbern keine eigenständigen Typen oder Formen für Mitglieder einer Geheimgesellschaft ausgewiesen, allenfalls Präferenzen (etwa die Pyramidenform oder die Erdbestattung) angenommen werden können. Bei der geheimgesellschaftlichen Identifizierung und Interpretation von Grabund Gartenanlagen gilt es, die Wahrnehmungs- und Deutungspluralität von Bildern, Texten, Symbolen und Zeichen zu berücksichtigen. Denn letztlich gründen auch die komplexen und recht unterschiedlichen, epistemologischen Modelle der verschiedenen Geheimgesellschaften in den ideen- und geistesgeschichtlichen Traditionen und Strömungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Gleichsam verhält es sich mit den Bestattungsformen und -praktiken. Um nicht einer ambitionierten Überinterpretation Gefahr zu laufen, ist die Forschung besonders im Kontext von (Garten-)Kunst und Geheimbundwesen auf zeitgenössische Wahrnehmungs- und Deutungsperspektiven angewiesen.22
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Vgl. Messerer, Wilhelm, „Zu extremen Gedanken über Bestattung und Grabmal um 1800“, in: Hermann Bauer (Hrsg.), Kunstgeschichte und Kunsttheorie im 19. Jahrhundert, Berlin 1963, S. 172-194. Der Beitrag stellt die wesentlichen und weiterentwickelten Aspekte des Vortrages ‚„Wo der Tod winkt, lächelt das Leben.‘ Gräber von Freimaurern und Rosenkreuzern in Gärten um 1800“ dar, der im September 2006 auf einer Tagung im Schloss Schwetzingen gehalten und im Tagungsband: Snoek, Jan A. M. / Scholl, Monika / Kroon, Andréa (Hrsg.), Symbolism in 18th-Century Gardens. The Influence of intellectual and esoteric Currents, such as Freemasonry, Den Haag 2006, S. 311-333, veröffentlicht wurde. Für wichtige Hinweise und Anregungen möchte ich Jan Snoek (Heidelberg), Berit Ruge (Berlin) und Stefan Schweizer (Düsseldorf) danken.
Epistemologie der Aufklärung? Gartentheorie des späten 18. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Publizistik Rainer Godel Er wolle, so Christian Cay Lorenz Hirschfeld im ersten Band seiner Theorie der Gartenkunst, „den Gartenfreund durch Hinweisung auf Beobachtungen und Vorschriften, die er in den gewöhnlichen Gartenbüchern vergebens sucht, auf die bessere Spur [...] bringen und ihn sodann seinen Pfad weiter verfolgen [...] lassen“.1 Die Metaphorik von Spuren und Pfaden, die als Topologie der Gartenkonstruktion gelesen werden kann, birgt unverkennbar eine erkenntnistheoretische Perspektive. Nicht selten denken Aufklärer aller Couleur über den „Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntnis“ nach, so der programmatische Titel von Christian August Crusius’ Logik2; Johann Martin Chladenius sucht mit dieser Metapher den „Weg der Wahrheit“ zu beschreiben3; die Wochenschrift Der Mensch warnt 1752 davor Wege zu gehen, auf denen man die Vernunft weit hinter sich lassen könne.4 Programmatisch beschreibt auch August Hennings in seinen Philosophischen Versuchen (1779) den „Pfad der Wahrheit und der Natur“.5 Diese Beispiele – abseits des philosophischen Höhenkamms – mögen genügen, um anzudeuten, dass die topografische Metaphorik Hirschfelds auf Erkenntnistheorie zurückführt, gleichermaßen für diese gilt. In der Gartentheorie wird über die Metaphorik hinaus vorausgesetzt, dass der Besucher des Gartens flanierend Erkenntniswege beschreitet und mittels einer mehr oder minder direkten didaktischen Wegweisung zur Erkenntnis gelangt. Durch „Hinweisung auf Beobachtungen und Vor_____________ 1 2 3 4 5
Hirschfeld, Christian Cay Lorenz, Theorie der Gartenkunst, Leipzig 1775, S. XIV. Crusius, Christian August, Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß, Leipzig 1747. Chladenius, Johann Martin, Vernünftige Gedanken von dem Wahrscheinlichen und desselben gefährlichen Mißbrauche, Stralsund, Greifswald u. a. 1748, S. 156. Vgl. Der Mensch. Eine Moralische Wochenschrift hrsg. v. Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, 4/1752, 139. St., Wolfgang Martens (Hrsg.), ND Hildesheim, Zürich u. a. 1992, S. 78. Hennings, August, Philosophische Versuche. Zweyter Theil, Kopenhagen 1779, S. 7f.
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Gartentheorie des späten 18. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Publizistik
schriften“ sucht Hirschfeld die Erkenntnis des Lesers und damit des potenziellen Gartengestalters zu befördern. Diese Formel vereint normenfreie Empirie und normierende Präskription unter dem Dach der Didaxe. Damit wird sie zum erkenntnispraktischen Programm seiner Gartentheorie. Die Formel beschreibt keine Wirkungsästhetik des Gartens, sondern sie deutet ein Erkenntnisprogramm für den Leser an, das den Text in eine Rezeptionssituation einschreibt. Hirschfelds Theorie des Gartens trägt zum aufklärerischen Erkenntnisdiskurs bei. Hirschfeld selbst spricht davon, er habe mit seinen Beiträgen zur Gartentheorie die „Absicht, einige vorläufige Aufklärungen, die zuerst nöthig schienen, über diese Gegenstände auszubreiten, und darüber die Urtheile der Kenner einzusammlen“.6 Seine Gartentheorie platziert sich somit über den Rezipienten im Diskursumfeld der Aufklärung, das auf die Urteilskraft der aufgeklärten Öffentlichkeit abzielt – ein genuin epistemologisches Programm. Im Zentrum dieses Artikels stehen daher nicht wirkungsästhetische Fragen, sondern Aspekte der aufklärerischen Öffentlichkeit7: Inwieweit hat der gartentheoretische Diskurs Anteil an der öffentlich-aufklärerischen Erkenntnistheorie? Inwieweit reflektieren die Gartentheorie und deren öffentliche Wahrnehmung die Revision der Erkenntnissicherheit, die den Erkenntnisdiskurs des späten 18. Jahrhunderts bestimmt? Hier geht es also nicht um ästhetische, im weiteren Sinne epistemologische Wirkungsstrategien von Gärten, um Rezeptionsästhetik also, sondern um die Position der Gartentheorie im epistemologischen Diskurs. Hirschfelds Epistemologie der Gartentheorie, soweit sie im ersten Band 1775 programmatisch entwickelt wird, verbirgt kaum eine erkenntnistheoretische Lücke. Hirschfeld skizziert ein wirkungsästhetisches Programm, das den Gartenbesucher zur Erkenntnis führen soll: Sie (die Gärten „im eigentlichen Verstande“, R. G.) sollen nehmlich vermittelst der Kräfte ihrer Gegenstände recht fühlbare Eindrücke auf die Sinnen und die Einbildungskraft machen, und dadurch eine Reihe lebhafter angenehmer Empfindungen erwecken; [...].8
Gärtner sollen sich also die Erkenntnisrelevanz der Empfindungen zu Nutze machen.9 Hirschfeld skizziert auch das leitende Erkenntnisver_____________ 6 7
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Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, S. IX. Vgl. Gamper, Michael, „Die Natur ist republikanisch“. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg 1998; Niedermeier, Michael, Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, „Gartenrevolution“ in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, Berlin 1992. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, S. 80. Vgl. Gamper, Michael, „Zwischen allegorischer Entzifferung und Schwärmerei. Imagination und Bedeutungsproduktion im deutschen Gartendiskurs des 18. Jahrhunderts“, in: Günter Oesterle/Harald Tausch (Hrsg.), Der imaginierte Garten, Göttingen 2001, S. 45-70, hier S. 51f.
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fahren seines Vorgehens. Dieses unterliegt der Dialektik von sensualistischer Wirkung und rationaler Kontrolle. Die Gärten würden durch sein Vorhaben „den Regeln des Geschmacks und der Schönheit unterworfen“ und so der „Mode und dem bloßen Willkühr entrissen“.10 Intendiert ist also eine Regelhaftigkeit der Theorie, die es auf die Gärten praktisch zu übertragen gilt. Erkenntnistheoretisch könnte man die Willkür aber auch auf Seiten Hirschfelds verorten. Denn er verbindet seine ästhetischen Überlegungen mit semantischen Aufladungen, ohne die Verlässlichkeit dieser Verbindung erkenntniskritisch zu reflektieren: Verschiedene „Lagen“ von Objekten im Garten erzeugten unterschiedliche Emotionen. „Heiterkeit und Anmuth herrschet auf der Anhöhe, Einsamkeit und Ruhe in der Vertiefung; das Offene, Freye und Lustige auf jener, und in dieser das Verschlossene, Oede, Melancholische.“11 Aisthesis wird hier auf der Grundlage der „Rührung“ behauptet, doch wird deren Geltungsbereich nicht befragt. Die Annahme, eine bestimmte Art der Landschaftsgestaltung drücke eine bestimmte Empfindung aus oder erzeuge sie, ist für Hirschfeld „wahr“, ohne dass er weiter erklärte, wieso eben diese und nicht andere Wirkungen erzielt würden. Er suggeriert einen Mechanismus der Wirkung, der zur Formulierung von Regeln genutzt wird, ohne die Verlässlichkeit dieses Mechanismus zu befragen. „Die Liebe des Menschen zum Großen [...] wirkt so stark und sichtbar, daß an ihrer Wahrheit nicht mehr gezweifelt werden kann.“12 Der aufklärerische Zweifel ist außer Kraft gesetzt, um Allgemeinverbindlichkeit normativ zu behaupten. Hirschfeld möchte „Wahrheit“ finden, „Gärten in der wahren Bedeutung“ darstellen.13 Das erkenntnistheoretische Dilemma besteht darin, dass er diesen Anspruch auf „Wahrheit“ nicht befragt. Denn auch die Franzosen, von denen er sich absetzt – er zielt vorwiegend auf Le Nôtre –, begründen die klassizistische Gartentheorie wenigstens implizit mit dem erkenntnistheoretischen Paradigma der Wahrheit. Reinhard Krüger hat gezeigt, dass der gestaltete absolutistische Garten die Manifestation eines mehr oder weniger konsensuellen Konzeptes ist, das interpretationsbedürftige, aber auch zuverlässig interpretationsfähige Auskünfte über die Absichten des Erbauers liefert.14 Wahrheit war also auch hier erstrebenswert und erreichbar. _____________ 10 11 12 13 14
Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, S. 82. Ebd., S. 90. Ebd., S. 92. Ebd., S. 66f., 82. Vgl. Krüger, Reinhard, „Vaux-le-Vicomte, Versailles und die unendliche Welt im absolutistischen Frankreich oder: inszenierte Natur als Fortsetzung der Politik mit gartenbau-
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Gartentheorie des späten 18. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Publizistik
Die Reflexion der Erkenntnisgewissheit ist seit Sokrates ein elementarer Bestandteil der Epistemologie, auch der sich neu ordnenden Epistemologie der Aufklärung. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass der erkenntnistheoretische Kern, das Nachdenken über die Möglichkeit und Grenzen gewisser Erkenntnis15, bei Hirschfeld reduziert wird. Lässt sich die Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von „Urtheilen, die sich auf die Erfahrung, auf die Analogie und auf die Induction stützen“16, mit dem didaktischen Konzept Hirschfelds vereinbaren? Blickt man auf den Diskurs der Aufklärung, so erweist sich jede unbefragte Wahrheitsbehauptung als hochgradig kontrovers. Denn die Epistemologie problematisiert auch außerhalb der Universitätsphilosophie Wege, die Wahrheit zu erreichen. Im Gesamtkomplex der Aufwertung der Sinneswahrnehmung, der Affekte und damit letztlich der Ästhetik, vor oder neben der „Rehabilitation der Sinne“ (Kondylis) verlagert sich die Wahrheitsfrage nicht nur von der Logik hin zur Psychologie der Erkenntnis und ihrer Geschichte17, sondern in verschiedenen Diskursen beginnt auch ein neues Nachdenken über deren Folgen und damit über die Chancen und Grenzen der Erkenntnis selbst. Die zeitgenössische Öffentlichkeit nimmt überwiegend zustimmend auf Hirschfeld Bezug. Sie würdigt seine Leistung, „die in der Natur selbst aufgesuchten Grundsätze, nach welchen man bey Anlage schöner Gärten zu verfahren hätte, genauer“ entwickelt zu haben – so Christoph Martin Wieland in seiner Rezension des ersten Teils der Theorie der Gartenkunst. Hirschfeld habe sich damit beschäftigt, „die Vorurtheile wegzuräumen, die dem bessern Geschmack entgegen stehen“.18 Mit diesen beiden Zentralbegriffen der Aufklärung ist der Bezug zur Erkenntnistheorie offensichtlich: Denn die Debatte um das Vorurteil hatte bereits in den 1770er Jahren die Frage nach der Möglichkeit und Verlässlichkeit von Erkenntnis stark werden lassen. Erinnert sei nur an Georg Forsters Reise um die Welt, welche die Vorurteiligkeit menschlichen Urteilens nicht nur thematisiert, sondern auch neue Wege entwickelt, mit ihr umzugehen. Wahrheit wird im Gefüge _____________ 15 16 17 18
technischen Mitteln“, in: Oesterle/Tausch (Hrsg.), Der imaginierte Garten, Göttingen 2001, S. 201-227, hier S. 209. Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Frankfurt am Main 1997, S. 58f. (B 19f.). Vgl. Mendelssohn, Moses, „Gedanken von der Wahrscheinlichkeit“, in: ders., Schriften zur Philosophie und Ästhetik. Teil I, bearbeitet von Fritz Bamberger, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 147-164, hier S. 156 (Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, 1). Vgl. Proß, Wolfgang, „Herder und die Anthropologie der Aufklärung“, in: Johann Gottfried Herder, Werke, Bd. 2, ders. (Hrsg.), München, Wien 1987, S. 1128-1216, hier S. 1135. Wieland, Christoph Martin, „Theorie der Gartenkunst von C.C.L. Hirschfeld. Leipzig bey Weidmanns Erben und Reich. 1775 [...]“ [Rez.], in: Der Teutsche Merkur, 1775, 3.Viertelj., S. 283f., hier S. 283.
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der aisthetischen Epistemologie bei Sulzer, bei Herder, bei Engel zu einer konjekturalen Prozessualität.19 Der „gute Geschmack“, den Wieland anführt, verweist auf die ästhetische Erkenntnis, die auch der „Prägnanz des Dunklen“ unterliegt.20 Wieland mahnt aber zugleich ein erkenntnispraktisches Manko Hirschfelds an: Denn diese Theorie sei, wie der Verfasser selbst gestehe, „noch nichts Vollständiges und Vollkommnes“, ja sie könne es noch nicht sein. Es fehlten nicht nur „eine größere Anzahl näher bestimmter Wahrnehmungen und Regeln“, sondern auch „mehr besondere Beyspiele“.21 So positiv Wielands Rezension insgesamt ist, hat es doch den Anschein, als mangele es zumindest aus Wielands Sicht in diesem ersten Band noch an Urteilsgründen wie an synthetischen Urteilen. In den Nachfolgebänden hebt Hirschfeld an, dieses erkenntnistheoretische Manko der Gartentheorie zu beheben: Er versucht, Urteilsgründe aus eigener empirischer Beobachtung beizutragen und die diskursive Stellung seiner Gartentheorie zu festigen, indem er epistemologisch nachbessert. Johann Joachim Eschenburg allerdings sieht in seiner Rezension in der Allgemeinen Deutsche Bibliothek (ADB) kein erkenntnistheoretisches Defizit von Hirschfelds Gartentheorie. Eschenburg hält fest: „In dieser Theorie nun werden die Grundsätze ausführlicher entwickelt, nach welchen man bey einer vernünftigen Anlage der Gärten zu verfahren hat.“22 Die Erkenntnistheorie des Gartens und der Gartentheorie steht hier nicht in Frage. Christian Gottlob Heynes Rezension des fünften Bandes von Hirschfelds Theorie markiert die Differenz noch deutlicher. Lobenswert ist für ihn die lebhafte Darstellung der Schönheiten der Natur und der Kunst, die dem Leser Vergnügen verschaffe.23 Im Fokus steht hier nicht mehr die (möglicherweise prekäre) Epistemologie, sondern nur ein normativ unterlegter Teilbereich des epistemologischen Diskurses der Spätaufklärung: die mittels einer sensualistischen Didaktik vermittelte Ästhetik des Gartens, die „ästhetische Erziehung in moralischer Absicht“.24 _____________ 19 20 21 22 23 24
Vgl. Godel, Rainer, Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert, Tübingen 2007, S. 201ff., 214ff., 251ff., 399f. Vgl. Adler, Hans, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990. Wieland, „Theorie der Gartenkunst von C.C.L. Hirschfeld [Rez.]“, S. 284. Eschenburg, Johann Joachim, „Theorie der Gartenkunst. Von C.C.L. Hirschfeld. Leipzig bey Weidmanns Erben und Reich, 1775 [...]“, in: ADB, 1778, S. 301ff., hier S. 302. Vgl. Heyne, Christian Gottlob, „[Rez.] von Hirschfeld, Theorie V“, in: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, 1/1786 (23. Jan.), 13. St., S. 127f.; vgl. Gamper, „Die Natur ist republikanisch“, S. 17f. Vgl. Kehn, Wolfgang, „Die Gartenkunst der deutschen Spätaufklärung als Problem der Geistes- und Literaturgeschichte“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 10/1985, S. 195-224, hier S. 204.
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Nach dem radikalen Wandel der Erkenntnistheorie mit Kant publiziert Johann Christian August Grohmann 1797 seine Neue Theorie der schönen Gartenkunst. Hier nennt der überzeugte Kantianer Grohmann Kant ausdrücklich als Gewährsmann für die methodische Grundlegung der erkenntnistheoretischen Prämissen seiner Theorie. Grohmann akzeptiert Kants systematisierende Untergliederung der erkenntnistheoretischen Disziplinen in drei Teile und Vermögen: in den Verstand als das Vermögen der Erkenntnis des Allgemeinen, in die Urteilskraft als das Vermögen der Subsumption des Besondern unter das Allgemeine und in die Vernunft als das Vermögen der Bestimmung des Besondern durch das Allgemeine.25 Für die Theorie der schönen Gartenkunst ist nach Grohmann die Ästhetik zuständig: „Ich habe mich bemüht, so viel als möglich, von reinen, das heißt, von wahren Gesetzen der Aesthetik abzuleiten; und insbesondere habe ich die Grundsätze der Kritik derselben, der Kritik der Urtheilskraft, zum Grunde gelegt, [...].“ Er habe die Gartenkunst in ihrem ganzen Umfange nach den „festen Regeln und Gesetzen der Aesthetik zu bestimmen versucht“.26 Welchen Stellenwert hat Erkenntnistheorie als wahre Theorie der Urteilskraft bei Grohmann? Für Grohmann ist im Gefolge Kants für die Gartentheorie bloß ein spezifischer Teil der Erkenntnistheorie zuständig: Die Ästhetik liefert das Regelreservoir, das für die theoretische wie praktische Gestaltung des Gartens ausreichend ist. Grohmann verfolgt den Grundgedanken einer, wenn auch ästhetisch eingeschränkten, Epistemologie des Gartens durch alle Bestimmungen von Natur, Kunst, Interesse, Idealisierung, Schönheit und Erhabenheit hindurch. Seine Gartentheorie beansprucht Wahrheit. Dadurch unterscheide sie sich von anderen.27 Gemeint ist wohl vor allem Hirschfeld. Damit soll also die Theorie selbst epistemologisch fundiert werden. Grohmann ist darüber hinaus die Frage, wo die Gartentheorie im Diskursensemble der Zeit stehe, präsent: Er zeigt sich überzeugt, dass seine Theorie „ihre Stelle finden“ werde, ihren Platz im diskursiven Feld der Aufklärung.28 Blickt man indes auf die Rezeption dieses anspruchsvollen Vorhabens, so zeigt sich eine erstaunliche Diskrepanz. Grohmanns Buch wird anonym in der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek rezensiert. Der Rezensent referiert zunächst kurz die programmatischen Passagen Grohmanns, um dann recht lakonisch festzuhalten: „Man kennt die Schule, zu der er ge_____________ 25 26 27 28
Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, Wilhelm Weischedel (Hrsg.), 3. Aufl., Frankfurt am Main 1997, S. 15. Grohmann, Johann Christian August, Neue Theorie der schönen Gartenkunst, 2 Bde., hier Bd. 1, Leipzig 1797, unpag. Vorrede, S. Vf. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 76. Vgl. Gamper, „Die Natur ist republikanisch“, S. 67.
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hört; und man wird hier nichts Neues wiederfinden.“29 Er beschränke sich daher in seiner Kritik auf den Stil und den Vortrag, der als „lächerliche Mischung von metaphysisch-ästhetischer Subtilität und dithyrambischbombastischem Nonsens“ charakterisiert wird.30 Der Rezensent vermeidet die erkenntnistheoretische Dimension, selbst nur deren ästhetischen Teil. Er setzt sich mit dem Versuch Grohmanns, Kants Konzept der Urteilskraft auf die Gartentheorie zu übertragen, ausdrücklich nicht auseinander. In Beckers Almanach und Taschenbuch für Garten-Freunde 1798 findet sich eine weit positivere Rezension zu Grohmanns Gartentheorie. Dem Werk wird hier „fast“ der Charakter einer „Philosophie der schönen Gartenkunst“ zugesprochen. Damit erhält Grohmanns Abhandlung gleichsam den zeitgenössisch renommierten Status einer akademischen Disziplin. Doch etwas verklausuliert wird Grohmanns Forderung nach nicht-deskriptiven, ästhetiktheoretischen Abhandlungen zurückgewiesen. Es wäre wohl der Mühe wert, so die Rezension, „zu untersuchen, ob philosophische Theorien dieser Art überhaupt so viel gewirkt haben, als manche zu glauben scheinen“.31 Der Rezensent stimmt mit der Theorie und mit ihrer Grundlegung überein, möchte sie aber nicht ausführlich diskutieren, weil er ihre Relevanz zumindest implizit für fraglich hält. Wenigstens erscheint sie dem Rezensenten an dieser Stelle des Almanach deplatziert, obwohl Becker im selben Jahrgang Ramdohrs Theorie der Gartenkunst abdruckt, die in Struktur und Duktus den Charakter einer philosophisch-logischen Gartentheorie nicht verbergen kann.32 Auch Becker scheint diskursive Konflikte letztlich vermeiden zu wollen oder zumindest sie nicht ostentativ auszutragen. Wäre die Epistemologie der Gartentheorie auf dem Hintergrund dieser Debatten nur als eine kurze Episode zu charakterisieren, die nur so lange anhält, bis die universitär-disziplinäre Erkenntnistheorie sich im Gefolge Kants wieder gestärkt fühlt – und außerhalb von ihr keine Auseinandersetzung mit ihr mehr gewagt wird? Das Diskursgefüge des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts hat gerade im Bereich der Erkenntnistheorie zu einer öffentlichen Dominanz der kantischen Positionen und der Kantianer geführt, denen ihre Gegner nur noch selten etwas entgegenzusetzen wissen. In der Debattenlandschaft werden Fragen nach der dis_____________ 29 30 31
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Anonym, „[Rez. von:] Neue Theorie der schönen Gartenkunst, von Joh. Christ. Aug. Grohmann. Leipzig, bey Leupold. 1797 […]“, in: NADB, 60/1801, 1. St., S. 112f., hier S. 112. Ebd. Anonym, „[Rez. von:] Neue Theorie der schönen Gartenkunst von Joh. Christian August Grohmann. Erster Theil. Leipzig bei Friedrich August Leupold. 1797“, in: Almanach und Taschenbuch für Garten-Freunde, 1798, Wilhelm Gottlieb Becker (Hrsg.), S. 344ff., hier S. 346. Vgl. Gamper, „Die Natur ist republikanisch“, S. 77f. Vgl. Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von, „Theorie der Gartenkunst“, in: Almanach und Taschenbuch für Garten-Freunde, 1798, S. 1–52, hier S. 1f.
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kursiven Situierung und damit auch nach der epistemologischen „Wahrheit“ des Dargelegten angesichts erhitzter Debatten gelegentlich bereits vermieden.33 Die offene erkenntnistheoretische Debatte der Aufklärung scheint sich für kurze Zeit zu schließen. Vielleicht ist das „Primat der Theorie“, das Michael Gamper für Hirschfelds erste Schriften konstatiert, nicht nur mit Hirschfelds Gartenkalender (1782ff.) um die ‚neue‘ Erkenntnismethode eigener Beobachtungen und Vergleiche ergänzt worden.34 Das Primat der Erkenntnis-Theorie des Gartens scheint im sich wandelnden diskursiven und wissenschaftlichen Umfeld zusehends eine prekäre Vorstellung zu werden. Die Betonung der ästhetischen Wirkungsaspekte des Gartens etwa bei Grohmann resultiert nicht aus einer freiwilligen Selbstbeschränkung der Gartentheorie auf sensualistische Aspekte, sondern auch aus einer veränderten Diskurslandschaft, die neue Debatten für und wider die kantische epistemologische Wendung hervorbrachte. Die Gartentheorie unterliegt offenbar auch epistemologischem Druck.35 Publizistische Beiträge zur Gartentheorie stehen im Kontext einer breiteren Debatte, die auf die Frage aufklärerischer Verfahren und Vorgehensweisen zurückführt. Denn die öffentliche Diskussion der Epistemologie des Gartens verortet sich im komplexen Beziehungsgefüge erkenntnistheoretischer, erkenntnispraktischer, aber auch wissenschaftspolitischer, sozialhistorischer und ästhetischer Entwicklungen, die zu Bestimmungsmerkmalen der „wahren“ Aufklärung werden. Die epistemologische Ebene der Gartentheorie des 18. Jahrhunderts ergänzt und verbindet sich mit ästhetischen, anthropologischen, sozialen, politischen Diskursen. Doch sie widerspricht ihnen auch, sie schließt sie aus, sie konkurriert mit ihnen. Sie steht in unterschiedlichen (selbst adversativen) interdiskursiven Relationen zu anderen Diskursen in der öffentlichen Auseinandersetzung der Aufklärung. Ihre veränderliche Konjunktur folgt nicht nur den Konjunkturen sich wandelnder ästhetischer Vorstellungen, sondern auch den Entwicklungen sich wandelnder Nachbardiskurse. Im Bereich der Epistemologie konfligieren popularphilosophische Erkenntnislehren mit dem in der aufklärerischen Öffentlichkeit geänderten Status der akademischen Erkenntnistheorie. Erinnert sei nur an Kants von seinen Adepten oft und gerne zitierte Proklamation des einzigen Wegs, „der übrig gelassen war“, des Zeitalters „der Kritik, der sich alles unterwerfen muß“.36 _____________ 33 34 35 36
Vgl. auch zur Reaktion auf Herders Metakritik: Godel, Rainer, „Immanente Gnoseologie und literarische Rezeptionssteuerung. Aufklärung als Selberdenken in Herders Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft“, in: Herder Jahrbuch/Herder Yearbook 2008, S. 37-58. Vgl. Gamper, „Die Natur ist republikanisch“, S. 19f. Vgl. ebd., S. 79. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 13 (A XII).
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Eine erste Antwort auf die Frage nach dem Anteil der Gartentheorie am epistemologischen Diskurs der Aufklärung würde also lauten: Der Gartendiskurs nimmt in Hinblick auf eine sensualistische Wirkungsästhetik (die Teil des epistemologischen Diskurses der Zeit ist) am aufklärerischen, erkenntnistheoretischen Diskurs teil, nicht aber in Hinblick auf deren probabilistische Folgen – und auch nur bedingt in Hinblick auf die Reorganisation der akademischen Epistemologie nach Kants ‚kopernikanischer Wendung‘.37 Im Diskurszusammenhang von Gartentheorie und Aufklärung sind „Kulturen des Wissens“ angesichts der Komplexität des Diskurses dynamische Prozesse, „Kulturen der Debatte“.
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Vgl. ebd., S. 25 (B XVIf.).
„Ein dem Publico wohlthätiges und nützliches Vergnügen“. Der Garten als epistemologischer Raum um 1800 Björn Brüsch
1. Im September 1798 äußerte sich der als Kammerbeamter in Fränkischen Diensten stehende Karl Sigmund Franz Freiherr von Stein zum Altenstein (1770–1840)1 in einer Uebersicht der Herstellungs- und Unterhaltungskosten des Schloßgartens zu Ansbach zu Grundfragen gartenkultureller Landnutzung.2 Gleichwohl es dem bisherigen Schlossgärtner Johann Peter Kern bereits in einem Pachtvertrag aus dem Jahre 1790 zur Aufgabe gemacht worden war, „den Garten zum Vergnügen des Publikums zu unterhalten wofür er noch 400 f. [Gulden] Zuschuß erteilt und wozu ihm eine Anzahl Straeflinge gestellt“ wurden, musste Altenstein konstatieren, dass Kern den Garten schlecht nutzte und herabkommen ließ: „Er benützte wenige Stellen zum Getreidebau, pflanzte keine Obstbäume, baute wenig und schlechtes Gemüse, unterhielt die Wege so schlecht, daß sie nicht zu passiren waren und war dabei grob [und] eigensinnig.“ Weiter hieß es dort: Nicht blos um für das Vergnügen des Publikums zu sorgen, welches außerdem keinen öffentlichen Spatziergang hat, sondern auch um durch so mächtig wirkendes Beispiel die noch so sehr vernachläsigte Garten-Cultur etwas empor zu bringen, dem gänzlichen Mangel an Gemüse, welches aus Nürnberg geholt wird, dem Mangel an Obstbäumen, an nur einiger massen brauchbaren Gartenarbeitern abzuhelfen, wurde eine neue Herstellung des Schloßgartens und Administration bis zu deren Vollendung mittelst Rescripts vom 20. Decbris 1796
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Zu Altenstein vgl. u. a. Winter, Georg, Karl Sigmund Freiherr vom Stein zum Altenstein (Lebensläufe aus Franken, 4), A. Chroust (Hrsg.), München 1930, S. 410-442, und Germann, Wilhelm, Karl Freiherr von Stein zum Altenstein, München 1894, S. 193-232 (Hohenzollersche Forschungen, 3). Altenstein, Uebersicht der Herstellungs- und Unterhaltungskosten des Schloßgartens zu Ansbach [1798], in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), VI. HA., Nl. von Altenstein, A V, Nr. 3, fol. 8ff.
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Der Garten als epistemologischer Raum um 1800
beschloßen, ein Plan entworfen wodurch obigen Mängeln abgeholfen und die verschiedenen Zwecke erreicht werden sollten.
Worauf Altenstein an dieser Stelle abzielte, war ein Garten, in dem die Beispiele einer modernen und in der praktischen Tradition der europäischen Aufklärung stehenden Landnutzung vor die Augen der Betrachter gestellt wurden. Das Geflecht der darin zur Sprache kommenden Projekte verband sich mit einer Gartenkultur oder einer Kultur im Garten, die raumgreifend zu wirken vermochte und sich keineswegs nur auf die abgesteckten Beete des Ansbacher Gartens beschränkte: Abhelfung des Mangels an Obst und Gemüse und Ausbildung einigermaßen brauchbarer Gartenarbeiter neben der Unterweisung der fränkischen Untertanen in den Grundfertigkeiten gartenmäßiger Landnutzung. Dabei handelte es sich dann in der Tat um ein dem Publico recht wohltätiges und gleichzeitig nützliches Vergnügen. Neben dem Nutzen, der sich mittels einer beständig vorangetriebenen Ökonomisierung der Ressourcen der Natur über die Landschaft legte3, bleibt auffällig, dass der Kammerbeamte Altenstein an dieser Stelle von einem herrschaftlichen Hofgarten sprach, der im Zuge der Einschreibung aufklärerischer Prämissen in einen öffentlichen Raum verwandelt wurde. Der Ansbacher Hofgarten transformierte sich in den Überlegungen Altensteins in einen Anschauungsraum einer progressiven Kultur im Garten und einer Staatsräson, die sich der Fürsorge seiner Untertanen ebenso verschrieben hatte wie kameral-ökonomischer Prosperität, angewandter Naturgeschichte, Moralität, Sittlichkeit und physischem Wohlergehen. Natürlich stand an dieser Stelle mehr zur Disposition als der recht allgemein gehaltene Nutzen, der sich mit bestimmten Formen der Landnutzung in einem bestehenden Garten generieren ließ. Das eigentliche Geschehen verbarg sich hinter den Pflanzen und Kulturtechniken oder hinter dem, was der Garten als ein dokumentarisches Gewebe selbst wurde. Damit ging es dann nicht mehr nur um Gartenarbeit oder einträgliche Pflanzenarten, sondern um einen Gartenraum, innerhalb dem sich Diskurse um, allgemein gesprochen, Wissen, Dinge oder Ansichten manifestierten und, darin lag der große Vorteil, gleichsam materialisierten.4 Inwiefern der Gar_____________ 3
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Vgl. dazu Bayerl, Günter / Meyer, Torsten, „Glückseligkeit, Industrie und Natur – Wachstumsdenken in 18. Jahrhundert“, in: dies./Norman Fuchsloch (Hrsg.), Umweltgeschichte – Methoden, Themen, Potentiale, Münster 1996, S. 135-158, und Meyer, Torsten / Popplow, Marcus, „To employ each of Nature’s products in the most favourable way possible“. Nature as a commodity in eigtheenth-century German economic discourse“, in: Historical Social Research, 29/2004, S. 4-40. Zum Diskursgehalt von Gärten vgl. u. a. Gamper, Michael, „Die Natur ist republikanisch“. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur, Würzburg 1998 sowie die versammelten Beiträge in: Oesterle, Günter / Tausch, Harald, Der imaginierte
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ten aus seiner Diskurslastigkeit heraus als ein ‚epistemologischer Raum‘ angesprochen werden kann, wird im Folgenden kurz erörtert, ebenso die Frage, ob überhaupt eine Berechtigung besteht, von einer Epistemologie des Gartens zu sprechen. 2. Zunächst, und in Rekurs auf das an den Anfang meines Beitrages gestellte Beispiel, etwas Grundsätzliches zum Gartenraum und dem Kontext, in dem er im 18. Jahrhundert stand, den ich hier nur anreißen, keinesfalls jedoch bestimmen möchte. Gärten waren immer Räume der Anschauung, der Vermittlung und des Erwerbs von Wissens der Natur. In Gärten wurde gesammelt, und im Sinne der Generierung von Wissen über die gesammelten Objekte verschmolzen in den Gärten natürliche und soziale Objekte. Stichworte, die hier zu nennen wären, sind Pflanzentransfer und Akklimatisierung, Taxonomie, Nutzbarkeit der Ressourcen der Pflanzenwelt. Gärten formten im überaus langen 18. Jahrhundert entsprechend das administrative Fundament der Naturgeschichte und Naturforschung, indem in ihnen die Objekte der Natur gesammelt, beschrieben, geordnet und erprobt wurden. Das Anlegen von Gärten bildete demgemäß einen integralen Bestandteil der Naturgeschichte, indem sich in diesen die gute Ordnung der natürlichen Dinge der Welt widerspiegelte.5 Diese Ordnung als System der Darstellung ließ sich so weit treiben, dass sie die Gartenräume selbst beherrschte, womit die systemare Ordnung der Species plantarum – und damit diejenige von Arten und Gattungen – zu einem räumlichen Ordnungsraster einer aufgeklärten Kultur im Garten wurde. Im Verständnis der Naturforscher des 18. Jahrhunderts ermöglichte der Gartenraum die Darstellung, Visualisierung, Transkription, Codierung und Repräsentation der natürlichen Ordnung der Natur.6 Der Garten entsprach einem Wissensraum. Als Ort naturhistorischen, ökonomischen, botanischen und gartenbaulichen Wissens kultivierte der Garten über die _____________ 5
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Garten, Göttingen 2001, und Hoefer, Natascha N. / Ananieva, Anna, Der andere Garten. Erinnern und Erfinden in Gärten von Institutionen, Göttingen 2005. Vgl. dazu Spary, Emma, Utopia’s garden. French Natural History from Old regime to revolution, Chicago, London 2000; dies., „,Peaches which the patriarchs lacked‘: Natural History, natural resources, and the natural economy in France“, in: History of Political Economy, 35/2003, Annual Supplement, S. 14-41 und Drayton, Richard, Nature’s government: science, imperial Britain, and the ‚improvement‘ of the world, New Haven 2000. In Anlehnung an Rheinberger, Hans-Jörg u. a., „Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur“, in: ders./Bettina Schmidt-Wahrig/Michael Hagner (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 7-21 und ders., Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, Kap. 6.
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Der Garten als epistemologischer Raum um 1800
Ordnung der Naturobjekte als epistemologische Dinge – und die damit aufgeworfenen Verbindungen dieser untereinander – einem diesem Raum distinkte Form von Wissen und Information. Im Garten und dem darin kultivierten Pflanzenleben konnten somit die wesentlichen und als sicher angenommenen Merkmale der Objekte der Natur der menschlichen Vernunft erkennbar gemacht werden. Der Gartenraum war demgemäß Ort der Disziplinierung und Vereinnahmung der Ressourcen des Haushaltes der Natur, dessen Spuren bis weit in die umgebende Landschaft reichten. Der Garten entsprach der kleinsten Einheit einer Ökonomie der Natur, die sich mit der Ökonomie des Staates ebenso zu verbinden mochte wie mit der Ökonomie des Körpers und derjenigen der mittels kultivativer Verfahren überformten Welt. Das Beispiel des Schlossgartens in Ansbach stand in eben jenem Kontext, d. h. in einem kameralwirtschaftlichen und ökonomischen Zusammenhang7, weist jedoch gleichzeitig darüber hinaus. Zunächst zu den Berührungspunkten. Altenstein argumentierte in seinen Berichten an die Fränkische Kriegs- und Domainenkammer Ansbach mit Hinblick auf den Vorteil, der sich aus der Bepflanzung der Rabatten mit ökonomischen Pflanzen, d. h. Getreide, Obst- und Gemüsearten, ergab. Dieser Nutzen und die Verbreitung von Nutz- und ökonomischen Pflanzen entsprachen auf längere Sicht einem kameralistischen Gewinn. Der Garten produzierte über die Auswahl und Anordnung der Naturobjekte das (Vor)Bild einer angemessenen Landeskultur, die sich in kameralistischer Perspektive mit Argumenten bezüglich des lokalen Marktes und überhaupt der Vermarktbarkeit der gartenbaulichen und landwirtschaftlichen Produkte zu verbinden vermochte. Am ehesten lässt sich dies im Schema eines Transfers vorstellen. Der Garten interessierte hier demgemäß als ein Umschlagplatz. Pflanzen gelangten aufgrund der ihnen eigenen Charakteristika, die von den Experten der Naturgeschichte definiert wurden, hinein, wurden dort in eine Ordnung und Übersicht gebracht, wurden kultiviert, der ihnen eigene Nutzen wurde benannt und herausgehoben. Anschließend gelangten die Pflanzen über das Kulturbeispiel wieder in die umgebende fränkische Landschaft zurück, um dort die in sie gesetzten Hoffnungen auf Verbesserung, dem großen Schlagwort des 18. Jahrhunderts, und der Abhelfung des Mangels _____________ 7
Vgl. dazu auch Sandl, Marcus, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert, Köln 1999 und ders., „Landeskultivierung und Raumkoordination. Landschaft im Spannungsfeld von Policey und Oeconomie“, in: Oesterle/Tausch (Hrsg.), Der imaginierte Garten, S. 73-91, ebenso Schabas, Margaret, Oeconomies in the Age of Newton, Durham/NC, London 2003 (History of Political Economy, 35, Supplement) und die darin versammelten Beiträge.
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zu erfüllen, sich quasi in diese Landschaft ‚einzuschreiben‘ und ihre Spuren zu hinterlassen. All jenes wurde von Altenstein unter staatliche Direktive gestellt, indem er innerhalb seiner weitläufigen Argumentationen den Staat als politisches Gebilde und kameralistischen Akteur in die Pflicht nahm; d. h. der Garten wurde hier nicht nur zu einem Wissensraum der Natur und Kultur, sondern darüber hinaus ebenso zu einem Raum behördlicher Aufklärung und Anschauung. Der Ansbacher Garten entsprach in Altensteins Überzeugung damit nicht nur einem Raum der Kultivierung „blos nützlicher Gewächse, die entweder in der Landwirthschaft, Forstwirthschaft, Küchen= und Ziergärtnerey, Technologie, oder Handlung einen reellen Einfluß haben“8, sondern einem Anschauungsraum gartenkulturellen Wissens, in dem staatliches Handeln, materialisiert durch Pflanzen, auf Anregung des Staates praktisch Vermittlung fand. Damit bewegte sich der Kammerbeamte innerhalb der gängigen Argumente und Lehrmeinungen, auch insofern als er lediglich das replizierte, was er an der Universität oder innerhalb der Kameralverwaltung gelernt haben dürfte. Neu war, dass Altenstein all jene Argumente explizit im Gartenraum lokalisierte, der damit zu einer wirkungsvollen diskursiven Schnittstelle wurde. Der ehemals markgräfliche Schlossgarten wurde von Altenstein als ein diskursiver Raum für die Anschauung und Erkenntnis, ebenso jedoch für die Produktion, die Vermittlung und den Austausch von Wissen zur Gestaltung der Wirklichkeit in Vorschlag gebracht. Altenstein griff damit direkt auf das der Naturwelt innewohnende Vermögen zurück, aufgrund der ihr eigenen Materialität, Dinge, Wissen und Praktiken im Sinne eines Denkens mit den Händen anschaulich zu vermitteln, im Gegensatz zu Verordnungen und bloßen Ideen, die lediglich auf einer eher deskriptiven Ebene verharrten und die, gemessen am administrativen Erfolg, oft ihr Papier nicht wert waren. Zusätzlich griff er mit seinem Reden auf die Gartenräumen eigenen Eigenschaften und Dispositive zurück – einerseits dem Garten als einem öffentlichen und offenen Raum (im Gegensatz zu abgeschlossenen Institutionen) und andererseits als Ort der Wissensproduktion und der damit ermöglichten öffentlichen Demonstration und Vermittlung dieses Wissens um die Natur der Dinge. Bei jenem Wissen handelte es sich zunächst um die Pflanzen selbst, deren Existenz, nutzbringenden Eigenschaften und Kultur. Darüber hinaus vermochten im Gartenraum jedoch ebenso die Verfahrenswei_____________ 8
Siehe Märter, Franz Joseph, Vorstellung eines ökonomischen Gartens nach den Grundsätzen der angewandten Botanik, Wien 1782, ferner Suckow, Georg Adolph, Oeconomische Botanik, Mannheim, Lautern 1777 und Memmert, Beschreibung der öconomischen Sämereien, o. O. ca. 1800.
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Der Garten als epistemologischer Raum um 1800
sen der Behandlung der Pflanzenwelt, die damit verbundenen Techniken, Gerätschaften etc. auf einer praktischen Ebene verhandelt werden. Der Garten verräumlichte all jene Wissensaspekte. Er brachte sie in eine immediate Verfügbarkeit, kommunizierte und sozialisierte diese, insbesondere in ihrer materiellen Bedeutung, d. h. den darin kultivierten Pflanzen. Als Anschauungsfeld ermöglichte der Garten somit eine fast natürliche Verschmelzung von Tatsachen, Machen und Wissen, sowohl aktiv über die Einflussnahme von Naturgeschichte, Botanik, Gartenbau und Behörden als auch passiv durch die den Pflanzen eigenen ‚oeconomischen‘ Charakteristika. 3. Inwiefern kommt dem Garten aus dieser Perspektive heraus ein epistemologischer Status zu? Worin bestehen die Natur und der Status der im Garten verhandelten Wissensbestände und Praktiken? Wie verbinden diese sich? Vermochte der Garten ein epistemologischer Raum zu sein? Wie ist der Garten ein Anschauungs- und Wissensraum oder unter welchen Voraussetzungen wird er zu einem Raum konkreter Darstellung? Gärten sind als historisches Gewebe äußerst komplex. In ihnen überlagern sich staatliche, ökonomische, technische, naturhistorische und wissenschaftliche, und ebenso gesellschaftliche Entwicklungen und Auffassungen, die darin implementiert und erörtert werden.9 Neben der ihnen eigenen Materialität weisen Gärten eine eigene Semantik auf, die jeweils von dem abhängig zu sein scheint, welche der angesprochenen disziplinären Vorstellungen prävalent sind. Gärten sind demnach semantische Räume, die neben ihrer Anschaulichkeit durch die Zusammenstellung der darin versammelten Dinge der Naturwelt lesbar und in denen Wissensbestände sowohl reproduziert, stabilisiert, repräsentiert oder formiert werden. In diesem Sinne verortete sich Wissen konkret im Garten. Es band sich an das gärtnerisch bearbeitete Beet. In Gärten nahm Wissen folglich eine Gestalt an, es manifestierte und materialisierte sich darin, wurde über und mit den Pflanzen, d. h. materiell vermittelt. Pflanzen waren Objekte des Wissens über die Dinge, in denen sich Begriffe und Vorstellungen verkörperten. Ihnen galt die Anstrengung des Wissens, und sie organisierten den Raum. Als materielle Einheiten der Natur ermöglichten sie die Materialisierung von zunächst ungegenständlichen Begriffen. Gärten waren _____________ 9
Vgl. dazu das von John Dixon Hunt angeführte Beispiel Roushams: Hunt, John Dixon, „Verbal versus visual meanings in Garden History: The case of Rousham“, in: ders., Garden History: Issues, Approaches, Methods, Washington/D.C. 1992, S. 151-181.
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demgemäß über die Sammlung und Ordnung von Naturobjekten in der Lage, eine epistemische Wirkungsmacht zu entfalten, die sich mit der Beschreibung, Visualisierung, Transkription, Codierung und Repräsentation der guten Ordnung der natürlichen Dinge verknüpfte. Diese Ordnung lieferte die epistemologische Grundlage der Dinge und der darüber materialisierten Begriffe, die im Garten als die darin verwurzelten Wissensbestände sowohl reproduziert, stabilisiert und formiert wurden, womit das Denken des 18. Jahrhunderts im Gartenbeet eine überaus gegenständliche Form und Gestalt anzunehmen vermochte. Sowohl der Ansbacher Schlossgarten als auch zahlreiche andere zeitgenössische Gärten funktionierten als Anschauungsräume einer gartenkulturellen Landeskultur. Über die Kultivierung ausgewählter Pflanzenspezies bildeten jene die Kultur des Landes ab, d. h. sie erfassten und erzeugten Wissen um die Dinge des Pflanzenreiches. Als Repräsentationsräume waren sie direkt abhängig von den sich darin befindlichen Pflanzen, die durch die Darstellung und Abbildung der ihnen eigenen Charakteristika und Merkmale die Besonderheiten des Raumes erschlossen, jedoch gleichzeitig auch begrenzten. Ihre Wirkungsmacht erzeugten diese Gärten demnach aus der konkreten Anwesenheit pflanzlicher Naturobjekte, deren Wissensgehalt sowie deren Nützlichkeit, die zusammen, wie ich bereits bemerkt habe, ihre Spuren in Anwendung der Kultur in der umgebenden Landschaft zurücklassen sollten. Demgemäß handelte es sich im Garten um eine Verfügbarmachung von Wissen und Wissensbeständen, auf deren Vorhandensein dessen Wirksamkeit und Wirkungsgefüge grundlegend ruhte. Der Gartenraum brachte über die Kultivierung von Pflanzen und die in diesen Raum hineingetragenen Ideen und Motive epistemische Wissensbestände hervor. Dabei geht es einerseits um konkrete und greifbare, d. h. materielle Dinge, wie den Pflanzen, jedoch darüber hinaus auch um jenes Wissen, das sich immediat damit verband, als Teil jenes Wissens, wie Pflanzenkultur, Bodenbearbeitung, Verfahrensweisen der Kultur, Techniken, Handhabung von Geräten und Instrumenten etc. In Gärten fand folglich ein beständiges Verstetigen und Verdinglichen der in sie hineingetragenen Ideen und Vorstellungen, Ansichten und Meinungen statt. Insofern kam Gartenräumen ein grundlegend Wissen erzeugender oder generierender, und damit kultivierender Status zu, und zwar insofern als dass im Gartenraum Pflanzen aufs Neue ‚hergestellt‘ wurden, um ihre (oder die in sie gesetzte) Wirkung zu entfalten und zur Geltung zu bringen. In diesem Sinne verkörperten die Pflanzen selbst Wissensbestände, seien diese aus der Ökonomie entlehnt, oder aus der Naturgeschichte und Botanik oder vom Staat in den Garten ‚eingeschrieben‘, sowohl jede Pflanze für sich als auch in ihrer Gesamtheit durch Kultur im Garten, sowohl explizit als auch stumm.
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Der Garten als epistemologischer Raum um 1800
Es scheint mir der Fall zu sein, dass die Verkörperung von zunächst wenig gegenständlichen Ideen des maßgeblich durch die Aufklärung geprägten Jahrhunderts sich insbesondere in Objekten der drei Naturreiche zu verstetigen vermochte. Dies deutete sich umso mehr an, als sich auch die Verwaltung des Nutzens dieser Objekte bewusst wurde. In diesem Zusammenhang waren die Bemühungen, die seitens der Administration vorgebracht wurden, um so verständlicher, verband sich damit doch ebenso ein ausgesprochen weitläufiges Programm der Sozialisierung gesellschaftlich relevanter Ressourcen sowie der Gesellschaft selbst. Auch für den Kammerbeamten Altenstein glich der Garten einer Kinderstube der auf die landeskulturelle Praxis ausgerichteten Aufklärung. Der Garten erlaubte das Verfertigen von Darstellungen der Kultur, der Naturgeschichte und zahlreicher anderer, auf das zunehmend soziale Subjekt hin bezogenen Wissensbereiche. Er generierte Wissen, indem der Garten die Einbindung praxisrelevanter Theoreme in das gegenständliche, praktische Tun ermöglichte. Der Garten war nicht nur Ort der Disziplinierung, Vereinnahmung und Ökonomisierung der Ressourcen des Haushaltes der Natur, sondern gleichlaufend Ort der Disziplinierung, Kultivierung und Regierbarmachung sämtlicher Objekte der Naturwelt. Indem sich Gärten um 1800 deutlich mit den darin ausgehandelten landeskulturellen Dingen verbanden, indem dort bestimmte Wissensformen zu Mustern sozialen Verhaltens und Handels wurden, manifestierte sich in ihnen ein Herrschaftsanspruch, der neben der Ressourcenbezogenheit deutlich und in aller Konsequenz auf das Land und dessen Bewohner bezogen war. Administration, und dies bedeutet in diesem Zusammenhang ein grundlegendes Machtgefüge, entfaltete sich im Garten, und zwar insofern als dass sich die politische, moralische und gesellschaftliche Legitimität der Staatsgewalt an Landwirtschaft, Gärtnerei und Gartenbau knüpfte. Gärten kultivierten über die Ordnung der Naturobjekte als epistemologische Dinge eine distinkte und nahezu immediate Form von Wissen, das sich leicht in andere, zum Teil fern stehende Wissensbereiche einfügen ließ. Ihrer Charakteristik als Wissensraum gemäß glichen Gärten außerordentlich konkreten Umschlagplätzen der an eine moderne Pflanzenkultur gebundenen Wissenstheoreme. In diesem Sinne wurden sie unter Zeitgenossen auch als Pflanzschulen patriotischer, bürgerlicher und nicht zuletzt nationaler Aufklärung verstanden, gleich ob sie als Anschauungsräume der Aus- und Darstellung neuer Techniken, erworbener Pflanzen, gärtnerischem Geschick oder einer zutiefst ländlichen Idylle dienten.
XII. DARSTELLUNGSFORMEN MEDIZINISCHEN WISSENS Einführung von Simone De Angelis Seit der Frühen Neuzeit bilden die Autopsie und die Formen der experimentellen Praxis das Vehikel für die Bildung und Begründung von medizinischem Wissen. Die Mediziner sind in der Lage, bestehendes Wissen zu überprüfen, zu modifizieren, zu eliminieren oder auch zu erneuern. Dabei ist die Gewinnung und Formulierung von Wissensansprüchen und deren Vermittlung an andere immer auch an Formen der Darstellung gebunden. Diese sind historisch variabel und umfassen eine Vielfalt von Mitteln. Von den möglichen Formen der Darstellung und Vermittlung von Wissensansprüchen sind in historischer Perspektive vor allem textuelle Formen hervorzuheben. Texte lassen sich hinsichtlich der sprachlichen wie auch der optischen Darstellungsformen untersuchen. Darstellungsformen von Texten, die Wissensansprüche vermitteln, können auch im Hinblick auf faktische oder intendierte Adressaten sowie auch im Hinblick auf die historischen Kontexte ihrer Entstehung und Wirkung erforscht werden.1 Im Rahmen eines solchen Kommunikationsmodells lässt sich also das Thema der Darstellungsformen des medizinischen Wissens behandeln und auch die davon implizierte Frage erörtern, ob und inwiefern zwischen der Akzeptanz von Wissensansprüchen und den Mitteln der darstellerischen Gestaltung eine Beziehung besteht. Damit sind mit den Darstellungsmitteln zugleich Fragen des Demonstrierens und Überzeugens angesprochen. So erachten die Herausgeber eines jüngst erschienenen Sammelbandes die Analyse von content, medium, receiver und context sowie deren Interaktionsweisen als zentral für das Thema der Wissensvermittlung, wobei sie auf die allgemeinen Faktoren sprachlicher Kommunikation rekurrieren, die der Linguist Roman Jakobson 1960 dargelegt hat.2 Zu fragen ist allerdings, ob die _____________ 1 2
Danneberg, Lutz / Niederhauser, Jürg, „Von Aristoteles’ geheimer Lehre zu Sokals Experiment – zur Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen 1998, S. 9-20, hier S. 10f. Scholar, Richard, „Introduction“, in: Sachiko Kusukawa/Ian Maclean (Hrsg.), Transmitting Knowledge. Words, Images, and Instruments in Early Modern Europe, Oxford 2006, S. 1-9, hier S. 5f. Jakobsons Text wurde für den deutschsprachigen Leser in folgendem Sammelband ediert und übersetzt: Jakobson, Roman, „Linguistik und Poetik“, in: Literaturwissenschaft und
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XII. Darstellungsformen medizinischen Wissens. Einführung
Frühe Neuzeit für Situationen der Wissensvermittlung nicht selbst über ein kommunikatives Modell verfügt, das ihr sozusagen ‚näher‘ liegt. Dieses ist denn auch in der rhetorischen Tradition begründet. Bereits in der Frühen Neuzeit kannten die Naturforscher und Mediziner den Unterschied zwischen der Beobachtung, der Sektion oder dem Experiment und der Darstellung eines dabei ermittelten Wissensanspruchs in einem Text oder Buch. In beiden Fällen ging es darum, Evidenz und Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Dabei rekurriert die Sektion oder das Experiment auf die direkte Augenzeugenschaft, der Text auf die Darstellungsmittel, wenn es darum geht, einem Wissensanspruch Glaubwürdigkeit zu verleihen; das wichtigste Mittel ist dabei die demonstratio. Aus historischer Sicht spielt hier die Beziehung zwischen den Begriffen demonstratio und evidentia in narratione eine tragende Rolle.3 Bei der evidentia in narratione handelt es sich um Quintilians lateinische Wiedergabe des griechischen Terminus enargeia, der das bezeichnet, was ‚Präsenz‘ bzw. Anschaulichkeit vermittelt4 und der als terminus technicus ein Darstellungsmittel der antiken Geschichtsschreibung war.5 Quintilian begreift enargeia als signifikante Qualität der Rede, wenn es darum geht, etwas nicht so sehr zu sagen, als vielmehr vorzuzeigen.6 Ein Synonym von enargeia ist demnach der Terminus demonstratio, der, etwa in der Rhetorica ad Herennium, die anschauliche Schilderung eines Gegenstandes mit Worten bedeutet und zwar so, dass der Eindruck entsteht, eine Sache werde wirklich ausgeführt und spiele sich vor unseren Augen ab.7 Demonstratio meint also nicht nur den logischen Beweis, sondern konnotiert auch das semantische Feld von ‚Zeigen‘, ‚Vorzeigen‘ und ‚vor-Augen-Stellen‘. Neben Carlo Ginzburg hat neuerdings auch Rüdiger Campe auf den „kognitiv orientierten Tropus der evidentia – _____________ 3 4 5
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Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 2.1.: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft I, Jens Ihwe (Hrsg.), Frankfurt am Main 1971, S. 142-178, hier S. 142-154. Ginzburg, Carlo, „Montrer et citer. La vérité de l’histoire“, in: Le débat, 56/1989, S. 43-54, hier S. 45ff. Inst. or. IV, 2, 63: „sunt qui adiciant his evidentiam, quae εναργεια Graece vocatur.“ vgl. Quintilianus, Marcus Fabius, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Helmut Rahn (Hrsg.), Erster Teil, Buch I-IV, Darmstadt 2006 (ND der 3. Aufl. 1995), hier S. 460f. Völkl, Markus, Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive, Köln, Weimar, Wien 2006, hier S. 36: „Die frühen griechischen Historiker sind alle Reisende oder Exilanten gewesen. Sie haben es festgeschrieben, daß persönliche Erfahrung, Selbstwahrnehmung (αυτοψια) und Selbsterleiden (αυτοπαθια) die Grundlage jedes überzeugenden Berichts abgeben sollen.“ Inst. or. IV, 2, 64: „evidentia in narratione […] est quidem magna virtus, cum quid veri non dicendum, sed quadammodo etiam ostendendum est“; vgl. Quintilian, Ausbildung des Redners, S. 460f. Rhetorica ad Herennium, IV, 68: „Demonstratio est, cum ita verbis res exprimitur, ut geri negotium et res ante oculos esse videatur.“ Vgl. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-Deutsch, Theodor Nüßlein (Hrsg.), Zürich 1994, S. 314.
Simone De Angelis
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‚zeigen statt sagen‘“ – hingewiesen; er nennt dabei als Beispiel sprachlicher Darstellung von Naturbeobachtung die bekannten Beobachtungsprotokolle, wie sie etwa Robert Boyle um die Mitte des 17. Jahrhunderts im institutionellen Rahmen der Royal Society verfasst hat.8 Allerdings ist das rhetorische „Verfahren der Evidenzherstellung“ bzw. das Vor-Augen-Stellen von naturkundlichem und medizinischem Wissen in Texten älter als die Textproduktion der Akteure der sogenannten new science.9 So benutzten seit dem frühen 16. Jahrhundert bereits die Mediziner, besonders die Anatomen, die demonstratio als Darstellungsmittel in Texten, in denen sie das, was sie bei der Öffnung des Körpers gesehen hatten, einem Publikum kommunizierten.10 Mehr noch: demonstrare ist der Terminus, den die Mediziner verwenden, wenn sie einen neuen Wissensanspruch im Text visualisieren, also – auch dank neuer Drucktechniken (Holzschnitte)11 – in Zeichnungen und Bildern optisch darstellen.12 Die demonstratio ist also seit der Renaissance auch die rhetorische Vorgabe der Bildproduktion bzw. der Visualisierung des medizinischen Wissens, die heute als Thema der Forschung im Trend von kultur- wie naturwissenschaftlichen Disziplinen liegt.13 Im 18. Jahrhundert ist der Evidenzbegriff stärker erkenntnistheoretisch konnotiert, auch weil jetzt der Sinneswahrnehmungsprozess selbst – nervenphysiologisch, optisch und perzeptiv – kritisch reflektiert wird. Der Grund ist die von Natur aus gegebene menschliche Schwäche, die imbecillitas, die unter anderem mit dem Bau der Sinnesorgane zusammen_____________ 8
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Campe, Rüdiger, „Evidenz als Verfahren. Skizze eines kulturwissenschaftlichen Konzepts“, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, 8/2004, S. 105-133, hier S. 123. Vgl. auch ders., „Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. DFG-Symposion 1995, Stuttgart, Weimar 1997, S. 208-225. Campe, „Evidenz als Verfahren“, S. 124. Ferrari, Giovanna, L’esperienza del passato. Alessandro Benedetti. Filologo e medico umanista, Florenz 1996, bes. Kap. 5.5. („Tecniche retoriche e scienza“), S. 327-343. Landau, David / Parshall, Peter, The Renaissance Print (1470–1550), New Haven, London 1994, hier S. 257: „In 1543 Vesalius’s De humani corporis was printed. This happened only one year after Fuch’s De historia stirpium appeared, the exact counterpart to Vesalius’s text in the history of descriptive botany.“ De Angelis, Simone, „Demonstratio ocularis – Darstellungsformen von neuem Wissen in anatomischen Texten der Frühen Neuzeit“, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hrsg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum Anatomicum, erscheint: Berlin, New York 2009 (Theatrum Scientiarum, 4). Vgl. u. a. Kusukawa, Sachiko, „The Uses of Pictures in the Formation of Learned Knowledge: The Cases of Leonhard Fuchs and Andreas Vesalius“, in: dies./Maclean (Hrsg.), Transmitting Knowledge, S. 73-96; Heßler, Martina (Hrsg.), Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006; Bonneau, Georges-Pierre / Ertl, Thomas u. a. (Hrsg.), Scientific Visualization: The Visual Extraction of Knowledge from Data, Berlin u. a. 2006.
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XII. Darstellungsformen medizinischen Wissens. Einführung
hängt und zur Einsicht führt, dass der visuelle oder taktile Wissenserwerb aus Daten auch fehlerhaft oder ungewiss sein kann.14 Es setzt sich dennoch die Auffassung durch, dass für den Bereich der Gegenstände der Empirie überhaupt nur eine ‚moralische Evidenz‘ angestrebt werden kann, die auf der Sinnlichkeit basiert und die sich von der mathematischen oder metaphysischen Evidenz oder Gewissheit unterscheidet.15 Dieselben Wissensansprüche können mithin von Wissenschaftsakteuren vertreten, von anderen gleichzeitig aber auch bezweifelt werden. Dies hat Konsequenzen für die Darstellungsformen, die nun der Vermittlung von Vergewisserungsstrategien dienen. Medizinische Texte erzählen also detailliert, wie Evidenz – instrumentell etwa durch Injektionstechniken und Objektfärbungen oder quantitativ durch Häufigkeitsangaben – erzeugt oder desavouiert wird. Zu den persuasiven Strategien gehören beispielsweise die Darstellung der Gradation von Evidenz – nicht jedes Argument wird als gewiss oder als probabel angesehen wie ein anderes –, ferner die bildliche Darstellung oder auch die Form der individuellen Krankengeschichte, die seit dem Corpus Hippocraticum (Epidemienbücher) narrative Strukturen ausbildet. In einflussreichen Renaissancerhetoriken wird etwa die Erzählung (narratio) als eine Darstellung von Daten sowie als eine Art Grundlage für die Produktion von Glaubwürdigkeit definiert.16 Der konstitutive Erkenntnismangel, von dem die empiristischen Wissenschaftslehren des 18. Jahrhunderts prinzipiell ausgehen, legitimiert schließlich die Verwendung von Metaphern, Analogien, Modellen oder Hypothesen, die eigene kognitive Leistungen erbringen, etwa dort, wo ein darzustellender Gegenstand noch weitgehend unbekannt ist. „Kann eine Summe von Begriffen gewiß werden, wenn die einzelnen noch unbestimmt sind?“, fragt der experimentell arbeitende Physiologe Albrecht von Haller, der sich (in Anlehnung an seinen Leidener Lehrer Willem Jacob ’sGravesande) zu einem entschiedenen Befürworter der Verwendung von Hypothesen in der Naturforschung erhebt: Niemand wird betrogen werden, wenn wir zwar mit dem Wahrscheinlichen die Lücken des Wahren ergänzen; wenn wir aus demselben über den Abgrund der
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’sGravesande, Willem Jacob, „Introductio ad Philosophiam Metaphysicam et Logica continens. Editio altera“, Cap. XIV (De sensibus, primo Evidentiae Moralis Fundamento), Leiden [1737], in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente, Bd. 67, Hildesheim u. a. 2001, S. 154-169. De Angelis, Simone, Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung, Tübingen 2003, hier S. 291-294. Carbone, Ludovico, Tabulae Rhetoricae Cypriani Soarii, S. J. [1589], Lib. II, Cap. 8. Vgl. die englische Übersetzung der Tabulae, die Carbone aufgrund der De arte rhetoricae (1562) von Cypriano Soarez angefertigt hat, in dem Band von: Moss, Jean Dietz / Wallace William A., Rhetoric & Dialectic in the Time of Galileo, Washington/D.C. 2003, S. 111-186, hier S. 151.
Simone De Angelis
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Unwissenheit Erwartungsbrücken bauen, aber dabey warnen, daß sie nur bis auf einen gewissen Grad zuverlässig sind.17
Das hiermit skizzierte historische Szenario bereitet gewissermaßen das thematische Feld vor, auf dem sich die beiden Beiträge dieser Sektion bewegen. In ihnen stehen einerseits sprachlich-textuelle, andererseits visuelle Formen der Darstellung im Vordergrund, die im weitesten Sinne die materielle bzw. mediale Seite des medizinischen Wissens betreffen. Dabei wird das Thema der Darstellungsformen in zwei unterschiedlichen Gebieten der Medizin des 18. Jahrhunderts behandelt: Cornelia Zumbusch analysiert in der Debatte zur Pockenimpfung Neumodellierungen des Ansteckungsgeschehens bei Medizinern; Gegenstand ihrer Analyse sind dabei einerseits die Konkurrenz zwischen tabellarischen und narrativen Formen und Strategien des Vor-Augen-Stellens bzw. Demonstrierens der unbekannten Ansteckungsursache, andererseits die metaphorischen Verfahren der Sichtbarmachung des unbekannten Ansteckungsstoffs, die sich etwa von Vorstellungskomplexen wie der ‚Mitteilung‘ oder der ‚Fortpflanzung‘ speisen. Janina Wellmann argumentiert für den Wandel der Funktion des Bildes in der experimentellen Embryologie zwischen 1760 und 1820. Bezeichnend scheint mir dabei, dass der experimentelle Physiologe und Rivale Hallers, Caspar Friedrich Wolff, die visuelle Darstellung seiner Wissensansprüche in einer Bildserie als demonstratio ad oculos präsentiert, die Bildserie also als ein Evidenzherstellungsverfahren begreift, ganz im Sinne der medizinischen Texte der Renaissance.18 Vor diesem Hintergrund lässt sich dann auch der Funktionswandel der Bildserie als Darstellungsform um 1800, die nicht mehr von der Chronologie des embryogenetischen Geschehens bestimmt ist, sondern – wie Wellmann überzeugend argumentiert – von der Veränderung in der Auffassung der Entwicklung als Bewegung bedingt ist – eventuell besser verstehen. Beide Beiträge gelten somit als anschauliche Beispiele, die zeigen, dass bei Wissenschaftsprozessen auch im Blick auf _____________ 17
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von Haller, Albrecht, Vom Nutzen der Hypothesen [Vorrede zur deutschen Übersetzung von Büffons Naturgeschichte, Hamburg 1751], zit. nach: ders., Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst, Johann Georg Zimmermann (Hrsg.), Zweyter Theil, Bern 1787, S. 95-118, Zitate S. 103 u. S. 115; ’sGravesande, „Introductio ad Philosophiam“, Lib. II, Pars I, Cap. XVII (De Probabilitate) u. Lib. II, Pars III, Cap. XXXIV (De Usu Hypothesium), S. 182-195 u. S. 300-308. Vgl. hierzu ausführlicher De Angelis, Von Newton zu Haller, S. 417-435. In einem zentralen Abschnitt seines Traktats weist Wolff darauf hin, dass er vor Augen führen wird, wann eine organische Struktur zu existieren beginnt und wie diese dabei aussieht. Seine visuelle Darstellung folgt also dem embryologischen Geschehen chronologisch. Vgl. Wolff, Caspar Friedrich, „Theoria Generationis“, Pars II. De Generatione Animalium. Vis vegetabilium essentialis. […] § 166, S. 72: „[…] Et tandem, quando incipiant vasa existere, & quomodo incipiant, […] ad oculum demonstrabo.“, zit. nach dem ND der Ausg. Halle 1759, in: ders., Theorie von der Generation in zwei Abhandlungen erklärt und bewiesen. Theoria Generationis. Mit einer Einführung von Robert Herrlinger, Hildesheim 1966.
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XII. Darstellungsformen medizinischen Wissens. Einführung
die Darstellungsformen ganz bestimmt von Innovationen, aber auch von Kontinuitäten ausgegangen werden muss.
Darstellung des Unbekannten. Narrative und Metaphern in der Debatte um die Pockeninokulation Cornelia Zumbusch Aus mitteleuropäischer Perspektive fällt die Entdeckung der Impfung mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts zusammen. 1701 beobachten der Gelehrte Pylarini und der Arzt Timoni in Konstantinopel ein Verfahren der Pockenimpfung, das sie 1713 in England, 1714 in Italien bekannt machen. Das Verfahren wird in England und Frankreich aufgegriffen und ab der Jahrhundertmitte auch in Deutschland unter den verschiedenen Namen des Inokulierens, Impfens, Belzens, Pfropfens oder auch der Variolation (lat. variola, Pocken) angewandt.1 Wie die gartenbauliche Herkunft des Wortes Inokulieren impliziert, wird bei der Impfung der unveränderte Krankheitserreger verabreicht und dem Impfling gleichsam aufgepfropft. Mit der kontrollierten Selbstansteckung praktiziert man eine Form der Immunisierung, bevor das Ansteckungsgeschehen wissenschaftlich durchschaut ist. Bis zur mikroskopischen Sichtbarmachung von Erregern durch Pasteur und Koch am Ende des 19. Jahrhunderts bleibt die Ursache ansteckender Krankheiten eingestandenermaßen unbekannt. In Krünitz’ Oekonomischer Encyclopädie ist dieses Nicht-Wissen ein konstitutiver Bestandteil ihrer Definition: eine ansteckende Krankheit nennen wir diejenigen, in welcher etwas, uns ganz Unbekanntes, aus einem kranken Körper ausgeht, und in einem andern gesunden, in welchen es gekommen ist, dieselbe Krankheit hervorbringt.2
Bei der Pockenimpfung handelt es sich im 18. Jahrhundert also um eine Praxis ohne Theorie. Die Frage nach der Darstellung von Wissen ist deshalb im Bezug auf die Impfung zu reformulieren: mit welchen Strategien der Darstellung lässt sich eine Praxis durchsetzen, über deren Funktionsweise man gerade nichts weiß? _____________ 1 2
Vgl. Razzell, Peter, The conquest of smallpox. The impact of inoculation on smallpox mortality in eighteenth-century Britain, Firle 2003; Brunton, Deborah, Pox Britannica. Smallpox inoculation in Britain (1721–1830), unveröffentl. Diss. University of Pennsylvania 1990. Krünitz, Johann Georg, „Krankenhaus“, in: Ökonomische Encyklopädie oder Allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft, in alphabetischer Ordnung, 47/1789, S. 267.
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Narrative und Metaphern in der Debatte um die Pockeninokulation
Die Popularisierung der Impfung ist alles andere als unproblematisch, wobei zwei persuasive Strategien besonders hartnäckig verfolgt werden. So steigt in den Empfehlungsschriften die tabellarisch dargestellte numerische Evidenz zum wesentlichen Argument für die Impfung auf. Zwar ist auf die wachsende Bedeutung des quantitativen Datenmaterials im vorstatistischen Zeitalter im Hinblick auf die englische Debatte bereits hingewiesen worden3, weniger beachtet blieb jedoch das Spannungsverhältnis zwischen dem Einsatz von Zahlenmaterial und den Formen der Erzählung. Welche Konsequenzen, so soll zunächst gefragt werden, hat die Konkurrenz zur numerischen Evidenz der Tabelle für die Gattung der Fallgeschichte? Die zweite Kompensationsstrategie betrifft die metaphorische Sichtbarmachung des unbekannten Erregers, denn bei der Ansteckung handelt es sich um eine Blumenbergsche „logische ‚Verlegenheit‘“, „für die die Metapher einspringt“.4 Der zweite Teil geht deshalb den Metaphern und Modellen des Infektions- und des Impfgeschehens nach. Welche Bildfelder lassen sich systematisieren, in welcher Weise modellieren sie das Ansteckungs- und Immunisierungsgeschehen und woher beziehen sie ihre Plausibilität? Bereits beim kursorischen Blick auf die Impfdebatte fällt auf, dass sich die Impfbefürworter auf die Beweiskraft von quantitativem, in Tabellen angeordnetem Zahlenmaterial verlassen. Der englische Arzt James Jurin, der sich als einer der ersten für die Impfung einsetzt, argumentiert schon in den 1720ern ausschließlich vor dem Hintergrund von Listen und Tabellen.5 Dies gilt auch für die in Deutschland wohl umfassendste Impfkampagne, die Johann Christian Wilhelm Juncker (1761–1800, Professor für Medizin in Halle) in Preußen-Brandenburg lanciert und zwischen 1792 und 1797 publiziert. Indem Juncker die numerische Evidenz zum zentralen Argument in der Impfdebatte macht, kompensiert er sein explikatives Defizit durch ein Verfahren der visuellen Evidenz-Erzeugung. Juncker rechtfertigt den landesweiten Aufruf zur Sammlung von Datenmaterial damit, dass der Nutzen der Impfung „recht gewiß und augenscheinlich auszumitteln“ sei. Er ist der Ansicht, dass „endlich der Augenschein uns alle belehren müsse“, wobei nur jährlich veröffentlichte Statistiken den Nut_____________ 3 4 5
Rusnock, Andrea A., The Quantification of Things Human: Medicine and Political Arithmetic in Enlightenment England and France, Princeton 1990; Daston, Lorraine, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1975. Blumenberg, Hans, „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher, 2. Aufl., Darmstadt 1996, S. 287. Vgl. Rusnock, Andrea A., „The Weight of Evidence and the Burden of Authority: Case Histories, Medical Statistics and Smallpox Inoculation“, in: Roy Porter (Hrsg.), Medicine in the Enlightenment, Amsterdam, Atlanta 1994, S. 289-300.
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zen der Impfung „recht augenscheinlich darzulegen“ vermögen.6 Rüdiger Campe hat im Zusammenhang mit Süßmilchs Schrift Gedancken von den epidemischen Krankheit darauf aufmerksam gemacht, dass das tabellarische Vor-Augen-Stellen der Statistik den rhetorischen Topos der evidentia belehnt.7 Zugleich lässt sich bei Juncker eine signifikante Umakzentuierung im Genre der medizinischen Fallgeschichte beobachten. Die im Archiv mitgeteilten Fallgeschichten schildern keinen exemplarischen Verlauf, sondern erfassen die „unglücklichen Impfungen“.8 Erzählt wird dann, wenn freiwillige Impfungen unfreiwillig Epidemien auslösen oder gar zu Todesfällen führten. In Junckers Worten sind es Fälle zur „Warnung“, die die „Ausnahme von der Regel“ bilden.9 So produziert das tabellarische Argument für die Impfung in der Form der Fallgeschichte seinen eigenen Gegenbeweis, der zwar in den Anhang abgedrängt, aber weiter transportiert wird. Nicht nur die Fehlschläge finden ihren Ort am Rand der Tabellen, sondern auch die Zweifelsfälle – hat die Impfung wirklich angeschlagen? Ist der Patient danach wirklich noch einmal an den Pocken erkrankt oder nicht vielmehr an etwas anderem? Derartige Zweifelsfälle werden dargestellt, um sie zu analysieren und den Einspruch gegen die Impfung zu entkräften. Die Narration wird nicht nur zum Medium des Widerspruchs, sondern auch seiner Bewältigung. Neben dem Junckerschen, gegen die Regel verstoßenden Ausnahmefall bildet sich ein zweiter Erzähltypus heraus: Die Erzählung vom exemplarischen Fall einer ganzen Epidemie. Der Titel von Christoph Wilhelm Hufelands Bemerkungen über die natürlichen und geimpften Blattern zu Weimar im Jahr 1788 ist hier Programm, denn Gegenstand der Erzählung ist eine Pockenepidemie zu Weimar im Jahr 1788. Hufeland will sich an den Einzelfall der von ihm selbst beobachteten Epidemie halten, um von ihm aus zur allgemeinen Regel zu gelangen. In der Vorrede heißt es: vorzüglich darf der Epidemienschreiber nie vergessen, daß die Wahrheit seiner Behauptungen oft nur relativ ist, daß die glücklichsten Erfahrungen in einer Epidemie noch keine Gesetze fürs Ganze geben, und nur mit einer richtigen Urtheilskraft und einem feinen Beobachtungsgeist auf andre Fälle angewendet werden können.10
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Juncker, Johann Christian Wilhelm (Hrsg.), Archiv der Aerzte und Seelsorger wider die Pockennoth, 2/1797, S. 110f. Campe, Rüdiger, „Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997, S. 208-225. Juncker (Hrsg.), Archiv der Aerzte und Seelsorger, S. 113. Ebd., S. 196 und S. 198. Hufeland, Christoph Wilhelm, Bemerkungen über die natürlichen und geimpften Blattern zu Weimar im Jahr 1788, 2. Aufl., Leipzig 1793, Vorrede, ohne Paginierung.
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Narrative und Metaphern in der Debatte um die Pockeninokulation
Hufeland beginnt seine Epidemografie mit einer Skizze des chronologischen Hergangs. Er erzählt, wie die Pocken in Erfurt und Jena schon ein Jahr zuvor ausbrachen, wie der Landesvater daraufhin seine eigenen Kinder impfen ließ, wie daraufhin hundert weitere Kinder inokuliert wurden, von denen keines starb, wie dann im April 1788 die Seuche von Süden hinein in Weimar Einzug hielt und die Stadt im Norden wieder verließ. In diese Erzählung rückt er drei Mortalitätstabellen ein, an denen sich der Verlauf der Epidemie über sechs Monate hinweg anhand der Erkrankungen, Impfungen und Sterbefälle aufgeschlüsselt nach Alter und Geschlecht ablesen lässt. Auf die Verlaufserzählung folgt eine Schilderung des allgemeinen Gesundheitszustandes der Bevölkerung. Diese Beschreibung führt Hufeland mit dem Argument ein, sie trage entscheidend „zur Erläuterung des epidemischen Charakters und der Modifikation der Krankheit“ bei, denn der Gesundheitszustand sei „dem Epidemienbeschreiber eben das […], was dem Schlachtenbeschreiber die Schilderung des Terrains“.11 Die Beschreibung des sozialen Körpers der Bevölkerung gleicht der topografischen Erfassung eines Schlachtfelds. Wenn sich Hufeland wiederholt als Epidemienschreiber bezeichnet, so ist der Gegenstand seiner Erzählung nicht der einzelne Kranke, sondern die kollektive Erscheinung des Seuchenzugs. Damit wird aber die Epidemie zum eigentlichen Held der Erzählung. Sie kommt, breitet sich aus, und geht zuletzt wieder, unterdessen leidet sie unter gewissen klimatischen Verhältnissen, profitiert von anderen – kurz, die Krankheit hat ein Eigenleben und verfügt in Hufelands Worten sogar über einen eigenen „Charakter“. Über den Umweg einer als Epidemienschreibung gefassten Narration materialisiert sich die unsichtbare Ursache in der personifizierten, zum Akteur gewordenen epidemischen Krankheit. Hier greift die von Foucault analysierte „historische Individualität“ der Epidemie, laut Foucault eine „Wahrnehmungsstruktur“, in der „dem Problem der Ansteckung relativ wenig Bedeutung“ zukommt.12 Anders als Foucault aus seinen Quellen ableitet, deutet sich in Hufelands Ausführungen allerdings ein Paradigmenwechsel ab, der dem Problem der Ansteckung sehr wohl Bedeutung beimisst. Die genaue Beschreibung des Terrains und der Übertragungswege der Pocken dient Hufeland nämlich gerade „zum sichern Beweis ihrer Fortpflanzung durch Mittheilung“.13 Mit „Fortpflanzung“ und „Mitteilung“ bringt Hufeland nun zwei Vorstellungskomplexe ins Spiel, die entscheidend zur Durchsetzung des Ansteckungsparadigmas beitragen. _____________ 11 12 13
Ebd., S. 6. Foucault, Michel, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, 6. Aufl., Frankfurt am Main 2002, S. 41. Vgl. Hufeland, Bemerkungen über die natürlichen und geimpften Blattern, S. 3.
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Tatsächlich muss sich die Auffassung von der Ansteckung als einem Erklärungsgrund epidemischer Krankheiten im Verlauf des 18. Jahrhunderts erst noch durchsetzen. Die medizinische Konzeptualisierung der Ansteckung geht mit der Praxis der Pockenimpfung einher, statt ihr vorauszugehen. Epidemien wurden innerhalb des hippokratischen Modells auf Umweltfaktoren wie Klima oder so genannte Miasmen zurückgeführt, eine endemische Kinderkrankheit wie die Pocken einer entwicklungsbedingten Gärung der Säfte zugeschrieben. Die Pocken bildeten eine wichtige Ausnahme, denn hier waren sich die Ärzte bereits früh darüber einig, dass die Krankheit durch eine spezifische „Materie“ verursacht würde.14 Im Zuge der Impfdebatten verschieben sich die Vorstellungen von Miasma und Gärung hin zur Auffassung von einer Mitteilung und Fortpflanzung ansteckender Materie.15 Der Arzt Johann Friedrich Struensee (1737–1772) praktiziert seit 1757 in Altona, in derselben Stadt, wo sein Vater als Dompropst das „BlatterBelzen“ von der Kanzel herab als einen „vermessenen und sündlichen Eingriff in die göttliche Vorsehung“ verwirft.16 Struensee hält dies nicht davon ab, sich 1760 in einer Bahn brechenden Schrift „Von den Blattern und der Blattern-Einpfropfung“ klar für die Impfung auszusprechen. Bahn brechend ist dieser medizinische Versuch insofern, als Struensee zugleich die These von der besonderen „Qualität des Ansteckungsstoffs“ aufstellt, der sich „kraft seiner unendlichen Theilbarkeit aus sich selbst vermehret“. Zur Visibilisierung des unbekannten Ansteckungsstoffs verlässt er sich auf Metaphern unterschiedlicher Provenienz. Die unendliche „Vermehrung“ erklärt Struensee zunächst über den Vergleich mit dem Magnetismus: „so wie die Eigenschaft des Magneten durch Berührung auf viele Eisenstücke übergehen kann, ebenso kann das Blatterngift von einem Kranken auf noch ungeblatterte Personen übertragen werden.“ Diese Analogie wird jedoch sogleich in die nächste übersetzt: „So wie der Schimmel von einer faulen Frucht auf viele andere Früchte noch übergehen kann, ebenso kann der Ansteckungsstoff der Pocken oder der Ruhr von einem Kranken auf noch gesunde Personen übertragen werden.“17 Eine dritte Ansteckungsmetapher gewinnt er in einer vier Jahre später erschienenen Schrift aus einer kuriosen Beobachtung: _____________ 14 15 16 17
Auf die Pocken als Modellfall ansteckender Krankheiten verweist: Rosenberg, Charles, „Explaining epidemics“, in: ders., Explaining Epidemics and other Studies in the History of Medicine, Cambridge 1992, S. 293-304. Bernard Paillard („Petit historique de la contagion“, in: Communications, 66/1998, S. 9-20) hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Durchbruch der Vorstellung vom lebendigen Erreger mit dem Gelingen der praktischen Abwehr durch „Lebendimpfung“ zusammenhängt. Zit. nach: Jahnsdorf, A., Die Pockennot im 18. Jahrhundert, Leipzig 1867, S. 77. Struensee, Johann Friedrich, „Von den Blattern und der Blattern-Einpfropfung“, in: Gemeinnütziges Magazin, 1760, 3. Stück, S. 182 und 185.
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Ein Brief, der von einer Person, die die Blattern hat, geschrieben wird und über 50 Meilen auf der Post geht, giebt demjenigen, der ihn liest, die nemliche Krankheit. Gewiß eine unglaubliche Sache, wenn sie nicht durch viele Beispiele bestätigest worden wäre.18
Die unglaubliche Begebenheit der postalisch übertragenen Pocken untermauert die These von der Ansteckung als einem Übertragungsgeschehen in doppelter Weise. Sie führt erstens den empirischen Beweis für den direkten Zusammenhang der Erkrankung mit der Übermittlung von Krankheitsstoffen. Zweitens fundiert sie mit dem Vorgang der Briefkommunikation eine im 18. Jahrhundert in die alltägliche Rede übernommene Ansteckungsmetapher. Wenn sich die Krankheit, wie die Anekdote beweist, buchstäblich mitteilen lässt, dann ist das Ansteckungs- als ein Kommunikationsgeschehen zu begreifen. Friedrich Christian Bach nimmt den Begriff der Mitteilung in seiner Monografie zur Pathologie der ansteckenden Krankheiten sogar in die Grunddefinition der Ansteckung auf: „Ansteckung nennt man die Mittheilung einer ähnlichen Krankheit von einem Individuum zu einem anderen Individuum“.19 Bach bildet dabei eine ähnliche Metaphernkette wie Struensee. Zunächst grenzt er die Contagien von anderen Giften ab und rückt sie in die Nähe des „Saamens“, der über eine ähnlich „große Theilbarkeit“ verfüge, ohne „seine befruchtende Kraft“ zu verlieren.20 Die Wirkungsweise dieses reproduktionsfähigen Contagiums modelliert Bach nach dem Vorbild des animalischen Magnetismus. Ansteckung ist wie die Weitergabe einer elektrischen Ladung zu denken, die den Organismus instantan umpolt. Das Contagium bewirkt in dem Organismus, auf den es trifft, eine Veränderung seiner chemischen Zusammensetzung, die sich in einer Kettenreaktion innerhalb des Organismus ausbreitet.21 Diese Kettenreaktion wiederholt sich beim Kontakt mit anderen Menschen. Ansteckung verbreitet sich durch die Fähigkeit, durch Sympathie in Mitleidenschaft gezogen zu werden, deshalb führt Bach die Ansteckung auf die „erhöhte Sensibilität im thierischen Magnetismus“ zurück. Damit ist der Ansteckungsstoff jedoch zu einer Kraft umgedeutet, die einer Materie als einem „Leiter“ bedarf.22 Mit der These vom animalischen Magnetismus, die die sympathetische Mitteilung der Krankheit erfasst, hintertreibt zugleich den initialen Vergleich mit dem Samen. _____________ 18 19 20 21 22
Struensee, Johann Friedrich, „Anmerkungen über die Gifte und ihre Arzneikräfte“, in: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen, Glückstadt 1764, 43. Stück, Sp. 685. Bach, Friedrich Christian, Grundzüge zu einer Pathologie der ansteckenden Krankheiten, Halle, Berlin 1810, S. 4. Ebd., S. 194. Ebd., S. 244. Ebd., S. 208.
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Mit der Mitteilungstheorie verändern sich auch die Erklärungsversuche der Immunisierung durch Ansteckung. Ein frühes Modell des Impfungsgeschehens verlässt sich auf das Konzept der purgatio, das seit der Antike zwischen Kunst und Medizin hin- und hergereicht worden ist. Auf die Frage nach der Wirkungsweise der Impfung gibt Leon Elias Hirschel in seiner Abhandlung von den Vorbauungs- und Vorbereitungsmitteln bey den Pocken eine Antwort, die der Diskussion um die aristotelische Katharsis entnommen sein könnte. Hirschel setzt bei der natürlichen Heilung der Pocken an, die er als Reinigungsprozess beschreibt, bei dem sich der Körper durch die Haut vom Pockengift befreit. Die Pockenimpfung imitiert nun den natürlichen Vorgang, wobei die giftige Materie durch die künstlich geschaffenen Impfschnitte besonders gut austreten könne. Laut Hirschel beruht der Impfschutz also nicht auf Gewöhnung, Unempfindlichmachen oder Panzerung gegen den Erreger, sondern umgekehrt auf seiner Ausleitung, also der Reinigung und „Klarifikation“ des Körpers.23 Mit dieser Erklärung verkehrt Hirschel aber die Prämissen des Verfahrens, denn die Inokulation bringt ja gerade infektiöses Material in den Körper hinein, statt es auszuleiten. So kann er zwar die einmalige Pockenkrise beschreiben, nicht aber die Unanfechtbarkeit gegen eine zweite Ansteckung erklären. Innerhalb des Säfteparadigmas lässt sich offenbar kein Konzept der Immunisierung und Immunität formulieren. Tatsächlich zeigt sich das Phänomen der Immunisierung dem Paradigma der Nervenphysiologie und ihren Termini von Reizbarkeit und Empfindlichkeit weitaus affiner. In Bachs Fassung der Ansteckung als Umpolung, bei der die magnetische Empfindlichkeit des Organismus verändert wird, lässt sich die Immunität als automatische Folge der Ansteckung erklären. Die Pocken seien eine Kinderkrankheit, weil sie bei Kindern auf besonders „empfindende[] und reizbare[] System[e]“ träfe.24 Aus dem empfindlichen Kinderkörper macht die Pockeninfektion einen ungerührten, unempfindlichen Organismus: „Das empfindende System ist nun gegen ein Gift unempfindlich, von dem es vormals bis zur Todesgefahr aufs das heftigste gerührt wurde.“25 Bach zieht aus dieser – angeborenen oder erworbenen – Unempfindlichkeit eine eigenartige Konsequenz. Wenn sich Ansteckungskrankheiten nach dem „Gesetz“ des „sympathischen Wechselverhältnisses“ ausbreiten26, dann gilt, dass nur ähnliche Organismen einander anstecken können. Am Immunen hingegen prallt der sympathetische Rapport gleich gestimmter Wesen ab: Die Krankheit über_____________ 23 24 25 26
Hirschel, Leon Elias, Abhandlung von den Vorbauungs- und Vorbereitungsmitteln bey den Pocken, Berlin 1770, S. 65. Vgl. Juncker (Hrsg.), Archiv der Aerzte und Seelsorger, S. 18. Ebd., S. 19. Ebd., S. 251.
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trägt sich nach Bachs Beobachtung nicht auf „Subjecte“, „welche nicht in diesen Kreis passen“.27 Immun ist, wer nicht kommuniziert. Im Gefolge der pragmatisch orientierten Impfdebatte bilden sich also neue Modellierungen des Ansteckungsgeschehens heraus. Indem die Krankheit in den zu Epidemiengeschichten umgeschriebenen Krankengeschichten nicht der individuellen Disposition zugeschrieben, sondern als kollektives Phänomen aufgefasst wird, gewinnt sie eine Identität als Akteur, die umherwandert und sich fortpflanzt. In der Rede von der Fortpflanzung der Krankheit ist zudem die Metapher der Inokulation als Pfropfung und Verpflanzung von Lebendigem wörtlich genommen. Damit bereitet die gleichsam blindlings praktizierte Impfung eine theoretische Einsicht vor, die Pasteur und Koch mit der Formulierung der Keimtheorie wissenschaftlich nutzen. Verlässt man allerdings den von der Medizingeschichte vorgezeichneten Pfad vom 18. ins 19. Jahrhundert, so zeigt sich, wie fest die aus heutiger Sicht fortschrittliche Ansicht von der Mitteilbarkeit der Todeskeime in das sympathetische Denken gefügt ist. Die Vorstellung von der Fortpflanzung fügen Mediziner wie Struensee und Bach mit dem Modell der sympathetischen Mitteilung zusammen. Ansteckung wird als sympathetische Wechselbeziehung gedacht, die auf der Empfänglichkeit und Sensibilität des Individuums beruht, während die Immunisierung einen unempfindlichen Organismus herstellt. Die Impfung steht also im Dienst einer notwendigen Desensibilisierung. Damit wird die Unempfindlichkeit zum erstrebenswerten Zustand der Gesundheit und Unanfechtbarkeit erklärt. Hier deutet sich die Kontaktstelle an, über die auch Literatur und Medizin kommunizieren.28 Ansteckung avanciert um die Mitte des 18. Jahrhunderts nämlich zu einer prominenten ästhetischen Metapher, die sich zum Vergleich mit den wirkungs- wie produktionsästhetischen Herzstücken der Empfindsamkeit von Mitleid und Rührung bis zu Enthusiasmus und Inspiration herangezogen wird. Mit Blick auf das um 1800 formulierte medizinische Immunisierungsmodell mit seinem Primat der Unempfindlichkeit stellt sich zuletzt die Frage, ob und wie auch das Phänomen der Immunität in die Ästhetik importiert wird – dies ist aber nicht mehr an medizinischen, sondern ästhetischen und literarischen Texten zu zeigen.
_____________ 27 28
Ebd., S. 301. Dieser Kommunikation von Kunst und Wissenschaft gehe ich in meinem Habilitationsprojekt unter dem Titel „Immunität der Klassik“ nach.
Keine Ikone der Entwicklung. Die Icones embryonum humanorum von Samuel Thomas Soemmerring Janina Wellmann Samuel Thomas Soemmerring (1755–1830) war einer der bedeutendsten Anatomen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. 1779 Professor der Anatomie in Kassel, ab 1784 in Mainz und später in München, war Soemmerring um die Jahrhundertwende auch als praktizierender Arzt in Frankfurt am Main tätig.1 In diese Periode fällt die Veröffentlichung einer Embryonentafel, die heute zu den bekanntesten Repräsentationen der Biologie dieser Zeit gehören dürfte. Die Tafel erschien in den Icones embryonum humanorum, einem von zwei entwicklungsgeschichtlichen Tafelwerken, die Soemmerring in den 1790er Jahren herausbrachte. 1791 hatte er mit den Abbildungen und Beschreibungen einiger Misgeburten, die sich ehemals auf dem anatomischen Theater zu Cassel befanden eine Arbeit über Fehlbildungen in der Embryonalentwicklung herausgegeben. Soemmerring zeigt in den Icones auf zwei Tafeln insgesamt 20 Figuren von Embryonen. Von den Figuren befinden sich 17 auf der ersten Tafel, sie sind in ihrer natürlichen Größe gezeichnet und chronologisch geordnet von der dritten Woche bis zum vierten Monat der Schwangerschaft. Die zweite Tafel zeigt einen Fötus des fünften Monats sowohl innerhalb, als auch außerhalb des mütterlichen Uterus. Die Kupferstiche sind großformatig, ihre Seitenlänge beträgt etwa 47 auf 63 Zentimeter. Das Werk ist als ein Tafelwerk, der begleitende Text zur Erläuterung der Abbildungen angelegt: Er besteht aus einer Praefatio, die mit einer Auflistung embryologischer Arbeiten von Fabricius ab Aquapendente zu Beginn des 17. Jahrhunderts bis zu Georg Ferdinand Danz beginnt, dessen zweibändiger Grundriss der Zergliederungskunde des ungebohrnen Kindes 1792/93 mit Anmerkungen Soemmerrings erschienen war. Daran schließt sich die Explicatio figurarum, eine detaillierte Erläuterung jeder einzelnen der 20 Embryonendarstellungen zuzüglich der Figuren des Titelkupfers. _____________ 1
Zur Biografie siehe Wagner, Rudolph, Samuel Thomas von Soemmerrings Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen, Franz Dumont (Hrsg.), Stuttgart 1986 (Soemmerring-Forschungen, 2).
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Die Icones embryonum humanorum von Samuel Thomas Soemmerring Soemmerring, Icones embryonum humanorum (1799), Tafel 1 und 2.
Die Tafel nimmt einen besonderen Platz in der Abbildungstradition der Embryologie ein. Bevorzugtes Studienobjekt für entwicklungsgeschichtliche Fragen war seit jeher das Hühnerei. Das leicht zugängliche und allzeit verfügbare Ei, nicht der im Mutterleib verborgene menschliche Embryo, der sich nur tot als Abort oder im aufgeschnittenen Leib der Mutter dem Zugriff des Anatomen aussetzte, prägte die bildliche Darstellung der Embryologie. Soemmerring kommt das Verdienst zu, zum ersten Mal menschliche Embryonen isoliert, in ihrer tatsächlichen Gestalt einzeln abgebildet und auf einer Tafel zusammengestellt zu haben. In der Wissenschaftsgeschichte ist Soemmerrings Tafel aber nicht nur wegen ihres Bildgegenstandes zu Prominenz gelangt. Es ist vor allem die Ordnung der Embryonen auf dem Kupfer, die das Interesse der Historiker auf sich gezogen hat. Der linearen Anordnung der Embryonen wegen gilt die Darstellung in der Wissenschaftsgeschichte als eines der zentralen Bildereignisse der um 1800 entstehenden Embryologie. Die gängige ‚Seh‘art des Bildes lautet, dass es sich um die erste Tafel handelt, welche die Entwicklung des menschlichen Embryos in einer Abfolge von Stadien als kontinuierliche Entwicklungsreihe repräsentiert. Soemmerrings Leistung liege genau darin, „jenseits von foetalen Momentaufnahmen den Entwicklungsgedanken und die zeitliche Dimension in der deskriptiven Embryologie“ verbildlicht zu haben.2 Der vorliegende Beitrag argumentiert demgegenüber, dass die Reihe der Embryonen bei Soemmerring keine Entwicklungsserie darstellt. Die Tafel steht statt dessen in einer anatomischen Abbildungstradition, die sich um _____________ 2
Soemmerring, Samuel Thomas, Schriften zur Embryologie und Teratologie, Ulrike Enke (Hrsg.), Basel 2000, S. 104, vgl. auch Vorwort; Hopwood, Nick, „A history of normal plates, tables and stages in vertebrate embryology“, in: The International Journal of Developmental Biology, 51/2007, S. 1-26, hier S. 3.
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das isolierte Präparat, die Präzision der Darstellung und den Vergleich der Formen organisierte. Entsprechend entwirft die Tafel ein Tableau pränataler Schönheit. Um eine Serie sukzessiver epigenetischer Formbildung handelt es sich dagegen nicht. 1. Eine Sammlung von Präparaten Gegenstand von Soemmerrings Untersuchungen war das anatomische Präparat. Seziert, konserviert, in Weingeist getaucht und Behälter verschlossen oder als skelettierte Köpfe und Körper waren Embryonen Anschauungsmaterial in Kunstkammern und anatomischen Sammlungen. Aufgrund einer solchen Sammlung einzelner Embryonen hatte Soemmerrings Doktorvater in Göttingen, der Anatom und Lehrer der Geburtshilfe Heinrich August Wrisberg (1739–1808), 1764 seine Descriptio anatomica embryonis observationibus illustrata verfasst, die Soemmerring einleitend in seinen Icones für ihre Sezierkunst lobt. Soemmerring selbst begann vermutlich bereits im Jahr 1779 mit dem Aufbau einer eigenen Sammlung.3 1780 kaufte er für das Institut in Kassel die Sammlung des Jenaer Anatomen Karl Friedrich Kaltschmied (1706–1769) an. Diese versammelte neben missgebildeten auch 32 normal entwickelte Embryonen beiderlei Geschlechts.4 Daneben präparierte Soemmerring selbst Embryonen. Ebenso zufällig wie seine Sammlung wuchs – die Herkunft der Embryonen reichte von Schottland bis Polen –, wurden ihm von Ärzten und Hebammen kürzlich verstorbene Embryonen zugetragen. Einen Eindruck vom Umfang seiner anatomischen Sammlung gibt der Catalogus musei anatomici quod collegit Samuel Thomas de Soemmerring, den sein Sohn Detmar Wilhelm Soemmerring 1830 herausgab.5 Dieser Katalog listet insgesamt 87 embryologische Präparate auf. Ulrike Enke hat gezeigt, dass sich für einen Teil der Embryonen, die in den Icones abgebildet sind, die Spur bis zum Präparat verfolgen lässt: So sei die erste Figur auf der Grundlage des Präparats mit der Nummer 39 entstanden, die zweite aufgrund des Präparats Nr. 41, die Figuren des Titels aufgrund von Präparat Nr. 55, Figur 14 auf der Basis von Nr. 82, Figur 15 auf Basis von Nr. 92, Figur 16 auf Grundlage von Nr. 103 und die Figuren 18–20 auf der Grundlage von Präparat Nr. 107 der Soemmerringschen Sammlung. Für die Figuren 3 und 7 weist Soemmerring explizit darauf hin, dass es sich um Weingeistpräparate handelt, wäh_____________ 3 4 5
Die Darstellung der Soemmerringschen Sammlung folgt den maßgeblichen Forschungen Enkes, vgl. Soemmerring, Schriften zur Embryologie und Teratologie, zum Aufbau der Sammlung vgl. S. 92. [Im Folgenden werden die Seitenangaben im Haupttext ausgewiesen.] Zur Sammlung Kaltschmieds siehe ebd., S. 58-68, 94. Zum Katalog und den einzelnen Präparaten ebd., S. 92-97, besonders die Übersicht S. 96.
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Die Icones embryonum humanorum von Samuel Thomas Soemmerring
rend er die Embryonen, die die Vorlage der ersten und zweiten Figur bildeten, als frische Aborte erhielt und der Fötus der Figuren 18, 19, 20 sowie des Titelkupfers durch äußere Gewalteinwirkung gestorben und die Leiche der Mutter kurz nach dem Tod zu ihm gelangt war. Die Herkunft der Embryonen der verbleibenden Figuren 4–6 und 8–17 bleibt unklar. 2. Die Tradition der anatomischen Abbildung Soemmerrings Embryonen waren nicht weniger anatomische Präparate als etwa Leber, Milz oder Lunge. Das gleiche gilt für ihre Repräsentation: Die Embryonentafel ist Teil der anatomischen Abbildungstradition. Einleitend zu den Icones stellt Soemmerring klar, dass er seine Tafeln als Ergänzung zu William Hunters berühmter, 1774 erschienener Anatomia uteri humani gravidi versteht. Hunter hatte darin in opulenten Kupfern die Entwicklung des Embryos ab dem 4. Monat dargestellt. Soemmerring möchte Hunter dahingehend ergänzen, dass er den fehlenden Zeitraum der frühen Schwangerschaft behandelt und „meine zwei Tafeln ganz nach Art eines Supplements diesen Tafeln hinzugefügt werden können“ (S. 173). Zu diesem Zweck zitiert schon das gewählte Format die Abbildungen Hunters: „Diese zwei also im Verein mit den Hunterschen Tafeln, die genau dieselbe Größe und das gleiche Format haben, bilden eine vollständige Abfolge menschlicher Feten von den ersten Ursprüngen bis zur vollständigen Reife“ (ebd.). Ein Hauptziel von Soemmerrings Textapparat besteht nicht zufällig darin, den eigenen Blick mit dem seiner Vorgänger zu synchronisieren. So vergleicht er nicht nur seine Darstellungen „mit den vorzüglichsten Bildern von Trioen, Albinus, Wrisberg, Hunter und Denman, um dadurch besser beurteilen zu können, was vielleicht berichtigt, hinzugefügt, oder überhaupt besser dargestellt werden könnte“ (ebd.). Fast jede der einzelnen Erklärungen zu den Figuren enthält zudem einen präzisen Verweis auf einzelne Darstellungen in anderen Werken, die mit den eigenen minutiös abgeglichen werden.6 Auf diese Weise wird jede seiner Figuren eingewoben in die bestehende anatomische Ikonografie, wird sie im Netz der Bilder verortet und mit der Autorität der Tradition ausgestattet.7 _____________ 6
7
Siehe z. B. die Erläuterung zur 2. Abbildung: „an Größe stimmt er mit den Embryonen überein, die gezeichnet haben: Trioen, Taf. V, Abb. 3, auf der gleichwohl kein Teil klar abgegrenzt ist. Albinus in den Annot. Acad., Taf. V, Abb. 5. Blumenbach im Specimen Physiol. compar., Abb. 1, von dem er behauptet, er komme bezüglich seines Alters sicherlich nicht über die fünfte Woche hinaus, Denman auf der sechsten Tafel, 1783“ (ebd., S. 181). In Albrecht von Haller hatte Soemmerring einen berühmten Vorgänger für dieses Vorgehen. Haller hatte 1758 für seine entwicklungsgeschichtliche Arbeit „Sur la formation du cœur dans le poulet“ die eigenen Beobachtungen vor dem Tableau der Abbildungen seiner
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Nicht weniger als der eigene Blick gewährleistete die Wahl der Zeichner und Stecher die Einbindung in die Bildwelt der Anatomie.8 Abbildungen waren von zentraler Bedeutung für Soemmerrings anatomische Arbeiten. Christian Koeck (1758–1828), der die Zeichnungen für die Icones anfertigte, gehörte zu seinen wichtigsten Mitarbeitern.9 Zum ersten Mal arbeiteten sie für Soemmerrings Abhandlung Über die Wirkung der Schnürbrüste (1793) zusammen; auch die Zeichnung des weiblichen Skeletts in der Tabula sceleti feminini von 1796 und nicht zuletzt die zahlreichen Zeichnungen für die Abhandlungen zu den Sinnenorganen, zwischen 1801 und 1809 veröffentlicht, stammten von Koeck, dessen Fähigkeiten Soemmerring einigen Unzuverlässigkeiten zum Trotz hoch schätzte. Sohn eines Stukkateurs, hatte Koeck seine Ausbildung in Paris an der Académie Royale und bei dem Bildhauer Jean-Antoine Houdon erhalten. Sein bildhauerisches Wissen setzte er ein, als er für Soemmerrings Abhandlung über das Ohr Modellagen in Wachs fertigte.10 3. Die Präzision der Schönheit Im Zentrum des kontinuierlichen Abgleichens zwischen dem mit eigenen Augen Gesehenen und den Darstellungen in der anatomischen Literatur steht die präzise Erfassung der Strukturen. Von den Exemplaren der Soemmerringschen Sammlung kamen daher nur diejenigen in die engere Wahl, die „sich durch ihre Präzision, Anordnung und Feinheit von selbst empfehlen“ (S. 171). Präzision bedeutete hier indessen nicht individuelle Detailtreue, sondern typisierte Gestalt. Mehr noch, ein ästhetisches Ideal _____________
8
9
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Vorgänger entfaltet, vgl. Wellmann, Janina, „Wie das Formlose Formen schafft. Bilder in der Haller-Wolff-Debatte und die Anfänge der Embryologie um 1800“, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, 1.2./2003, S. 105-115. Ein Zeichner ließ sich keineswegs für verschiedene Disziplinen gleichermaßen einsetzen. Vgl. die Studie von Nickelsen, Kärin, „,On employera les meilleurs Graveurs pour les Figures‘. Zeichner und Stecher der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1700–1806“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 29/2006, S. 293-308. Koeck arbeitete mit den Stechern der Tafel auch für andere Werke zusammen. Die erste Tafel der Icones wurde von den Brüdern Ignaz Sebastian (1753–1817) und Josef Xaver Wolfgang Klauber (1740–1813) gestochen, mit denen er auch für den Naturforscher Johann Gotthelf Fischer von Waldheim (1771–1853) zusammenarbeitete, vgl. Soemmerring, Schriften zur Embryologie und Teratologie, S. 85, Anm. 445. Die zweite Tafel stach der Leipziger Kupferstecher Gottlieb Wilhelm Hüllmann (1765–nach 1828), die Titel- und Schlussvignette stammen von dem Frankfurter Kupferstecher Friedrich Ludwig Neubauer (1767–1828). Zu Koeck siehe Geus, Armin, „Christian Koeck (1758–1818), der Illustrator Samuel Thomas Soemmerring“, in: Gunter Mann/Franz Dumont (Hrsg.), Samuel Thomas Soemmerring und die Gelehrten der Goethezeit, Stuttgart, New York 1985, S. 263-278 (Soemerring-Forschungen, 1). Zu der Modellierung vgl. Samuel Thomas Soemmerring, Abbildungen des menschlichen Hoerorganes, Frankfurt am Main 1806, Vorrede.
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Die Icones embryonum humanorum von Samuel Thomas Soemmerring
allgemeiner Schönheit war das Ziel der Darstellung. Dafür musste jedoch Embryonen zunächst einmal eine ästhetische Qualität zugeschrieben werden, wurden sie doch von vielen „wie etwas Missgebildetes mit größtem Ekel“ betrachtet (S. 173). Soemmerring konstituiert den Embryo als Objekt eigener Schönheit mit dem Argument, dass „ein jedes Lebensalter […] sich seiner ihm eigenen Wohlgestalt und Schönheit [erfreut], die von jener Schönheit, die wir im vorausgehenden oder folgenden Alter bewundern, sehr verschieden ist“ (ebd.). Embryonen sind schon deshalb nicht hässlich zu nennen, „warum nämlich sollte es in jenem sehr zarten Lebensalter im ganzen an jeglicher harmonischer Form und Schönheit der Körperteile mangeln?“ (ebd.). Soemmerrings Bilder vom Embryo sind folglich auf der Suche nach der vollkommenen ästhetischen Repräsentation. Entsprechend zeigen die Tafeln nur die „besten Stücke“ der Sammlung, also die, die nicht „nur ohne schwere Entstellung waren, sondern sich auch durch rechte Harmonie der Glieder und, unter Berücksichtigung des Alters, durch Schönheit auszeichneten und bei der Behandlung keinerlei Schaden genommen hatten“. Die Repräsentation dreht sich um „wohlgestaltete[n] Embryonen“ (S. 179), die dargestellt werden etwa wegen der „Anmut des sehr lieblichen Gesichts“ oder wegen des „Ebenmaß[es] der vortrefflichen Glieder“ (S. 185). Hautrunzeln oder Spuren der Konservierung werden ebenso ausgelassen, wie Ausrichtung oder Lage des Fötus verbessert (S. 175). Es ist nicht zuletzt gerade dieses Augenmerk auf die Ästhetik der körperlichen Gestalt, die Soemmerring zu der Entdeckung der geschlechtsspezifischen Unterschiede im Bau der Embryonen führt, die sich schon in der frühen Entwicklung zeigen und auf die er als erster aufmerksam wird. So differieren zum Beispiel männlicher und weiblicher Fötus im Bau des Brustkorbs, Schwellung des Bauches, Form des Kopfes – die männlichen Gliedmaßen etwa sind „länger“ und „erhabener“ als die weiblichen (S. 177). 4. Diagnose und Vergleich Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass das einzelne Objekt im Mittelpunkt der Darstellung steht. Dem entspricht eine weitere Aufgabe, die der Embryonentafel zukommt: der Vergleich. Die Abfolge der Embryonen auf der Tafel bestimmt sich nach ihrer zunehmenden Größe. Um die Größe der Embryonen getreu in die Fläche des Papiers zu übertragen, übernahm Soemmerring eine Projektionstechnik des holländischen Anatomen Pieter Camper, den er 1778 besucht und zu dem sich seither ein enger Kontakt hergestellt hatte. Diese Technik „fast nach Art der Architekten, wie Albinus und Camper lehrten“ funktionierte „dergestalt, dass nicht nur in Gänze Länge und Breite des Körpers, Kopfes, Rumpfes und der Glieder,
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sondern auch der einzelnen Teile […] mit dem Zirkel abgemessen und dargestellt wurden“ (S. 173). Während Camper auf diese Weise in Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters (1792) die Schädel von Affe, Mensch und Skulptur verglich, wandte Soemmerring die Methode zum Größenvergleich der Embryonen an, ermöglichte sie doch einen „sehr getreuen Vergleich des Wachstums und der schrittweisen Zunahme der Embryonen“ (ebd.). Alle Teile des Körpers werden bei der stereometrischen Projektion größenproportional in die Fläche übertragen. Sie ist damit eine visuelle Methode zum „Vergleich aller Glieder“ (S. 175). Genauer ist sie eine Methode des reinen Größenvergleichs, denn unter dem Diktat des Maßbandes werden alle Teile des Körpers gleich, eine Hervorhebung oder Unterdrückung einzelner Strukturen nach anderen Kriterien wie etwa ihrer Bedeutung ist ausgeschlossen. Das besondere Augenmerk auf der Größe von Präparat und Repräsentation war darüber hinaus praktischer Natur: Da die Abbildungen die exakten Größenrelationen angaben, dienten sie in vielen Fällen auch als Vorlage für dreidimensionale Modelle. Wie bereits erwähnt war es Koeck selbst, der nicht nur die Zeichnungen, sondern auch Wachsmodelle der Organe des Gehörs für Soemmerring anfertigte. Auch im Falle von Soemmerrings Arbeit über Monstrositäten sollten die Zeichnungen die Vorlage für anschließende Wachsmodelle liefern.11 Aber nicht nur als Substitut des tatsächlichen Präparats, die Abbildungen waren zudem Instrument der Diagnose: Die Icones waren auch ein Handbuch zum Gebrauch durch die Ärzte. Die in natürlicher Größe abgebildeten Embryonen sollten es dem praktizierenden Arzt erlauben, einen Embryo anhand der Tafel auf sein Alter zu schätzen und so eine korrekte ärztliche Diagnose zu stellen.12 Der Vergleich steht damit in doppelter Hinsicht im Zentrum von Soemmerrings Repräsentation der Embryonen: Es geht nicht nur um den Vergleich der Größe auf dem Papier, sondern auch um den Vergleich zwischen dem Präparat als realem Körper und der Figur als flächige Zeichnung. 5. Entwicklung, Präformation, Epigenese Soemmerrings Tafel schulte das vergleichende Sehen: Sie zeigt eine Abfolge einzelner, typisierter Präparate, angeordnet nach ihrer zunehmenden Größe. Eine solche Größenordnung impliziert indessen noch keine Entwicklungs_____________ 11
12
Vgl. dazu Hagner, Michael, „Enlightened monsters“, in: William Clark/Jan Golinski/Simon Schaffer (Hrsg.), The sciences in enlightened Europe, Chicago, London 1999, S. 175-217, S. 207f.; allgemein auch Hopwood, Nick, „Plastic publishing in embryology“, in: Soraya de Chadarevian/ders. (Hrsg.), Models: the third dimension of science, Stanford 2004, S. 170-206. Vgl. dazu die Rezeption von Soemmerring, Schriften zur Embryologie und Teratologie, S. 104-110.
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beziehung. Schon aus einem einfachen Grund stellt Sömmerrings Embryonentafel keine Entwicklungsserie dar: Sie zeigt nicht, wie sich der Embryo von Bild zu Bild fortlaufend zu dem jeweils nachfolgenden der Reihe entwickelt, da die dargestellten Embryonen abwechselnd männlichen und weiblichen Geschlechts sind. Die Abbildungen IX, X, XI, XV, XVI zeigen männliche, die Figuren VI, VII, VIII, XII, XIII, XIV, XVII dagegen weibliche Embryonen. Das ist, wie Soemmerring betont, „auf den ersten Blick“ zu unterscheiden (S. 177). Wäre es ihm dagegen tatsächlich um die Repräsentation einer kontinuierlichen Entwicklungsserie gegangen, die aufzeigt, wie die jeweils vorhergehende Figur sich in die nachfolgende verändert, dann wäre es Soemmerring leicht möglich gewesen, zwei getrennte Reihen zeichnen zu lassen. Soemmerring näherte sich seinem Gegenstand nicht unter entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten.13 Sein Interesse galt dem einzelnen Präparat, der ästhetisch autonomen Figur, nicht der Beziehung der Figuren untereinander. Das zeigt nicht nur der Wechsel männlicher und weiblicher Embryonen, sondern auch eine deutliche Asymmetrie in seinen Erläuterungen zu den Tafeln: An keiner Stelle befasst er sich näher mit den Kriterien, nach denen er die Reihe der Embryonen zusammenstellte. Hier zeigen die Icones vielmehr einen auffälligen Widerspruch. Soemmerring setzt seinem Leser sorgfältig die Kriterien der Auswahl der Embryonen, ihre gestalterische Zurichtung und die Technik der Projektion auseinander. Zu der Anordnung der Embryonen heißt es dagegen lediglich: „Dann brachte ich die ausgewählten Darstellungen in eine gewisse natürliche Ordnung und verteilte sie auf zwei Tafeln“ (S. 173). Genauer heißt es zu der ‚natürlichen Ordnung‘, dass er diejenigen Exemplare ausgewählt habe, „die gewissermaßen in gleicher Abstufung oder sozusagen in gleichem Fortschritt des Wachstums voneinander entfernt waren, so dass sie sich, nach einer gewissen Regel angeordnet, nach Alter wie auch Größe unmittelbar aneinander anschlossen“ (ebd.). Die natürliche Regel also, die Soemmerring in der Anordnung seiner Tafel leitete, waren Alter und Größe. Tatsächlich handelte es sich primär um die Größe allein, da Soemmerring für einige Präparate das Alter lediglich (aufgrund der Größe) schätzen konnte. Das Kriterium der Größe war für Soemmerrings mithin deshalb so wichtig, weil es als einziges die Anordnung der Embryonen leitete. Die Größe ist es auch, auf die sich Soemmerrings Rede von der „Abfolge der einzelnen Stadien“ bezieht: „Wachstum und Entwicklung des menschlichen Körpers“ werden hier synonym gebraucht (S. 172f.). Die zunehmende Größe der Embryonen indessen ist _____________ 13
Auf den Vorrang anatomischer Fragen in Soemmerrings embryologischen Arbeiten hat auch Enke hingewiesen, vgl. ebd., S. 81, 90.
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augenfällig. Sie konstituiert ein Ordnungsmerkmal, das keiner weiteren Begründung bedarf und keinen Widerspruch herausfordert. Als reine Größenfolge repräsentiert Soemmerrings Tafel indes keine Entwicklungsserie. So sehr die Theorien der Epigenesis und der Präformation einander entgegengesetzte Entwicklungsvorstellungen vertraten, in diesem Punkt waren sie sich einig: Die Präformation widersprach dem Größerwerden des Embryo mit fortschreitendem Alter ebenso wenig wie sie die zeitliche Dimension leugnete, die innert neun Monaten aus einem Keim ein vollständiges Lebewesen machte. Das gleiche gilt für die Theorie der Epigenesis.14 Der Kern der epigenetischen Entwicklungstheorie lag dagegen in der Annahme einer allmählichen Strukturbildung aus der homogenen, flüssigen Materie des Keims. Für diese Theorie konnte sich Soemmerring jedoch ebenso wenig entschließen wie für die Präformation. Statt dessen äußerte er sich unentschieden. In seiner Schrift über die Missbildungen schreibt er, dass er sich „zu keiner der bisherigen Generationstheorien bekenne“. Sowohl die Theorie der präformierten Keime als auch der epigenetischen Entwicklung „enthält, nach meiner Meynung, Wahrheiten, die sich mit den Wahrheiten der andern sehr gut und leicht combiniren lassen; allein ausschließlich wahr und befriedigend scheint mir keine einzige“ (S. 116). Wenngleich sich Soemmerring in den Icones nicht näher zu den Theorien der Generation äußert, so zeigt das darin entworfene Bild von der Schönheit des Embryos, dass er nicht epigenetisch dachte. In der Praefatio bringt er als Parallele für die Schönheit der Embryonen das Beispiel von der Schönheit einer Knospe. Da wir die geöffnete Rose als schön empfinden, so das Argument, sei bereits die in ihr verborgene Knospe schön zu nennen (S. 173). Hinter diesem Beispiel verbirgt sich eine Vorstellung von Entwicklung, welche Formähnlichkeit unterstellt, mehr noch, welche in der Entwicklung die Entfaltung einer bereits angelegten Form sieht, nicht die Neuentstehung von Formen. Der Zusammenhang von Knospe und Blüte ist bereits vorgegeben und nicht dasjenige, was eine Theorie von Entwicklung erst liefern muss. 6. Schluss Folgt man der bis hierher gemachten Analyse und begreift Soemmerrings Tafel nicht als kontinuierliche Entwicklungsreihe, stellt sich die Frage: Was ist eine Entwicklungsserie? Eine embryologische Entwicklungsserie, die im Sinne der epigenetischen Theorie die allmähliche Strukturbildung des Embryo zeigte, ist eine _____________ 14
Zu Epigenesis und Präformation vgl. aus der Fülle der Literatur Roe, Shirley A., Matter, Life and Generation. Eighteenth-century embryology and the Haller-Wolff-debate, Cambridge 1981.
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Die Icones embryonum humanorum von Samuel Thomas Soemmerring
Serie, die in einer Reihe hintereinander geschalteter Bilder Schritt für Schritt, von einem Bild zum nächsten, die Veränderungen visualisiert, die sich im Embryo vollziehen. Voraussetzung dafür ist, dass die Bilder, die in Andeutung ihrer zeitlichen Abfolge hintereinander gestellt werden, aufeinander bezogen sind. Die Entwicklung des Embryo im Bild zu zeigen, meint, die Veränderungen, die sich im Fortschreiten der Entwicklung vollziehen, auch entsprechend als Relation der Bilder zu erfassen. Die Entwicklungsserie konstituiert die zeitliche Ordnung der Veränderung als Bildrelation, sie verlegt die sukzessive Formwerdung des Embryo in die Relation der Bilder.15 Genau das ist bei Soemmerring nicht der Fall. Mit anderen Worten: Das Neue, Kontroverse und Andersartige der Vorstellung von epigenetischer Entwicklung war nicht die Erkenntnis, dass ein lebendiger Organismus den Zeitläufen unterworfen ist. Dass der Lebensweg jedes Organismus von Geburt bis zum Tod eine zeitliche Abfolge beinhaltete, gehörte nicht erst seit dem 18. Jahrhundert zu einer der elementarsten Erfahrungen des Daseins. Die Bildserie in der Embryologie war nicht die Antwort auf diese Frage, sondern die Lösung für ein anderes, weit schwierigeres Problem: Wie konnten die sich allmählich formierenden Strukturen des Embryo unter der Bedingung ihrer zeitlichen Veränderung als eine sinnvolle Ordnung begriffen werden? Nicht die Zeit des Organismus war also das Problem, sondern seine Ordnung unter der Bedingung ihrer kontinuierlichen Veränderung – eine Ordnung also, die ein lebensfähiges Gebilde konstituierte, das gleichwohl zu keinem Zeitpunkt sich selbst identisch war. Eine solche, sich wandelnde Ordnung bildet die Entwicklungsserie, indem die Bilder in ihrer gegenseitigen Bezogenheit eine Veränderung konstituieren. Soemmerrings Tafel gab dem menschlichen Embryo eine eigene Gestalt; indem sie ihn aus dem Leib der Mutter löste und vor der Folie eines leeren Bildhintergrundes isolierte, prägte sie zentrale Bildmittel der embryologischen Repräsentation bis heute und leistete damit einen wesentlichen Beitrag zur Ikonografie des Ungeborenen. Eine Entwicklungsserie hingegen stellen erst die Tafeln dar, die Christian Heinrich Pander und Karl Ernst von Baer in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts anfertigten und mit denen sie die Embryologie als moderne Wissenschaften begründeten.
_____________ 15
Vgl. Wellmann, Janina, Wie das Formlose Formen schafft. Rhythmus und die Organisation des Lebendigen (1760 bis 1830), Göttingen 2008.
XIII. NATURGESCHICHTE.
EPISTEMOLOGIE UND MATERIAL CULTURE Einführung von Bettina Dietz Naturgeschichte als Projekt einer weltweiten Erfassung, Beschreibung und Klassifikation von Flora, Fauna (den Menschen eingeschlossen) und Gesteinswelt stellt nach Quantität der Textproduktion und Anzahl der involvierten Protagonisten eines der umfangreichsten Wissensgebiete des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts dar. Eine Bestandsanalyse der 1734 gegründeten Universitätsbibliothek Göttingen, deren Anschaffungspolitik unter Zeitgenossen innerhalb kurzer Zeit den Ruf der Vorbildlichkeit erreicht hatte, liefert beispielsweise das folgende Bild: Von allen zwischen 1700 und 1800 erschienenen Titeln entfallen 21.013 auf juristische Klassifikationen, 8.196 auf medizinische und 6.457 auf Naturgeschichte – davon 1.334 auf Historia Naturalis, 951 auf Mineralogia, 1.527 auf Botanica und 2.645 auf Zoologica.1 In der Bayerischen Staatsbibliothek München sind von insgesamt 185.171 im selben Zeitraum erschienenen Titeln 3.500 den Fachgruppen Historia naturalis generalis (922), Zoologica (956), Phytologia (1009) und Lithologia (613) zugeordnet, 4.879 dem Bereich Medizin und, zum Vergleich, insgesamt 1.475 den Notationen Politica civilis, Politica generalis und Cameralia. Um so überraschender, dass dieser monumentale Komplex bisher nur ein eher punktuelles Interesse erfahren hat.2 Da hier nicht der Ort sein kann, die eigentümlich disparate Forschungslage im Detail zu referieren, wird sich der folgende Überblick – zwangsläufig verkürzend und vereinfachend – auf drei Aspekte konzentrieren, unter denen Naturgeschichte bisher thematisiert wurde. Im Vordergrund stand und steht die Werkanalyse einzelner prominenter Autoren, aus deren Taxonomien sich dann, insbesondere im Bereich der Botanik, ein naturhistorisches Wissenskorpus _____________ 1 2
Erfasst wurden ausschließlich Titel mit Erscheinungsdatum. Das Spektrum naturhistorischer Themenfelder wird aufgefächert in: Jardine, Nicholas / Secord, Jim u. a. (Hrsg.), Cultures of Natural History, Cambridge 1996. Siehe außerdem Dietz, Bettina, Die Praxis der Naturgeschichte. Konstellationen und Objekte des 18. Jahrhunderts, Habilitationsschrift Universität München 2007.
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XIII. Naturgeschichte. Epistemologie und material culture. Einführung
synthetisieren ließ. Eine Geschichte der Naturgeschichte wird unter dieser Prämisse zur Ideen- bzw. „System“-Geschichte. Ein zweiter Schwerpunkt hat sich in letzter Zeit um die kolonialen Implikationen der Naturgeschichte ausgebildet, wobei, in Bezug auf das 18. Jahrhundert, die Verschränkung von kolonialer Expansion und naturhistorischem, insbesondere botanischem Erfassungsprojekt im Mittelpunkt stand. Zutage kamen insbesondere die kolonial-ökonomischen Ambitionen der meisten sogenannten Forschungsexpeditionen, die, mit einem präzisen Auftrag zur Suche nach kommerzialisierbaren Nutz- und Heilpflanzen ausgestattet, den Effekt der naturhistorischen Sammelreise sozusagen nebenher erbrachten.3 Drittens hat die Sammlungs- und Museumsgeschichte in letzter Zeit einen Boom erlebt, der von den Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts ausgehend, Kunst-, Technik-, Wissenschafts-, Nationalund Kolonialmuseen des 19. Jahrhunderts erfasste und die Frage nach Funktion und Semantik der dort versammelten Objekte aufwarf.4 Im Schnittpunkt dieser Entwicklung mit wissenschaftsgeschichtlichen Ansätzen, die sich der Materialität des Forschungsprozesses zuwenden oder, mit einem Begriff von Hans-Jörg Rheinberger, einer „Epistemologie des Konkreten“, setzen die folgenden Beiträge an. Sie befassen sich mit der fundamentalen Koppelung naturhistorischer Wissensbildung an ein spezifisches Objektrepertoire, an Objekt gewordene Natur, d. h. an Naturalien. Naturgeschichte lässt sich nicht auf intellektuelle Operationen und deren gedruckte Resultate reduzieren. Das Betreiben von Naturgeschichte – auch das Klassifizieren und Systematisieren – erfordert eine konstante Arbeit mit Objekten: das Akkumulieren und Konservieren, Tauschen, Schenken und Kaufen, Beschreiben, Abbilden und Ordnen von Naturalien. Am Beispiel Johann Friedrich Blumenbachs und Johann Reinhold Forsters diskutiert Thomas Nutz zunächst die Bedeutung von Schädelsammlungen für die sogenannte Naturgeschichte des Menschen, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als eigenständige Wissensformation aus dem Bereich der Zoologie ausdifferenzierte. Davon ausgehend verweist er auf die Modellfunktion naturgeschichtlicher Wissensgenerierung _____________ 3 4
Siehe v. a. Miller, David Philip / Reill, Peter Hanns (Hrsg.), Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature, Cambridge 1996; Schiebinger, Londa / Swan, Claudia (Hrsg.), Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World, Philadelphia 2005. Naturaliensammlungen, insbesondere diejenigen des 18. Jahrhunderts, wurden in diesem Zusammenhang eher gestreift. Vgl. Findlen, Paula, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley u. a. 1994; Spary, Emma C., Utopia’s Garden. French Natural History from Old Regime to Revolution, Chicago 2000; Siemer, Stefan, Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert, Mainz 2004; Chambers, Neil, Joseph Banks and the British Museum. The World of Collecting (1770–1830), London 2007.
Bettina Dietz
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aus Objekten für ein zweites Wissensfeld des 18. Jahrhunderts: die Menschheitsgeschichte und ihre Arbeit mit außereuropäischen Artefakten. Auch Thomas Biskup beschäftigt sich mit Blumenbach. Er thematisiert den Austausch von Personal und Objekten zwischen Göttingen und den Sammlungen Londons als Balance von Angebot und Nachfrage zwischen universitärer Naturgeschichte auf der einen und einer Kultur von gentlemencollectors auf der anderen Seite. Ich selbst schneide abschließend das Problem der Prekarität der naturhistorischen Objektwelt an. Mit dem Besitz von Naturalien bzw. mit ihrem Eintreffen in einer Sammlung war noch keinerlei Garantie ihres Fortbestandes gegeben. Vielmehr waren sie unter konstante konservatorische Observanz zu stellen – sonst hörten sie schlicht auf, zu existieren. Am Beispiel René-Antoine Ferchault de Réaumurs wird zu zeigen sein, dass die Arbeit mit einer naturhistorischen Sammlung durch die Arbeit an einer solchen Sammlung verdrängt werden konnte. Oder: dass naturhistorisches Sammeln als Bündel von Praktiken zu betrachten ist, die sich nicht in wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche separieren lassen.
Wissen aus Objekten. Naturgeschichte des Menschen und Menschheitsgeschichte Thomas Nutz Sowohl in der Disziplinbildung der Ethnologie als auch der physischen Anthropologie spielen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Objekte in Form von Artefakten und menschlichen Überresten eine entscheidende Rolle. Beschäftigt man sich mit den Vorläufern jener Disziplinen, so ist es wesentlich, nach den Anfängen dieser Praktiken der Objektverwendung zu fragen. Die Naturgeschichte präsentiert sich im 18. Jahrhundert als ein prominenter Wissensbereich, der in den epistemischen Verfahren und dem Grad von Wissenschaftlichkeit einen Vorbildcharakter gegenüber anderen diskursiven Formationen besaß, die bestrebt waren, dem von ihnen produzierten Wissen Legitimität und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Lässt sich ein solcher Vorbildcharakter auch auf dem Gebiet der Naturgeschichte des Menschen und der Menschheitsgeschichte feststellen? Welche Objekttypen ließen sich überhaupt als Repräsentanten der diversen kulturellen und physischen Erscheinungsformen des Menschen verwenden und welche Eigenschaften mussten diese Objekte aufweisen? Zunächst einmal ist klar, dass es sich dabei um Mobilien handeln muss, die über Raum und Zeit hinweg transportabel sind. Dieser physische Link zum Dokumentierenden hin ist entscheidend und hebt das Objekt vom reinen Zeichen ab, das nur verweist und keine materielle Verbindung mit dem zu Verweisenden besitzt. Darüber hinaus muss das Objekt ‚authentisch‘ sein, es muss von den zu dokumentierenden Menschen selbst hergestellt worden sein, um als Beispiel, als Repräsentant ihrer Fertigkeiten und zivilisatorischen Errungenschaften fungieren zu können. Kurz: Es muss „Artefakt“ sein. Die Objektkategorie „außereuropäisches Artefakt“ existierte allerdings für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts nicht. Es gab keine spezifische Praktik, etwa des Sammelns oder des Darüber-Schreibens, die allein um diese Gruppe von Objekten angesiedelt gewesen wäre. Der zeitgenössische Status dieser Gruppe von Objekten changierte zwischen drei relativ klar umgrenzten und fest etablierten Objektkategorien: „Naturalien“, „Alterthümern“ und „curiosités“. Wurden die Zeitgenossen mit „außereuropäischen
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Wissen aus Objekten. Naturgeschichte des Menschen und Menschheitsgeschichte
Artefakten“ konfrontiert, so standen ihnen diese drei Perzeptions- und Gebrauchskategorien zur Verfügung, in denen man feste Praktiken der Objektverwendung ausgebildet hatte. Zwei konkrete Fälle sind in der Frage, inwiefern in der (Natur-)Geschichte des Menschen Objekte zur Erzeugung von Wissen eingesetzt werden, wegweisend und vorbildhaft gewesen: für den Bereich der physischen Anthropologie ist es die Schädelsammlung Johann Friedrich Blumenbachs in Göttingen, für die außereuropäischen Artefakte die Sammlung Johann Reinhold Forsters (zunächst in London und dann in Halle). In beiden Fällen werden die Objekte zu zentralen Fundamenten der Strategien der Wahrheitserzeugung und beginnen, in dieser Rolle dem Text den Rang abzulaufen. 1. Humanpräparate: Johann Friedrich Blumenbach Zunächst lässt sich konstatieren, dass Präparate um die Mitte des 18. Jahrhunderts bei der Produktion der (Natur-)Geschichte des Menschengeschlechts noch kaum eine Rolle spielen: Buffon stützte sich in seinen Variétés dans l’espèce humaine ausschließlich auf schriftliche Quellen, nämlich vornehmlich auf die üblichen kanonischen Texte der Reiseliteratur.1 Die Praktiken der Mobilisierung der Natur, wie sie die Naturgeschichte entwickelt hatte, fanden zur Jahrhundertmitte noch keine Anwendung, wenn es um die Varietäten der Körper außereuropäischer Menschen ging. Die Naturgeschichte hatte ja die Ver-Sammlung von Objekten an einem zentralen Ort als grundlegendes Verfahren der Wissensproduktion entwickelt. Die Naturaliensammlung diente dem Naturhistoriker als Labor, hier stand er seinem Gegenstand, einer in einzelne Objekte bzw. Objektserien zerlegten Natur, gegenüber. Erst die gleichzeitige Verfügbarkeit dieser Präparate ermöglichte das komparative Vorgehen, das der naturhistorischen Theoriebildung als Fundament diente.2 Auch die Naturgeschichte arbeitete damit als Laborwissenschaft im Sinne der Definition von Karin Knorr Cetina.3 Will man diese Definition auf den Punkt bringen, so könnte man sagen, dass das Labor ein Ort ist, der sich durch Translokalität, Transtemporalität und Transmodalität auszeichnet. _____________ 1 2 3
Buffon, Georges-Louis LeClerk, comte de, „Variétés dans l’espèce humaine“, in: ders./LouisJean-Marie Daubenton, Histoire naturelle, générale et particulière, avec la description du Cabinet du Roy, Bd. 3, Paris 1749, S. 371-530. Vgl. zu diesem Komplex Dietz, Bettina, Die Praxis der Naturgeschichte. Konstellationen und Objekte des 18. Jahrhunderts, Habilitationsschrift Univ. München 2007. Cetina, Karin Knorr, Die Fabrikation der Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft [1981], 2. Aufl., Frankfurt am Main 2002, S. XIV.
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Nimmt die Naturgeschichte den Menschen in den Blick, so bleibt diese epistemische Grundkonstellation erhalten. Das Wissensobjekt ‚Mensch‘ wird erstens translokal behandelt: es wird aus der Peripherie in die europäischen Zentren übertragen und durch die Ver-Sammlung an einem Zentrum räumlich unabhängig; zweitens wird es durch diese Übertragung transtemporal, d. h. der Beobachter kann sein Objekt immer dann beobachten, wenn er es wünscht (wenn er etwa zwei Phänomene miteinander vergleichen will); und schließlich drittens wird der natürliche ‚Gegenstand‘ in einer veränderten Modalität, eben als Präparat verwendet: man arbeitet nicht mit lebenden Menschen sondern mit präparierten menschlichen Überresten. In unserem Fall ist die Transmodalität Grundvoraussetzung für die beiden anderen Prinzipien: erst durch die Transformation des Untersuchungsgegenstandes in ein Präparat wird dieser überhaupt räumlich als auch zeitlich transportabel. Medizin und Anatomie haben sich seit langem dieser Strategie bedient und es entstanden im Zuge dessen umfangreiche Sammlungen von Knochen, Skeletten, anatomischen Präparaten (getrocknet, injiziert, in Weingeist) und Repräsentationen aus Holz oder Wachs, die menschliche Körperteile in gesundem und krankem Zustand zeigen. In den meisten Naturaliensammlungen, insbesondere aber im Kontext der medizinischen und anatomischen Kabinette finden sich menschliche Überreste.4 Kaum repräsentiert waren in den anatomischen Kabinetten hingegen Präparate, welche die körperlichen Verschiedenheiten des Menschengeschlechts dokumentierten. Zwar finden sich bisweilen Objekte, die auf die Hautfarbe verweisen, wie etwa ein „Fœtus mâle de Négresse […] dans l’esprit-de-vin“5 oder ein „tête naturelle d’un jeune negre avec sa peau“6, doch war damit in der Regel keine systematische Dokumentation aller bekannten körperlichen Diversitäten der Gattung des Menschen bezweckt, sondern man bezog sich hier allein auf die Anatomie der schwarzen Haut. Im Zuge der Hinwendung der Naturgeschichte zum Menschen fand eine Verschmelzung der Laborpraktiken der Naturgeschichte mit denen der Medizin bzw. Anatomie statt. Auf der Suche nach den typischen, distinktiven Merkmalen der menschlichen Anatomie verlegte man sich nämlich auf _____________ 4
5 6
Bomare, Jacques-Christophe Valmont de, Dictionnaire raisonné universel d’histoire naturelle, 15 Bde., 4. Aufl. Paris 1791, Bd. 6, S. 633; vgl. etwa auch den die Naturgeschichte des Menschen betreffenden Teil der Beschreibung des „Cabinet du Roy“ von Daubenton in: ders./Buffon, Histoire naturelle, générale et particulière, Bd. 3, S. 1-304; Jencquel, Kaspar Friedrich, Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum oder Raritäten-Kammern, Leipzig, Breslau 1727, S. 5. Catalogue systématique et raisonné des curiosités de la nature et de l’art, qui composent le Cabinet de M. Davila, 3 Bde., Paris 1767, Bd. 1, S. 501. Gersaint, Edme-François, Catalogue raisonné d’une collection considerable de diverses curiosités en tous genres […] de Bonnier de la Mosson, Paris 1744, S. 3.
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Wissen aus Objekten. Naturgeschichte des Menschen und Menschheitsgeschichte
das Studium menschlicher Schädel, die man – immerhin knöcherne Hülle des Sitzes von Vernunft und Verstand – als besonders aussagekräftig zur „Bestimmung eines körperlichen Hauptcharacters der Humanität“ empfand.7 Mit Hilfe des Schädelpräparats, das zugleich die Kriterien der Translokalität, Transtemporalität und Transmodalität erfüllt, versuchte man eine totale Kontrolle über das zu untersuchende Phänomen zu gewinnen: die Autoren mussten sich in ihren Kernaussagen nun nicht mehr allein auf die Berichte von Reisenden oder die Autorität antiker Texte stützen, sondern allein auf die Arbeit am konkreten Objekt (dem Schädel) im Labor (der Schädelsammlung). Am erfolgreichsten unter den Autoren der Naturgeschichte des Menschen betrieb Blumenbach diese Praxis. Als Paradigma einer Sammlung, die sich ganz auf menschliche Überreste spezialisiert und diese als Arbeitsgrundlage zur Klassifikation der körperlichen „Varietäten des Menschengeschlechts“ instrumentalisiert, kann Blumenbachs „anthropologische Sammlung“ in Göttingen dienen, die dieser zunächst als Teil seiner privaten Naturaliensammlung anlegte, die aber schließlich ab den 1790er Jahren immer mehr ins Zentrum seiner Aktivitäten rückte. Spezifisches Merkmal der Sammlung war, dass sie sich im Kern auf ein einziges anatomisches Präparat konzentrierte: den Schädel.8 Blumenbach gelang es nicht nur eine der größten Schädelsammlungen seiner Zeit einzurichten, sondern auch diese Sammlung derart als Materialgrundlage zu benutzen, dass die dritte Auflage seiner De generis humani varietate nativa bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Standardwerk der physischen Anthropologie avancierte.9 Sehen wir uns Blumenbachs Labor genauer an. Dieser war geradezu mit Fleiß bestrebt, dem Leser besagter dritten Auflage seine Arbeitsmaterialien offenzulegen, ihn gewissermaßen in sein Labor zu führen. Dazu stellte er dem Werk extra ein „Verzeichniß von dem anthropologischen Vorrathe des Verfassers“ voran. Um auf den Unterschied zu den beiden früheren Ausgaben und auf den Paradigmenwechsel hinsichtlich der Begründungsstrategien hinzuweisen, gab er als Grund an, dass „der gelehrte und billige Leser sähe, mit welchen, und mit wie wichtigen, aus der Natur selbst hergenommenen, Hülfsmitteln versehen, ich zu einer neuen Ausgabe dieses Buchs geschritten bin“.10 Neben einer Liste der 82 Schädel, die er zu diesem Zeitpunkt bereits besaß, gibt er einen Überblick über seine Sammlung von Abbildungen verschiedener Völker aus allen geografischen Zonen der Erde, _____________ 7 8 9 10
Blumenbach, Johann Friedrich, Beyträge zur Naturgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1806, S. 59. Ebd., S. 55f. Der handschriftliche Katalog seiner Naturaliensammlung findet sich in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. MS. Blumenbach I. Blumenbach, Johann Friedrich, De generis humani varietate nativa, 3. Aufl., Göttingen 1795. Blumenbach, Johann Friedrich, Ueber die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte […], Leipzig 1798, S. 1.
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„nach der Natur selbst, von geschickten Künstlern, aufs sorgfältigste gezeichnet“11, die neben den Schädeln einen weiteren Kernbestand seines Labors bildeten. Die Schädelsammlung bildete für Blumenbach das uneingeschränkte Zentrum seiner Arbeitsmaterialien und das tragende Fundament seiner Forschungen zur Naturgeschichte des Menschen. Sie diente ihm gewissermaßen als Index, der ihm nicht nur half, die rasant anwachsenden Datenmengen im Bereich der physischen und kulturellen Anthropologie zu bewältigen und verfügbar zu machen, sondern auch die Gesamtheit seines im Laufe der Zeit zusammengetragenen Materials zu ordnen: um die Vernetzung zwischen den Schädeln und den anderen Objekten sowie seinen Aufzeichnungen zu ermöglichen, war Blumenbachs Kollektion nämlich so organisiert, dass jeder Schädel numerirt ist und in einer besondern Sammlung von dazu gehörigen Belegen seinen eben so bezeichneten Umschlag hat, der alle dazu gehörigen Certificate enthält, die Originalbriefe u. a. Notizen, Vergleichung sowohl mit porträtmässigen Abbildungen […] als mit den characteristischen Schilderungen der genauesten Natur- und Reisebeschreiber.12
2. Artefakte: Johann Reinhold Forster Wenn wir uns von der „Naturgeschichte des Menschen“ dem Bereich der Produktion des Genres „Geschichte der Menschheit“ zuwenden, so ist es Johann Reinhold Forster, dem hier eine ähnliche Rolle wie Blumenbach in der Nutzbarmachung von Objekten zugesprochen werden kann. Wie Blumenbach eine paradigmatische Funktion in der Instrumentalisierung von Schädelpräparaten für die Naturgeschichte des Menschen zukommt, so ist es Johann Reinhold Forster, der dies im Bereich der „Geschichte der Menschheit“ zugesprochen werden kann. Forster selbst sieht sich als Adepten einer „philosophischen“ historia13, sein Markenzeichen ist allerdings die Autopsie, auf der seine Studie einer globalen Geschichte des Menschengeschlechts beruht und die ihn von den anderen „philosophers“ unterscheidet, die sich ausschließlich auf Reisebeschreibungen stützen müssen.14 Was Johann Reinhold Forster zudem auszeichnet, sind die singulären, auf der Weltumsegelung mit Cook gesammelten Materialien, die _____________ 11 12 13 14
Ebd., S. 11. Blumenbach, Beyträge, S. 63 ff. Forster, Georg, Reise um die Welt [1778–1780], Gerhard Steiner (Hrsg.), Frankfurt am Main 1983, S. 11f. Forster, Johann Reinhold, Observations made during a Voyage round the World [1778], Nicholas Thomas u. a. (Hrsg.), Honolulu 1996, S. 143f.
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Wissen aus Objekten. Naturgeschichte des Menschen und Menschheitsgeschichte
als Grundlage von Publikationen benutzt werden konnten. Neben den vor Ort eigenhändig gemachten Aufzeichnungen sowie den Zeichnungen und Aquarellen von Georg Forster sind das vor allem die naturhistorischen Specimen und die Artefakte der indigenen Bevölkerung. Johann Reinhold Forster besaß nach seiner Rückkehr von der CookExpedition neben Joseph Banks die umfangreichste und am besten dokumentierte Sammlung von Artefakten aus Polynesien, Melanesien, Feuerland und der Arktis, von den Naturalien und Abbildungen (Zeichnungen, Aquarelle, Kupferstiche) ganz zu schweigen. Lichtenberg berichtet von der großen „Menge von neuen Tier- und Pflanzenarten und Gattungen“, welche die Forsters „teils in Zeichnungen, teils in Natur mitgebracht“ haben, „anderer Naturalien und Artefakten der Völker, die sie besucht haben, nicht zu gedenken“.15 Dadurch dass Forster 1776 Teile seiner Sammlung von Südsee-Artefakten der Universität Oxford schenkte und nach seinem Tode die verbliebenen Objekte an das Göttinger Universitätsmuseum gingen, sind wir in der äußerst seltenen Lage, über Art, Umfang und Zusammensetzung einer Sammlung außereuropäischer Artefakte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eingehend Bescheid zu wissen. Während die Göttinger Sammlung etwas mehr als 150 Objekte umfasst, ist der Oxforder Bestand mit 220 Objekten die umfangreichste und diversifizierteste Sammlung von ForsterArtefakten. Die meisten Objekttypen in der Göttinger Sammlung befinden sich auch in Oxford, beide Sammlungen ähneln sich in Umfang und Auswahl. Man geht daher davon aus, dass Forster Oxford gewissermaßen ein Duplikat seiner eigenen systematischen Sammlung von Südsee-Artefakten schenkte. Bis zu seinem Tode dezimierte sich die Zahl der Objekte durch Verkauf, Schenkung und Verlust dann weiter, bis der Rest schließlich nach Göttingen gelangte, wo sie im Laufe der Zeit in den Bestand eingegliedert wurden, so dass sie heute zumeist nicht mehr als Forster-Objekte identifizierbar sind.16 Um Forsters eigene Studiensammlung, die er als Grundlage für seine Observations benutzte, zu rekonstruieren, müssen wir uns also auf die Oxforder Bestände stützen. Dem handschriftlichen, wohl von Georg Forster verfassten Katalog lässt sich die Zusammensetzung der Sammlung nach Herkunftsgebieten _____________ 15 16
Brief Lichtenbergs an Johann Andreas Schernhagen (16.10.1775), in: Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, Wolfgang Promies (Hrsg.), Bd. 4: Briefe, München 1967, S. 250. Kaeppler, Adrienne L., „Die ethnographischen Sammlungen der Forsters aus dem Südpazifik. Klassische Empirie im Dienste der modernen Ethnologie“, in: Claus-Volker Klenke u. a. (Hrsg.), Georg Forster in internationaler Perspektive, Berlin 1994, S. 59-75, hier 64. Vgl. ebd. Tab. 2 (S. 71-75), welche die Artefakttypen nach den heute noch erhaltenen Sammlungen spezifiziert. Siehe auch Coote, Jeremy / Gathercole, Peter u. a., „,Curiosities sent to Oxford‘. The Original Documentation of the Forster Collection at the Pitt Rivers Museum“, in: Journal of the History of Collections, 22/2000, S. 177-192.
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entnehmen.17 Die Systematik der Sammlung ist dabei kaum zu verkennen. Es geht um die Dokumentation der Kulturen der verschiedenen „Nations“ in der Südsee und im Polargebiet. So finden sich jeweils Objekte, die auf die Art und Weise des Subsistenzerwerbs verweisen, vor allem Fischfanggeräte wie Angelhaken, Netze und Reusen, aber auch Instrumente der Nahrungszubereitung wie der Lebensmittelstampfer von den Gesellschaftsinseln, der für die Verarbeitung der Brotfrucht benutzt wurde. Die Kleidungsstücke beziehen sich auf die klimatischen Rahmenbedingungen, verweisen aber wie der Objekttyp Körperschmuck zugleich auf die Sphäre von „refinement“ und „luxury“. Andere Objekte sind Dokumente zu Handwerk und Technik, das heißt verschiedene Dechsel und Meißel, die für die Schnitzarbeiten aber auch zum Bau von Booten und Häusern benutzt wurden. Die Objekte müssen immer parallel zu Forsters Eintragungen in seinem Reisejournal gelesen werden, die sehr genau Herstellungsweise, Gebrauch und Benennung der „tools“ der verschiedenen Völker der Südsee festhalten. Über diese ethnografische Funktion hinaus haben die Objekte für Forster noch einen anderen Zweck: der Vergleich der verschiedenen Objekttypen lässt Zivilisationsunterschiede deutlich werden. Ein Unterfangen, das den Kern von Forsters Observations ausmacht, wo eingehend „manners“ sowie „arts and sciences“ einzelner Völker verglichen werden. Damit erhalten die Artefakte den Status von Specimen, wie sie auch Präparaten aus den drei Reichen der Natur zugewiesen werden. Forster demonstriert, dass auch Artefakte in einer „gelehrten Sammlung“ ihren legitimen Platz haben können, indem er sie als Material benutzt für seine Observations, eine auf Autopsie fußende „philosophische“ Menschheitsgeschichte nach dem Vorbild Isaak Iselins. „The author“, so schreibt Johann Reinhold Forster im „Advertisement“, „has endeavoured to look upon mankind in general, as one large family, and described the various tribes of the South-Sea with this retrospect, which must make them more interesting, by adverting to their different degrees of civilization“.18 Forsters Anspruch ist es, die epistemischen Verfahren der Naturgeschichte auf die Analyse der kulturellen Verschiedenheiten der menschlichen species zu übertragen. Doch wie mobilisiert man eine fremde Kultur? Im Unterschied zur belebten und unbelebten Natur lässt sich eine Varietät nicht durch ein einzelnes Specimen repräsentieren: es muss vielmehr ein repräsentatives Sample von mehreren mobilen Objekten zusammengestellt werden, die verschiedene Lebensbereiche abdecken. Genau dies tat _____________ 17 18
Der von Georg Forster geschriebene Katalog ist abgedruckt in: MacGregor, Arthur u. a., Manuscript Catalogues of the Early Museum Collections (1683–1886). Part I, Oxford 2000, S. 249252; Kaeppler, „Die ethnographischen Sammlungen der Forsters“, S. 71-75, Tab. 2. Forster, Observations, S. LXXVIII; zu Iselin s. ebd. S. 9.
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Wissen aus Objekten. Naturgeschichte des Menschen und Menschheitsgeschichte
Forster, wie die Liste der Schenkung an die Universität Oxford zeigt, in der die Artefakte nach einzelnen Völkerschaften geordnet sind. Im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Vorgänger erkennt Forster in den Bewohnern der verschiedenen Inseln des Pazifik nicht einfach differenzlos „Wilde“, sondern setzt sich deren Erforschung im Gegenteil ja gerade zum Ziel. Sein genaues Interesse für die Lebensformen der indigenen Bevölkerung und ihre Beziehung zur Umwelt offenbart ihm große Differenzen innerhalb der Zivilisationsstufe der „Wildheit“, „and its various stages from that of the most wretched savages, removed but in the first degree from absolute animality, to the more polished and civilized inhabitants of the Friendly and Society Isles“. Demnach steht er vor der Aufgabe eine Vielzahl von Völkerschaften dokumentieren zu müssen; je weiter sich eine Gruppe vom Zustand einer „original simplicity“ entfernt hat19, desto schwieriger gestaltet sich dieses Unterfangen und um so umfangreicher wird das dokumentarische Sample von Artefakten: von den Gesellschaftsinseln und Tonga brachte Forster jeweils über hundert Objekte mit, aus Feuerland nicht mehr als etwa ein Dutzend. Die Analyse zeigt, dass es Forster darum geht, eine indigene Kultur durch ein Set von Objekten zu repräsentieren. Im Vordergrund steht dabei neben der Dokumentation technologischer Fähigkeiten immer auch die künstlerische Leistung, weshalb die Objekte in der Darstellung auch zumeist in Ornamente eingebunden sind. Wie bei der Analyse der Schädel ästhetische Kriterien eine wesentliche Rolle spielen, so ist diese Haltung auch bei den ethnografischen Artefakten anzutreffen. Dies geht Hand in Hand mit der Bestrebung, die Objekt-Repräsentationen ästhetisch ansprechend zu präsentieren. Die ästhetische Dimension lässt sich im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht von den Produktionsverfahren von Wissen abspalten; und dies nicht nur im Kontext der „collections curieuses“, sondern auch in dem der „gelehrten Sammlung“.
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Ebd., S. 9.
Sammeln und Reisen in deutsch-englischen Gelehrtennetzwerken im späten 18. Jahrhundert Thomas Biskup Die Jahrzehnte nach dem Siebenjährigen Krieg waren von der „Erfahrung einer neuen geo-politischen Globalität“ geprägt, durch die das Wissen Europas über die außereuropäische Welt erweitert und neu geordnet wurde.1 Durch die Forschungsreisen Cooks, Bougainvilles und anderer europäischer Seefahrer gelangten große Mengen botanischen, mineralogischen, zoologischen und ethnologischen Materials insbesondere aus der Südsee nach Europa. Dort wurden sie dem neuen enzyklopädischen Anspruch der Naturgeschichte unterworfen, jenseits bloßer Kompilationen das gesamte Wissen über die belebte und unbelebte Welt zu erfassen, zu systematisieren und so neues Wissen zu produzieren.2 Im Folgenden soll untersucht werden, wie deutsche und englische Gelehrte ihre je spezifischen Ressourcen und Qualifikationen zusammenführten, um die neuen Möglichkeiten naturgeschichtlicher Forschung nutzen zu können. Im Mittelpunkt stehen dabei der Göttinger Anatom Johann Friedrich Blumenbach und der langjährige Präsident der Royal Society, Sir Joseph Banks. Bereits seit dem 17. Jahrhundert hatten Austauschbeziehungen zwischen den protestantischen Universitäten und Akademien des Reiches und ihren englischen Pendants bestanden, vor allem in der Theologie und den Naturwissenschaften.3 Beim Aufbau der Royal Society nach 1660 etwa spielten deutsche Gelehrte eine wichtige Rolle. Konfessionelle Nähe und politische Verflechtungen blieben auch im 18. Jahrhundert wichtig, und die _____________ 1
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Lüsebrink, Hans-Jürgen, „Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert“, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln 2004, S. 629-653, S. 652; ders. (Hrsg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006. Müller-Wille, Staffan, „Ein Anfang ohne Ende. Das Archiv der Naturgeschichte und die Geburt der Biologie“, in: Dülmen/Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens, S. 587-605. Für einen Überblick siehe nunmehr: Manz, Stefan / Beerbühl, Margrit Schulte / Davis, John (Hrsg.), Migration and Transfer from Germany to Britian (1660–1914). Historical relations and comparisons, München 2007.
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gelehrten Verbindungen zwischen England und dem ihm über Personalunion seit 1714 verbundenen Hannover gestalteten sich besonders eng. Zentral war hier die 1737 gegründete Reformuniversität Göttingen, die nach 1763 ein konstitutiver Bestandteil der englischen Wissenschaftslandschaft wurde. Neben dem Recht und der Theologie lag Göttingens besondere Stärke in den Naturwissenschaften, die in den theologisch dominierten Curricula der beiden einzigen englischen Universitäten kaum Platz fanden und daher in England vor allem außeruniversitär betrieben wurden. Die schottischen Universitäten allein konnten diese Defizite nicht ausgleichen, und Göttingen vermochte so, eine beträchtliche Anzahl britischer Studenten anzuziehen; insbesondere für die englische Naturgeschichte wurde es zur wichtigsten Anlaufstelle außerhalb der britischen Inseln.4 1. Gelehrter Austausch I: Objekte Bereits Banks’ Vorgänger an der Spitze der Royal Society, der Mediziner Sir John Pringle, hatte eine enge Beziehung zu dem Göttinger Theologen Johann David Michaelis aufgebaut und als dessen Mittler zu Benjamin Franklin wie Georg III. gedient. Durch Korrespondenz wie gegenseitige Besuche war die hannoversche Universität so bereits vor 1770 in englische Patronagenetze bis hin zum Hof eingebunden, und ihre führenden Exponenten Michaelis, Heyne und Lichtenberg bestimmten auf beiden Seiten des Kanals theologische, philologische und astronomische Debatten wesentlich mit.5 Der Ausbau der Korrespondenz von Banks und Blumenbach ab Mitte der 1780er Jahre fügte diesem Austausch mit Botanik und Anthropologie einen neuen Schwerpunkt hinzu. Wie bereits Pringle und Michaelis, so gehörten auch Banks und Blumenbach innerhalb kurzer Zeit zu ihren jeweils wichtigsten auswärtigen Partnern und tauschten Briefe, Bücher, Objekte, aber auch gelehrtes Personal in hoher Frequenz aus.6 _____________ 4
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Wellenreuther, Hermann, „Göttingen und England im 18. Jahrhundert“, in: 250 Jahre Vorlesungen an der Georgia Augusta (1734–1984), Göttingen 1985, S. 30-63; Rupke, Nicolaas, „The Göttingen location“, in: ders. (Hrsg.), Göttingen and the development of the Natural Sciences, Göttingen 2002, S. 19-32, Mittler, Elmar (Hrsg.), „Eine Welt allein ist nicht genug“. Großbritannien, Hannover und Göttingen (1714–1837). Ausstellung in der Paulinerkirche Göttingen 20. März–20. Mai 2005, Göttingen 2005; Biskup, Thomas, „A university for Empire? The University of Göttingen and the Personal Union (1737–1837)“, in: Brendan Simms/Torsten Riotte (Hrsg.), The Hanoverian dimension in British history (1714–1837), Cambridge 2007, S. 128-160. Biskup, „A university for Empire?“, S. 144-148. Zum Beginn der Korrespondenz von Banks und Blumenbach: The correspondence of Johann Friedrich Blumenbach, Bd. 2: 1783/84, Frank W. P. Dougherty (Hrsg.), Göttingen 2007, S. X u. 14ff.
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Dieser Austausch von Sir Joseph Banks und Johann Friedrich Blumenbach beruhte nicht auf einem gemeinsamen Sammelgebiet, sondern es war vielmehr der jeweils unterschiedliche Zuschnitt ihrer Forschungsgebiete, der das für ihren engen Austausch notwendige Vertrauen generierte. Banks’ Ruf beruhte v. a. auf seiner Teilnahme an Cooks erster Weltumsegelung 1768–1771, in deren Folge er sich als führender englischer Botaniker etablieren konnte. 1778 zum Präsidenten der Royal Society gewählt, baute er über seine engen Kontakte zu Hof und Regierung, über seine Leitungsfunktionen in den Royal Botanic Gardens, im British Museum und in Londons gelehrten Assoziationen sowie über sein weit gespanntes Korrespondentennetz eine dominierende Stellung an der Schnittstelle von Gelehrtenrepublik und Politik auf. Wissenschaft wurde so in den Dienst des Empire gestellt, zugleich aber auch das Empire für die Naturgeschichte genutzt: „Science and the British Empire grew rich together.“7 Für Blumenbach, der seit 1776 den Göttinger Lehrstuhl für Anatomie innehatte und seiner naturgeschichtlichen Forschungen wegen als Begründer der Anthropologie als selbständiger Disziplin gilt, war insbesondere Banks’ wissenschaftspolitischer Einfluss von besonderem Interesse. Für die Klassifizierung der gesamten belebten und unbelebten Welt, welche die Naturgeschichte seit Linné und Buffon anstrebte, waren die systematische Beobachtung und Beschaffung von Objekten aus der ganzen Welt notwendig, wenn man sich nicht auf unsichere schriftliche oder mündliche Berichte verlassen wollte. Blumenbach hatte seine Typologie menschlicher „Rassen“ (wie er es selbst nannte), die Linnés vier Gruppen des homo sapiens umfassendes Klassifikationssystem um eine weitere „Varietät“ ergänzte, zunächst aufgrund von über Reisebeschreibungen vermittelten ethnografischen Informationen entwickelt. Ab 1790 jedoch stützte er sich zunehmend auf seine Göttinger Schädelsammlung, die er zur größten Europas ausbaute.8 Zu deren Aufbau trug Banks über seinen einzigartigen Zugang zu den Ressourcen der Royal Navy und den Fernhandelsgesellschaften wesentlich bei, etwa mit Schädeln aus der Karibik und der Südsee. Es ist bezeichnend für die wichtige Rolle von Banks, dass Blumenbachs erstmalige Nutzung des Begriffs „Anthropologie“ zur Abgrenzung der Naturgeschichte des Menschen von anderen Teilen der Naturgeschichte in _____________ 7 8
Fara, Patricia, Sex, botany, and Empire: the story of Carl Linnaeus and Joseph Banks, New York 2003, S. 157. Blumenbach, Correspondence, S. XIVf., XXV; Nutz, Thomas, „Kartographie des fremden Körpers. Anthropologisch-anatomisches Sammeln im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert“, in: Claudia Jeschke/Helmut Zedelmaier (Hrsg.), Andere Körper – fremde Bewegungen. Theatrale und öffentliche Inszenierungen im 19. Jahrhundert, Münster 2005, S. 83-104, bes. S. 101-104.
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einem Brief an Banks erfolgte.9 Banks wiederum machte durch eine Reihe von Neugründungen in allen Ecken des Empire die Royal Botanic Gardens in Kew zum Zentrum eines globalen Netzwerks botanischer Gärten, dessen Stränge um 1800 von London in die Karibik, den Pazifik und den Indischen Ozean reichten.10 Auch am Aufbau des Göttinger Botanischen Gartens war Banks durch Beratung wie die Bereitstellung von Pflanzen und Samenmaterial beteiligt. In seinem Londoner Stadtpalais schuf Banks eine nach dem Linnéschen Klassifikationssystem geordnete botanische Privatsammlung mit umfassendem Anspruch, die er von Korrespondenten in aller Welt beständig auffüllen ließ. Blumenbach steuerte die neuesten Bücher aus Göttingen bei, half aber auch, etwa durch öffentlichen Dank in der wichtigen dritten Auflage seiner De generis humani varietate nativa, die Stellung des aristokratischen Wissenschaftsorganisators Banks als Naturforscher zu stabilisieren, dem zunehmend Kritik an der geringen Zahl seiner Veröffentlichungen entgegenhalten wurde.11 2. Gelehrter Austausch II: Personal Auf der Ebene des materiellen Austauschs von Sammlungsobjekten war die Beziehung von Banks und Blumenbach asymmetrisch, denn wie auch Blumenbach mehrfach betonte, profitierten seine Sammlungen in weitaus höherem Masse von Banks’ Sendungen als umgekehrt. Die Gegenseitigkeit der Austauschbeziehung wurde jedoch v. a. dadurch hergestellt, dass Banks Zugang zu Expertise und Personal der Universität Göttingen erhielt. Das Zusammengreifen von imperialer Expansion und Naturgeschichte in den Jahrzehnten nach dem Siebenjährigen Krieg erhöhte den britischen Bedarf an in diesem Bereich ausgebildeten Forschern sprunghaft, die englischen Universitäten konnten jedoch keine Abhilfe schaffen; Banks hatte sich während seiner Oxforder Studienzeit Botanik bei einem eigens angestellten Privatlehrer aneignen müssen. Für die Praxis der Naturgeschichte spielten daher Ausländer eine wichtige Rolle im England der zweiten Jahrhunderthälfte. Mit Daniel Solander und Jonas Dryander arbeiteten gleich zwei schwedische Linnéschüler über viele Jahre in der Royal Society, dem British Museum und der Banksschem Privatsammlung.12 Als Banks _____________ 9 10 11 12
Blumenbach, Correspondence, S. XIX-XXI. Gascoigne, John, Joseph Banks and the English Enlightenment: useful knowledge and polite culture, Cambridge 1994, S. 150-155. Richard Drayton, Nature’s government: science, Imperial Britain, and the „improvement“ of the world, New Haven 2000. Nutz, Kartographie, S. 104. Hall, Marie Boas, The Library and Archives of the Royal Society (1660–1990), London 1992, S. 17-21.
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seine ursprünglich geplante Teilnahme an Cooks zweiter Weltumsegelung zurückzog, füllten Reinhold und Georg Forster die Lücke. Freilich: Den Versuch des ambitionierten Forster, nach seiner Rückkehr die ihm zugewiesene subalterne Stellung zu verlassen, wie einst Banks seine Südseereise als Karrieresprungbrett zu nutzen und dies auch publizistisch gegenüber dem Ersten Lord der Admiralität, dem Earl of Sandwich (Banks wichtigstem Verbündeten in der Regierung), durchzusetzen, ließ das Bankssche Patronagesystem ins Leere laufen.13 Blumenbach eröffnete Banks vielmehr die Möglichkeit, das englische Personaldefizit in den imperialen Wissenschaften über die Platzierung von Absolventen der Universität Göttingen an Londons gelehrten Institutionen wie auf Forschungsexpeditionen ausgleichen zu helfen, ohne das Monopol von Banks zu gefährden. Charakteristisch ist der Fall des Braunschweigers Carl Dietrich König, der bei Blumenbach studiert hatte. Zunächst über Banks an den Londoner Hof vermittelt, wo er die botanischen Sammlungen der Königin ordnete, nahm er im Anschluss eine Stelle als Dryanders Assistent in der Banks’schen Privatsammlung an, die in diesem wie in anderen Fällen den Zugang zu den öffentlichen Institutionen öffnete. Als Kurator am British Museum vergrößerte und ordnete König in enger Zusammenarbeit mit Banks die mineralogischen Sammlungen und legte erstmals einen Katalog an (der sich an das Klassifikationssystem Abraham Gottlob Werners anlehnte). Zusammen mit dem ebenfalls in Göttingen studiert habenden Joseph Planta, der die Bibliothek des Museums, aus der später die British Library hervorging, ausbaute, trug König in den vier Jahrzehnten seiner Amtszeit wesentlich zur Umgestaltung des British Museum zu einer wissenschaftlichen Institution bei, die über den systematischen Sammlungsausbau aktiv die vollständige Erfassung naturhistorischer Phänomene betrieb.14 Mitte der 1790er Jahre begann mit der Organisation von Expeditionen ins Innere Afrikas und Arabiens eine weitere Phase der Zusammenarbeit von Blumenbach und Banks. Letzterer war Gründungsmitglied der Association for promoting the discovery of the interior of Africa, die zur Gewinnung geografischer und ethnologischer Informationen bereits mehrere, allerdings nur z. T. sprachlich und wissenschaftlich auf ihre Aufgabe vorbereitete Offiziere oder Kolonialbeamte nach Afrika geschickt hatte. Trotz Mungo Parks spektakulärem Reisebericht war immer noch wenig über das Innere des afrikanischen Kontinents bekannt. Blumenbach und Banks entwickelten ein systematisches Konzept, nach dem ersterer herausragende und bela_____________ 13 14
Zu diesem Konflikt immer noch: Hoare, Michael E., The tactless philosopher: Johann Reinhold Forster (1729–1798), Melbourne 1976, S. 179-182. Harris, P. R., A history of the British Museum Library (1753–1973), London 1998, S. 36ff.; Chambers, Neil, Joseph Banks and the British Museum: the world of collecting, (1770–1830), London 2007, S. 3f., 34-43, 61-69.
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stungsfähige Studenten wie Friedrich Hornemann und Johann Ludwig Burckhardt anwarb und sie in Zusammenarbeit mit Göttinger Kollegen einem speziellen Ausbildungsprogramm in Sprachen, Geografie, Astronomie und Mathematik unterwarf. Im Anschluss daran wurden sie in London auf Kosten der African Association mit Ausrüstungsgegenständen und aktuellen geografischen Informationen ausgestattet und von der Royal Navy nach Afrika oder Arabien transportiert. Von dort aus stießen sie in mehrjährigen Expeditionen ins Landesinnere vor und sandten über britische Konsuln oder Kaufleute Berichte nach London, die von der African Association veröffentlicht wurden und die Grundlage weiterer Expeditionen, aber auch militärischer und merkantiler Operationen bildeten.15 3. Komplementarität und Reziprozität Die Reziprozität und Komplementarität, welche die Zusammenarbeit von Blumenbach und Banks kennzeichnet, war nicht nur ein persönliches Arrangement, sondern beruhte vielmehr auf den Grundlagen der deutschen und der englischen Wissenskulturen im Ganzen. Während naturgeschichtliche Forschung in Deutschland an den Universitäten institutionalisiert war, wurde sie in England von wohlhabenden „gentlemen-collectors“ betrieben, deren Sammlungen und Versammlungsorte bis ins 19. Jahrhundert hinein die Strukturen der englischen Gelehrtenwelt bestimmten. Die gelehrten Assoziationen wie die Society of Dilettanti, die Asiatic und eben die African Association dienten dabei vor allem der Pflege elitärer Soziabilität, während die tatsächliche Arbeit des Katalogisierens und Klassifizierens von sozial niedriger stehenden Gelehrten geleistet wurde.16 Die Einfügung der in den Sammlungen versammelten Objekte in übergeordnete Zusammenhänge, die sie etwa für die neuen Klassifikationssysteme von Linné oder Blumenbach erst signifikant machte, blieb jedoch eine Herausforderung für diese Wissenskultur. Roy Porter hat darauf hingewiesen, dass hier die Grenzen der dezentralisierten, nichtuniversitären Naturgeschichtstradition Englands
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Gascoigne, Joseph Banks, S. 157; Siegberg, Herward / Schnurer, Jos (Hrsg.), „Ich bin völlig Africaner und hier wie zu Hause [...]“ F. K. Hornemann (1772–1801). Begegnungen mit West- und Zentralafrika im Wandel der Zeit. Hildesheimer Symposion 25.–26.9.1998 (Hildesheimer Universitätsschriften, 7), Hildesheim 1999. Liebersohn, Harry, „European Geographic societies and ethnography (1821–1840)“, in: Philippe Despoix/Justus Fetscher (Hrsg.), Cross-cultural encounters and constructions of knowledge in the 18th and 19th century: non-European and European travel of exploration in comparative perspective / Interkulturelle Begegnungen und Wissenskonstruktionen im 18. und 19. Jahrhundert, Kassel 2004, S. 145-160, hier: S. 150.
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deutlich werden.17 Hier wird die wichtige Rolle besonders über Hannover vermittelter deutscher Forscher für das britische Empire deutlich, denn die von Banks praktizierte Verknüpfung von Naturgeschichte und imperialer Expansion implizierte auch die Abgrenzung von der französischen Naturgeschichte und ihren Protagonisten.18 Deutsche Gelehrte hingegen waren angewiesen auf die Mitnutzung der finanziellen und logistischen Ressourcen der britischen Weltmacht, denn die Territorialstaaten des Alten Reiches besaßen, von wenigen kurzlebigen Kolonialunternehmungen im 17. Jahrhundert abgesehen, praktisch keine eigenen maritimen Kapazitäten. Sammeln und Reisen wurde so komplementär und arbeitsteilig organisiert, wobei der genaue Beobachter Georg Forster die Problematik der daraus resultierenden Ahängigkeit deutscher Naturforscher von den „Seemächten“ bei der „Beobachtung“ der außereuropäischen Welt und der Beschaffung von Sammlungsobjekten reflektierte.19 Bei aller Unterschiedlichkeit der gelehrten Strukturen bildete das Konzept der „Politenesse“ bzw. „Politesse“, das den auf „improvement“ und „Aufklärung“ setzenden Forscher vom weltvergessenen „Stubengelehrten“ absetzte, die Grundlage der deutsch-englischen Gelehrtennetzwerke. Dieser gesellschaftliche Code war gerade im 18. Jahrhundert, in dem Institutionen weniger zählten als Personen und ihr Rang, wichtig für die Generierung von Vertrauen über große geografische Entfernungen hinweg, für die Pflege der transnationalen Kommunikationskanäle, aber auch aber auch für die vertikale Integration der gelehrten Netzwerke.20 Die Vertrauenswürdigkeit der Kommunikationskanäle war für die Naturgeschichte gerade in den Jahrzehnten der europäischen Ausdehnung zentral, denn gefälschte Objekte und verzerrte Berichte bereiteten den in ihren europäischen Arbeitszimmern verbliebenen Gelehrten wie Blumenbach beständige Probleme. Zweitens mussten Naturforscher auf allen Ebenen die sozialen Codes anerkennen, die gelehrte Patronagebeziehungen regulierten. Aus bescheidenen Verhältnissen stammende Gelehrte wie König und Hornemann brachten nicht nur jene Kombination aus gründlichen Kenntnissen und „Politesse“ mit, die das Agieren in der aristokratisch geprägten englischen Wissenskultur erforderte und für die Göttingen bekannt war. Vor allem waren sie bereit, sich in Patronagenetzwerke zu integrieren, die _____________ 17 18 19 20
Porter, Roy, The Making of Geology. Earth Science in Britain (1660–1815), Cambridge 1977, S. 169f. Gascoigne, Joseph Banks; ders., Science in the service of Empire: Joseph Banks, the British state and the uses of science in the age of revolutions, Cambridge 1998. Peitsch, Helmut, „‚Noch war die halbe Oberfläche der Erdkugel von tiefer Nacht bedeckt‘. Georg Forster über die Bedeutung der Reisen der europäischen ‚Seemächte‘ für das deutsche ‚Publikum‘“, in: Lüsebrink (Hrsg.), Das Europa der Aufklärung, S. 157-174. Lux, David / Cook, Harold, „Closed circles or open networks? Communicating at a distance during the Scientific Revolution“, in: History of Science, 36/1998, S. 181.
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ihnen eine Ausbildung und eine wenigstens in bescheidenem Umfang respektable und lukrative Karriere ermöglichten. Die Unfähigkeit oder der Unwille, sich hier geschmeidig einzufügen, konnte in der hierarchisch strukturierten Londoner Gelehrtenwelt erhebliche Konsequenzen zeitigen, wie der Fall Reinhold Forsters deutlich macht. Gleichrangigkeit war für gelehrte Aristokraten wie Banks nur in der Distanz denkbar. Drittens mussten die Kommunikationskanäle besonders sorgfältig gepflegt werden. Die Deutsche Kanzlei in London, die das institutionelle Bindeglied zwischen Hannover und Großbritannien bildete, war hier besonders wichtig, denn per königlichem Privileg war den Göttinger Professoren die Nutzung ihrer Boten erlaubt. Erst dies machte den Ausbau der Verbindung Göttingen/London zu einer im Rahmen der europäischen Gelehrtenrepublik einzigartigen „Datenautobahn“ möglich, auf der außerordentlich schnell außerordentlich große Mengen von Material bewegt wurden. Gerade für die Naturgeschichte war der Austausch von Objekten zentral, und Blumenbach erhielt beispielsweise 1792 mit allein einer Sendung drei Schädel und acht Bücher, die sich aus London innerhalb von vier Wochen beschaffen ließen. So wie der Bestand der deutsch-englischen Gelehrtennetzwerke von der jahrzehntelangen Korrespondenz ihrer Protagonisten abhing, war auch das London-Göttinger Kommunikationssystem ebenso personalisiert wie Gelehrtennetzwerke und die Verbindungen zwischen Universität, Regierung und Hof überhaupt. Sein Garant war die 60-jährige Kontinuität der Londoner Kanzleisekretäre Best Vater und Sohn.21 Göttinger Professoren pflegten ihre Kanäle durch bis in die Spitzen der hannoverschen Beamtenschaft reichende Soziabilität und Heiratsverbindungen. Einflussreiche Ordinarien wie Michaelis oder Blumenbach standen dabei an der Spitze von weit über ihre Universität hinausgehenden Patronagenetzwerken, die denen der englischen „gentlemen-scholars“ kaum nachstanden. Mit dem Vordringen Napoleons nach Norddeutschland 1803–1806 brach der hoch verdichtete Austausch von Texten, Objekten und Personal zusammen. Die transnationalen Netzwerke englischer und deutscher Gelehrter waren mit dem britischen Empire gewachsen, fielen aber nun seinem Zusammenstoß mit dem französischen Empire zum Opfer.
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Jefcoate, Graham, „Wilhelm Best und der Londoner Buchhandel: ein deutscher Diplomat im Dienste der Universitätsbibliothek Göttingen im 18. Jahrhundert“, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, 6/1996, S. 200.
Die Naturgeschichte und ihre prekären Objekte Bettina Dietz Sammlungen waren zwar diejenigen Orte, an denen die Verfügbarkeit von Objekten – von Naturalien – naturhistorische Praxis ermöglichte1, allerdings hatte daraus keineswegs zwangsläufig veröffentlichungswürdiges Wissen hervorzugehen. Im folgenden wird darzustellen sein, wie sehr das in Sammlungen verwahrte Arbeitsmaterial der Naturgeschichte aus prekären Objekten bestand und welche Konsequenzen daraus für die wissenschaftliche Praxis mit und in Sammlungen entstanden. Denn, abgesehen von Mineralien, war mit dem Besitz von Naturalien bzw. mit ihrem Eintreffen in der Sammlung noch keinerlei Garantie ihres Fortbestandes gegeben, im Gegenteil. Vom initialen Moment der Dingwerdung an haftete das Moment der Prekarität am Objektrepertoire der Naturgeschichte, dessen materielle Aufrechterhaltung eine konstante Aktivität erforderte; anderenfalls hörte es schlicht auf zu existieren. Anhand des Pariser Physikers und Naturhistorikers Réaumur wird zu zeigen sein, dass sich der Aufbau, Ausbau und insbesondere der Erhalt einer Sammlung nicht aus dem Bild der vermeintlich „eigentlichen“, intellektuellen und wissensgenerierenden Praktiken ausblenden lassen. Sie nahmen weit mehr Zeit und Arbeitskraft in Anspruch, als ein auf die Produktion naturhistorischen Wissens ausgerichteter Ansatz diesen zur Präliminarie abgewerteten Tätigkeiten zuzugestehen bereit ist. Die größte Naturaliensammlung im Paris der Jahrhundertmitte besaß René-Antoine Ferchault de Réaumur. Um 1740 war er wegen ihres konstant wachsenden Umfangs aus dem Stadtzentrum in ein geräumigeres _____________ 1
Zur Funktion von Sammlungen im Prozess der Wissensgenerierung vgl. den programmatischen Band: te Heesen, Anke / Spary, Emma C. (Hrsg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001; zur Naturgeschichte in Auswahl: Müller-Wille, Staffan, „Carl von Linnés Herbarschrank. Zur epistemischen Funktion eines Sammlungsmöbels“, in: ebd., S. 22-38; Blanckaert, Claude / Cohen, Claudine (Hrsg.), Le Muséum au premier siècle de son histoire, Paris 1997 (zum Pariser Muséum d’histoire naturelle); Beretta, Marco (Hrsg.), From Private to Public. Natural Collections and Museums, Sagamore Beach/Mass. 2005; Dietz, Bettina / Nutz, Thomas, „Naturgeschichte des Menschen als Wissensformation des späten 18. Jahrhunderts. Orte, Objekte, Verfahren“, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 32/2005, S. 45-70; dies., Die Praxis der Naturgeschichte. Konstellationen und Objekte des 18. Jahrhunderts, Habilitationsschrift Universität München 2007.
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Die Naturgeschichte und ihre prekären Objekte
Haus im faubourg Saint-Antoine umgezogen, wo mehrere Räume ihrer Unterbringung dienten. Eine zeitgenössische Beschreibung zeichnet folgendes Bild: in Glasgefäßen verwahrte und in vergitterten Schränken verstaute Mineralien füllten einen ersten großen Raum. Auf einem Tisch in der Raummitte befand sich eine große Menge getrockneter, zwischen zwei Glasscheiben gepresster Insekten. Ein anschließendes kleineres Kabinett enthielt weitere, in Alkohol konservierte Insekten und Würmer sowie diverse Vierbeiner, Reptilien und Fische, ebenfalls in Alkohol. Die größte Attraktion bestand jedoch in einer Sammlung von mehreren hundert ausgestopften Vögeln, die in Glasschränken eine Flucht von drei Räumen füllten.2 Wie aus Réaumurs Korrespondenz hervorgeht, war er konstant damit beschäftigt, durch großflächige Aktivierung seiner gelehrten Kontakte diese Vogelsammlung zu erweitern, die als Materialbasis einer projektierten Naturgeschichte der Vögel dienen sollte.3 Seine Mitgliedschaft in der Académie des Sciences – seit 1716 alternierend als Direktor und VizeDirektor – verschaffte ihm, zusätzlich zu seinem persönlichen Netzwerk von über hundert Briefpartnern, ein institutionelles von 28 Korrespondenten, die von der Akademie gewählt und ihm persönlich zugeordnet waren. Mit Réaumur korrespondierten auf dieser Basis u. a.: Jean-François Séguier, der die Flora4, Fauna und Gesteinswelt der Region Verona erfasste, Michel Sarrazin, der als französischer Arzt in Québec lebte, JeanFrançois Charpentier de Cossigny, Ingenieur im Dienst der französischen Compagnie des Indes, Pierre Poivre insbesondere von Mauritius aus, sowie Jacques-François Artur, médecin du Roi im südamerikanischen Cayenne (Guyana).5 Allerdings war mit dem Eintreffen eines zoologischen Präparats in einer Naturaliensammlung sein Fortbestand noch keineswegs garantiert.6 Jede Naturalie, insbesondere Vogelpräparate waren unter ständige konservatorische Observanz zu stellen, ansonsten drohte – unmittelbar oder auf _____________ 2 3 4 5 6
Vgl. Dezallier d'Argenville, Antoine-Joseph, La Conchyliologie, ou l'Histoire naturelle des coquilles de mer, d'eau douce, terrestres et fossiles; avec un traité de la Zoomorphose […], par MM. de Favanne de Montcervelle, 2 Bde., Paris 1780, hier: Bd. 1, S. 221. Réaumurs Nachlass befindet sich im Archiv der Académie des Sciences, Paris. Sein alphabetisch nach Korrespondenten geordneter Briefwechsel füllt einen Karton. Vgl. Séguier, Jean-François, Plantae Veronenses, 3 Bde., Verona 1745–1754. Dazu Le Seigneur, Marie-Jacques, „Un naturaliste français en Guyane. Jacques-François Artur, médecin du roi à Cayenne (1736–1771)“, in: Les naturalistes français en Amérique du Sud (XVIe–XIXe siècles), Yves Laissus (Hrsg.), Paris 1995, S. 137-156. Zur Dingwerdung von Naturalien durch Präparation im Rahmen naturhistorischer Expeditions- und Exkursionspraxis vgl. Dietz, Praxis der Naturgeschichte. Zur Theoretisierung von Präparaten als „Epistemologica“ s. Rheinberger, Hans-Jörg, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt am Main 2006, S. 336-350.
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absehbare Zeit – ihr materieller Zerfall. Das Arbeiten mit einer naturhistorischen Sammlung bedeutete längst nicht nur, Naturalien zu epistemisch unmittelbar produktiver Tätigkeit zu nutzen, also Exemplare nebeneinanderzulegen und aus dem Vergleich distinktive Merkmale zu gewinnen, sondern ebenso und – primär – eine unablässige Betriebsamkeit, die neben der Beschaffung Tag für Tag die Konservierung dieses prekären Materials zu leisten hatte. Réaumurs ornithologische Sammlung beruhte auf konservatorischen Kenntnissen, die ihm ermöglichten, über Jahre zu erhalten und somit zu akkumulieren, was anderen in kürzester Zeit durch Schädlingsbefall vernichtet wurde. 1744 schrieb er an seinen Korrespondenten Séguier, dass er seit ungefähr einem Jahr die Früchte seiner Experimente mit diversen Konservierungsverfahren ernte. Es sei ihm auf dieser Basis gelungen, eine Sammlung von ca. 600, in den für sie charakteristischen Haltungen fixierten Vögeln aufzubauen, die ausnahmslos jeden Besucher in Erstaunen versetze.7 Aber: Anstelle der geplanten und von Zeitgenossen erwarteten Auswertung des akkumulierten Materials in Form einer Naturgeschichte der Vögel, verfasste Réaumur Anleitungen zur Konservierung von zoologischen Präparaten: ein 1746 vorgetragenes (und 1751 erschienenes) Akademiememorandum zu Techniken der Konservierung in Alkohol und ein im Manuskript abgeschlossenes Handbuch der Vogeltaxidermie8, dem
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Vgl. Brief von Réaumur an Séguier vom 16.11.1744, abgedruckt in: Annales de la Société des Sciences Naturelles de la Charente-Inférieure, 21/1885, S. 199ff., hier: S. 201. Zu Vogeltaxidermie im 18. und frühen 19. Jahrhundert s. Farber, Paul Lawrence, „The Development of Taxidermy and the History of Ornithology“, in: Isis, 1977, S. 550-566; ders., The Emergence of Ornithology as a Scientific Discipline (1760–1850), Boston 1982; Wonders, Karen, „Bird Taxidermy and the Origin of the Habitat Diorama“, in: Renato Mazzolini (Hrsg.), Non-Verbal Communication in Science prior to 1900, Florenz 1993, S. 411-447; Rookmaaker, L. C. / Morris, P. A., „The Ornithological Cabinet of Jean-Baptiste Bécoeur and the Secret of the Arsenical Soap“, in: Archives of Natural History, 33/2006, S. 146-158. Die Manuskripte befinden sich im Fonds Réaumur des Archivs der Académie des Sciences, Paris (AAdS), Karton „Insectes et Groupes divers“. Die insgesamt 17 Memoranden der zweiten Serie tragen Titel wie: „De l’utilité des cabinets d’histoire naturelle et de l’objet de cet ouvrage qui est d’assurer la durée des collections qui doivent entrer dans ces cabinets“; „Manière de dessécher les oiseaux par le moyen de la chaleur des fours et dans les attitudes qui leur donnent un air de vie“; „Des différentes sortes d’embaumement qui peuvent être employées pour empêcher les oiseaux de se corrompre“; „Des desséchements d’oiseaux opérés, soit par des liqueurs spiritueuses, soit par des liqueurs salines“; „[Mémoire] qui apprend à empailler les oiseaux, à les dresser et à dresser ceux qui ont été déssechés“; „Moyen de faire parvenir les oiseaux sains des pays les plus éloignés“; „Le premier [mémoire] sur les moyens de défendre les oiseaux desséchés contre les insectes qui en sont avides“; „Des collections de becs et de pattes“; „De la préparation et de la conservation des quadrupèdes“ etc.
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er explizit Priorität vor seinen laufenden naturhistorischen Publikationsprojekten einräumte.9 Dieser als Serie von Memoranden konzipierte Traktat präsentiert sich als technischer Ratgeber zur Bewältigung eines den Fortschritt der Naturgeschichte behindernden Problems: der prekären materiellen Existenz ihrer Sammlungen. Allen Sammlern nur zu gut bekannte Schädlinge zerfräßen zoologische Präparate bis zu deren totaler Vernichtung. Manche schonten weder Fell noch Gefieder, Federn würden oft bis auf den Kiel abgenagt.10 Vögel seien, so Réaumur, am schwersten zu erhalten. Und ohne Vogelsammlungen keine Ornithologie: [...] une des branches les plus étendues de l’histoire naturelle [...] manque presque totalement aux cabinets les plus riches dans les autres genres. On n’y voit presque point d’oiseaux et si on y en trouve quelques uns leur état annonce [...] que leur destruction est prochaine. Ce qui a arresté les progrès de la science qui les a pour objet, l’ornithologie.11
Im Kontrast dazu verweist Réaumur auf seine eigene, im Umfang bislang unerreichte Vogelsammlung; die Rede ist hier bereits von mehr als 2.000 Exemplaren.12 Die folgende Diskussion der zu diesem Zeitpunkt bekannten Konservierungstechniken – Abziehen der Haut und Ausstopfen mit weichem Material, Aufziehen der Haut auf einen in etwa wie das Original geformten festen Körper, Einlegen des ganzen Tiers in hochprozentigen Alkohol oder aber Behandlung mit diversen Chemikalien – rückt dann ein von Réaumur an den und für die Objekte seiner Sammlung entwickeltes, neues Verfahren in den Mittelpunkt. Um Vögel jeder Größe auf längere Zeit gegen Schädlingsbefall zu sichern, müsse man sie nur, so heißt es, ihrem Volumen entsprechend, ausreichend lang in einem Ofen trocknen. Dabei sei es ein Leichtes, Vögel in natürlich anmutenden Körperhaltungen zu konservieren: man bringe in einer hölzernen Kiste das zu trocknende Exemplar mit Hilfe einiger Stäbe, Fäden und Nägel in die ge_____________ 9
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Vor der Académie des sciences verwies Réaumur auf: „[...] un ouvrage pour lequel j’ai cru devoir suspendre la publication de la suite des volumes des Mémoires sur les Insectes; [...] il m’a paru qu’un ouvrage qui avoit comme objet l’avancement des différentes parties de l’histoire naturelle, dont quelques-unes ont été trop abandonnées, & ne l’ont été que faute d’avoir sû faire des curieuses collecti [...], que cet ouvrage utile, même aux collections des insectes avoit des titres qui vouloient qu’il fit publié avant la suite de l’autre.“ (Ferchault de Réaumur, René-Antoine, „Moyens d’empêcher l’évaporation des liqueurs spiritueuses dans lesquelles on veut conserver des productions de la Nature de différens genres“, in: Histoire de l’Académie Royale des Sciences. Année MDCCXLVI, Paris 1751, S. 483-538, hier: S. 484). Ders., „1er mémoire servant de préface: De l’utilité des cabinets d’histoire naturelle“, 16r (Fonds Réaumur, Karton „Insectes et Groupes divers“, AAdS). Ebd., 20r. Ebd., 22r.
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wünschte Position, schiebe diese in den Ofen und erhalte so, nach bis zu fünf Stunden, ein entsprechend geformtes Präparat.13 Daneben stellte das Einlegen in mit Alkohol gefüllten, dicht verschlossenen Glasgefäßen das am häufigsten genutzte Verfahren zur materiellen Sicherung von Zoologica dar, dessen unerwünschte Nebenwirkung allerdings darin bestand, dass Fische, Schmetterlinge und Vögel so ihre natürliche Farbe verloren. Trotzdem blieb das Verfahren unverzichtbar, einerseits zur vorläufigen Konservierung von Naturalien für den oft monatelangen Transport nach Europa, andererseits zur dauerhaften Konservierung von Weichtieren, die trocken präpariert bis zur Unkenntlichkeit deformiert worden wären. Am 20. April 1746 präsentierte Réaumur vor der Académie des Sciences ein unter verschiedenen Gesichtspunkten optimiertes Prozedere, das sich, so auch hier die Legitimation, in seiner Sammlung über längere Zeiträume hinweg bewährt hatte: Die entscheidende Schwachstelle, an der es anzusetzen galt, war die mangelhafte Dichte der zur Konservierung verwendeten Glasgefäße, durch deren wie auch immer isolierte Verschlüsse trotzdem der Alkohol entwich. Bislang resultierte daraus für alle Sammler die zeitaufwendige und kostspielige Verpflichtung, Behälter von zoologischen und anatomischen Präparaten alle drei Monate zu öffnen und nachzufüllen. Réaumurs Suche nach einer Alternative konzentrierte sich auf in seiner Sammlung angestellte Experimente mit unterschiedlich geformten und isolierten Gefäßverschlüssen. In seinem Akademiememorandum empfahl er spitz zulaufende Glasstöpsel, durch die sich die optimierte Isolationsmasse aus einer Schicht Quecksilber (oder Öl) über mit Bleiweiß und Leim getränktem Pergament auf einen Ring um die Gefäßöffnung reduzieren ließ.14 Welchen Wert derartige Informationen für die Praxis der Naturgeschichte besaßen, belegt die Tatsache, dass sich Daubenton, Kurator am cabinet d’histoire naturelle des Pariser Jardin du Roi und, wie Réaumur, Mitglied der Académie des sciences, des noch unpublizierten Materials bemächtigte. Ohne Réaumur zu erwähnen, publizierte er alle technischen Details im dritten Band der mit Buffon zusammen verfassten Histoire naturelle, générale et particulière – bevor Réaumurs Memorandum mit fünfjähriger Verzögerung, 1751 im Periodikum der Pariser Académie des Sciences erschien.15 _____________ 13 14 15
Réaumur, 3. mémoire „Manière de déssecher les oiseaux par le moyen de la chaleur des fours dans des attitudes qui leur donnent un air de vie“, 24 Bl. (Fonds Réaumur, Karton „Insectes et Groupes divers“, AAdS). Réaumur, „Moyens d’empêcher“, S. 483. Leclerc, Georges-Louis, Comte de Buffon / Louis-Jean-Marie Daubenton, Histoire naturelle, génerale et particulière, avec la description du cabinet du Roy, 15 Bde., Paris 1749–1767, hier: Bd. 3 (1750), S. 181-188. Réaumur verweist auf den Plagiatscharakter von Daubentons Ausführungen, in denen offenbar auf der Grundlage von Mitschriften nicht nur verarbeitet wurde, was er auf einer Plenarsitzung vor der Académie vorgetragen hatte, sondern auch
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Die Naturgeschichte und ihre prekären Objekte
Deutlich wird, dass Sammeln eben nicht nur eine in der Akkumulation von Naturalien bestehende Präliminarie zur Praxis naturhistorischer Systembildung darstellte. Vielmehr ist das Anlegen, Erhalten, Führen und Vergrößern einer Sammlung als ein ganzes Bündel spezifischer naturhistorischer Alltagspraktiken zu betrachten, die nicht in wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche zu separieren sind und die, wie im Falle Réaumurs, die Arbeitskraft eines einzelnen weitgehend absorbieren konnten. Réaumurs Beschaffungsnetzwerk ließ seine Sammlung über die Jahre rasant anwachsen. Neben Objekten, die er bei seinen Korrespondenten „bestellt“ hatte, erhielt er immer wieder Sendungen, die ihm vor allem französische Kolonialbeamte unaufgefordert von ihren überseeischen Aufenthaltsorten zuschickten. Da seine Bestände ohne geografische Eingrenzung des zu Sammelnden auf eine Größenordnung zusteuerten, die die finanziellen und logistischen Möglichkeiten eines Privatsammlers allmählich überschritt, beschloss er, seine Sammlung einer mit den erforderlichen Mitteln ausgestatteten Einrichtung zu vermachen. Réaumur entschied sich gegen den Jardin du Roi, zu dessen Direktor Buffon er in einem ausgeprägten Konkurrenzverhältnis stand, und vermachte die Sammlung testamentarisch der Académie des Sciences – unter der Bedingung ihrer Aufrechterhaltung und Weiterführung. Trotz Réaumurs erklärtem Willen verfügte nach seinem Tod im Jahr 1757 eine königliche Ordonnance ihre Aushändigung an Buffon, zu diesem Zeitpunkt sowohl Schatzmeister der Académie des Sciences als auch Direktor des Jardin du Roi. Dementsprechend wurde alles bis auf die Sammlungsschränke in den Jardin du Roi transferiert, um die dortigen Bestände zu ergänzen.16 Réaumur hatte ein Objektkapital aufgehäuft, das einer allgemeinen Naturgeschichte der Vögel als Ausgangspunkt dienen konnte und sollte, dessen zeitaufwendige Beschaffung und Konservierung ihm selbst aber die Verwirklichung eines derartigen Projektes verunmöglichten. Statt dessen erschienen auf der Grundlage seiner Sammlung zwei Ornithologien anderer Verfasser. Als Buffon und Daubenton 1749 eine 15-bändige Histoire naturelle générale ankündigten, sah sich Réaumur noch zu einem skeptischen Kommentar veranlasst. Er wisse zwar, dass beide zu diesem Zweck in großem Umfang aus der naturhistorischen Literatur und aus Reiseberichten exzerpierten bzw. exzerpieren ließen. Ob sie allerdings auch auf eigene Anschauung zurückgreifen könnten, bezweifle er. Denn: Das Cabinet du Roi sei zwar reich an Pflanzen, Edelsteinen und Muscheln, besäße aber kaum Insekten, Mineralien und Vögel, von letzteren höchstens _____________ 16
Details, die von ihm nur auf assemblées particulières präsentiert worden waren. Vgl. Réaumur, „Moyens d’empêcher“, S. 517. Die ordonnance vom 2. Jan. 1758 ist abgedruckt in: Caullery, Maurice, Papiers laissés par Réaumur et le tôme VII des „Mémoires pour servir à l’histoire des insectes“, Paris 1929, S. 12f.
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60 oder 80.17 Erst die durch persönliches Betreiben bzw. Hintertreiben18 bewerkstelligte Integration der Réaumurschen Sammlung in die Bestände des Cabinet du Roi brachte Buffon in den Besitz des notwendigen Materials für die Ausarbeitung seiner Histoire naturelle des oiseaux, die ab 1770, je nach Ausgabe variierend, in ca. 10 Bänden erschien.19 Ebenso basierte die 1760 erschienene Ornithologie von Jacques Mathurin Brisson auf der Sammlung Réaumurs, als deren Kurator er jahrelang beschäftigt gewesen war und aus der er mehr als 1500 Vögel beschrieb. Darüber hinaus illustrierte er seine Publikation mit Stichen, die Réaumur hatte anfertigen lassen. Während aber Brisson gleich im zweiten Satz des Vorwortes seine fundamentale Verpflichtung gegenüber Réaumur zum Ausdruck bringt, ohne dessen Korrespondenznetz und Sammlung er seine Naturgeschichte nicht hätte schreiben können, schweigt Buffon über die Provenienz seines Anschauungsmaterials. In der Einleitung zur Histoire naturelle des oiseaux – dort, wo den Konventionen der Naturgeschichte zufolge sowohl die Prä- und Referenztexte aufgelistet als auch das Netzwerk der Materialbeschaffung ausgewiesen wird – fällt der Name Réaumur kein einziges Mal. Das spektakuläre Anwachsen des Pariser Cabinet du Roi, aus dem 1793 das Muséum d’histoire naturelle hervorging, war also nicht nur das Resultat einer expeditionsgestützten Sammlungspolitik, sondern auch einer gegebenenfalls klandestin zu praktizierenden Akkumulationsstrategie: der Aneignung von in ihren jeweiligen Themenbereichen führenden Privatsammlungen, sowie, damit einhergehend, der an den Objektbesitz gekoppelten naturhistorischen Augenzeugenschaft, die zur Publikation legitimierte. Die Prekarität der naturhistorischen Objektwelt, insbesondere von Zoologica, hatte zur Folge, dass die Rolle des Sammlers und die des Autors im naturhistorischen Feld des 18. Jahrhunderts nicht unbedingt zusammenfiel.
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Brief von Réaumur an Séguier vom 25. Mai 1749, in: Société des Sciences Naturelles de la Charente-Inférieure, 21/1885, S. 45. Zu Buffons Machenschaften, um die Sammlung des mit ihm verfeindeten Réaumur in seine Gewalt zu bringen, vgl. Torlais, Jean, Un esprit encyclopédique en dehors de „l’Encyclopédie“. Réaumur, Paris 1961, S. 381-388. Leclerc, Georges-Louis, Comte de Buffon, Histoire naturelle des oiseaux, 9 Bde., Paris 1770– 1783; vgl. dazu auch Caullery, Papiers, S. 22.
XIV. ÄSTHETIK ZWISCHEN NORM UND GESCHICHTLICHKEIT Einführung von Ulrike Zeuch Norm versus Geschichtlichkeit – diese Gegensätze sind weder spezifisch für die Ästhetik noch für das 18. Jahrhundert. So sind auch die Entwürfe zur Menschheitsgeschichte im 18. Jahrhundert, die Diskussion beispielsweise um das, was den Menschen zum Menschen macht, die Humanität, maßgeblich geprägt durch diese Gegensätze, und bereits in der Renaissance gibt es eine Querelle des Anciens et des Modernes. Die Frage jedoch ist, ob das Bewusstsein der Geschichtlichkeit der Normen im 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt – so paradox dies zunächst scheinen mag; denn entweder unterliegt etwas der Kontingenz oder nicht. Ferner ist zu fragen: Welche Konsequenzen sind aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit gezogen worden? Hat erst sie die Erprobung anderer, neuer Ausdrucksformen in den einzelnen Künsten ermöglicht? Gibt es das Neue in der Ästhetik überhaupt? Wie wird dieses neue Wissen, wenn es denn ein neues ist, vermittelt? Gibt es, wenn man eine Binnendifferenzierung vornimmt, innerhalb der Kultur des Wissens von Ästhetik im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Bewegung von Normativität zur Geschichtlichkeit? Handelt es sich dabei, wenn ja, um zeitgleiche, parallele Erscheinungen in den verschiedenen Künsten? Oder ist da eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen? An der Sektion Ästhetik zwischen Norm und Geschichtlichkeit nahmen Referenten und Referentinnen der Theater- und Literaturwissenschaft sowie der Kunstgeschichte teil – ein geeignetes Forum für die Klärung dieser Fragen. Am Beispiel der für die Ästhetik im 18. Jahrhundert zentralen Frage der Schönheit sei kurz die Wahl des Themas begründet. Die Ästhetik stellt innerhalb der Gesamtproblematik Norm versus Geschichtlichkeit aus zwei Gründen einen Sonderfall dar: Zum einen steht die Schönheit als Ideal seit Marsilio Ficinos Schrift De amore in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts im Zentrum der Diskussion bei der Frage, ob es eine zeitenthobene, überindividuelle Wesensbestimmung des Menschen gibt. Insofern sind Klassizität, Vorbildhaftigkeit und Idealität antiker Schönheit die letzten Bastionen innerhalb der Ästhetik im 18. Jahrhundert, die zugunsten der Einsicht in
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die Geschichtlichkeit fallen. Zum anderen wird die Schönheit seit der Frühen Neuzeit zum exklusiven Objekt gewisser Gegenstandserkenntnis. In der Schönheit soll, was sonst vereinzelt auftritt, sich gesammelt dem Erkennen darbieten und damit nicht nur ein einzelner Gegenstand, sondern die Gesamtheit aller möglichen Gegenstände erfasst sein. Und eben diese Gesamtheit aller möglichen Gegenstände sowie deren Bestimmungen würden erst die angemessene Grundlage für das Urteil abgeben, dass die im Wandel widersprüchlicher Erfahrung für konstant gehaltenen Momente auch immer und tatsächlich konstant sind. Um angesichts der unfassbaren Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu einer einheitlichen Wahrnehmung zu gelangen, geht Marsilio Ficino in seiner Neudeutung der platonischen Ideenlehre davon aus, dass es in den Erscheinungen eine Idee von besonderer Art: die Idee der Schönheit, gebe. Dass die Sinne oder zumindest einer der Sinne im sinnlich Wahrnehmbaren etwas Ideelles erkennen, ist aufgrund der Wendung in der Erkenntnistheorie seit dem Nominalismus zur voraussetzungslosen Empirie notwendig; einzelne Wahrnehmungsqualitäten jedoch sind, selbst wenn ihnen der Status eines Ideellen zugesprochen wird, dennoch einzelne Ideen. Gesucht wird aber nach einer Idee, welche Inbegriff aller nur möglichen einzelnen Ideen ist. Unter der Voraussetzung, dass alles stetem Wandel unterliegt, ist die Suche aporetisch; es sei denn, man stieße auf etwas, das – als Kern gleichsam – unverändert wäre. Dieser Kern dürfte als Idee der Ideen keine Bestimmtheit, kein Merkmal aufweisen. Die Annahme, ausgerechnet die Schönheit nehme innerhalb der Ideen eine solch eminente Stellung ein, wird durch die von Thomas von Aquin an Ficino vermittelte Überzeugung befördert, Gott habe der Schöpfung, indem er sie nach Maß, Zahl und Gewicht gestaltet habe, Schönheit verliehen. Befördert wird sie ferner durch die Lichtmetaphorik, wie sie sich in Thomas’ Kommentar zu Dionysius von Areopagita findet, dass in allem Geschaffenen die Ordnung des göttlichen Prinzips widerstrahle und intellektuell ‚geschaut‘ werden könne, sowie schließlich durch die thomistische Schönheitsbestimmung hinsichtlich des menschlichen Körpers. Ausgerechnet an der Schönheit des Menschen Schönheit schlechthin erfahren zu wollen, ist nur unter der Voraussetzung plausibel, dass die Schöpfung und damit alle einzelnen Phänomene im Menschen und hier auf hervorragende Weise im schönen Menschen kulminieren. Für Ficino ist die thomistische Proportionslehre nicht mehr einsichtig. Er setzt dabei voraus, dass proportio membrorum Verhältnismäßigkeit von messbaren, an den Gliedmaßen des Menschen ablesbaren Quantitäten, proportio colorum eine bestimmte Hautfarbe meine. Ficino abstrahiert von gegensätzlichen Bestimmungen, welche sich an verschiedenen Menschen vorfinden, um zu dem in allem Gleichen vorzustoßen. So kommt er zu dem Schluss, das We-
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sen der Schönheit des menschlichen Körpers bestehe in dem einheitlichen Glanz aller Körperglieder, in dem einen Licht, das alle, noch so unterschiedliche Körper bescheine. Um der Suche nach einem tatsächlich alle Gegensätze auflösenden Einen willen gibt Ficino die für die Schönheit des menschlichen Körpers spezifische Einheit zugunsten einer unbestimmteren, von ihm für höher, für göttlich gehaltenen Einheit preis. Dadurch, dass Ficino die Proportion als Schönheitsbestimmung des menschlichen Körpers ablehnt, aber nichtsdestoweniger an der Suche nach einer körperimmanenten Einheit festhält, gibt er Anlass zu neuen Deutungsmöglichkeiten. Entweder geht man davon aus, eine solche Einheit gebe es nicht, oder die Einheit verleihende Instanz liege nicht im Objekt, sondern in der subjektiven Schönheitserfahrung, oder dieses Einheit Verleihende sei die Haut, die sich über alle Glieder ausbreite. Obwohl von Ficino entschieden abgelehnt, ist die Proportionslehre keineswegs aus der Diskussion. Sie wird im 16. Jahrhundert wieder aufgegriffen. Da hierbei die von Ficino bereits geteilte allgemeine Überzeugung leitend ist, sie müsse am sinnlich Wahrnehmbaren selbst ablesbar sein, wird die Einheit verleihende Instanz selbst zum Quantum. Der Mensch, insofern er schön sei, soll aus einer Anzahl gleicher Quanten in bestimmter Zuordnung zueinander zusammengesetzt sein. Dies wird als zu schematisch bald verworfen und durch als besonders schön angesehene Bewegungen ersetzt, ehe auch diese zugunsten von unspezifischer Bewegtheit aufgegeben werden. Um der Bewegtheit ein Zentrum im Sinne einer Konstante zu verleihen, ersinnt Lomazzo die Schönheitslinie: die figura serpentinata, eine sich um die eigene Achse drehende Spirale. Durch Ficino wesentlich befördert wird die Annahme, Einheit verleihe etwas Geistiges, welches im sinnlich Wahrnehmbaren erkennbar werde: die Schönheit der Seele. Dieses Geistige soll in Nachwirkung von Thomas’ gratia zugleich moralisch sein. Zwar führt man einzelne Tugenden an, welche für die Erfahrung seelischer Schönheit als besonders geeignet angesehen werden. Wenn der Körper aber Ausdruck mal dieser, mal jener seelischen Beschaffenheit wäre, ließe sich wiederum kein einheitlicher Eindruck gewährleisten. Hieraus zieht man den Schluss, schön könne die Seele nur im Zustand der Bestimmungslosigkeit sein, da sie nichts wolle, nichts erstrebe, weder von Lust noch Unlust bewegt sei. Grazie als Ausdruck derartiger Bestimmungslosigkeit ist damit ebenso wenig definierbar wie die Linie. Grazie wird zum Ausdruck eines je ne sais quoi, das sich nur empfinden, von dem sich aber nicht sagen lässt, warum man eine solche Empfindung, die zudem schön sein soll, hat und was sie sachlich verursacht. Die Kunsttheorie im 16. Jahrhundert bietet eine Reihe von Deutungsmöglichkeiten der Einheit in der Mannigfaltigkeit, welche in der Folge rezi-
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piert, deren Einzelmomente neu kombiniert werden. Dabei geht aufgrund der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner das Wissen um das bestimmte Sein menschlicher Schönheit schrittweise verloren. Die endgültige Verabschiedung von Ästhetik im Sinne einer Lehre vom Schönen ist nur eine Frage der Zeit. Gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, da man das Wesen der Schönheit breit diskutiert, ist ihr zentraler Gegenstand: die Schönheit des Menschen, selbst wenn dieser noch als schön bezeichnet wird, von anderen Gegenständen, welche eine analoge Offenheit aufweisen, nicht mehr unterscheidbar. Die fortschreitende Auflösung inhaltlicher Bestimmtheit ist für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts maßgeblich: Die von Lomazzo eingeführte figura serpentinata wird durch Hogarth wirkungsmächtig popularisiert. Die an sich auf körperliche Vielfalt bezogene Einheit wird unbemerkt zum Wesenszug eines Seelischen. Das Paradebeispiel ist dabei die Plastik des Laokoon. Die zunehmende Unsicherheit, mit Eindeutigkeit am Körper die schöne Verfasstheit der Seele ablesen zu können, führt dazu, dieses Urteil ganz in das Subjekt, in dessen Gefühl, zu verlegen. Aber auch die Bestimmung der Schönheit der Seele selbst wird immer unbestimmter. Zunächst nennt man noch einzelne Tugenden; dann soll Schönheit der Seele Ruhe in Bewegung oder die Mitte zwischen zwei vorherrschenden Affekten bzw. zwischen Vernunft und Trieb sein. Diese Ruhe selbst wird dynamisiert, so dass am Ende Bewegtheit übrig bleibt. Eben dieses Merkmal – paradoxerweise ohne Merkmal – avanciert zur Wesensbestimmung von Materie schlechthin. Die Schönheit des Menschen unterscheidet sich ihrem Wesen nach nicht vom Stoff, aus dem alles einzelne Geschaffene ist: Alles ist Materie und verändert sich als solche ständig. Über die jeweilige Bestimmtheit, gar einzelnes Schönes aber ist nichts mehr aussagbar. An der Schönheit als zentralem Ort gewisser und bleibender Erkenntnis wird exemplarisch die Komplexität des Sektionsthemas Ästhetik zwischen Norm und Geschichtlichkeit deutlich: Motiviert ist die Schönheitsdiskussion durch ein erkenntnistheoretisches Dilemma; die Methode zur Lösung des Problems ist die seit der Frühen Neuzeit probate der Induktion. Trotz der empirischen Vorgehensweise wird festgehalten an apriorischen Prämissen. Das Ergebnis ist eine fortschreitende Destruktion von Gewissheiten einerseits, ein Sich-Einrichten mit dem Unbestimmten andererseits; und gerade die Destruktion und das dadurch entstandene Vakuum des Bestimmungslosen gibt den Raum für neue Bestimmungen und damit neues Wissen. Eben diese neuen Bestimmungen und das neue Wissen sind Gegenstand der Beiträge dieser Sektion.
„Vergleichung ist ein gefährlicher Feind des Genusses.“ Zur Epistemologie des Vergleichs in der deutschen Ästhetik um 1800 Michael Eggers Folgt man der Beschreibung Michel Foucaults, so gehört das 18. Jahrhundert zu einer Wissensordnung, die schon im 17. beginnt und sich als Suche nach sicherer Erkenntnis und deren adäquater Benennung zu erkennen gibt.1 Ausgehend von der Notwendigkeit einer Wissenschaft der allgemeinen Ordnung, die nicht an den Grenzen einzelner Gegenstandsbereiche Halt macht, sucht man nach den Identitäten und Unterschieden zwischen den Dingen, um deren widerspruchsfreier, logischer Einteilung willen. Man strebt nach vollständigen Systemen, in deren begriffliche Hierarchie sich alle Gegenstände einpassen lassen und die der Ordnung der Naturschöpfung nicht nur möglichst genau entsprechen, sondern sich aus dieser direkt und unverfälscht ableiten lassen sollen. Die Methode, mit der man an dieses Ziel gelangen will, ist eine logisch und empirisch vergleichende. Hatte man sich in Renaissance und Barock, so Foucault, die Welt noch erklärt, indem man zwischen den Dingen Ähnlichkeiten feststellte, die auf ein komplexes, verborgenes Netz von Verweisen und Verbindungen schließen ließen, auf den inneren Zusammenhang der Natur und den in ihr angelegten Plan Gottes2, so setzt sich jetzt eine größere Strenge der Betrachtung durch. Die Epoche der Ähnlichkeit und der Analogie geht zu Ende und wird ersetzt durch die Epoche des Vergleichs: Während das System der Ähnlichkeiten immer mehr den Status eines unklaren, nur annähernden Wissens annimmt, vertraut man nun, entsprechend einer durch Descartes eingeleiteten Orientierung an der zweifelsfreien Evidenz, dem Vergleich, in dessen Zuge die Ähnlichkeiten überprüft und entweder aufgelöst oder bestätigt werden. Wenn hier von Vergleich die Rede ist, dann geht es nicht um sprachlich bildliche Übertragungen, sondern um die Suche nach Differenzen und _____________ 1 2
Für das Folgende: Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, S. 82ff. Ebd., S. 46ff.
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Zur Epistemologie des Vergleichs in der deutschen Ästhetik um 1800
Identitäten, die es erlauben, die Dinge voneinander zu unterscheiden und so in ein Ordnungsverhältnis zu setzen. Im 18. Jahrhundert gibt die Diderotsche Enzyklopädie eine systematische Abgrenzung dieser beiden komparativen Wissensformen vor. Dem Stichwort „Comparaison“ sind dort zwei entsprechende, von Louis de Jaucourt verfasste Eintragungen gewidmet, mit denen die Definition des Vergleichs als Verstandestätigkeit vom rhetorischen, sprachbildlichen Vergleich kategorisch getrennt wird. Die Bedeutung dieser Abgrenzung wird ersichtlich, wenn de Jaucourt den Vergleich als die Haupttätigkeit des Geistes privilegiert − „Il n’y a rien que l’esprit humain fasse si souvent, que des comparaisons“ −, mit welcher der Mensch sowohl die Zusammensetzung der Ideen als auch die Beziehungen zwischen den Objekten untersuche, seine Erinnerung, Vorstellungskraft und Reflexionsfähigkeit verstärke und durch die er sich vom Tier unterscheide. Wortreich beharrt Jaucourt auf der Trennung der Vergleichstypen: Es sei sehr bequem und erspare geistige Arbeit, neue Objekte mit gewohnten Vorstellungen zu vergleichen, ohne sie genau zu untersuchen. Dies sei aber eine Quelle häufiger Fehler und Missverständnisse und beruhe oft auf Einbildung, weshalb man Bilder und Ähnlichkeiten der Rhetorik und Poesie überlassen müsse. Geben die Ausführungen in der Encyclopédie bereits den Ton für eine abwertende Haltung gegenüber dem rhetorischen Vergleich vor, so setzt sich das exakte vergleichende Wissen in der Folgezeit weiter als wissenschaftliche Methode durch. Eine paradigmatische und äußerst einflussreiche Durchführung dieses rationalen Verfahrens ist etwa Carl von Linnés systematische Einteilung und Benennung der Naturgegenstände.3 Linné vergleicht Tiere und Pflanzen miteinander, um ihr unterscheidendes Merkmal zu finden, sie in passenden Kategorien der Gattung und Art zu klassifizieren und entsprechend zu benennen. Er folgt damit einerseits dem aristotelischen Prinzip einer Einteilung der Dinge per genus proximum et differentiam specificam, vertraut dabei aber schon strikt auf die empirischen Sinnesdaten, die er aufzeichnet und auswertet. Linnés botanische und zoologische Klassifikation und Taxonomie ist eines der prominentesten Beispiele für die raschen Fortschritte der empirischen Wissenschaften im 18. Jahrhundert. In einem Wissenssystem, das unsere heutige Unterscheidung der Fächer und Fakultäten noch nicht kennt, setzt die Naturbetrachtung neue Maßstäbe für Wissenschaftlichkeit, von denen auch die Sachgebiete nicht unberührt bleiben, die sich im weiteren Verlauf schließlich zu den _____________ 3
Jacob, François, Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt am Main 1972, S. 72ff.; Lepenies, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976; Müller-Wille, Staffan, Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–1778), Berlin 1999.
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Geisteswissenschaften entwickeln werden. So bildet sich aus der komparativen Methode ein Ordnungsmuster, das, vor allem durch die Klassifikationserfolge der Botanik und die Entwicklung der vergleichenden Anatomie, anderen Wissenszweigen zum Vorbild dient: Seit dem späten 18. Jahrhundert verweisen Autoren wie Friedrich Schlegel, Goethe und Wilhelm von Humboldt explizit auf diese Muster, um den Anspruch ihrer eigenen Forschungen herauszustellen. So entstehen die vergleichenden Sprachwissenschaften aus Schlegels Sanskritstudien, Goethes vergleichende Morphologie, die empirisches und spekulatives Wissen gleichermaßen umfasst, oder Humboldts Entwurf einer vergleichenden Anthropologie. Diese im Kontext der deutschen Klassik und Romantik stehenden Ansätze bestätigen, so scheint es, Foucaults These, nach der das 18. Jahrhundert seine Kenntnisse nach Identitäten und Unterschieden differenziert, um sie in Wissenstableaus klar, sichtbar und vollständig anordnen zu können. Das Erfolgsmodell des Vergleichs wird während des 18. Jahrhunderts zu einem Kriterium für Wissenschaftlichkeit. Es leistet vor allem zweierlei: Zum Einen gewährt es Genauigkeit in der Anschauung. In der Gegenüberstellung zweier Dinge und der Konzentration auf deren Gemeinsamkeit − das tertium comparationis − bzw. ihr unterscheidendes Merkmal − die differentia specifica − wird die daraus folgende Einteilung der Gegenstände evident, exakt und empirisch nachvollziehbar. Zum anderen ermöglicht das Vergleichen Vollständigkeit: Das jeweils in Betracht gezogene Feld kann theoretisch in seiner Gesamtheit komparativ erfasst und systematisiert werden. Wie bereits Linnés System darauf angelegt ist, die ganze sichtbare Natur vollständig zu klassifizieren, angefangen bei den drei Naturreichen Tiere, Pflanzen und Mineralien bis hinunter zu einzelnen Arten, so träumt etwa Humboldt in seinem Anthropologiefragment davon, „die Eigenthümlichkeiten des moralischen Charakters der verschiedenen Menschengattungen neben einander auf[zu]stellen und vergleichend [zu] beurtheilen.“ Humboldt hegt keine Bedenken hinsichtlich der Durchführbarkeit dieses allein schon quantitativ gewaltigen Unternehmens: „Es kommt nur darauf an, den reichen Stoff, den das ganze Leben hergiebt, zu sammeln, zu sichten, zu ordnen und zu verarbeiten.“4 Während sich in Humboldts Sätzen schon andeutet, dass die Maßgabe der Exaktheit in der Anwendung der Methode auf ungenau definierte Abstrakta mehr ein hoffnungsvolles Versprechen als eine verlässliche Qualität des Ergebnisses ist, folgt der Versuch, das gesamte Menschengeschlecht einzuteilen und zu rubrizieren, konsequent aus dem Ansatz. _____________ 4
Humboldt, Wilhelm von, Plan einer vergleichenden Anthropologie [1795], Berlin 1903 (Gesammelte Schriften, Königl. Preuss Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Bd. 1, 1. Abt.), S. 377.
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Die vergleichende Wissenschaft des 18. Jahrhunderts tritt an, ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis zu stellen, indem sie, gemäß dem Beurteilungsvermögen dieser Zeit, Genauigkeit und Lückenlosigkeit anstrebt. Vorgegeben ist auf diese Weise ein methodischer Rahmen, der die Wissensfelder durchkreuzt, dort allerdings jeweils sehr unterschiedlich eingelöst wird. So stellt sich die Frage, ob sich auch eine zu dieser Zeit neu entstehende Disziplin wie die Ästhetik dieser Episteme zuordnen lässt. Immerhin markieren die systematischen Ansätze Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers die Ambition des ästhetischen Denkens auf Wissenschaftlichkeit nach den Maßstäben des Rationalismus. Auch die erwähnten Ansätze zu vergleichenden Wissenschaften scheinen darauf hinzudeuten, dass sich das Paradigma hier bruchlos fortsetzt. Goethes groß angelegtes Projekt einer vergleichenden Morphologie universalisiert gar die komparative Methode und bezieht, ausgehend von der Naturbetrachtung, alle Lebensbereiche mit ein, so auch die Kunst. In seinem Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ fordert Goethe von der Kunst das fortgesetzte Studium der Natur, deren bildende Nachahmung erst dann zu einem kunstwürdigen Stil finde, „je mehr sie sich dabei zu denken gewöhnt, das heißt, je mehr sie das Ähnliche zu vergleichen, das Unähnliche voneinander abzusondern und einzelne Gegenstände unter allgemeine Begriffe zu ordnen lernt“.5 Die methodische Umsetzung des Vergleichs ist bei Goethe wohlgemerkt eine andere als noch bei Linné. Legt man die Foucaultsche Unterscheidung zwischen Vergleich und Ähnlichkeit zu Grunde, der die beiden Encyclopédie-Artikel mit ihrer Sonderung der vernunftgemäßen Methode von der rhetorischen bzw. metaphorischen Annäherung entsprechen, so ist Goethes vergleichende Naturbetrachtung dem Denkmuster der Analogie zuzurechnen.6 Dass die Analogie, die als Erkenntnismodell eine lange philosophische und theologische Tradition hat, auch um 1800 noch Aktualität besitzt, ist bekannt. Sie ist nicht nur bei Goethe, sondern auch bei Hamann7, Herder8, Humboldt9 und in der Romantik10 entdeckt wor_____________ 5 6 7
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Goethe, Johann Wolfgang von, Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen, Hamburg 1953 (Werke, Erich Trunz (Hrsg.), Bd. 13), S. 34. Schrader, Hans-Jürgen (Hrsg.), Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogischphilosophische Konzepte, Tübingen 2004; Breidbach, Olaf, Goethes Metamorphosenlehre, München 2006. Rudolph, André, Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhundert, Tübingen 2006. Vgl. auch Meinzer, Elke, „Biblische Poetik. Die Analogie als Stilprinzip bei J-G. Hamann und J. M. R. Lenz“, in: Joseph Kohnen (Hrsg.), KönigsbergStudien. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. und angehenden 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 37-57. Irmscher, Hans-Dietrich, „Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, 55/1981, S. 64-97.
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den und schließlich ist der Beginn der ästhetischen Disziplin mit Baumgartens analogon rationis, dem Begriff für die so genannten unteren, sinnlichen Erkenntnisvermögen in Analogie zur Vernunft, noch ganz grundsätzlich diesem Modell verpflichtet. Mit diesem Befund ist aber die von Foucault für das frühe 17. Jahrhundert angesetzte epistemologische Epochengrenze zwischen Ähnlichkeit und Vergleich zumindest um die gegenläufige Entwicklung zu ergänzen, die diesen Bruch nicht mit vollzieht, sondern die in Barock und Renaissance lebendige Tradition der Analogie wieder aufgreift und, etwa im Falle Goethes und Alexander von Humboldts, versucht, gerade die Naturbetrachtung als Domäne der aufgeklärten Wissenschaft mit Hilfe von Ähnlichkeitsbeziehungen zu erschließen.11 Ich möchte jedoch auf eine noch schärfere Wendung gegen den Vergleich aufmerksam machen, die sich im Verlauf der Ästhetik des 18. Jahrhunderts abzeichnet. Im Zuge der Abwendung von den rationalistischen Vorgaben und mit den Entwürfen einer neuartigen Ästhetik, in deren Zentrum der Geniebegriff und die idealisierte Kunstauffassung der Romantik stehen, zeichnet sich eine Tendenz zur Negierung des rationalen Vergleichsvorgangs ab, die von emphatischer Ablehnung bis zu systematischem Ausschluss reicht, deren Motivation nachzugehen ist und in der die Ästhetik eine neue Form der Normativität ausbildet. Dies führt jedoch gerade hinsichtlich der Methode zu Widersprüchen. Auffällig ist dies etwa bei J. G. Herder, einem Autor, der in seinen kulturgeschichtlichen und ästhetischen Schriften durchweg komparativ vorgeht. Die Differenzierung in Vergleich und Analogie lässt sich hier nicht terminologisch, sondern nur in Rücksicht auf die jeweilige Verwendungsweise der Begriffe durchführen, die keineswegs konsequent ist. „[…] denn ich mag gar nicht vergleichen“ und „im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich“, so schreibt Herder in „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“, und bezieht dies auf die Gegenüberstellung von Volksgemeinschaften und deren jeweiliger Kultur und Gesellschaft.12 Herder legt Wert auf die Eigenheit der Völker und wendet sich gegen deren wertende sowohl als auch gegen eine nivellierende Betrachtung, schließt aber zugleich in seiner Geschichtsdarstellung analogisch vom Tier auf den Menschen, vom Menschen und der Natur auf Gott. Die Widersprüchlichkeit dieses Ansatzes liegt offen zutage, wird aber nicht als solche _____________ 9 10 11 12
Müller-Sievers, Helmut, Epigenesis. Naturphilosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, Paderborn u. a. 1993, besonders S. 103ff. (zu Goethe). Stadler, Ulrich, „Ich lehre nicht, ich erzähle“. Über den Analogiegebrauch im Umkreis der Romantik, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 3/1993, S. 83-105. Dazu vor allem Rudolph, Figuren der Ähnlichkeit, kritisch zu Foucault S. 7ff. Herder, Johann Gottfried, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum, Jürgen Brummack/Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt am Main 1994 (Werke in 10 Bdn.), S. 26 u. 38.
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empfunden: Es geht Herder um eine jeweilige gemeinschaftliche und ästhetische Besonderheit, die aber zugleich Teil des großen Ganzen der Humanität und der von Gott geschaffenen Natur ist13, wie er sie in den umfassenden Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit systematisch zu beschreiben unternimmt – mit ähnlich enzyklopädischem Anspruch wie Humboldt in seiner Anthropologie, aber mit weitaus mehr Material. Gemäß der Idee einer Kette der Lebewesen, der scala naturae, sind Analogien durch die gesamte Natur möglich und entsprechen dem Schöpfungsplan.14 Auch wenn Herder dabei nach unterscheidenden Merkmalen sucht − etwa nach dem Qualitätsunterschied von Mensch und Affe − und auch wenn er schon zu Beginn der Ideen Linnés Philosophia botanica als Vorbild für sein eigenes Vorgehen nennt15, zielt sein theoretisches Großprojekt nicht mehr auf die Errichtung eines empirisch klassifizierenden Systems. Herders Weltbild ist mit Gaston Bachelard, der ganz auf der argumentativen Linie der Encyclopédie im analogischen Schließen die Gefahr einer „Flucht vor dem Denken“ sieht, vorwissenschaftlich zu nennen.16 Nur deshalb erlaubt es in der Abwehr der Relativierung von Kulturleistungen eine Emphase ästhetischer Singularitäten. Fast zeitgleich mit diesen Formulierungen Herders erscheinen W. H. Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Auch hier verbietet die Emphase des einzelnen Künstlers bzw. Kunstwerks die Relativierung, die jede gleichzeitige Bezugnahme auf andere Instanzen mit sich bringt. „Vergleichung ist ein gefährlicher Feind des Genusses; auch die höchste Schönheit der Kunst übt nur dann, wie sie soll, ihre volle Gewalt an uns aus, wenn unser Auge nicht zugleich seitwärts auf andere Schönheit blickt.“17 Ähnlich wie Herder wehrt sich Wackenroder gegen die Wertung des ästhetischen Gegenstands an einem allgemeinen Maßstab, um der vollen Würdigung des Einzelnen willen. Wackenroder geht allerdings weiter als Herder, wenn er das Kunstwerk nicht nur vor der Vergleichung, sondern vor jeglicher Zeichenrelation zu schützen bestrebt _____________ 13 14 15
16 17
Herder, Johann Gottfried, Briefe zur Beförderung der Humanität, Heinz Stolpe (Hrsg.), Berlin, Weimar 1971, S. 136ff. Irmscher, Hans Dietrich, „Der Vergleich im Denken Herders“, in: Wulf Koepke (Hrsg.), Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge, London 1996, S. 78-96. Herder, Johann Gottfried, Ideen zur Philosophie einer Geschichte der Menschheit, Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt am Main 1989, S. 63, Anm. 7: „Linnei philosoph. botanica ist für mehrere Wissenschaften ein klassisches Muster; hätten wir eine philosophia anthropologica dieser Art, mit der Kürze und vielseitigen Genauigkeit geschrieben: so wäre ein Leitfaden da, dem jede hinzukommende Bemerkung folgen könnte.“ Bachelard, Gaston, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt am Main 1987, S. 147. Wackenroder, Wilhelm Heinrich, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Stuttgart 1997, S. 59.
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ist: „Ein schönes Bild oder Gemälde ist, meinem Sinne nach, eigentlich gar nicht zu beschreiben; denn in dem Augenblicke, da man mehr als ein einziges Wort darüber sagt, fliegt die Einbildung von der Tafel weg und gaukelt für sich allein in den Lüften.“18 Wackenroders Affekt richtet sich bereits gegen den ersten Rationalisierungsschritt, der in der Abstraktion durch Worte besteht. Mit Friedrich Schlegel schließlich, der zu Recht neben Herder als ein Vordenker der vergleichenden Sprach- und Literaturwissenschaften gilt19, wird ein weiterer Protagonist der romantischen Ästhetik zum Gewährsmann für die Einrichtung einer systematischen Begrenzung des Vergleichs. Auch bei Schlegel ist ein Spannungsverhältnis zwischen der Intention, eine Theorie zu schaffen, die sich hinsichtlich ihrer Systematik und Vollständigkeit an den Naturwissenschaften messen lassen kann, und der gleichzeitigen Errichtung absoluter, für die rationale Betrachtung unzugänglicher Werte zu konstatieren. In seinen historischen Ausführungen zur Literatur-, Kunst- und Sprachgeschichte orientiert sich Schlegel am klassifikatorischen Ordnungsmodell der Naturgeschichte. Die Kategorien von Art und Gattung seien, einschließlich „unreife[r] Arten und Bastardarten“ in der Literaturgeschichte zu suchen, um geordnete Kenntnisse von deren Entwicklung zu erhalten. Vor allem die griechische Poesie gibt hier das Bild eines „Systems aller möglichen reinen Dichtarten“ ab, die sich auf natürliche Weise ideal gebildet haben.20 Schlegel entwirft in seinen ästhetischen Schriften eine dichotomische Einteilung der Kultur in organische und mechanische Anteile, wobei die romantische Bevorzugung des Organischen, gegenüber dem das Attribut des Mechanischen zur kulturkritischen Abqualifizierung verwendet wird, der lebenswissenschaftlichen Theorie der Epigenesis entspricht und die Vorstellung eines selbsttätigen, natürlichen Wachstums der Natur auf die Kunst überträgt.21 Natürlichkeit als ein Kriterium der gelungenen Kunst wird aber noch übertroffen von den höchsten Werten, die jedem ästhetischen Urteil Schlegels das Maß vorgeben: „Denn das Unendliche leidet gar keine Vergleichung, und der Genuß des Schönen hat unbedingten Wert.“22 Das Ideal objektiver Schönheit erlaubt zwar sowohl die Vergleichung existierender Kunstwerke und Künstler, als auch die Frage, welche Kunstgattung dem Ideal am Nächsten _____________ 18 19 20 21 22
Ebd., S. 40f. Gasché, Rodolphe, „Comparatively Theoretical“, in: Germanistik und Komparatistik, (Hrsg.) Hendrik Birus, Stuttgart 1995, S. 417-432. Schlegel, Friedrich, Schriften zur Literatur, Wolfdietrich Rasch (Hrsg.), München 1972, S. 156. Müller-Sievers, Helmut, Self-generation. Biology, philosophy, and literature around 1800, Stanford 1997. Schlegel, Schriften zur Literatur, S. 147.
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kommt − nämlich die dramatische Dichtung −, als Ideal ist es aber selbst von keiner Relativierung erreichbar. Nicht nur Schlegels zitierter „Studium“-Aufsatz, sondern auch seine anderen ästhetischen, literatur- und sprachtheoretischen Schriften sind ein Zeugnis für die weitreichende Bedeutung, die dem Vergleich im 18. Jahrhundert für die Akzeptanz wissenschaftlicher Ergebnisse zukommt. Auch dort bleibt das vergleichende Verfahren das Ordnungsmuster der Erkenntnis, auch wenn es nicht mehr auf eine statische Klassifikation abzielt, sondern einen historischen Index erhält, durch den die Entwicklung der Künste und Sprachen in den Blick gerät. Diese wiederum unterliegt Schlegels durchweg stark wertender Beurteilung, die als oberste Norm die objektiven „reine[n] Gesetze der Schönheit und der Kunst“ ausgibt.23 Wenn an diesen jedes Vergleichen seine notwendige Grenze findet, so ist damit in methodischer Hinsicht zugleich der Sonderweg der vergleichenden Geisteswissenschaften bezeichnet, die sich von den naturwissenschaftlichen Vorläufern durch die Aufrichtung eines zentralen, abstrakten Wertbegriffes unterscheiden, so dem der „Schönheit“ bei Schlegel. Mit Rousseaus Theorie der Entstehung von Gesellschaft und Sprache kann an dieser Stelle nur eine von zahlreichen Wurzeln einer solchen ästhetisch motivierten Abwehr des Vergleichens im späten 18. Jahrhundert angedeutet werden. Rousseau setzt den Vergleich genau an die historische Schwelle zwischen dem Naturzustand der Menschheit und der Sozialität. In seiner Rekonstruktion der Anfänge von Kultur und Recht nehmen die „ersten Menschen“, die nur aufs momentane Bedürfnis hin leben und noch keinerlei kulturelle Erinnerung bewahren, innerhalb ihrer kleinen Lebensgemeinschaft und ihres nur um sich selbst zentrierten Gesichtskreises die Dinge unmittelbar und damit unsprachlich wahr. Sie benötigen keinerlei Abstraktionsleistung und keine Sprache, die aus den Eindrücken Erinnerungszeichen abschöpfen könnte, da für sie nur das Objekt des je momentanen Bedürfnisses zählt, das sie nach dessen Befriedigung sogleich wieder vergessen. „Wer nur einen einzelnen Gegenstand sieht, braucht keinen Vergleich anzustellen“, so Rousseau im „Versuch über den Ursprung der Sprachen“.24 „Das Nachdenken geht aus dem Vergleich von Vorstellungen hervor, und die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen bewirkt diese Vergleiche.“ Dem Zustand, in dem das Subjekt sich um sich selbst dreht, ohne Selbstbewusstsein, aber auch ohne längerfristige Konflikte und die Zwänge einer symbolischen Ordnung, setzt das Vergleichen, das am Beginn der Sprachfähigkeit liegt, ein Ende. In den Vorbehalten der _____________ 23 24
Ebd., S. 85. Rousseau, Jean-Jacques, Sozialphilosophische und politische Schriften, München 1981, S. 186.
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ästhetischen Theorie gegen Vergleich und Relativierung ist dieser Schritt wiederzuerkennen, der aus der Wahrnehmungspräsenz heraus und in Reflexion und Repräsentation hinein führt. So macht etwa Wackenroder aus Rousseaus vorsprachlicher und erinnerungsloser Objekt- und Selbstwahrnehmung eine Ästhetik der Verschmelzung mit dem Kunstwerk, die normativ nicht im Sinne einer Anleitung durch Regeln, aber als Verabsolutierung bevorzugter Künstler und ihrer Werke ist. Das Zeitalter der Identitäten und Unterschiede endet mit einer Beschwörung vorreflexiver Einheiten, die sich der systematischen Betrachtung verweigern. Es liegt in diesem Vergleichsverbot eine paradoxe Form der Normativität, die den ästhetischen Maßstab zugleich mit dem Verbot setzt, ästhetisch Maß zu nehmen. Das unvergleichliche Ideal verdankt ja seine Singularität selbst nur einem, wenn auch impliziten, Vergleich mit dem, was nicht an seine Idealität heranreicht. Adorno hat diesen Zug der Autonomieästhetik als „Selbstvernichtungsdrang der Kunstwerke“ beschrieben. Auch wer von der Unvergleichlichkeit der Kunstwerke sich überzeugt hält, wird stets wieder in Debatten sich verwickelt finden, in denen Kunstwerke, und gerade solche des obersten und darum unvergleichlichen Ranges, miteinander verglichen werden und gegeneinander gewertet. […] Der Zwang zu jenen Überlegungen ist aber in den Kunstwerken selber gelegen. So viel ist wahr, vergleichen lassen sie sich nicht. Aber sie wollen einander vernichten.25
Denn auf die Idee des Schönen, so Adorno, könne nur jedes Werk aufs Neue für sich allein abzielen. Die Verwirklichung der Kunst, so lautet die These, ist daher ihr notwendiger und folgerichtiger Untergang. So schließt Adornos negative Ästhetik auf eigene Weise an die romantischen Autonomiepostulate an, indem sie deren Normen in ihrer Absolutheit erkennt und den methodischen Widerspruch ins Innere der Kunstwerke selbst verlegt.
_____________ 25
Adorno, Theodor W., Minima Moralia, Frankfurt am Main 2003, S. 84.
Poetologien des Schneidens Johannes Endres Die folgenden Überlegungen können das thematische Umfeld lediglich umreißen. Zu vielfältig sind die wechselseitigen Bezüge, die Schnitt und Schrift miteinander verbinden, Bezüge, die sich – so die These – in der Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts poetologisch verdichten. Diesen Überschneidungen und Interferenzen sind dabei zugleich Aspekte unterschiedlicher Wissenskulturen eingeschrieben, in denen Verfahrenstechniken und kognitive Paradigmen sowohl des Schneidens wie des Schreibens gespeichert sind. Neben dem Komplex buchstäblicher Schnittpraktiken – wie Kastration, Circumcision, dem Schneiden zu Straf- und Disziplinierungszwecken, medizinisch-anatomischen Sektionsstrategien, dem hortikulturellen Beschneiden, der Textilbearbeitung usw. – existiert ein ‚symbolisches‘ Bedeutungsgefüge, das die sinnlich-konkrete Dimension des Schneidens auf eine ‚uneigentliche‘ Sinnebene transformiert. Beide Bedeutungsebenen aber sind über komplexe semiotische und metaphorische Verschiebungen und Spiritualisierungen miteinander verknüpft. Die klassizistische Ästhetik Goethes, um die es im Folgenden geht, hält die wissenshistorischen Spuren einer solchen Übertragung einerseits bewusst, versucht sie andererseits jedoch auch wieder künstlerisch zu transzendieren. Zu diesen Spuren zählen – worauf hier nur summarisch hingewiesen werden kann – kulturellsemantische Implikationen des Schneidens als: Initiations- und Übergangsritual (von biblischen Belegen bis hin zu Abaelards berühmter Konversionserzählung)1, Trennungs- und Schöpfungsmythos (wie in Platons und Sokrates’ Kugelgleichnis), mnemotechnisches Verfahren (das sich in christlicher Tradition von einer Heilswundenlehre und in einem System von ‚Überwachen und Strafen‘ von einem körperlichen Schmerzgedächtnis herschreibt), Textil- und Textmetapher (die sich homologer Strukturen von Gewebe und Dichtung, von Schneiden und Schreiben bedient) u. a. m. Auch in den bildenden Künsten wird eine selbstreferentielle Verknüpfung von Schnitt und Medium etwa in den bildgebenden Signaturen der Linie _____________ 1
Vgl. dazu auch Endres, Johannes, „Der Skandal als literarisches Schöpfungsparadox. Abaelard, Héloise und die Kastration des Textes“, in: Stefan Neuhaus u. a. (Hrsg.), Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen 2007, S. 63-74.
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und des Konturs virulent, die ihrerseits auf kulturellen Wissensbeständen des Schneidens und Reißens, des ‚disegno‘ und ‚ritratto‘ beruhen. Mit den text- und bildkünstlerischen Grundtechniken sind daher immer auch – scheinbar heterogene – naturwissenschaftliche, anthropologische, medizinische, theologische, philosophische und lebensweltliche Diskurspraktiken und Wissensräume verwoben. Die folgenden Beispiele können und wollen eine solche ästhetisch-epistemologische Konvergenz fürs erste nur illustrieren.2 Im Frühjahr 1788 könnte Goethe auf der Rückreise von Rom auch das „Museo di Fisica e Storia Naturale“ (genannt „La Specola“) in Florenz besucht haben. 1775 eröffnet, beherbergen die Räume von „La Specola“ eine für das 18. Jahrhundert beispielhafte Sammlung von Wachsmodellen, deren Naturalismus den Besucher bis heute auf ambivalente Weise fasziniert.3 Insbesondere die Arbeiten der plastischen Anatomen Gaetano Zumbo (1656–1701) und Clemente Susini (1754–1814) bestechen durch ihren Illusionismus und wirken in ihrer Direktheit aus wissenschaftlicher und voyeuristischer Neugier auf den Betrachter zugleich befremdlich. Auch auf Goethe müssen die Exponate einen nachhaltigen Eindruck gemacht haben, wie eine Denkschrift, die er am 4. Februar 1832 aufsetzt, nahe legt. Darin entwirft Goethe das Projekt einer Plastischen Anatomie nach Florentiner Vorbild, das „nirgends unternommen werden noch gedeihen [könne] als da, wo Wissenschaften, Künste, Geschmack und Technik vollkommen einheimisch und in lebendiger Tätigkeit sind“. Goethes Vorschlag ist daher folgender: Man sende einen Anatomen, einen Plastiker, einen Gipsgießer nach Florenz, um sich dort in gedachter Kunst zu unterrichten. Der Anatom lernt die Präparate zu diesem eignen Zweck auszuarbeiten. Der Bildhauer steigt von der Oberfläche des menschlichen Körpers immer tiefer ins Innere und verleiht den höheren Stil seiner Kunst Gegenständen, um sie bedeutend zu machen, die ohne eine solche Idealnachhülfe abstoßend und unerfreulich wären. Der Gießer, schon gewohnt,
_____________ 2
3
Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Endres, Johannes, „Anatomia Plastica. Goethe und die Büste“, in: Jeanette Kohl/Rebecca Müller (Hrsg.), Kopf/Bild. Die Büste in Mittelalter und Früher Neuzeit, München, Berlin 2007, S. 305-323 – dort auch die hier aus Platzgründen ausgesparten Abbildungen sowie weitere Literatur. Vgl. dazu auch Dürbeck, Gabriele, „Empirischer und ästhetischer Sinn. Strategien der Vermittlung von Wissen in der anatomischen Wachsplastik um 1780“, in: dies. u. a. (Hrsg.), Wahrnehmung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Amsterdam, Dresden 2001, S. 35-54; Wolkenhauer, Anja, „‚Grausenhaft wahr ist diese wächserne Geschichte‘. Die Wachsfiguren von Don Gaetano Zumbo zwischen Kunst und medizinischer Anatomie“, in: ebd., S. 71-85. Wolkenhauer hält einen Besuch Goethes in „La Specola“ wegen der „kurze[n] Dauer seines Aufenthalts in Florenz“ für unwahrscheinlich, Goethes Kenntnisse führt sie auf Informationen seines Vaters und dessen Italienreise zurück – allerdings scheint sie dabei die Möglichkeit einen zweiten Aufenthalts nicht in Rechnung zu stellen.
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seine Fertigkeit verwickelten Fällen anzupassen, wird wenig Schwierigkeit finden, sich seines Auftrags zu entledigen […]4
Das Gemeinschaftswerk, das die unterschiedlichen und doch verwandten Darstellungsmethoden naturwissenschaftlicher und bildkünstlerischen Provenienz zusammenführt, soll nicht nur dem medizinischen Studium assistieren (Goethe erinnert an die „wachsende Seltenheit von Leichen“, die dem anatomischen Unterricht nach der Humanisierung des Strafvollzugs im 18. Jahrhundert das Anschauungsmaterial entziehe). Auch die künstlerischen Medien der Repräsentation des Menschen – Skulptur und Gipsguss – können von einer solchen Kooperation nur profitieren. Die letzteren müssen die anatomische Vivisektion sogar zwingend ergänzen, um das Bild einer in ihre Bestandteile aufgelösten Natur auch wieder mit der anthropologischen Forderung des ‚ganzen‘ Menschen zu versöhnen. Einerseits belehrt das Verfahren der Zergliederung den Künstler also über seinen vornehmsten Gegenstand (den Menschen) – andererseits macht die synthetische Qualität der Kunst das Wissen um die subkutane Struktur des Lebens und ihren Anblick allererst erträglich. Und auch die Anatomie darf nicht nur Trennen und Teilen, sondern muss das derart Gesonderte auch wieder durch gedankliche Kombinatorik einer Einheitsvorstellung integrieren: Beide Wissenschaften aber, die Zergliederung sowohl als die Chemie, haben für diejenigen, die nicht damit vertraut sind, eher ein widerliches als anlockendes Ansehn. Bei dieser denkt man sich nur Feuer und Kohlen, gewaltsame Trennung und Mischung der Körper; bei jener nur Messer, Zerstückelung, Fäulniß und einen ekelhaften Anblick auf ewig getrennter organischer Theile. Doch so verkennt man beide wissenschaftliche Beschäftigungen. Beide üben den Geist auf mancherlei Art, und wenn die eine, nachdem sie getrennt hat, wirklich wieder verbinden, ja durch diese Verbindung eine Art von neuem Leben wieder hervorbringen kann, wie zum Beispiel bei der Gährung geschieht: so kann die andere zwar nur trennen, sie gibt aber dem menschlichen Geiste Gelegenheit das Todte mit dem Lebenden, das Abgesonderte mit dem Zusammenhängenden, das Zerstörte mit dem Werdenden zu vergleichen, und eröffnet uns die Tiefen der Natur mehr als jede andere Bemühung und Betrachtung.5
Der plastische Anatom im so genannten Anatomie-Kapitel der „Wanderjahre“ instruiert seinen Schüler darum auch, „daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Todtes beleben mehr als das Getödtete noch weiter tödten“.6 Er ist dazu in die Schule der christlichen Ikonografie gegangen und hat sich von einem „geschickten Mann“, der Heilige und Märtyrer „zu schnitzen gewohnt war“, anatomische Modelle _____________ 4 5 6
Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887– 1919, Abt. I, Bd. 49.2, S. 65. Ebd., Abt. II, Bd. 8, S. 64f. („Vorträge, über die drei ersten Capitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie“). Ebd., Abt. I, Bd. 25.1, S. 89.
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anfertigen lassen – sie sollen die medizin-wissenschaftliche Anschauung in die rechten Bahnen lenken. Denn das christliche Menschenbild verfügt über eine kulturelle Kompetenz im Umgang mit Schnitten und Wunden, die neben anthropologischen auch ästhetische und semiotische Aspekte aufweist (und insofern auch Goethes Überlegungen inspiriert haben dürfte): So macht das Bildformular des gekreuzigten Christus (‚imago pietatis‘) zum einen den an seiner Körpernatur leidenden Menschen ansichtig und transzendiert zum anderen die Ebene des Physischen zugunsten eines eucharistischen Ganzen. Dergestalt wird nach christlichem Zeichenverständnis das Muster der Einschnitte als mehrfach bezügliche Einschreibung lesbar, die vom ‚homo patiens‘, dem Mensch gewordenen Gottessohn, auch wieder auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen anspielt. Damit bleibt die ‚fragmentatio‘ des Körpers an die heilsgeschichtliche Botschaft einer Wiederherstellung leibseelischer Integrität im Mysterium der Auferstehung angeschlossen. Bei Goethe ist an die Stelle christlicher Metaphysik jedoch ein Kunstprinzip getreten, das die Transsubstantiation des Fleisches durch ein System von symbolischen Verweisen substituiert. Wie die in Florenz ebenfalls beliebten Votivplastiken, die ein krankes und hinfälliges Körperteil einem religiösen Heilungskonzept überstellen, sollen auch die Torsi der plastischen Anatomie einem größeren – hier: künstlerischen – Assoziationsprinzip einverleibt werden.7 Dabei steht Goethes Entwurf noch immer in einer christlichen Tradition der Literarisierung des versehrten Körpers, wie sein feierliches Bekenntnis gegenüber Johann Caspar Lavater beweist, er, Goethe, behandle die „Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles menschliche anhängen läßt“.8 Osteologie und Anatomie werden damit für Goethe zu ‚Textwissenschaften‘ und eignen sich insofern als Gegenstände wie Instrumente der Interpretation und Exegese. Denn ohne den supplierenden Leser blieben die Schnittspuren, die sich der Anschauung darbieten, auf eine buchstäbliche, d. h. destruktive Bedeutung beschränkt. Damit erinnert Goethe zugleich an eine vormoderne Epoche der Geschichte der Anatomie. Denn bis an die Schwelle zur Neuzeit ist die Anatomie weniger eine Erfahrungs- als eine Buchwissenschaft. So begnügt sich die mittelalterliche Anatomie im Wesentlichen mit der Anwendung kanonisierter Textzeugen – hier wäre v. a. das Werk Galens von Pergamon (129–209) zu nennen –, ohne selbst zu einer anatomischen Autopsie vorzudringen. Erst mit Mondino de L(i)uzzi (1270–1326) werden Sektionen im eigentlichen Sinne üblich, die jedoch nur dazu dienen, das in Textform _____________ 7
8
Vgl. etwa Warburg, Aby, „Bildkunst und Florentinisches Bürgertum: Domenico Ghirlandajo in Santa Trinita. Die Bildnisse des Lorenzo de’ Medici und seiner Angehörigen“, in: ders., Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Horst Bredekamp u. a. (Hrsg.), Abt. I, Bd. 1.1, Berlin 1998, S. 89-126. Goethes Werke, Abt. IV, Bd. 5, S. 217.
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kodifizierte Überlieferungswissen visuell zu unterstützen.9 So bleibt das anatomische Studium bis zur Zeit der Künstler-Anatomen der Renaissance und den Forschungen Andreas Vesals (1514–1564) einer philologischen Kernkompetenz verpflichtet. Die weitere Entwicklung der Disziplin hin zu ihrem heutigen Erscheinungsbild beruht daher auf einer Arbeitsteilung: Die Vorlesung, die der Vermittlung und Kommentierung der klassischen Texte der Anatomie dient, wird von der Sektion getrennt, die sich als Unterrichtseinheit ‚sui generis‘ etabliert – aus ersterer entwickelt sich allmählich der wissenschaftsgeschichtliche Zweig des Faches, während letztere zur Entstehung der Anatomie als empirischer Wissenschaft hinführt. Goethe aber denkt das Projekt der plastischen Anatomie durchaus noch integral, d. h. als Einheit von ‚Erfahrung‘ und ‚Wissenschaft‘, ‚Anschauen‘ und ‚Denken‘, Sektion und Schrift. Seinem Votum liegt, so gesehen, auch eine methodenkritische Tendenz zugrunde, die vor dem Hintergrund einer – unaufhaltsamen – Ausdifferenzierung und Spezialisierung in den modernen Naturwissenschaften verständlich wird. Auch in Goethes Terzinen-Gedicht, das wohl anlässlich der Bergung von Schillers Totenschädel (1826) entstanden ist, kommt die komplementäre Strategie der plastischen Anatomie – der Ergänzung der Teile zum Ganzen, der Belebung des Toten und der nachträglichen Textualisierung des hüllenlosen Körpers – zum Ausdruck. Das Schädelbein ist, für sich genommen, nur abstoßend oder allenfalls unbedeutend – die Lektüre des Knochens als ‚Text‘ und seine Versprachlichung durch die literarische Rede aber stiften eine außerphysische Sinninstanz: Und niemand kann die dürre Schale lieben, / Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte. / Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben / Die heil’gen Sinn nicht jedem offenbarte […] / Wie mich geheimnißvoll die Form entzückte! / Die gottgedachte Spur die sich erhalten!10
Die Zeichen, die in diesem Fall nicht das Messer des Anatomen, sondern das Werk der Verwesung hinterlassen hat, werden beredt, wenn sie als Buchstaben gedeutet und in ein Koordinatensystem der ‚Lesbarkeit‘ übersetzt werden. Die Läsionen erinnern dann zwar noch an die Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen, sie weisen jedoch zugleich auf ein den Tod konterkarierendes Nachleben als geistiges Wesen hin. Eine solche Lesart, welche die physische Ausdrucksseite des Körpercodes nicht negiert und sie doch durch eine übersinnliche Bedeutung überschreibt, kann sich u. a. am hermeneutischen Paradigma der biblischen Paulusbriefe _____________ 9
10
Vgl. zu diesen – hier sehr verkürzt dargestellten – Zusammenhängen die konzisen Ausführungen bei Wittern, Renate, „Kontinuität und Wandel in der Medizin des 14. bis 16. Jahrhunderts am Beispiel der Anatomie“, in: Walter Haug (Hrsg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999, S. 550-571. Goethes Werke, Abt. I, Bd. 3, S. 93.
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orientieren. Dort wird ein analoges Verfahren an einem analogen Gegenstand, einer Technik der Körpermarkierung, demonstriert, die ihrerseits – wie im Fall der chemischen oder anatomischen Zergliederung des Organismus‘ – auf einem invasiven Akt beruht: dem jüdischen Ritual der Beschneidung. Dessen kruden und buchstäblichen Sinn will Paulus durch eine christliche Interpretation ersetzen, die das ‚factum brutum‘ in ein sinnbildliches Geschehen transponiert – anstelle einer ‚Beschneidung des Fleisches‘ hat eine ‚Beschneidung des Herzens‘ und damit eine nur noch symbolische Circumcision stattzufinden11: Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig im Fleisch geschieht, sondern das ist ein Jude, der inwendig verborgen ist, und die Beschneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschiehet, welches Lob ist nicht aus den Menschen, sondern aus Gott.12
Paulus’ Korrektur der jüdischen Vorschrift versteht sich aber auch als exemplarischer Kunstgriff der Exegese. Denn die Enteigentlichung und Spiritualisierung des Beschneidungsvorgangs wird im selben Atemzug auf die Zeichenspur des Textes selbst angewendet: Dieser soll nicht in seiner körperlichen und wörtlichen Realität, sondern hinsichtlich seiner allegorischen Bedeutung aufgefasst werden. Das Beispiel der ‚Beschneidung‘ und seine christliche Relektüre fungieren somit als Textmodell, das die Ersetzung des ‚sensus litteralis‘ durch den ‚sensus spiritualis‘ zugleich vorführt und vollzieht. Einen solchen Geburtsmythos der Metapher aus dem Geist der uneigentlichen Beschneidung leitet Goethe nun in einen poetischen Kontext hinüber. Auch hier resultiert der konstruktive Sinn des Körperzeichens aus einer Metaphorisierung des Körperschnitts. Dabei bleibt die Initiationsbedeutung, die das jüdische Beschneidungsritual kennzeichnet – im LukasEvangelium wird es etwa als Ritual der Namen- und Sprachgebung angeführt (1, 59-64) –, bei Goethe durchaus in Geltung. So deuten die Verse des Terzinen-Gedichts die Begabung mit dem Sinn der hermeneutischen Schädelbetrachtung als Akt der Einweihung und der dichterischen Erweckung. Gleichzeitig wird die Initiationssymbolik jedoch durch eine Memorialkonstruktion überlagert, die für die biblische Behandlung der Motive von Schneiden und Wunde ebenfalls typisch ist – es sei nur an die bekannte Christus-Thomas-Episode erinnert, die das Sehen und Berühren der Wundmale zum ‚experimentum crucis‘ der Erkennung und Erinnerung Jesu durch seinen Jünger bestimmt: „Tu deinen Finger hierher und _____________ 11 12
Vgl. auch Greiner, Bernhard, Beschneidung des Herzens. Konstellationen deutsch-jüdischer Literatur, München 2004; Endres, Johannes, „Beschneidung, Kastration, Schrift. Zur textuellen Repräsentation von Scham und Schuld“, in: Poetica, 39/2007, S. 1-19. Röm 2, 28f.
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sieh meine Hände an, und tu deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig“ (Joh 20, 27). Eine solche Bildlichkeit liegt auch dem Abendmahl – als Gedächtnisritual – zugrunde, das einerseits auf das Wundenopfer Jesu verweist, andererseits durch seine Wiederholung eine Kontinuität des im Tode Lebendigen erzeugt.13 Deutlicher noch als das Terzinen-Gedicht spielt Goethes Installation anlässlich der Niederlegung des Schillerschen Schädels in der Großherzoglichen Bibliothek zu Weimar (1826) auf einen derartigen Hintergrund an. Im Zuge der Feierlichkeiten wird Schillers Schädel im Postament einer Schiller-Büste deponiert, die Johann Heinrich Dannecker 1796 begonnen, aber erst nach Schillers Tod 1806 vollendet und auf Schillers Todesjahr (1805) zurückdatiert hat.14 Dem Schädel-Reliquiar wird noch eine zweite Büste zugesellt, die eine symbolische Präsenz Goethes, des überlebenden Freundes, inauguriert. Des Weiteren wird im Rahmen des Festakts eine Rede Goethes verlesen (durch Goethes Sohn August), die die Vorgänge in ein sprachliches Gedenkkonzept überführt – darin heißt es u. a., dass Danneckers Büste dem „theuren Haupt“ des Abgeschiedenen als „würdig[e] Hülle“ dienen solle.15 Die Vorkehrungen lassen sich insgesamt als Akt der Restitution begreifen, in dem das von Auflösungszeichen befallene Antlitz Schillers systematisch wiederhergestellt wird. Dass dies durch ein Büstenbildnis geschieht, ist insofern bezeichnend, als die Büste die Imagination des ‚ganzen‘ Menschen über ein Teil-Bild desselben herbeiführt.16 Das syneckdochische Darstellungskonzept der Büste variiert also die Logik der plastischen Anatomie und verwandter Goethescher Denkfiguren: Die Büste ist ein „Surroga[t]“ der Gegenwart, das den Abwesenden im Modus der Darstellung präsent hält.17 Umgekehrt bleibt das im Büsten-Reliquiar ruhende Schädelbein als Pendant der klassizistischen Porträt-Ikone anwesend und drängend – die Büste erinnert denn auch in ihrer Eigenschaft als durch einen ‚Schnitt‘ generiertes Medium an die fragmentarische Gestalt ihres Inhalts. Durch eine solche Konstellation lebt eine Nachbarschaft von Büste, Heiligenbild und Skelett wieder auf, die Goethe von den Kunst- und Wunderkammern her kennt, die Knochen, Reliquiare und _____________ 13 14 15 16 17
Vgl. 1 Kor 11, 23ff.; Lk 13, 28f.; Lk 22, 19f.; Offb 19,6ff.; 2 Tim 2, 12; Mt 26, 26ff.; Mk 14, 22ff. u. ö. Albrecht Schöne hat diese Zusammenhänge jüngst wieder herausgestellt: ders., Schillers Schädel, München 2002; zuvor bereits Hecker, Max, Schillers Tod und Bestattung. Nach den Zeugnissen der Zeit im Auftrag der Goethe-Gesellschaft dargestellt von dems., Leipzig 1935. Goethes Werke, Abt. I, Bd. 42.2, S. 76. Vgl. dazu Kohl, Jeanette, „Talking Heads. Reflexionen zu einer Phänomenologie der Büste“, in: dies./Müller (Hrsg.), Kopf/Bild, S. 9-30. Vgl. Goethes briefliche Äußerung gegenüber Christoph Ludwig Friedrich Schultz vom 25.9.1820 in: Goethes Werke, Abt. IV, Bd. 33, S. 257.
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Büsten-Bilder in einem synoptischen Ausstellungskonzept vereinen.18 Auf die Bedeutung solcher Überlegungen für Goethes Bild von Kunst- und Naturwissenschaft kann hier nur hingewiesen werden. Die Bibliothek jedoch, in der Schillers Schädel (als Archiv im Archiv) aufgestellt ist, integriert das anatomische Relikt des Menschen einem Schriftzusammenhang, der das Zeugnis der Vergänglichkeit durch einen „heiligen Tempel der Kunst und Wissenschaft“ (so der Kanzler von Müller über das Arrangement) kontextualisiert.19 Ein anderes populäres Bild-Medium der Goethezeit, der Scherenschnitt, fügt, ähnlich wie Büste und plastische Anatomie, ebenfalls Ausschnitt und Ganzes zu einem paradoxen Darstellungsprogramm zusammen. Auch der Scherenschnitt (oder Schattenriss) wird dabei vom Totenkopf wie von seinem Vis-a-vis, der Büste, arrondiert (so in einem ehemals in Lavaters Besitz befindlichen Kupferstich)20 – er fungiert als Schnitt-Stelle zwischen der zeitlichen und der überzeitlichen Physiognomie des Menschen, die er in einem Akt der Überblendung miteinander verbindet. Seine prägnanten Züge verdankt der Scherenschnitt der diskreten Qualität des Umrisses, der die veränderlichen und verwechselbaren Merkmale der Erscheinung auf einen typischen Ausdruck reduziert. Auf diese Weise versöhnt er das irdische Profil des Menschen mit dessen klassizistischer Signatur. Johann Caspar Lavater sieht im Scherenschnitt daher sogar die Möglichkeit zu einem authentischen, nicht vom Menschen geschaffenen Abbild Christi gegeben21 – eine Überlegung, in der, wie mir scheint, u. a. die theologische Interpretation der Be-Schneidung nachwirkt: So deutet die Beschneidung Christi im Tempel auf das spätere Kreuzesmartyrium voraus, das im ‚Ecce homo‘ des Gottessohnes das wahre Gesicht Jesu zum Vorschein bringt. Hier wie da, im Kreuzestod wie im Scherenschnitt, liegen Licht und Schatten, Leben und Tod dicht beieinander und ergänzen sich wechselseitig zu einer Technologie der Be-Schreibung durch Be-Schneidung. Wie eng dabei der Bezug der Umrisslinie zur anatomischen Silhouette des Menschen gedacht wird, zeigt das Beispiel William Hogarth’. In dessen Analysis of beauty (1753) figuriert die Umschreibung des menschlichen Körpers durch ein plastisches Liniensystem explizit als anatomisches Verfahren.22 Zur Vorgeschichte des Gedankens, in dessen Verlauf das Schnei_____________ 18 19 20 21 22
Vgl. dazu Bredekamp, Horst, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 2000. Hier zit. n. Hecker, Schillers Tod und Bestattung, S. 151. Vgl. Schulze, Sabine (Hrsg.), Goethe und die Kunst. Ausstellungskatalog (Frankfurt am Main, Schirn 1994), Ostfildern, Ruit 1994, S. 196, Abb. 5. Vgl. dazu Fliedl, Ilse Barta, „Lavater, Goethe und der Versuch einer Physiognomik als Wissenschaft“, in: ebd., S. 193-203. Vgl. Hogarth, William, The Analysis of Beauty. With the rejected passages from the manuscript drafts and autobiographical notes, Joseph Burke (Hrsg.), Oxford 1955.
Johannes Endres
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den als Technik der Bildgebung bestimmt wird, gehört u. a. auch Albertis berühmte Empfehlung an den Maler, das Darzustellende vermittels eines Gitterwerks ins Medium der Darstellung zu überführen – eines Netzes oder Schleiers, den Alberti und seine Übersetzter als ‚intersegazione‘ oder ‚taglio‘ (also als ‚Schnittfläche‘) bezeichnen.23 Alberti charakterisiert die Leistung des bildenden Künstlers denn auch, unter Zuhilfenahme eines rhetorischen Begriffs, als ‚circumscriptio‘, so dass die Be-Schreibung, das Nachfahren der Kontur, als Parallelaktion einer Be-Schneidung, einer ‚circumcisio‘, erscheint. Goethe und das 18. Jahrhundert, das wollten die vorstehenden Überlegungen zeigen, beziehen sich vielfach auf eine solche Doppelbedeutung des Schneidens als Körpertechnologie und ästhetisch-poetologisches Verfahren. Dabei wird der Akt der Reduktion und Zerstörung immer wieder anders als scheinbar paradoxale Figur der Form- und Sinngebung bedeutsam.
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Vgl. Alberti, Leon Batista, „Della Pittura“, in: ders., Della Pittura. Über die Malkunst, Oskar Bätschmann u. a. (Hrsg.), Darmstadt 2002; zum motivischen und medialen Kontext vgl. auch: Endres, Johannes / Wittmann, Barbara u. a. (Hrsg.), Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, München 2005.
Winckelmann und die Folgen. Transformationen des Wissens über Griechenland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Gilbert Heß Seit Johann Joachim Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst von 1755 gilt ‚Griechenland‘ als Paradigma einer zugleich vorbildlichen und unnachahmlichen, vergangenen und gegenwärtigen Klassik. Lessings Laokoon, Hölderlins Hyperion, Schillers Götter Griechenlands [...], Goethes Iphigenie und Übersetzungen griechischer Heldenlieder bildeten Vorboten und bereiteten den ideellen Nährboden für den Philhellenismus des 19. Jahrhunderts. Hatten Winckelmann, Voß und die Weimarer Klassik besonders das antike Hellas thematisiert und idealisiert, trat spätestens seit Hölderlins Hyperion, dem ersten Roman, in dem das zeitgenössische, osmanische Griechenland als Schauplatz einer Romanhandlung diente, auch die aktuelle politische Dimension des Gegensatzes von Griechen und Türken, das im weiteren Verlauf als Alterität von christlichem Europa und islamischem Asien begriffen wurde, in das Blickfeld der Rezipienten. Das Freiheitsideal, wie es von Winckelmann vorgeprägt wurde und u. a. in Schillers ‚ästhetischen Briefen‘ aufgegriffen wurde1, galt seit dem Aufstand von 1770 in Griechenland zumindest als potenziell erreichbar und diente nicht erst seit 1821 als Projektionsfläche erträumter politischer Ideale. Winckelmanns Werk wirft, wie Élisabeth Décultot in ihren bahnbrechenden Studien schlüssig aufzeigt, vielfache Brüche und Verwerfungen auf.2 Aus einer intensiven exzerpierenden Lektüre entstanden, vereint _____________ 1
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Siehe Vick, Brian, „Greek Origins and Organic Metaphors. Ideals of Cultural Autonomy in Neohumanist Germany from Winckelmann to Curtius“, in: Journal of the History of Ideas, 63/2002, 3, S. 483-500. Zur Verbindung der Begriffe ‚Natur‘, ‚Freiheit‘ ‚Geschichte‘ und ‚Griechenland‘ bei Schiller s. grundlegend: Meier, Albert, „Der Grieche, die Natur und die Geschichte. Ein Motivzusammenhang in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung und Über naive und sentimentalische Dichtung“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 29/1985, S. 113-124. Décultot, Elisabeth, Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert, Ruhpolding, Stendal 2005 (Stendaler WinckelmannForschungen, 2).
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Winckelmann und die Folgen
es unterschiedliche, zum Teil konträre Positionen, die bis in unsere Tage weitgehend verdeckt blieben, da die Rezeption von Beginn an dem Originalitätspostulat huldigte, was willig von der Forschung übernommen wurde. Ein weiterer Bruch ist zwischen den Gedancken über die Nachahmung von Kunst der späteren Geschichte der Kunst des Alterthums (1764 und 1767) zu konstatieren. Zwar versuchte Winckelmann in seinem späteren Gründungstext der Kunstgeschichte das der Geniedebatte geschuldete Schöpfungspostulat gegen das in den Gedancken Text formulierte Nachahmungspostulat auszuspielen, dieser späte Winckelmann [hat aber] den frühen nicht vollständig zum Schweigen bringen können. Die Gedancken haben Deutschland mit einem wahren Griechenfieber angesteckt und dagegen war auch die Geschichte der Kunst des Alterthums machtlos.3
Dieses Phänomen der Griechenverehrung nahm mit Winckelmanns Studien seinen wirkmächtigen Anfang, setzte sich über die Strömungen von Klassik, Klassizismus und Idealismus, die institutionelle Verankerung an den Schulen und Universitäten fort und erreichte mit dem griechischen Befreiungskampf nahezu alle Bereiche der Alltagskultur.4 Es kann zusammenfassend – wie Eliza Marian Butler es 1935 treffend ausdrückte – als „the tyranny of Greece over Germany“ bezeichnet werden.5 Winckelmann hat bekanntlich Griechenland nie mit eigenen Augen gesehen. Er konstruierte ein Ideal, das er zwar u. a. anhand der Untersuchung antiker Denkmäler in Italien gewonnen hatte, das letztlich aber nirgends – auch in Griechenland nicht – zu finden ist: im ursprünglichen Sinne des Wortes eine U-topie.6 Freiheit gilt für Winckelmann als ureigenste griechische Lebensform: Durch die Freyheit erhob sich, wie ein edler Zweig aus einem gesunden Stamme, das Denken des ganzen Volkes. Herodotus zeiget, daß die Freyheit allein der Grund gewesen von der Macht und Hoheit, zu welcher Athen gelanget ist [...].7
Die attische Demokratie ist für ihn nur die in einem zusammenhängenden politischen System organisierte Aktualisierung einer atavistischen, _____________ 3 4
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Ebd., S. 71. Siehe hierzu u. a. Marchand, Suzanne L., Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany (1750–1970), Princeton 1996, sowie Polaschegg, Andrea, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2005 (Quelle und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 35). Butler, Eliza Marian, The tyranny of Greece over Germany. A study of the influence exercised by Greek art and poetryover the great german writers of the 18th, 19th and the 20th century, Beacon Hill 1935. Décultot, Untersuchungen, S. 94 spricht vom Surrogatcharakter der Ruinen auf italienischem Boden, die zugleich die Funktionen des Konzentrats erfüllen: Sie sind Substitut einer Architektur, die er noch nie gesehen hat, zugleich aber Muster und Ideal, welches sogar das Vorbild übertrifft. Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, S. 132f.
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instinktiven und ursprünglichen Eigenschaft: Der Grieche liebt die Freiheit von Natur aus. Neben den natürlichen Anlagen, welche die Griechen zu einem bevorzugten Volk erhoben, sind es insbesondere das milde Klima und die mediterrane Natur, welche die äußeren Umstände für das Aufblühen der unvergleichlichen Kunst abgaben. Allerdings wurden Winckelmanns Forschungen in den europäischen Ländern ganz unterschiedlich rezipiert: Einer Rezeption in England, die seine Studien in erster Line als Arsenal eines reichen Formenschatzes antiker Kunst nutzte, das eklektizistisch ausgebeutet und problemlos mit Stilelementen anderer Epochen verbunden wurde, stand in Frankreich eine Aufnahme gegenüber, die den Freiheitsbegriff dominant setzte, um nicht zuletzt die revolutionären Umwälzungen im eigenen Land zu legitimieren. Winckelmanns ästhetischer Fokuswechsel von Rom zu Athen wurde hier nur sehr partiell vollzogen – Antike bedeutete in Frankreich nach einer kurzen Zwischenphase in erster Linie ein am römischem Macht – und Expansionsstreben orientiertes Freiheitsideal. Anders in Deutschland, wo speziell im antiken Griechenland eine Gesellschaftsform gesehen wurde, die dem Individuum die Voraussetzungen schuf, um die Persönlichkeit zu vollster Entfaltung, zu ästhetischer und sittlicher Vollkommenheit zu bilden, so dass im Zeichen des Idealismus aus dem winckelmannschen Nachahmungspostulat ein humanistisch geprägtes, pädagogisches Programm zur moralisch-ethischen Vervollkommnung abgeleitet wurde. Die hier nur kurz angedeuteten Elemente der Sicht auf Hellas im Zeichen Winckelmanns hatten erheblichen Einfluss auch auf das Griechenlandbild, wie es durch die philhellenische Literatur im Umfeld des griechischen Freiheitskampfes ab 1821 konstruiert wurde. Die Diskrepanz, die Winckelmanns Antikenverständnis vom politisch-romantischen Philhellenismus der 20er und 30er Jahre des 19. Jahrhunderts trennt, ist evident.8 Dennoch lassen sich die Auswirkungen dieses Griechenlandbildes auf die Literatur, die für die aufständischen Griechen Partei ergriff, nicht verkennen: Nur sechseinhalb Monate nach der Erhebung des Alexander Ypsilantis erschien im Oktober 1821 das erste Heft der Lieder der Griechen von Wilhelm Müller, das binnen acht Wochen nach Drucklegung bereits vergriffen war. Das programmatische Eröffnungsgedicht, ein Rollengedicht unter dem Titel „Die Griechen an die Freunde ihres Alterthums“, thematisiert den Bezug von Vergangenheit und Gegenwart, indem es den Blick auf die Verehrer der Antike richtet9: _____________ 8 9
Miller, Norbert, „Europäischer Philhellenismus zwischen Winckelmann und Byron“, in: Propyläen-Geschichte der Literatur, Bd. 4, Berlin 1984, S. 315-366. Müller, Wilhelm, „Die Griechen an die Freunde ihres Alterthums“, in: ders., Werke, Tagebücher, Briefe, Maria Verena Leistner u. a. (Hrsg.), Bd. 1, S. XX. Zu diesem Gedicht s. ferner Hartung, Günter, „Wilhelm Müllers Griechengedichte“, in: Ute Bredemeyer/Christiane
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Sie haben viel geschrieben, gesungen und gesagt,|Gepriesen und bewundert, beneidet und beklagt.| Die Namen unsrer Väter, sie sind von schönem Klang,| Sie passen allen Völkern in ihren Lobgesang;|Und wer erglühen wollte für Freiheit, Ehr' und Ruhm,|Der holte sich das Feuer aus unserm Alterthum [...]
Als Subjekt fungieren hier die griechischen Zeitgenossen (das kollektive Textsubjekt spricht von unseren Vätern, unserem Altertum usw.). Diese beschreiben den Blick der – so ist anzunehmen: deutschen – Betrachter auf Griechenland. Die Wahrnehmungen dieser Personen, die in der dritten Person als fremd markiert sind, werden im Tempus der Vergangenheit geschildert (als Perfekt bzw. Präteritum: sie haben bzw. erglühen wollte). Diesen eindeutig als abgeschlossen gezeichneten Rezeptionsvorgängen steht die unumstößlich präsentische Kraft der eigenen Urahnen gegenüber (sie sind, sie passen), deren Wirkung also bis in die Gegenwart reicht. Dieser Zugriff auf griechisch-antike Werte markiert zugleich die herausragende Bedeutung dieser Ideale zum akzeptierten Gemeinplatz und damit zum kollektiven Wissen. Des weiteren wird der Bezug zur Vergangenheit durch den sechshebigen Jambus verdeutlicht, der hier allerdings kein neugriechisches oder antikes Versmaß aufgreift, sondern die mittelhochdeutsche Heldenepik in Form der Nibelungenstrophe. In einem geschickten Kunstgriff gelingt es Müller dadurch, klassische Antikenrezeption und romantische Mittelalterrezeption zu einer Einheit zu verbinden und die – gerade in der Romantik deutlich thematisierte Distanz zwischen Antike und Gegenwart, Normativität und Historizität, zu überbrücken. Oder anders gewendet: Aussage und Form bewirken im Zusammenklang eine perspektivische Verlängerung, die germanische Helden- und national-identitätsstiftende Gründungsmythen mit der griechisch-antiken Ideenwelt verknüpft. Diese doppelt kodierte Blickrichtung der Gegenwart in die Vergangenheit erfährt in den Schlusszeilen eine abrupte Änderung des Fokus: Was schwärmt ihr in den Fernen der grauen Heldenzeit? | Kehrt heim, ihr Hochentzückten! – der Weg ist gar zu weit.| Das Alt' ist neu geworden, die Fern' ist euch so nah,|Was ihr erträumt so lange, leibhaftig steht es da,|Es klopft an eure Pforte – ihr schließt ihm euer Haus –|Sieht es denn gar so anders, als ihr es träumtet, aus?
Mit Hilfe rhetorischer Fragen, Appelle und Antithesen werden die Gegensätze von Ferne und Nähe, Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit nivelliert. Der Blick in die Vergangenheit erweist sich angesichts der Kongruenz von Alt und Neu als antizipierte Erfüllung in der unmittelbaren Zukunft. Dieser Nivellierung der Tempora entspricht auf bildlicher Ebene die Heimkehr ins eigene Haus. Das Klopfen eines Subjekts, das durch das grammatikalische Neutrum als Personifikation des alt_____________ Lange (Hrsg.), Kunst kann die Zeit nicht formen: 1. Internationale Wilhelm-Müller-Konferenz Berlin 1994, Berlin 1996, S. 86-99, hier: S. 88f.
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neuen Griechenlands identifiziert werden kann10, deutet zugleich in die unmittelbare Zukunft. Die bislang als idealer Traum imaginierte Welt der im Titel als „Freunde des Altertums“ ausgewiesenen Rezipienten kann und soll sich – so die Argumentationsstrategie des Gedichts – in der Gegenwart real erfüllen. War das Griechenland Winckelmanns und der Klassik, als Ideal im gleichsam luftleeren, utopischen Raum angesiedelt, ist es hier konkret und in der Gegenwart zu verorten. Die einst unerreichbare Sehnsucht („Und an dem Ufer steh' ich lange Tage, das Land der Griechen mit der Seele suchend“11) hat ihr Ziel gefunden und ist im 19. Jahrhundert an alter Wirkungsstätte wieder angelangt – um eine in diesem Zusammenhang inflationär verwendete Metapher zu bemühen: wie Phönix aus der Asche erstanden. Die Gleichsetzung der Neuhellenen mit den antiken Helden bildet eines der Grundmuster philhellenischer Argumentationsstrategien. Damit bezog die philhellenische Literatur eindeutig Stellung in der virulenten akademischen Diskussion um die Frage, ob die Neugriechen überhaupt von den Hellenen abstammten.12 Die Aufständischen wurden meist metonymisch für die antiken Helden gesetzt. Den Osmanen kam damit die Rolle der Perser zu. Ludwig Rellstab bildet keinen Einzelfall, wenn er die attischen Heroen auferstehen und im Verbund mit ihren Nachfahren für Griechenlands Freiheit kämpfen lässt. So hilft im Gedicht „Chios Rache“ Themistokles, der Sieger von Salamis, tatkräftig dabei, die osmanischen Angreifer mit griechischem Feuer zu besiegen: [...] So senkt Themistokles sich nieder, |Und schwellt mit günst’gem Hauch die Segel an;|Er setzt sich unsichtbar ans Steuer nieder |Und lenkt das Fahrzeug auf der kühnen Bahn.|In Nebelduft gehüllet von dem Gotte |Erreichen sie die raub– belad’ne Flotte. / „Der Perser Flotte wollt ich einst verheeren,|Doch Aristides wehrte meine Hand;|Jetzt rieth er selbst das Raubschiff zu zerstören –| Nun schwinge ich den langgesparten Brand.|Aus Chios schwarzgewölbtem Rauch und Flammen|Zieht sich ein Ungewitter schwer zusammen. [...]13
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Auf Hellas wird in philhellenischen Texten meist jedoch das weibliche grammatikalische Geschlecht appliziert, so dass Verbindungen zur Marienikonologie und zur Brautbettmetapher geschaffen werden, die zu kontrastiver Gegenüberstellung zu den männlichen (!) – häufig als Tiger stilisierten – Türken genutzt werden können. Siehe hierzu: Heß, Gilbert, „Zwischen den Fronten. Modelle weiblicher Rollenkonzepte in philhellenischen Erzähltexten“, in: Konstantinou, Evangelos, Das Bild Griechenlands im Spiegel der Völker (17.–20. Jahrhundert), Bern, Berlin u. a. 2008 [im Druck]. Goethe, Johann Wolfgang von, Iphigenie auf Tauris, I,1, 11f. Besondere Sprengkraft erhielt diese Diskussion später durch die Thesen des Münchner Philologen Jakob Philipp Fallmerereyer, vgl. ders., Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Ein historischer Versuch, Theil 1, Untergang der peloponnesischen Hellenen und Wiederbevölkerung des leeren Bodens durch slavische Volksstämme, Stuttgart 1830. Rellstab, Ludwig, „Chios Rache“, aus: ders., Griechenlands Morgenröthe in neun Gedichten. Ein Festgeschenk zum 18ten Oktober, Heidelberg, Speier 1822, S. 23f.
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Winckelmann und die Folgen
Das offenkundige Oszillieren zwischen der Sicht auf das zeitgenössische, osmanisch beherrschte Land und dem zum Ideal stilisierten Griechenland wurde von Zeitgenossen intensiv diskutiert: So schreibt Willibald Alexis 1822 in einer Sammelrezension zu philhellenischen Texten: „Der Name Griechenland, Griechisch, womit harmoniert der besser, als mit dem Ideale? Alles Griechische war ideal, somit mußte auch das, was sich jetzt Griechenland nennt, ideal sein.“14 Bezeichnenderweise stützte sich das Griechenlandbild eher auf die klassische Imagination und die literarisch verbrämten Darstellungen eines heroischen Freiheitskampfes in Nachfolge der antiken Helden. Die ernüchternden Heimkehrerberichte derjenigen, die mit viel Enthusiasmus in das griechische Unterstützungsbataillon eingetreten waren und nun – häufig genug verkrüppelt und aller Illusionen beraubt – nach Hause kamen, wurden hingegen kaum zur Kenntnis genommen bzw. in ihrem Wahrheitsgehalt bezweifelt.15 Die effektvolle Verbindung von Antike und Gegenwart, häufig mittels Doppel- und Mehrfachkodierungen inszeniert, wird z. B. auf dem 1826 von Eugène Delacroix geschaffenen Gemälde Hellas über den Gräbern von Missolunghi erkennbar: Die Trümmer, denen die zur Freiheitskämpferin stilisierte, personifizierte Hellas entsteigt, lassen sich in gleicher Weise als geöffnete Gräber der Gefallenen, wie auch als Ruinen verfallener antiker Gemäuer interpretieren.16 Umgekehrt werden auch die Helden des griechischen Freiheitskampfes zu antiken Heroen stilisiert: 1824 starb Lord Byron vor den Toren Missolunghis an Sumpffieber. Sein Engagement für die griechische Sache – und erst recht die propagandistische Verwertung seines Todes in Text und Bild – hat der europäischen Hilfsbewegung für die aufständischen Griechen einen kaum zu überschätzenden Schub gegeben. Wilhelm Christian Müller dichtet in einer Elegie auf Lord Byrons Tod 1824 mit unfreiwilliger Komik17: Verstummet Siegeshymnen! Fließet Thränen!|Wehklage hallet durch der Helden Heer;|Tief trauern die Gemüther der Hellenen –|Es hörts der Feind und – jauchzet desto mehr. / Ach! Byron kam als Freund; kaum eingetroffen,| So bau-
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Alexis, Willibald, „Neugriechenland und seine Sänger“, in: Literarisches Conversationsblatt, 293/1822 (21. Dez.), S. 1169 (Alexis rezensiert F. Libers Tagebuch, Wilhelm Müllers Neue Griechenlieder und Ludwig Rellstabs „Griechenlands Morgenröthe). Siehe hierzu Quack-Eustathiades, Regine, Der deutsche Philhellenismus während des griechischen Freiheitskampfes (1821–1827), München 1984, S. 90-124 (Südosteuropäische Arbeiten, 79). Zur Interpretation dieses Bilds zu seiner Entstehungsgeschichte mit unterschiedlichen Vorstufen und seiner reichen Rezeption siehe Athanassoglu-Kallmyer, Nina Maria, French images from the Greek War of Independence (1821–1830). Art and politics under the Restoration, New Haven u. a. 1989, S. 87-102. Siehe hierzu: Heß, Gilbert, „Missolunghi. Genèse, transformations multimédiales et fonctions d’un lieu identitaire du philhellénisme“, in: Revue Germanique Internationale, 1-2/2005: Philhellénismes et transferts culturels dans l’Europe du XIXe siècle, S. 77-107.
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en wir Ihm schon ein Todtenmal.| Dahin ist der Hellenen stolzes Hoffen –| Wir schaun des harten Todes Siegesmal. / Er kam als Held, erhebend alle Geister,| Tyrtäos gleich, mit seinem Geist voll Muth |– Doch, ach! Umsonst beseelt der Bardenmeister |Die Helden, da im Todesarm er ruht. [...]18
Besondere Anziehungskraft übte der griechische Freiheitskampf im Deutschen Bund aus, weil sich hier zugleich eine Art Projektionsfläche für demokratische Wunschvorstellungen des bürgerlichen Vormärz bot. Der Philhellenismus war insofern auch Substitut für fehlende politische Partizipation. Childe Herold, der Titelheld aus Lord Byrons Versgedicht und Alexander Ypsilanti wurden in Deutschland deshalb zu Leitfiguren, weil sich in ihnen – wie Norbert Miller es ausdrückt – „die Zwitterstellung einer zwischen Heroismus und melancholischem Rückzug in sich selbst schwankenden Generation spiegelte“.19 Nur aufgrund dieses Umstands, der den kämpfenden Parteien den Charakter von Tropen verlieh, konnte der griechische Unabhängigkeitskrieg in Deutschland überhaupt sein diskursives und ästhetisches Potenzial entwickeln.20 In diesem Zusammenhang diente jedoch zugleich das antike Hellas als konkrete Projektionsfläche, die in der Zersplitterung des Landes in autarke Stadtstaaten die zeitgenössische Situation der deutschen Partikularstaaten widerspiegelte. Letztlich wurden hier das von Winckelmann postulierte griechische Freiheitsideal, wie es die französische Rezeption von Anfang an dominiert hatte, die politisch–geografische Situation des antiken Hellas und die zeitgenössische Situation in Deutschland zu einem imaginären Konglomerat verschmolzen. Eine nicht zu unterschätzende Wirkung hatte jedoch – speziell in Deutschland – die klassische Bildungstradition. Insofern ließ sich das Eintreten für den Griechischen Freiheitskampf als Dankesschuld begreifen, die der „Wiege der Wissenschaft“ abzutragen war. Ludwig Rellstabs Gedicht „Die Fremdlinge“ nutzt diese Argumentationsebene, um die Gemeinsamkeiten von Griechen und Deutschen zu betonen und für die Unterstützung Griechenlands zu werben: Ihr tadelt uns, wenn wir das Schwerdt gezogen | Für jenes fremde Land?| Für jenes Volk, jenseit[!] der Meereswogen,| Dem unseren nicht verwandt? [...] Die Wurzeln alles großen, alles Schönen, | Dort wurden sie gepflegt,| Daß ihre Krone uns, den fernen Söhnen | Noch gold’ne Früchte trägt. // Und dieser
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Müller; Wilhelm Christian, „Elegie auf Lord Byrons Tod 1824“, in: ders., Gesänge der Hellenen und Philhellenen (1820–1827), Bremen 1827, S. 44f. Miller, „Europäischer Philhellenismus“, S. 357. Siehe hierzu Polaschegg, Der andere Orientalismus, S. 263.
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Winckelmann und die Folgen
Stamm, er sollte fallend sinken | Von des Tyrannen Hand? | Nein Brüder, nein, laßt Eure Schwerter blinken | Und kämpft für Griechenland.21
Der griechische Befreiungskampf gilt somit der Rettung einer ideal verklärten Antike, die zugleich als Wurzel der westlichen Kultur verstanden wird. Die im Zuge des griechischen Freiheitskampfes entstandene, in ihrer Fülle kaum zu überblickende philhellenische Literatur verarbeitet äußerst disparates Wissen, transformiert und popularisiert es. Ebenso wie der zeitgenössische Popularisierungsprozess naturwissenschaftlicher Kenntnisse lässt sich dieser Vorgang nicht als einsträngige Entwicklung, sondern vielmehr als Diffusionsprozess konkurrierender und sich überlagernder Wissensbestände beschreiben. Zudem ist Literatur in einem öffentlichkeitswirksamen und unterschiedliche Medien bedienenden literarischen Feld zu verorten, das Kontextwissen zu seinem Verständnis gleichermaßen voraussetzt wie es neues Wissen produziert. Diese Interdependenzen zwischen Wissensproduktion und -rezeption münden in der Funktionalisierung zu pädagogischen, agitativen oder polemisierenden Zwecken. Wort- und Sprachbild sind durchzogen von immer wieder neu inszenierten Kämpfen der beiden ungleichen Parteien, wobei die Drastik der häufig stereotyp verwendeten Bildlichkeiten den zugrundeliegenden Grausamkeiten des Guerillakrieges in nichts nachsteht. Diese Monumentalität der Grausamkeit wird jedoch begleitet von einem bewussten Rekurs auf die monumentale Deutungsmacht der Antike, wie sie vom 18. Jahrhundert her vorgeprägt war. Winckelmanns imaginiertes Griechenlandbild und dessen Ausprägung in der Klassik schufen somit ein Ideal, an das die philhellenische Literatur in vielfältiger Weise anknüpfen konnte. Die drei Griechenland–Topoi „Natur“, „Kunst“ und „Freiheit“ verschmolzen zu einer Einheit, die im zeitgenössischen Griechenland eine Projektionsfläche fand, auf der sich klassische und romantische Vorstellungen für kurze Zeit kreuzten. Der Versuch, die klassische Normativität zu vergegenwärtigen, konnte jedoch nicht gelingen und war spätestens zu dem Zeitpunkt, als die schnelllebige Entwicklung des griechischen Befreiungskampf nach der Seeschlacht von Navarin und der Athener ‚Bajuwarokratie‘ ihrerseits Geschichte geworden war, an sein Ende gelangt.
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Waiblinger, Wilhelm, „Die Fremdlinge“, in: ders., Griechenlands Morgenröthe in neun Gedichten, Heidelberg, Speier 1822, S. 18f.
Episteme choreografierter Körper im ballet en action. Zum ästhetischen Widerstreit von techné und Einfühlung Sabine Huschka Das Verhältnis von techné und Einfühlung markiert in der Konzeption des ballet en action des späten 18. Jahrhunderts einen empfindlichen Kulminationspunkt. In seiner Reform für einen dramatischen Bühnentanz spricht sich Jean Georges Noverre (1727–1810) für einen anmutigen Tanzstil aus, der sich „frei von aller Affekthascherei“ darbieten soll.1 Besonders eindrucksvoll sieht Noverre diesen in Marie Sallé (1707–1756), Tänzerin im Fach des danse sérieuse an der Pariser Opéra der 1730er Jahre, verkörpert: I was enchanted with her dancing. She was possessed of neither the brilliancy nor the technique common to dancing nowadays, but she replaced that showiness by simple and touching graces; free from affection, her features were refined, expressive and intelligent. Her voluptuous dancing displaced both delicacy and lightness; she did not stir the heart by leaps and bounds.2
Sallé führte ihren Zeitgenossen mit Auftritten in Opern-Balletten wie Les Indes Galantes (1735), L’Europe Galante (1736), oder Des Fêtes d’Hebé ou Les Talents Lyriques (1739) eine qualitative Ausgestaltung ihres Körpers und seiner Bewegungen vor Augen, deren expressive Besonderheit für Noverre in einer Naivität des Anmutigen liegt. […] ihre Anmuth ist noch immer im Andenken, und die Mienenspielerey der Tänzerinnen in ihrer Gattung, hat diesen Adel, diese harmonische Simplizität der zärtlichen und wollüstigen, aber dabey immer anständigen Bewegungen dieser liebenswürdigen Tänzerin noch nicht ins Vergessen bringen können.3
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Vgl. zu Noverres Biografie und Werk:. Lynham, Deryck, The Chevalier Noverre. Father of modern ballet. A biography, London 1972; Krüger, Manfred, J. G. Noverre und das Ballet d´action: Jean-Georges Noverre und sein Einfluss auf die Ballettgestaltung, Emsdetten 1963; Chéruzel, Maurice, Levain de la danse moderne: Jean-Georges Noverre (1727–1810), Paris 1994. Noverre, Jean Georges, Lettres sur les Arts Imitateurs en générale, et sur La Danse en particulière, Paris 1807, Bd. 2, S. 103f.; zit. n. Fairfax, Edmund, The styles of eighteenth-century ballet, Lanham 2003, S. 90. Fairfax hat die franz. Originalzitate ins Englische übersetzt. Noverres erweiterte Fassung der Lettres wurde bislang nicht ins Deutsche übertragen. Noverre, Jean Georges, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette [1769], Kurt Petermann (Hrsg.), ND München 1977, S. 125 (Documenta Choreologica, 15). Noverre veröffentlichte seine Lettres erstmals 1760 in Lyon und Stuttgart mit Widmung an Herzog Karl Eugen von
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Episteme choreografierter Körper im ballet en action
Die Leichtigkeit Sallés Tanzstil, dessen einfühlsamer Duktus nicht von technischer Raffinesse aus kunstvollen Schrittkombinationen oder Sprüngen wie jétés, battus und entrechats dominiert wurde, wie es dem Tanzstil ihrer Zeitgenossin Marie Carmago nachgesagt wurde4, schwebte Noverre als Leitbild einer pantomimischen Gesamtkonzeption von Ballett vor. Denn Sallé beherrschte die Kunst, kurze Handlungssequenzen ihrer getanzten Entrées und Divertissements als klare und bedeutende Handlungsmomente vor Augen zu stellen. Mit handlungsgeleiteten Balletten, die körperliche Aktionen als gestisches und mimisches Ausdrucksterrain ausstellten, entwickelte sich der Bühnentanz im Laufe des 18. Jahrhunderts. zu einer eigenen theatralen Gattung. Die im konkreten Wortsinn „Zwischenstellung“ des Tanzes, aufgeführt als Entrée und Divertissement in opulenten Opernaufführungen, wurde überwunden. Als reformatorische Pfeiler der vollzogenen Dramatisierung fungierten bevorzugt tragische Stoffe, deren Handlung, strukturiert in Akte und Szenen, von einer dem Ausdruck verpflichteten Körperästhetik dargestellt wurden. Der imitatio der Leidenschaften folgend, galt eine dem Feuer, der Wahrheit und dem Verständigen verpflichteter Darstellungs-Typus als vorteilhaft, zumal dessen mediale Besonderheit die Gattungsspezifik von Tanz als Kunst profilierte. Noverre etwa wusste um die gegenseitige Bedingung von Kunst und Gefühl, wenn er schreibt: Ohnstreitig werden die Ballette den Vorzug über die Mahlerey erhalten, sobald die, welche sie ausführen, mehr als Maschinen, und die, welche sie machen, Männer von Genie und Gefühl sind. Ein schönes Gemählde ist nur eine Kopie der Natur; ein schönes Ballett ist die Natur selbst, durch alle Reize der Kunst verschönert.5
Eine feurige, wahre und verständliche Pantomime qualifiziert fortan Tanz als Gattung unter den Künsten. Dabei stand Noverre gleichsam ein gewaltiges Programm vor Augen: Einen Gedanken durch Worte vorzustellen, dazu gehört gewisse Zeit, die Gebehrden zeigen ihn auf einmal mit Nachdruck; es ist ein Blitz, der aus dem Herzen fährt, in den Augen flammt, alle Gesichtszüge hell macht, den Knall der Leidenschaften verkündet, und uns gleichsam die Seele nackend sehen lässt.6
Die Kunst des Tanzes, naturnaher und lebendiger noch als die Malerei und immediater im Ausdruck als die Poesie, präsentiere eine dramatisch_____________ 4 5 6
Württemberg, an dessen Hof er tätig war. Lessings Übersetzung dieser 15 Briefe ins Deutsche (zus. mit J. J. C. Bode) erschien 1769 in Hamburg und Bremen. Marie Anne de Cupis de Carmago (1710–1770) ist in die Tanzgeschichtsschreibung als Rivalin von Marie Sallé eingegangen. Vgl. u. a. Beaumont, Cyril William, Three French dancers of the 18th century. Carmago – Sallé – Guimard, London 1934. Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 42. Ebd., S. 148. Diese Äußerung verbindet Noverre mit der Forderung, fortan im Tanz auf Masken zu verzichten, um das Mimische theatral wirksam werden zu lassen.
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körperliche Fähigkeit, Handlungen und Stimmungen unmittelbar vor Augen zu stellen. Seine ästhetische Potenzialität läge in einer sinnlichen Eindringlichkeit, einer evidentia direkter Anschauung menschlicher Leidenschaften, die als ‚natürlicher und wahrer Ausdruck‘ die Bühne betraten. Vergleichbar mit dem Schauspiel des 18. Jahrhunderts stellte auch das ballet en action seiner Darstellungsästhetik eine ausdruckspsychologische Konzeption voran. Diese basierte auf der bedeutsamen Differenzsetzung zwischen dem Einfühlsamen und dem Technischen. Das Wissen um das Einfühlsame, artikulier- und beobachtbar als stilistische Eigenschaft des Tanzens, fungierte dabei als Diskursfigur ästhetischer Urteilsbildung und als konzeptionelle Basis, über die sich eine ganze Wissenskultur des abendländischen Bühnentanzes erstreckt. Techné wird, etwa in Debatten über das ‚Schöne‘ und ‚Wahre‘, zum Differenzbegriff des Ästhetischen und modelliert innerhalb des ballet en action eine Wissenspraxis, die den tanzenden Körper nicht nur mit spezifischen Weisen der Ab- bzw. Zuerkennung artikulierbaren Wissens umstellt, sondern in die Schranken des Unsagbaren weist. Techné als Basis der Tanzkunst Noverre setzt im 13. Brief seiner Lettres sur la danse zu einer Kritik an der Choreografie als Überlieferungsmedium des Tanzes an und bestreitet im lakonischen Tonfall grundlegend deren Nutzen. Denn „vermittelt dieser Einrichtung gelangte man dahin, den Tanz zu buchstabieren, man musste sich aber in Acht nehmen, dass man das Buch nicht verkehrt in die Hand nahm“.7 Noverre argumentiert mittels der Unterscheidung von „Spuren und Überresten einer Aktion“, die nichts als „eine frostige stumme Kopie“ zeigen, und jenen „unnachahmlichen Originalen“8, die Wahrheit und Leben aufbewahren. In dieser aufgespannten Dichotomie verortet Noverre seine grundlegend anti-akademische Haltung. Drastisch stellt er im Folgenden die Verfehlungen der Académie de la Danse heraus, die die Kunst eher zu Grabe trüge als dass sie Talente fördere, richte sie ihre Ausbildung doch auf den „geometrischen Plan“ der Tänze, ohne ihre Wirkungsweise zu klären.9 Noverre fordert einen anderen Lehrcorpus, der endlich die Pas und ihre succeßiven Verknüpfungen annalisirt, und von den Positions und Stellungen des Körpers geredet und nichts vergessen hätte, was das stumme Spiel, den pantomimischen Ausdruck, und die verschiedenen Empfin-
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Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 271f. Ebd. Ebd., S. 285
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dungen der Seele durch die verschiedenen Charaktere der Physiognomie hätte erklären und verständlich machen können.10
Noverres anti-akademischer Haltung, die in scharfzüngig dialogischer Rede an einen Dritten adressiert ist, hält Gasparo Angiolini (1731–1803) in seiner Replik von 1773 entgegen11, Noverre wolle die Akademie lediglich belehren und erniedrigen. Den Statuten von 1661 wäre der pantomimische Tanz schlicht unbekannt gewesen, und nicht die Nachahmung bilde das Kriterium für eine richtige oder falsche akademische Ausbildung, sondern eine Lehre klarer Kompositionsprinzipien und Dramaturgie. Die technische Basis eines – wie Angiolini es nennt – materiellen Tanzes hätte indessen „wirkliche Fortschritte“ gemacht.12 Tatsächlich bildete sich der abendländische Bühnentanz mit der Gründung der Académie Royale de la Danse durch Louis XIV (1643–72) als Wissenskultur exklusiver Gelehrtengesellschaften aus, die mit regelhaften Übungsfolgen und pädagogischen wie physischen Regularien kodifizierte Schritte (pas), Positionen und Armhaltungen (port de bras) lehrten, tradierten und überwachten. Während Noverre seine Konzeption aus einem Widerstreit zum Akademischen und Technischen gewinnt, von dem es sich stets abzusetzen gilt, erwächst Angiolinis Reform aus einer pragmatisch-moderaten Haltung, die das Neue weniger in einem grundlegend Anderem als in einem Zusätzlichen verortet. Wissen um Einfühlung Für Jean Georges Noverre wird der Körper zu einem Medium, der anthropologisch konzipierte Ausdruckswerte inkorporiert. In dieser Programmatik des ballet en action ist eine doppelte ästhetische Bewegung am Werk.13 Die eine richtet sich auf ein sur plus, „nicht blos Figuranten“ zu tanzen, wodurch Tanz natürliche Beredsamkeit und malerischen Ausdruck erhalten soll. Die andere Bewegung richtet sich auf eine ubiquitäre Kompetenz der Tänzer, „alle [Figuranten] in alle Gestalten […] verwandeln [zu] _____________ 10 11 12
13
Ebd. „Lettere di Gasparo Angiolini a Monsieur Noverre sopra i balli pantomimi, Milano 1773“, in: Carmela Lombardi, Il ballo pantomimo, Lettere, saggi e libelli sulla danza (1773–1785), Turin 1998, S. 49-89. Gasparo Angiolini entwickelte als Schüler von Franz Hilverding (1710–1768) eine theatrale, der gestisch-narrativen Poetik verpflichteten Ballettästhetik. Seine Produktion von Don Juan gilt als eine der ersten realisierten Handlungsballette. Die beiden Kompositeure und Ballettmeister verbindet ein über mehrere Jahre geführtes Streitgespräch, eine der wenigen überlieferten Textquellen von Angiolini, die seine Konzeption eines ballet en action verdeutlichen. Noverre entwirft sich als Gründer des ballet en action, ohne sich auf andere oder vorgängige Reformbestrebung etwa durch Louis Cahusac zu beziehen. Als ambitionierter Literat seiner Ballette und Autor der Lettres sur la danse, et sur les ballets (1760) avancierte Noverre zur zentralen Identifikationsfigur des ballet en action.
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wissen“. Beide ästhetischen Ziele treten in der Figur der Einbildungskraft, einem „wahre[n] Ausdruck der Empfindung“ zusammen. Denn Noverre versteht unter Bühnentanz schließlich […] etwas anderes, als das Herumtummeln mit Händen und Füßen, das mühselige Bestreben, wie ein Wahnsinniger zu springen, oder auch eine Seele zu zeigen, die man nicht hat. Die Aktion beym Tanze ist die Kunst, durch den wahren Ausdruck unsrer Bewegungen, unsrer Gestus und der Physiognomie, dem Zuschauer unsre Empfindungen und Leidenschaften mitzutheilen.14
Es gilt der ‚wahre Ausdruck‘ und so ruft Noverre den jungen Tänzern emphatisch zu, um ihnen „die Augen zu öffnen […]“: […] laßt also eure Figuranten und Figurantinnen nicht blos tanzen, sondern durch Tanzen reden und mahlen; sie müssen allesamt Pantomimen seyn, sie müssen sich alle in alle Gestalten zu verwandeln wissen. Wenn ihre Gebehrden und ihre Physiognomie beständig mit ihrer Seele übereinstimmen, so wird der daraus entspringende Ausdruck der wahre Ausdruck der Empfindung seyn, und eurer Werk beleben. Wenn ihr zu den Proben geht, so habt nicht den Kopf blos von euren Figuren voll, nehmt auch euern Verstand mit, und seyd von euerem Vorwurfe ganz durchdrungen. Wenn eure Einbildungskraft von dem Gegenstande, den ihr mahlen wollt, lebhaft gerührt ist, so wird sie euch Züge und Farben und Pinsel geben.15
Diese Ausdrucksbewegungen basieren nicht auf expliziten Qualitäten, die ein Wahrnehmungsfeld spezifischer Empfindungen erschlössen. Sie zeichnen sich daher über kein spezifisches Empfindungsspektrum aus, das wahrnehmungstechnisch durch spezifische Übungen erzeugt wird. Vielmehr qualifiziert Noverre sie, wie Claudia Jeschke betont hat, „anhand der immer dominanten Erscheinungsform“.16 Auch liegt ihnen kein kanonisierter Gebärdenkatalog zu Grunde, denn es widerspräche der ausdruckspsychologischen Konzeption tänzerischer Bewegungen geradewegs, wären sie über einen Codex eindeutiger Repräsentanzen vermittelt.17 Ausdrucksbewegungen zeigen sich indessen nahezu ubiquitär: […] alles wird sprechen; […] jede Gebehrde wird einen Gedanken enthüllen; jeder Blick wird eine neue Empfindung ankündigen; alles wird entzücken und täuschen (sic!), weil alles wahr ist, weil die Nachahmung aus der Natur selbst geschöpft ist.18
Die der Natur abgerungene Täuschung markiert das Ästhetische, das aus einer stets angedeuteten Bedeutung differenter Bewegungen entsteht. „An dem Tänzer muss alles mahlen, alles reden: jeder Gestus, jede Stellung, _____________ 14 15 16 17 18
Ebd., 10. Brief, S. 197. Ebd., 4. Brief, S. 47. Jeschke, Claudia, „Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Wolfgang F. Bender (Hrsg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, Stuttgart 1992, S. 92. Diesen Gedanken verdanke ich den Ausführungen von: Košenina, Alexander, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 26. Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, 7. Brief, S. 95.
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jeder Port de Bras muss einen unterschiedenen Ausdruck haben.“19 Das Ziel markiert eine evidentia verbalis der Bewegung, in der die Leidenschaften als „Triebfedern“ wirken und ihre Kraft entfalten, aus der heraus die choreografierte Handlung ins Auge des Betrachters überspringt. Diese Kraft ist so wirksam, da sie absolut ist. „[…] die Bewegungen, die daher entstehen, mögen beschaffen seyn wie sie wollen, so können sie nicht anders als wahr seyn. Hieraus folgt, daß die trocknen Schulregeln bey dem Tanze in Aktion weichen, und der Natur Platz machen müssen.“20 Interessanterweise kommt das ballet en action grundsätzlich darin überein, Ausdruck als Differenzbegriff zum Künstlichen, rein Technischen zu setzen. Denn es ist die Natur selbst, die in den Bewegungen spricht. So heißt es etwa in einer anonym verfassten Abhandlung Versuch über die Pantomimische Tanzkunst (1799), die in Wien als eine der wichtigsten europäischen Wirkungsstätten des ballet en action erschien: […], denn der redende sprechende Tanz wird immer den Vorzug vor demjenigen haben, welcher nichts als ein Allegro oder Andante künstlicher Schritte ist, welche verbunden mit dem gewöhnlichen Balancement der Arme nichts bedeuten, als eine fertige und geschickte Bewegung eines Tanzmeisters.21
Noverre situiert das ballet en action in Differenz zu all jenen bedeutungslosen, der bloßen Fertigkeit zugehörigen „künstlichen Schritte“ des höfischen Tanzes. Der reinen Präsentation und Figuration verschrieben, würde dieser Tanz eben „keine Character und keine bestimmte Handlung haben, keine zusammenhängende und durchgeführte Intrigue schildern, kurz, […] nicht zum Drama gehören“.22 Die Tanzdivertissements kramen „nichts als schwere abgezirkelte mechanische Bewegungen“ aus. Noverre situiert die empfindungs- und ausdrucksvolle Tanzbewegung in Abgrenzung zum Technischen, ohne allerdings die körpertechnische Basis als ästhetische Voraussetzung von Ballett selbst zu leugnen.23 Sein tanztheoretischer Entwurf lässt sich vor allem als ein Versuch lesen, Bühnentanz wirkungsästhetisch als Empfindungsprozess zu konzipieren. Seine Kunstfertigkeit wäre demnach jenseits bewegungstechnischer Standards angesiedelt und durch ein Anderes vermittelt. Dieses Andere markiert für Noverre die Seele. „Denn die Gebehrden müssen blos das Werk der Seele, und die unmittelbare Eingebung ihrer Regungen seyn“24, was nach Horaz’ ut pictura poesis-Prinzip eine in den Körper hineingespielte Sichtbarkeit er_____________ 19 20 21 22 23 24
Ebd. Ebd., S. 200. Von Zepharovich, Jacob Edler, Versuch über die Pantomimische Tanzkunst, Wien 1799, S. 37. Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, 7. Brief, S. 98. Vgl. ebd., 12. Brief: Ausführung über das entreachat (Beinschläge), S. 236-269. Ebd., 1. Brief, S. 13.
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zeugen soll. Das Ballett und seine Tanztheorie schlägt hierunter eine ästhetische Richtung ein, in der die Einfühlung als mediale Schnittstelle fungiert. Methodologische Anschlüsse Untersuchungen zum Status und den Modi eines kulturell generierten und ästhetisch ausgestellten Wissens im Tanz werfen methodologische Fragestellungen von grundlegender Art auf: Wo lässt sich Wissen im Tanz auffinden und in welcher Weise ist es zu denken? Lässt sich der Tanz in seiner ästhetischen Praxis überhaupt als Wissenskultur auffassen? Über Wissen und Tanz zu reden, bedeutet den Körper als diejenige Stätte in den Blick zu nehmen, an dem Wissen generiert, manifestiert und unter der ästhetischen Option des Zeigens transformiert wird. Die Tanztraktate des ausgehenden 18. Jahrhunderts tragen dazu verschiedenste Episteme körperbildender Maßnahmen zusammen und suchen inmitten eines Amalgams aus anatomischen, ästhetischen und mechanischen Diskursen spezifische Darstellungsoptionen menschlicher Affekte, körperlicher Haltungen und Handlungen zu qualifizieren. Die dergestalt repräsentierte Wissenskultur des Tanzes trägt allerdings weniger topologische als performative Züge, adressieren ihre Diskurse, Modelle und Verfahren doch einen körperlich-theatralen Darstellungsraum, der pädagogisch und ästhetisch choreografierte Körper auszubilden sucht, um spezifische Effekte und Sichtbarkeiten zu erzeugen. In ihrem Zugriff normierend als auch entgrenzend, suchen sie den Körper als Instrument, als tableau oder aktionsstiftenden Handlungsträger auszustellen.25 Wissen im Tanz erschließt sich zudem als Teil europäischer Kulturgeschichte des Körpers. Inmitten kulturhistorisch einsetzender Machtstrukturen und Wissenschaftssysteme situiert, adaptieren Ballettmeister und Librettisten des 18. Jahrhunderts das anatomische Wissen ihrer Zeit, um, vergleichbar anderer Praktiken – deren körperkulturelles Gepräge Michel Foucault für die Klinik und das Gefängnis eindringlich analysiert hat – physiologische Prozesse, Fähigkeiten und Fertigkeiten des Körpers für die Bühne zu klären und zu evozieren. Beobachtende Blicke, Korrekturen, ideale Körpermaße, zeitlich regulierte Abläufe und ökonomisierende Aufrufe zur Handhabung seiner Kräfte und Energien strukturieren und disziplinieren _____________ 25
Das Tableau stellt ein eigenes Genre des 18. Jhs. dar, das Statue, Tanz, Gemälde, Pantomime, Lyrik und Musiktheater darstellungsästhetisch integriert. Vgl. Brandstetter, Gabriele, „Die Bilderschrift der Empfindungen. Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les Balletts und Friedrich Schillers Abhandlung Über Armut und Würde“, in: Achim Aurnhammer (Hrsg.), Schiller und die höfische Welt, Tübingen 1990, S. 77-94; Holmström, Kirsten Gram, Monodrama attitudes tableaux vivants. Studies on some trends of theatrical fashion (1770–1815), Stockholm 1967.
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die choreografische Gestalt des Körpers als ästhetische Erscheinung. Ohne an dieser Stelle auf aktuelle Forschungen und Diskussionen über Foucault näher eingehen zu können, die etwa unlängst in der Soziologie zu systematisierenden Überlegungen zu einem performativ „eigensinnigen“ Wissen des Körpers geführt haben26, kommen meine Studien mit Foucault darin überein, ein durch Disziplinartechniken und mediale Anordnungen generiertes Wissen aufzufinden. Ergänzend hierzu ist von einem Wissen auszugehen, dessen Performativität an die Materialität eines erarbeiteten Körperwissens gebunden ist. Was wir über Tanz und seine ästhetischen Praktiken wissen (können) – und hier folge ich Michel Foucaults Heterotopien – findet seinen Ausgangspunkt immer am Körper. Der Wissenskultur Tanz kommt daher ein höchst virulenter Status zu: verfahrenstechnisch für den Raum des Theaters generiert und verortbar formt sich ein Wissen zu Tanzen als körperästhetisierende Praxis, welche die absolute Topologie des Körpers zu überschreiten sucht, ohne sich dessen Rückversicherung im Körper in Gänze zu entziehen. Denn es darf nicht vergessen werden: Gerade die ästhetischen Praktiken des Tanzes erscheinen mitunter als ein begriffsfremdes Feld, das zwar mit einem Wissen über physisch-mentale Zustände und Aktionsweisen umgeht, aber keine Begriffsarbeit im Sinne klarer Erkenntnis leistet. Als kulturelle Praxis erscheint gerade der Bühnentanz weit davon entfernt, eine Situation zu schaffen, die eine Bildung von Begriffen affiziert oder umstandslos befördert. Diese Funktion kann aus einer ähnlichen marginalen Rolle in unserer Kultur allenfalls das Spiel in Anspruch nehmen.27 Die Erzeugung und Ausprägung von Wissen ist vielmehr in eine praxeologische Arbeit mit dem Körper verwoben und gilt darin als implizit. Dies erschwert einen methodologischen Zugang, Tanz als Wissenskultur zu analysieren, auch wenn sie wie in anderen Wissenskulturen in institutionellmediale Verfahren des Distribuierens und Tradierens entstehen. Kulturtheoretisch ermangelt dem Tanz eine identifikatorisch symbolische Ebene, was Analysen der Performativitäten seines komplexen ästhetischen Wissens über die Organisation und Darstellung von Körpern umso bedeutsamer macht. Vielleicht lässt sich auf diesem Wege, sein Gegenstandsfeld in den wissenschaftlichen Diskurs über kulturelle Wissensformen einträglich integrieren. Allerdings gilt Wissen im Tanz als verschwiegen und hat Forschungen zu Wissenskulturen bislang kaum berührt – vielleicht auch, um jenen Ort in unserer Kultur offen zu halten, der mit der Figur des Nicht-Wissens einem Sinnbild von Tanz betraut ist? _____________ 26 27
Vgl. Gugutzer, Robert, body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006. Vgl. Adamowsky, Natascha, „Spiel und Wissenschaftskultur. Eine Anleitung“, in: dies. (Hrsg.), „Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet.“ Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis, Bielefeld 2005, S. 11-30.
Das Schöne, das Schreckliche und das Hässliche. Die Aristotelische Poetik zwischen Norm und Modernität Christina Oberstebrink Gegenstand des Beitrags ist ein Umriss der Geschichte und Deutungen der Poetik im englischen 18. Jahrhundert sowie der Auswirkungen ihrer Rezeption auf die Entwicklung der Ästhetik und auf die Genese neuer Gattungen. So will ich in der Poetik nicht nur die Grundprinzipien einer normativen, akademischen Kunstauffassung erkennen, sondern überhaupt diesen poetologischen Text als leitende Autorität ästhetischer Auffassungen der Zeit darlegen. Die sich verändernden Konzepte von Übersetzung, die Neuinterpretationen der Poetik durch ihre Kommentatoren und die Auseinandersetzung mit ihren Grundsätzen sorgten für eine Vielfalt von ästhetischen Überlegungen innerhalb und außerhalb der klassizistisch geprägten Kunsttheorie. Bereits im 18. Jahrhundert kann man die Keime zu einer modernen Ästhetik in der Auseinandersetzung mit dieser Schrift und ihrer Interpretation erkennen. In der Rezeption der Poetik im englischen 18. Jahrhundert wurde Horaz’ Ars Poetica lediglich als Kommentar zum älteren Text betrachtet.1 Keine Schrift war von so tragender Bedeutung für die akademische Kunsttheorie der Zeit wie Aristoteles’ Poetik. Zuerst lieferte dieses Werk das theoretische Gerüst für eine systematische Ästhetik. So prägte die Übersetzung des französischen Klassizisten André Dacier die normative Kunsttheorie während des 18. Jahrhunderts auch in England. In Shaftesburys Konzept vom Historienbild, das er in seiner Schrift Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgment of Hercules von 1713 umreißt, kann man leicht die Aristotelischen Bestimmungen für die Tragödie wiedererkennen. Dies gilt auch für die vielen anderen Kunsttheoretiker, die in England einflussreich waren, wie De Piles, Dufresnoy, Reynolds. Die Tatsache, dass das Bild eine durchkomponierte, in sich geschlossene Handlung zeigen musste, die an die Einheiten von Zeit und Raum gebunden
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Etwa Dryden, John, „An Essay on Dramatic Poesy“, in: ders., Essays, W. P. Ker (Hrsg.), Bd. 1, S. 38.
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war, dass die dramatis personae als mythologische oder historische Helden, Prinzen oder Könige vorbestimmt waren, ihre Darstellung entsprechend Stand, Geschlecht, nationaler Zugehörigkeit und Alter angemessen zu sein hatten, spiegelt die Aristotelische Konzeption der Tragödie wider. Auch die Auffassung vom Schönen in der klassizistischen Kunsttheorie verdankt sich der Poetik, in der es von den Attributen der Größe und Ordnung abhängt. Der Katalog der poetologischen Bestimmungen, die direkt auf die akademische Kunst übertragen wurden, ist hiermit nicht erschöpft. Doch sind die alternativen ästhetischen Auffassungen, die aus der Poetik hervorgegangen sind, Hauptgegenstand dieses Beitrags. An dieser Stelle muss der Hinweis darauf genügen, dass die Auseinandersetzung mit der Poetik auch im Bereich der akademischen Kunst für Änderungen und Transformationen in der Auffassung von hoher Malerei sorgte.2 So setzt beispielsweise Füssli das Epische und das Tragische über das Historische, wertete aber das Epos, im Gegensatz zu Aristoteles, als erhabener als das Drama. Letzteres zog der griechische Philosoph wegen seiner Einfachheit der epischen Gattung vor. Das Prinzip der Einfachheit oder „simplicity“ diente als ein tragendes Element der klassizistischen Kunst. Die dazugehörige Ruhe, die im Gegensatz dazu nicht in der Aristotelischen Tragödie oder dem Epos ihren Ort hatte, wurde im Rückgriff auf Aristoteles’ Aufriss der Wirkung des tragischen Dramas auf den Betrachter, indem es Mitleid und Schrecken hervorrief, in ihrer Gültigkeit am Ende des 18. Jahrhunderts demontiert. Die Poetik und ihre Interpreten trugen zur Geschichtlichkeit normativer Kunst bei. Diese vollzog sich auf verschiedenen Ebenen der Deutung. Nicht nur die Neuübersetzung und Neuinterpretation der Poetik des späten 18. Jahrhunderts zog die Aushöhlung von normativen Kunstauffassungen nach sich. Bereits früh im 18. Jahrhundert wurden Denker auf bestimmte Stellen in der Poetik aufmerksam, die unbrauchbar für klassizistische Kunstnormen waren, sich aber als geeignet für Gegenkonzepte zur akademischen Kunsttheorie auswiesen. Dort konnten Theoretiker der Zeit Formeln finden, die den ästhetischen Gewinn von „unschönen“ Gegenständen konstatierten. So war es möglich, dass auch unklassizistische Kategorien der Ästhetik sich durch die Autorität des Aristoteles behaupteten und damit den Weg für neue Kunstauffassungen bahnten. In beiden Modi der Rezeption, in der Neuinterpretation und der ‚Blütenlese‘ der Poetik, wurde das generische Denken der Zeit grundlegend verändert. Es
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Der Niederschlag der Aristotelischen Poetik auf akademische und nichtakademische Kunstauffassungen im England des 18. Jahrhunderts habe ich zwischen 1999 und 2002 erforscht in dem DFG unterstützten Forschungsprojekt „Die Rezeption der Poetik von Aristoteles in der englischen Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts und ihre Funktion im Wandel der Gattungshierarchie“ an der Freien Universität Berlin.
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entstanden neue Gattungen, die nur schwer mit akademischer Kunst vereinbar waren: insbesondere ist hier die englische Bildsatire des späten 18. Jahrhunderts zu erwähnen.3 Neue ästhetische Konzeptionen, wie etwa die Ästhetik des Grauens oder des „Picturesque“, bildeten sich heraus und der ästhetische Eigenwert der künstlerischen Mittel wurde zunehmend anerkannt. Die Poetik blieb also allgemein entscheidend für ästhetische Fragen im 18. Jahrhundert und prägte auch alternative Kunstauffassungen zur akademischen Kunst der Zeit. Ich möchte auf drei Stellen in der Poetik kurz eingehen, die zur Entwicklungen neuer ästhetischen Auffassungen beitrugen oder herangezogen wurden, um neue Darstellungsweisen theoretisch zu untermauern: (1) Die erste Stelle ist Aristoteles’ Einteilung der Modi der Nachahmung. So hat der Künstler oder Poet drei Möglichkeiten der Nachahmung: Die Menschen werden entweder hässlicher oder schöner dargestellt, als sie sind, oder unverändert wiedergegeben.4 Im englischen 18. Jahrhundert entstanden zwei Gattungen, die den mittleren und niederen Modi der Nachahmung entsprachen, dem „comic history painting“ und der Karikatur oder „pictorial satire“. So ist eine Verschiebung des künstlerischen Interesses zugunsten der beiden niederen Gattungen zu konstatieren. Henry Fielding kann an dieser Stelle exemplarisch aufgeführt werden, da er den theoretischen Bezug zu Aristoteles in seinem Vorwort zu Joseph Andrews in der Parität der Literatur und bildenden Kunst explizierte. Er erläuterte eine Dreiteilung der Gattungen, bei der die komische die naturgetreue Nachahmung übernimmt, und die naturverzerrende Gattung der Karikatur vorbehalten ist. Thomas Twining wies auf genau diese Einteilung der Kunstgattungen in seinem Kommentar zur entsprechenden Stelle in der Poetik hin. Als paradigmatischer Künstler für die mittlere oder naturnahe Nachahmung wurde stets Hogarth genannt. Beispiele für den Modus der verzerrten Natur oder ihrer Verhässlichung waren die Karikaturen in den sogenannten printshops. Letztere waren zu der Zeit in London verbreitet und vertrieben Graphikkunst, darunter eine Vielzahl an Karikaturen. Die Form der Karikatur, die dort entwickelt und zu ihrer Reife in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gebracht wurde, kann man passender als Bildsatire bezeichnen. Im Vergleich mit den ersten Karikaturen der Italiener, wie beispielsweise den verzerrten Portraits der Carracci oder Bernini, findet man in der englischen Bildsatire häufig ausgearbeitete, komplexe Kompositionen. Die Entwicklung der beiden Gattungen Bildsatire und „comic history painting“ in England im 18. Jahrhundert wurde in kunst-
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Siehe hierzu Oberstebrink, Christina, Karikatur und Poetik. James Gillray (1756–1815), Berlin 2005. Aristoteles, Poetik, griechisch/deutsch, Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Stuttgart 1982, 1448 a 1-10.
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theoretischen, poetologischen wie auch kunstkritischen Schriften von Diskussionen begleitet, die sich auf die Aristotelische Dreiteilung der Gattungen bezogen. Die Abhängigkeit der Genese dieser Gattungen von der Poetik wird dadurch offenbar. 2. In der zweiten Stelle der Poetik, die große Resonanz in der Entwicklung neuer ästhetischer Auffassungen fand, gibt Aristoteles einen lakonischen Umriss der Wirkung der einfachen Nachahmung auf den gemeinen Betrachter. [...] das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – [...], und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen. Ursache hiervon ist folgendes: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B. dass diese Gestalt den und den darstelle. (Wenn man indes den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat, dann bereitet das Werk nicht als Nachahmung Vergnügen, sondern wegen der Ausführung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft.)5
Die Stelle diente als Bezugspunkt für Denker wie Joseph Addison und Edmund Burke bis hin zu Uvedale Price. Ihre Überlegungen richteten sich auf das Sublime beziehungsweise das „Picturesque“, und damit knüpften sie an Aristoteles’ Beobachtung vom Goutieren des Hässlichen oder Schrecklichen in der Nachahmung an. In ihren theoretischen Reflexionen ist der Bezug zur oben zitierten Stelle deutlich erkennbar, und die Verfasser erwähnen außerdem regelmäßig in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise Aristoteles mit Namen und nicht den Pseudo-Longinos.6 Die Übersetzungen der Poetik am Anfang und am Ende des 18. Jahrhunderts spiegelten beide Standpunkte wider, den ästhetischen Wert des Hässlichen
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Ebd. 1448B 3-18. Das Traktat Peri hypsous wurde von Nicolas Boileau-Despréaux fälschlicherweise dem Dionysius Cassius Longinus zugeschrieben. Die Ausformulierung des Sublimen als Entgegensetzung zum Schönen im englischen und französischen 18. Jahrhundert wird auf die Übersetzung und Interpretation des Traktats von Pseudo-Longinos zurückgeführt. Siehe Zelle, Carsten, Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 10), Hamburg 1987. Über das Sublime in England siehe Monk, Samuel H., The Sublime. A Study of Critical Theories in 18thcentury England [1935], 2. Aufl., Michigan 1960; Hipple, Walter John, The Beautiful, the Sublime, and the Picturesque in Eighteenth-century British Aeshetic Theory, Carbondale 1957.
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und den des Schrecklichen oder Schauerlichen.7 André Daciers Version von 1705 in englischer Sprache übersetzte die Poetik an dieser Stelle mit den Termini, die später dem Sublimen oder Schauerlichen zugeordnet wurden; ihm zufolge erfreuen sich die Menschen in der Nachahmung auch am Anblick von schrecklichen Tieren und toten oder sterbenden Menschen. Thomas Twining dagegen bezeichnete in derselben Passage seiner Übersetzung von 1789 die betreffenden Gegenstände als die gemeinsten und abstoßendsten Tiere und Leichen.8 Dacier verband offenbar diese Stelle mit der Aristotelischen Tragödie, die Schrecken und Mitleid im Betrachter erweckt.9 Dieselbe Stelle der antiken Schrift hielt Twining in seiner Übersetzung klar getrennt von Aristoteles’ generischen Überlegungen über Tragödie und sogar von den flüchtigen Bemerkungen zur Komödie. Er dürfte an die Verflechtung der Aristotelischen Äußerungen zur einfachen Nachahmung mit der Ästhetik des „Picturesque“ gedacht haben und nicht an den Bezug zum schauerlichen Sublimen. Anhand ihres interpretatorischen Ansatzes artikulierten die beiden Übersetzer das Hässliche und das Schreckliche als ästhetischen Instanzen. Bezeichnenderweise war der Zusammenhang zwischen dem Schrecklichen und der Tragödie als erhabenster Gattung in der Übersetzung gegeben, die noch lange vor Edmund Burkes Schrift über das Sublime als das Schreckliche oder Schauerliche erschien. Auch Twinings Übersetzung interpretierte den Inhalt des Originals als das Goutieren des Hässlichen, bevor Uvedale Price das „Picturesque“ um die Jahrhundertwende darlegte. Die Verbindung vom Schrecklichen mit dem Begriff des Sublimen setzte sich nach dem Erscheinen von Burkes Inquiry into the Sublime and the Beautiful im Jahre 1757 durch. Dort ist der Bezug zu Aristoteles’ Äußerungen über die Freude der gemeinen Menschen an der einfachen Nachahmung durch die weitere Motivik, mit der Burke seine Überlegungen ergänzt, klar ersichtlich. Offen bleibt die Frage, weshalb das Sublime, das ansonsten mit Erhabenheit und Größe verknüpft wurde, in direktem Widerspruch zu diesen Qualitäten nun mit dem Schauderhaften verbunden wird. Wenn Joseph Addison bereits 1712 feststellte, dass die Menschen sich am Schrecklichen ganz besonders erfreuen, dann erkennt man
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Vgl. Herbert Dieckmanns Deutung der Passage der Poetik in: „Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts“, in: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 271-317 (Poetik und Hermeneutik, 3). „[...] the meanest and most disgusting animals, dead bodies [...]“. Twining, Thomas, Aristotle’s Treatise on Poetry. Translated with notes on the translation, and on the original; and two dissertations, on poetical, and musical, imitation, London 1789, S. 70. „[...] terrible Beasts, dead, or dying Men [...]“. Dacier, André, Aristotle’s Art of Poetry, Translated from the Original Greek, according to Mr. Theodore Goulston’s Edition. Together, with Mr. D’Acier’s notes translated from the French, London 1705, S. 30f.
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auch in seiner Argumentationsweise die entsprechende Stelle aus der Poetik wieder.10 Er brachte aber außerdem die Leidenschaften ins Spiel, die von der Tragödie angesprochen werden, Mitleid und Schrecken. Das Schreckliche an der Tragödie wurde sozusagen anhand der Stelle über die einfache Nachahmung wiederentdeckt und geriet zur anerkannten ästhetischen Kategorie. Durch seine selbstverständliche Verknüpfung mit der Tragödie musste das Schreckliche in Bezug auf das Konzept einer hohen Gattung revidiert werden. Aristoteles verband schließlich die Leidenschaften Mitleid und Schrecken mit dieser Gattung, und so wurde das Vorbild für die höchste Gattung in der Malerei mit einer ihr bisher in der klassizistischen Rezeption des 18. Jahrhunderts fremden Eigenschaft aufs engste verknüpft. Der ästhetische Genuss des Hässlichen, der in der anderen Lesart der fraglichen Stelle thematisiert wurde, kam in den Überlegungen zum „Picturesque“ vor. Auch hier ist der Bezug zur selben Passage in der Poetik offenbar. Diese Zeilen ermöglichten eine Diskussion über das Gemeine, Hässliche und Alltägliche, ohne den generischen Aspekt des Komischen einzubeziehen. Denn das Komische gehorchte, obwohl als Gattung verstanden, die das Leben spiegelt und unverschönert wiedergibt, und trotz des Anspruches, naturgetreu zu sein, einem Katalog von Eigenschaften. Die komische Gattung wurde durch diese Eigenschaften definiert und stellte damit eine normierte Auffassung von Kunst dar. Zu diesem Katalog gehörten beispielsweise vorgeschriebene personae und die Darstellung der Sitten und Gebräuche. Die Wiedergabe des Hässlichen, Alltäglichen und Gegenwärtigen als eigenständige ästhetische Instanzen getrennt von generischen Einschränkungen wurde also erst in den Überlegungen zur Aristotelischen Bemerkung über einfache Nachahmung ausgesprochen. Uvedale Price, William Gilpin und Richard Payne Knight, die Theoretiker des „Picturesque“ am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, rekurrierten darauf und bereiteten damit den Weg zum modernen ästhetischen Fokus auf das Hässliche und Alltägliche vor. Der Rekurs auf die hier diskutierte Stelle in Aristoteles’ Poetik war stets durch dieses Repertoire von Attributen und thematischen Motiven begleitet. Die Interpretation dieser Passage aber brachte weitere ästhetische Konsequenzen mit sich. Diese wenigen Zeilen der Poetik fokussieren die Nachahmung in ihrer ureigensten Form, also die Freude des Menschen an der Nachahmung selbst. Im Vergleich dazu war das nachgeahmte Objekt nur von sekundärer Bedeutung. Hier suchte das 18. Jahrhundert die Autorität des Philosophen der Antike, um der Repräsentation selbst mehr
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Addison, Joseph, The Spectator, 418/1712 (Monday, June 30), George A. Aitken (Hrsg.) London, New York 1898, Bd. 6, S. 107-111.
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ästhetisches Gewicht einzuräumen als dem Inhalt oder dargestellten Objekt. Das Goutieren der Nachahmung und des künstlerischen Könnens wurde von der Vorstellung des Schönen abgelöst. Man abstrahierte vom hässlichen Objekt in der Ästhetik des „Picturesque“ und erfreute sich an den Farben und Lichtbrechungen der Malerei. Die Verselbständigung der Elemente der Malerei, der Farbe und der Komposition gegenüber dem dargestellten Objekt ist hier in ihren Keimen zu erkennen. Werner Busch sieht in seiner Studie zu dem eigenwilligen englischen Maler Thomas Gainsborough, der im 18. Jahrhundert wirkte, als dessen eigentliches Sujet die Abstraktion der künstlerischen Mittel.11 Eine solche Auffassung reflektierte Uvedale Price (1801). In der Repräsentation verloren das Hässliche und Abstoßende gerade diese Qualitäten, und der Betrachter konnte mittels des Bildes vom realen Objekt abstrahieren und es in seinen Farben und Töne genießen: Rembrandt [...] and others of the Dutch painters have produced the most beautiful pictures, by the most exact imitations of the most ugly and disgusting objects in nature; and yet it is physically impossible that an exact imitation should exhibit qualities not existing in its original; but the case is, that in the originals, animal disgust, and the nauseating repugnance of appetite, drown and overwhelm every milder pleasure of vision, which a blended variety of mellow and harmonious tints must necessarily produce on the eye, in nature as well as in art, if viewed in both with the same degree of abstracted and impartial attention.12
Aristoteles schrieb, dass das, was den Menschen in der Realität in Angst und Schrecken versetze, ihn in der Nachahmung erfreue. Die Nachahmung schafft also eine Distanz zum Gegenstand, obwohl der Grad des sich Delektierens von der Überzeugungskraft der Imitation proportional abhängt. In der Darstellung findet der Betrachter die nötige Distanz, um das Schreckliche als ästhetisches Objekt oder Geschehen wahrzunehmen. In den Auseinandersetzungen mit dieser Passage, zum Beispiel bei Addison oder Burke, wird das Konzept von ästhetischer Distanz erkennbar, mittels derer die Nachahmung oder das Bild den Betrachter erfreut. Nachahmung hat eine vergleichbare Funktion wie die der temporalen Distanz oder räumlichen Entfernung, indem in allen Fällen der Betrachter außer Gefahr steht, und ermöglicht damit den ästhetischen Genuss des Schrecklichen und des Hässlichen.13
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Busch, Werner, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 430-448. Price, Uvedale, A Dialogue on the Distinct Characters of the Picturesque and the Beautiful, London 1801, S. 94f. Burke, Edmund, „A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful: with an introductory Discourse concerning Taste, and several other Additions“, in: ders., The Works, Bd. 1, Oxford, London u. a. 1906, S. 55-219, siehe besonders S. 100ff.
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Die Rezeption von Aristoteles’ Aufteilung der Gattungen in drei Modi im englischen 18. Jahrhundert hatte ihre Folgen: Die Entwicklung des „comic history painting“ wie der Bildsatire waren zugleich ein direkter Angriff auf den Anspruch der akademischen Kunst, im Besitz der wahren Regeln zu sein. Auch Hogarth behauptete, seine Kunstregeln entsprächen wahrhaftig den Bedingungen seiner Zeit, indem er in der Malerei und Graphik den mittleren Modus der naturähnlichen Nachahmung nach der Komödie modellierte.14 Die Bildsatire, die sich alles erlauben konnte und systematisch Dekorumsregeln durchbrach, griff in einigen, nicht wenigen Beispielen die Ansprüche der akademischen Kunst direkt an. So war der theoretische Ausbau der Aristotelischen Aufteilung des Darstellungsmodus in den bildenden Künsten in England dafür mitverantwortlich, dass die klassizistisch gefärbten Kunstregeln unterminiert wurden. Aristoteles’ Bmerkungen über die einfache Nachahmung fanden Resonanz bei den Denkern und Kritikern, die neue Möglichkeiten und Wege in ästhetischen Fragen suchten. Ihre Gedankengänge wiesen tendenziell auf ästhetische Positionen des 19. Jahrhunderts hin: Baudelaires Skizze des modernen Künstlers, der das Alltägliche und Flüchtige festhält, Viktor Hugos Ansichten über das Hässliche als ästhetische Instanz oder sogar die Auffassung von der Selbstgenügsamkeit der Kunst, von l’art pour l’art, in der die rein künstlerischen Elemente und die Komposition den Sinn des Bildes bestimmen. Solche Tendenzen sind nicht gerade die Markenzeichen des 18. Jahrhunderts, aber sie waren in ihren Keimen dort vorhanden. Die Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Passage tangiert diese Problematik. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert aber suchte man neue ästhetische Möglichkeiten noch bei den Autoritäten der Antike.
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Nichols, John B. (Hrsg.), Anecdotes of William Hogarth, written by himself: with Essays on his Life and Genius, and Criticisms on his Works, London 1833, S. 47.
Deutsche Klassik im System der „augusteischen“ Zeitalter Christoph Schmälzle In seinem Gedicht „Der Tempel der Musen“ (1771) versammelt Matthias Claudius die Völker Europas um den Altar. Deutsche, Griechen und Römer verrichten den Tempeldienst, assistiert von den Italienern. Den Luftraum über der Szene teilen sich der Engel Britanniens und der gallische Hahn: Der Deutsch’ und Grieche pflegen Des Altars; Der Römer pflegt auch mit, von wegen Des Nachbars; Hoch am Gewölbe schwebet Der Britte wie Cherub, und lebet; Der Welsch’ ist Adjunctus und Küstermann, Und oben flattert der Hahn Vergoldet und lieblich zu sehen, Und krähet Epopeen.1
Das Gedicht argumentiert auf merkwürdige Weise ahistorisch. Schauplatz ist ein überwölbter Sakralbau mit innenliegendem Altar, eher eine christliche Kirche als ein antiker Tempel. Die Protagonisten sind Stellvertreter ihrer Nationen. Sie verkörpern verschiedene Temperamente und Zeitschichten. Vor allem aber sind sie den Musen unterschiedlich nahe. Eine herausgehobene Stellung im Reich der Künste haben Deutsche und Griechen. Die These ist polemisch, denn die Antike wurde traditionell über Rom vermittelt, und Deutschland galt bis ins 18. Jahrhundert als kulturell rückständig gegenüber den romanischen Ländern. Der Eindruck einer idealen Kultgemeinschaft, in der die topografische und historische Logik aufgehoben ist, täuscht daher. Die Kultordnung des Musentempels wird zum Sinnbild für den Vorrangsstreit datierbarer nationaler Blütezeiten.
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Claudius, Matthias, Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, I. und II. Theil, Hamburg 1775, S. 38.
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Nachgriechische Blütezeiten Der Zeitalter-Mythos nach Hesiod ist eine Dekadenzgeschichte. Am Ursprung der Welt steht ein paradiesisches goldenes Zeitalter.2 In der absteigenden Sequenz des Metallschemas folgen ihm: das silberne, das eherne (d. h. kupferne oder bronzene), das heroische und das eiserne Zeitalter. Vergil kehrt das Dekadenzmodell um und verkündet die Wiederkehr eines „aureum saeculum“ unter Augustus’ Regierung.3 Menschheitsgeschichtlich glückliche Perioden lassen sich in neuer Gestalt wiederholen. Nach Jahren des Bürgerkriegs gelingt die gesellschaftliche Erneuerung, der Anschluss an die kulturell vorbildlichen Griechen. Die augusteische Restauration ist damit Urbild des europäischen Klassizismus. Ihren zentralen, viel zitierten Merkvers formuliert Horaz: „vos exemplaria Graeca / nocturna versate manu, versate diurna“4. Plinius, der zu Titus’ Zeit lebte, bezieht das zyklische Auf und Ab des Weltlaufs explizit auf das Kunstleben. Er beobachtet, dass die Kunst enden und wiederaufleben kann, also quasinatürlichen Konjunkturen unterliegt.5 Praktizierter Klassizismus bringt potenziell Blütezeiten hervor. Was Augustus gelang, sollte auch späteren Regenten möglich sein: durch Orientierung an vorbildlichen Mustern der Vergangenheit selbst vorbildliche Größe zu erreichen. Entgegen einer weit verbreiteten, im Geniekult wurzelnden Skepsis ist die Grundidee des Klassizismus einer der produktivsten Gedanken der Kulturgeschichte. Warum ist der Klassizismus nicht blutleer, zeugungsunfähig, kalt? Einerseits, weil die Antike als maßgebliche Bezugsgröße in sich heterogen ist. Andererseits, weil normative Kriterien wie Maß, Proportion, Tektonik und Harmonie verschieden umgesetzt werden können. Der Blick auf den klassizistischen Kanon der Frühen Neuzeit bestätigt die These. Das Corpus der Vorbilder wie der vorbildlichen Nachahmer ist von kreativer Heterogenität. Man kann Epochen bleibender kultureller Höchstleistungen neutral als Blütezeiten oder goldene Zeitalter bezeichnen. Der Gebrauch des deutschen Sonderwortes „Klassik“ verlangt, dass man von „Klassiken“ im Plural spricht, wie Panofsky von „Renaissancen“ gesprochen hat. Schon in Claudius’ Gedicht wird spürbar, dass sich der Anspruch der nationalen Klassiken auf überzeitliche Geltung nicht mit ihrer Vielfalt verträgt und dies zum Problem einer Hierarchie der Blütezeiten führt. Am Ausgangspunkt der Querelle des Anciens et des Modernes steht die Frage, ob das Jahrhundert Ludwigs XIV. das antike augusteische Zeitalter _____________ 2 3 4 5
Hesiod, Werke und Tage 106-201. Vergil, Aeneis 6, 792f. Horaz, De arte poetica 268f. Plinius d. Ä., Naturalis historia 34, 52.
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übertroffen habe. Gründungstext ist das Gedicht „Le siècle de Louis le Grand“ (1687), das Charles Perrault auf einer Sitzung der Pariser Akademie vorgetragen hat.6 Perrault bestreitet die zeitenthobene Autorität der Antike. Statt die uneinholbare Schöpferkraft der mythischen Vorzeit zu beschwören, vertritt er den säkularen Gedanken, dass die „Natur“ sich stets gleich bleibe. Wandelbar sind allenfalls die Staats- und Herrschaftsformen. Perraults Argumentation legt die Doppelnatur des Klassischen offen, das Rezeptionskategorie und stiltypologischer Begriff zugleich ist. Qua Rezeption haben auch „fehlerhafte“ Werke der Alten hohes Ansehen erlangt, deren Klassizität eine Funktion ihres Alters darstellt. Als Stilideal verweist das Klassische auf ein quasi-rationales Geschmacksurteil, vor dem jedes „fehlerfreie“ Werk a priori gerechtfertigt ist. Wer der akademischen Regel-Ästhetik der Modernen folgt, braucht demnach den Prüfstein der Überlieferung nicht zu fürchten. Kanon vorbildlicher Regenten Den von Perrault gegenübergestellten Regenten – Ludwig XIV. und Augustus – kommt Stellvertretercharakter für Antike und Gegenwart zu. Erst Jean-Baptiste Dubos kanonisiert in seinen Réflexions critiques (1719) die vier großen Kulturzeitalter: Griechenland unter Philipp und Alexander, Rom unter Caesar und Augustus, Italien unter den Päpsten der Hochrenaissance, Frankreich unter Ludwig XIV.7 Dubos’ zentrales Problem ist die Bewahrung der in Frankreich erreichten kulturellen Blüte. Er muss einräumen, dass der Einfluss der guten Herrschaft begrenzt ist. Auf jede Kulturblüte folgte bisher der Niedergang, und der Zusammenhang zwischen den Taten des Regenten und den kulturellen Höchstleistungen der Untertanen ist kausal nicht präzise zu fassen. Auch fallen militärische und kulturelle Erfolge einer Nation nicht zwangsläufig zusammen. Entsprechend verwendet Dubos für die Hoch-Zeit der Griechen zwei konkurrierende Bezeichnungen, die er trotz ihrer Unvereinbarkeit wie Synonyme gebraucht: Neben das imperiale Zeitalter der Makedonen an der Schwelle zum Hellenismus tritt das „Zeitalter Platons“, das noch heute als die eigentliche griechische Klassik gilt. In Deutschland bündelt Georg Heinrich Ayrer den Wissensstand der Querelle 1735 in einer lateinischen Abhandlung, die das von Dubos etablierte Schema der vier nach ihren Monarchen benannten Zeitalter _____________ 6 7
Perrault, Charles, Le Siècle de Louis le Grand, Paris 1687. Dubos, abbé Jean-Baptiste, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, Paris 1719, vgl. Bd. 2, Kap. 12 und 13.
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übernimmt.8 Auch bei Ayrer passt nur ein Teil der für die griechische Blütezeit angeführten Repräsentanten in die Zeit Alexanders des Großen, der Rest stammt aus dem Umfeld des perikleischen Athens. An Perrault indes übt Ayrer grundsätzliche Kritik. Zum einen habe dieser, um Ludwigs Vorzug gegenüber Augustus zu erweisen, alle anderen Epochen und Kulturlandschaften vernachlässigt, zum anderen fehle es ihm an wahrer Quellenkenntnis, da er die antiken Autoren nur in französischen Übersetzungen gelesen habe. Souverän beschreibt Ayrer die italienische Renaissance des 16. Jahrhunderts als europäisches Phänomen, an dem auch die Deutschen beteiligt waren, und nennt eine Vielzahl europäischer Fürsten, darunter August den Starken, deren Mäzenatentum mit dem Ludwigs XIV. vergleichbar war. Der Text endet mit dem bekannten Horaz-Vers, den Ayrer entscheidend modifiziert: Man studiere die Exempla der Griechen, aber auch die der Römer bei Tag und bei Nacht. Hort der Musen ist hier nicht der Hof, sondern die humanistische Gelehrtenstube. Die griechisch-römische Antike bleibt dabei als Ganzes ungebrochen vorbildlich. Hatte Dubos’ noch am Kausalzusammenhang von Herrschaft und künstlerischer Produktion zu zweifeln begonnen, als er nach Wegen zu seiner Sicherung suchte, formuliert Gottsched aus deutscher Perspektive grundsätzliches Unbehagen: Die Zuordnung der großen Regenten und Kulturschaffenden, die den Kern der Idee der vier Kulturzeitalter ausmacht, ist weder historisch konsistent noch kulturpolitisch folgerichtig. Die Vergleichung des Zeitalters von Ludewig dem XIV. mit den Zeiten Alexanders, Augusts und Leons X. ist zwar eine sehr gewöhnliche Sache: allein unsers Wissen noch nicht gar zu richtig erwiesen. Die größten Geister Griechenlands hatten schon vor Alexander, so wie die größten Männer Roms vorm August gelebet […]. Von Leo X. ist es gewiß, daß nach seiner Zeit mehr große Männer in Italien entstanden und gelebet, als zu seinen Zeiten. Aber so geneigt ist man, großen Herren zu schmäucheln; daß man alles gern auf ihre Rechnung schreibt: so wenig Antheil sie auch an dem Flore der Wissenschaften und Künste haben.9
Gottsched weist darauf hin, dass die in Frankreich verbreitete Apotheose der Zeit Ludwigs XIV. eine Dekadenzdiagnose der Gegenwart impliziert. Voltaires Le Siècle de Louis XIV (1751) ist dennoch wichtig für die Theorie der exemplarischen Höhepunkte der Kultur.10 Wie Dubos fasst Voltaire die Exponenten der attischen Demokratie mit den Makedonenkönigen zu _____________ 8 9 10
Ayrer, Georg Heinrich, Dissertatio de comparatione eruditionis antiquae et recentioris, Leipzig 1735, vgl. Kap. 4, § 5–6 und § 10. Gottsched, Johann Christoph, „Des Herrn Abts Lambert gelehrte Geschichte der Regierung Ludewigs des vierzehnten“ [Rez.], in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, 9/1759, S. 287-292, hier S. 289f. Voltaire, Le Siècle de Louis XIV, Berlin 1751, vgl. Bd. 1, Kap. 1.
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einem idealen Griechenlandbild zusammen. Den Kern der italienischen Renaissance sieht er in Florenz, die Ursache aber im Fall Konstantinopels und im Exodus der byzantinischen Gelehrten, von dem Italien besser zu profitieren wusste als die anderen europäischen Territorien. Auch der Absolutismus Ludwigs XIV. hatte, betont Voltaire zu Recht, eine europäische Dimension und Ausstrahlung. Historisierung der Perspektive Glanz und Elend Winckelmanns liegen in seinem Votum für die Griechen als dem eigentlichen Urbild antiker Kulturblüte – einem idealisierten Urbild auf einer dünnen Basis gesicherter Monumente. Ausdrücklicher als zuvor in der Querelle ist damit eine Abwertung der Römer verbunden. Sie sind vorbildlich, insofern sie die ersten Nachahmer waren, die aber meist unter dem Niveau ihres Vorbilds geblieben sind. Winckelmanns Erstlingswerk, den Gedancken über die Nachahmung (1755), ist in der Erstausgabe das originale Horaz-Motto vorangestellt, das im Gegensatz zu Ayrer nur die „exemplaria Graeca“ nennt.11 Die Schrift ist dem Nachfolger Augusts des Starken gewidmet, den Winckelmann als „deutschen Titus“ bezeichnet und in dessen Residenz Dresden er das neue Athen, die Heimat der Künste erkennen will. Im europäischen Vergleich steht Winckelmann mit der Abspaltung des Griechentums als der eigentlich vorbildlichen Antike nicht allein da, man denke an das zeitgleiche ‚Greek revival‘ in England. Die historische Ausdifferenzierung der einmal als ganzes mustergültigen alten Welt erzeugt einen neuen Maßstab der Klassizität, der die älteren, bei Perrault erwähnten Systeme ablöst. Die historische Einordnung eines Artefakts wird wichtiger als die Dauer seiner Rezeption (Kanonizität) oder formale Kriterien (Regelhaftigkeit). Entsprechend sind Datierung und Zuschreibung die Kernkompetenzen der späteren wissenschaftlichen Archäologie. In der Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) treibt Winckelmann die Spannung zwischen den beiden Polen der griechischen Blütezeit, die sich in Dubos’ uneinheitlicher Benennung angedeutet hat, auf die Spitze. Er preist die attische Demokratie unter Perikles, die mit Dubos’ „Zeitalter Platons“ zusammenfällt, als die „glückseligste Zeit der Kunst in Griechenland“, datiert aber den Höhepunkt der Stilgeschichte, den „schönen Stil“, fast hundert Jahre später in die Zeit Alexanders des Großen.12 Um 1800 _____________ 11 12
Winckelmann, Johann Joachim, Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, Friedrichstadt [Dresden] 1755. Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, vgl. Bd. 1, Kap. 4, St. 3.3 und Bd. 2, Kap. 2, St. A.
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löst sich der Widerspruch zugunsten des perikleischen Zeitalters auf, dessen viel gerühmte Kunst bis dahin fast nur literarisch greifbar war. Wichtige Kontexte sind die Konjunktur des Republikanismus, der griechische Freiheitskampf und die Verbringung der Elgin Marbles nach London. Die Zeit nach Alexander, der Hellenismus, macht im 19. Jahrhundert eine zweite Karriere als Gegenbild der Klassik. Das System der vier kanonischen Kulturzeitalter erlebt in dieser Zeit entscheidende Umbrüche, die über die historische Feinjustierung hinausreichen.13 Neue, bisher unterrepräsentierte Epochen erhalten das Prädikat der Klassizität, und auch in Deutschland wird die Frage nach einer nationalen Klassik virulent. Die Bezugspunkte des neu akzentuierten Viererschemas sind: Perikles (statt Alexander), die späte Republik bzw. das Prinzipat (statt nur Augustus), das Florenz der Medici (statt des päpstlichen Roms), Ludwig XIV. Die traditionelle Sequenz wird häufig um das englische „Augustan Age“ ergänzt, das den klassizistischen „Geschmack unter der Königin Anna“ mit den Hauptrepräsentanten Dryden und Pope meint. Aber auch Blütezeiten, die keinen programmatischen Bezug zur Antike haben und deren Kunst formal eher manieristisch ist, werden in die Reihe der vorbildlichen Epochen aufgenommen, insbesondere das spanische „siglo de oro“ und das elisabethanische Zeitalter. Letzteres nimmt, da es das Zeitalter Shakespeares ist, schon bei Wieland zentrale Bedeutung ein. Je mehr Blütezeiten man ausmacht, desto mehr relativiert sich deren Geltungsanspruch, und die ganze nachantike Geschichte erscheint als ein Kontinuum der Tradition: „So folgten die Römer den Griechen, den Römern die Mönche, Mönchen und Arabern die Provenzalen, den Provenzalen mittel- oder unmittelbar alle gebildete Nationen Europa’s […].“14 Das Denkmodell, das im Rahmen der Apotheose Ludwigs XIV. entstanden ist, weitet sich aus zur kulturgeschichtlichen Gesamtschau, die keine normative Mitte mehr kennt. In Goethes Gedicht „Modernes“ (um 1816) wird eine Wissensordnung greifbar, in der die Würdigung eines jeden Dings nach seiner Art den Gedanken an einen Vorrangsstreit verbietet. Ort dieses neuen Zugriffs ist nicht mehr der Fürstenhof, sondern das Museum oder die Universität. An die Stelle der Imitation tritt die historische Analyse, wobei Goethe der ästhetischen Promiskuität des Gelehrten erotische Dimensionen abgewinnt: _____________ 13
14
Vgl. die Artikel „classisch“ in: Ersch, Johann Samuel / Gruber, Johann Gottfried (Hrsg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Abt. 1, Bd. 17, Leipzig 1828, S. 384ff., hier S. 385, und in: Jeitteles, Ignaz, Aesthetisches Lexicon, Bd. 1, Wien 1835, S. 149f., hier S. 150. Herder, Johann Gottfried, Briefe zu Beförderung der Humanität. Achte Sammlung, Riga 1796, S. 109-117 (= Nr. 101), hier S. 113.
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‚Wie aber kann sich Hans van Eyck Mit Phidias nur messen?‘ Ihr müßt, so lehr’ ich, alsogleich Einen um den andern vergessen. Denn wärt ihr stets bei Einer geblieben, Wie könntet ihr noch immer lieben? Das ist die Kunst, das ist die Welt, Daß ein’s um’s andere gefällt.15
Der deutsche Sonderfall Winckelmann schreibt 1752 aus der friderizianischen Ideal-Residenz Potsdam: „Ich habe Wollüste genossen, die ich nicht wieder genießen werde: ich habe Athen und Sparta in Potsdam gesehen und bin mit einer anbetungsvollen Verehrung gegen den göttlichen Monarchen erfüllt.“16 Dreißig Jahre später identifiziert Kant das „Zeitalter der Aufklärung“ mit dem „Jahrhundert Friederichs“.17 Dennoch hat sich die Idee, analog zum Zeitalter der Königin Anna in England für Deutschland die Epoche Friedrichs auszurufen, bereits unter den Zeitgenossen nicht durchgesetzt: Zu offensichtlich war die Bevorzugung der französischen Literatur und Philosophie durch den Regenten. Friedrich beherbergte Voltaire, überließ aber Wieland den Weimarern, sah zu wie Lessing nach Wolfenbüttel ging und verhandelte nur halbherzig mit dem längst berühmten Winckelmann. Für Hermann Hettner, der 1864 auf den Gedanken eines Zeitalters Friedrichs des Großen zurückgreift, waren es nicht die kulturellen, sondern die kriegerischen Großtaten Friedrichs, die den Boden für Lessing bereitet haben: „der siebenjährige Krieg [steht] am Eingang des goldenen Zeitalters unserer Literatur, wie die großen Perserkriege am Eingang des großen Perikleischen Zeitalters.“18 Dass ein an Tyrtaios und am Exemplum der Thermopylen-Schlacht geschulter Militarismus durchaus mit dem Projekt der Herausbildung einer selbstständigen Nationalliteratur zusammenging, belegen die „Kriegslieder“ Gleims und Thomas Abbts Abhandlung „Vom Tode fürs Vaterland“ (1761) – Texte, die im Kreis der Berliner Aufklärung _____________ 15 16 17 18
Goethe, Johann Wolfgang von, Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand (Taschenausgabe), Bd. 3, Stuttgart, Tübingen 1827, S. 127. Winckelmann, Johann Joachim, Briefe, Bd. 1, Walter Rehm/Hans Diepolder (Hrsg.), Berlin 1952, S. 111f. (= Nr. 82: an Berendis, 27. März 1752), hier S. 111. Kant, Immanuel, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Berlinische Monatsschrift, 4/1784, S. 481-494, hier S. 491. Hettner, Hermann, Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Abt. 3, Bd. 2: Das Zeitalter Friedrichs des Großen, Braunschweig 1864, S. 161.
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einigen Eindruck machten, nicht zuletzt angesichts des Todes Ewald von Kleists. Was Madame de Staël schon 1800 in De la littérature angedeutet hat, bringt sie zehn Jahre später in De l'Allemagne auf den Punkt: „Die deutsche Literatur hatte nicht, was man gewöhnlich ein goldenes Zeitalter nennt, das heißt eine Epoche, in der die Protektion der Staatschefs die Fortschritte in den Wissenschaften antreibt. […] dies Volk, das durch sich selbst besteht, hat nie seine großen Männer seinen Königen verdankt.“19 Dass die Künste unabhängig von der Zentralgewalt blühen können, scheint aus französischer Perspektive bemerkenswert. Aufgrund der fehlenden Hauptstadt, so de Staël, kommt es nicht zur Normierung des Geschmacks und der Literatursprache. Die Ineffizienz der Zensur im zersplitterten Territorium des Reichs verstärkte den Wildwuchs noch. Schiller macht aus der politischen Not der Deutschen eine kulturelle Tugend. In seinem Fragment „Deutsche Größe“ (um 1802) spricht er sich gegen die „Tyrannei“ von Hauptstadt und Hof aus und phantasiert über die kommende Weltherrschaft der deutschen Sprache.20 Das Gedicht „Die deutsche Muse“ (1800), das auch Madame de Staël als Beleg anführt, bezieht sich polemisch auf das System der klassizistischen Kulturzeitalter Europas, um den deutschen Sonderweg zu preisen: die schwierige Geburt einer unerhört selbstständigen und stolzen Kulturnation. Kein Augustisch Alter blühte, Keines Medizäers Güte Lächelte der deutschen Kunst, Sie ward nicht gepflegt vom Ruhme, Sie entfaltete die Blume Nicht am Strahl der Fürstengunst. Von dem größten deutschen Sohne, Von des großen Friedrichs Throne Gieng sie schutzlos, ungeehrt. Rühmend darfs der Deutsche sagen, Höher darf das Herz ihm schlagen, Selbst erschuf er sich den Werth.21
Die implizite Abgrenzung von Frankreich und vom französischen Literatursystem ist zu diesem Zeitpunkt längst topisch. An die Stelle kodifizierter Nachahmung der Römer soll die freie Nachschöpfung der Griechen, aber auch anderer ursprünglicher und kulturkräftiger Nationen _____________ 19 20 21
Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de [Mme de Staël], Deutschland, Berlin 1814, Bd. 1.2, S. 12 (entspricht Bd. 2, Kap. 3 in der französischen Ausgabe). Schiller, Friedrich, Werke (Nationalausgabe), Bd. 2.1, Norbert Oellers (Hrsg.), Weimar 1983, S. 431–436, hier S.432. Retrospektiv leicht diskreditierbar, liegt der Text genau auf der Linie, die zu Hoffmann von Fallerslebens ‚Deutschlandlied‘ (1841) führt. Schiller, Friedrich, Gedichte, Bd. 2, Leipzig 1803, S. 26f., hier S. 26.
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wie insbesondere der Engländer treten. Mit dem Gedicht „An Goethe als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte“ (1800) bekräftigt Schiller den Anspruch auf eine autochthone Blüte der deutschen Kunst. Es ist fast schon ein Vorwurf, dass sich der „Herkules“ Goethe überhaupt noch mit Importprodukten herumschlägt. Wir können muthig einen Lorbeer zeigen, Der auf dem deutschen Pindus selbst gegrünt, Selbst in der Künste Heiligthum zu steigen Hat sich der deutsche Genius erkühnt, Und auf der Spur des Griechen und des Britten Ist er dem bessern Ruhme nachgeschritten.22
Ihrem Selbstverständnis nach ist die Literatur, die auf den Namen „Weimarer Klassik“ getauft und als Höhepunkt der nationalen Literaturgeschichte gefeiert wurde, nur schwer mit dem überlieferten System der europäischen „augusteischen“ Zeitalter zu vereinbaren. Sie bildet einen ideellen Staat eigener Souveränität, dessen Bürger frei vom Zwang ästhetischer Regeln und unabhängig von den politischen Verhältnissen ihre Kunst ausüben. Vorbilder sind Homer und Shakespeare – kanonische, aber nicht unbedingt „regelgemäße“ Autoren, denen urwüchsige Gestaltungskraft zugeschrieben wird. Das Projekt, durch Nachahmung der Griechen selbst unnachahmlich zu werden, heißt: das Urbild verdoppeln. Gemeint ist eine selbst gesetzte Ursprünglichkeit zweiter Ordnung, die nicht die Produkte, sondern die Produktivität der Vorbilder wiederholt. Es gilt, die Traditionslinie der Nachahmung, die von Augustus bis Ludwig reicht, zu überspringen, um die Blüte der griechischen Poliswelt auf dem Boden der deutschen Kleinstaaten zu erneuern. Das feste klassizistische Regelwerk, das in der akademischen Rhetorik und Poetik noch Mitte des Jahrhunderts in Deutschland verankert war, ist diesem Ansinnen hinderlich. Der strategisch zunächst sinnvolle Spott darüber hallt bis heute nach. Dass die deutsche „Klassik“ das antike Erbe auf charakteristische Weise mit dem Gedankengut des Sturm und Drang und der Romantik vereinigt, macht sie literaturgeschichtlich schwer zu fassen. Sie deshalb der internationalen Romantik zuzuschlagen, verfehlt die komplexe Selbstreflexion der Protagonisten und die Doppelgesichtigkeit ihrer Produktion. Typisch sind gerade hybride Konstruktionen wie Goethes klassische Walpurgisnacht in Faust II und der Helena-Akt, die klassisch-romantische Phantasmagorie. Schillers Emphase der selbstständigen Kulturnation indes bedient im 19. Jahrhundert einen zweiten Strang der Rezeption: die Wendung der kulturellen Identität und Größe ins Politische. Die Überblendung der Frage nach dem klassischen Zeitalter der Deutschen mit der _____________ 22
Schiller, Friedrich, Gedichte, Bd. 1, Leipzig 1800, S. 270-274, hier S. 270.
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Idee der Reformation, der ersten großen Abgrenzungsbewegung von romanischer Autorität, führt dazu, dass Lessing als „Luther unserer nationalliterarischen Reformation“ firmieren kann, von dem es voll Pathos heißt: „Auf den Boden der Geistesfreiheit wollte er den Baum der vaterländischen Klassik pflanzen […].“23
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Hillebrand, Joseph, Die deutsche Nationalliteratur [1845], Bd. 1, 2., verb. Aufl., Hamburg, Gotha 1850, S. 197.
Abbildungsnachweise Mit freundlicher Genehmigung der folgenden Institutionen bzw. Verlage: 166: The Culture of the Book in the Scottish Enlightenment. An Exhibition with Essays by Roger Emerson, Richard Sher, Stephen Brown, and Paul Wood, University of Toronto Library (Hrsg.), Toronto 2000, S. 66 461: Hamburger Kunsthalle, Inv. 41114 474: Wilton, Andrew / Lyles, Anne, The Great Age of British Watercolours (1750-1880), Ausstellungskat. Royal Academy of Arts London, München 1993, S. 309, Abb. 22 477: Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection 481, 482, 483, 487, 488: Schiller-Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv, Marbach 527: Muséum d’Histoire Naturelle, Le Havre, aus: Hunt, Susan / Carter, Paul (Hrsg.), Terre Napoléon: Australia through French Eyes (1800–1804), Ausstellungskat. Museum of Sydney 1999, Sydney 1999 528: Museum of Natural History, London, aus: Verzauberte Blick, oder: Das Naturbild berühmter Expeditionen aus drei Jahrhunderten, Texte von Anthony Rice u. a., München 1999 529: Museum of Natural History, London, aus: Smith, Bernard, Imagining the Pacific: in the wake of Cook’s voyages, New Haven, London 1992, Abb. 45 530: Museum of Natural History, London, aus: Verzauberte Blick, oder: Das Naturbild berühmter Expeditionen aus drei Jahrhunderten, Texte von Anthony Rice u. a., München 1999 544: Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha 550: Die Gothaer Residenz zur Zeit Herzog Ernsts II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772–1804). Ausst.-Kat., Stiftung Schloss Friedenstein Gotha (Hrsg.), Gotha 2004, S. 53 Abbildungen ohne Nachweis im Text entstammen Büchern, die in der Universitätsbibliothek Leipzig vorhanden sind, mit deren freundlicher Genehmigung sie hier reproduziert werden.